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Subjektive Und Intersubjektive Genesis D
Subjektive Und Intersubjektive Genesis D
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Phnomenologische Forschungen
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4 Phenomenological Studies
5 Recherches Phnomnologiques
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8 Im Auftrage der
9 Deutschen Gesellschaft fr phnomenologische Forschung
10 herausgegeben von
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13 KARL-HEINZ LEMBECK, KARL MERTENS
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17 unter Mitwirkung von
JULIA JONAS
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Jahrgang 2013
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THEMA : Soziale Erfahrung
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Herausgegeben von
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DIETER LOHMAR UND DIRK FONFARA
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34 Phnomenologische Forschungen · ISSN 0342 – 8117
35 Felix Meiner Verlag, Hamburg 2013. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nach-
drucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der bersetzung, vorbehalten. Dies be-
36 trifft auch die Vervielfltigung und bertragung einzelner Textabschnitte durch alle Ver-
37 fahren wie Speicherung und bertragung auf Papier, Film, Bnder, Platten und andere
Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrcklich gestatten. Druck und Bindung:
38 Druckhaus Beltz, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbestndig nach ANSI-
39 Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff.
B E I TR G E
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
1 Vorwort
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Soziale Erfahrung ist in ihren vielfltigen Formen ein zentraler Dreh- und An-
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gelpunkt zahlreicher Diskussionen der Phnomenologie in den letzten Jahrzehn-
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ten und bis heute immer noch aktuell. Deshalb hat sich die Jahrestagung der
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„Deutschen Gesellschaft fr phnomenologische Forschung“ (DGPF) 2013 die-
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sem Thema in seiner ganzen Breite und mit unterschiedlichen phnomenologi-
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schen Zugangsweisen gewidmet. Zu dieser internationalen Konferenz, die das
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Husserl-Archiv der Universitt zu Kçln in enger Kooperation mit der DGPF
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vom 25. bis zum 29. September 2013 in Kçln veranstaltet hat, konnten etablierte
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Phnomenologen mit Doktoranden und Postdoktoranden, die sich ber einen
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Call for Papers um Sektionsvortrge bewerben konnten, ber die Grenzen meh-
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rerer Fachrichtungen hinaus in einen fruchtbaren Gedankenaustausch gebracht
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werden. Die große Teilnehmerzahl aus dem In- und Ausland besttigte, dass wei-
18 terhin ein bleibendes und lebendiges Interesse an den Fragen der Phnomenolo-
19 gie besteht. Gleichwohl wurde ebenso deutlich, dass diese von Husserl begrn-
20 dete Wissenschaft eine wandlungsfhige Disziplin ist, die sich auch auf neue
21 Herausforderungen und Themen einstellen kann und will.
22 Die inhaltlichen Aspekte der Konferenz, die sich in den ausgewhlten For-
23 schungsbeitrgen dieses Sammelbandes widerspiegeln, folgen weitgehend aus
24 dem Thema „Soziale Erfahrung“ und richten sich auf alle phnomenologisch zu-
25 gnglichen Bereiche unserer sozialen Beziehungen, seien diese nun gefhlt, real
26 oder imaginr. Ausgangspunkt ist dabei vielfach die Phnomenologie Edmund
27 Husserls, aber es wurden auch Analysen aus der Sicht Heideggers, Merleau-Pon-
28 tys, Ricoeurs und weiteren Vertretern der franzçsischen und amerikanischen
29 Phnomenologie diskutiert. Ein weiteres Anliegen jener Tagung bestand darin,
30 aufs Neue den Standort der Phnomenologie im Kontext der Gegenwartsphilo-
31 sophie und der interdisziplinren Forschung zu bestimmen. Die Phnomenolo-
32 gie hat mit der methodischen Erforschung des Bewusstseins aus der Perspektive
33 des selbst erlebenden Subjekts eine eigenstndige Zugangsweise zum Bewusst-
34 sein und eine eigene Methode, die sie klar von der Psychologie abgrenzt. Ihre
35 Ergebnisse stellen sich zudem oft als methodische Richtschnur und inhaltliche
36 Inspiration fr zahlreiche benachbarte Disziplinen heraus.
37 Andererseits gibt es heute viele Disziplinen, wie z. B. die Neurologie, die das
38 Denken mit naturwissenschaftlichen Methoden zu erforschen versuchen. Hier
39 steht das Denken jedoch nicht im Kontext der Erfahrung und der Motivation
40 einer Person, sondern wird eher als Element einer komplexen Kausalkette ange-
1 sehen, deren brige Elemente auch lediglich kausal bedingt sind. Aber – so sollte
2 man hier einwenden – wir kçnnen in dieser Welt der Physik nicht leben.
3 Hinsichtlich einer gewissen Konkurrenzstellung der Phnomenologie zu den
4 Naturwissenschaften – etwa zur Neurologie, die ja ebenfalls den Anspruch er-
5 hebt, etwas ber unsere sozialen Kompetenzen sagen zu kçnnen – muss man
6 einerseits die Warnung Husserls ernst nehmen, dass wir die Voraussetzungen der
7 Physik nicht einfach akzeptieren kçnnen, wie z. B. die Vorstellung einer univer-
8 salen Kausalitt. Denn die Evidenzen der Lebenswelt bleiben gegenber diesen
9 idealisierenden Voraussetzungen der Physik primr. Dies gilt auch fr die physi-
10 kalisierenden Wissenschaften vom Bewusstsein. Andererseits muss man gleich-
11 falls konzedieren, dass die Erforschung der Funktion und der Leistung des Ge-
12 hirns ein berechtigter Gegenstand naturwissenschaftlicher Untersuchungen ist.
13 Zudem sollte man auch als Phnomenologe dem Sinn dieser Forschungen nach-
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gehen, um die Beziehungen zwischen den neurologischen Ereignissen und den
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selbst erlebten Bewusstseinsinhalten verstehen zu kçnnen. Selbst wenn wir
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durch die Resultate der Neurologie informiert sind, ist es gerade dann wichtig,
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auch die methodisch gesicherte, deskriptive Analyse aus der selbst erlebten In-
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nensicht des Bewusstseins mit phnomenologischen Methoden weiterzufhren.
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Die Phnomenologie ist eine eigenstndige Form der Empirie, die der neurologi-
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schen Forschung aus der Dritte-Person-Perspektive gewissermaßen „entgegen-
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kommen“ muss, und zwar damit sie – gleichsam wie beim Tunnelbau von zwei
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Richtungen her – deren Ergebnisse im Rahmen einer intentionalen Psychologie
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phnomenologischer Prgung sachangemessen interpretieren kann.
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„Soziale Erfahrung“ ist ein Titel, der nur dann sinnvoll ist, wenn man sich auf
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die personalistische Betrachtungsweise einlsst. Die meisten Erscheinungsfor-
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men der Sozialitt finden sich nmlich in der alltglichen Lebenswelt des Men-
28 schen, d. h. in der Welt, in der wir Freunde haben, miteinander sprechen und
29 Verantwortung bernehmen, gelegentlich aber auch versagen. Hinsichtlich des
30 zentralen Status der Lebenswelt und ihrer Themen sowie hinsichtlich der Priori-
31 tt der personalistischen Einstellung gegenber der naturalistischen gibt es unter
32 den verschiedenen Richtungen der Phnomenologie einen breiten Konsens. Das
33 Verstehen der Motive Anderer und die Kommunikation mit ihnen ist eine der
34 grundlegenden Voraussetzungen fr den Weltbezug des Menschen berhaupt.
35 Denn wir sind keine solipsistischen Lebewesen.
36 Hieraus ergeben sich auf naheliegende Weise viele Dimensionen der Sozialitt
37 als Forschungsgebiet: das Verstehen der Anderen, eigene und fremde Leiblich-
38 keit, die Handlung des Einzelnen und der Gemeinschaft als Institution, pragma-
39 tische und ethische Maßstbe fr solche Handlungen in Ethik und Politik, die
40 unvermeidlichen Konflikte sowie deren Sinnniederschlge in der Person, die
Vorwort 7
1 Auseinandersetzung mit sich selbst, die Dimension des Gefhls und nicht zu-
2 letzt auch die Sorge um die Anderen.
3 Die Themenbereiche des Bandes ergeben sich weitgehend aus den verschiede-
4 nen Aspekten des Themas „Soziale Erfahrung“. Eine zentrale Rolle spielen die
5 unterschiedlichen Gesichtspunkte des Zugangs und Umgangs mit dem Ande-
6 ren.
7 Ein erster Themenbereich widmet sich dem Ich, der Person bzw. dem Sub-
8 jekt. Doch wird das Subjekt, um das es der Phnomenologie geht, nicht so ein-
9 heitlich vorgestellt wie z. B. das Subjekt des Rationalismus. Jenes Subjekt der
10 Konstitution ist zugleich immer selbst ein Erfahrungsfeld. Es weist viele dispara-
11 te Aspekte auf, es ist konstituiert und in Erfahrungen geworden. Obwohl in Hus-
12 serls transzendental ausgerichteter Phnomenologie von einem „transzendenta-
13 len Subjekt“ die Rede ist, so garantiert dieses Subjekt doch keine Einheitlichkeit.
14 Auch wenn man von dieser transzendentalen Zuspitzung absieht, ist das Subjekt
15 der Phnomenologie immer eines, das in Erfahrungen geworden ist. Es trgt die
16 Spuren und die aktuell wirksamen Einflsse der Anderen und der Gemeinschaft
17 in sich. Und umgekehrt stellt sich das Insgesamt der konstituierten Welt als ein
18 vielfach in Sinnbezgen verflochtenes Gebilde dar. Und das gilt entsprechend
19 auch fr das Ich oder Selbst.
20 Die Abhngigkeit von Anderen liegt nicht nur in der Geschichte des Einzel-
21 nen, sondern nimmt zuweilen auch eine praxisorientierte Form an, nmlich in
22 der helfenden Sorge um Alte, Kranke und geistig Behinderte. Ebenso in dieser
23 Hinsicht bietet die Phnomenologie etwas, hierber belehren uns die Beitrge
24 zum Thema „Caring“. Hier haben wir den englischen Titel ganz bewusst ge-
25 whlt, da eine solche Verbindung von Pflegewissenschaften und Phnomenolo-
26 gie sich erst in den letzten zwanzig Jahren vor allem in den Vereinigten Staaten
27 und in Asien etabliert hat.
28 Die innere Vielheit der „Stimmen“, die unser subjektives Leben charakteri-
29 siert, ist nicht nur ein Thema der Psychologie, sondern ebenfalls ein Thema der
30 phnomenologischen Sozialforschung in einem weiten Sinne. Wir kçnnen uns
31 z. B. fragen: Wie und auf welche Weise lebt sozusagen die „Stimme der Gemein-
32 schaft“ „in uns“ oder die von Anderen, uns nahe stehenden Personen? Auf wel-
33 che Weise leben die Erfahrungen von Abhngigkeit, ungewhlter Bindung, die
34 Hilflosigkeit, welche unsere frhe Kindheit prgt, im Erwachsenen weiter und
35 beeinflussen unsere alltglichen Gegenstandsbezge und Entscheidungen? Dies
36 sind keineswegs Fragen kausaler Abhngigkeit, sondern solche der motivierten
37 Entscheidung. Die Entscheidungen des Subjekts erfolgen stets unter dem Ein-
38 fluss der individuellen Erfahrungen, und sie fgen sich in die Geschichte der Er-
39 fahrung des Einzelnen ein. Diese Betrachtungsweise leitet zum nchsten The-
40 menbereich ber, zur Psychologie.
8 Vorwort
1 Die Psychologie ist eine Disziplin, die sich der empirischen Erforschung der
2 Person widmet, eine Psychologie jedoch, die erst umgedeutet und von den Res-
3 ten der Bildung einer naturalisierenden Theorie befreit werden muss. Besonders
4 wichtig ist in diesem Zusammenhang die Beziehung der Phnomenologie zu
5 dem dringlichen Desiderat der Erneuerung einer geisteswissenschaftlichen Psy-
6 chologie. Diese befindet sich heute leider an den Universitten auf dem Rck-
7 zug, und zwar zu Gunsten einer rein experimentellen Psychologie, die einem
8 naturwissenschaftlichen Paradigma verpflichtet ist. Diese Bewegung wird noch
9 zustzlich gefçrdert durch eine große Euphorie hinsichtlich der Aussagekraft
10 der aktuellen Neurologie. Die phnomenologischen Analysen der Erfahrungsge-
11 schichte des Subjekts, die ebenfalls tief in die Genesis der Person hineinfhren,
12 verbinden die Phnomenologie auch mit der Psychoanalyse. Die Leibbindung
13 des Subjekts ist ein weiterer wichtiger Wink der Phnomenologie fr die Psycho-
14 pathologie, der zur Zeit in vielfacher und fruchtbarer Weise aufgenommen wird.
15 Intersubjektive Beziehungen stehen in Gemeinschaften immer unter normie-
16 renden Regeln, so dass ebenso die Ethik zu den thematischen Bereichen sozialer
17 Erfahrung zhlt. Es sind nicht nur die Einzelnen, die handeln, sondern auch in
18 den politischen Interaktionen hçherstufiger Personalitten, wie Staat oder Staa-
19 tengemeinschaft, liegen relevante Handlungen. Dasselbe gilt fr die Beziehun-
20 gen der Vçlker und Kulturen untereinander.
21 Unsere kommunikativen und intentionalen Beziehungen zu Anderen werden
22 gleichfalls auf der Ebene des Gefhls thematisiert. Dabei bieten sich die sozialen
23 Gefhle wie Stolz, Scham, Mitleid, Liebe, Wut oder Hass besonders an. Diese
24 Untersuchungsrichtung wird zum Teil auch von der zeitgençssischen Analyti-
25 schen Philosophie verfolgt.
26 Die in diesen Band aufgenommenen Beitrge zeigen deutlich, dass uns zu-
27 gleich an einer Strkung der Interdisziplinaritt der phnomenologischen For-
28 schung gelegen ist. Dies scheint heute eine universale Forderung an alle Bereiche
29 des Wissens und Nachdenkens zu sein, und solche Forderungen kçnnen biswei-
30 len sogar als lstige Zwnge des universitren Alltags empfunden werden. Das
31 bedeutet allerdings nicht, dass diese Idee unsinnig ist. Denn man kann versu-
32 chen, die Interdisziplinaritt dort, wo sie sachangemessen ist, unaufgeregt und
33 produktiv zu realisieren.
34 Dem Streben nach einer sinnvoll bemessenen Bercksichtigung anderer Diszi-
35 plinen steht allerdings hufig ein bestimmtes Selbstverstndnis der Philosophie
36 im Weg: Sie begreift sich nmlich grundstzlich als Meta-Disziplin, die sich dem
37 Verstndnis dessen widmet, was in den positiven und in den angewandten Wis-
38 senschaften vor sich geht, deren eigener Beitrag aber auf einem hçheren, die Ur-
39 sprnge und die Begrndung der Wissenschaften erçrternden Niveau liegt und
40 deren letzter Maßstab in einer rationalen und zugleich menschlichen Praxis zu
Vorwort 9
1 suchen ist. Der Blick auf andere Disziplinen kçnnte daher als ein prinzipieller
2 Fehler, als eine Vermengung der Ebenen erscheinen. Selbstverstndlich lsst sich
3 diese Gefahr nie vçllig ausschließen, und sie muss angemessen bercksichtigt
4 werden. Denn wenn Philosophie so ausgefhrt wird, als ob ihre Aufgabe ledig-
5 lich darin bestnde, die berlegene Antwort der Naturwissenschaft fr die einfa-
6 chen Gemter der Geisteswissenschaftler verstndlich zu machen, dann verfehlt
7 sie ganz grundstzlich ihr eigenstes Ziel.
8 Darber hinaus wird Phnomenologie heute hufig so verstanden, als ob sie
9 generell eine kritische Haltung gegenber den Naturwissenschaften einnimmt.
10 Die Gefahren des Naturalismus fr das Selbstverstndnis des Menschen hat Hus-
11 serl oft und mit guten Argumenten herausgestellt: Die meisten Naturwissen-
12 schaften gehen, so Husserl, von starken, idealisierenden Annahmen ber ihren
13 Gegenstand aus, etwa die Vorstellung von einer universalen Kausalitt. Diese
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Idealisierungen sind in der Physik sehr fruchtbar, aber wenn man sie auf die Ei-
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genschaften von Subjekten fr die Welt (Menschen und Tieren) bertrgt, bedeu-
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tet dies eine Verdeutung, da Subjekte nicht nach kausalen Prinzipien organisiert
17
sind. Subjekte haben vielmehr selbst einen aktiven Anteil an der Konstitution
18
von Welt, und darin liegt auch oft ein Freiheitsspielraum, der eine kausale Vor-
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hersage unsinnig erscheinen lsst. Dazu kommt, dass die Leugnung der Freiheit
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und der motivationalen Organisation von Subjekten ein ernstes Problem fr die
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menschliche Praxis darstellen kann. Wird Freiheit geleugnet, macht z. B. Strafe
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keinen Sinn mehr, kann es nur noch Therapie und Prvention geben.
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Husserl war aber nicht nur ein Kritiker der Wissenschaft, denn er sah ebenso,
24
dass die Phnomenologie auch erkenntnistheoretische Grundlagen fr andere
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Wissenschaften bietet. Dies war sogar das ursprngliche Motiv fr die Ausbil-
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dung seiner Phnomenologie: Er suchte nach Grundlagen fr Logik und Mathe-
28 matik. Die zeitgençssische Psychologie erlaubte jedoch nicht die Geltungsaus-
29 weisung von apriorischen Einsichten, und infolgedessen konnte die notwendige
30 Geltung logischer und mathematischer Erkenntnisse nicht verstndlich gemacht
31 werden. Die eidetische Methode der Phnomenologie hingegen bot fr diese
32 Problematik einen Ausweg.
33 Auch fr die anderen Wissenschaften – d. h. fr die Naturwissenschaft und
34 ebenso fr die Geisteswissenschaften – hat die Phnomenologie durchaus grund-
35 legende Begriffe und neue Zugangswege gefunden. So hat Husserls scheinbar
36 durchgngige Kritik an den Naturwissenschaften und ihren Idealisierungen nur
37 eine begrenzte Reichweite, die nicht mit einer generellen Ablehnung einhergeht.
38 Denn fr die Phnomenologie sind auch die Natur- und Geisteswissenschaften
39 Gegenstnde der Begrndung. Allerdings erweisen sich bei dieser Sichtweise die
40 Wissenschaften als prinzipiell gleichrangig mit den anderen lebensweltlichen
10 Vorwort
1 viert durch die von Heidegger in diesem Begriff angelegte Neigung zum Vçlki-
2 schen – die soziale Bezogenheit des Daseins als singulre Pluralitt radikalisiert.
3 Bedorf zeichnet diesen Weg nach und verweist dabei zugleich auf eine Heideg-
4 ger und Nancy gemeinsame Schwierigkeit, nmlich die Unterbestimmung der
5 Alteritt zu Gunsten der Singularitt.
6 Jagna Brudzińska widmet sich der Frage nach der Erfahrung des Anderen
7 und zielt darauf ab, die Leistungsstruktur dieser Erfahrung als teilnehmende Er-
8 fahrung intentionalgenetisch auszulegen. Einleitend werden Sinn und Bestim-
9 mungsmerkmale der genetischen Analyse skizziert und das Erfahrungsbewusst-
10 sein der genetischen Zusammenhnge als leiblich-emotives Phantasie-
11 bewusstsein thematisiert. Auf diesem Hintergrund werden Grunddimensionen
12 des phnomenologischen Zugangs zum Anderen differenziert: der reflexive ana-
13 logisierende Zugang der so genannten Einfhlung, die vorreflexive Gestalt der
14 direkten leiblichen Nachahmung als synchrones Mit-Fhlen in intersubjektiver Parti-
15 zipation und schließlich der unmittelbare fusionsartige Mitvollzug als sympathetische
16 Partizipation. Diese tiefere und genetisch ursprnglichere Stufe wird als Grundge-
17 stalt einer teilnehmend-individuierenden Erfahrung herausgestellt. Hierbei wer-
18 den entwicklungspsychologische, kognitivistische, neurowissenschaftliche und vor al-
19 lem psychoanalytische Ergebnisse bercksichtigt. Die Psychoanalyse entwickelt
20 (implicite) ein anspruchsvolles Konzept der teilnehmenden Erfahrung. Ihre Er-
21 gebnisse wurden bisher weder von den Kognitionswissenschaften noch von der
22 Phnomenologie selbst hinreichend untersucht. Es sind vor allem die psychoana-
23 lytischen Modelle der gleichschwebenden Aufmerksamkeit, des trumerischen
24 Ahnungsvermçgens sowie die dynamischen Prozesse von bertragung und Ge-
25 genbertragung, die fr die Phnomenologie der teilnehmenden Erfahrung von
26 Bedeutung sind. Die Individuation der Person berhrt ebenfalls in vielen Aspek-
27 ten die genetische Dimension der intersubjektiven Erfahrung. Mit diesem inter-
28 disziplinren Ansatz vertritt Jagna Brudzińska die These, dass wir erst dann von
29 Fremderfahrung als einer besonderen und fr die Wissenschaften vom Men-
30 schen zentralen Form der sozialen Erfahrung sprechen kçnnen, wenn wir eine
31 eigentmlich polare Struktur des teilnehmenden Vollzugs intentionalgenetisch
32 erfasst haben, entsprechend welcher das Ein- oder Nachverstehen erst in Bezug
33 auf das ursprngliche sympathetische Mitfhlen realisiert wird und werden
34 kann. Darin wird auch die Mçglichkeit fr die Zweite-Person-Perspektive gege-
35 ben.
36 Marco Cavallaro beabsichtigt, den Beitrag der Phnomenologie Husserls fr
37 die Diskussion ber die Fundierung der Geisteswissenschaften zu skizzieren.
38 Zunchst wird diese Debatte umrissen, um den philosophisch-historischen Hin-
39 tergrund verstndlich zu machen, in den Husserls Nachdenken ber die Bezie-
40 hung zwischen Phnomenologie und Geisteswissenschaften eingebunden ist.
12 Vorwort
1 Danach wird Husserls originrer Beitrag zu dieser Debatte erçrtert und bewer-
2 tet, wobei insbesondere die von ihm neu eingebrachten Begriffe und Denkmoti-
3 ve nher betrachtet werden, nmlich die regionale Ontologie und die personalis-
4 tische Einstellung. Abschließend wird der von Husserl vertretene Vorrang der
5 Geisteswissenschaften und des Geistes als deren Korrelat gegenber den Natur-
6 wissenschaften dargelegt.
7 Christian Ferencz-Flatz weist auf zwei Stellen von Sein und Zeit hin, an de-
8 nen Heidegger den Begriff der „Generation“ nachdrcklich anfhrt und sich
9 Miteinandersein (d. h. Intersubjektivitt) und Geschichte kreuzen, wobei Dil-
10 they als Urheber jenes Terminus genannt wird. Der Autor erlutert zunchst
11 den Unterschied zwischen Heideggers und Diltheys Auffassung der Generation
12 mittels einer Gegenberstellung ihrer Konzeptionen von Geschichte. Im Aus-
13 gang davon versucht er, den bei Heidegger nur sprlich behandelten Generati-
14 onsbegriff konkret im Sinne seiner existenzialen Analytik auszuarbeiten, indem
15 zum einen Heideggers Begriff des Mitgeschehens herangezogen wird, in dem
16 sich ausdrcklich die Themenbereiche der Intersubjektivitt und der Geschicht-
17 lichkeit verschrnken, und zum anderen der in Sein und Zeit nur kurz erwhnte
18 Zusammenhang der Begriffe Mitbefindlichkeit, Mitverstehen und Mitteilung
19 ausfhrlich interpretiert wird.
20 Shinji Hamauzus Anliegen besteht darin, eine Brcke zwischen der Praxis
21 und dem Selbstverstndnis des Caring und der Phnomenologie zu schlagen.
22 Brentanos Charakterisierung der Intentionalitt ist hierfr noch nicht brauch-
23 bar. Husserl ist jedoch in den Logischen Untersuchungen, den Ideen I und den
24 Ideen II Schritt fr Schritt ber Brentano hinausgegangen. In den Ideen II las-
25 sen sich bereits weiterfhrende und fr die Diskussion des Caring geeignete Ein-
26 stellungsunterschiede finden, nmlich die „naturalistische“ Einstellung auf die
27 Natur und die personalistische Einstellung auf die Person. Dabei wird der Ande-
28 re einmal als Dritte Person und dann personalistisch als Zweite Person aufge-
29 fasst, so dass sich ber den Gegensatz von Curing und Caring auch ein Weg zur
30 Klrung der komplexen Intentionalitt des Caring andeutet. Zu deren weiterer
31 Aufklrung bestehe aber noch die Aufgabe, auch Husserls Texte zu Intersubjek-
32 tivitt, Lebenswelt und Ethik heranzuziehen.
33 Phnomenologische Analysen zeigen, dass es in sozialen Gefhlen wie Stolz
34 und Scham immer Bezge auf mich selbst und meine Gemeinschaft mit ihren
35 Normen gibt. Dieter Lohmar will aufweisen, dass durch die Einbeziehung von
36 Evolutionstheorie und Primatologie neben der phnomenologischen Analyse so-
37 zialer Gefhle die Funktion des çffentlichen, aber weitgehend nicht-sprachli-
38 chen Beschmungsaktes als Mitteilung gruppenspezifischer Normen deutlich
39 wird. Scham und Stolz stellen bei Menschen und wohl auch bei Hominiden und
40 Primaten nicht-sprachlich die Erkenntnis dar, ob meine Handlung mit den Nor-
Vorwort 13
1 men der Gemeinschaft konform ist oder nicht. Auf diese Weise werden zudem
2 einige der Mçglichkeiten unseres Schamerlebens verstndlich, die ansonsten nur
3 schwer eingeordnet werden kçnnen, etwa, dass wir uns fr Andere schmen kçn-
4 nen oder dass wir uns z. B. fr ein Merkmal schmen kçnnen.
5 Karl Mertens versucht in seinem Artikel, Erfahrungen des Normativen als
6 Formen einer sozialen, im Wesentlichen kommunikativen Praxis zu rekonstruie-
7 ren. Dafr werden insbesondere zwei Typen von Normen analysiert: handlungs-
8 konstitutive und soziale. Bezglich der handlungskonstitutiven Normen wird
9 dafr argumentiert, dass Normativitt keine dem Handeln nachgeordnete Di-
10 mension ist, auf Grund deren der bereits etablierte Bereich des Handelns zum
11 Gegenstand prskriptiver Ordnungen wird. Der Bezug auf Normen ist viel-
12 mehr fr die Bestimmung von Handlungen als Handlungen konstitutiv. Um
13 dies zu zeigen, wird eine askriptivistische Auffassung vertreten, gemß der
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Handlungen und die fr sie konstitutiven Normen ihre Bestimmtheit in sozialen
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Zuschreibungssituationen gewinnen, in denen wir uns mit anderen ber das,
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was wir tun, verstndigen. Die wesentliche Funktion sozialer Normen besteht
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darin, die gesellschaftliche Ordnung zu erhalten, indem ordnungsgefhrdende
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Handlungen sozial sanktioniert werden. In dieser Hinsicht sind soziale Normen
19
von bloßen Konventionen und Bruchen abzugrenzen, die nicht mit einem Sank-
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tionsrisiko verbunden sind. Darber hinaus mssen soziale Normen von institu-
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tionellen und moralischen Normen unterschieden werden.
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Karel Novotný stellt einige Variationen des „hretischen“ bzw. „dissidenten“
23
Moments im philosophischen Denken Jan Patočkas vor. Dieses Moment ist die
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Freiheit, die aus einer Art Epoch in dem allgemeinen Sinn des Ereignisses eines
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In-Distanz-versetzt-Seins zur gegebenen Welt hervorgeht, um in ein Verhltnis
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zur Welt im Ganzen zu treten, was anhand einiger philosophischer Anstze im
28 Werk Patočkas illustriert wird. Das Musterbeispiel – wirkungsgeschichtlich,
29 aber auch systematisch gesehen – fr diese Freiheit, die denkerisch und lebens-
30 praktisch auszutragen ist, stellt fr Patočka die sokratische Sorge um die Seele
31 dar, von deren Ausgang her sich fr ihn sogar die Eigenart der europischen Ge-
32 schichte begreifen lsst. Zum Schluss wird angedeutet, wie diese philosophische
33 Idee der Freiheit auf die Dissidenz im spezifischen Sinn der Opposition gegen
34 eine totalitre politische Macht wirkt.
35 Alice Pugliese rekonstruiert einen phnomenologischen Ansatz zum Pro-
36 blem der Handlung, der ber die Debatte zu Kausalitt und Antikausalitt hin-
37 ausgeht. Die phnomenologische Erfahrungsanalyse legt eine Pluralitt von Mo-
38 tivationsquellen frei, die von den passiven Leistungen der Kinsthesen und des
39 Triebes bis zu dem komplexen Zusammenwirken von personaler und interperso-
40 naler Intentionalitt reichen. Die praktische menschliche Dimension lsst sich
14 Vorwort
1 Analysen des Wollens und Handelns zusammen, die Husserl in seinen Vorlesun-
2 gen vom Sommersemester 1914 ber Grundfragen zur Ethik und Wertlehre ent-
3 faltet hat. Dann geht er auf Husserls berlegungen zu der Beziehung zwischen
4 Intentionalitt und Motivation in den Ideen II ein. Obwohl jene Analysen ei-
5 gentlich nicht auf das Phnomen der Pflegehandlung bezogen sind, wendet der
6 Verfasser seine Analysen Schritt fr Schritt auf die Pflege an und versucht, einige
7 Strukturmomente der Intentionalitt der Pflegehandlung herauszuarbeiten.
8 Daniel Schmicking erfasst in seinem Beitrag, anknpfend an Schtz’ Analyse
9 des gemeinsamen Musizierens, in einem ersten Schritt die Typen intentionaler
10 Akte, die gemeinsames Musizieren in einer Face-to-Face-Situation ermçglichen.
11 In einer detaillierteren Deskription, die auch empirische Studien bercksichtigt,
12 wird dann die enge Interaktion beim gemeinsamen Improvisieren im Jazz erlu-
13 tert. Face-to-Face-Beziehung in Echtzeit, ausgedehnte gemeinsame Aufmerk-
14 samkeit, Synchronisierung und Grooving, harmonisch-komplementres Inein-
15 andergreifen der individuellen Handlungen, synchrone Emotionalitt und
16 Hçrbarkeit des Geistes umschreiben dabei eine Dimension des Erlebens, die als
17 interpersonelles, partielles Verschmelzen charakterisiert wird. Abschließend
18 wird knapp die Frage beantwortet, warum Formen solchen Verschmelzens we-
19 nig wahrgenommen werden, und wie es stattdessen zur Illusion des inneren, un-
20 hçrbaren Mentalen kommt.
21 Lszl Tengelyi untersucht den Zusammenhang von Singularitt und Respon-
22 sivitt. In dem Sprachgebrauch, der sich mit den Arbeiten von Bernhard Walden-
23 fels auch in der deutschsprachigen Philosophie verbreitet hat, wird unter „Re-
24 sponsivitt“ die Unausweichlichkeit des Antwortens auf fremde Ansprche
25 verstanden. Aus den Werken von Emmanuel Levinas geht dazu hervor, dass die
26 Singularitt des Selbst mit der so verstandenen Responsivitt untrennbar zusam-
27 menhngt. Wie kann jedoch das Verhltnis von beidem genauer bestimmt wer-
28 den? Die Singularitt des Selbst wird sicher nicht erst durch das Antworten auf
29 fremde Ansprche erzeugt. „Singularitt“ ist vielmehr ein subjektivittstheoreti-
30 scher Begriff, der in der Urdifferenz zwischen Subjekt und Mitsubjekt oder dem
31 Selbst und dem Anderen verankert ist. Sie bekundet und verfestigt sich aller-
32 dings im Antworten auf fremde Ansprche. Diese Beobachtung leitet zu der
33 These hin, die Laszlo Tengelyi hier vertritt: Die Responsivitt macht die Singula-
34 ritt des Selbst zwar nicht erst berhaupt mçglich, aber sie macht sie fr das
35 Selbst erst berhaupt erfahrbar. Damit erweist sich der Zusammenhang zwi-
36 schen Singularitt und Responsivitt als ein phnomenologischer.
37 Maren Wehrle beabsichtigt, eine implizite Ebene sozialer Erfahrung, eine pas-
38 sive Konstitution des Sozialen aufzuzeigen: Ausgangspunkt hierfr soll das Kon-
39 zept einer Gemeinschaftshabitualitt sein. Es wird dafr argumentiert, dass die-
40 se als Voraussetzung fr hçhere Stufen sozialer Erfahrung bzw. Handlungen
16 Vorwort
1 sen, was (praktische) Vernunft vermag, der Bestimmung des menschlichen Han-
2 delns in einer Mitwelt. Hannah Arendt, die im Handeln das genuin Menschliche
3 sieht, interpretiert den logos demgemß als das „Miteinander-Sprechen“ von
4 Brgern, die in Rede und Gegenrede Argumente tauschen.4
5 Aus dieser aristotelischen Einbettung der Vernunft in eine Gemeinschaft
6 wird in der neuzeitlichen Erkenntnistheorie das Erkenntnissubjekt herausge-
7 nommen. Das meditierende Ich kann sich nur seines eigenen Denkens sicher
8 sein. Der denkende Andere ist mir mittels sinnlicher Wahrnehmung gegeben
9 und daher erkenntnistheoretisch grundstzlich fragwrdig. Wenn es darum
10 geht, ein vernnftiges Wesen von einer Maschine bzw. einem Tier – was fr Des-
11 cartes bekanntlich das gleiche ist – zu unterscheiden, gibt es nur zwei Anhalts-
12 punkte: Mein Gegenber muss mir sagen kçnnen, was er meint, und aus Ein-
13 sicht handeln kçnnen, was sich fr mich an der kreativen Vielseitigkeit seiner
14 Problemlçsungsstrategien zeigt. Sprache und instrumentelle Vernunft sind die
15 beiden Kriterien fr die Erkenntnis „wahrer Menschen“.5 Echtes Sprachvermç-
16 gen im Gegensatz zum bloßen Zeichengebrauch definiert fr Descartes die F-
17 higkeit, „Worte auf verschiedene Weisen“ zu ordnen, „um auf die Bedeutung
18 alles dessen“, was in der Gegenwart des betreffenden Subjekts von mir „laut wer-
19 den mag, zu antworten“. Diese Universalitt kennzeichnet auch die Vernunft als
20 solche. Sie ist ein „Universalinstrument, das bei allen Gelegenheiten zu Diensten
21 steht“, whrend es unwahrscheinlich ist, „daß es in einer einzigen Maschine ge-
22 ngend verschiedene Organe gibt, die sie in allen Lebensfllen so handeln lie-
23 ßen, wie uns unsere Vernunft handeln lßt.“6 Descartes’ egologisches Erkenntnis-
24 modell macht die soziale Mitwelt begrndungslogisch abhngig von mir selbst
25 als denkender Monade.
26 Das substanzmetaphysische Cogito reduziert schließlich Kant funktional auf
27
„ein bloßes Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet. Durch dieses Ich, oder Er,
28
oder Es (das Ding), welches denkt, wird nun nichts weiter, als ein transzendenta-
29
les Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, welches nur durch die Gedanken, die
30
seine Prdikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den
31
mindesten Begriff haben kçnnen“.7 Das Subjekt der reinen Vernunft verhlt sich
32
transzendentalphilosophisch gegenber personaler Deklination vçllig indiffe-
33
rent. Es ist das eigenschaftslose Ich (oder Er oder Es) eines Niemands (x). Jeder
34
Versuch, das kantische Vernunftsubjekt erkenntnistheoretisch mit Pluralitt
35
36 4Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom ttigen Leben. Mnchen 82010. 37.
37 5Ren Descartes: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaft-
38 lichen Forschung. V, 10. bers. von Lder Gbe. Hamburg 1996. 93.
6 Ren Descartes: Von der Methode. 93. (meine Hervorhebung).
39 7 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. B 404. Hrsg. von Raymund Schmidt. Ham-
1 gleichsam aufzuladen, muss daher scheitern. Ganz anders hingegen liegen die
2 Dinge in der empirischen Psychologie. Fr die Pathologie der seelischen Erkran-
3 kungen ist Kant zufolge das „einzige allgemeine Merkmal der Verrcktheit“:
4 „der Verlust des Gemeinsinnes (sensus communis) und der dagegen eintretende
5 logische Eigensinn (sensus privatus), z. B. ein Mensch sieht am hellen Tage auf
6 seinem Tisch ein brennendes Licht, was doch ein anderer Dabeistehende[r] nicht
7 sieht, oder hçrt eine Stimme, die kein anderer hçrt. Denn es ist ein subjektiv-
8 notwendiger Probierstein der Richtigkeit unserer Urteile berhaupt und also
9 auch der Gesundheit unseres Verstandes: daß wir diesen auch an den Verstand
10 anderer halten, nicht aber uns mit dem unsrigen isolieren und mit unserer Privat-
11
vorstellung doch gleichsam çffentlich urteilen.“8 Differentialdiagnostisch bietet
12
Kant noch spezifische Stçrungen des Verstandes, der Urteilskraft sowie der Ver-
13
nunft an („tumultuarische“, „methodische“ und „systematische Verrckung“) –
14
allen gemeinsam ist jedoch eben jener Verlust des Gemeinsinns. Salopp formu-
15
liert: die Privatisierung des Denkens macht verrckt. Denn die allgemeine Men-
16
schenvernunft ist eine çffentliche Einrichtung, die auch fr mein Handeln in der
17
Mitwelt die notwendigen Rationalittskriterien liefert.
18
Kant unterscheidet zwischen der empirischen Erkenntnis und der transzen-
19
20
dentalphilosophischen Erkenntnis des Empirischen berhaupt.9 Letztere ist da-
21
durch definiert, dass sie die Formen untersucht, die immer schon an der Erfah-
22 rung beteiligt sind, ohne aus ihr selbst abgeleitet werden zu kçnnen. Im
23 Folgenden mçchte ich nicht ber soziale Erfahrung als eine Art von empirischer
24 Erkenntnis sprechen, sondern ber die Form des Sozialen im Sinne der Erkennt-
25 nis des Empirischen berhaupt oder krzer: ber das Soziale als Apriori. Es geht
26 mir um die soziale Form der Vernunft selbst, die ich in drei Schritten erlutern
27 mçchte: Zuerst werde ich mit Hilfe von Helmuth Plessners Begriff der exzentri-
28 schen Positionalitt die formale Welthaltigkeit der Vernunft skizzieren, zu der
29 die Mitweltlichkeit des Menschen bereits gehçrt (I). Danach wende ich mich der
30 empirischen Anthropologie Michael Tomasellos zu, der „die verborgene psycho-
31 logische Infrastruktur menschlicher Kommunikation durch eine Betrachtung
32 der natrlichen Gesten des Menschen und ihrer Funktionsweise offenzulegen“10
33 versucht und damit eine Beschreibung der sozialen Form menschlicher Vernunft
34 vorlegt (II). Tomasello belsst es allerdings nicht bei einer Formbeschreibung,
35 sondern ist an einer Erklrung der „Ursprnge“ von Kognition und Kommuni-
36
8 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. § 50. Hrsg. von Reinhard
37
38 Brandt. Hamburg 2000. 127.
9 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. B 401. 372.
39 10 Michael Tomasello: Die Ursprnge der menschlichen Kommunikation. bers. von Jr-
1 linker Hand, sie waren eben noch da und sind es jetzt nicht mehr, oder wir erwar-
2 ten sie noch. Andererseits kçnnen wir Dingen, unseren eigenen Kçrper einge-
3 schlossen, auch exzentrisch GPS-Koordinaten zuweisen und Ereignisse nach
4 Uhrzeit und Kalender terminieren. In dieser Außenwelt gibt es keinen absolu-
5 ten Ort mehr, sondern nur noch relative Raum- und Zeitverhltnisse. Sich selbst
6 in dieser Weise exzentrisch von außen zu sehen, beherrscht bereits jedes Schul-
7 kind, das sich im Sitzplan der Lehrerin eintrgt. Die exzentrische Struktur der
8 Außenwelt besteht in einer Beobachtung des eigenen Standortes als Aufenthalts-
9 ort eines beliebigen, austauschbaren Kçrpers.
10 Ebenso wie die physische Welt der Objekte erleben wir auch die psychische
11 unserer Erlebnisse unter einem Doppelaspekt: zum einen konzentrisch auf ein
12 aktuelles Befinden bezogen. Jederzeit ist mir irgendwie zumute, und alles das,
13
was ich hier und jetzt empfinde, erlebe und denke, kann ich weder delegieren
14
noch kann ich mich seinem Einfluss auf mein Handeln radikal entziehen. Zum
15
anderen kenne ich mich exzentrisch als jemanden mit einem ganz bestimmten
16
Temperament, mit Anlagen und Charaktereigenschaften, die auch von anderen
17
erfasst werden kçnnen, mçglicherweise sogar besser als von mir selbst. Die In-
18
nenwelt ist daher keineswegs eine nur von ,innen‘, exklusiv mir selbst zugngli-
19
che Sphre, vielmehr dringt mir meine Persçnlichkeit, nach einem Worte
20
Freuds, aus allen Poren, was ja gerade die Mçglichkeit therapeutischer Konsulta-
21
tion belegt. Und nur eine Person kann anderen oder auch sich selbst etwas vor-
22
machen. Die exzentrische Struktur der Innenwelt zeigt sich ebenfalls schon im
23
kindlichen Rollenspiel, wenn das Kind so tut, als ob es jemand anderes wre.
24
25
Schließlich erscheint auch die Mitwelt unter einem Doppelaspekt: Einerseits
26
erlebe ich egozentrisch mein Ich als das unvertretbare Selbst, das ich bin und
27 dessen Erhaltung ich handelnd betreibe. Andererseits kenne ich das eigene Ich
28 exzentrisch „in der Wir-Form“.13 Bemerkenswert an Plessners Beschreibung der
29 Mitwelt ist die Primordialitt dieser Wir-Form, die sich nicht additiv aus einzel-
30 nen Personen zusammensetzt, sondern „jeder Aussonderung in der ersten, zwei-
31 ten, dritten Person Singularis und Pluralis zugrunde liegt.“14 In der Mitwelt ist
32 „das Mitverhltnis zur Konstitutionsform einer wirklichen Welt des ausdrckli-
33 chen Ich und Du verschmelzenden Wir geworden“.15 Plessner greift Hegels Be-
34 griff des Geistes auf, um diese eigentmliche Sphre zu bezeichnen, die es „nur
35 als Einen Menschen“, aber eben nicht als Ich (cogito), sondern nur als Wir gibt.16
36 Anders als Scheler, der zur gleichen Zeit den Menschen ber den Geist definiert,
37
38
13 Plessner: Die Stufen des Organischen. 377.
14 Ebd. 377.
39 15 Ebd. 382.
40 16 Ebd. 378.
22 Ralf Becker
1 betont Plessner den originr pluralen Charakter dieses Prinzips. Wenn daher die
2 „Mçglichkeit der Objektivation seiner selbst und der gegenberliegenden Au-
3 ßenwelt […] auf dem Geist“ beruht, dann heißt das nichts anderes, als dass die
4 außen- wie innenweltliche Exzentrizittsstruktur durch die mitweltliche be-
5 dingt ist.17 Sich selbst als Kçrper unter Kçrpern bzw. als Person mit verschiede-
6 nen Rollen zu reflektieren, spiegelt (reflektiert) noch einmal die Reflexion von
7 Mitverhltnissen in einem Wir-Bewusstsein.
8 In einer Mitwelt zu leben, bedeutet demnach, dass Mitverhltnisse als solche
9 zum Bewusstsein kommen; es bedeutet, nicht bloß konzentrisch in einer sol-
10 chen Relation zu stehen, sondern exzentrisch die eigene Position im Mitverhlt-
11 nis zu entfalten und zu erfassen.18 „Die geschlossene Organisationsform des tie-
12 rischen Lebewesens gestattet die Konstitution eines eigenen Mitfeldes im
13 Unterschied zum Umfeld nicht. Seine Artgenossen, seine ,Mittiere‘ bilden fr
14 das Tier keine besonders ausgezeichnete und begrenzte Umgebung. Sie sind mit
15 dem Umfeld als Ganzem verschmolzen und werden daher in ihm sinnentspre-
16 chend behandelt.“19 Hier ist daran zu erinnern, dass Plessner in erster Linie
17 Strukturprinzipien (konzentrische und exzentrische Positionalitt) und erst
18 dann tierische und menschliche Lebensformen unterscheidet. Das exzentrische
19 Weltverhltnis ist ein Verhltnis zu einem Verhltnis. Zum exzentrischen Struk-
20 turprinzip gehçrt die Form der Reflexion, welche die Form der Vernunft ist und
21 offenbar eine primordiale ,Wir-Intentionalitt‘ (Searle) aufweist.
22
23
24
25 II. Tomasellos Beschreibung der sozialen Form menschlicher Vernunft
26
27 Der Begriff der Intentionalitt ist doppeldeutig: Erkenntnistheoretisch be-
28 zeichnet er die Ausrichtung eines Bewusstseinsaktes auf einen Bewusstseinsge-
29 genstand, handlungstheoretisch hingegen die Ausrichtung eines Handlungsak-
30 tes auf eine Handlungsabsicht (ein Ziel) nach Handlungsmotiven. Plessner legt
31 mit seiner Beschreibung der exzentrischen Positionalitt als Geist im Sinne der
32 Mitwelt strker den Akzent auf die Bewusstseinsform. Tomasello hingegen inter-
33 essiert sich unter dem Gesichtspunkt der ,geteilten Intentionalitt‘ mehr fr die
34 Handlungsform. Beiden Formbeschreibungen gemeinsam ist erstens die reflexi-
35 ve Struktur und zweitens die Hypothese, dass einige intentionale Akte (in bei-
36 den Bedeutungen) insofern „irreduzibel sozial“ sind, als „der Akteur der Inten-
37
38 17 Ebd. 379.
39 18 Vgl. ebd. 381.
40 19 Ebd. 381.
Geteilte Intentionalitt und exzentrische Positionalitt: die soziale Form der Vernunft 23
1 tionen und Handlungen das Pluralsubjekt ,wir‘ ist.“20 Die These lautet nun: Fr
2 das Verstehen von Gestik und Sprache muss man immer schon das Pluralsubjekt
3 ,wir‘ voraussetzen, das nicht aus der einfachen Addition zweier Singularsubjekte
4 (,ich‘ und ,du‘ oder ,er / sie / es‘) hervorgeht.
5 Am besten lsst sich dies anhand von Tomasellos eigenen Beispielen erlu-
6 tern:
7 (1) „Ein Mann in einer Bar will noch etwas trinken; er wartet, bis der Barkee-
8 per ihn anschaut, und zeigt dann auf sein leeres Schnapsglas. Soll heißen: Richte
9 deine Aufmerksamkeit auf das leere Glas; flle es bitte mit Schnaps.“21 (deikti-
10 sche Geste/Zeigegeste)
11 (2) „Der Sicherheitsbeamte am Flughafen bewegt seine Hand im Kreis, um
12 mir zu sagen, daß ich mich umdrehen soll, damit er meinen Rcken scannen
13
kann. Soll heißen: Stell dir vor, daß dein Kçrper diese Bewegung macht; mache
14
diese Bewegung.“22 (ikonische Geste/Gebrdenspiel)
15
(3) In einem entwicklungspsychologischen Experiment spielten ein Erwachse-
16
ner und ein 18 Monate altes Kleinkind ein Spiel, „bei dem ein Gegenstand gefun-
17
den werden sollte. Bei diesem Spiel verkndete der Erwachsene irgendwann sei-
18
ne Absicht, ,das Toma zu finden‘. Er suchte dann in einer Reihe von Eimern, die
19
alle neue Gegenstnde enthielten (wobei er einige mit schiefem Blick aussortier-
20
te und ersetzte), bis er denjenigen fand, den er haben wollte (was durch ein L-
21
cheln und die Beendigung der Suche angezeigt wurde). Die Kinder lernten das
22
neue Wort Toma fr den Gegenstand, der durch das Lcheln des Erwachsenen
23
angezeigt wurde“. Ebenfalls mit 18 Monaten konnten Kleinkinder „bei einem
24
25
hnlichen Spiel den vom Erwachsenen intendierten Gegenstand sogar dann iden-
26
tifizieren […], wenn sie ihn selbst nie sahen“.23 (Sprechakt, Spracherwerb)
27 Alle drei Beispiele fhren vor die Grenze der Sprache: Das erste schildert eine
28 (scheinbar) einfache Zeigegeste, das zweite eine Gebrde (ikonische Geste) und
29 das dritte die Szene eines Worterwerbs. Whrend Gesten in der gelingenden
30 Durchfhrung die sprachliche Artikulation ersetzen, fhrt das Suchspiel im letz-
31 ten Beispiel allererst an den Gebrauch der Sprache heran. Und doch demonstrie-
32 ren auch diese parasprachlichen Flle eine elaborierte Struktur der Verstndi-
33 gung, die sowohl reflexiv als auch irreduzibel sozial ist. Der Barkeeper, der
34 Fluggast und das 18 Monate alte Kleinkind verstehen, dass der Andere (Mann in
35 der Bar, Sicherheitsbeamter, Erwachsener) die Absicht hat, dass sie ihre Auf-
36 merksamkeit auf etwas richten: die Leere eines Glases, die von der fremden
37
38
20 Tomasello: Ursprnge. 83 (meine Hervorhebung).
21 Ebd. 74.
39 22 Ebd. 78 f.
40 23 Ebd. 172 f.
24 Ralf Becker
1 logisches Radikal sieht. Zu wollen, dass ein Anderer von etwas Kenntnis neh-
2 men will, weil man glaubt, dass es ihm helfen oder ihn interessieren wird, und zu
3 wollen, dass ein Anderer etwas Bestimmtes fhlt, damit wir Einstellungen und
4 Gefhle miteinander teilen kçnnen, sind nach Tomasellos Beobachtung genuin
5 menschliche, prosoziale Motive,27 die seines Erachtens unseren nchsten Ver-
6 wandten, den Menschenaffen, fehlen.
7
8
9 III. Der Primat des Handelns und der naturalistische Fehlschluss
10
11 Tomasellos Ziel ist „eine dynamische Darwinsche Erklrung menschlicher Kog-
12 nition in ihren evolutionren, geschichtlichen und ontogenetischen Dimensio-
13 nen“.28 Seine phylogenetische Herleitung geteilter Intentionalitt, die er aus-
14 drcklich als „spekulativ“ bezeichnet, setzt bei „mutualistische[n]
15 gemeinschaftliche[n] Ttigkeiten von Wesen [an], die wir einfach Homo nennen
16 werden […] Mutualistische gemeinschaftliche Ttigkeiten konnten jedoch nicht
17 entstehen, bevor die Menschen zunchst toleranter und großzgiger bei der Tei-
18 lung der Beute von Gruppenaktivitten geworden waren (z. B. des bei einer ge-
19 meinsamen Jagd erbeuteten Fleisches) und sich dann ein neuer Bestandteil der
20 kognitiven Maschinerie entwickelte: das rekursive Erkennen geistiger Zustnde.
21 Diese entscheidende Komponente erzeugte gemeinsame Ziele, die dann einen
22 fr das gemeinsame Ziel relevanten gemeinsamen Aufmerksamkeitsrahmen
23 schufen, der wiederum als gemeinsamer begrifflicher Hintergrund diente und
24 den Zeigegesten und anderen kooperativen Kommunikationsakten Bedeutung
25 verlieh.“29 Die narrative Form dieser evolutionren Spekulation ist weder rein
26 ußerlich noch erfllt sie bloß didaktische Zwecke – sie bringt vielmehr das Er-
27 klrungsprinzip selbst zur Erscheinung. Nach Roland Barthes besteht das Prin-
28 zip des Mythos darin, dass er „Geschichte in Natur“ verwandelt.30 Und genau
29 eine solche Naturalisierung des Geschichtlichen nimmt Tomasello vor, wenn er
30 den bergang von „natrlichen“ Gesten zu sprachlichen „Konventionen“
31 durch eine „Drift zum Arbitrren“ erklrt.31 Wie bereits gesagt, gibt es so etwas
32 wie natrliche Gesten, zumindest in dem hier relevanten Sinne, nicht, da sie im-
33
27 Vgl. ebd. 99. beraus interessant ist auch die Aufzhlung weiterer, „spezieller Motive fr
34
35 besondere Situationen […], die frh in der Ontogenese auftreten und sehr wahrscheinlich kul-
turell universal sind: grßen/sich verabschieden (,Hallo‘ und ,Auf Wiedersehen‘), Dankbar-
36 keit ausdrcken (,Danke‘) und Bedauern ausdrcken (,Es tut mir leid‘).“ (Ebd. 99. Anm.)
28 Tomasello: Die kulturelle Entwicklung. 272.
37
29 Tomasello: Ursprnge. 255 ff.
38 30 Roland Barthes: Mythen des Alltags. bers. von Horst Brhmann. Frankfurt a.M. 2012.
39 278.
40 31 Tomasello: Ursprnge. 342.
Geteilte Intentionalitt und exzentrische Positionalitt: die soziale Form der Vernunft 27
1 mer bereits den Hintergrund einer kulturellen Praxis voraussetzen, ohne den
2 auch eine gestische Verstndigung nicht gelingen kann. Zeigegesten wie Gebr-
3 den und sprachliche ußerungen sind Handlungen, die in einen begrifflich-nor-
4 mativen Kontext eingebettet sind, der wiederum die Bedingungen fr eine erfolg-
5 reiche Kommunikation festlegt.
6 Daher kann eine Handlung, die nur vor einem kulturellen symbolischen Hin-
7 tergrund etwas bedeutet, logisch nicht aus bloß ,mutualistischen gemeinschaftli-
8 chen Ttigkeiten‘ abgeleitet werden. Die Bedingungen des Verstehens von ,natr-
9 lichen‘ Gesten sind selbst nicht ,natrlich‘, sondern von Handlungen im
10 symbolischen Raum einer Kultur abhngig. Das gilt erst recht fr die „Fhigkeit
11 von Menschen […], auf ihr eigenes Verhalten zu reflektieren und auf diese Weise
12 systematische Strukturen expliziten Wissens zu erzeugen, wie z. B. wissenschaft-
13
liche Theorien.“32 Die Evolutionstheorie kann nicht selbst ein Produkt der Evo-
14
lution sein, da die Geltungsbedingungen der Theorie nicht natrlicher, sondern
15
logischer Art sind. Jede Aussage ber Naturzusammenhnge erhlt ihre Bedeu-
16
tung erst von dem gemeinsamen begrifflichen, und im Falle der Wissenschaft
17
auch theoretischen Hintergrund einer kulturellen Praxis, etwa einer scientific
18
community. Dazu gehçren beispielsweise die Prfkriterien und Maßstbe einer
19
wissenschaftlichen Theorie, Fragen der anzuwendenden Methode, der konsis-
20
tente Gebrauch fachlicher Termini usw. Insofern entscheiden kulturelle Ttigkei-
21
ten ber natrliche ,Tatsachen‘ (die im Wortsinne Tat-Sachen sind) und nicht um-
22
gekehrt. In der Umkehrung dieser Reihenfolge besteht der naturalistische
23
24
Fehlschluss von logischen auf ontologische Bedingungen bzw. von kulturellen
25
Handlungen auf natrliche Tatsachen, whrend die Geltung von Aussagen ber
26 Tatsachen gerade von kulturellen Handlungen abhngig bleibt. Der naturalisti-
27 sche Fehlschluss ignoriert den Primat des Handelns.33
28 Genau diesen Fehlschluss begeht Tomasello, wenn er behauptet, es sei eine
29 „Tatsache, daß die Kultur ein Produkt der Evolution ist“.34 Weder ist die Kultur
30 ein Produkt noch die Evolution ihr Produzent. Freilich kann man sich dafr in-
31 teressieren, daß es kulturelle Artefakte so wenig wie Menschen schon immer ge-
32 geben hat, und dass sie irgendwann auftreten. Aber jede Theorie ist selbst ein
33 von Menschen hervorgebrachtes kulturelles Artefakt, das an ganz bestimmte ar-
34
32 Tomasello: Die kulturelle Entwicklung. 248. Tomasello behauptet hier, dass die „mensch-
35
liche Fhigkeit zur Systembildung […] eine Exaptation“, d.i. eine kreative evolutionre Zweck-
36 entfremdung, „der Reflexionsfhigkeit von Menschen sein [kçnne], die sich ihrerseits von ih-
37 ren sozio-kognitiven Fhigkeiten ableitet.“
33 Zu einer hnlichen Kritik an Tomasellos evolutionrer ,Erklrung‘ menschlicher Sprache
38
vgl. Mathias Gutmann, Willem Warnecke: Sprache und Sprachen als Formen kultureller Inter-
39 aktion. In: Deutsche Zeitschrift fr Philosophie 55 (2007). 769 – 787.
40 34 Tomasello: Die kulturelle Entwicklung. 271.
28 Ralf Becker
1 tifizielle Bedingungen gebunden ist. Daher nimmt Tomasello, mit Husserl ge-
2 sprochen, „fr wahres Sein […], was eine Methode ist“.35 Von gleicher Art ist die
3 folgende Aussage: „Evolution durch natrliche Selektion ist die grundlegende
4 Tatsache, von der die ganze organische Welt beherrscht wird.“36 Darwins Theo-
5 rie natrlicher Selektion geht von der kulturellen Praxis der Domestikation aus,
6 die Menschen seit der Jungsteinzeit beherrschen. Nun muss man jedoch nichts
7 von natrlicher Zuchtwahl wissen, um Tiere domestizieren zu kçnnen (und in
8 der lngsten Zeit der Kulturgeschichte scheint dies ja auch so gewesen zu sein),
9 aber man muss ein Vorwissen ber knstliche Zuchtwahl besitzen, um das Prin-
10 zip der natrlichen Selektion verstehen und damit Aussagen wie die gemachte
11 auf ihre Geltung hin berprfen zu kçnnen. Nicht anders verhlt es sich schließ-
12 lich mit dieser These: „Wie bei der Entstehung von Kommunikationskonventio-
13 nen im allgemeinen reflektiert der Ursprung grammatikalischer Konventionen
14 also die stndige Dialektik zwischen biologischer und kultureller Evolution.“37
15 Diese These unterliegt selbst ihrer Bedeutung und ihrer Geltung nach kommuni-
16 kativen und grammatischen Konventionen, die ausschließlich zum gemeinsa-
17 men Hintergrund einer kulturellen Praxis gehçren, wie die Biologie als Wissen-
18 schaft selbst brigens auch.
19 Die Naturalisierung kultureller Phnomene erzeugt Ursprungsmythen, die je-
20 doch als wissenschaftliche Kausalerklrungen ausgewiesen werden. Tomasellos
21 Erzhlung erinnert nicht zufllig an den weitgefcherten Ursprungsdiskurs des
22 18. Jahrhunderts. Bereits dort fhrten etwa Condillac und Herder an jenen Ab-
23 grund, in den die ontologische Rede vom Ursprung der Sprache strzt, und in
24 den offensichtlich auch Tomasello selbst blickte, als er seinen berlegungen den
25 Stempel des Spekulativen aufprgte. Der philosophische Wert dieser berlegun-
26 gen liegt auf der Ebene der Beschreibung. Das gilt auch und zumal fr den Satz,
27 dass es keine Sprache, „wie wir sie kennen, auf der Grundlage von Konkurrenz
28 geben“ kçnne.38 Denn er formuliert kein genetisches, sondern ein logisches Ver-
29 hltnis zwischen sprachlicher Kommunikation und Kooperation. Begriffliches
30 Verstehen setzt geteilte Intentionalitt vor einem gemeinsamen Hintergrund kul-
31 tureller Praxis voraus. Handeln und Vernunft gehçren ihrem sozialen Wesen
32 nach zusammen.
33
34
35
36 35 Edmund Husserl: Die Krisis der europischen Wissenschaften und die transzendentale
40 38 Ebd. 362.
1 Thomas Bedorf
2
3
4 Die ,soziale Spanne‘
5
Von Heideggers Mitsein zur Sozialontologie Nancys
6
7
8
9
10 In der Liste der Klassiker der Sozialphilosophie fehlt blicherweise Heidegger.
11 Es ist in dieser nicht eben streng kanonisierten Teildisziplin stets strittig gewe-
12 sen, wer in die Liste aufgenommen gehçrt. Denn stets entscheidet die Auswahl
13 auch darber, welche Fragen die Sozialphilosophie behandeln soll und kann.
14 Man kann historisch zurckgreifen und sie bei Hobbes und seiner konstruktivis-
15 tischen Theorie einer Gesellschaft beginnen lassen, die aus Individuen-Atomen
16 besteht, und von dort ber Kant und Hegel zu den daran orientierten Positionen
17 des 20. Jahrhunderts gelangen. Sozialphilosophische Fragen werden sich dann
18 mit solchen der politischen oder der Rechtsphilosophie vielfach berschneiden.
19 Oder man kann der Auffassung sein, von einer Sozialphilosophie sui generis sei
20 erst mit dem Aufkommen des Begriffs selbst im Neukantianismus zu sprechen
21
und finde seine erste große Figur in Georg Simmel, um dann ein Panorama ver-
22
schiedener Anschlsse und Ausdifferenzierungen zu entfalten. Der Name „Hei-
23
degger“ wird sowohl im weiteren als auch im engeren Panorama selten erwhnt
24
werden.
25
Die Grnde dafr, die sowohl in Heideggers Denken selbst als auch in dessen
26
soziologischer und sozialphilosophischer Rezeption liegen, lassen sich in Hand-
27
bchern nachlesen.1 Die geringe Sichtbarkeit Heideggers als Sozialphilosoph
28
hngt im franzçsischen Rezeptionsraum wiederum damit zusammen, dass der
29
Begriff einer „philosophie sociale“ im Franzçsischen ganz und gar ungebruch-
30
lich ist.2 Es bedarf allerdings keiner besonderen Erwhnung, dass die franzçsi-
31
sche Nachkriegsphilosophie ohne die ausfhrliche Auseinandersetzung mit Hei-
32
33
degger berhaupt nicht zu verstehen ist. Auch wenn die Rezipienten nicht in
34
erster Linie ,als Sozialphilosophen’ angesehen werden, lassen sich etwa die
35 1 Vgl. Hans Bernard Schmid: Heidegger und die Sozialwissenschaften. Verabschiedung,
36 Vereinnahmung und vorsichtige Aneignung. In: Dieter Thom (Hg.): Heidegger-Handbuch.
37 Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2003. 481 – 486.
2 Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet Franck Fischbach, der unter diesem Titel einen
38
anti-universalistischen Vorstoß unternimmt. Vgl. Franck Fischbach: Manifeste pour une philo-
39 sophie sociale. Paris 2009. Eine deutsche bersetzung von Lilian Peter in der Reihe „Sozialphi-
40 losophische Studien“ beim transcript-Verlag, Bielefeld, ist in Vorbereitung.
1 einstimmende Basis – nur ber eine Auslegung des Sinns der Sozialitt rekonstru-
2 ieren. Wie fr Heidegger, so ist fr Nancy die wesentliche Dimension der Sinn,
3 den es verstehend auszulegen gilt, wenn die Frage beantwortet werden soll, was
4 das soziale Sein ausmacht. Dies betrifft zunchst das Dasein selbst. „Man kann
5 also sagen: Dasein* ist eine singulre, einzigartige Mçglichkeit, einen Eigensinn
6 der Welt und/oder die Welt eines Eigensinns sich erçffnen zu lassen (zu tun und
7 zuzulassen).“6 Die doppelte – aktive und passive – Dimension des je eigenen
8 Sinns des Daseins beruht auf der „Jemeinigkeit“. „Es hat sich schon immer ir-
9 gendwie entschieden, in welcher Weise Dasein je meines ist.“7 Die je eigene Welt
10 des Sinns ist einerseits fr das Dasein immer schon geçffnet (und dieses ist in
11 jene eingelassen), wie andererseits die je eigene Formung seines In-der-Welt-
12 seins vom Dasein geprgt wird. Kern dieser doppelten ffnung ist seine Kontin-
13 genz, die eigene „Nichtung“ in Heideggers Terminologie, bzw. die ffnung zu
14 nichts anderem „außer zur eigenen Offenheit“8 mit den Worten Nancys.
15 Die sozialphilosophische Sprengkraft von Sein und Zeit besteht nun bekannt-
16 lich darin, die Anderen nicht in der Welt mit vorkommen oder zum Dasein hin-
17
zutreten zu lassen, sondern das Mitsein zur Grundbedingung des In-der-Welt-
18
seins des Daseins berhaupt zu erheben. Damit geht Heidegger ber die am
19
Ego, am Subjekt oder am nutzenmaximierenden Individuum orientierten Be-
20
schreibungen des Sozialen, die die Soziologie wie die Sozialphilosophie lange
21
Zeit geprgt haben, hinaus bzw. genauer gesagt: hinter sie zurck. Die Ko-Pr-
22
senz Anderer in der Welt des Daseins wird von einer bloß beobachtbaren Gege-
23
benheit zu einer ontologischen Bestimmung des Daseins selbst. Sich auf die Welt
24
beziehen zu kçnnen, so hatte Heidegger gezeigt, ist nur mçglich, „weil Dasein
25
als In-der-Welt-Sein ist, wie es ist“,9 weil also, mit anderen Worten, es strukturell
26
schon auf die Welt bezogen und in die Weltbezge verwoben ist. Entsprechen-
27
des gilt dann, wie es im einschlgigen § 26 von Sein und Zeit heißt, fr das Sein
28
mit Anderen: „Die Welt des Daseins ist Mitwelt.“10
29
Nancy arbeitet ber viele Etappen seines Werks hinweg – das sich keineswegs
30
auf ein ,sozialphilosophisches‘ Denken reduzieren lsst – an der leitenden Frage,
31
32
„inwiefern die Ko-Existenz ein experimentum crucis unseres Denkens bildet“.11
33
Das „Mit-“ des Mitdaseins bei Heidegger bildet dabei den Ausgangspunkt von
34
Nancys berlegungen. Nach seiner berzeugung stellt die heideggersche Opti-
35 6 Jean-Luc Nancy: Das Mit-sein des Da-seins. In: Ders.: Singulr plural sein. 151 – 172.
36 153.
37 7 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tbingen 171993. 42.
38
8 Nancy: Das Mit-sein des Da-seins. 153.
9 Heidegger: Sein und Zeit. 57.
39 10 Ebd. 118.
40 11 Nancy: Das Mit-sein des Da-seins. 154.
32 Thomas Bedorf
1 on jedoch keine hinreichende Deutung der Ko-Existenz dar. Das Dasein ist „mit
2 Anderen“, und diese sind mit „da“. „Das innerweltliche Ansichsein dieser [i.e.
3 der Anderen] ist Mitdasein.“12 Nancy unterscheidet drei mçgliche Interpretatio-
4 nen des Mitdaseins Anderer: „[1.] banales Zusammenvorkommen (gemeinsam
5 im Sinne von gemein, gewçhnlich), [2.] das Gemeinsame als geteilte Eigenschaf-
6 ten (Beziehungen, sich Kreuzendes, Mischungen), [3.] das Gemeinsame als eige-
7 ne Instanz, insofern verbindend oder kollektiv.“13 Es fllt nicht schwer, in der
8 ersten und der letzten Interpretation die Positionen eines konsequenten Indivi-
9 dualismus bzw. einer Gemeinschaftsideologie wiederzuerkennen, als zwei Extre-
10 me, zwischen die die Geschichte der politischen und der Sozialphilosophie seit
11 jeher eingespannt ist: philosophisch gesprochen als Opposition zwischen Kant
12 und Aristoteles oder in neuerer Zeit zwischen Liberalismus und Kommunitaris-
13 mus. Nancy nennt die Opponenten „Demokratie“ (gemß Heideggers Distanz-
14 nahme) und „Totalitarismus“. Hier wren Nuancierungen angebracht, wenn die
15 Termini historisch-politische Erfahrungen abbilden sollten. Aber darauf kommt
16 es hier zunchst nicht an. Denn Nancy versucht, die soziale Ko-Existenz im Sin-
17 ne einer Erbschaft Heideggers zu deuten, die darin besteht, sich zwischen diesen
18 beiden Polen zu halten. Keiner von beiden gesteht dem Mitdasein eine konstitu-
19 tive Rolle als Soziales zu, sondern bloß als etwas je anderes: Es wird verstanden
20 als ein Hinzutretendes oder eine ußere Bedingung im ersten Fall bzw. als eine
21 substanzielle Eigenheit, die sich von dem gemeinsamen Sein unterscheiden lsst
22 im zweiten Fall. Individualismus wie Kollektivismus verfehlen berhaupt das,
23 was am Sozialen im genauen Sinn problematisch ist und bleibt. Das „Mit“ ist
24 hingegen der Stand des Denkens, der mit Heidegger erreicht ist und hinter den
25 man nicht zurckgehen kann.
26 Doch hlt Heidegger noch eine zweite Lektion bereit, dass nmlich nicht nur
27 die Tatsache, dass sich Heidegger auf die Seite der Nazis geschlagen hat, seine
28 Anstze zu einer Philosophie der Sozialitt desavouiert, sondern dass die philo-
29 sophische Fortschreibung und Explikation dessen, was aus dem „Mit“ folgt, in
30 Sein und Zeit das darin angelegte Potenzial widerlegt (und nicht bloß unterbie-
31 tet).14 Wie das Dasein hat das Mitsein eine eigentliche und eine uneigentliche Mo-
32
33
34 Heidegger: Sein und Zeit. 118.
12
1 dalitt. Die uneigentliche stellt bekanntlich das Man dar, jene Seinsweise, in der
2 das Dasein sich „zunchst verfehlt und verdeckt“.15 Zwar bestimmt Heidegger
3 das Man auch und vor allem als unausweichliche „Seinsart der Alltglichkeit“,16
4 die als Existenzial als „ursprngliches Phnomen zur positiven Verfassung des
5 Daseins“17 gehçrt. Doch die Festlegung, dass das Dasein in die „Durchschnitt-
6 lichkeit des Man“ „zerstreut“18 ist, ruft dazu auf, diese Zerstreuung zu beheben
7 und die „Flucht [des Daseins] vor ihm selbst“19 zu beenden. Wo die Eigentlich-
8 keit des Daseins auf das Mitsein trifft, wird – sofern die Verfallenheit an das Man
9 revidiert werden soll – die Suche nach einer „Miteigentlichkeit [copropriati-
10 on]“20 begonnen. Die Suche mndet bei Heidegger in dem nicht minder berhm-
11 ten § 74 von Sein und Zeit, wo die Eigentlichkeit als „Mit-Geschick“,21 als ge-
12 meinsames Schicksal eines Volkes vollzogen wird. „Wenn aber das
13 schicksalhafte Dasein als In-der-Welt-sein wesenhaft im Mitsein mit Anderen
14 existiert, ist sein Geschehen ein Mitgeschehen und bestimmt als Geschick. Damit
15 bezeichnen wir das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes.“22
16 Damit ist gemeint, dass sich das gemeinsame Geschick nicht als Addition von
17 Einzelschicksalen gewinnen lsst, sondern als die in Mitteilung und Kampf arti-
18 kulierte Macht eines Gemeinsamen einer „Generation“, in dem sich „das volle,
19 eigentliche Geschehen des Daseins“23 formt. 1933 wird Heidegger von „der jun-
20 ge[n] und jngste[n] Kraft des Volkes, die ber uns schon hinweggreift“, fabulie-
21 ren und ber den „geschichtlichen Auftrag“, den gerade dieses deutsche Volk
22 bereits „entschieden“24 hat. Nancy ist nicht der erste, der in dieser Zuspitzung
23 Heideggers Anstze zu einer Philosophie des Sozialen radikal scheitern und die
24 von den Apologeten gerne geleugnete Nhe des philosophischen Werks Heideg-
25 gers zum Vçlkischen besttigt sieht.25 Denn ein bergang vom Man zum Volk
26
27 1988. Jacques Derrida: De l’esprit. Heidegger et la question. Paris 1987. Dt.: Vom Geist. Hei-
28 degger und die Frage. bers. von Alexander Garc a Dttmann. Frankfurt a.M. 1988.
15 Heidegger: Sein und Zeit. 130.
29 16 Ebd. 127.
30 17 Ebd. 129.
18 Ebd. 129.
31
19 Ebd. 185.
32 20 Nancy: Das Mit-sein des Da-seins. 160.
33 21 Ebd. 161.
22 Heidegger: Sein und Zeit. 384 f. Heidegger selbst ist es, der ber den in der Anmerkung
34
35 zu dieser Stelle gegebenen Verweis auf den § 26 die Verbindung zum Mitsein herstellt.
23 Ebd. 384 f.
36 24 Martin Heidegger: Die Selbstbehauptung der deutschen Universitt. In: Ders.: Die
37 Selbstbehauptung der deutschen Universitt. Das Rektorat 1933/34. Frankfurt a.M. 21990. 9 –
38 19. 19.
25 Vgl. Theodore Kisiel: Der sozio-logische Komplex der Geschichtlichkeit des Daseins:
39 Volk, Gemeinschaft, Generation. In: Johannes Weiß (Hg.): Die Jemeinigkeit des Mitseins. Kon-
40 stanz 2001. 105 – 128. Das an der eigenen Bedeutung berauschte Geschreibsel von der „Wahr-
34 Thomas Bedorf
1 ist nicht vorgesehen; die beiden Weisen des Aufgreifens des Mit scheiden sich in
2 eine eigentliche und eine uneigentliche. „Das Mit geht in beiden Fllen jeder In-
3 dividualitt voraus“,26 wie Nancy festhlt und woran er seine eigene Philosophie
4 des Zwischen anschließen wird. Doch, so fhrt er fort, bei Heidegger geht das
5 Mit der Individualitt im einen Fall voraus und „folgt auf sie als Anonymitt
6 und gegenseitige Indifferenz aller nebeneinander stehenden Existierenden, im an-
7 deren geht es ihr voraus und folgt auf sie als Gemeinschaft, die mit eigentlich
8 geschickhaften Potentialitten versehen ist.“ Und Nancy schließt: „Letztlich
9 gibt es zwei Verfassungen des Mit-da-seins: eine unmçgliche in der Masse, in der
10 sich die Wesentlichkeit des Mit als solche auflçst, und eine bermçgliche im
11 Volk, in dem sich die Wesentlichkeit des Mit bestimmen wird und sie potentiali-
12 siert. Man sieht nicht, wie es vom einen zum anderen einen bergang geben soll
13 (man sieht kaum etwas, und weder ich noch wir finden uns dort wieder…).“27
14 Wie kommt es nun, so fragt sich Nancy, dass Heidegger – obwohl er der erste
15 ist, der den Zwischenraum des Mit als das Zu-Denkende der Sozialitt gesehen
16 hat – in eine solche Sackgasse geraten ist? Mit einer „ethisch-politischen Verur-
17
teilung“28 Heideggers ist es nicht getan, weil diese Sackgasse Indiz fr eine Para-
18
doxie ist, die bislang einer jeden Philosophie des Sozialen anhaftete. Im Gegen-
19
teil besteht die Lehre, die aus dem Scheitern von Heideggers ,Sozialphilosophie‘
20
zu ziehen ist, darin, die Paradoxie des Daseins zwischen selbsthafter Vereinze-
21
lung und ,waltendem‘ Geschehen, das durch das Selbst hindurch sich vollzieht,
22
in Sein und Zeit nicht auflçsen zu kçnnen. Heidegger irrt sich gerade in der ge-
23
meinschaftlichen Vereindeutigung dieser Paradoxie, die ihn mit den Ideologen
24
des Vçlkischen gemeinsame Sache machen lsst. Die Paradoxie als Paradoxie hin-
25
gegen, um deren Auflçsung Sein und Zeit sich vergeblich bemht, bietet den
26
Anknpfungspunkt fr eine neue „negativistische Sozialphilosophie“.29 Wie
27
nmlich die Ko-Existenz sich denken lsst, die „nichts anderem gegenber expo-
28
niert ist als sich selbst, und sicher nicht einer berexistenz der Gemeinschaft;
29
wie sich eine Mitteilung* denken lsst, die fr die Gemeinschaft keine Botschaft
30
31
darstellt“,30 darin besteht die Aufgabe, der sich Nancys Sozialontologie stellt.
32
heit des vçlkischen Daseins“, fr die Heidegger durch sein Rektorat „Mitverantwortung“ tra-
33 ge, ist der „Gerede“-hafte Reflex jenes „geistige[n] Nationalsozialismus“, fr dessen Ausarbei-
34 tung als „Metapolitik ,des‘ geschichtlichen Volkes“ sich Heidegger zustndig fhlte (Martin
35 Heidegger: berlegungen II-VI [Schwarze Hefte 1931 – 1939]. GA 94. Frankfurt a.M. 2014.
112, 124, 135).
36 26 Nancy: Das Mit-sein des Da-seins. 164.
27 Ebd. 164.
37
28 Ebd. 169.
38 29 Zu diesem Ausdruck vgl. Burkhard Liebsch, Andreas Hetzel, Hans Rainer Sepp (Hg.):
39 Profile negativistischer Sozialphilosophie. Ein Kompendium. Berlin 2011.
40 30 Nancy: Das Mit-sein des Da-seins. 169.
Die ,soziale Spanne‘ 35
1 Diese beruht nmlich auf einem Begriff der „communaut desœuvre“, einer
2 „entwerkten“ Gemeinschaft, die weder Botschaft noch Substanz hat und sich
3 ebensowenig durch eine Eigenschaft seiner Mitglieder wie eine gemeinsame
4 Identitt definiert.31
5
6
II.
7
8
Aus der heideggerschen Sackgasse sucht nun Nancys Philosophie des Zwischen
9
einen Ausweg.32 Deren Grundgedanke liegt im Ausdruck „singulr plural sein“,
10
der dem Hauptwerk seinen Namen gegeben hat.33 Was in seiner Heidegger-Kri-
11
tik als die unartikulierte Paradoxie von Heideggers Ontologie vorgefhrt wird,
12
entfaltet Nancys paradoxer Ausdruck begrifflich. Kontinuitt und Distanz zu
13
Heidegger lassen sich anhand des fraglichen Man einsichtig machen. Nancy beti-
14
telt eines seiner Buchkapitel mit „Les gens sont bizarres“,34 was sich mit „Die
15
Leute sind sonderbar“ wiedergeben lsst. Der Plural „die Leute“ gegenber dem
16
versammelnden Singular „Man“ hebt auf die Vielfalt individueller Existenzwei-
17
sen ab, die sozial in Kontakt zueinander geraten. Gesten, Stimmen, Handlun-
18
gen, Habitualitten zeichnen Kçrper als Einzelne und Einzige aus, unterschei-
19
den sie und setzen sie kommunikativ in Bezug. Sie erzeugen jeweils einen
20
eigenen Sinn, der sich – wenn auch minimal – von den anderen unterscheidet.
21
Diese Nuancen wirken als Attraktoren sozialer Affektivitt: „Vom Gesicht zur
22
Stimme, zu den Gesten, den Haltungen, dem Gebaren und Benehmen – und was
23
auch immer die ,typischen‘ Zge sind, die so großzgig verteilt werden: Es gibt
24
niemanden, der sich nicht bemerkbar macht durch eine Art augenblicklicher
25
berstrztheit, in der sich die Fremdheit einer Singularitt ausdrckt. Ohne sol-
26
che berstrztheit gbe es schlicht keinen ,jemand‘. Und es gbe auch weder
27
Interesse noch Feindschaft, weder Begehren noch Abscheu, auf wen es sich auch
28
immer beziehen wrde.“35
29
Das Man wird pluralisiert, in seine einzelnen Fremdheiten zerlegt. Die Ge-
30
wçhnlichkeit erhlt ihre vielfltigen Konturen zurck, die das entdifferenzieren-
31
de „Man“ ihr genommen hatte. Alle Leute setzen Differenzen in Szene, sie unter-
32
33 31 Jean-Luc Nancy: La Communaut dsoeuvr. Erw. Aufl. Paris 1999. Dt.: Die undarstell-
34 bare Gemeinschaft. bers. von Gisela Febel und Jutta Legueil. Stuttgart 1988.
32 Mit Dieter Thom kçnnte man den Sinn des nancyschen Vorhabens durch die diametral
35
entgegengesetzte Formulierung ebenso gut erfassen: „ausnahmsweise gilt das Interesse hier
36 nicht den Auswegen, sondern den Sackgassen“, so Thom in seinem klar positionierten und
37 einen glnzenden berblick bietenden Artikel „Heidegger und der Nationalsozialismus“. In:
38 Ders. (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2003. 141 – 162. 144.
33 Vgl. Nancy: tre singulier pluriel. Dt.: Singulr plural sein.
39 34 Ebd. 23. Dt.: 25.
1 scheiden sich ebenso voneinander wie von sich selbst, d. h. jede Individualitt ist
2 eine Singularitt-im-Augenblick. Die Differenzen liegen also nicht nur auf der
3 Ebene vielfltiger Individualitt, sondern auf der des „Infra-Individuellen“:
4 „Mir sind nie Pierre oder Marie begegnet, sondern der eine oder die andere in
5 gewisser ,Form‘, einem ,Zustand‘ oder einer ,Stimmung‘, usw.“36 Es sind also
6 Individuen und ihre Modalitten, die in Pluralitt zueinander stehen. Zugleich
7 handelt es sich aber nicht um ein bloßes Nebeneinander, sondern um ein Zu-
8 gleich, das nicht reduzierbar ist, eine Pluralitt von Singularitten. Gegenber
9 der irreduzibel pluralen Gleichzeitigkeit ist – von Nancy her gesehen – das Man
10 als Auszeichnung der Gleichfçrmigkeit der Alltglichkeit eine unterkomplexe
11 Terminologie. Das Alltgliche besteht gerade nicht in indifferenter Anonymitt,
12 sondern in der Simultaneitt der Differenzen.
13 „Ein ,Tag‘ ist nicht bloß eine Recheneinheit. Er ist der immer wieder singulre
14 Lauf der Welt, und die Tage, sprich alle Tage, kçnnten ,einander‘ nicht ,gleichen‘,
15 wie man sagt, wenn sie nicht zunchst unterschiedlich, der Unterschied selbst
16 wren. Dasselbe gilt fr die ,Leute‘, oder vielmehr ,die Leute‘ sind mit der irredu-
17 ziblen Sonderbarkeit, die sie als solche konstituiert, selbst in erster Linie die Ex-
18 position der Singularitt, aufgrund derer die Existenz auf irreduzible Weise und
19 allererst existiert […]. Die moderne Welt verlangt, daß diese Wahrheit gedacht
20 wird: daß der Sinn hier selbst ist. Er ist in der unbestimmten Pluralitt der Ur-
21 sprnge und in ihrer Ko-Existenz. Das ,Gewçhnliche‘ ist hier immer außerge-
22 wçhnlich, sofern man seinem Ursprnglichkeitscharakter zum Recht verhilft.
23 Was wir gemeinhin als ,Sonderbarkeit‘ auffassen, ist genau diese Eigenschaft. In
24 der bloßen Existenz und nach dem Sinn der Welt ist die Ausnahme die Regel.“37
25 Nancys Umarbeitung des heideggerschen Man unterliegt hier zwei Impulsen:
26 Pluralisierung und Affirmation. Zum einen werden aus dem totalisierenden
27
Man „die Leute“ als mannigfache Ursprnge des Sinns, die jeweils eine singulre
28
Welt aufspannen. Zum anderen wird die Dichotomie von eigentlicher und unei-
29
gentlicher Existenzweise, die den Zuschnitt des Existenzials „Man“ bestimmte,
30
unterlaufen, indem die Besonderheit nicht in die Eigentlichkeit des vereinzelten
31
Daseins verlegt, sondern in der alltglichen Existenzweise der in vielen sonderba-
32
ren Differenzen Existierenden aufgefunden wird. Nancys Rede von der Außer-
33
gewçhnlichkeit darf man aber nun nicht so missverstehen, dass er einer Glorifi-
34
zierung der Alltagsexistenz das Wort redet. Dass die Ausnahme die Regel ist,
35
besagt, dass die Differenz regiert, die jede Regel zu etwas Sekundrem macht.
36
Wenn weder die Totalitt noch die Individualitt, sondern die Differenz der je
37
eigenen Weltursprnge der instabile Boden ist, auf dem sich das Gemeinsame
38
39 36 Ebd. 27. Dt.: 29.
40 37 Ebd. 27 f. Dt.: 30 f.
Die ,soziale Spanne‘ 37
1 aufbaut, so besteht Sozialitt in nicht viel mehr als diesem „Zugleich“ der Singu-
2 laritten. Metaphorisch formuliert Nancy das als einen Zwischenraum, der aus-
3 einanderhlt und zugleich verbindet. „Tout se passe donc entre nous [unter bzw.
4 zwischen uns]“.38 Aus dem Zwischenraum des Sinns emergieren die Subjektivit-
5 ten, anstatt dass umgekehrt bereits konstituierte Subjekte miteinander in Interak-
6 tion treten. Daraus folgt, dass dasjenige, was bei Husserl noch Intersubjektivitt
7 hieß, hier weder als Konstitution noch als Kontinuitt zu fassen ist, sondern als
8 Kontiguitt, als unausweichliche Nachbarschaft, die gleichwohl durch einen
9 Spalt gekennzeichnet ist. Die „Spanne“,39 wie Nancy unter rumlicher Umdeu-
10 tung eines Zeitwortes Heideggers sagt, stiftet den Abstand zwischen Sinnpunk-
11 ten und schafft Distanz. Zugleich besteht aber zwischen diesen Punkten eine
12 Spannung, die das nicht substantialistisch gedachte Band nicht reißen lsst. „Viel-
13 leicht ist es nicht einmal richtig, von ihm als ,Band‘ zu sprechen: Es ist weder
14 gebunden noch ungebunden, es ist diesseits von beidem […]. Das ,Zwischen‘ ist
15 die Distanzierung und die Distanz, die vom Singulren als solchen erçffnet wird,
16 und eine Art Verrumlichung des Sinns.“40 Es gibt keine „transzendentale“ oder
17 sonst eine Subjektivitt, die den beiden Seiten des Inter gemeinsam wre. Die
18 Bodenlosigkeit der Grndung des Sozialen bedeutet nicht Isolation oder atomis-
19 tische Individualitt, weil jede Spanne als Spannung gedacht wird.41 Der Termi-
20 nus ,Spanne‘ illustriert somit den von Nancy intendierten Doppelsinn eines Ab-
21 standes, der nicht durch eine identitre Gemeinsamkeit berbrckbar ist, und
22 eines Aneinander-gebunden-seins, das sich nicht lçsen lsst.
23 Nancy ist es darum zu tun, diese Spanne in der Existenz ontologisch zu veran-
24 kern, und verfolgt damit die Absicht, Heideggers Unentschiedenheit zwischen
25 „existenzialem ,Solipsismus‘“42 und ontologischer Grundlegung der Sozialitt
26 dezidiert zugunsten letzterer zu beenden. „Wenn das Sein Mit-Sein ist, dann ist
27 im Mitsein das ,Mit‘ das, was das Sein ausmacht, und es wird ihm nicht hinzuge-
28
fgt.“43 Diese Formulierung Nancys kçnnte zweifellos auch in Sein und Zeit ste-
29
30 38 Ebd. 23. Dt.: 25.
31 39 Jean-Luc Nancy: Le sens du monde. Paris 1993. 106. Vgl. Heidegger: Sein und Zeit. 409;
sowie Heidegger: Die Grundprobleme der Phnomenologie. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm
32
von Herrmann. GA 24. Frankfurt a.M. 21989. 372.
33 40 Nancy: tre singulier pluriel. 23. Dt.: 25. Die „Verrumlichung“ fhrt Nancy weiter bis
34 zur These: „Die Ontologie des Mit-seins ist eine Ontologie des Kçrpers, aller Kçrper“ (tre
35 singulier pluriel. 131). Zu Nancys Kçrper- bzw. Leibbegriff vgl. Kathrin Busch: Jean-Luc Nan-
cy – Exposition und Berhrung. In: Emmanuel Alloa u. a. (Hg.): Leiblichkeit. Geschichte und
36 Aktualitt eines Konzepts. Tbingen 2012. 305 – 319.
41 Zu den Konsequenzen dieser Bodenlosigkeit fr das Politische vgl. Thomas Bedorf: Bo-
37
38 denlos. Der Kampf um den Sinn im Politischen. In: Deutsche Zeitschrift fr Philosophie 55
(2007). 689 – 715.
39 42 Heidegger: Sein und Zeit. 188.
1 hen. Allerdings zielt Nancys Skepsis darauf ab, dass Heidegger die systemati-
2 schen Konsequenzen aus einem solchen Satz nicht gezogen hat. Nancy hingegen
3 will kein Sein, auch kein Dasein kennen, das nicht bereits geteilt ist. Er bringt
4 dies auf folgende Formel: „Singulr plurales Sein heißt: Das Wesen des Seins ist,
5 und ist nur, als Mit-Wesen [co-essence].“44 Das soll heißen, dass es keine Seien-
6 den geben kann, die ontologisch zugnglich, in ihrer Seinsweise erfassbar wren,
7 und denen berdies und unabhngig davon noch das Existenzial „Mit-Sein“ zu-
8 kme. Die Ko-Essenz strukturiert das Sein selbst und koordiniert die Daseine
9 nicht als Sammlung von primr Einzelnen. Wie Levinas der Philosophiegeschich-
10 te ihre Andersheitsvergessenheit vorwirft, so liest Nancy sie als eine Geschichte
11 der Vergessenheit des „Mit“. So versumen es nach Nancy die drei „großen H’s“
12 (Hegel, Husserl, Heidegger), die fr die franzçsische Nachkriegsphilosophie (in-
13 klusive Nancy selbst) so stilbildend waren, trotz ihrer je eigenen Artikulation
14 der Dynamik von Selbst und Anderem, dem Mit mehr als eine sekundre Rolle
15 einzurumen. Die Ontologien der Philosophiegeschichte sind demnach neu zu
16 lesen auf ihren vergessenen oder verdrngten Grund im Mit-sein hin, sodass die
17 These vom singulr pluralen Sein auch eine dekonstruktive Lektre der Klassi-
18
ker mit sich bringt. Das „Mit-sein [ist] das eigentlichste Problem des Seins“45 und
19
ist es fr die Philosophien auch immer gewesen, selbst wenn noch zu beantwor-
20
ten wre, wo und wie sich dies jeweils zeigt.
21
Diese prinzipielle Perspektive bedeutet, dass es keine eigene Sozialontologie
22
geben muss, ja geben kann, weil jede Ontologie bereits Sozialphilosophie ist.
23
Diesen Schluss muss man aus Nancys Erluterung seiner ontologischen These
24
ziehen: „Nicht zuerst das Sein des Seienden und dann das Seiende selbst als Mit-
25
ein-ander, sondern das Seiende – und alles Seiende – in seinem Sein als mit-ein-
26
ander seiend. Singulr plural: derart, daß eines jeden Singularitt von seinem
27
Sein-mit-mehreren nicht zu trennen ist, und weil tatschlich und im allgemeinen
28
Singularitt von Pluralitt nicht zu trennen ist. Auch hier handelt es sich nicht
29
um eine zustzliche Eigenschaft. Der Begriff des Singulren impliziert seine Sin-
30
gularisierung und folglich seine Unterscheidung von anderen Singularitten
31
[…]. Das Singulre ist von vornherein jeder Einzelne, folglich auch jeder mit
32
33
und unter allen anderen. Das Singulre ist ein Plural. […] Das Singulre ist jedes
34
Mal fr das Ganze, auf seinem Platz und in seinem Blick.“46
35
Aus dieser Ontologie ergibt sich fr die Sozialphilosophie die Konsequenz,
36 dass jede Identitt unbegrndbar wird, zumindest solange man sie isoliert und
37 wiedererkennbar konzipiert sehen will. Nancy hat einen Großteil seines Werkes
38 44 Ebd.
39 45 Ebd. 52. Dt.: 61.
40 46 Ebd. 52. Dt.: 61 f.
Die ,soziale Spanne‘ 39
1 darauf verwendet zu zeigen, dass und inwiefern weder Volk noch Gemeinschaft,
2 weder Nation noch Familie als Verkçrperung der Ko-Existenz infrage kom-
3 men.47 Im Gegenteil zeigt sich nun, dass das Mit- als Strukturbedingung des
4 Seins selbst noch der heideggerschen Alternative von Man und Volk vorausliegt.
5 berhaupt lsst sich kein Standpunkt auffinden, von dem aus thetisch ,ber‘ das
6 Mit-Sein zu sprechen wre. Aussprechen lsst es sich nur in der ersten Person
7 Plural. Statt einer Identitt, die man feststellen kçnnte und fr die Kriterien, Ei-
8 genschaften oder Grenzen zu bestimmen wren, spricht ein kontingentes, ereig-
9 nishaftes Wir sich selbst aus. Die Begriffe „Kontingenz“ und „Ereignis“ sind
10 hier ernstzunehmen, wenn die Konsequenzen aus dem plural singulren Sein ge-
11 zogen werden sollen. Sie bedeuten dann nmlich einen stndigen Zwang, sich
12 situativ zu positionieren, ohne sich je abschließend niederlassen zu kçnnen:
13 „Niemals Identitt, immer Identifizierungen.“48
14
15
16
17
III.
18
19
Mit seiner Ontologie des plural Singulren gelingt es Nancy, den kollektivisti-
20
schen Tendenzen aus Sein und Zeit zu entgehen, ohne in einen allzu schlichten
21
methodischen Individualismus zurckzufallen, von dem sich bereits Heideggers
22
Daseinshermeneutik gelçst hatte. Blickt man jedoch auf Heideggers Ausgangs-
23
befund zurck, bekommt die berzeugung, Nancy habe die von Heidegger
24
berlieferten Probleme gelçst, Risse. Dies zeigt sich, wenn man sich die Aus-
25
gangsproblematik vor Augen fhrt, auf die das Existenzial des Mitseins antwor-
26
tet. Die Konstitutionstheorie des Anderen in Husserls Cartesianischen Medita-
27
47 Jean-Luc Nancy: Le Sens du monde. Dt. (in Auszgen): Der Sinn des Politischen. bers.
28
von Jadja Wolf und Eric Hoerl. In: Wolfgang Pircher (Hg.): Gegen den Ausnahmezustand.
29
Zur Kritik an Carl Schmitt. Wien 1999. 119 – 140; Nancy:
loge de la mÞle. In: Ders.: tre
30 singulier pluriel. 169 – 182. Dt.: Lob der Vermischung. bers. von Andreas Knop. In: Lettre
31 Internationale 21 (1993). 4 – 7; Nancy: La communaut affronte. Paris 2001. Dt.: Die herausge-
forderte Gemeinschaft. bers. von Esther von der Osten. Berlin 2007; Nancy: La cration du
32
monde ou la mondialisation. Paris 2002. Dt.: Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisie-
33 rung. bersetzt von Anette Hoffmann. Berlin 2003; und zuletzt: Nancy: Identit. Fragments,
34 franchises. Paris 2010. Dt.: Identitt. Fragmente, Freimtigkeiten. Wien 2010. – Dass eine
35 Mehrdeutigkeit des Begriffs des „Volks“ gerade im Franzçsischen in Zusammenhang mit der
„Unreinheit des Politischen“ stehen und damit nicht einfach verworfen werden kann, ist ein
36 Verdacht, den Volker Schrmann und Grard Bras (in wechselseitiger Unkenntnis) miteinan-
37 der teilen. Vgl. Grard Bras: Les ambiguts du peuple. Nantes 2008; sowie Volker Schr-
38 mann: Volkhaftigkeit in der Weltgesellschaft. Was kann Plessner meinen? In: Rainer Adolphi,
Andrzej Gniazdowski, Zdzisław Krasnodebski (Hg.): Philosophische Anthropologie zwi-
39 schen Soziologie und Geschichtsphilosophie. Nordhausen (im Erscheinen).
40 48 Nancy: tre singulier pluriel. 88. Dt.: 106.
40 Thomas Bedorf
40 53 Ebd. 126.
Die ,soziale Spanne‘ 41
1 sein Insistieren auf der Ereignishaftigkeit und der Pluralitt des Singulren den
2 homogenen Raum des Man in die Pluralitt heterogener „Leute“ spaltet. Doch
3 darf man die Differenz zwischen einer Philosophie des Mit und einer Theorie
4 des Anderen, die sich an den Begriffen „Singularitt“ bzw. „Alteritt“ terminolo-
5 gisch festmachen lsst, nicht bersehen. Denn mit der Pluralitt des Singulren
6 geht eine radikale Gleichsetzung aller Seinsereignisse einher, die der Ontologie
7 zumindest methodisch einen Primat zuschreibt. Die daraus resultierende Absa-
8 ge an jede ethische Dimension, die sich nicht mit Ontologie verrechnen ließe,
9 illustriert bei aller Kritik Nancys an Heidegger die innige Verwandtschaft von
10 Heideggers und Nancys Unternehmung. „Es gibt keinen Unterschied zwischen
11 Ethik und Ontologie.“54
12 Mit dieser pointierten Formulierung setzt sich Nancy geradezu diametral Le-
13 vinas entgegen als jenem Denker, der dem Primat der Ethik gegenber der Onto-
14 logie sein gesamtes Werk gewidmet hat.55 In singulr plural sein nimmt Nancy in
15 einer Anmerkung direkt und bndig auf dieses Verhltnis Bezug: „In gewissem
16 Sinne ist Levinas als Zeuge exemplarisch fr die Problematik. Was er aber als
17
,autrement qu’Þtre‘ (anders als Sein) versteht, muß verstanden werden als ,das
18
Eigentlichste des Seins‘, eben darum weil es vielmehr darum geht, das Mit-sein
19
zu denken statt den Gegensatz des Anderen zum Sein.“56
20
Sofern nun bei Levinas das „autrement qu’Þtre“ gerade das Auftreten des An-
21
gesichts des Anderen bezeichnet, das sich nicht nur jeder Kategorisierung, son-
22
dern in seiner Ereignishaftigkeit auch jedem ontologischen Zugriff entzieht und
23
so zum Ort des ethischen Appells werden kann, entzieht Nancy Levinas’ Philo-
24
sophie radikaler Alteritt mit diesem Mançver den Boden. Levinas, der stets be-
25
kannt hat, wie viel sein Denken demjenigen Heideggers verdankt (ohne dass – so
26
wird sogleich hinzugefgt – Verdanken Vergessen hieße57), setzt anstelle der on-
27
tisch-ontologischen Differenz eine ontologisch-ethische als grundlegend an.
28
Wenn, wie Levinas die Fundamentalontologie auffasst, Heideggers Rede vom
29
Sein dieses wie ein „identifizierbare[s] Seiende[s]“58 anspricht, so kann Anderes
30
31
nicht in Erscheinung treten. Sein ist „berhaupt die Unfhigkeit zu irgendetwas
32 54 Nancy: tre singulier pluriel. 123. Dt.: 149.
33 55 Der Klarheit der Gegenberstellung zwischen pluraler Ontologie und Alterittstheorie
34 willen ziehe ich hier allein Levinas heran und verzichte auf die Darstellung des verwickelteren
35 Verhltnisses von Derrida und Nancy. Vgl. dazu jedoch Marie-Eve Morin: Jenseits der brder-
lichen Gemeinschaft. Das Gesprch zwischen Jacques Derrida und Jean-Luc Nancy. Wrz-
36 burg 2004.
56 Nancy: tre singulier pluriel. 52. Anm. 1. Dt.: 61. Anm. 32.
37
57 Emmanuel Levinas: Autrement qu’Þtre ou au-del de l’essence. Den Haag 1974. 49.
38
Anm. 1. Dt.: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. bers. von Thomas Wiemer.
39 Freiburg 21998. 96. Anm. 28.
40 58 Ebd. 55. Dt.: 105.
42 Thomas Bedorf
1 Anderem“,59 das nicht eine Wiederholung oder Verdoppelung des Selben ist. Un-
2 terbrechung des Seins kann nur von einem Anderswo herkommen, das nicht
3 schon seinen Ort in der Ontologie eingenommen hat. Jenseits dieser fundamen-
4 talen Differenz in der Auffassung dessen, was Ontologie erfassen kann oder kçn-
5 nen msse, ist fr Levinas jedoch entscheidend, dass Sozialitt bzw. Intersubjek-
6 tivitt nur unter Einbezug einer solchen Unterbrechung angemessen denkbar ist
7 (Levinas’ Bezeichnungen dafr variieren: Trennung, Exterioritt, Jenseits-des-
8 Seins … ). Heideggers hermeneutische Kontinuitten erweisen sich daher als
9 nicht weiterfhrend. „Das Heideggersche In-der-Welt-Sein ist Verstehen: selbst
10 die technische Aktivitt ist Erçffnung, Ent-deckung des Seins, und sei es auf die
11 Weise der Seinsvergessenheit. […] Doch hinter dem, was die Thematisierung er-
12 schließt, […] hinter der Identitt der Seienden, der Pole fr die Identifizierung
13 […] lçst sich die Sensibilitt nicht in jene Licht- und Spiegelspiele auf […]. Sie ist
14 Verwundbarkeit, Empfnglichkeit, Entblçßung, durch den Anderen ,umringt‘
15 und betroffen, irreduzibel auf das Erscheinen des Anderen.“60
16 Es wre noch viel zu sagen zu der Art und Weise, wie Levinas hier Heidegger
17
zuspitzt (bzw. verflacht), wie auch dazu, wie sehr seine Rhetorik zu lockern
18
wre (oder in Beziehung zu setzen zu dem „geschraubt wrdevollen Pathos“61,
19
das er zu Recht an Heideggers Texten moniert). Aber darum geht es hier nicht.
20
Es geht vielmehr um die Mçglichkeiten, die bereitstehen, wenn man nach Hei-
21
degger, aber nicht wie Heidegger sozialphilosophisch denken will.62 Diesbezg-
22
lich steht Levinas’ Betonung eines „jenseits des Seins“ fr eine Option, die Nan-
23
cys Philosophie anvisiert, aber verfehlen muss. Denn – so muss es nach der
24
kurzen Erinnerung an Grundelemente des Denkens der Alteritt scheinen – die
25
Singularitt, die Nancy ebenso nachdrcklich wie kunstvoll namhaft macht,
26
bleibt in der Gleichartigkeit und Gleichsinnigkeit des Seins befangen. Die demo-
27
kratische Pluralitt des Singulren besteht ja gerade in der Formel: „Der Sinn,
28
das sind wir“.63 Alterittstheoretisch gesprochen msste Singularitt hingegen
29
gerade in einem Ereignis bestehen, das sich mit dem Sinn des Seins nicht verrech-
30
31
nen lsst, das zwar nicht vollkommen getrennt, gnzlich anderer Art ist, wie Le-
32
Ebd. 230. Dt.: 389 f.
59
33 Ebd. 101. Dt.: 181.
60
61 Ebd. 230. Dt.: 389.
34
62 So besteht gewiss ein „Defizit“ von Nancys Ontologie des Sozialen in ihrer strukturellen
35
Nhe zur Negativen Theologie, insofern sie ber die Struktur des „Mit“ nur negativ zu spre-
36 chen weiß (so Kurt Rçttgers: Das Soziale als kommunikativer Text. Eine postanthropologi-
37 sche Sozialphilosophie. Bielefeld 2012. 30). Das gravierendere Defizit scheint jedoch zu sein,
38 dass Singularitt Alteritt begrifflich ausschließt. Eine „postanthropologische Sozialphiloso-
phie“ muss das natrlich nicht kmmern.
39 63 Jean-Luc Nancy: L’oubli de la philosophie. Paris 1986. 94. Dt.: Das Vergessen der Philo-
40 sophie. bers. von Horst Brhmann. Wien 1987. 100. Hervorh. Th.B.
Die ,soziale Spanne‘ 43
1 vinas hyperbolisch immer wieder unterstreicht, aber doch als ein berschuss
2 ber die Ordnung des Seins sich deren Zugriff entzieht.
3 Indem das Ereignis der Alteritt, wie es in der „asymmetrische[n] Intersubjek-
4 tivitt“64 statthat (nach Levinas), zu einer ontologischen Existenz unter und zwi-
5 schen anderen Existenzen („entres autres“) gemacht wird (nach Nancy), ver-
6 flchtigt sich jede Mçglichkeit eines Widerstandes im ontologischen Meer der
7 Singularitten.65 Nancy geht mit Heidegger mit und ber ihn hinaus, indem er
8 die Sackgasse, in die Heidegger sich in Sein und Zeit mit der Alternative „Man
9 oder Volk“ mançvriert, nicht zum Anlass nimmt, zu einem sozialen Atomismus
10 der individuellen Freiheit zurckzukehren, sondern als Forderung nach einer
11 systematischen Neugrndung des Sozialen begreift. Wenn man sozialphiloso-
12 phisch von Heidegger lernen will, geht es mit Nancy also darum, das Mitsein
13 ontologisch zu radikalisieren. Was auf der Strecke bleibt, ist die Andersheit des
14 Anderen, die sich dem sozialen Mit, der geteilten Kommunikation, entzieht. Die
15 Prioritten verraten sich bei Nancy in einer beilufigen Formulierung, die ihm
16 selbst nicht ganz geheuer zu sein scheint: „das ,Mit‘ – und der Andere, der damit
17 einhergeht, wenn man so sagen kann“.66 Dass man das gerade nicht so sagen
18 kann, wre der Einwand, den Alterittstheoretiker mit Derrida oder Levinas er-
19 heben wrden.
20 Dabei ist vçllig unstrittig, dass Nancys dichte Beschreibungen der leiblichen
21 Pluralitt des Miteinanderseins fr die Alterittstheorien Wesentliches beigesteu-
22 ert haben: Erweiterungen, Ergnzungen, Przisierungen, Korrekturen. Am Um-
23 gang mit dem heideggerschen Ausgangspunkt jedoch zeigt sich, dass auf der
24 grundlegenden methodischen Ebene Unvereinbarkeiten bestehen. Zwischen ver-
25 tikalen und horizontalen Deutungen dessen, wie Andersheit dem Selbst begeg-
26 net, auf es wirkt und seine Erfahrungen prgt, besteht ein Bruch, der unber-
27 brckbar zu sein scheint.67
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31
32
33 64 Emmanuel Levinas: De l’existence l’existant. Paris 31981. 164. Dt.: Vom Sein zum Seien-
34 den. bers. von Anna Maria und Wolfgang Nikolaus Krewani. Freiburg 1997. 119.
65 Nancy formuliert das Problem in seiner Auseinandersetzung mit Heidegger als eine Of-
35
fenheit, die dem Sein eignet bzw. eignen soll, aber von Heideggers Rhetorik qua Schließungs-
36 metaphorik la „conservatisme ,ForÞt-Noire‘“ widerrufen wird. Vgl. Jean-Luc Nancy:
37 L’„thique originaire“ de Heidegger. In: Ders.: La pense drobe. Paris 2001. 105. Anm. iv.
66 Nancy: tre singulier pluriel. 50. Dt.: 60.
38 67 Nancy wrde seinerseits sagen (sagt!), man msse „aussi relire Lvinas partir de Heideg-
39 ger“ (Nancy: L’„thique originaire“ de Heidegger. 105. Anm. vi). Das wre eine Wendung, der
40 hier nicht mehr nachgegangen wird.
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1 Jagna Brudzińska
2
3
4 Mitvollzug und Fremdverstehen
5
Zur Phnomenologie und Psychoanalyse der teilnehmenden Erfahrung
6
7
8
9
10 1. Einleitung
11
12 Die Frage, die mich zu diesem Beitrag bewegt, ist die nach der Erfahrung des
13 Anderen, und sie bewegt mich insbesondere in der Hinsicht, wie wir den Zu-
14 gang zum Anderen in unserem Alltag, aber auch innerhalb der Wissenschaften
15 vom Menschen handhaben, zuallererst in der Psychologie, Psychotherapie und
16 Psychiatrie. berall dort geht es nicht einfach darum, den Anderen als bloß An-
17 deren, als mein bloßes Gegenber, also nur gegenstndlich zu erfassen, sondern
18 auch oder vor allem darum, ihn in seiner Individualitt als einen Mit-Menschen
19 in unserer gemeinsamen Welt zu verstehen, seine Ziele und Motive zu erspren,
20 seine sozusagen innere Welt, sein leibliches und seelisches Erleben zu erfahren.
21 Dieses Erfahren trgt immer praktische Zge. Wir wollen den Anderen kennen
22 lernen, ihm nher kommen oder uns auch vor ihm schtzen. Als rzte oder The-
23 rapeuten wollen wir ihm helfen, ihn von seinem Leid befreien etc. Phnomenolo-
24 gisch gewendet sind wir dabei daher mit der Frage nach der praktischen und
25 nicht der bloß theoretischen Intentionalitt der Fremderfahrung konfrontiert:
26 mit der Frage nach dem immer praktisch motivierten Mitvollzug fremder Inten-
27 tionen. Denn wir haben hier immer und ursprnglich mit subjektiven Interessen
28 zu tun, mit elementaren subjektiven Strebungen, Wollungen, mit wunsch- und
29 bedrfnisgeleiteten Antizipationen, genießenden und leidenden Zu- und Ab-
30 wendungen, Identifikationen, Introjektionen und Imitationen, die bestndig ei-
31 nen subjektiven Sinn aufweisen und nie unmotiviert erfolgen. Sie finden in ei-
32 nem subjektiven oder sogar, so mçchte ich es nennen, transsubjektiven, leiblich
33 getragenen Raum statt. Hier sind wir mit der interessegeleiteten, d. h. prakti-
34 schen Intentionalitt der Fremderfahrung als teilnehmender Erfahrung konfron-
35 tiert, mit einem Phnomen des immer praktisch mitmotivierten Mitvollziehens
36 fremder Intentionen. Jeder dieser Mitvollzge – wie auch alle sonstigen Erfah-
37 rungen, die wir im Laufe unseres Lebens machen – verndert uns, reichert unse-
38 ren Erfahrungsbestand und den Horizont unseres Erfahrens an, prgt und be-
39 stimmt uns so in unserer Individualitt. Denn mit jedem solcher Mitvollzge
40 fgt sich der Andere in unseren Erfahrungshorizont ein, sein Erleben wird zu
1 einem der Momente unseres Erfahrens und so auch zu einer Stimme unseres eige-
2 nen Inneren, ja, zu einem Votum unseres Erlebens und Entscheidens. Die Phno-
3 menologie erlaubt an dieser Stelle, vom Prozess der Individuation zu sprechen,
4 vom Prozess der bestndigen subjektiven Entwicklung in einer ursprnglichen
5 Verwobenheit und Verbundenheit mit Anderen, in einem In- und Freinander-
6 sein. In diesem Prozess scheint der Andere von Anfang an mit dabei zu sein.
7 Phnomenologisch stehen wir hier vor der Aufgabe einer differenzierten inten-
8 tionalen Auslegung jener Erfahrung.
9 Sie lsst sich meiner Ansicht nach auch nicht bloß durch den Verweis auf die heute
10 auch neurologisch im zerebralen Bereich identifizierbaren Resonanzphnomene er-
11 klren, die die Wissenschaftler als Grundstein der Empathie deuten. Es ist vor allem
12 die Entdeckung der so genannten Spiegelneuronen gewesen, die gegenwrtig sowohl
13 in der Wissenschaft als auch in den Medien und in der Gesellschaft als Meilenstein in
14 der Erforschung der sozialen Struktur des menschlichen Gehirns und des neurobiolo-
15 gischen Zugangs zum Fremdsubjektiven gerhmt wird.1 Aus der erlebten Innenper-
16 spektive gesehen, beantwortet jedoch das Ausweisen neuronaler Resonanzen von
17 Fremdsubjektivem in unserem Erleben nicht die Frage nach der Fremderfahrung,
18 nach ihrer Leistungsfhigkeit und vor allem ihrem Sinnbezug. Whrend die Neuro-
19 wissenschaften versuchen, die Spiegelneuronen als Grundlage fr die intersubjektive
20 Struktur der menschlichen (und tierischen) Welt zu verstehen, d.h. als Grundlage der
21 Fhigkeit zur Kommunikation, Empathie und des Miteinanders, wird aus phno-
22 menologischer Sicht deutlich, dass wir hierbei zwar von biologischen Strukturen der
23 Realisierung intersubjektiver Bezge sprechen kçnnen, jedoch keineswegs kçrper-
24 lich-emotionale Nachahmungsphnomene mit subjektiven Nach- bzw. Mit-Vollz-
25 gen des Fremderlebens gleichsetzen sollten. Das Spiegelneuronensystem scheint die
26 Emotionen von Anderen psycho-biologisch adquat zu rsonieren. Es informiert
27 uns gleichwohl nicht hinreichend ber die Intentionen des Gegenbers.2 Denn hier
28
29 1 Die Spiegelneuronen als spezielle Nervenzellen bei Primaten wurden bekanntlich in den
30 neunziger Jahren von einer Gruppe italienischer Forscher beschrieben (Giacomo Rizzolatti,
31 Leonardo Fogassi, Vittorio Gallese: Neurophysiological mechanism underlying the understan-
ding and imitation of action. In: Nature Neuroscience 2 [2001]. 661 – 670; siehe auch Vittorio
32
Gallese: The ,shared manifold‘ hypothesis. From mirror neurons to empathy. In: Journal of
33 Consciousness Studies 8 [2001]. 33 – 50; ders.: The roots of empathy: the shared manifold hy-
34 pothesis and the neural basis of intersubjectivity. In: Psychopathology 36 [2002]. 171 – 180).
35 Es handelt sich um Nervenzellen, die whrend der Betrachtung eines Vorgangs beim Gegen-
ber die gleiche Aktivitt zeigen, wie wenn der Vorgang nicht bloß von außen betrachtet, son-
36 dern selbst durchgefhrt wrde. Jene Forscher gehen davon aus, dass wir es hierbei mit Phno-
37 menen spontaner und unmittelbarer kçrperlicher Nachahmung zu tun haben.
2 Vgl. dazu vor allem Thomas Fuchs: Das Gehirn – Ein Beziehungsorgan. Eine phnome-
38
nologisch-çkologische Konzeption. Stuttgart 2007; und Dieter Lohmar: Mirror neurons and
39 the phenomenology of intersubjectivity. In: Phenomenology and Cognitive Science 5 (2006).
40 5 – 16. Diese Kritik formuliert vom Standpunkt der psychoanalytischen Subjektivittsfor-
Mitvollzug und Fremdverstehen 47
1 kommt es auf das subjektive Erleben und den Mit-Vollzug von intentionalen Bez-
2 gen an. Dabei spielen aber, wie bereits angesprochen, die eigenen und fremden Erfah-
3 rungshorizonte, Habitualitten, Ziele und Interessen, die in Erwartungshaltungen
4 zum Ausdruck kommen, eine entscheidende Rolle. An dieser Stelle ist die Phnome-
5 nologie der Intersubjektivitt aufgefordert, vor allem die passiv-vorreflexive, aber
6 auch die genetische Stufe der Fremderfahrung zu durchleuchten und zu schauen, wie
7 die empirisch erfassbaren Resonanzphnomene als Motivationsmomente in einem
8 komplexen intentionalen Erfahrungszusammenhang fungieren.
9 Im Sinne der Phnomenologie will ich diese Aufgabe aus der erlebten Innen-
10 perspektive angehen, die heute auch als Erste-Person-Perspektive bezeichnet
11 wird, und vorwiegend mit den Mitteln der auf Edmund Husserl zurckgehen-
12 den Methode der intentional-genetischen Analyse erçrtern. Es ist vor allem die
13
phnomenologische Methode der genetischen Intentionalanalyse, die es mçg-
14
lich macht, leib-seelische Zusammenhnge im Aufbau intentionaler Erfahrun-
15
gen menschlicher Subjekte zu analysieren und so ihre sinnbildende individuie-
16
rende Leistung zu erfassen. Mit der genetisch-phnomenologischen Analyse
17
wird es mçglich, Strukturen und Dynamiken der personalen, leib-seelischen Er-
18
fahrung in ihren Werdungsprozessen verstndlich zu machen: Niederschlge
19
personaler Erfahrungen zu rekonstruieren, ihre Horizonte, Ziele, individuelle
20
und soziokulturelle Verflechtungen, die auch als leibliche – und immer prakti-
21
sche – inter- oder transsubjektive Intentionalitt ihren Ausdruck finden, zu un-
22
tersuchen.
23
Als genetische Theorie der konkreten Subjektivitt berwindet die Phnome-
24
25
nologie zudem das klassische Verstndnis von der Singularitt des Ich. Aus dem
26
genetischen Blickwinkel gesehen wirkt der Andere von Anfang an in meiner Er-
27 fahrung mit. Die Meinigkeit der Erfahrung kann nur mittels Abstraktion ge-
28 dacht, nicht jedoch in Erfahrungsevidenzen gefunden werden. Das konkrete Ich
29 der Transzendentalphnomenologie Husserls zeigt sich vielmehr als ursprng-
30 lich intersubjektiv mitbestimmt, wofr Husserl in den dreißiger Jahren den Be-
31 griff der egologischen Intersubjektivitt prgt.3 Wird der Gedanke von der ur-
32 sprnglichen Intersubjektivitt der subjektiven Sphre oder des Selbst
33 genetisch-systematisch weiterentwickelt – und auch dazu legt Husserl alle In-
34 strumente bereit –, wird es meiner Ansicht nach mçglich, nicht nur die Erste-,
35 sondern sogar die Zweite-Person-Perspektive fr die Wissenschaft vom Men-
36 schen zu rechtfertigen. Aber gerade dafr scheint es unabdingbar zu sein, die
37
38 schung auch Stephan A. Mitchell: Bindung und Beziehung. Auf dem Weg zu einer relationalen
Psychoanalyse. Gießen 2004.
39 3 Vgl. Edmund Husserl: Zur Phnomenologie der Intersubjektivitt. Texte aus dem Nach-
40 lass. Dritter Teil. 1929 – 1935. Hrsg. von Iso Kern. Hua XV. Den Haag 1973. 192.
48 Jagna Brudzińska
30 gen Titel und die Grndung der Zeitschrift „Phenomenology and Cognitive Science“ von
31 Shaun Gallagher und Dan Zahavi zurck. Im Allgemeinen verteidigt dieses Projekt die Verbin-
dung zwischen der Phnomenologie und den Cognitive Neurosciences. Unter Anerkennung
32
der externalistischen Position der Wissenschaften (Dritte-Person-Perspektive) zielt es auf eine
33 Integration der in der erlebten Innensicht gewonnenen Einsichten (Erste-Person-Perspektive)
34 in den Erklrungsrahmen (explanatory framework) der empirischen Forschung ab. Vgl. Dan
35 Zahavi: Naturalized phenomenology. In: Handbook of phenomenology and cognitive sci-
ence. Dordrecht 2010. 3 – 20. Dabei zeigt sich, dass ein sachbezogener Austausch zwischen den
36 Kognitions- und Neurowissenschaften einerseits und der Phnomenologie andererseits mit Re-
37 spektierung der jeweiligen Grundpositionen (Dritte- und Erste-Person-Perspektive) mit ge-
38 genseitigem Nutzen gefhrt werden kann. Es geht dabei um eine Zusammenarbeit, die zwar
nicht symmetrisch, aber dennoch komplementr und mit praktischem Nutzen fr die For-
39 schung sein kann. Insbesondere Dan Zahavi gelingt es, diesen Ansatz im Rahmen seiner phno-
40 menologischen Intersubjektivittsstudien fruchtbar zu machen.
Mitvollzug und Fremdverstehen 49
1 sen werden, das fr die phnomenologische Fragestellung als wahre Schatzkam-
2 mer gelten darf. In meinem Beitrag werde ich auch darauf Bezug nehmen.
3 Mit diesem interdisziplinren Ansatz will ich zeigen, dass wir erst dann und
4 im eigentlichen Sinne von der Fremderfahrung als einer besonderen und fr die
5 Wissenschaften vom Menschen zentralen Form der sozialen Erfahrung spre-
6 chen kçnnen, wenn wir eine eigentmlich polare Struktur des teilnehmenden
7 Vollzugs intentional-genetisch erfasst haben, entsprechend derer, so meine The-
8 se, das Ein- oder Nachverstehen, also im allgemeinsten Sinne das Einfhlen, erst
9 und unmittelbar bezogen auf das ursprngliche Mitfhlen realisiert wird und
10 werden kann.
11 In beiden Fllen – sowohl beim Ein-Verstehen oder Ein-Fhlen als auch bei
12 jenem fundierenden Mit-Vollzug als Mit-Fhlen – haben wir es mit subjektiven
13 Leistungen zu tun, die aus der erlebten Innenperspektive erfahrbar sind und in-
14 tentional-genetisch verstndlich gemacht werden kçnnen. Das jeweilige Innen
15 wird dabei aber nicht durch die Kçrpergrenzen der erlebenden (vollziehenden)
16 Individuen abgesteckt. Vielmehr zeigt es sich als ein bergreifender leiblich-seeli-
17 scher, dynamischer und medialer Bereich motivationaler Prozesse, charakteri-
18 siert durch fusionsartige Ausbreitungen, separierende und differenzierende Ein-
19 engungen, gegenseitige berlappungen und Verschmelzungen, Ein- und
20 Entgrenzungen. Wir haben es hier also nicht mit Kçrperrumen zu tun, sondern
21 mit dynamischen, leib-seelischen Resonanzrumen.
22
23
24 2. Methodische Vorbemerkung: die intentionalgenetische Analyse
25
26 Innerhalb der phnomenologischen Forschung und insbesondere hinsichtlich
27 der Anwendung der phnomenologischen Methode im interdisziplinren Kon-
28 text werden meist die Methoden der Wesensbeschreibung und der statischen
29 Aktanalyse angewandt. Nach Husserl behandelt letztere die Korrelationen zwi-
30 schen dem erfahrenden Aktbewusstsein und den erfahrenen Gegenstndlichkei-
31 ten als sozusagen geschichtslosen Vorfindlichkeiten der Erfahrung. Das bereits
32 Gewordene der Erfahrung wird auf seine Strukturmomente hin befragt, ohne
33 dass der Werdungsprozess selbst zum Thema gemacht wird. Im Unterschied
34 dazu fokussiert die intentional-genetische Analyse gerade auf die Werdungspro-
35 zesse und Individuationsdynamiken der Erfahrung5 – Werdungsprozesse, die im-
36
5 Edmund Husserl: Zur Phnomenologie der Intersubjektivitt. Texte aus dem Nachlass.
37
38 Zweiter Teil. 1921 – 1928. Hrsg. von Iso Kern. Hua XIV. Den Haag 1973. 38: „<Als> statisch
kann ich wohl phnomenologische Forschungen bezeichnen, die den Korrelationen zwischen
39 konstituierendem Bewusstsein und konstituierter Gegenstndlichkeit nachgehen und geneti-
40 sche Probleme berhaupt ausschliessen. Davon habe ich zu unterscheiden phnomenologische
50 Jagna Brudzińska
1 schen Werden. Sie bleiben zwar immer in den weiten Zeithorizont der individu-
2 ellen Erfahrung eingebettet und lassen sich in ihrem Lebenssinn nur als solche
3 verstndlich machen. Sie weisen jedoch zugleich einen eigenen zeitlichen und
4 motivationalen Aktualaufbau auf, der bereits bei elementaren Affektionen und
5 Interessenweckungen ansetzt. Hierbei kommen nicht bloß sinnliche Daten zum
6 Wirken, die auf uns unmotiviert von außen einstrçmen, um auf eine rtselhafte
7 Weise das Bewusstsein zu affizieren, sondern wir haben es auf der subjektiven
8 Seite mit einem Gespann von Wnschen, Bedrfnissen und ngsten zu tun, von
9 triebhaft-instinktiven Bewegmomenten bis hin zu habitualisierten Erwerben,
10 die Husserl mit dem Begriff affektives Relief bezeichnet. Es zeigen sich dabei
11 auch Verbote und Gebote der Kultur, Vorstellungen und Normen der Gesell-
12 schaft oder Regeln der Gemeinschaft am Werke. All das wirkt sich bei unseren
13 konkreten antizipierenden Auffassungsleistungen aus.
14 Werden diese genetischen Zusammenhnge in den Fokus genommen, stellt
15 sich die Frage nach dem fr sie zustndigen Erfahrungsbewusstsein und dessen
16 Erfahrungsevidenzen. Es drfte inzwischen klar geworden sein, dass wir es im
17 Fall der genetischen Analyse mit Erfahrungsmodi und Evidenzarten zu tun ha-
18 ben, die das Prsenzfeld der Gegenwart berschreiten und vom schlichten Wahr-
19 nehmungsbewusstsein nicht erfasst werden kçnnen. Meine These ist, dass wir es
20 bei der intentionalgenetischen Forschung mit einem besonderen Erfahrungsbe-
21 wusstsein zu tun haben: mit einem affektiven, leiblichen und gewissermaßen
22 imaginren Bewusstsein. Dieses Erfahrungsbewusstsein spielt eine besondere
23 Rolle, wenn es um das Verstehen der intersubjektiven Erfahrung und den Auf-
24 bau der personal-sozialen Realitt geht. Mit Husserl, aber auch mit Freud lsst
25 sich hier im weitesten Sinne von der Phantasie sprechen.
26
27
28
29 3. Phantasie als Erfahrungsbewusstsein personal-sozialer Realitt
30
31 Es sind sowohl Husserl als auch Freud, die zeigen, dass nicht nur die Gegen-
32 wartswahrnehmung und nicht nur das Wahrnehmungsbewusstsein es ist, das als
33 Erkenntnisbewusstsein der Realitt fungiert und uns empirische Erfahrungsevi-
34 denzen liefert. Sowohl die husserlsche Phnomenologie als auch die freudsche
35 Psychoanalyse leisten, wenn auch in unterschiedlicher Weise, eine enorme Auf-
36 wertung der Phantasie als originres Erfahrungsbewusstsein des Menschen. Hus-
37 serl zeigt, dass und in welcher Weise die Phantasie auch alle unsere Wahrnehmun-
38 gen mitprgt und mittrgt. Sie erfllt zum Teil konservativ ergnzende
39 Funktionen bei der Herstellung der Wahrnehmungsidentitt von Gegenstn-
40
Mitvollzug und Fremdverstehen 53
1 den.8 Zum Teil jedoch zeigt sie sich auch produktiv und kreativ – Husserl prgt
2 dafr den Begriff der reinen Phantasie –, und zwar vor allem, indem sie die sub-
3 jektiven Relevanzen in der Erfahrung wirken lsst, Alternativen vorzeichnet,
4 Wnsche und Bedrfnisse erkennen oder ngste und Sorgen verstehen lsst.
5 Dass und inwiefern dies sogar in unbewusster Form statthaben kann oder statt-
6 hat, zeigt vor allem Freud, der sich bekanntlich mit der Thematik des unbewuss-
7 ten Phantasierens intensiv auseinandergesetzt hat.9
8 Den beiden Autoren folgend kçnnen wir jedenfalls festhalten, dass die Phanta-
9 sie als ein besonderes Leistungsbewusstsein fungiert, und zwar als ein emotiv,
10 und sogar leiblich-emotiv, sinnbildendes Bewusstsein; und dies vielleicht insbe-
11 sondere, wenn es um die Sinnbildung der personal-sozialen Realitt geht. Denn
12 die Wirkungsbeziehungen – als motivationales Gefge, das sich in Erwartungs-
13 haltungen manifestiert – umfassen immer auch die Anderen, denen wir uns mit-
14 teilen wollen, oder auf deren Antworten wir warten, von denen wir gesehen,
15 anerkannt und geliebt zu werden wnschen, deren geahnten oder geußerten Er-
16 wartungen gegenber wir gewachsen sein wollen, denen wir folgen, oder von
17 denen wir uns abwenden, manchmal ngstlich, verrgert, enttuscht oder ver-
18 letzt. berall haben wir es hier mit Erfahrungen zu tun, die fragil, aber dennoch
19 sehr bestimmend sind, die von Ambivalenzen und Widersprchen gekennzeich-
20 net sind, die flchtig und bestndig zugleich sein kçnnen. Darin zeigen sich die
21 besonderen Merkmale der Phantasie als Leistungsbewusstsein: ihre Toleranz fr
22 Widersprche – die Husserl auf ihre Proteusartigkeit zurckfhrt –, ihre Mehr-
23 Zeitlichkeit, ihre Wunsch- und somit auch Angstgebundenheit, als Charakteristi-
24 ka der spezifischen Intentionalitt des Phantasierens.
25 Mit Freud, aber auch mit Eugenio Gaddini, einem italienischen Psychoanaly-
26 tiker, der bereits in den fnfziger Jahren zur Psychoanalyse der ersten psychi-
27 schen und intersubjektiven Strukturen gearbeitet hat, kçnnen wir festhalten,
28 dass die Phantasie als der ursprngliche Erfahrungsmodus des Menschen fun-
29 giert. Fr Freud (wie auch ursprnglich fr Husserl) hatte sie mit Bilder zu tun.
30
8 Mit diesem Aspekt befasst sich insbesondere Dieter Lohmar. Im Hinblick auf die konser-
31
vative Funktion der Phantasmen in der Wahrnehmung spricht er von der schwachen Phantasie.
32
Vgl. Dieter Lohmar: Weak phantasy in perception and cognition. In: Shaun Gallagher, Daniel
33 Schmicking (Hg.): Handbook of phenomenology and cognitive science. Heidelberg 2010.
34 159 – 177; ders.: Phnomenologie der schwachen Phantasie. Phnomenologische, psychologi-
35 sche und neurologische Aspekte der Funktion schwacher Phantasma in Wahrnehmung und
Erkenntnis. Dordrecht 2008.
36 9 Eine sehr aufschlussreiche Analyse dazu legte Rudolf Bernet vor. Vgl. Rudolf Bernet:
37 Phantasieren und Phantasma bei Husserl und Freud. In: Dieter Lohmar, Jagna Brudzińska
38 (Hg.): Founding psychoanalysis phenomenologically. Phenomenological theories of subjecti-
vity and the psychoanalytic experience. Dordrecht 2011. 1 – 21. Siehe dazu auch Jagna Bru-
39 dzińska: Depth phenomenology of the emotive dynamic and the psychoanalytic experience.
40 In: Lohmar, Brudzińska (Hg.): Founding psychoanalysis phenomenologically. 33 ff.
54 Jagna Brudzińska
40 ersten Strukturen. Hrsg. von Gemma Jappe und Barbara Strehlow. Tbingen 1998. 216.
Mitvollzug und Fremdverstehen 55
1 den Kindes, sind wir mit ihm eins, leben in seiner Bewegung, ohne dass wir uns
2 wirklich von der Stelle rhren. Unsere Intention, als Erwartungsintention, fin-
3 det ihre Erfllung in seiner kçrperlichen (oder leiblichen) Leistung des Laufens.
4 Dieses Mit-Leben der gewissermaßen fremden Bewegung, die bei uns kçrper-
5 lich in der Vernderung unseres Muskeltonus zum Ausdruck kommt, darf mei-
6 ner Ansicht nach als eine Art stellvertretendes Erleben oder Mit-Erleben gedeu-
7 tet werden. Sie lsst sich nicht mit der bloßen Resonanzthese, etwa im Sinne
8 einer spiegelneuronalen Aktivitt erklren. Vielmehr haben wir es hier mit einer
9 prreflexiv-volitiven, motivierten und zielgeleiteten Aktivitt zu tun. Es ist
10 nicht eine bloße Imitation, nicht eine bloße Resonanz, die hier statthat, es ist ein
11 Mit-Wollen, ein Sich-Mit-Bemhen, Mit-Leisten. Wir wollen – um bei unserem
12 Beispiel zu bleiben – dem Kind helfen, und zwar, indem wir seine Mhe mit-
13 tragen.
14 Dieses und verwandte Phnomene verstehe ich als Beispiele von Erfahrungs-
15 weisen, in denen auch die unmittelbare Kçrperphantasie transsubjektiv und
16 transleiblich zum Tragen kommt. Sie geht jeder Vorstellungsbildung voraus, gilt
17 aber als Evidenzquelle jenes medialen Erlebens. Intentional-genetisch haben wir
18 es dabei mit einer fusionren, sympathetischen, transsubjektiven Dynamik zu
19 tun, die selbst den Titel Fremderfahrung in Frage stellen lsst. Das Erfahrungsbe-
20 wusstsein dieser Art des Erlebens bleibt in meinen Augen die Phantasie, auch als
21 prreflexiver und medialer Zusammenhang leiblich-emotiver Expressionen.
22 Festzuhalten ist dabei, dass uns die Phantasie als ein so verstandenes Leis-
23 tungsbewusstsein nicht in ein Reich eines bloßen Als-Ob versetzt, in eine Welt
24 des Unwirklichen. Das Gegenteil ist der Fall. Paradoxerweise insbesondere in
25 der sozialen, um es so zu nennen, Phantasie sind wir in der wirklichsten Wirk-
26 lichkeit selbst. Es ist die personale Wirklichkeit, in der wir wirklich sind, wenn
27 wir genießen oder leiden, uns freuen oder traurig sind. Hier leben wir unsere
28 Wirklichkeit als Hoffnung und Verzweiflung, als Angst und als Glck, als
29 Scham und als Stolz, als Macht und als Ohnmacht, als Sehnsucht und als Verlas-
30 senheit, als Wut, Hass oder Misstrauen, auf der anderen Seite als Vertrauen, Zu-
31 neigung oder Liebe.
32 Warum sollten wir nicht einfach sagen, es sind soziale Gefhle? Warum die
33 Rede von der Phantasie? Freilich haben wir es hier mit sozialen Gefhlen zu
34 tun. Wir kçnnen sie voneinander unterscheiden, ihre Wesenscharaktere beschrei-
35 ben. Wir kçnnen hierbei eine saubere Wesensphnomenologie betreiben. Aber
36 indem wir unser subjektives und intersubjektives Leben intentional-genetisch
37 auszulegen versuchen, sehen wir, mssen wir bercksichtigen, dass jene Gefhle
38 nicht bloß da sind, sondern unsere Erwartungshaltungen bestimmen, die Relatio-
39 nen der Erwartung – der subjektiven und sozialen Erwartung – prgen, als selbst
40 motivierte Haltungen Erwartungen motivieren. Aus der intentional-genetischen
56 Jagna Brudzińska
1 Sicht sind sie dabei als ein antizipatorischer, und somit nicht gegenwrtiger Mo-
2 dus des Bewusstseins zu deuten. Es ist ein Bewusstsein der Vergegenwrtigung,
3 wenn es um Vergangenes geht, und es ist ein Bewusstsein der Quasi-Gegenwrti-
4 gung und auch der Mit-Gegenwrtigung, wenn es um Erwartung des Knftigen
5 oder vor allem des Fremden geht. Und all diese Erwartungsbildungen weisen
6 immer ausgesprochen emotive Charaktere auf. Sie sind aber ihrem intentional-
7 genetischen Sinn nach immer auch als motivierte Antizipationen des Knftigen
8 und nicht als bloße Gegenwartsbekundungen zu fassen.
9 Meine Analysen werde ich also unter der Annahme fhren, dass das so ver-
10 standene Phantasiebewusstsein als ein medialisierendes Bewusstsein der Selbst-
11 und Fremderfahrung, und zwar als Werdungserfahrung, zu verstehen ist. Es ist
12 ein Bewusstsein, das Widersprche und Ambivalenzen toleriert, eigene Zeitlich-
13 keit aufweist, nicht der bloßen Identitt des Gegenstandes folgt, sondern dem
14 motivierten Wunsch nach einem Optimum leib-seelischer und personaler Befrie-
15 digung und Erfllung. Als eigenstndiger, ursprnglicher, leiblich-emotiver Er-
16 fahrungsmodus des Menschen erçffnet es uns den Zugang zu uns selbst und zu
17 unseren Mitmenschen: zu den Erlebnissen, affektiven Zielen und motivationa-
18 len Strukturen des Anderen, und dies in unterschiedlichen zeitlichen Zusammen-
19 hngen und mit verschiedenen Evidenzweisen. Es ist, wie gesagt, zum einen die
20 motivierte Vergegenwrtigung, die uns den reflexiv-rekonstruktiven Zugang er-
21 çffnet. Zum anderen sind es aber – und ursprnglicher als die Vergegenwrtigun-
22 gen – die ebenfalls immer motivierten Mit-Gegenwrtigungen, die als synchro-
23 ne, leiblich und emotiv realisierte Mit-Vollzge das primre sympathetische
24 Erfahren im intersubjektiven Zusammenhang gewhrleisten. Diese beiden For-
25 men der Erfahrung mssen bercksichtigt werden, wenn wir von der Erfahrung
26 des Anderen als Fremdverstehen sprechen wollen. Und sie zeigen sich einer in-
27 tentional-genetischen Beschreibung und Analyse zugnglich.
28
29
30 4. Dimensionen des phnomenologischen Zugangs zum Anderen – analoge
31 Einfhlung und synchrones Mitfhlen
32
33 Die Frage nach dem intellektuellen und gefhlsmßigen Zugang zu anderen Per-
34 sonen wurde in der deutschen Philosophie schon im ausgehenden 19. bzw. zu
35 Anfang des 20. Jh. unter dem Titel der „Einfhlung“ als philosophisches Pro-
36 blem entfaltet. Die gelufigsten Theorien stellen das Einfhlen als einen Prozess
37 der intellektiven Analogisierung auf Grund von hnlichkeiten des kçrperlichen
38 Ausdrucks dar. Es ist vor allem Theodor Lipps, der seine Einfhlungstheorie im
39 Rahmen der sthetischen Fragestellung entwickelt und die Einfhlung selbst als
40 eine Art innerer Handlung bzw. eines inneren Mitgehens begreift. Das fremde
Mitvollzug und Fremdverstehen 57
1 Ich werde dabei in gewissem Sinne reproduziert, und zwar dadurch, dass die eige-
2 nen Gefhle, die beim Beobachten des Anderen und seines kçrperlichen Aus-
3 drucks entstehen, in das fremde Ich hineingelegt oder eingefhlt wren.12 Doch
4 jene Hineinlegung bleibt rtselhaft, ihre intentionale Struktur wird hier nicht
5 befragt und ausgelegt.
6 Die Phnomenologie im Ausgang von Edmund Husserl thematisiert diese in-
7 tersubjektive Erfahrung zunchst als intentionalen Akt der Einfhlung, um zu
8 zeigen, wie der Andere als leibliche Person in meinem Erleben vergegenwrtigt
9 werden kann. Dabei wenden sich die phnomenologischen Autoren gegen das
10 Verstndnis der Fremderfahrung als induktiven Analogieschluss und sind be-
11 mht, die Unmittelbarkeit der Analogisierung zu begrnden.13
12 Edith Stein und Max Scheler erfassen das Phnomen der Einfhlung auf dem
13 Grund der phnomenologischen Methode der Wesensschau als eine spezielle,
14 leiblich und seelisch getragene intentionale Aktivitt personaler Subjekte. Hier
15 wird vor allem die statische Aktstruktur der Einfhlung behandelt. Insbesonde-
16 re Max Schelers Studien zu Wesen und Formen der Sympathie (1923) leisten da-
17 bei eine phnomenologisch differenzierende Wesensdeskription verschiedener
18 Gestalten des Mitgefhls (Miteinanderfhlen, Mitgefhl, Gefhlsansteckung,
19 Einsfhlung, schließlich Einfhlung). Da jedoch seine Differenzierungen mit-
20 tels der statischen Aktanalyse gewonnen werden, bercksichtigen sie nicht hin-
21 reichend die konstituierenden sinnlich-subjektiven und vor allem passiven Leis-
22 tungen und erreichen daher nicht die genetischen, und auch nicht die passiv-
23 vorreflexiven Ebenen der Einfhlungserfahrung.14 Diesen Zugang erçffnet die
24 transzendentalphnomenologische Analyse Edmund Husserls, und zwar, in-
25 dem sie zunchst den reflexiven Zugang zum Anderen im Hinblick auf die kon-
26 stitutiven Leistungen des Ich beschreibt und dabei auch die prreflexiven und
27 genetischen Momente jener Erfahrung ausweist.
28
29
30
31
32 12 Vgl. Theodor Lipps: Leitfaden der Psychologie. Leipzig 31909. 222 f.
33 13 Husserl selbst betont ausdrcklich in der V. Cartesianischen Meditation: „Es wre also
34 eine gewisse verhnlichende Apperzeption, aber darum keineswegs ein Analogieschluß. Apper-
35 zeption ist kein Schluß, kein Denkakt.“ Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen und
Pariser Vortrge. Hrsg. von Stephan Strasser. Hua I. Den Haag 1950. 141.
36 14 Auch Husserl moniert diesen methodologischen Zusammenhang: „In das erste diese
1 a) Analoge Einfhlung
2
3 In der V. Cartesianischen Meditation identifiziert Husserl die elementaren passi-
4 ven (synthetischen) Leistungen der leiblich fundierten apperzeptiven bertra-
5 gung und erschließt damit eine phnomenologische reflexive Ich-Du-Perspekti-
6 ve in ihrem passiven Aufbau: Der Andere wird hierbei als mein Gegenber oder
7 mein Analogon, als mir hnlich also, erfasst.15 Die leitende Frage lautet: Wie
8 kann ein Anderer berhaupt in meinem Erleben vergegenwrtigt werden? Hus-
9 serls Antwort besteht darin, dass wir es bei dieser Erfahrung mit einer mittelbaren
10 Intentionalitt der verhnlichenden Apperzeption zu tun haben. Sie wird in zwei
11 Erfahrungsmodis realisiert, die aufeinander aufbauen, und in denen die Reflexivitt
12 dieser Erfahrung grndet. Es handelt sich um einen vergegenwrtigenden und einen
13 gegenwrtigenden Modus. Die in diesen Modis realisierte verhnlichende Apperzep-
14 tion ist als solche an den leiblich-kçrperlichen Ausdruck (Gebaren) des Gegenber
15 gebunden – einen Ausdruck, der immer Psychisches anzeigt.16 Jenes Anzeigen bedeu-
16 tet, dass wir gewissermaßen von innen her unmittelbar erlebend das (er-)kennen, was
17 der ußere Ausdruck des Anderen uns offenbart. Das Gebaren des Anderen weckt in
18 uns ein Erleben, das wir dann quasi zurck auf den Anderen (vergegenwrtigend)
19 bertragen. Diesen Vorgang deutet Husserl als analogisierende apperzeptive bertra-
20 gung. Im Sinne der konstitutiven Analyse identifiziert er die jene bertragung ausma-
21 chenden elementaren synthetischen Leistungen sowie den Gegebenheitsmodus
22 der fremden Subjektivitt wie folgt:
23 Erstens erfasst er das Phnomen der Paarung als hnlichkeitssynthesis. Es
24 handelt sich dabei um eine „ursprnglichste Form synthetischer Passivitt“ und
25 somit um eine „elementare Leistung der Assoziation“. Hier wird hnliches
26 durch hnliches geweckt und assoziativ als konkretes Paar verbunden.17 Wir ha-
27
28 Husserl: Cartesianische Meditationen. Hua I, 138 ff.
15
„Die Apprsentation, die das originaliter Unzugngliche des Anderen gibt, ist verfloch-
16
29
ten mit einer originalen Prsentation (seines Kçrpers als Stck meiner eigenheitlich gegebenen
30 Natur)“ (Hua I, 143). „Der erfahrene fremde Leib bekundet sich fortgesetzt wirklich als Leib
31 nur in seinen wechselnden, aber immerfort zusammenstimmenden Gebaren, derart, daß dieses
seine physische Seite hat, die Psychisches apprsentierend indiziert“ (Hua I, 144).
32 17 Edmund Husserl: Beilage XXII. In: Ders.: Einleitung in die Philosophie. Vorlesungen
33 1922/23. Hrsg. von Berndt Goossens. Hua XXXV. Dordrecht 2002. 437: „Hier ist das erste
34 und im eigentlichen Sinne Unmittelbare, also Primitive, die konkrete Paarung, korrelativ das
35 passiv gegebene (also auch schon vor der Aktivitt der Erfassung, der Rezeption), vorgegebene
Paar.“ Die Paarung wird hier als die zweite Urform der passiven Synthesis, also der Synthesis
36 der Assoziation erkannt, und zwar neben der Synthesis der „Identifikation als Assoziation“:
37 „In einer paarenden Assoziation ist das Charakteristische, daß im primitivsten Falle zwei Da-
38 ten in der Einheit eines Bewußtseins in Abgehobenheit anschaulich gegeben sind und auf
Grund dessen wesensmßig schon in purer Passivitt, also gleichgltig ob beachtet oder nicht,
39 als unterschieden Erscheinende phnomenologisch eine Einheit der hnlichkeit begrnden,
40 also eben stets als Paar konstituiert sind.“ (Hua I, 142.)
Mitvollzug und Fremdverstehen 59
1 ben es dabei mit einem intentionalen bergreifen zu tun, mit einem lebendigen,
2 wechselseitigen Sich-Wecken, einem wechselseitigen, berschiebenden Sich-ber-
3 decken, das jedoch kein Verschmelzen bedeutet, sondern eher ein dynamisches
4 Sich-Verbinden, und zwar immer entsprechend dem erlebten gegenstndlichen
5 Sinn der geweckten Aspekte. Die dabei wirksamen Weckungs- und berra-
6 gungsmomente deuten bereits auf genetische Zusammenhnge hin, auch wenn
7 jene hier noch nicht erschçpfend betrachtet werden.18
8 Zweitens beschreibt Husserl einen Apprsentationsmodus, in dem der Ande-
9 re – auf dem Fundament der phnomenalen Paarung als Grundlage fr die Sinn-
10 berschiebung – als ein in mir vollzogener Sinnzusammenhang als mit-gegen-
11
wrtigt, also im Modus des Mit-Da, wahrgenommen werden soll.
12
Doch mit der Identifikation der phnomenalen Paarung als Grundlage fr die
13
Sinnberschiebung ist die intentionale Situation der Apperzeption des Anderen
14
noch nicht erschçpfend geklrt. Denn durch eine schlichte Apperzeption durch
15
bertragung htten wir zwar, so betont Husserl selbst, einen neuen Leib konsti-
16
tuiert, doch wre es kein fremder Leib und folglich auch kein Anderer, kein alter
17
ego. Eine so gedachte Apperzeption durch bertragung wrde dann mçglicher-
18
weise den Titel Aneignung oder Vereinnahmung verdienen, jedoch nicht erkl-
19
20
ren, was den anderen (Leib) zum anderen macht, zu einem zweiten eigenen Leib
21
und zum zweiten Ich-Leib.
22 Auch wenn die Figur der bertragung bei Husserl – im brigen auch ein
23 psychoanalytisch sehr prominenter Begriff, der noch immer auf seine epistemo-
24 logische Aufklrung wartet – ihren zentralen Stellenwert fr die einfhlende Er-
25 fahrung des Anderen beibehlt, bedarf der Prozess so, wie er sich in seinen Auf-
26 bau auch empirisch zeigt (wir erleben Andere faktisch als Andere), weiterer
27 differenzierender und somit individuierender Leistungen.
28 Und in der Tat, schon in der V. Cartesianischen Meditation weist Husserl die
29 Grundstrukturen jener Leistungen auf, und zwar vor allem, indem er ihre Arten
30 der Bewhrung, also Evidenzausweisung voneinander differenziert.
31 a) Fr den eigenen Leib sei es die schlichte Prsentation, d. h. originres sinnli-
32 ches Empfinden und Gegebensein. Der eigene Leib werde als originr abgeho-
33 ben und somit in originrer, reflexiver oder vorreflexiver (ob ich darauf achte
34 oder nicht), Prsentation erlebt. Wir haben es hier mit der gegenwrtigenden Be-
35 whrung zu tun.
36
18 „Wir finden bei genauer Analyse wesensmßig dabei vorliegend ein intentionales ber-
37
38 greifen, genetisch alsbald (und zwar wesensmßig) eintretend, sowie die sich Paarenden zu-
gleich und abgehoben bewußt geworden sind; des nheren ein lebendiges, wechselseitiges
39 Sich-wecken, ein wechselseitiges, berschiebendes Sich-berdecken nach dem gegenstndli-
40 chen Sinn.“ (Hua I, 142.)
60 Jagna Brudzińska
1 fahrung angeschnitten und der genetische Zugang zur Analyse der Fremderfah-
2 rung erçffnet.
3 Nun werden diese Resultate innerhalb einer knstlichen, abstraktiven und so-
4 mit bloß experimentellen, so genannten primordialen Einstellung gewonnen. Je-
5 ner auch als Eigenheitssphre genannter Bereich setzt einen konstituierten Eigen-
6 leib bzw. ein Leib-Ich voraus, das dann als Referenz der verhnlichenden
7 bertragung dienen kann. Auch wenn diese Resultate keine Vereinnahmung des
8 Anderen durch das eigene Ich, auch nicht seine bloße Projektion implizieren21,
9 wenn sie ferner die reflexive Ich-Du-Perspektive zum ersten Mal in ihrem passi-
10 ven Aufbau systematisch explizieren und den genetischen Zugang zu weiteren
11 Analysen çffnen, so bleiben sie doch recht voraussetzungsreich (egologisch-ego-
12 zentrische Sicht, reflexive Stufe der Vergegenwrtigung) und bercksichtigen
13 noch nicht hinreichend den Individuationsaspekt der einfhlenden Erfahrung.
14 Ich spreche daher hier von der reflexiven Struktur der analogen Einfhlung. Davon
15 mçchte ich aber die Gestalt der unmittelbaren synchronen Teilhabe an der Erfahrung
16 des Anderen unterscheiden.
17
18
19 b) Synchrones Mit-Fhlen
20
21 Die oben diskutierte analoge Einfhlung ist nicht das Einzige, was uns Husserls
22 Intersubjektivittsanalysen zu bieten haben. In seiner weiteren Vertiefung des
23 Intersubjektivittsverstndnisses revidiert er vor allem die These bezglich der
24 egologischen Perspektive und prgt, wie bereits erwhnt, den Begriff der egologi-
25 schen Intersubjektivitt. Hier wird deutlich, dass wir nicht nur zur Analogisie-
26 rung des Anderen fhig sind, wir auch nicht in der Ordnung eines Nebeneinan-
27 der leben, sondern vielmehr in einem ursprnglichen Konnex verbunden sind,
28
29
30
21 „[J]ede paarende Assoziation [ist] wechselseitig, [enthllt] das eigene Seelenleben nach
31
hnlichkeit und Andersheit […] und [macht] durch die neuen Abhebungen fr neue Assozia-
32
tionen fruchtbar“ (Hua I, 149). „Ich apperzipiere den Anderen doch nicht einfach als Duplikat
33 meiner selbst, also mit meiner oder einer gleichen Originalsphre, darunter mit den rumlichen
34 Erscheinungsweisen, die mir von meinem Hier aus eigen sind, sondern, nher besehen, mit
35 solchen, wie ich sie selbst in Gleichheit haben wrde, wenn ich dorthin ginge und dort wre.
Ferner, der Andere ist apprsentativ apperzipiert als Ich einer primordinalen Welt bzw. einer
36 Monade, in der sein Leib im Modus des absoluten Hier, eben als Funktionszentrum fr sein
37 Walten ursprnglich konstituiert und erfahren ist. Also indiziert in dieser Apprsentation der
38 in meiner monadischen Sphre auftretende Kçrper im Modus Dort, der als fremder Leibkçr-
per, als Leib des alter ego apperzipiert ist, denselben Kçrper im Modus Hier, als den, den der
39 Andere in seiner monadischen Sphre erfahre. Das aber konkret, mit der ganzen konstitutiven
40 Intentionalitt, die diese Gegebenheitsweise in ihm leistet. (Hua I, 146.)
62 Jagna Brudzińska
1 einen Ausdruck Diltheys zu verwenden – „in der Linie des Geschehens“.24 Und
2 dieses Mit-Leben formt und gestaltet mein Leben mit. Es scheint unsere Exis-
3 tenzform als soziale Wesen berhaupt entscheidend mitzuprgen und auch zu
4 tragen.
5 Das unmittelbare, vorreflexiv-passive Erfahren des Anderen in Nachahmung
6 und Imitation wird gegenwrtig innerhalb der Phnomenologie mit Bezug auf
7 Ergebnisse der modernen Suglingsforschung sowie der Kognitions- und Neuro-
8 wissenschaften intensiv ausgewertet. Der zentrale Begriff – ja geradezu ein Zau-
9 berwort – in diesem Zusammenhang scheint die Spiegelung als unmittelbares Re-
10 sonanzphnomen des Erlebens Anderer zu sein. Aber auch Husserl, indem er
11 die (intentionale) Miteinanderverwobenheit der Subjekte im Hinblick auf ihre
12 noetische, also die Vollzugsseite betrachtet hat, greift auf diesen Begriff zurck.
13 Zugleich macht er deutlich, dass wir es hier doch mit komplexen, motivational
14 bestimmten subjektiven Leistungen des teilnehmenden Vollzugs zu tun haben,
15 nicht mit bloßen Spiegelungsreflexen. „Es ist nicht kraftlose Spiegelung, son-
16 dern, wenn wir ein ego ein absolut Reales nennen, so gehçrt es zu einem solchen
17 Realen, dass sein Sein untrennbar ist von jedes anderen Sein und jedes jedes ande-
18 re intentional umgreift und in intentionaler Mittelbarkeit, die nicht eine leere
19 Geste ist, in sich trgt.“25 Auch in einem spten, der Reduktion auf die lebendige
20 Gegenwart gewidmeten Manuskript (Ms. C 3) wird diese Einsicht festgehalten:
21 „Die absoluten Subjekte spiegeln nicht bloß, sondern sie tragen Andere selbst,
22 aber als selbst apprsentierte in sich, so wie ich (und dann jedermann) vergange-
23 nes Sein selbst, aber als vergangenes, in mir trage.“26 Phnomenologisch ist also
24 die Spiegelung als vollzugsmßige Teilnahme – und nicht bloße Teilhabe an der
25 Erfahrung des Anderen, die uns sozusagen geschieht –, zu klren. Ich will diesbe-
26 zglich nun zwei Zugnge zu dieser Erfahrungsdimension voneinander unter-
27 scheiden.
28 Zum einen ist es die heute in der Phnomenologie intensiv diskutierte Gestalt
29 der direkten bertragung in kçrperlicher Nachahmung bzw. Simulation bei An-
30 nahme einer bereits (mindestens minimal) individuierten Subjektivitt. Es han-
31 delt sich dabei um einen Phnomenbereich, der, motiviert vor allem durch die
32 Entwicklungen innerhalb der modernen Suglingsforschung sowie der Kogniti-
33 ons- und Neurowissenschaften, gerade auch phnomenologisch eine neue Ak-
34 tualitt erlangt. Als Evidenzgrundlage gelten hier Phnomene der direkten Nach-
35 ahmung kçrperlicher oder leiblicher Ausdrucksweisen, die sich bei
36
24 Wilhelm Dilthey: Entwrfe zur Kritik der historischen Vernunft. In: Ders.: Wilhelm Dil-
37
38 theys Gesammelte Schriften VII. Hrsg. von Bernhard Groethuysen. Leipzig 1927. 214.
25 Hua XV, 191.
39 26 Edmund Husserl: Spte Texte ber Zeitkonstitution (1929 – 1934). Die C-Manuskripte.
40 Hrsg. von Dieter Lohmar. Hua Mat VIII. Dordrecht 2006. 57.
64 Jagna Brudzińska
1 Erwachsenen und Kindern, aber auch schon bei Suglingen und Neugeborenen
2 beobachten lassen und nicht durch die reflexive Gestalt der Einfhlung verstnd-
3 lich gemacht werden kçnnen.
4 Jean Piaget beschrieb bereits Ende der fnfziger Jahre solche imitativen Ver-
5 haltensweisen anhand des kindlichen Verhaltens beim Spiel, die vor jeder Refle-
6 xion stattfinden.27 Ende der siebziger Jahre beobachtete Andrew Melzoff, ein
7 amerikanischer Psychologe, dass auch Suglinge Nachahmungsaktivitten voll-
8 ziehen, indem sie zum Beispiel zurcklcheln oder auch die Zunge herausstre-
9 cken, wenn man ihnen die Zunge zeigt.28 Weitere Forscher wie Daniel N. Stern
10 oder Giannis Kugiumutzakis haben gezeigt, dass auch Neugeborene solche F-
11 higkeiten aufweisen. Die Kognitivistik spricht hierbei von Spiegelung in den Ver-
12 lufen des primren Empfindens. Der norwegische Psychologe und Soziologie-
13 professor Stein Brten prgte dafr den Begriff der intersubjektiven
14 Partizipation.29
15 Phnomenologisch richtungweisend fr die Deutung dieser Erfahrungsdi-
16 mension sind vor allem die Ergebnisse der Forschungen Dan Zahavis. In seiner
17 phnomenologischen Auswertung der Resultate der Kognitionsforschung und
18 neurowissenschaftlichen Forschung zeigt er (mit ausdrcklicher Referenz auf
19 Gallese), inwiefern sich – im Unterschied zu der immer noch mentalistisch belas-
20 teten, kognitivistischen Auffassung der Simulationstheorie30 – eine phnomeno-
21
22
27 Jean Piaget: Nachahmung, Spiel und Traum: Die Entwicklung der Symbolfunktion beim
23 Kinde. Stuttgart 62009. Fr.: La formation du symbole chez l’enfant. Paris 1959. Wie u. a. aber
24 Brten moniert, vertrat auch Piaget dabei die egozentrische Sicht. Vgl. Stein Brten: Intersub-
25 jektive Partizipation. Bewegungen des virtuellen Anderen bei Suglingen und Erwachsenen.
In: Psyche 65 (2011). 832 – 861. 833.
26 28 Andrew N. Meltzoff, M. Keith Moore: Newborn infants imitate adult facial gestures. In:
1 Vom Standpunkt der genetischen Phnomenologie aus drfen wir hier also
2 von noetischen teilnehmenden Vollzgen sprechen, die unsere Erfahrungshori-
3 zonte erweitern, neue Motivationen stiften, intentionale Ziele vermitteln. Das
4 sympathetische (oder, wie Husserl auch sagt, sympathische) Mitfhlen im Sinne
5 der vollzugsmßigen Teilnahme „ist nicht ,den Anderen bemitleiden‘ derart,
6 dass er einem leid tut“.35 Vielmehr zeigt sich dabei die subjektive Struktur in ei-
7 ner spezifischen Durchlssigkeit, die auch die Rede von der Fremderfahrung in
8 Frage stellt. Wir haben es hier mit einer primr fusionren, ja symbiotischen Bef-
9 higung der menschlichen Innerlichkeit zu tun. Diese Innerlichkeit lsst sich
10 nicht durch Kçrperrume und objektive Zeitlichkeit fassen. Eher handelt sich
11 um eine umgreifende Struktur vor der Temporalisation und Lokalisation, also
12 um eine, genetisch gesehen, frhere oder ursprnglichere, vielleicht die ursprng-
13 lichste Erfahrungsstruktur berhaupt. Diese Erfahrung wird nicht reflexiv und
14 diskursiv vollzogen. Wir sind ihr vielmehr schlicht ausgeliefert, da wir den Ande-
15
ren vor jeder Reflexion mit-erfahren. Dennoch weist jene Ausgeliefertheit einen
16
Leistungscharakter auf. Denn es handelt sich hier um ursprngliche, emotive
17
Vollzge des Lebens des Anderen, die jeder Reflexion vorausgehen – ein Fak-
18
tum des ursprnglichen Miteinanders.
19
Ontogenetisch gesehen setzen jene Erfahrungen wohl vor der Ich-Du-Trennung
20
an. Als individuierende Erfahrungen scheinen sie aber die Ontogenese einzuleiten.
21
Die genetische Phnomenologie ist hier dazu herausgefordert zu untersuchen,
22
wie sich in einer so verstandenen ursprnglich intersubjektiven bzw. pr-subjek-
23
tiv sympathetischen Erfahrung ein hinreichend individuiertes Subjekt erst entwi-
24
ckelt, das heißt, wie es sich aus und in einer ursprnglichen, leiblich-emotiven
25
symbiotischen Bindung heraus sukzessive individualisiert.
26
27
Diese Aspekte wurden bereits in den sechziger Jahren in einer psychoanaly-
28
tisch fundierten entwicklungspsychologischen Langzeitstudie untersucht. Mar-
29
gret Mahler und ihr Team identifizierten dabei sowohl zwei Vorphasen als auch
30 vier zentrale Phasen des Loslçsungs- und Individuationsprozesses des menschli-
31 chen Suglings und beschrieben damit zum ersten Mal die etwa zwei Jahre nach
32 der kçrperlich-biologischen Geburt dauernde psychische Geburt des Men-
33 schen.36 Insbesondere erçrterten sie die der Ausbildung des Kçrperschemas vor-
34 ausgehende Phase der symbiotischen Bindung. Auch wenn inzwischen nicht
35 mehr davon ausgegangen werden muss oder darf, dass das Neugeborene autis-
36 tisch und kompetenzlos auf die Welt kommt, sondern wir es durchaus von An-
37
38 35Ebd.
39 36Margret S. Mahler, Fred Pine, Anni Bergmann: Die psychische Geburt des Menschen.
40 Symbiose und Individuation. Frankfurt a.M. 1975, 192008.
68 Jagna Brudzińska
1 fang an mit einem kompetenten Sugling zu tun haben,37 so scheinen die symbio-
2 tischen Prozesse dennoch prgend und fr die Entwicklung bestimmend zu
3 sein. Denn das anthropologische Faktum der Ontogenese, die bei der Teilung
4 der lebendigen Zelle ansetzt und die Not der leiblichen und seelischen Ausdiffe-
5 renzierung aus einer primren lebendigen Einheit bedeutet, bleibt von den Ent-
6 deckungen kognitiv-kommunikativer Kompetenzen auch schon Neugeborener
7 unberhrt. Vielmehr stellen uns jene Entdeckungen – Entdeckungen von Kom-
8 petenzen der Neugeborenen und Suglinge – vor die Herausforderung, ihren
9 Sinn intentional-genetisch als Strukturmomente des Individuationszusammen-
10 hangs aufzuklren, der als ein dynamischer Prozess im Spannungsfeld zwischen
11 Bindung und Separation zu verstehen ist. Wir interessieren uns dann nicht nur
12 dafr, dass Neugeborene kommunizieren, sondern wir fragen, welche Ziele sie
13 darin erfllen und welche Motive sie in welcher Weise dabei realisieren.
14 Die neuesten empirischen Ergebnisse zeigen, dass die meisten Suglinge sogar
15 schon in der ersten Stunde nach der Geburt zu einer Art Kommunikation bereit sind
16 und sie sich sogar aktiv darum bemhen. Wenn die Mtter dafr nicht zur Verfgung
17 stehen, kçnnen andere Personen, ob Frauen oder Mnner, an ihre Stelle treten. Das
18 Neugeborene sucht dann auch nach ihren Gesichtern.38 Stets wird dabei der kompe-
19 tente Sugling gefeiert. Was wir jedoch hier im Hinblick auf die soziale Erfahrung
20 lernen – so betont auch Brten –, ist vor allem, dass die Babys von Anfang an aktiv an
21 der Gestaltung der Beziehung mit ihren Betreuern oder Versorgern beteiligt sind. For-
22 scher beschreiben kommunikative Rhythmen, in denen so genannte Protodialoge
23 stattfinden, whrend denen beide Partner eine erstaunlich przise Aufeinander-Ab-
24 stimmung vollbringen und wie eine Art soziales System zu funktionieren scheinen. J.
25 B. Watson sprach 1972 in diesem Zusammenhang vom Spiel,39 Paul Bloom (1990)
26 von Party,40 Stern (1994) vom Tanz.41
27
28
Die Bezeichnung kompetenter Sugling geht auf den gleichnamigen Titel der Monogra-
37
29
phie von Dornes zurck (Martin Dornes: Der kompetente Sugling. Die prverbale Entwick-
30 lung des Menschen. Frankfurt a.M. 1993). Dornes zeigt, dass Suglingen sowohl kognitive als
31 auch besonders kommunikative Kompetenzen lange vor dem Erwerb der Sprache zuerkannt
werden mssen. Sie betreffen das Sehen, Hçren und Riechen, aber vor allem auch die Fhigkei-
32
ten, zu fhlen und zu interagieren. Dornes belegt an zahlreichen Beispielen aus Alltagsbeobach-
33 tung und der empirischen Forschung, dass jene Kompetenzen von Geburt an sehr viel mehr
34 und sehr viel differenzierter sind, als man frher angenommen hat.
38 Vgl. Brten: Intersubjektive Partizipation. 834.
35 39 John S. Watson: Smiling, cooing, and ,The Game‘. In: Merrill-Palmer Quarterly 18
36 (1972). 323 – 329.
40 Paul Bloom, Steven Pinker: Natural language and natural selection. In: Behavioral and
37
38 Brain Science 13 (1990). 713 – 733.
41 Z.B. Daniel S. Stern: Die Mutterschaftskonstellation. Stuttgart 1998; ders.: Die Lebenser-
39 fahrung des Suglings. Stuttgart 1992, 72000. Zu einer bersicht ber die Ergebnisse der empi-
40 rischen Forschung hinsichtlich der sozialen Kompetenzen von Suglingen vgl. Ulrich
Mitvollzug und Fremdverstehen 69
1 Stein Brten, der sich sowohl von den Thesen Margret Mahlers hinsichtlich ihrer
2 Autismus- und Symbioseannahme als auch von der Egozentrizittsannahme Piagets
3 distanziert, spricht von intersubjektiver Partizipation und formuliert die These eines
4 virtuellen Anderen, der eine dezentrierende Funktion fr das Neugeborene haben
5 soll. Am Beispiel der Interaktion zwischen der elf Tage alten Katharina und ihrer
6 Mutter zeigt er einen Kreislauf dyadischer Struktur, an dem deutlich werden soll, wie
7 sich die beiden einander unmittelbar spren kçnnen.42 Bei der Deutung dieser Vor-
8 kommnisse gelingt es ihm klar zu machen, dass wir es hier nicht mit zwei monadi-
9 schen Individuen zu tun haben, die durch Anpassung ihrer Rhythmen einen Ein-
10 klang herzustellen versuchen. Vielmehr beobachtet er einen dyadischen Kreislauf der
11 gegenseitigen Partizipation, der sozusagen unmittelbaren Teilhabe am Anderen.43
12 Brtens Frage in diesem Zusammenhang, die er im Sinne der Philosophy of Mind
13 formuliert, ist diejenige nach operationalen und organisatorischen Merkmalen „des
14 sich stndig wandelnden Geistes“, die ein solches dyadisches Zusammenwirken mit
15 Anderen schon von Geburt an und bei den meisten von uns whrend des ganzen
16 Lebens ermçglichen. Seine Antwort lautet: Es ist der virtuelle Andere als zentraler
17 und angeborener Mechanismus der unspezifischen gemeinschaftlichen Perspektive
18 des Menschenkindes: „Im Geist des Suglings gibt es schon bei der Geburt einen
19 virtuellen Anderen, der zum Vollzug durch tatschliche Andere in der gefhlten
20 unmittelbaren Umgebung einldt und ihn zulsst. Der normale, sich entwickeln-
21 de und lernende Geist erschafft sich also neu und wandelt sich als selbstorganisie-
22 rende Dyade: einerseits im Selbst-Umgang mit dem virtuellen Anderen und an-
23 dererseits im Umgang mit tatschlichen Anderen, die den Raum der
24
25
26
27
28
Schmidt-Denter (Hg.): Soziale Beziehungen im Lebenslauf. Lehrbuch der sozialen Entwick-
29
lung. Weinheim 42005. 2 ff.
30 42 Vgl. Brten: Intersubjektive Partizipation. 834. Brten bemerkt, dass bereits, bevor er
1 Gemeinschaft mit dem virtuellen Anderen ausfllen und beeinflussen und damit
2 in gegenwrtiger Unmittelbarkeit direkt gefhlt werden.“44
3 Der Begriff virtuell soll in diesem Zusammenhang also einen ursprnglichen,
4 unspezifischen inneren Anderen bezeichnen, der eine Ergnzung zum kçrperli-
5 chen Selbst darstellt und dennoch nicht einen faktischen Anderen und auch
6 nicht dessen Reprsentation bedeutet. Gemß Brten kann der innere, virtuelle
7 Andere in (Proto-) Dialoghandlungen durch einen faktischen, konkreten Ande-
8 ren ersetzt werden oder ihn ersetzen. Dies fhrt Brten zur These von der Alte-
9 rozentrizitt des menschlichen Suglings.45
10 Phnomenologisch kann eine solche Instanz natrlich nicht ohne Weiteres ange-
11 nommen werden. Hier muss vielmehr die intentionale Leistung befragt werden. Hus-
12 serl selbst spricht von einer bergreifenden Intentionalitt und der Fhigkeit zur voll-
13 zugsmßigen Teilnahme am Leben des Anderen, die genetisch sehr frh ansetzt,
14 nmlich bereits im Mutterleib.46 Der Verweis auf das mutterleibliche Kind verlagert
15 die Frage nach der subjektiven Genese und der intersubjektiven Befhigung in den
16 oben angesprochenen, breiteren ontogenetischen Individuationskontext. Auch wenn
17 angenommen werden muss, dass wir von Anfang an mit kognitiven und kommunika-
18 tiven Fhigkeiten ausgestattet sind, so bleibt es eine Tatsache, dass wir einen Separati-
19 onsprozess zu durchlaufen haben, der eine Art subjektive oder psychische Geburt
20 bedeutet. Zu allererst bedeutet er einen Prozess des Sich-Ausdifferenzierens aus dem
21 mtterlichen Leib. Dabei drfen wir aber keine Alterozentrizitt voraussetzen, son-
22 dern sollten doch eine primr symbiotische Struktur bercksichtigen, die sowohl der
23 Altero- als auch der Egozentrizitt vorausgeht.
24 Dies lsst mich erneut an die Ergebnisse Margret Mahlers denken. Auch wenn wir
25 im Einklang mit der Kritik Bratens (aber auch mit den anderen und psychoanalyti-
26 schen Suglingsforschern, so vor allem mit David Sterns) ihre Annahme des psychi-
27 schen Autismus der ersten Woche und des vollstndigen Mangels an Kçrperschema
28 bei Neugeborenen nicht teilen (kçnnen und sollen), so kann man sich doch darber
29 verstndigen, dass die primre Bindung symbiotische Charaktere aufweist, die erst
30 nach und nach relativiert werden kçnnen. In diesem Modell gibt es zwar keinen virtu-
31 ellen Anderen, doch partizipiert das menschliche Neugeborene an der Leiblichkeit
32 seiner Bezugsperson unmittelbar emotional und leiblich im Sinne der Kontinuitt sei-
33 ner Ontogenese. Der gemeinsame leibliche Beginn einer Individualbiographie
34 scheint mir der entscheidende Moment der primr intersubjektiven Befhigung des
35 Menschen zu sein, die ich hier, unter dem genetischen Gesichtspunkt, nicht intersub-
36
44 Stein Brten: Infant attachment and self-organization in light of this thesis: Born with the
37
38 other in mind. In: Ingeborg L. Gomnaes, Elisie Osborne (Hg.): Making links. How children
learn. Oslo 1993. 25 – 38. 26.
39 45 Brten: Intersubjektive Partizipation. 835 f.
37 nicht simple Imitation, sondern Aneignung aufgrund des gleichen tiologischen Anspruches;
38 sie drckt ein ,gleichwie‘ aus und bezieht sich auf ein im Unbewussten verbleibendes Gemein-
sames.“
39 48 Vgl. Gaddini: Das Ich ist vor allem ein Kçrperliches. 77.
1 Die Metapher vom Receiver des Telefons veranschaulicht vor allem das Kon-
2 zept des inneren Resonanzraumes, den der Psychoanalytiker dem Analysierten
3 anbietet, und zwar als Resonanzraum des eigenen Unbewussten gegenber dem
4 fremden Unbewussten.
5 In diesem Zusammenhang erfasst Freud auch das Modell der gleichschweben-
6 den Aufmerksamkeit. Es handelt sich um eine gewissermaßen unintendierte Auf-
7 merksamkeit, also um einen attentionalen Bewusstseinsmodus. Freud legt damit
8 ein anspruchsvolles Konzept des Verstehens vor, das nicht bei der Deutung eines
9 erfassten gegenstndlichen Sinnes der ußerungen, d. h. ihres noematischen Ge-
10 halts, ansetzt, sondern vor allem die noetischen Leistungen bercksichtigt. Es
11 geht um das innere Vernehmen eigener und fremder noetischer Verlufe und noe-
12 matischer Gehalte, die einen Widerhall im eigenen Unbewussten finden. Es sind
13 assoziativ-affektive Weckungen (fremd-)subjektiver Tendenzen, die im eigenen
14 Erleben ersprt werden sollen (und kçnnen), Strebungen und Gegenstrebungen,
15 loses Phantasieren und scheinbar unmotivierte Einflle, die in ihren Verwandlun-
16 gen, Entwicklungen und Wirkungen gerade im Hinblick auf ihre motivationalen
17 Momente vernommen werden. Hierzu legt Freud bestimmte Rahmenbedingun-
18 gen fest. Er fordert, auf alle Hilfsmittel, wie das Niederschreiben, oder sich et-
19 was Besonderes merken zu wollen, zu verzichten. Allem, was von Seiten des
20 Analysierten zu Tage tritt, soll die gleiche, die gleichschwebende Aufmerksam-
21 keit entgegengebracht werden. Und dieses besagt zunchst ein spezifisches Los-
22 lassen. Die eigenen Motivationen des Analytikers sollen unwirksam bleiben, sei-
23 ne Vorerwartungen das Vernehmen des Fremdseelischen nicht prgen. Zum
24 einen bedeutet es, zunchst keine Anstrengung des Verstehens zu unternehmen,
25 sondern im Zuhçren die ußerungen des Patienten auf sich wirken zu lassen. Es
26 ist bei Weitem keine einfache Aufgabestellung. Freud erhofft sich, dass die eige-
27
ne Lehranalyse die Kandidaten dazu befhigt, ihre eigenen, auch unbewussten
28
Motivationen und Erwartungen insoweit zu erkennen und dadurch in der Lage
29
zu sein, sich bei der spteren Ausfhrung der Behandlungen von ihnen nicht
30
leiten zu lassen. Diese spezifische Enthaltsamkeit versteht Freud als Bedingung
31
dafr, dass Neues, bisher Unerkanntes zum Vorschein kommen kann.54
32
33 54 Sigmund Freud (1912): GW VIII. 377: „Man erspart sich auf diese Weise die Anstren-
34 gung der Aufmerksamkeit […] und vermeidet eine Gefahr, die von dem absichtlichen Aufmer-
35 ken unzertrennlich ist. Sowie man nmlich seine Aufmerksamkeit bis zu einer gewissen Hçhe
anspannt, beginnt man auch, unter dem dargebotenen Materiale auszuwhlen; man fixiert das
36 eine Stck besonders scharf, eliminiert dafr ein anderes und folgt bei dieser Auswahl seinen
37 Erwartungen oder seinen Neigungen. Gerade dies darf man aber nicht; folgt man seinen Erwar-
38 tungen, so ist man in der Gefahr, niemals etwas anderes zu finden, als was man bereits weiß;
folgt man seinen Neigungen, so wird man sicher die mçgliche Wahrnehmung flschen. Man
39 darf nicht darauf vergessen, daß man ja zumeist Dinge zu hçren bekommt, deren Bedeutung
40 erst nachtrglich erkannt wird.“
Mitvollzug und Fremdverstehen 75
1 Vom Standpunkt der genetischen Intentionalanalyse aus haben wir es hier mit
2 einer Modalitt der Erfahrung zu tun, die auf die primr sympathetische Befhi-
3 gung des Menschen zurckgeht. Zum Tragen kommt dabei ein emotiv struktu-
4 riertes, mediales und vor-intentionales Denken in der synchronen Zeitstruktur
5 der Quasi-Gegenwart, worin wir eine gewisse Nhe zum Traumdenken erken-
6 nen kçnnen. Gerade diese Verwandtschaft greift der britische Psychoanalytiker
7 Wilfried R. Bion auf, indem er auf den trumerischen Aspekt der psychoanalyti-
8 schen Arbeit hinweist. In seiner neo-psychoanalytischen Interpretation spricht vom
9 trumerischen Ahnungsvermçgen (RÞverie) und analogisiert dieses Vermçgen mit der
10 Fhigkeit der Mutter, eine Art des Resonanzraumes (container) fr das primre Emp-
11 finden des Suglings zur Verfgung zu stellen. Diese Fhigkeit bezeichnet Bion als
12 RÞverie und schreibt ihr einen zentralen Stellenwert fr das Gelingen der seelischen
13 Entwicklung zu, insbesondere der Entwicklung des Denkens und des Realittssin-
14 nes. Hier bedeutet das Sich-Einlassen auf den Patienten mehr, als nur sein Erleben in
15 sich urteilsfrei wirken zu lassen. Bion scheint eine tiefere oder sogar eigentliche Struk-
16 tur des sympathetischen Erfahrens anzusprechen. Er fordert fusionre Rckvollzge
17 im Sinne des seelischen Verdauens fremder Emotionen in der trumerischen Mitein-
18 ander-Verwobenheit.55
19 Doch jene Miteinander-Verwobenheit bedeutet, dass auch der Arzt nicht neu-
20 tral bleibt. Auch er antwortet mit seinen unbewussten Wnschen und Erwartun-
21 gen. Im Vollzug des fusionr-sympathetischen Erlebens, entsprechend der Leis-
22 tungsstruktur des phantasmatischen Bewusstseins, lsst sich weder das Frhere
23 vom Gegenwrtigen leicht unterscheiden noch das Fremde vom Eigenen. Hier
24 stehen wir vor der Notwendigkeit einer nachtrglichen Differenzierung, einer
25 rekonstruktiv-reflexiven Analyse, um nicht nur der Fusion, sondern auch der
26 Differenzierung, der Getrenntheit also, gerecht zu werden. Damit erreichen wir
27
den zweiten Grundpfeiler der teilnehmenden Erfahrung, die sich nicht in im fu-
28
sionr-sympathetischen Mitvollzug erschçpft, in einem innerseelischen Sich-Ver-
29
weben, sondern, darauf aufbauend, ein Sich-Entweben fordert, einen nachtrgli-
30
chen Separations- oder Differenzierungsvorgang als im engeren Sinne
31
individuierende Aktivitt. Hier kommt es auf die Leistungsfhigkeit des Verge-
32
genwrtigungsbewusstseins an. Wie ein anderer italienischer Psychoanalytiker,
33
Stefano Bolognini, in seiner in jeder Hinsicht beachtenswerten Studie zum psy-
34
choanalytischen Einfhlungsbegriff deutlich gemacht hat, ist es die Arbeit des
35
36 55 Vgl. Wilfried R. Bion: Learning from experience. New York 1962. 230. Einen Vergleich
37 der Konzepte Freuds und Bions unternimmt Klaus Grabska. Er zeigt, dass sich die RÞverie
38 Bions auf tiefere, strker reduzierte und bruchstckhafte bertragungsdimensionen bezieht
als die gleichschwebende Aufmerksamkeit bei Freud. Vgl. Klaus Grabska: Gleichschwebende
39 Aufmerksamkeit und trumerisches Ahnungsvermçgen (RÞverie). In: Forum der Psychoanaly-
40 se 16 (2000). 247 – 260.
76 Jagna Brudzińska
1 lich weiterentwickelt. Hinsichtlich der Bedeutung und den Grenzen einer mçgli-
2 chen Anwendung der Phnomenologie auf die Geisteswissenschaften herrscht
3 jedoch aktuell keine Einigkeit. Ein Anzeichen dafr ist die in der letzten Dekade
4 aufgekommene Diskussion in der kontinentalen und der analytischen Philoso-
5 phie ber die Mçglichkeit einer „Naturalisierung“ der Phnomenologie.4 Dieses
6 Projekt, die phnomenologische Forschung auf die Ebene empirischer Wissen-
7 schaften, wie z. B. die kognitiven Wissenschaften und die Entwicklungspsycho-
8 logie, zurckzufhren, hat zur Zeit den Rang eines umfassenden Titels angenom-
9 men, unter dem mehrere, auch entgegengesetzte, Perspektiven der
10 Naturalisierung subsumiert werden.5
11 Es ist nicht das Ziel dieses Beitrags, diese Debatte aufzugreifen und in ihr eine
12
eigene Position einzunehmen. Vielmehr geht es uns darum, die Funktion der
13
Phnomenologie gegenber den Geisteswissenschaften deutlich vom Projekt
14
der Naturalisierung zu unterscheiden. Es scheint uns nmlich, dass die sogenann-
15
te „Naturalisierung“ (trotz ihrer verschiedenen Auffassungen) dem generellen,
16
und nicht immer klar ausgedrckten, Versuch entspricht, die phnomenologi-
17
schen Analysen des Bewusstseinslebens in den Dienst der Entwicklung neuer
18
empirischer Theorien zu stellen. Ein Beispiel dafr stellt unserer Ansicht nach
19
die Anwendung der von Husserl und anderen Phnomenologen entwickelten
20
Intersubjektivittstheorie auf die aktuelle Diskussion ber „social cognition“
21
dar, eine Forschungsrichtung, die unter dem Titel „theory of mind debate“ be-
22
23
kannt geworden ist. Zeitgençssische Autoren, wie u. a. Shaun Gallagher und
24 Dan Zahavi, nehmen Begriffe und Gesichtspunkte der phnomenologischen Tra-
25 dition auf, um eine neue, konkurrenzfhige Theorie ber die soziale Erfahrung
26 zu entfalten, die das traditionelle, doppelte Paradigma der theory-theory und si-
27 mulation-theory berwinden soll.6
28 Es ist hier nicht unsere Absicht, dieses Projekt der Naturalisierung und der
29 Anwendung phnomenologischer Begriffe auf die empirische Forschung zu wi-
30 derlegen. Das Projekt scheint im Gegenteil den Vorzug zu haben, die Phnome-
31
4 Vgl. Jean Petitot (Hg.): Naturalizing phenomenology. Issues in contemporary phenome-
32
nology and cognitive science. Stanford 1999.
33 5 Siehe u. a. Dan Zahavi: Phenomenology and the project of naturalization. In: Phenome-
34 nology and the Cognitive Sciences 3 (2004). 331 – 347; Dieter Lohmar: Phnomenologische
35 Methoden und empirische Erkenntnisse. In: C. Ierna, H. Jacobs, F. Mattens (Hg.): Philoso-
phy, phenomenology, sciences. Dordrecht 2010. 191 – 219; James Mensch: The question of na-
36 turalizing phenomenology. In: Symposium 17 (2013). 210 – 228.
6 Siehe dazu den wegweisenden Aufsatz von Shaun Gallagher: Phenomenological contri-
37
38 butions to a theory of social cognition. In: Husserl Studies 21 (2005). 95 – 110. Fr eine einlei-
tende Diskussion ber die oben genannten Theorien vgl. Shaun Gallagher, Dan Zahavi: The
39 phenomenological mind. An introduction to philosophy of mind and cognitive science. New
40 York 22012. 191 – 218.
Der Beitrag der Phnomenologie Edmund Husserls 79
1 serls eigener Beitrag in dieser Debatte zur Sprache kommen, wobei im Besonde-
2 ren die neuen Begriffe und Denkmotive betrachtet werden, die er in die Diskus-
3 sion eingebracht hat, nmlich die regionale Ontologie und die personalistische
4 Einstellung. Dieser Abschnitt schließt mit einer Erçrterung des von Husserl ver-
5 tretenen Vorrangs der Geisteswissenschaften, und des Geistes als deren Korre-
6 lat, gegenber den Naturwissenschaften.
7
8
9
10 2. Die Debatte ber die Fundierung der Geisteswissenschaften und Husserls
11 Kritik an Dilthey, Windelband und Rickert
12
13 Zwei grundverschiedene Denkrichtungen haben die Debatte um die Fundierung
14 der Geisteswissenschaften beherrscht, die im deutschsprachigen Bereich gegen
15 Ende des 19. Jahrhunderts begann: die Lebensphilosophie Wilhelm Diltheys
16 und der Neukantianismus Wilhelm Windelbands und Heinrich Rickerts. Dass
17 Husserl ein besonderes Interesse daran hatte, in dieser Debatte einen theoreti-
18 schen Standpunkt fr seine Phnomenologie zu finden, belegen die gelegentli-
19 chen Hinweise auf den Streit ber die methodische Grundlage der Natur- und
20 Geisteswissenschaften in zahlreichen Texten aus den Jahren zwischen 1910 und
21 1930.
22 Husserl bezieht sich in der Einleitung zum dritten Abschnitt der Ideen II ex-
23 plizit auf diese Diskussion, wenn er die Reaktionen „gegenber der dem natur-
24 wissenschaftlichen Zeitalter selbstverstndlichen naturalistischen Deutung der
25 Geisteswissenschaften als bloßer deskriptiver Naturwissenschaften“8 erwhnt.
26 Auf die vorherrschende naturalistische Deutung bzw. den Naturalismus seiner
27 Zeit hatte Husserl schon in seinem Logos-Artikel von 1911 kritisch hingewiesen.
28 Dort erklrt er: Dasjenige, „was alle Formen des extremen und konsequenten
29 Naturalismus […] charakterisiert, ist einerseits die Naturalisierung des Bewusst-
30 seins […]; andererseits die Naturalisierung der Ideen und damit aller absoluten
31 Ideale und Normen.“9 Unter der „Naturalisierung des Bewusstseins“ versteht
32 Husserl den von der neuzeitlichen Psychologie unternommenen Versuch, das
33 Subjekt innerhalb der Natur, d. h. als Naturfaktum zu verstehen. Grundstzlich
34 teilen Husserl, Dilthey und die Neukantianer Rickert und Windelband die An-
35 sicht, dass der Naturalismus und der von ihm abhngige methodische Reduktio-
36 nismus berwunden werden sollte, um die Autonomie der Geisteswissenschaf-
37
38 Ideen II. 172.
8
Edmund Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft (1911). In: Ders.: Aufstze und
9
39 Vortrge (1911 – 1921). Mit ergnzenden Texten hrsg. von Thomas Nenon und Hans Reiner
40 Sepp. Hua XXV. Den Haag 1987. 9.
Der Beitrag der Phnomenologie Edmund Husserls 81
1 haben. In der aus dem Jahr 1927 stammenden Vorlesung ber Natur und Geist
2 befasst sich Husserl explizit mit Windelbands und Rickerts Auslegung der geis-
3 teswissenschaftlichen Methode.
4 Zum einen kritisiert Husserl damit den Unterschied zwischen idiographi-
5 schen und nomothetischen Wissenschaften, den Windelband in Geschichte und
6 Naturwissenschaften14 von 1894 vertreten hatte. Naturwissenschaften definie-
7 ren sich laut Windelband als nomothetische Wissenschaften, da es ihre Art sei,
8 auf das Allgemeine, das Gesetzliche (nomos), abzuzielen. Demgegenber wer-
9 den die Geisteswissenschaften dadurch als idiographisch charakterisiert, dass ih-
10 rem methodischen Ziel das Individuelle, das zeitlich Begrenzte, mit einem Wort:
11 das „Ereignis“ entspreche. Diese Lehre, die lediglich einen methodischen Unter-
12 schied zwischen Geistes- und Naturwissenschaften vertritt, widerspricht der
13
Mçglichkeit, innerhalb der geistigen Welt Erklrungen nach streng wissenschaft-
14
lichen Gesetzen leisten zu kçnnen. Dementsprechend fhrt Husserl in besagter
15
Vorlesung „den alten, lngst schon von John Stuart Mill klar durchgefhrten Ge-
16
danken […], dass Gesetzeserkenntnis allein nie die tatschliche Welt zur Er-
17
kenntnis bringen kann“,15 wie zuvor auf Dilthey, so jetzt auf Windelband zu-
18
rck. Eine Geisteswissenschaft, deren Erklrungen nicht auf eidetische Gesetze
19
abzielen, gehe nach Husserl auf eine naturalistische Auffassung der Geisteswis-
20
senschaften zurck, welche eine mçgliche Gesetzmßigkeit innerhalb des Geis-
21
teslebens vçllig ausschließt.
22
In derselben Vorlesung nimmt Husserl ferner das große Werk des Neukantia-
23
ners Heinrich Rickert ber die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbil-
24
25
dung (1896) kritisch unter die Lupe. Husserl zufolge ergnze Rickerts Beitrag
26
„durch tiefere systematische Begrndung […] das ganze Grundgerst der Win-
27 delbandschen Gedanken“.16 Hier werden nun einige Neuerungen der rickert-
28 schen Lehre in Betracht gezogen, die Husserls Unterscheidung zwischen Geis-
29 tes- und Naturwissenschaften beeinflusst haben. In erster Linie geht es um den
30 von Rickert eingefhrten Begriff der theoretischen „Einstellung“, der eine große
31 Rolle in Husserls eigener Deutung des wissenschaftstheoretischen Unterschie-
32 des spielt. Nach Rickerts Auffassung sind Natur- und Geisteswissenschaftler
33 theoretisch auf eine und dieselbe empirische Realitt gerichtet, dennoch ist ihre
34 jeweilige Einstellung in Bezug auf sie verschieden. Gerade die Einstellung des
35 Wissenschaftlers stelle die Quelle der Begriffsbildung im entsprechenden wissen-
36 schaftlichen Bereich dar. Auf der Basis einer Einstellung ergibt sich Rickert zu-
37
38 Siehe Wilhelm Windelband: Geschichte und Naturwissenschaften. Straßburg 1894.
14
Edmund Husserl: Natur und Geist. Vorlesungen Sommersemester 1927. Hrsg. von Mi-
15
39 chael Weiler. Hua XXXII. Dordrecht 2000. 84.
40 16 Ebd. 86.
Der Beitrag der Phnomenologie Edmund Husserls 83
1 dass die Welt unserer Erfahrung auf mannigfaltige Art und Weise zum Gegen-
2 stand wissenschaftlicher Bestimmung werden kann.23 Jede Wissenschaft habe
3 ihr Gebiet von Gegenstnden der Erfahrung, aber sie gebe sich dieses Gebiet
4 nicht selbst, sondern es sei ihr schon vorgegeben. Man msse dabei hingegen
5 bedenken, dass die Unterscheidung von Seinsregionen laut Husserl nicht durch
6 eine schlechthin apriorische Teilung des Seienden nach logisch-sprachlichen
7 Prinzipien, wie dies schon bei Aristoteles zu finden ist, durchgefhrt werden
8 kann. Die Unterscheidung von Seinsregionen ergebe sich vielmehr nur im Hin-
9 blick auf die Korrelation des Gegebenen zur Weise der Gegebenheit der Seinsre-
10 gionen fr das Bewusstsein. In diesem Sinne entwickelt sich „die Frage nach den
11 Seinsregionen von Husserl als eine transzendentalphilosophische Frage […], als
12 Frage nach der notwendigen Korrelation von Sein und Bewusstsein, und das
13 sagt, nach der Konstitution des Seins fr das Bewusstsein“.24
14 Husserl weist in seinen Ideen auf einen ontologischen, und in diesem speziel-
15 len, transzendentalphilosophischen Sinn zu verstehenden Unterschied zwischen
16 Natur und Geist hin. Im ersten Buch betont er, dass allen naturwissenschaftli-
17 chen Disziplinen die eidetische Wissenschaft von der physischen Natur, d. h. die
18 „Ontologie der Natur“ entsprche,25 und im dritten Abschnitt der Ideen II be-
19 schftigt er sich dezidiert mit einer Abgrenzung der ontologischen Regionen
20 „Natur“ und „Geist“ und den entsprechenden Wissenschaften. Um diese Abhe-
21 bung der beiden Seinsregionen zu unterstreichen, stellt er folgende rhetorische
22 Frage: „Handelt es sich wirklich um zweierlei Welten, um die ,Natur‘ auf der
23 einen, die Geisteswelt auf der anderen Seite, beide durch kardinale Seinsunter-
24 schiede gesondert? Das braucht nicht zu besagen und soll das auch nicht, dass
25 die beiden Welten gar nichts miteinander zu tun haben, dass ihre Sinne nicht
26 Wesensbeziehungen zwischen ihnen herstellen“.26 Es ist wiederum klar, dass
27
Husserl bei Natur und Geist an zwei verschiedene Regionen des Seienden
28
denkt, das bedeutet aber lediglich, dass beiden jeweils eine besondere Weise der
29
Gegebenheit fr das Bewusstsein entspricht.
30
Wir mssen also diesen Seinsunterschied, wie es Landgrebe betont hat, als ei-
31
nen transzendentalen Unterschied zwischen den Weisen der Gegebenheit fr
32
das Bewusstsein von Natur und Geist anerkennen. Und in der Tat weist Husserl
33
in diesem Zusammenhang auf die unterschiedlichen Einstellungen hin, aus de-
34
nen die verschiedenen Wissenschaften stammen. Natur und Geist werden von
35
36 23 Landgrebe: Seinsregionen. 144.
37 24 Landgrebe: Seinsregionen. 147.
25 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phnomenologie und phnomenologischen Phi-
38
losophie. Erstes Buch: Allgemeine Einfhrung in die reine Phnomenologie. Neu hrsg. von
39 Karl Schuhmann. Hua III/1. Den Haag 1976. 24.
40 26 Ideen II. 210.
86 Marco Cavallaro
Sebastian Luft hat daher zu Recht von einer „phnomenologischen Entdeckung der na-
28
39 trlichen Einstellung“ bei Husserl gesprochen (Sebastian Luft: Husserl’s phenomenological
40 discovery of the natural attitude. In: Continental Philosophy Review 31 [1998]. 153 – 170).
Der Beitrag der Phnomenologie Edmund Husserls 87
34 Ebd. 191.
35
36 Ebd. 183.
35 37 Ebd. 179.
36 38 Manfred Sommer spricht in diesem Zusammenhang von einer „Reduktion auf den absolu-
37 ten Geist“, die, im Gegensatz zur Reduktion der Ideen I, in die alle „Kulturgebilde“ mit einbe-
38 zogen sind, die Welt auf den Kopf stellen wrde (Manfred Sommer: Einleitung. Husserls Gçt-
tinger Lebenswelt. In: Edmund Husserl: Die Konstitution der geistigen Welt. Hamburg 1984.
39 IX-XLII. XXXVII).
40 39 Ideen II. 297.
Der Beitrag der Phnomenologie Edmund Husserls 89
1 hingegen ist „absolut […], irrelativ. Nmlich, streichen wir alle Geister aus der
2 Welt, so ist keine Natur mehr. Streichen wir aber die Natur, […] so bleibt noch
3 immer etwas brig: der Geist als individueller Geist.“40
4 Wie ist nun diese Absolutheit des Geistes und die entsprechende Relativitt
5 der Natur genauer zu verstehen? Einen Hinweis darauf bietet uns Husserls Dis-
6 kussion um den psychischen Parallelismus. Dem letzten Paragraphen der Ideen
7 II, in dem sich Husserl in klaren Worten auf den Vorrang des Geistes bezieht,
8 geht ein mindestens ebenso wichtiger Paragraph voran, der sich mit dem Pro-
9 blem des psychophysischen Parallelismus beschftigt. Dieses Problem spielt
10 eine wichtige Rolle bei der Polemik gegen den Naturalismus und bei der Unter-
11 scheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Dem psychophysischen
12 Parallelismus entspricht nmlich die Mçglichkeit, dass „jederlei Auffassungen
13 und vor allem Bewusstsein berhaupt abhngig sei vom Leib und seinen leib-
14 lich-objektiven Vorkommnisse[n]“.41 Da eine mçgliche berwindung des me-
15 thodischen Naturalismus dem Parallelismus von Natur und Geist nicht unbe-
16 dingt widersprechen wrde, hat Husserl ein Interesse daran, sich in dieser
17
Hinsicht zu positionieren. Aus einem angeblichen Parallelismus zwischen Na-
18
tur und Geist wrde nmlich folgen, dass sich beide „ergnzen und durchset-
19
zen“, wie „nur zwei Seiten einer und derselben Sache“, die „in beiden Seiten
20
dieselbe Sache ausdrcken.“42 Dass dies „aber nicht der Fall“ sein kann, ist fr
21
Husserl unbezweifelbar. Seiner eigenen Auffassung nach ist dieser Parallelismus
22
schon eine Art Naturalismus, dem aber nicht unbedingt ein methodischer Re-
23
duktionismus folgt.43 Der Hauptgrund dafr, warum der Parallelismus „radikal
24
zu widerlegen“ ist,44 besteht nach Husserl darin, dass die Gesetze der materiel-
25
len Realitt einen vçllig anderen Sinn haben als die Gesetze des Bewusstseins,
26
d. h. des Geistes. Die physischen nderungen, von denen mein physischer Kçr-
27
per abhngt, „sind faktische Vernderungen, sie unterstehen Naturgesetzen, die
28
auch andere sein kçnnten“.45 Wesentlich anders steht es aber mit den Gesetzen,
29
denen die Abfolge und Koexistenz der Bewusstseinserlebnisse unterliegen. Sie
30
31
sind laut Husserl „Wesensgesetze“, das besagt, sie entsprechen dem apriorischen
32 40 Ebd.
33 41 Ebd. 289 f.
42 Ebd. 289.
34
43 Wie schon Claude Evans dargelegt hat, bezieht sich Husserls Kritik sowohl auf den me-
35
thodisch reduktionistischen Charakter des Naturalismus als auch auf einen Eliminativismus,
36 d. h. eine Theorie, die davon ausgeht, dass jede psychologische bzw. soziale Fragestellung
37 durch Fragestellungen hinsichtlich materieller Realitt ausgetauscht werden kann (Claude J.
38 Evans: Where is the Life-World? In: Thomas Nenon, Lester Embree [Hg.]: Issues in Husserl’s
Ideas II. Dordrecht 1996. 57 – 65. 63).
39 44 Ideen II. 294.
40 45 Ebd. 293.
90 Marco Cavallaro
1 Wesen des Bewusstseins, das sich nicht empirisch bestimmen lsst. Aus diesem
2 Grund hebt der psychophysische Parallelismus entgegen dem Anliegen Hus-
3 serls die Mçglichkeit einer eidetischen Erklrung des Bewusstseinslebens auf
4 und ist demzufolge in letzter Konsequenz abzulehnen.
5 Auf Grund der Erçrterung des Parallelismus von Natur und Geist in Hus-
6 serls Ideen II ist uns auch der Absolutismus des Geistes klarer geworden. Geist
7 und Natur sind nicht zwei gleichgerichtete Seinsregionen, die ursprnglich aus
8 einer allumfassenden Realitt stammen. Der Dualismus von Geist und Natur
9 wird fr Husserl nicht dialektisch in einem Monismus aufgehoben. Der Monis-
10 mus bzw. die Absolutheit des Geistes ist vielmehr von Anfang an der phno-
11 menologischen Perspektive vorgngig.46 Das impliziert natrlich nicht, dass
12 Husserl die Mçglichkeit einer Wechselwirkung zwischen Geist und physischer
13 Natur ausschließt.47 Im Gegenteil, eine Wirkung der physischen Bestimmtheiten
14 auf den psychischen Bereich wird von Husserl explizit anerkannt: In der geisti-
15 gen Sphre ist jede physische Einwirkung, von dem Gesichtspunkt des Geistes
16
aus betrachtet, als „eine notwendige, aber nicht hinreichende Vorbedingung“ zu
17
verstehen.48 Das heißt, dass alle physischen Reize als „Motivation“ fr weitere
18
Akte vom Geist angenommen werden kçnnen. In der Geistessphre gilt nm-
19
lich, so Husserl, das Motivationsgesetz, das wesentlich eine lediglich kausale Be-
20
ziehung zwischen Personen und Dingen widerlegt. Es charakterisiert unsere Be-
21
ziehung auf Andere als eine „intentionale Beziehung“, die von der real-kausalen
22
Beziehung zwischen bloßen Natursachen zu unterscheiden ist: „die reale Bezie-
23
hung fllt weg, wenn das Ding nicht existiert: die intentionale Beziehung bleibt
24
bestehen“.49
25
Diese letzte These sollte uns schon darauf aufmerksam machen, dass es in der
26
geistigen Sphre Raum fr eine ausgezeichnete Art von Natur geben kann. In
27
der Tat ist die geistige Welt nicht nur durch individuelle sowie durch intersubjek-
28
29 46 Hierzu hat Ullrich Melle in seinem Aufsatz ber Natur und Geist in der husserlschen
34 not directed against the naturalistic research program as such. […] It is not the naturalistic
35 research program itself […] problematic, but rather its absolutism“ (Melle: Nature and spi-
rit. 23).
36 48 Ideen II. 297.
49 Ebd. 215. Dies bildet auch das Fundament, auf dem sich Husserl auf die Existenz der
37
38 „Geister“ im Sinne von „Gespenstern“ als eine grundlegende Mçglichkeit der geistigen Welt
bezieht (z. B. ebd. 94 f., 216, 287). Auch wenn ihnen keine reale bzw. kausal-materielle Gegen-
39 stndlichkeit entspricht, sind sie dennoch fr das geistige Subjekt „real“, da es mit ihnen durch
40 eine intentionale Beziehung verbunden ist.
Der Beitrag der Phnomenologie Edmund Husserls 91
1 ursprnglich gegeben ist. Demgemß ist vor allem eine besondere methodisch
2 gerichtete Einstellung erforderlich, um die Erfassung dieser Natur zu gewhrleis-
3 ten. Als „Kunstprodukt der Methode“, wie Husserl die physisch-kausale Natur
4 in der Vorlesung ber Phnomenologische Psychologie nennt,54 ist sie als „kultu-
5 relles Objekt“ zu bezeichnen, und demgemß kann sie Gegenstand geisteswis-
6 senschaftlicher Untersuchungen werden.55 Der Vorrang der Geisteswissenschaf-
7 ten und demzufolge der geisteswissenschaftlichen Einstellung vor den
8 Naturwissenschaften und ihrer entsprechenden Einstellung besteht darin, dass
9 die Natur und sogar der Naturalismus, d. h. die Anwendung der naturwissen-
10 schaftlichen Methoden auf den Bereich der geistigen Forschung, als kulturelle
11 bzw. soziale Phnomene verstanden werden kçnnen und, Husserl zufolge, auch
12 verstanden werden sollten. Aus diesem Grund haben letztlich die Geisteswissen-
13 schaften nach Husserl die wichtige Aufgabe, sowohl den Naturalismus als theo-
14 retisches Produkt zu bewerten als auch ihn kritisch-normativ zu beurteilen.56
15
16
17
4. Fazit
18
19
Aus den soeben durchgefhrten Analysen wird die Bedeutung der leitenden
20
Funktion, die laut Husserl die Phnomenologie in Bezug auf die geisteswissen-
21
schaftlichen Erkenntnisse leisten sollte, ersichtlich. Die Geisteswissenschaften
22
sollen Husserls prinzipieller Auffassung zufolge in letzter Konsequenz einer
23
ethischen Aufgabe nachgehen. Die Krise der Menschheit, die er sowohl in sei-
24
nen Wiener Vorlesungen als auch in den Kaizo-Artikeln mehrfach betrachtet
25
hat, stellt er letztlich als Krise der Kultur dar, deren grundlegende Ursache der
26
Naturalismus, d. h. die Verabsolutierung der naturwissenschaftlichen Betrach-
27
tung der Welt ist. Demgemß erhlt die Debatte ber die Fundierung der Geistes-
28
wissenschaften eine dezidiert ethische Prgung. Aber kommen wir noch einmal
29
zurck auf unsere einleitende Frage, welche Funktion der Phnomenologie in
30
jener Debatte zukommt. In einer seiner zahlreichen „methodischen Besinnun-
31
gen“ in den Ideen II gibt Husserl eine mçgliche Antwort darauf. Im Gegensatz
32
zum Naturforscher, und auch zum Geistesforscher, ist der Phnomenologe in
33
der Lage, die verschiedenen Einstellungen zu trennen und ihren relativen Sinn
34
einzuschtzen. „Das Erzieherische der phnomenologischen Reduktion“, so Hus-
35
36 Husserl: Phnomenologische Psychologie. 54.
54
1 serl, „liegt […] auch darin, dass sie uns nun berhaupt fr die Erfassung von
2 Einstellungsnderungen empfnglich macht, die der natrlichen [bzw. persona-
3 listischen] oder […] naturalen Einstellung ebenbrtig sind, die also wie diese nur
4 relative und beschrnkte Seins- und Sinneskorrelate konstituieren“.57 Was wir in
5 unserem Beitrag, dem Gedanken Husserls folgend, geleistet haben, ist eine Ana-
6 lyse der personalistischen und naturalistischen Einstellung, die nur von einem
7 phnomenologischen Gesichtspunkt aus mçglich ist. Daraus wird die zentrale
8 Funktion der Phnomenologie fr die Besinnung und Entwicklung der Geistes-
9 wissenschaften deutlich, und damit auch fr eine allgemeine, wissenschaftlich
10 begrndete Interpretation der sozialen Welt.58
11
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36
37 57 Ideen II. 179.
38
58 An dieser Stelle mçchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. Dieter Lohmar und dem Team des
Husserl-Archivs der Universitt zu Kçln, Dr. Dirk Fonfara, Marie Weber, M.A. und Klaus
39 Sellge, M.A. fr die Untersttzung bei der sprachlichen und inhaltlichen Korrektur des vorlie-
40 genden Textes ganz herzlich bedanken.
1
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39
40
1 Christian Ferencz-Flatz
2
3
4 Zum Phnomen der „Generation“
5
Intersubjektivitt und Geschichte bei Heidegger
6
7
8
9
10 I. Von der Einfhlung zum Mitgeschehen
11
12 Der Zusammenhang von Intersubjektivitt und Geschichte ist bei Heidegger
13 schon frh belegt. In einer seiner ersten Vorlesungen werden die beiden Begriffe
14 an einer der wenigen Stellen, an denen der Terminus „Intersubjektivitt“ ber-
15 haupt vorkommt, ausdrcklich aufeinander bezogen.1 Selten ist bei Heidegger
16 auch von „Einfhlung“ die Rede, wobei der Begriff in der Vorlesung vom WS
17 1919/20 wiederum gerade eine Schnittstelle der beiden Themenbereiche bezeich-
18 net. Indem Heidegger hier versucht, den von Husserl grob als quivalent der
19 „Apprsentation“ gebrauchten Begriff der „Bekundung“2 fr eine Bestimmung
20 der Wissenschaften berhaupt zu verwerten, bemerkt er zunchst bezglich der
21 Geschichte, diese lege lebensweltliche Gegenstnde als „Bekundungen“ der Ver-
22 gangenheit aus, und erwhnt im Anschluss daran auch die Biologie als Beispiel.
23 Dabei setzt er in einer kritischen Randbemerkung zu dieser Stelle hinzu, dass
24 der Zusammenhang von Historie und Biologie seinerseits eigens htte berck-
25 sichtigt werden sollen,3 indem er der „Einfhlung“ – hnlich wie bei Dilthey
26 oder auch Husserl – die Rolle einer beiden gemeinsamen Bekundungsform zuzu-
27 schreiben scheint. Bekanntlich verwendet aber Heidegger zunchst zur Bezeich-
28 nung der Intersubjektivitt vornehmlich den Terminus Mitwelt, der zusammen
29
mit der Umwelt und der Selbstwelt ein eigenartiges Begriffsschema bildet. Mit
30
diesen Wortprgungen will Heidegger die Tatsache betonen, dass alles Gegebene
31
als solches berhaupt erst in einem lebensweltlichen Horizont erfahren wird,
32
und so sind zunchst auch die Anderen nur als bedeutsamer Umstand einer er-
33
lebten Welt zugnglich. Dabei fllt sogleich auf, dass der Terminus „Mitwelt“
34
selbst schon geschichtlich konnotiert ist, indem er gewçhnlich als ein Bereich
35
36 1 Martin Heidegger: Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem (KNS
37 1919). In: Ders.: Zur Bestimmung der Philosophie. Frankfurt a.M. 21999. 51.
2 Vgl. dazu auch Christian Ferencz-Flatz: Der Begriff der „Bekundung“ bei Husserl und
38
Heidegger. In: Husserl Studies 26 (2010). 189 – 203.
39 3 Martin Heidegger: Grundprobleme der Phnomenologie (WS 1919/20). Frankfurt a.M.
2
40 2010. 50. Anm. 7. (im Folgenden zitiert als GA 58).
1 lich in Sein und Zeit nicht durchgefhrt, aber Heidegger bezeichnet, im vorletz-
2 ten Kapitel des Werkes, dennoch den genauen Schnittpunkt von Intersubjektivi-
3 tt und Geschichte, den solche berlegungen nahelegen, und zwar im prgnan-
4 ten Begriff Mitgeschehen.
5 Der Ausdruck Mitgeschehen kommt in Sein und Zeit ein einziges Mal in fol-
6 gendem Satz vor: „Wenn aber das […] Dasein als In-der-Welt-sein wesenhaft im
7 Mitsein mit Anderen existiert, ist sein Geschehen ein Mitgeschehen“6. Die Stel-
8 le, an der er angefhrt wird, erregt allerdings zunchst Bedenken, denn zum ei-
9 nen wird hier die als „Schicksal“ bestimmte Geschichtlichkeit mit dem kollekti-
10 ven „Geschick“ des „Volkes“ in Verbindung gebracht, was schon des fteren
11 Anlass zur Kritik gab. Zum anderen scheint die als „Geschehen“ interpretierte
12 Geschichtlichkeit nur einen ziemlich blassen Sinn von Geschichte zu behalten,
13 was schon frh von Adorno, Misch, Lçwith oder auch Benjamin beklagt wurde.
14 Beide Einwnde wrden gewiss eine Diskussion lohnen. Indessen wollen wir
15 hier lediglich einen einzigen Begriff besprechen, der in diesem Zusammenhang
16 erwhnt wird und einerseits solchen Einwnden weniger ausgesetzt zu sein
17 scheint, andererseits aber den im Begriff „Mitgeschehen“ ausgedrckten Zusam-
18 menhang von Intersubjektivitt und Geschichte vortrefflich exemplifiziert. Es
19 ist dies der Begriff der „Generation“, den Heidegger gleich im Anschluss an jene
20 Stelle verwendet: „Das schicksalhafte Geschick des Daseins in und mit seiner
21 ,Generation‘ macht das volle, eigentliche Geschehen des Daseins aus.“7
22
23
24
II. Dilthey und Heidegger
25
26
In einer Anmerkung zu dieser Stelle weist Heidegger auf Dilthey als Quelle sei-
27
ner Auffassung des Generationsbegriffs hin. Dazu bemerkt Karl Mannheim in
28
einem kurz nach Sein und Zeit erschienenen Aufsatz,8 Heidegger unternehme
29
hier eine radikale Vertiefung des diltheyschen Ansatzes. In seinem Buch Martin
30
Heidegger and the Problem of Historical Meaning9 (1987) behauptet J.A. Ba-
31
rash, Heideggers Ausfhrungen zum Generationsproblem seien nicht nur eine
32
getreue Wiedergabe der diltheyschen Konzeption, sondern vielmehr ein Ver-
33
such, dessen Bedingungen der Mçglichkeit zu ergrnden. In diesem Zusammen-
34
hang wird der Terminus Generation auch als ein Grundbegriff der Geschichts-
35
36 6 SuZ, 384.
37 7 Ebd. 384 f.
8 Karl Mannheim: Das Problem der Generationen. In: Kçlner Vierteljahrshefte fr Sozio-
38
logie 7 (1928). 164.
39 9 Jeffrey Andrew Barash: Martin Heidegger and the Problem of Historical Meaning. New
1 auffassung von Sein und Zeit angesprochen.10 Nhere Erluterungen sind hinge-
2 gen bei keinem der beiden Autoren zu finden, so dass leicht der Anschein entste-
3 hen kçnnte, Heidegger stelle in seinem Werk eine komplexe und ausfhrliche
4 geschichtsphilosophische Theorie der Generationen auf. In der Tat wird der Be-
5 griff, abgesehen von der vorhin zitierten Stelle, nur noch ein einziges Mal beilu-
6 fig erwhnt: „Seine eigene Vergangenheit – und das besagt immer die seiner ,Ge-
7 neration‘ – folgt dem Dasein nicht nach, sondern geht ihm je schon vorweg.“11
8 Wie auch immer man diese beiden Stellen lesen mçchte, klar ist in jedem Fall,
9 dass sich aus ihnen Heideggers Auffassung der Generation nicht ohne Weiteres
10 erhellt, sondern einer eingehenden Analyse derjenigen begrifflichen Zusammen-
11 hnge bedarf, in denen der Terminus steht oder wenigstens stehen msste. Dies
12 soll im Folgenden unternommen werden.
13 Zu diesem Zweck ist es zunchst hilfreich, Heideggers Verhltnis zu Diltheys
14 Konzeption des Begriffs der Generation genauer zu bedenken. In Diltheys Ab-
15 handlung ber das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen,
16 der Gesellschaft und dem Staat (1875), auf die sich Heidegger bezieht, bezeich-
17 net der Terminus zunchst, im Gegensatz zur rein chronologisch gemessenen
18 Zeit, eine innere Maßeinheit des geschichtlichen Zeitverlaufs. So zhlt die Geis-
19 tesgeschichte Europas, von Thales bis zum Jahr 1875, 84 Generationen. Indessen
20 gebraucht Dilthey den Terminus auch in einem weiteren Sinn, den er wie folgt
21 bestimmt: „Generation ist alsdann eine Bezeichnung fr ein Verhltnis der
22 Gleichzeitigkeit der Individuen; diejenigen, welche gewissermaßen nebeneinan-
23 der emporwuchsen, d. h. ein gemeinsames Kindesalter hatten, ein gemeinsames
24 Jnglingsalter, deren Zeitraum mnnlicher Kraft teilweise zusammenfiel, be-
25 zeichnen wir als dieselbe Generation.“12 Zu einer Generation gehçrt also zum
26 einen die Gemeinsamkeit gewisser Eindrcke, Erfahrungen und Einwirkungen,
27
zu welchen Dilthey sowohl das allgemeine geistige Niveau der Zeit als auch die
28
Gesamtheit der bestehenden und neu hinzutretenden gesellschaftlichen, politi-
29
schen, çkonomischen oder kulturellen Lebensumstnde rechnet. Zum anderen
30
mssen solche Eindrcke zugleich in die Jahre der grçßten Empfnglichkeit fal-
31
len, wobei Dilthey sich vornehmlich auf das Jugendalter bezieht, aber auch die
32
Bedeutung gemeinsamer Kindheitseindrcke erwhnt.
33
Ausgehend von diesen Ausfhrungen, kann offensichtlich ein entscheidender
34
Unterschied zwischen Heideggers und Diltheys Generationsbegriff festgestellt
35
36 Barash: Martin Heidegger. XXIV.
10
37 SuZ, 20.
11
12 Wilhelm Dilthey: ber das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen,
38
der Gesellschaft und dem Staat (1875). In: Ders.: Die geistige Welt. Einleitung in die Philoso-
39 phie des Lebens. Erste Hlfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften.
40 Gçttingen 81990. 37.
Zum Phnomen der „Generation“ 99
1 werden. Fr Dilthey ist dieser Terminus vornehmlich ein methodologisches In-
2 strument zum Studium der Geschichte, dessen besondere Aufschlusskraft im Be-
3 reich der biografischen Forschung liegt. So wird er auch ausdrcklich in einer
4 Vorarbeit zur vorhin erwhnten Abhandlung von 1875 eingefhrt: „Ein Indivi-
5 duum kann nur studiert werden, indem aufgrund der gemeinsamen Bedingun-
6 gen dieselben Individuen, welche in bestimmten Jahren dieselben fruchtbaren
7 Eindrcke empfangen haben, ins Auge gefasst werden.“13 Heidegger hingegen
8 betrachtet die Generation nicht als heuristisches Prinzip fr eine wissenschaftli-
9 che Geschichtsforschung in der Dritten Person, sondern vielmehr als Korrelat
10 einer jemeinigen Struktur des Daseins (welches „in und mit seiner Generation“
11 geschichtlich existiert), d. h. als Existenzial.
12 In der Sprache des jngeren Heidegger wird hier also einem objektgeschichtli-
13
chen Terminus eine vollzugsgeschichtliche Wendung gegeben. Die Grundlage die-
14
ser Unterscheidung liegt zunchst in Heideggers Bestimmung dreier Kategori-
15
en: Objekt, Gegenstand und Phnomen. Ein Gegenstand ist rein formal alles,
16
was nur berhaupt vermeint wird. Ein Objekt ist indessen ein Gegenstand, so
17
wie er aus Sicht einer rein theoretischen Betrachtung erfasst wird. Beide Begriffe
18
bezeichnen somit einen erfahrenen Gehalt, doch indem Heidegger weiter bei je-
19
der Erfahrung zwischen ihrem Gehalt, ihrem Bezugssinn und dessen Vollzugs-
20
weise unterscheidet, bezeichnet das Phnomen gerade die Einheit dieser drei Mo-
21
mente. Aus dieser Sicht ist nun eine objektgeschichtliche Betrachtung der
22
Geschichte grundstzlich im Bezugs- und Vollzugsmodus der theoretischen Ob-
23
24
jekterfassung verankert,14 whrend eine vollzugsgeschichtliche oder phnomeno-
25
logische Betrachtung der Geschichte diese als volles Phnomen, d. h. als Struktur-
26 ganzheit eines existenziellen Vollzugs erfasst. Die Grundtendenz dieser
27 Unterscheidung ist offensichtlich noch in Sein und Zeit bestimmend, indem Hei-
28 degger hier der theoretisch gerichteten Historie vorhlt, sie verstehe das Ge-
29 schichtliche nur als Objekt,15 weshalb er ihr eine Auslegung der Geschichte als
30 Bewegtheit der eigenen Existenz (d. h. als „Geschehen“) entgegensetzt.16 In die-
31 sem Sinn wird nun auch der bei Dilthey „objektgeschichtlich“ verstandene Ge-
32 nerationsbegriff in Sein und Zeit „vollzugsgeschichtlich“ gedeutet. Dies belegt
33 schon eine Stelle in der Aristoteles-Vorlesung von 1921, welche die Generation
34
13 Wilhelm Dilthey: Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Ge-
35
schichte. Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften (1865 – 1880). Tbingen
36 2
2000. 48.
14 Vgl. Martin Heidegger. Einleitung in die Phnomenologie der Religion (WS 1920/21). In:
37
38 Ders.: Phnomenologie des religiçsen Lebens. Frankfurt a.M. 22011. 64. (im Folgenden zitiert
als GA 60); vgl. auch ebd. 51.
39 15 SuZ, 375.
40 16 Ebd. 375.
100 Christian Ferencz-Flatz
40 19 Ebd.
Zum Phnomen der „Generation“ 101
1 Zeit: „Die Stimmung ist nicht ein Seiendes, das in der Seele als Erlebnis vor-
2 kommt, sondern das Wie unseres Miteinander-Daseins.“24
3 Wenn wir aber zugleich bedenken, dass Stimmung und Geschichtlichkeit bei
4 Heidegger in der Tat aufeinander bezogen sind, indem die Geworfenheit (als ei-
5 gentlicher „Gegenstand“ der stimmungsmßigen Erschlossenheit) nicht nur das
6 faktische Befinden des Individuums, sondern zugleich seine geschichtlich ge-
7 prgte, weltliche Situation betrifft,25 so kann mittels einer geschichtlich vertief-
8 ten Auffassung der Mitbefindlichkeit auch das Phnomen der Generation als Fi-
9 gur des Mitgeschehens legitim im Sinne der existenzialen Analytik besprochen
10 werden. Heidegger selbst tut dies allerdings nicht. Doch wenn das Miteinander-
11 sein berhaupt primr als Mitbefindlichkeit erschlossen ist und wenn jenes „in
12 und mit seiner Generation“ des Daseins, wie es in Sein und Zeit heißt, tatsch-
13 lich ein geschichtlich bestimmter Modus des Mitseins ist, dann ist damit auch
14 der kategoriale Rahmen vorgezeichnet, um das Generationsphnomen als ein Be-
15 findlichkeitsphnomen, genauer: als eine geschichtlich bedingte Stimmungsge-
16 meinschaft zu verstehen. Einer bestimmten Generation zuzugehçren, wrde aus
17 dieser Sicht soviel bedeuten wie: gewisse geschichtlich bestimmte soziale Ge-
18 fhlskonfigurationen zu teilen, whrend die Generationsunterschiede entspre-
19 chend als Produkte einer geschichtlichen Differenzierung der Mitbefindlichkeit,
20 d. h. als geschichtlich bestimmte Abgrenzungen im kollektiven Gefhlsleben
21 (etwa als soziale „Atmosphren“, in denen wir nicht mehr aufgehen) zu denken
22 wren. Dieser Gedanke kann zunchst etwas fingiert klingen, doch er wird plau-
23 sibler, sobald wir ihn mit einer hnlichen Auffassung von Hermann Schmitz
24 konfrontieren, nmlich seinem Begriff der „kollektiv dominanten leiblichen Dis-
25 positionen“. Letztlich besteht, hnlich wie fr Schmitz, so auch fr Heidegger –
26 wie aus seiner Vorlesung vom SS 1934 erhellt –, ein enger Zusammenhang zwi-
27 schen Stimmung und Leib.26 Hermann Schmitz versucht bekanntlich, den Stil-
28 wandel in den Bildenden Knsten, jedoch auch andere Formen geschichtlicher
29 Umbrche, auf Grund eines Umschlags in der herrschenden kollektiven leibli-
30 chen Disposition zu erklren, indem er die Letzteren auch mit den jeweiligen
31 gefhlsmßigen „Atmosphren“ der Epoche in Zusammenhang bringt. Dabei
32 betont Schmitz ausdrcklich, dass die geschichtlichen „Umstimmungen der leib-
33 lichen Disposition“ nicht alle Zeitgenossen ohne Unterschied betreffen, und ver-
34
35
36 24 Martin Heidegger: Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (WS
1 weist in dieser Hinsicht zustimmend auf Wilhelm Pinders, von Dilthey inspirier-
2 tem, Begriff der Generationen.27
3 b) Als zweites Moment der „Erschlossenheit“ bespricht Heidegger das Verste-
4 hen. Der Terminus wird vornehmlich auf das Phnomen des Seinkçnnens bezo-
5 gen, das Heidegger als „existenziale Mçglichkeit“ auffasst und – hnlich wie
6 Husserl die „praktischen Mçglichkeiten“ des „Ich kann“ – von den leeren logi-
7 schen Mçglichkeiten des „es ist mçglich“ absetzt. Alles Verstehen wird aus die-
8 ser Sicht grundstzlich als „Entwurf existenzialer Mçglichkeiten“ und somit als
9 Spielform des Seinkçnnens gedeutet, wobei der hier in Frage stehende Mçglich-
10 keitsbegriff freilich nicht nur ein subjektives Vermçgen, sondern zugleich damit
11 auch die entsprechende Auffassung der Welt als Wozu und Womit des Umgangs
12 bezeichnet. Da nun Heidegger das Dasein grundstzlich im Zeichen des Mit-
13 seins interpretiert, so muss auch seine Grundstruktur des Verstehens, d. h. sein
14 Bezug zu den je eigenen Daseinsmçglichkeiten intersubjektiv gedeutet werden.
15 Das Seinkçnnen des Daseins muss grundstzlich als ein Mitseinkçnnen (oder als
16 ein „Auch-sein-kçnnen“), d. h. als ein Kçnnen in Bezug auf Andere verstanden
17 werden, und in diesem Sinn wird dann auch ausdrcklich der Begriff Mitverste-
18
hen geprgt. Wenn Heidegger berhaupt im Bereich der existenzialen Mçglich-
19
keiten zwischen solchen des umweltlichen Besorgens, solchen der Frsorge fr
20
die Anderen und solchen der Bekmmerung fr sich selbst unterscheidet,28 so
21
kann dies auch so ausgedrckt werden, dass jedem Seinkçnnen berhaupt ein
22
frsorgliches Moment innewohnt.
23
Das als Mitseinkçnnen gedeutete Mitverstehen muss nun aber ebenfalls im
24
Sinne von Sein und Zeit geschichtlich gedeutet werden. Dies kommt vornehm-
25
lich in der prinzipiellen Aufeinanderbezogenheit der beiden Momente, Verste-
26
hen und Befindlichkeit, zum Ausdruck, da die Befindlichkeit laut Heidegger ihr
27
entsprechendes Verstehen hat, whrend das Verstehen stets ein befindliches ist.
28
Als Seinkçnnen ist somit das Dasein stets „durch und durch geworfene Mçglich-
29
keit“;29 ein Zusammenhang, der bei der erneuten Betrachtung des Verstehens im
30
zweiten Abschnitt des Werkes eine zentrale Bedeutung erhlt. Denn hier wird,
31
wie bekannt, das „vorlaufende“ Seinkçnnen als zukunftsgerichtete Zeitekstase
32
33
verstanden, die stimmungsmßige Geworfenheit indessen als ursprnglicher Mo-
34
dus der „Gewesenheit“. Wenn wir aber den Zusammenhang der beiden Momen-
35
te in ihrer zeitlich geprgten Auffassung im Licht des Geschichtlichkeitskapitels
36 betrachten, dann kommt damit zweierlei zum Ausdruck: Zum einen bedeutet
37 dies nmlich, dass das Dasein das geschichtlich Gewesene ursprnglich zukunfts-
38 27 Schmitz: Der Leib. 111.
39 28 SuZ, 143.
40 29 Ebd. 144.
104 Christian Ferencz-Flatz
1 zulegen, wobei der Terminus hier den aristotelischen Begriff joimym¸a bersetzt.
2 Heideggers Intention ist dabei zunchst, die beiden berhmten Definitionen des
3 Menschen bei Aristoteles (als „sprechendes“ und als „politisches“ Wesen) zusam-
4 menzudenken, indem er sich dem zweiten Kapitel des ersten Buches der aristote-
5 lischen Politik zuwendet, in der die Bestimmung der „politischen“ Gemein-
6 schaft auf Grund der Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, genauer:
7 zwischen dem menschlichen kºcor und der tierischen vym¶ erfolgt. So gelangt
8 Heidegger letztlich dazu, die menschliche Gemeinschaft berhaupt (d. h. das
9 Miteinandersein) als eine im Sprechen (kºcor) fundierte zu betrachten. Derselbe
10 Gedanke wird auch folgendermaßen ausgedrckt: „Sprechen ist nicht primr
11 und zunchst ein Vorgang, zu dem nachher andere Menschen dazukommen, so
12 dass es dann erst ein Sprechen mit anderen wrde, sondern das Sprechen ist in
13 ihm selbst als solches Sichaussprechen, Miteinandersprechen mit anderen Spre-
14 chenden und deshalb das seinsmßige Fundament der joimym¸a.“32 In derselben
15 Vorlesung behauptet Heidegger bezglich des „Man“ – ein Terminus, der hier
16 noch eher neutral als „das eigentliche Wie des […] durchschnittlichen, konkre-
17 ten Miteinanderseins“33 aufgefasst wird: „der eigentliche Trger dieses Man ist
18 die Sprache. Das Man hlt sich auf, hat seine eigentliche Herrschaft in der Spra-
19 che“.34
20 Freilich scheint nun Heidegger in Sein und Zeit den als Rede verstandenen
21 kºcor nicht mehr schlichtweg als Fundament der Intersubjektivitt berhaupt
22 zu betrachten. Und auch schon in der Vorlesung vom SS 1924 sind radikale Aus-
23 sagen solcher Art an etlichen Stellen abgemildert, zum einen dadurch, dass Hei-
24 degger das Sprechendsein und das Miteinandersein letztlich als „gleichursprng-
25 lich“ betrachtet35, zum anderen aber dadurch, dass die Unterscheidung von
26 Mensch und Tier (und damit auch jene von kºcor und vym¶) grundstzlich als
27 nicht-exklusiv behandelt wird. In der Tat bemerkt Heidegger, die Wesensbestim-
28 mungen des Tieres seien laut Aristoteles gegenber jenen des Menschen nicht
29 rein ußerlich, sondern vielmehr in diese mit einbeschlossen „wie alle Mçglich-
30 keiten, die das Tier hat“.36 Diese Bemerkung ist aber bezglich des Verhltnisses
31 von kºcor und vym¶ insofern von Bedeutung, als Heidegger tatschlich die ge-
32 samte Erçrterung der beiden Momente der vym¶ (nmlich der Anzeige des Zu-
33 trglichen und Nachtrglichen und deren Kundgabe an andere) in einer Termino-
34 logie durchfhrt, die er spter mit Beziehung auf den Menschen in der
35 existenzialen Analytik gebrauchen wird. So liegt die Funktion der vym¶ zu-
36
37 32 GA 18, 50.
38
33 Ebd. 64.
34 Ebd.
39 35 Ebd. 62 f.
40 36 Ebd. 53.
106 Christian Ferencz-Flatz
1 nchst darin, das Leben zu „erheben“ oder zu „verstimmen“, whrend sie ande-
2 rerseits als Lock- oder Warnsignal eben die „Befindlichkeit“ (di²hesir bei Aristo-
3 teles) des Signalisierenden „bekundet“. Wenn aber die „phonetischen“ Mçglich-
4 keiten des Tieres tatschlich in den „sprachlichen“ Mçglichkeiten des Menschen
5 mitbefasst sind, dann msste die Sprache selbst als kºcor zunchst in jener vor-
6 nehmlich emotionalen Kommunikationsform der vym¶ ihren Untergrund ha-
7 ben, whrend die beiden Momente des kºcor (Aufzeigen und Mitteilung) ihrer-
8 seits die entsprechenden Momente der vym¶ (Anzeige und Kundgabe) als
9 Unterlage htten. Entsprechend msste aber freilich auch dem „Miteinander-
10 sprechen“ eine Art vorsprachlicher, emotionaler Verstndigung vorangehen –
11 was Heidegger in Sein und Zeit gewissermaßen zu befrworten scheint.
12 Gemß den Ausfhrungen in Sein und Zeit wird der als „Rede“ aufgefasste
13 kºcor durch vier Momente bestimmt, unter denen auch jene zu finden sind, die
14 in der Aristoteles-Vorlesung vom SS 1924 der vym¶ zugeschrieben wurden: 1)
15 das Worber der Rede, bezglich dessen man freilich auch zwischen dem tatsch-
16 lich besprochenen Thema und den damit verbundenen impliziten Themata un-
17 terscheiden msste; 2) das Geredete als solches, zu dem laut Heidegger das Ge-
18 sagte selbst, darber hinaus aber gewiss auch das nur als Andeutung oder
19 Anspielung Geußerte sowie ebenso die in der zwischenleiblichen Verstndi-
20 gung mitwirkenden Modi der Gestik und Mimik gehçren; 3) die durch das Mo-
21 ment des „Geredeten“ ermçglichte Mitteilung, zu der ebenfalls nicht nur der
22 rein sprachliche Austausch zu rechnen ist, da der Begriff in einem existenzial
23 weiten Sinne gefasst sein soll; 4.) die Bekundung der Befindlichkeit des Reden-
24 den, die durch das Wie des Geredeten, durch Tonfall, Modulation, Tempo und
25 „Art des Sprechens“ vermittelt ist.
26 Bei der heideggerschen Erluterung dieser vier Punkte ist zunchst auffal-
27 lend, dass die intersubjektive Seite der Rede nur in der Behandlung der Mittei-
28 lung zum Ausdruck kommt, wodurch leicht der Eindruck entsteht, das Mitein-
29 andersprechen sei nun nicht mehr eigentlich ein konstitutives Charakteristikum
30 der Sprache berhaupt wie in der Aristoteles-Vorlesung vom SS 1924, in der es
31 hieß: „Sprechen ist […] in ihm selbst […] Miteinandersprechen“.37 Indessen sind
32 aber auch die anderen drei Momente der Rede intersubjektiv geprgt: Das Wor-
33 ber ist, wie Heidegger dies bezglich des Verhltnisses von Rede und Gegenre-
34 de darstellt, stets ein schon Geteiltes, die Befindlichkeit wird berhaupt als Mit-
35 befindlichkeit bestimmt, und das Geredete ist stets ein Miteinander-Geredetes,
36 das von einer gemeinsamen Sprache und von gemeinsamen Sprechgewohnheiten
37 getragen wird. Dies fhrt aber zu einer gewissen Spannung in der Thematisie-
38 rung der Mitteilung und insbesondere ihres Verhltnisses zu Mitbefindlichkeit
39
40 37 Ebd. 50.
Zum Phnomen der „Generation“ 107
1 und Mitverstehen, denn zum einen heißt es von der Mitteilung: „In dieser kon-
2 stituiert sich die Artikulation des verstehenden Miteinanderseins. Sie vollzieht
3 die ,Teilung‘ der Mitbefindlichkeit und des Verstndnisses des Mitseins.“38 Zum
4 anderen aber relativiert Heidegger diese Behauptung, indem er hinzufgt: „Mit-
5 dasein ist wesenhaft schon offenbar in der Mitbefindlichkeit und im Mitverste-
6 hen. Das Mitsein wird in der Rede ,ausdrcklich‘ geteilt“.39
7 Gemß der ersteren Bestimmung wird die Mitteilung zunchst parallel zur
8 Definition der Rede berhaupt verstanden. Von der Rede heißt es nmlich eben-
9 so: „Rede ist die Artikulation der Verstndigkeit“,40 oder auch: „Reden ist das
10 ,bedeutende‘ Gliedern der Verstndlichkeit des In-der-Welt-seins“,41 wobei das
11 damit Gegliederte ausdrcklich als „Bedeutungsganzes“ bezeichnet wird. Was
12 damit eigentlich gemeint wird, ist wohl am leichtesten im Ausgang von einer
13 kurzen Anmerkung am Ende von § 34 (Da-sein und Rede. Die Sprache) zu ent-
14 nehmen, in der ausdrcklich auf die „radikale Fassung“ der Bedeutung in Hus-
15 serls Ideen I hingewiesen wird.42 Entscheidend ist hier vor allem folgende Stelle
16 zu den Termini „Bedeuten“ und „Bedeutung“: „Ursprnglich haben diese Wor-
17 te nur Beziehung auf die sprachliche Sphre, auf die des ,Ausdrckens‘. Es ist
18 aber nahezu unvermeidlich und zugleich ein wichtiger Erkenntnisschritt, die Be-
19 deutung dieser Worte zu erweitern und passend zu modifizieren, wodurch sie in
20 gewisser Art auf die ganze noetisch-noematische Sphre Anwendung findet:
21 also auf alle Akte, mçgen diese nun mit ausdrckenden Akten verflochten sein
22 oder nicht.“43 Fr Husserl wird dies besonders im Falle der „gegliederten“ oder
23 „polythetischen“ Synthesen relevant, da sich erweist, dass Sinngliederungen die-
24 ser Art nicht erst mit der Schicht des Ausdrucks, sondern schon vorausdrcklich
25 in der rein erfahrungsmßigen Unterschicht einsetzen. Indessen spricht Husserl
26 nicht nur von einer beziehenden Gliederung der Wahrnehmung, sondern eben-
27 falls von einem beziehenden Gefallen und einem beziehenden Wollen „um eines
28 anderen Willen“.44 Diesen Gedanken einer vorsprachlichen Gliederung greift
29 auch Heidegger zunchst in seiner Analyse der Zeugwelt auf. Laut Heidegger ist
30 das Zeug nmlich als solches wesentlich durch seine Verweisungsbezge der
31 Dienlichkeit (Wozu) und Verwendbarkeit (Wobei) konstituiert, whrend der „Be-
32 zugscharakter“ dieser Bezge – die letztlich das Seinkçnnen des Daseins (das
33
34 38 SuZ, 162.
35
39 Ebd.
40 Ebd. 161.
36 41 Ebd.
42 Ebd. 166. Anm. 1.
37
43 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phnomenologie und phnomenologischen Phi-
38
losophie. Erstes Buch: Allgemeine Einfhrung in die reine Phnomenologie. 1. Halbband.
39 Den Haag 1977. 285. (im Folgenden zitiert als Hua III/1).
40 44 Hua III/1, 274.
108 Christian Ferencz-Flatz
1 Heidegger als „Worumwillen“ und somit als „primres Wozu“ bezeichnet) mit
2 der instrumentellen Verfassung der Zeugwelt verschrnken – als „bedeuten“ ge-
3 fasst wird: „Das Worumwillen bedeutet ein Um-zu, dieses ein Dazu, dieses ein
4 Wobei des Bewendenlassens, dieses ein Womit der Bewandtnis.“45 Die Gesamt-
5 heit dieser Bezge wird als Bedeutsamkeit bezeichnet, die laut Heidegger die
6 Grundstruktur der Weltlichkeit berhaupt darstellt und zugleich damit auch das
7 ontologische Fundament des Sprachlichen schlechthin bietet: „Die Bedeutsam-
8 keit aber […] birgt in sich die ontologische Bedingung der Mçglichkeit dafr,
9 dass das verstehende Dasein als auslegendes so etwas wie ,Bedeutungen‘ erschlie-
10 ßen kann, die ihrerseits wieder das mçgliche Sein von Wort und Sprache fundie-
11 ren.“46 Genau diese vorsprachliche (und Sprache berhaupt ermçglichende) Glie-
12 derung wird nun aber in den Ausfhrungen zum Existenzial der Rede wieder
13 aufgenommen, doch tritt jetzt die Rede an die frhere Stelle der Bedeutsamkeit:
14 „Die Rede ist die bedeutungsmßige Gliederung der befindlichen Verstndlich-
15 keit des In-der-Welt-seins.“47 Sowohl die Rede als auch die Bedeutsamkeit – auf
16 deren offensichtlichen Zusammenhang Heidegger berraschenderweise gar
17 nicht eingeht – werden durchgehend in einer uneinheitlichen Ausdrucksweise
18 bald als sinngebende Leistung des Daseins48, bald als ein vorfindliches Netzwerk
19 von Sinnverweisungen dargestellt, whrend diese Zweideutigkeit von Heideg-
20 ger als „apriorisches Perfekt“ auf den Begriff gebracht wird.49
21 Gleichwohl besteht aber zwischen der Bedeutsamkeit und der Rede ein ent-
22 scheidender Unterschied. Denn wenn zunchst der bergang von der Stufe der
23 Bedeutsamkeit zu jener der sprachlichen Bedeutung nur dank der Auslegung er-
24 folgt,50 so soll die Bestimmung der Rede vielmehr auf einer ursprnglicheren Stu-
25 fe angesetzt werden: „Verstndlichkeit ist auch schon vor der zueignenden Aus-
26 legung immer schon gegliedert. Rede ist die Artikulation der Verstndlichkeit.
27
Sie liegt daher der Auslegung und Aussage schon zugrunde.“51 Die Auslegung
28
bestimmt Heidegger generell als „Ausbildung des Verstehens“, d. h. als ausdrck-
29
liche Zueignung einer vorhergehenden, unabgehobenen Verstndlichkeit, wobei
30
dieser Prozess (nicht unhnlich der husserlschen „Explikation“) schon auf der
31
vorprdikativen Stufe der Alltglichkeit einsetzt: „Alles Zubereiten, Zurechtle-
32
33 45 SuZ, 87.
34 46 Ebd.
47 Ebd. 162.
35 48 So spricht Heidegger des fteren vom „Reden“ als einem aktiven „Gliedern“ oder gleich-
36 falls vom aktiven „Bedeuten“ der Bedeutsamkeit, vgl. SuZ, 87: „In der Vertrautheit mit diesen
37 Bezgen ,bedeutet‘ das Dasein ihm selbst, es gibt sich ursprnglich sein Sein und Seinkçnnen
38 zu verstehen hinsichtlich seines In-der-Welt-seins.“
49 Vgl. SuZ, 84 f.
39 50 Vgl. ebd. 87.
40 51 Ebd. 161.
Zum Phnomen der „Generation“ 109
1 gen, Instandsetzen, Verbessern, Ergnzen vollzieht sich in der Weise, dass um-
2 sichtig Zuhandenes in seinem Um-zu auseinandergelegt und gemß der sichtig
3 gewordenen Auseinandergelegtheit besorgt wird.“52 In der Auslegung wird das
4 Verstandene ausdrcklich als jenes, das es schon implicite fr uns ist, verstanden,
5 und gerade in jenem „Als“ liegt auch ihre spezifische „Ausdrcklichkeit“. Hei-
6 degger unterscheidet hier, wie bekannt, zwischen der existenzial-hermeneuti-
7 schen „Als“-Struktur der vorprdikativen Auslegung und dem apophantischen
8 „Als“ der theoretischen Aussage.
9 Nun soll aber die Rede, wie gesehen, schon auf der Stufe jener unabgehobe-
10 nen Verstndlichkeit des umsichtigen Weltlebens angelegt werden, die der Ausle-
11
gung vorausgeht. Dabei fllt jedoch sogleich auf, dass die Bestimmung des ein-
12
zig betont intersubjektiven Moments der Rede (der Mitteilung) in Begriffen
13
erfolgt, die diese schlichtweg als einen Modus der Auslegung erscheinen lassen.
14
Die Leistung der Mitteilung besteht nmlich laut Heidegger gerade darin, ein
15
schon vorhergehend erschlossenes Miteinandersein „ausdrcklich“ zu „teilen“
16
und „zuzueignen“. Da er aber an einer anderen Stelle des Werkes jenes implizite,
17
der Mitteilung vorhergehende Miteinandersein in die Bezugszusammenhnge
18
der Bedeutsamkeit einbezieht, indem er das Mitsein als „Umwillen Anderer“ im
19
20
Schema der Wozu-Wobei-Verweisungen aufnimmt,53 msste dem auch eine spe-
21
zifisch intersubjektive, unabgehobene Bezugsganzheit der „Bedeutsamkeit“
22 oder der „Rede“ entsprechen, die vor jeder ausdrcklichen Zueignung die geglie-
23 derte Struktur des Miteinanderseins als Artikulation der Verstndigkeit des Mit-
24 seins bestimmt. Diese msste, gemß den Existenzialien der Mitbefindlichkeit
25 und des Mitverstehens, allgemein als Mitrede bezeichnet werden. Hingegen leis-
26 tet die Mitteilung als Moment der Rede lediglich die intersubjektive Auslegung
27 jenes durch Mitbefindlichkeit, Mitverstehen und Mitrede bestimmten Miteinan-
28 derseins.54 Damit wre auch der Missstand beseitigt, dass die Rede zum einen
29 mit der Befindlichkeit und dem Verstehen als gleichursprnglich aufgefasst
30 wird, zum anderen gerade ihr einziges intersubjektiv geprgtes Moment nur als
31 eine Explizierung der intersubjektiven Momente der Mitbefindlichkeit und des
32 Mitverstehens gilt.
33
34 52 Ebd. 148 f.
35
53 Vgl. ebd. 123: „Im Mitsein als dem existenzialen Umwillen Anderer sind diese in ihrem
Dasein schon erschlossen. Diese mit dem Mitsein vorgngig konstituierte Erschlossenheit der
36 Anderen macht demnach auch die Bedeutsamkeit […] mit aus, als welche sie im existenzialen
37 Worum-willen festgemacht ist.“
54 Die Auslegung der Intersubjektivitt ist somit als Mitteilung eine Leistung der Intersub-
38
jektivitt selbst. Dabei msste freilich im Sinne Heideggers zwischen einer existenzial-herme-
39 neutischen Mitteilung (die sich im Bereich der impliziten „Rcksicht“ und „Nachsicht“ der
40 „Frsorge“ aufhlt) und einer apophantischen Mitteilung unterschieden werden.
110 Christian Ferencz-Flatz
1 Um aber von all dem zur Bestimmung der Geschichtlichkeit zu gelangen, ist
2 es notwendig, auf ein weiteres Phnomen einzugehen, das Heidegger in diesem
3 Zusammenhang bespricht, nmlich auf die Sprache, die hier keineswegs mit der
4 Rede schlechthin zusammenfllt. Wenn die Rede berhaupt als ursprngliches
5 Existenzial der Erschlossenheit des Daseins dessen Struktur des In-der-Welt-
6 seins teilt – und somit wesentlich sowohl ein „noetisches“ Moment des In-Seins
7 als auch ein „noematisches“ Moment der Weltlichkeit umfasst –, so ist die Spra-
8 che laut Heidegger gerade das weltliche Korrelat der Rede, d. h. ihre in der Welt
9 vorfindliche, „herausgesprochene“ Seite. Da laut Heidegger die traditionelle
10 Thematisierung des kºcor nur diese eine Seite der Rede bercksichtigt und sie
11 gewçhnlich sogar auf die Sphre der theoretischen Aussage reduziert, mçchte er
12 im Gegenteil die phnomenale Ganzheit der Rede wiederherstellen, indem er
13 vornehmlich Aspekte wie das Hçren oder das Schweigen ins Auge fasst, die
14 zwar zur existenzial gefassten Rede, aber gerade nicht zum engeren Bereich der
15 Sprache und gewiss nicht zur urteilsmßigen Aussage gehçren. Obwohl die Spra-
16 che tatschlich die Strukturganzheit der Rede nicht erschçpft, so stellt sie den-
17 noch ein notwendiges Bestimmungsmoment von ihr dar: „Die Rede ist existen-
18
zial Sprache, weil das Seiende, dessen Erschlossenheit sie bedeutungsmßig
19
artikuliert, die Seinsart des […] auf die ,Welt‘ angewiesenen In-der-Welt-seins
20
hat.“55 Mit diesem sprachlichen Moment der Rede hngen aber entscheidende
21
geschichtliche Implikationen zusammen: „Die Rede spricht sich zumeist aus
22
und hat sich schon immer ausgesprochen. Sie ist Sprache. Im Ausgesprochenen
23
liegt aber dann je schon Verstndnis und Auslegung. Die Sprache als die Ausge-
24
sprochenheit birgt eine Ausgelegtheit des Daseinsverstndnisses in sich. […] Ihr
25
ist das Dasein zunchst und in gewissen Grenzen stndig berantwortet, sie re-
26
gelt und verteilt Mçglichkeiten des durchschnittlichen Verstehens und der zuge-
27
hçrigen Befindlichkeit. Die Ausgesprochenheit verwahrt im Ganzen ihrer geglie-
28
derten Bedeutungszusammenhnge ein Verstehen der erschlossenen Welt und
29
gleichursprnglich damit ein Verstehen des Mitdaseins Anderer und des je eige-
30
nen In-Seins.“56 Darin bekundet sich nun ein eigentmliches Verhltnis gegensei-
31
tiger Fundierung zwischen den „fundamentalen“ Modi der Erschlossenheit (Be-
32
33
findlichkeit und Verstehen) und der Rede. Denn zum einen behauptet
34
Heidegger, die befindliche Verstndlichkeit des In-der-Welt-seins „spricht sich“
35
als Rede „aus“,57 zum anderen aber sind die Mçglichkeiten der Befindlichkeit
36 und des Verstehens, wie aus dem obigen Zitat erhellt, ihrerseits durch das Mo-
37 ment der Sprache geschichtlich vorbestimmt. Dasselbe Verhltnis besteht aber
38 55 Ebd. 161.
39 56 Ebd. 167 f.
40 57 Ebd. 161.
Zum Phnomen der „Generation“ 111
40 Grenzen ,angeredet‘.“
112 Christian Ferencz-Flatz
1 Vorlufig kçnnen wir sagen: „Care for or about somebody“ bedeutet, jeman-
2 dem gegenber eine positive Einstellung zu haben und auch etwas Gutes fr ihn
3 zu tun. Zwischen meiner berzeugung, etwas Gutes fr ihn zu tun, und seiner
4 eigenen berzeugung kann jedoch eine Kluft entstehen, d. h. es ist nicht sicher,
5 ob auch die andere Person glaubt, dass das, was ich tue, etwas Gutes fr sie ist.
6 Was ich fr gut fr jemanden halte und Entsprechendes tue, kçnnte fr ihn eine
7 unnçtige Sorge bedeuten oder ihm sogar als etwas Schlechtes erscheinen. Ande-
8 rerseits kann es vorkommen, dass ich nicht an ihn denke und nichts fr ihn tue,
9 und das kçnnte fr ihn dennoch als eine achtsame Sorge erscheinen und viel-
10 leicht sogar etwas Positives fr ihn bewirken. Auf Grund dieser Diskrepanzen
11 bei der Interpretation einer Haltung oder Tat kçnnen viele Verstndigungspro-
12 bleme und auch ethische Probleme im Kontext des „Caring“ entstehen, worauf
13 ich hier ebenfalls nicht nher eingehen kann.
14 Weiterhin mssen wir uns fragen, ob „Caring“ eine einseitige Gemtsverfas-
15 sung oder Handlung ist, oder ob es eine wechselseitige Handlung oder ein ge-
16 meinsamer Akt ist, welcher nur in der wechselseitigen Beziehung vollzogen wer-
17 den kann. Ich mçchte mich hier auf die Frage konzentrieren, ob ein so
18 verstandenes „Caring“ mit den Methoden der Phnomenologie, vor allem mit
19 deren Urform bei Husserl, angemessen begriffen werden kann oder nicht.
20
21
22 2. Kann eine Analyse der Intentionalitt den Akt des „Caring“ aufklren?
23
24 Der ursprngliche Gedanke Brentanos, von dem ausgehend Husserl sein Kon-
25 zept der Intentionalitt entwickelte, lsst sich meines Erachtens in folgenden
26 vier Thesen zusammenfassen:
27 Erstens, die Immanenz-These: „Jedes psychische Phnomen ist durch das cha-
28 rakterisiert, was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (auch wohl
29 mentale) Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben“3.
30 Zweitens, die Richtungs-These: Intentionalitt ist dasjenige, „was wir, ob-
31 wohl [in] nicht ganz unzweideutigen Ausdrcken, die Beziehung auf einen In-
32 halt, die Richtung auf ein Objekt […] oder die immanente Gegenstndlichkeit
33 nennen wrden.“4
34
35
36
37
38 3 Franz Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkt. Erster Band. Hamburg
39 1924. 124.
40 4 Ebd. 124 f.
116 Shinji Hamauzu
40 15 Ebd.
118 Shinji Hamauzu
1 les Erlebnis zu sein, und daß auch umgekehrt ein konkretes Erlebnis eine neue
2 noetische Gesamtschicht annehmen kann; wie wenn z. B. sich auf eine konkrete
3 Vorstellung ein unselbstndiges Moment ,Werten‘ aufschichtet, bzw. umgekehrt
4 wieder fortfllt. Wenn in dieser Art ein Wahrnehmen, Phantasieren, Urteilen
5 u. dgl. eine es ganz berdeckende Schicht des Wertens fundiert, so haben wir in
6 dem Fundierungsganzen, […] verschiedene Noemata, bzw. Sinne.“16 Diesem
7 Modell folgend, schichtet sich auf eine Vorstellung ein unselbstndiges Moment
8 von „Werten“ aus der „Gemts- und Willenssphre“ auf. Husserl schreibt hier-
9 zu weiter: „Andererseits verbinden sich mit den neuartigen Momenten auch neu-
10 artige ,Auffassungen‘, es konstituiert sich ein neuer Sinn, der in dem der unterlie-
11 genden Noese fundiert ist, ihn zugleich umschließend. Der neue Sinn bringt eine
12 total neue Sinnesdimension herein, mit ihm konstituieren sich keine neuen Be-
13 stimmungsstcke der bloßen ,Sachen‘, sondern Werte der Sachen, Wertheiten,
14 bzw. konkrete Wertobjektitten: Schçnheit und Hsslichkeit, Gte und Schlech-
15 tigkeit; das Gebrauchsobjekt, das Kunstwerk, die Maschine, das Buch, die Hand-
16 lung, die Tat usw.“17 Obwohl die Wertungen fundiert sind, konstituiert sich in
17 ihnen ein neuer Sinn. Hier wird die Fundierungs-These in Frage gestellt.
18 Nach Emmanuel Lvinas verzichtete Husserl seit den Logischen Untersuchun-
19 gen auf die Fundierungs-These, indem er behauptet, dass sowohl ein nicht-theo-
20 retischer Akt als auch ein theoretischer Akt einen neuen Gegenstand konstitu-
21 iert. Dies fhrt ihn zu dem Gedanken, dass ein Kontakt mit der Welt der Werte
22 nicht deren theoretisches Erkennen enthlt. Lvinas wrdigt gerade dieses
23 Schwanken Husserls: Obwohl seine Phnomenologie damit noch nicht von der
24 Erkenntnistheorie befreit sei, trete sie hiermit aus dem engen Rahmen der Er-
25 kenntnistheorie heraus und suche den Platz des Seins im konkreten Leben. Und
26 Lvinas beendete sein Werk mit folgendem Satz: „Mais, la possibilit mÞme de
27 dpasser cette difficult ou fluctuation dans la pense de Husserl, n’est-elle pas
28 donne avec l’affirmation du caractre intentionnel de la vie pratique et axiologi-
29 que?“18 Diese Frage kçnnen wir unseres Erachtens bejahen.
30
31
32
33 3. Entwicklung der Intentionalitt in den Ideen II
34
35 Was Lvinas mit seiner Deutung schon vorausahnte, wurde von Husserl in den
36 Ideen II weiter entwickelt, von denen Levinas jedoch keine Kenntnis hatte.
37
38
16 Ebd. 220.
17 Ebd. 267.
39 18 Emmanuel Lvinas: La Thorie de l’intuition dans la phnomnologie de Husserl. Paris
40 1930. 223.
Caring und Phnomenologie 119
1 Dort schreibt Husserl z. B.: „Wertende Akte […] kçnnen sich auf vorgegebene
2 Gegenstndlichkeiten beziehen […]. Es sind nicht nur berhaupt fundierte Ge-
3 genstndlichkeiten und in diesem Sinn Gegenstndlichkeiten hçherer Stufe, son-
4 dern eben als spontane Erzeugnisse sich ursprnglich konstituierende und nur
5 als solche zu mçglicher originrer Gegebenheit kommende Gegenstndlichkei-
6 ten.“19 Der Wert als Gegenstand des Wertens erweist sich hier als ursprnglich
7 konstituiert, und er ist ein Gegenstand, der als solcher zu originrer Gegeben-
8 heit kommt.
9 Vom „Werten“ heißt es dort weiter: „Wir hatten frher einander gegenberge-
10 stellt das bloße sehende Bewußthaben des blauen Himmels und den theoreti-
11 schen Vollzug dieses Aktes. Wir vollziehen das Sehen nicht mehr in dieser ausge-
12 zeichneten Weise, wenn wir, den strahlend blauen Himmel sehend, im
13 Entzcken darber leben. Tun wir das, so sind wir nicht in der theoretischen
14 oder erkennenden, sondern in der Gemtseinstellung“.20 Husserl bemerkt hier-
15 zu weiter: „Verstehen wir unter ,Werten‘, ,Werthalten‘ das Gemtsverhalten,
16 und zwar als ein solches, in dem wir leben, so ist es kein theoretischer Akt. […]
17
es (Wert) ist Angeschautes, aber nicht nur sinnlich Angeschautes […], sondern
18
axiologisch Angeschautes.“21 Das Werten ist eine nicht in Vorstellungen fundierte
19
„axiologische Anschauung“. Aus diesem Grund folgert Husserl: „Die ursprng-
20
lichste Wertkonstitution vollzieht sich im Gemt als jene vortheoretische (in ei-
21
nem weiten Wortsinne) genießende Hingabe des fhlenden Ichsubjektes, fr die
22
ich den Ausdruck Wertnehmung schon vor Jahrzehnten in Vorlesungen verwen-
23
det habe. […] Der hnlichkeit sollte die Ausdrucksparallele Wahrnehmen –
24
Wertnehmen Ausdruck geben.“22 Kurz gesagt: Das Wertnehmen vollzieht sich
25
nicht fundiert in dem Wahrnehmen, sondern beide liegen auf dem gleichen Ni-
26
veau der Unmittelbarkeit, so dass die Fundierungs-These hier schon aufgegeben
27
ist.
28
Ich habe bereits die Metapher des „Blicks“ in den Ideen I erwhnt und auch
29
deren Zusammenhang mit der Richtungs-These angedeutet. Obwohl Husserl
30
z. B. hinsichtlich der Wahrnehmung von „Blickrichtungen des reinen Ich auf den
31
32
von ihm vermçge der Sinngebung ,gemeinten‘ Gegenstand“23 spricht, weist er in
33
den Ideen II auf Folgendes hin: „In gewissem allgemeinen Sinn richtet sich
34
zwar berall das Ich auf das Objekt, aber im besonderen Sinn geht mitunter ein
35 19 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phnomenologie und phnomenologischen Phi-
36 losophie. Zweites Buch: Phnomenologische Untersuchungen zur Konstitution. Hrsg. von
37 Marly Biemel. Hua IV. Den Haag 1952. 7 f.
20 Ebd. 8.
38 21 Ebd. 8 f.
39 22 Ebd. 9 f.
1 vom reinen Ich vorschießender Ichstrahl auf das Objekt hin und kommen von
2 diesem gleichsam Gegenstrahlen entgegen.“24 Oder: „Das Ich ist das identische
3 Subjekt der Funktion in allen Akten desselben Bewußtseinsstroms, es ist das
4 Ausstrahlungszentrum, bzw. Einstrahlungszentrum alles Bewußtseinslebens, al-
5 ler Affektionen und Aktionen, […] Tuns und Leidens usw.“25 Hier wird der
6 „Blick“ mit einer Ausstrahlung aus dem Ich verglichen, aber als eine solche Aus-
7 strahlung, die zugleich von der Einstrahlung von den Dingen her affiziert und
8 bedingt ist. Obwohl die Intentionalitt der Richtungs-These zufolge einseitig zu
9 sein scheint, wird hier eine Passivitt als Gegenrichtung angedeutet. Auch hierin
10 liegt meiner Meinung nach ein hilfreicher Hinweis, wie wir „Caring“ als einen
11 Fall von Intentionalitt aufklren kçnnen.
12 Dies wird noch klarer im bergang vom Gesichtssinn zum Tastsinn. Wh-
13
rend Husserl in Bezug auf den Gesichtssinn von einer Art Doppelstrahlung
14
spricht, weist er fr den Tastsinn auf die Doppelempfindung als eine eigentmli-
15
che Doppeltheit und Umwandlung des Sinnes hin. In der auch von Merleau-
16
Ponty zitierten bekannten Stelle der Ideen II beschreibt Husserl Folgendes:
17
„Die linke Hand abtastend habe ich Tasterscheinungen, d. h. ich empfinde nicht
18
nur, sondern ich nehme wahr und habe Erscheinungen von einer weichen, so
19
und so geformten, glatten Hand. Die anzeigenden Bewegungsempfindungen
20
und die reprsentierenden Tastempfindungen, die an dem Ding ,linke Hand‘ zu
21
Merkmalen objektiviert werden, gehçren der rechten Hand zu. Aber die linke
22
Hand betastend finde ich auch in ihr Serien von Tastempfindungen, sie werden
23
in ihr ,lokalisiert‘, sind aber nicht Eigenschaften konstituierend […]. Spreche ich
24
25
vom physischen Ding ,linke Hand‘, so abstrahiere ich von diesen Empfindungen
26
[…]. Nehme ich sie mit dazu, so bereichert sich nicht das physische Ding, son-
27 dern es wird Leib, es empfindet.“26 Diese bekannte Analyse der Doppelempfin-
28 dung vom „Tasten der linken Hand mit der rechten Hand“ hat Merleau-Ponty
29 in seiner Phnomnologie de la Perception inspiriert und ihm den ersten Schritt
30 zu dem Gedanken der „intercorporeit“ ermçglicht.
31 Da sich eine solche Doppelempfindung nur im Tastsinn ereignen kann, be-
32 merkt Husserl im Hinblick auf den Gesichtsinn: „hnliches haben wir nicht
33 beim rein visuell sich konstituierenden Objekt. Man sagt zwar mitunter ,das
34 Auge, ber das Objekt hinblickend, tastet es gleichsam ab‘.“27 Unmittelbar da-
35 nach erlutert er dies jedoch wie folgt: „Aber wir merken sofort den Unter-
36 schied. Das Auge erscheint nicht visuell, und es ist nicht so, daß an dem visuell
37
38
24 Husserl: Ideen II. Hua IV, 98.
25 Ebd. 105.
39 26 Ebd. 144 f.
40 27 Ebd. 147.
Caring und Phnomenologie 121
1 Zur naturalistischen Einstellung bemerkt er: „Wer berall nur Natur sieht,
2 Natur im Sinne und gleichsam mit den Augen der Naturwissenschaft [sieht], ist
3 eben blind fr die Geistessphre, die eigentmliche Domne der Geisteswissen-
4 schaften. Er sieht keine Personen und aus personalen Leistungen Sinn empfan-
5 genden Objekte – also keine ,Kultur‘-Objekte“.33 In der Einstellung auf die Na-
6 tur sehen wir den Anderen nicht als eine Person, sondern als Naturobjekt. Ganz
7 anders verhlt es sich in der Einstellung auf die Person: „in der komprehensiven
8 Erfahrung vom Dasein des Anderen verstehen wir ihn also ohne weiteres als per-
9 sonales Subjekt und dabei auf Objektitten bezogen, auf die auch wir bezogen
10 sind: auf Erde und Himmel, auf Feld und Wald, auf das Zimmer, in dem ,wir‘
11 gemeinsam weilen, auf ein Bild, das wir sehen usw.“34 In der Einstellung auf die
12 Person interpretieren wir den Anderen als eine Person und beziehen uns auf eine
13
gemeinsame Umwelt.
14
Kurz gesagt: Das Verhltnis zwischen Person und Person besteht darin, dass
15
die Personen mit der Absicht, untereinander verstanden zu werden, eine Hand-
16
lung vollziehen und eine Wirkung auf den jeweiligen Anderen ausben, sowie
17
darin, dass der eine auf das Wirken hin wieder eine Reaktion zeigt, die an den
18
Anderen gerichtet ist. Das ist kein Verhltnis der „Kausalitt“, sondern der „Mo-
19
tivation“. So beschreibt Husserl die Fremderfahrung: „Einfhlung ist nicht ein
20
mittelbares Erfahren in dem Sinn, daß der Andere als psychophysisch Abhngi-
21
ges von seinem Leibkçrper erfahren wrde, sondern eine unmittelbare Erfah-
22
rung vom Anderen.“35 Weiter schreibt er: „hnliches gilt von der Erfahrung der
23
Kommunikation mit Anderen, des Wechselverkehrs mit ihnen. Sehen wir einan-
24
25
der in die Augen, so tritt Subjekt mit Subjekt in eine unmittelbare Berhrung.
26
Ich spreche zu ihm, er spricht zu mir, ich befehle ihm, er gehorcht. Das sind
27 unmittelbar erfahrene personale Verhltnisse.“36 Also erfahre ich den Anderen
28 unmittelbar, und zwar motiviert (d. h. mit einer gewissen Passivitt), und indem
29 ich mich in ihn einfhle (d. h. mit einer Aktivitt).
30 Husserl verwendet das von Theodor Lipps entlehnte Wort „Einfhlung“, ob-
31 wohl er es von Anfang an kritisiert hat. Wenn ich diesen Terminus recht verste-
32 he, bedeutet er nichts anderes als das, was Husserl schlicht als „Fremderfah-
33 rung“ bezeichnet. Hierzu ußern sich Gallagher und Zahavi folgendermaßen:
34 „empathy, properly understood, is not a question of feelingly projecting oneself
35 into the other, but rather an ability to experience behaviour as expressive of
36 mind, i. e. an ability to access the life of the mind of others in their expressive
37
38
33 Ebd. 191.
34 Ebd.
39 35 Ebd. 374.
40 36 Ebd.
124 Shinji Hamauzu
1 behaviour and meaningful action.“37 Es ist „eine Art der Erfahrung“ gemeint, in
2 der wir den Anderen als eine Person erfahren und seine Intentionalitt unmittel-
3 bar verstehen. Obwohl die Phnomenologie bisweilen so verstanden wird, als
4 ob sie auf die Perspektive der Ersten Person ein Licht werfen kann, kçnnte die
5 Fremderfahrung auch so verstanden werden, als ob sie auch eine Phnomenolo-
6 gie aus der Perspektive der Zweiten Person ermçglicht. Hierzu noch einmal Gal-
7 lagher/Zahavi: „One of the frequent claims made by defenders and detractors
8 alike is that the distinguishing feature of a phenomenological approach to the
9 mind is its sustained focus on the first-person perspective. As we have also tried
10 to show, however, this is an overly narrow definition.“ Sie behaupten weiter:
11 „Phenomenological analyses of the nitty-gritty details of action, embodiment,
12 intersubjectivity, and so on, provide more than simply a description of first-per-
13 son experience. In numerous investigations of how the subjectivity of others ma-
14 nifests itself in gestures, expressions, and bodily behaviour, phenomenologists
15 have also provided detailed analyses from the second-person perspective“.38 Es
16 kçnnte meines Erachtens fr die Intentionalitt des „Caring“ hilfreich sein, auf
17 diese Weise die „Intentionalitt des Anderen“ aus der Perspektive der Zweiten
18 Person zu betrachten.
19
20
21
22 5. Zwei Arten der Person als Anderer
23
24 Nun komme ich zu meinem letzten Schritt, um den Begriff des „Caring“ mit
25 Hilfe der Intentionalitt zu beschreiben. Das Wort „Person“ benutzt man auch
26 im grammatischen Sinne, wie „Erste Person“ (ich), „Zweite Person“ (du) und
27 „Dritte Person“ (er, es, sie). Auf der Grundlage der oben genannten Differenz
28 der Einstellungen kann man sagen, dass es in der Einstellung auf die Natur nicht
29 um die Person geht, whrend es in der Einstellung auf die Person gerade um
30 diese geht, und zwar auch im grammatischen Sinne. In den Situationen, in denen
31 es sich nicht um die Person handelt, benutzt man normalerweise nur die Form
32 der „Dritten Person“. In derjenigen Einstellung hingegen, in der es um die Per-
33 son geht, treten oft die sprachlichen Formen der „Ersten Person“ und der „Zwei-
34 ten Person“ auf. Wenn wir also das Problem des Zugangs zum Anderen bzw. der
35 Fremderfahrung diskutieren wollen, mssen wir den Unterschied zwischen dem
36 Anderen in der „Dritten Person“ und dem Anderen in der „Zweiten Person“ in
37 Betracht ziehen. Obwohl gelegentlich die Probleme des Verhltnisses von „Ich
38 37 Shaun Gallagher, Dan Zahavi: The phenomenological mind. An introduction to philoso-
39 phy of mind and cognitive science. London 2008. 213.
40 38 Gallagher, Zahavi: The phenomenological mind. 240.
Caring und Phnomenologie 125
1 und Anderem“ und desjenigen von „Ich und Du“ vermengt werden, muss man
2 zwischen beiden unterscheiden. Es sieht nmlich so aus, als fhre die Zweite Per-
3 son eher als die Dritte Person zum Verstndnis dessen, was „Caring“ ist.
4 Nebenbei bemerkt, unterschied Martin Buber zwei verschiedene „Haltun-
5 gen“ zum Menschen mit den „Grundwçrtern“ oder „Wortpaaren“ „Ich–Du“
6 und „Ich–Es“. Dem ersten Anschein nach meint man, dass „Ich–Du“ ein Ver-
7 hltnis zu Personen bedeutet, hingegen „Ich–Es“ ein Verhltnis zu einem Ding.
8 Genau besehen differenziert Buber eher zwischen der Zweiten Person und der
9 Dritten Person als zwischen Person und Ding, weil „ohne nderung des Grund-
10 wortes fr Es auch eins der Worte Er und Sie eintreten kann“.39 Er grenzt bei der
11
Diskussion des Anderen also das Problem des „Du“ (Zweite Person) von demje-
12
nigen des „Es“ (Dritte Person) ab.
13
Wenn Husserl in den ersten Analysen der I. Logischen Untersuchung vom
14
„Ausdruck in kommunikativer Funktion“ (§ 7) spricht, sagt er, dass der „Hçren-
15
de“ den „Sprechenden“ als „eine Person, die nicht bloß Laute hervorbringt, son-
16
dern zu ihm spricht“ versteht, also in einer Situation, in welcher der „Sprechen-
17
de“ dem „Hçrenden“ einen Sinn „mitteilen will“. Aber Husserl bezeichnet hier
18
sowohl den „Sprechenden“ als auch den „Hçrenden“ als „er“, also in der Form
19
20
der „Dritten Person“.40 Im Gegensatz dazu erscheint in einer Anmerkung zu
21
den Ideen II und in einer Beilage (abgefasst zwischen 1913 und 1917), in der
22 Husserl das Problem der „Person“ behandelt, der Kontrast zwischen „Ich und
23 Du“.41 Auch in einem Text aus dem ersten der Intersubjektivittsbnde (geschrie-
24 ben 1910/11) erwhnt Husserl „Ich-Du-Akte“.42 Obwohl diese Formulierung
25 uns an Martin Bubers oben genanntes Werk erinnert, kann es Husserl nicht be-
26 einflusst haben, weil bei diesem schon sehr frh von „Ich und Du“ die Rede ist,
27 wie z. B. in der 1914 niedergeschriebenen These: „das Ich konstituiert sich erst
28 im Kontrast zum Du“.43 Die erste Erwhnung des „Du“ findet sich in einem
29 Text des ersten Intersubjektivittsbandes aus dem Jahr 1908: „Dein Bewusstsein
30 ist fr mein Bewusstsein absolutes Aussensein, und mein Bewusstsein fr
31 dich“.44 Auch in anderen Texten der Husserliana findet sich bisweilen der Aus-
32 druck „Du“.45
33
34 39 Martin Buber: Ich und Du. Leipzig 1923. 9.
35
40 Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phnomenolo-
gie und Theorie der Erkenntnis. Hrsg. von Ursula Panzer. Hua XIX/2. Den Haag 1984. 39.
36 41 Husserl: Ideen II. Hua IV, 277, 319.
42 Husserl: Zur Phnomenologie der Intersubjektivitt. Texte aus dem Nachlaß. Erster
37
38 Teil: 1905 – 1920. Hrsg. von Iso Kern. Hua XIII. Den Haag 1973. 88.
43 Husserl: Zur Phnomenologie der Intersubjektivitt. Hua XIII, 247.
39 44 Husserl: Zur Phnomenologie der Intersubjektivitt. Hua XIII, 6.
40 45 Z.B. Hua IV, 289; Hua XXV, 167; Hua VIII, 232; Hua IX, 215; Hua IX, 228 usw.
126 Shinji Hamauzu
37 Zweiter Teil: 1921 – 1928. Hrsg. von Iso Kern. Hua XIV. Den Haag 1973. 180.
49 Edmund Husserl: Zur Phnomenologie der Intersubjektivitt. Texte aus dem Nachlaß.
38
Dritter Teil: 1929 – 1935. Hrsg. von Iso Kern. Hua XV. Den Haag 1973. 134 f.
39 50 Z.B. Husserl: Zur Phnomenologie der Intersubjektivitt. Texte aus dem Nachlaß. Zwei-
1 6. Schluss
2
3 Wir haben festgestellt, dass Husserl die vier Brentano’schen Thesen zur Intentio-
4 nalitt, d.i. Immanenz, Richtung, Korrelation und Fundierung, schon in der Ent-
5 wicklung von den Ideen I zu den Ideen II in Frage stellte und auf einige der
6 Teilthesen verzichtet hat. Die Intentionalitt, die zu Anfang, und zwar wegen
7 der Deutungen Brentanos, fr die Beschreibung des „Caring“ ungeeignet zu
8 sein schien, kçnnte dafr in der hier vorgestellten Umdeutung durch Husserl
9 durchaus eine Mçglichkeit erçffnen. Wenn Intentionalitt sich nmlich nicht
10 nur auf die Gemtsverfassung, sondern auch auf die Handlung bezieht, wenn sie
11 nicht nur einseitig, sondern wechselseitig ist, und wenn sie aus dem Hintergrund
12 und dem Horizont affiziert und motiviert, somit ein wechselseitiger Akt ist und
13 damit keine bloße Beobachtung der Natur bezeichnet, sondern eine Handlung
14 zum Nutzen einer Person enthlt, und wenn sie nicht zuletzt einen Weg zu einer
15 Perspektive der Zweiten Person, des „Du“, erçffnet, dann kçnnen wir sagen,
16 dass es nicht unmçglich ist, den Sinn des „Caring“ mit Hilfe des so verstandenen
17 Begriffs der Intentionalitt aufzuklren. Aber eine konkrete Beschreibung des-
18 sen, was fr ein Akt „Caring“ ist, kçnnen wir in Husserls Texten nur bruchstck-
19 weise finden. Ich sehe deshalb meine knftige Aufgabe darin, den Sinn des Ca-
20 ring mit Hilfe anderer Texte Husserls zur Intersubjektivitt, Lebenswelt und
21 Ethik aufzuklren.
22
23
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39
40
1 Dieter Lohmar
2
3
4 Zur Intentionalitt sozialer Gefhle
5
Beitrge zur Phnomenologie der Scham unter dem Gesichtspunkt des
6
menschlichen und tierischen Denkens und Kommunizierens ohne Sprache
7
8
9
10
11 1. Soziale Gefhle sind komplexe Erkenntnisintentionen in einem
12 nicht-sprachlichen Medium der Vorstellung.
13
14 Soziale Gefhle wie Stolz, Scham, Neid, Bedauern, Reue, Unter- und berlegen-
15 heitsgefhle, Mitleid, aber auch die Fhigkeit, sich fr Andere zu schmen, usw.
16 sind hochgradig komplexe intentionale Leistungen. Meiner Meinung nach sind
17 z. B. Stolz und Scham immer zugleich auf mich selbst, und zwar als Person im
18 sozialen Verband, auf Andere sowie auf unsere Gemeinschaft und deren Nor-
19 men gerichtet. Diese Gefhle tragen komplexe Intentionen auf Erkenntnisse,
20 Wertungen und Handlungsabsichten in sich, die sich in phnomenologischer Re-
21 flexion beschreiben lassen, und sich – obwohl sie selbst nicht sprachlich sind –
22 gut in sprachlichen Darstellungen erlutern lassen.1
23 Im Fall von Scham und Stolz ist der Aspekt der Beziehung auf mich bzw.
24 mein „Selbst“ im Sinn des Gefhls meist klar zu erfassen.2 Auch die Beziehung
25
26
27 1 Es gibt bereits viele Analysen ber soziale Gefhle, von denen ich nur einige nennen
28 mçchte: David Hume: Ein Traktat ber die menschliche Natur. bersetzt und mit Anmerkun-
gen und Register von Theodor Lipps, mit einer Einfhrung neu hrsg. von Reinhard Brandt.
29
Hamburg 1973; Jean Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Hamburg 1980; ders.: Entwurf
30 einer Theorie der Emotionen (1931). In: Ders.: Die Transzendenz des Ego. Hamburg 1964;
31 Max Scheler: Scham und Schamgefhl. In: Ders.: Schriften aus dem Nachlass. Bd. I: Zur Ethik
und Erkenntnislehre. Hrsg. von Maria Scheler. Bern 1957. 67 – 154; ders.: Reue und Wiederge-
32
burt (1917). In: Ders.: Vom Ewigen im Menschen. Gesammelte Werke V. Hrsg. von Maria
33 Scheler. Bern 1954. 27 – 59; Richard Wollheim: Emotionen. Mnchen 1999; Hilde Landweer:
34 Scham und Macht. Phnomenologische Untersuchungen zur Sozialitt eines Gefhls. Tbin-
35 gen 1999; Sonja Rinofner-Kreidl: Scham und Schuld. Zur Phnomenologie selbstbezglicher
Gefhle. In: Phnomenologische Forschungen 2009. 165 – 201; dies.: Neid und Ressentiment.
36 Eine phnomenologische Analyse. Vortrag, gehalten auf den Husserl-Arbeitstagen 2012 in
37 Leuven; und Dan Zahavi: Self, consciousness and shame. In: The Oxford handbook of contem-
38 porary phenomenology. Oxford 2012. 304 – 323.
2 Diese Beziehung sozialer Gefhle wie Stolz und Scham auf ein identisches Selbst fhrte
39 schon David Hume im zweiten Buch seines Treatise mit dem Titel On Emotions dazu, seine
40 Skepsis bezglich eines Eindrucks der Identitt des Selbst, die er noch im ersten Buch vertreten
1 sozialer Gefhle auf einen Anderen und eine Gemeinschaft (oder eine Gruppe
2 Anderer) scheint mir unstrittig zu sein.3 Die Intention auf die Gemeinschaft
3 kann in verschiedenen Formen vorkommen, sie kann real sein, imaginr oder in
4 der Form der Einnahme des Standpunkts der Gemeinschaft sozusagen „im
5 Blick auf mich selbst“ liegen.4 Ich mçchte in meinem Beitrag auf Folgendes auf-
6 merksam machen: (1) Soziale Gefhle enthalten komplexe Erkenntnisintentio-
7 nen in sich, sie stellen diese aber auf eine nicht-sprachliche Weise in unserem
8 Bewusstsein dar. Meiner Ansicht nach sind soziale Gefhle daher auch ein wich-
9 tiges Element des nicht-sprachlichen Denkens.
10 Das nicht-sprachliche Denken funktioniert beim Menschen vor allem auf der
11 Basis von phantasierten Bildern und szenischen Phantasmen. Das sind ,wie wirk-
12
lich gesehene‘, imaginierte Folgen von „Bildern“ und komprimierte, wie visuell
13
gesehene Szenen, die eine Einsicht enthalten. Wenn ich z. B. zu meinem Fahrrad
14
komme und bemerke, dass ein Reifen platt ist, so stelle ich mir die Ursache hier-
15
fr phantasmatisch wie die gesehene Handlung einer bestimmten Person vor,
16
die ich der Tat verdchtige. Diese Szenen sind oft von Gefhlen begleitet, die
17
Grundlage der Bewertung und auch der weiteren Handlung werden kçnnen.
18
(2) Weiterhin mçchte ich zeigen, dass Scham und Stolz, wie viele andere sozia-
19
le Gefhle, direkt oder indirekt auf Akte der Kommunikation zurckgehen, im
20
21
Fall der Scham auf Beschmungsakte, die ebenfalls berwiegend nicht-sprach-
22
lich vor sich gehen.
23 (3) Mein Interesse ist ferner auf die handlungsleitende Funktion dieser sozia-
24 len Gefhle gerichtet. Denn Scham und Stolz stellen die Erkenntnis dar, dass
25 meine Handlung (oder eine Folge von Handlungen, die auf eine feste Haltung
26 bei mir, sozusagen auf meinen Charakter hinweisen) mit den Normen der Ge-
27 meinschaft konform ist oder nicht. Ich schme mich fr eine Handlung vor einer
28
hatte, wieder zurckzunehmen. Dies ist jedoch von den meisten Interpreten nicht beachtet
29
worden.
30 3 Ich beziehe mich hier ganz allgemein auf die Gemeinschaft, aber natrlich sollte man in
31 dieser Hinsicht differenzierter sein. Die Sozialwissenschaft weist auf diesen wichtigen Aspekt
der Scham hin: Ein Subjekt kann sich in ganz verschiedenen Loyalittskreisen bewegen und
32
infolgedessen sich auch fr verschiedene Dinge schmen, je nachdem, welche soziale Rolle es
33 gerade einnimmt. Ein Banker kann sich schmen, wenn sein Chef seinen kmmerlichen Mo-
34 natsumsatz rgt. Er kann sich aber auch dessen schmen, dass er seine Mutter gerade nach dem
35 Erreichen des Rentenalters in ein Altersheim abgeschoben hat. Er kann auf einen Gewinn im
Warenterminhandel stolz sein und sich doch zugleich schmen, dass er dieses Geschft faktisch
36 mit dem Hunger von Hunderttausenden erkauft hat, die unter demselben Geschftsabschluss
37 leiden werden. Die Sozialwissenschaft zeigt uns, dass dieselben Personen in ganz verschiede-
38 nen Loyalittsgruppen leben kçnnen und zwischen ihnen auch wechseln kçnnen.
4 In dieser Hinsicht bin ich mit den Analysen von Dan Zahavi (in diesem Band, S.&-&) und
39 Sonja Rinofner (Rinofner-Kreidl: Scham und Schuld. 165 – 201; dies.: Neid und Ressentiment)
40 ganz einverstanden.
Zur Intentionalitt sozialer Gefhle 131
1 normierenden Gemeinschaft, der ich angehçre, und deren Normen ich teile. Da
2 ich diese Normen fr mich akzeptiere, habe ich sie zuvor „internalisiert“.5 Die
3 Folge ist: Ich bin auch in der Abwesenheit Anderer und der Gemeinschaft in der
4 Lage, mich sozusagen reflexiv selbst zu bewerten, und – wenn ich dies will –
5 meine Handlungen an die Normen der Gemeinschaft anzupassen, indem ich mir
6 selbst (bzw. meinen Handlungen) gegenber den Standpunkt der Gemeinschaft
7 einnehme.
8 Daher stellen diese sozialen Gefhle auch eine „Methode“ dar, um zu wissen,
9 was ich tun soll oder nicht tun darf.6 Wenn ich mir eine Handlungsoption vor-
10 stelle, die von der Gemeinschaft nicht akzeptiert wird, dann meldet sich sofort
11 das Gefhl der Scham und zeigt mir im Vorgriff auf die Realisierung, dass diese
12 Handlung von der Gemeinschaft nicht akzeptiert werden wird. Bei der Vorstel-
13 lung einer gebotenen Handlung ist es der Stolz, der als ein Motiv auftritt, so zu
14 handeln, natrlich immer auch neben anderen Motiven. Soziale Gefhle sorgen
15 zugleich mit dem Wissen um soziale Normen fr deren Anwendbarkeit und
16 Wirksamkeit in unserem motivierten Handeln, und zwar, weil Gefhle Hand-
17
lungen motivieren. Der Modus, in dem ich „weiß“, was die Gruppe von mir als
18
Handelndem fordert, und was ich nicht tun darf, ist das soziale Gefhl.
19
Hierfr weise ich auf eine Analogie mit dem Gebrauch der Sprache hin. Es
20
gibt in jeder Sprache Regeln dafr, wie man welchen Sachverhalt, welche Akti-
21
on, welches Zeitverhltnis usw. ausdrckt, aber die Art und Weise, in der ein
22
Muttersprachler diese Regeln kennt, ist eher die des Gefhls. Ich „weiß“, dass
23
ich ein Wort richtig gebrauche, eher im Modus des Gefhls als im Wissen um
24
eine semantische oder syntaktische Regel. Wenn ein Muttersprachler eine miss-
25
glckte sprachliche Wendung hçrt, dann fhlt er mehr, als er weiß, dass da etwas
26
nicht stimmt. Wir sagen zwar manchmal: „Es hçrt sich falsch an“, aber eigent-
27
lich ist gemeint: „Es fhlt sich falsch an!“ Denn ich weiß auf der Basis meiner
28
bisherigen Erfahrung und der normativen Spracherziehung, dass man dies so
29
nicht ausdrcken darf, dass es anders gesagt werden soll, denn es geht hier um
30
die Befolgung von gemeinschaftlichen Normen.
31
32
Auf die gleiche Weise weiß ich, welche Handlungsweise meine Gemeinschaft
33
in bestimmten Situationen von mir erwartet: Es fhlt sich gut und richtig oder
34
falsch und schlecht an, so zu handeln. Und ich brauche nicht erst die Handlung
35 5 Dies formuliert auch Dan Zahavi mit der Aufnahme der beliebten pdagogischen Figur
36 der Internalisierung (vgl. in diesem Band, S. &). Wie Internalisierung vor sich geht, wre ein
37 interessantes Thema fr die Phnomenologie. Meiner Meinung nach verlangt dies eine Aufkl-
38 rung der Scham induzierenden Kommunikationsakte.
6 Schon Platon erwhnt, dass uns Scham vor unehrenhaftem Handeln bewahrt. Da die
39 Handlungsregulation durch Gefhle nicht-sprachlich ist, kann man vermuten, dass sie z. B.
40 auch bei moralanalogem Handeln von Primaten eine Rolle spielt.
132 Dieter Lohmar
1 wirklich auszufhren, um dies auch aktuell zu wissen, denn es gengt, sich nur
2 vorzustellen, so zu handeln, dann stellt sich bereits Scham ein. Und wenn ich so
3 (denke oder) handle, dann fhlt es sich nicht gut an, und ich kann dieses Gefhl
4 unmittelbar auf meine Handlungen beziehen: Diese Handlung ist „in den Au-
5 gen meiner Gemeinschaft“ falsch. Dies weiß ich im Modus des Gefhls, und
6 zwar auch, ohne dass ich die genaue Norm angeben kann, der die Handlung wi-
7 derstreitet.
8 Soziale Gefhle sind nicht sprachlich, obwohl sie offensichtlich im Kontext
9 komplexer Erkenntnisleistungen stehen und sprachlich erlutert werden kçn-
10 nen. Was bedeutet das? Dies ist einerseits eine Selbstverstndlichkeit, ber die
11 wir uns normalerweise nicht viele Gedanken machen, andererseits liegt hierin
12 eine Herausforderung. Denn folgt man der antiken Seelenlehre, stehen Gefhle
13 und Erkenntnisleistungen in einem Gegensatz: Erkenntnis gehçrt zum rationa-
14 len Teil, Gefhle zum irrationalen Teil der Seele. Aber diese einfache Antwort
15 wird dem Erkenntnisgehalt der sozialen Gefhle nicht gerecht.7
16 Mein besonderes Interesse besteht darin, die Funktion der sozialen Gefhle
17 in den Kontext des Denkens und der Kommunikation ohne Sprache zu stellen.8
18 Die Grundidee dabei ist, dass das menschliche Denken fr uns zwar auf den ers-
19 ten Blick berwiegend sprachlich zu sein scheint, dass aber in unserem Bewusst-
20 sein zugleich immer auch ltere Modi der Vorstellung von Erkenntnissen fungie-
21 ren, die ohne Sprache die gleichen Aufgaben bewltigen. Man muss fr eine
22 Untersuchung dieser nicht-sprachlichen Modi des Denkens die Aufmerksam-
23 keit auf diejenigen Elemente unseres Bewusstseinslebens richten, die sozusagen
24 berbleibsel dieser lteren, nicht-sprachlichen Formen des Denkens sein kçnn-
25 ten. Hiermit erçffnen sich sofort zwei wichtige Fragerichtungen, und zwar im
26 Hinblick auf die Hominiden und die Primaten.
27
28
29
30 2. Der Blick auf die Hominiden und die Primaten
31
32 Einerseits verbinden uns die alten, nicht-sprachlichen Modi des Denkens mit
33 den Vorfahren des heutigen Menschen, den Hominiden, denn unsere Lautspra-
34
7 Eine weitere Einsicht, die sich beim Nachdenken ber die Funktion der Gefhle im Er-
35
fahrungsleben ergibt, besteht darin, dass einige Gefhle, wie z. B. das Gefhl der Sicherheit
36 oder Unsicherheit hinsichtlich des tatschlichen Bestehens eines Sachverhalts, auch Meta-Kog-
37 nitionen beinhalten kçnnen. Sie spiegeln also nicht nur komplexe Erkenntnisse, sondern auch
38 hochstufige Einsichten.
8 Vgl. Dieter Lohmar: Denken ohne Sprache (im Erscheinen); ders.: Thinking and non-
39 language thinking. In: Dan Zahavi (Hg.): Handbook of contemporary phenomenology. Ox-
40 ford 2012. 377 – 398.
Zur Intentionalitt sozialer Gefhle 133
1 che ist – evolutionr gesehen – nicht sehr alt. Man schtzt ihr Alter heute hçchs-
2 tens auf 120 – 150.000 Jahre. Das hierfr aussagekrftige Leitfossil ist das große
3 Zungenbein, das den homo sapiens sapiens von allen anderen Spezies unterschei-
4 det. Es wird als Voraussetzung fr eine ausgefeilte Ausformung von Vokalen
5 und Konsonanten einer Lautsprache angesehen. Von diesem Zungenbein hat
6 man bisher kein Exemplar gefunden, das lter als 120.000 Jahre ist. Die fr den
7 Menschen spezifische Lebensweise in einem Verband genetisch verwandter Per-
8 sonen und weiterer Gefhrten, in der soziale Verpflichtungen bernommen und
9 (in nicht-sprachlicher Kommunikation) Normen aufgestellt werden, ist aber si-
10 cher wesentlich lter. Wahrscheinlich geht sie bis auf die eingreifende Vernde-
11 rung der Lebensweise bei der Entstehung des homo erectus vor etwa 1,8 – 2,0
12 Mio. Jahren zurck.
13 Andererseits verbinden uns die nicht-sprachlichen Denkleistungen auch mit
14 den Tieren, ganz besonders mit den hoch cerebralisierten Sugetieren, vor allem
15 mit den Primaten. Die Lebensweise der Primaten hat einige Elemente, die der
16
menschlichen Lebensweise sehr nahe sind. So gibt es Regeln fr das Verhalten
17
jedes Mitglieds einer Primatengruppe, und zwar solche, welche die Hierarchie
18
betreffen, und solche, die den Nutzen fr die gesamte Gruppe betreffen. Zum
19
Beispiel gibt es die Regel, dass gefundene Nahrung der ganzen Gruppe zu mel-
20
den ist. Zuwiderhandlungen gegen diese Norm werden von der Gruppe sanktio-
21
niert, so dass man hier durchaus von moralanalogen Regeln sprechen darf.9
22
Nun ist es heute noch eher ungewçhnlich, wenn man mit dem Anspruch, Ph-
23
nomenologie zu betreiben, auf Primatenforschung und die Evolution der Homi-
24
niden verweist. Ich stimme den hier anklingenden, skeptischen Bedenken zum
25
Teil zu. Ich meine, dass diese Verbindung nur dann untersucht werden sollte,
26
wenn man die Fruchtbarkeit dieses Blicks auf die Vorgeschichte des Menschen
27
oder andere Spezies fr die Phnomenologie selbst aufweisen kann. Das ist aber
28
29 9 Es gibt neben der Regel, gefundenes Fressen der ganzen Gruppe zu melden, solche Re-
30 geln, die fordern, die Hierarchie einzuhalten, die Hierarchie durch ritualisierte Formen der
31 Kommunikation (Unterwerfungsgesten) regelmßig und çffentlich anzuerkennen, sowie die
Regeln, die durch Teilgruppen aufrechterhalten und durch diese auch sanktioniert werden
32
(etwa die so genannten Mutterregeln, die z. B. besagen, dass Kinder nicht zu eigenen Zwecken
33 instrumentalisiert werden drfen). Vgl. hierzu Frans de Waal: Der gute Affe. Der Ursprung
34 von Recht und Unrecht bei Menschen und anderen Tieren. Mnchen 1997. 114 ff.
35 Affen besitzen zudem eine Art Gefhl fr Gerechtigkeit und Fairness. Dies zeigt ein Expe-
riment von Frans de Waal und Sarah Brosnan: Eine Maschine tauschte Spielsteine gegen zwei
36 verschiedene Arten von Gtern: Trauben, die sehr beliebt waren, und weniger begehrte Gur-
37 kenstcke. Die Maschine konnte dann so manipuliert werden, dass sie gezielt einzelne Mitglie-
38 der der Gruppe bevorzugte und demnach nicht mehr „gerecht“ belohnte. Nach dieser Manipu-
lation wandten sich die meisten Kapuzineraffen von dem bis dahin attraktiven Spielzeug ab.
39 Vgl. Frans de Waal, Sarah Brosnan: Monkeys reject unequal pay. In: Nature 425 (2003). 297 –
40 299.
134 Dieter Lohmar
1 in diesem Fall mçglich. Wir werden nmlich sehen, dass sich einige Besonderhei-
2 ten von Scham und Stolz mit dem Blick auf ihre evolutionre Funktion besser
3 verstehen lassen als mit dem eingeschrnkten Blick auf die Innenperspektive des
4 Erlebens allein. Es geht mir dabei aber keineswegs darum, die phnomenologi-
5 sche Perspektive aufzugeben, sondern darum, sie besser zu machen, indem sie
6 die Hinweise anderer Wissenschaften auf die funktionelle Einfassung von Be-
7 wusstseinserlebnissen aufnimmt und zu integrieren versucht. Wir werden z. B.
8 sehen, dass die Mitteilung und die Kommunikation ber den Inhalt von Regeln
9 fr die Ausprgung sozialer Gefhle wesentlich ist und dass sie etwa in Form
10 einer nicht-sprachlichen Beschmung erfolgen kann.
11 Mit Blick auf die Hominiden kann man festhalten, dass die Genese des Men-
12 schen zeigt, dass Hominiden Spezies sind, die mehrere radikale Vernderungen
13 ihrer Lebensweise erfolgreich vollzogen haben. Dazu gehçrt der Wechsel so-
14 wohl ihres Lebensraumes vom Regenwald in die Savanne bis hin zu den nçrdli-
15 chen Lndern Europas mit einem ausgeprgten Winter als auch ihrer Ernh-
16 rungsgrundlage vom berwiegenden Pflanzenfresser bis zum Allesfresser sowie
17 ihrer Sexualstrategie von stark dimorphen, d. h. haremshaltenden Gruppen zu
18 einer gemßigten Monogamie. Diese zahlreichen radikalen Vernderungen ms-
19 sen außerdem noch den starken jahreszeitlichen Klimawechsel kompensieren,
20 der die nçrdlichen Siedlungsgebiete der Hominiden zwischen homo erectus und
21 homo sapiens sapiens kennzeichnet. All dies zeigt, dass sich die konkreten Inhal-
22 te der Gruppenregeln bei Hominiden ndern kçnnen und ndern kçnnen ms-
23 sen, denn dies ist eine Voraussetzung fr ihr berleben. Normen des Verhaltens
24 sind Kulturprodukte. Das weist zugleich darauf hin, dass wir uns mit unserer
25 Fragestellung in einem Teil der Evolution befinden, in dem es immer auch um
26 Kultur und deren Entwicklung geht. Normen verweisen auf Einigungs- und
27 Mitteilungsakte, die wir uns allerdings in einer nicht-sprachlichen Form nicht
28 leicht vorstellen kçnnen. Dasselbe gilt bereits fr viele hoch cerebralisierte Su-
29 getierspezies, insbesondere fr die Primaten mit ihren stark regionalisierten
30 Werkzeugkulturen und sozialen Institutionen.
31 Wegen der Vernderlichkeit der Normen muss es also zu der Mitteilung an
32 Kinder und Jugendliche so etwas wie eine Methode der Beschmung geben, die
33 zur nicht-sprachlichen Kommunikation gehçrt. Hierbei muss man bedenken,
34 dass hoch cerebralisierte Tiere, die in Gruppen leben, noch andere Wege der
35 Kommunikation haben, die uns Menschen auch zur Verfgung stehen, die uns
36 aber als Formen der Kommunikation nicht so bewusst sind: die Kommunikati-
37 on mittels Blicken und Handlungen.
38 So gibt es etwa Sanktionen bei Fehlverhalten, die man nicht nur als Strafen
39 interpretieren darf, denn sie informieren die Jugendlichen zugleich ber ihre
40 Pflichten und Verbote. Es gibt z. B. Sanktionen durch die ganze Gruppe, wenn
Zur Intentionalitt sozialer Gefhle 135
1 ein Mitglied die spezifischen Warnrufe zu seinem eigenen Vorteil nutzt und so
2 faktisch diese entweder falsch verwendet oder schlicht lgt. Beides kommt vor.10
3 Was sich im Hinblick auf Hominiden und Primaten fr unsere Analyse der
4 Scham und des Stolzes ersehen lsst, ist also Folgendes: Die Normen der Ge-
5 meinschaft kçnnen sich ndern, und sie mssen dies gelegentlich auch. Außer-
6 dem mssen sie den jeweils nachkommenden, jngeren Mitgliedern der Gruppe
7 in nicht-sprachlichen Kommunikationsakten mitgeteilt werden. Bei diesen Ak-
8 ten spricht man am besten von çffentlichen Beschmungsakten. Derjenige, der
9 jemanden beschmt, tritt dabei „çffentlich“ auf, d. h. er tritt in der Funktion als
10 Vertreter der normierenden Gemeinschaft auf und macht durch Sanktionierung
11
klar, dass die erfolgte Handlung nicht den Normen der Gemeinschaft gemß ist.
12
Hierzu ein Beispiel: Viele Primatenspezies besitzen nur ein schmales Spek-
13
trum von Warnrufen, z. B. haben Schimpansen einen Ruf fr Leopard, einen fr
14
Schlange und einen fr Raubvogel.11 Fr das berleben der Gruppe ist es ent-
15
scheidend, dass die Semantik dieser Rufe eingehalten wird. Aber es geschieht
16
immer wieder, dass jngere Mitglieder diese Warnrufe in strategischer Absicht
17
verwenden. Ein Jugendlicher stçßt z. B. den Ruf „Leopard!“ aus, als er in Ge-
18
meinschaft mit den Anderen auf eine verlockende Nahrungsquelle gestoßen ist.
19
20
Die Anderen fliehen auf die Bume, und der Kleine macht sich ber die Frchte
21
her. Danach wird er aber von den zurckkommenden Gefhrten verprgelt,
22 und zwar wohl aus mehreren Grnden. Denn er hat nicht nur gegen die Regel
23 der richtigen Verwendung der Warnrufe verstoßen, er hat sogar absichtlich gelo-
24 gen, zudem hat er die Regel missachtet, dass der Zugang zu gefundenem Fressen
25 in der Gruppe hierarchisch geregelt ist: Die Ranghçchsten erhalten zuerst Zu-
26 gang zu der Nahrung.
27
10 In Primatengruppen gibt es oft sehr regionale Konventionen ber die Art und Weise, wie
28
man Mitglieder der Gruppe begrßt, wie man die Hierarchie besttigt usw. Dass lebenswichti-
29
ge Kulturleistungen auch bei Primaten durch Tradierung sehr lange erhalten bleiben kçnnen,
30 zeigt der Fall der Nsse knackenden Schimpansen. Zu den Schimpansen des Tai-National-
31 parks, die Palmnsse mit Hilfe von Steinen knacken und diese Fhigkeit auch an ihre Nach-
kommen weitergeben, vgl. Christophe Boesch, Hedwige Boesch: Mental map in wild chimpan-
32
zees. An analysis of hammer transports for nut cracking. In: Primates 25 (1984). 160 – 170;
33 Christophe Boesch: Teaching among wild chimpanzees. In: Animal Behaviour 41 (1991). 530 –
34 532; Tetsuro Matsuzawa: Field experiments on use of stone tools in the wild. In: Richard W.
35 Wrangham, William C. McGrew, Frans B.M. de Waal, Paul G. Heltne (Hg.): Chimpanzee Cul-
tures. Cambridge 1994. 351 – 370. Zu der Tatsache, dass sich diese Tradition sogar teilweise
36 ber 4300 Jahre nachweisen lsst, vgl. Julio Mercader, Huw Barton, Jason Gillespie, Jack Har-
37 ris, Steven Kuhn, Robert Tyler, Christophe Boesch: 4300-year-old chimpanzee sites and the
38 origins of percussive stone technology. In: PNAS 104 (2007). 3043 – 3048.
11 Zu Warnrufen bei Schimpansen vgl. Volker Sommer: Lob der Lge. Mnchen 1992. 82 f.;
39 Dorothy L. Cheney, Robert Seyfarth: Wie Affen die Welt sehen. Das Denken einer anderen
40 Art. Mnchen 1994. Kapitel 7. Besonders 259 ff. sowie Kapitel 4 und 5.
136 Dieter Lohmar
1 kann. Ich schme mich aufs Neue und werte mich in den Augen der Anderen
2 selbst ab, indem ich deren Standpunkt mir selbst gegenber einnehme. Dabei
3 internalisiere (bernehme) ich die vermeintlich allgemein akzeptierten Regeln,
4 die mich diskriminieren. Dies wirft auch ein interessantes Licht auf die Eindring-
5 lichkeit solcher Beschmung: Ich kann mich gegen sie nur schwer wehren, bin
6 wehrlos und ihr gegenber gleichsam durchlssig.
7 Die Verwendung der Scham als soziales Werkzeug (Kampfmittel) durch Ein-
8 zelne oder kleine Gruppen ist aber eine abgeleitete Form der originren Funkti-
9 on der Scham und des Beschmens zwischen dem Einzelnen und der Gemein-
10 schaft. Die Forderungen, welche die Gruppe als Ganze an das Verhalten des
11 Einzelnen stellt, werden durch die çffentliche Beschmung mitgeteilt und vom
12 Einzelnen als gltig angenommen, d. h. „internalisiert“. Wenn nur eine Teilgrup-
13 pe beschmt, dann geht es meist um Diskriminierung, dennoch wird die Interna-
14 lisierung auch dann hufig vollzogen.
15 In einem ersten Schritt haben wir die Rolle der çffentlichen Beschmung auf-
16 gezeigt, die auch ohne den Gebrauch von Sprache mçglich sein muss.
17
18
19 4. Das Rtsel des Fremdschmens – Sich-fr-Andere-Schmen
20
21 Das Sich-fr-Andere-Schmen, auch Fremdschmen genannt, ist eine weitere
22 rtselhafte Form der sozialen Gefhle. Es weist folgende drei Typen auf:
23 1) Ein Kind bohrt in der ffentlichkeit ungeniert in der Nase, und die Mutter
24 schmt sich fr ihr Kind. Hier kçnnte man vermuten, dass sie sich fr das Verhal-
25 ten ihres Kindes irgendwie verantwortlich fhlt.
26 2) Ein Kind schmt sich fr seinen alkoholisierten Vater und dessen peinliches
27 Benehmen in der ffentlichkeit.
28 3) Wir schmen uns oft auch fr das Verhalten unserer Freunde und Bekann-
29 ten, und bisweilen sogar fr nur zufllige Bekannte. Ein Beispiel: Ich treffe zufl-
30 lig gleichzeitig mit einem Bekannten auf einer Party ein. Schnell stellt sich her-
31 aus, dass er bereits betrunken war und jetzt beginnt, die anderen Gste mit
32 Spinat vom Buffet zu bewerfen. Ich empfinde dafr Scham, denn er benimmt
33 sich schlecht, und irgendwie schauen mich die Anderen so an, als ob ich fr sein
34 Verhalten mit verantwortlich sei.
35 Hinsichtlich der ersten beiden Beispiele sieht man schon einen Weg zum Ver-
36 stndnis, wenn man eine Theorie des „erweiterten Selbstbildes“ zu Hilfe nimmt.
37 Das heißt: In meinem Selbstbild gibt es nicht nur mich selbst, sondern in einem
38 erweiterten Sinne gehçren gleichsam auch meine Eltern, Kinder usw. dazu so-
39 wie weitere Verwandte und die Personen, die eine gemeinsame Geschichte mit
40 uns haben, eine Geschichte, die uns mit ihnen „verbindet“. Diese Verbindung
138 Dieter Lohmar
1 kçnnen wir als eine gefhlte, teilweise oder graduelle „Identifikation“ mit deren
2 Wohl und Wehe verstehen.
3 Diese „Identifikation“ bzw. Verbindung weist auf tiefengenetische Aspekte
4 der Vorstellung meiner selbst hin. Das sind Elemente der Vorstellung meiner
5 selbst, die in sehr frhen Phasen der Entwicklung meiner Typen entstanden und
6 sedimentiert worden sind. Zum Beispiel finden wir es verstndlich, dass in der
7 jngsten Kindheit der einzige Punkt, auf den sich die gemeinschaftliche Aner-
8 kennung richten kann, die Eltern sind, nicht das Kind selbst. Das Kind ist am
9 Anfang seiner Erfahrungsgeschichte stolz oder beschmt, weil und wenn seine
10 Eltern anerkannt oder beschmt werden.
11 Dieses zu Anfang sehr „weite Selbstbild“ wird in der vielfltigen, spter fol-
12 genden Erfahrung modifiziert, berschrieben und berdeckt. Es weicht dann
13 langsam dem Selbstbild des Erwachsenen, bei dem hinsichtlich der Grnde fr
14 Scham oder Stolz seine eigenen Taten, Leistungen und Entscheidungen im Vor-
15 dergrund stehen. Aber die tieferen und scheinbar verschtteten Sinnelemente
16 des Typus „ich selbst“ kçnnen in bestimmten Situationen immer wieder ge-
17 weckt werden, denn sie werden nie ganz funktionslos.
18 Dies ist eine kleine Theorie des „erweiterten Selbst“, dessen Funktion sich
19 z. B. im Fremdschmen zeigt. Dieses erweiterte Selbst der Erfahrungssedimente
20 nimmt auch Personen in sein Bild mit auf, die mit mir eine gemeinsame Ge-
21 schichte haben, und denen ich emotional nahe stehe, wie z. B. meine Eltern, mei-
22 ne Kinder, aber auch langjhrige Gefhrten und so genannte Wahlverwandte.
23 Ich glaube, dass man diese Erweiterungen des Selbstbildes durchaus durch eine
24 phnomenologische Aufklrung der Sedimentationsweise und der Funktion
25 von Erfahrungen im Typus „ich selbst“ verstndlich machen kann. Es gibt viele
26 Typen in uns, bei denen nicht nur die zuletzt erfahrene Schicht des Sinnes fun-
27 giert, sondern auch die tieferen Sinnschichten aktiviert werden kçnnen.
28 Die verschtteten Elemente meines Selbstbildes sind niemals vçllig funktions-
29 los. Sie kçnnen bei bestimmten Gelegenheiten sozusagen „eruptiv“ die Sedimen-
30 tationsschichten durchdringen und sich wieder in den Vordergrund bringen.
31 Der Typus „ich selbst“ enthlt eine Art Geschichtsschreibung meiner Erfahrun-
32 gen mit dem Gegenstand. Die verdeckten Sinnelemente kçnnen gelegentlich die
33 Ordnung der Sedimente durchbrechen und wieder aufs Neue fungieren. Das
34 Fremdschmen zeigt, dass hierfr insbesondere solche Gelegenheiten geeignet
35 sind, bei denen es um unsere identifizierenden Verbindungen zu Anderen geht.
36 Der oben genannte dritte Fall bleibt jedoch auch im Hinblick auf das „erwei-
37 terte Selbstbild“ noch unverstndlich. Warum schmen wir uns sogar fr solche
38 „zuflligen Gefhrten“? Gemeint sind solche Personen wie derjenige, der auf
39 der Party mit Spinat wirft. Ich habe ihn zufllig getroffen, und nur die Anderen
40 glauben, dass ich ihn kenne und fr sein Verhalten irgendwie verantwortlich sei.
Zur Intentionalitt sozialer Gefhle 139
1 Ich selbst weiß allerdings, dass dies nicht so ist. Wie kommt es aber, dass wir uns
2 in dieser Situation dennoch schmen?
3 Hier hilft ein Verweis auf die nicht-sprachlichen Formen der Kommunikati-
4 on, die in dieser Situation durch die anderen Gste begonnen wird: Sie fangen
5 an, mich zu beschmen. Diese Beschmung ist ein Akt nicht-sprachlicher Kom-
6 munikation, die bei dieser Gelegenheit vor allem auf der Basis der Blickkommu-
7 nikation verluft. Die Anderen schauen auf denjenigen, der mit Spinat wirft,
8 und ihr Blick wandert dann mit gemessener Berechnung zu mir, und er ruht auf
9 mir, so dass ich fhle, wie schwer der Vorwurf, der gar nicht ausgesprochen wer-
10 den muss, auf mir lastet. Denn unausgesprochen teilt mir diese Blickfolge mit:
11 Diesen Mann hast du mitgebracht, du httest wissen mssen, dass er schon be-
12 trunken ist und dass er sich nicht benehmen kann usw. Und obwohl ich gute
13 Argumente gegen die Berechtigung dieser Beschmung habe (z. B. dass ich ihn
14 gar nicht kenne und nur zufllig mit ihm zusammen bei der Party angekommen
15 bin), schme ich mich rtselhafter Weise doch.
16 Dies zeigt, dass ich hinsichtlich dieser Art nicht-sprachlicher Kommunikati-
17 on im intersubjektiven Kontext gar nicht autonom bin, sondern eher passiv und
18 durchlssig bleibe. Ich kann mich der Wirkung einer solchen kollektiven Besch-
19 mung gar nicht entziehen, und selbst, wenn ich es versuche, so weiß ich doch,
20 dass es auf die Anderen nur wie eine hilflose Verteidigung, d. h. wie eine Ausre-
21 de, wirken wird. Der Induktion des Schamgefhls durch eine Gemeinschaft
22 oder eine Teilgruppe kann ich mich nicht entziehen. Die Phnomenologie kann
23 dies jedoch nur konstatieren, aber mit Hilfe eines Blicks auf die Evolution und
24 die Handlungsregulierung bei anderen Spezies wird der gute Sinn dieser Hilflo-
25 sigkeit verstndlich.
26
27
28 5. Soziale Gefhle bei Menschen und Primaten in Verbindung mit der realen
29 Anwesenheit Anderer und ohne sie
30
31 An den sozialen Gefhlen bemerken wir, dass sie in der Regel auf komplexen
32 Gefgen von Erkenntnis, Handlungsplnen und Normen der Gemeinschaft be-
33 ruhen. Ihre Kernfunktion ist das aufrufbare und anwendbare Wissen um die ge-
34 meinschaftlich akzeptierten Normen und zugleich eine Motivation, die somit
35 auch eine effektive Regulierung unseres Handelns leistet. Sie haben einen Bezug
36 auf eine Handlung, eine bewertende Gemeinschaft und auch einen Bezug auf
37 mich, mein Selbst, meine Person, und zwar wird dieses Selbst als eine Person in
38 einer Gemeinschaft vorgestellt. Ich schme mich z. B. fr eine Handlung „in den
39 Augen“ der Gemeinschaft, auf die es mir ankommt, in deren Augen ich aner-
40 kannt werden mçchte.
140 Dieter Lohmar
1 Daher ist es auch kein großes Rtsel, dass ich mich auch dann fr eine Hand-
2 lung schmen kann, wenn mich real keine andere Person sieht, vor der ich mich
3 schmen msste. Auch bei Primaten ist es so, dass die Regeln, die sich aus der
4 Hierarchie ergeben, und solche, die sich direkt auf den Nutzen der ganzen Grup-
5 pe richten, in der berwiegenden Zahl der Flle von den einzelnen Personen die-
6 ser Gemeinschaft befolgt werden, und zwar auch in der Abwesenheit anderer
7 Gruppenmitglieder. Man kann hier von einer weitgehend erfolgreichen Regulie-
8 rung des Verhaltens sprechen. Die Einzelnen fhlen sich den Regeln der Gruppe
9 gegenber verpflichtet. Aber dieses Wohlverhalten ist nicht einfach naturgege-
10 ben, instinktiv und kausal bedingt. Das Bemerkenswerte daran ist, dass es ein
11 freies Wohlverhalten ist, denn der Einzelne kann auch anders handeln. Aller-
12 dings gibt es nur relativ selten Einzelne, die sich diesen Regeln widersetzen und
13
zu ihrem eigenen Vorteil verschiedene Arten von Tuschungen versuchen.12
14
Hier zeigen sich sowohl die Freiheit wie auch die Moralbindung dieser Handlun-
15
gen.
16
Die Scham, die ich empfinden kann, wenn ich ganz allein bin, kçnnte man
17
selbst-bewertende Scham nennen. In ihr bewerte ich mich selbst oder meine
18
Handlung unter dem Maßstab, den die Normen der Gemeinschaft vorgeben. In
19
dieser Situation agiere ich sozusagen als Vertreter der Gemeinschaft gegenber
20
mir selbst. Es gibt aber hier auch die Mçglichkeit der Umfrbung dieses Ge-
21
fhls, wenn der Gedanke an einen wirklich beobachtenden realen Anderen hin-
22
zukommt. Es erfolgt dann eine Umfrbung der Scham in ngstliche Scham, die
23
24
12 Die Berichte ber taktische Tuschungen bei Primaten zeigen, dass es oft typische und
25
wiederkehrende Konfliktsituationen bei Tieren gibt, die in Gruppen leben. Vgl. Richard
26 Bryne, Andrew Whiten: Tactical deception of familiar individuals in baboons. In: Animal Be-
27 haviour 33 (1985). 669 – 673; dies. (Eds.): Machiavellian Intelligence. Oxford 1988; Dies.: Tacti-
28 cal deception in primates: the 1990 database. In: Primate Report 27 (1990). 1 – 101; und Som-
mer: Lob der Lge. 72 – 96.
29
Eine der zentralen Verpflichtungen z. B. bei Schimpansen besteht darin, dass gefundene
30 Nahrung immer der ganzen Gruppe zu melden ist. Wenn ein Tier jedoch in der Hierarchie
31 weit unten steht, dann fhrt dies oft zu einem Interessenkonflikt, denn die Verteilung des Es-
sens hngt von der Hierarchie ab. Das heißt, die Ranghçchsten erhalten zuerst die Gelegenheit
32
zum Fressen und die Rangniederen nur das, was brig bleibt. Erstaunlicherweise handeln aber
33 die meisten der rangniedrigen Tiere dennoch regelkonform. Sie zeigen also ein moralhnliches
34 Verhalten, bzw. sie haben ein Gewissen, das ihnen diese Handlungsweise vorschreibt. Aber
35 gelegentlich erliegen sie dennoch der Versuchung, die gefundenen Leckerbissen fr sich zu be-
halten und sie nicht çffentlich bekannt zu machen. Sie sind also dennoch frei. Werden sie bei
36 diesem Verhalten erwischt, dann werden sie sanktioniert, d. h. im einfachsten Fall verprgelt.
37 Sie bemhen sich ihrerseits, dies zu verhindern, indem sie verschieden komplexe Formen der
38 Tuschung ausfhren. Man kann eine solche Situation relativ leicht provozieren, indem man
eine verlockende Nahrung an einer Stelle des Geheges versteckt, die nur den rangniedrigen,
39 jngeren Gruppenmitgliedern zugnglich ist, z. B. in einem engen Rohr, das fr Grçßere
40 schwer zugnglich ist.
Zur Intentionalitt sozialer Gefhle 141
23 pekts, der im ursprnglichen Erleben noch nicht enthalten war (vgl. in diesem Sammelband, S.
&). In der selbst-bewertenden Scham ist ein Bewusstsein der gemeinschaftlich geteilten Nor-
24
men lebendig, die daher auch fr mich gelten. Sie richtet sich auf mich und meine Handlung,
25
die nicht regelkonform war, und ebenso auf die Gemeinschaft, die diese Normen errichtet hat,
26 und der ich mich zugehçrig fhle (daher akzeptiere ich diese Normen). In der selbst-bewerten-
27 den Scham sind alle diese Teilintentionen vorhanden und z. T. auch erfllt.
14 Der kurze Film ber Kanzi wurde bei einem Themenabend von arte zu Tierintelligenz
28
gesendet und einer BBC-Dokumentation ber „Animal minds“ entnommen. Weitere Informa-
29 tionen ber die Sprachforschungen von Sue Savage Rumbaugh finden sich unter http://kan-
30 zi.bvu.edu, ebenso wie bei zwei Videodokumentationen des japanischen staatlichen Fernse-
31 hens (NHK Documentary, Kanzi 1 und Kanzi 2).
Die Tatsache, dass Kanzi ein unter Menschen aufgewachsener Schimpanse ist, berhrt
32
eine lebhafte Methodendiskussion innerhalb der modernen Verhaltensforschung ber Prima-
33 ten: Darf man fr wahrhaft „wissenschaftliche“ Forschungen nicht nur Affen in the wild ver-
34 wenden, d. h. solche, die keinen erzieherischen Einfluss von Menschen erhalten haben? Micha-
35 el Tomasello vertritt diese Ansicht, dass nmlich nur solche Probanden zeigen, was eine
Spezies natrlicherweise „kann“ und nicht kann. Die Ergebnisse dieser Vorentscheidung sind
36 z. B., dass Primaten keine Zeichen gebrauchen kçnnen, dass sie nicht triangularisieren, dass sie
37 keine echte Imitation leisten kçnnen (mit einer Erfassung des wahren Zieles) usw. Viele Philo-
38 sophen stellt diese Auskunft zufrieden. Aber andererseits wissen wir, dass akkulturierte Affen
all das erlernen kçnnen, was den nicht-akkulturierten Affen fehlt. Dies zeigt, dass Tomasello
39 mit seiner methodischen Beschrnkung nicht mehr die Frage beantwortet, die uns eigentlich
40 interessiert. Wir wollen nmlich wissen, was Spezies berhaupt kçnnen, d. h. unter den denk-
142 Dieter Lohmar
1 Der kurze Filmausschnitt zeigt Sue Savage-Rumbaugh mit Kanzi und einer As-
2 sistentin bei einem Spaziergang durch den Wald. Sie begegnen dort einem Hund,
3 Kanzi strzt sich auf ihn, um ihn zu verprgeln, versetzt ihm auch einige Schl-
4 ge. Er wird dann aber von Savage-Rumbaugh an seiner Leine zurckgezogen.
5 Daraufhin maßregelt sie ihn streng, woraufhin er deutliche Anzeichen von
6 Scham zeigt und versichert, dass er sich in Zukunft wieder gut verhalten wird.
7 Dieses Filmdokument ist sehr erstaunlich, denn man „sieht“ deutlich, dass
8 der Bonobo Kanzi sich schmt: Er schaut weg, nach unten, vermeidet den Au-
9 genkontakt, schlgt die Augen nieder, verwendet Gesten (kratzt sich am Kopf),
10 die Unsicherheit und berlegen ausdrcken sollen. Er macht im Ganzen einen
11 schuldbewussten Eindruck, so dass wir kaum Zweifel daran haben, dass er auch
12 Schuldgefhle hat und Scham empfindet.15
13 Man kçnnte natrlich vermuten, dass wir hier der Gefahr des Anthropomor-
14 phismus erlegen sind und Eigenschaften und Verhaltensweisen, die nur Men-
15 schen haben kçnnen, auf Tiere bertragen, weil sie sich scheinbar hnlich verhal-
16
ten. Aber das Bedenken ist in diesem Fall unbegrndet, denn Kanzi kann sich
17
mit Hilfe des Lexigramms verstndlich machen und sogar knftiges Wohlverhal-
18
ten versprechen. Das Lexigramm ist eine computerbasierte Tafel, auf der sich
19
fast 200 mit abstrakten Symbolen (nicht mit Piktogrammen) versehene Tasten
20
befinden. Wenn man diese drckt, dann spricht das Lexigramm das entsprechen-
21
de englische Wort fr einen Gegenstand, eine Eigenschaft oder eine Ttigkeit
22
aus, z. B. „good“, „play“ oder „milk“. Mit Hilfe des Lexigramms drckt Kanzi
23
aus, dass er wieder rehabilitiert werden mçchte, und verspricht, in Zukunft wie-
24
der „gut“ zu sein.
25
26 bar gnstigsten Bedingungen. Und in dieser Hinsicht stellt sich heraus, dass das Meiste und
27 Wichtigste, das Tomasello als mçgliche Leistungen ausschließt, bei den so genannten akkultu-
28 rierten Affen mçglich ist. Und auch Tomasello weiß, dass akkulturierte Affen all das kçnnen,
was er der Spezies als ganzer absprechen mçchte. Diese scheinbar widersprchlichen Ergebnis-
29
se zeigen, dass Tomasellos Ziele in der Wissenschaft ganz andere sind als die Fragen, die uns
30 interessieren. Es lohnt sich daher ganz offensichtlich, in der experimentellen Primatologie und
31 der vergleichenden Psychologie auf den Effekt der Akkulturierung einzugehen und ihn mçg-
lichst auch in die Experimente miteinzubeziehen. Dies wird heute weitgehend im Namen der
32
Wissenschaftlichkeit vermieden. Aber schon der erste Blick auf die anthropologische Verfas-
33 sung des Menschen macht klar, dass wir Lebewesen sind, die in einem viel hçheren Maße ak-
34 kulturiert sind, als es Affen je werden kçnnen, denn unser soziales Lernen beginnt bereits in
35 einer sehr viel frheren Phase der Entwicklung (wegen der Frhgeburt des Menschen, dem so
genannten extrauterinen Frhjahr und der starken Neotonie), als dies bei Affen mçglich ist.
36 Die Aufdeckung der Differenzen bei den Leistungen akkulturierter Affen und solchen, die in
37 the wild aufgewachsen sind, kçnnen offensichtlich auch zum Verstndnis des Menschen beitra-
38 gen.
15 Heute weiß man auch aus experimentellen Studien, dass Schimpansen Scham empfinden
39 kçnnen, vgl. Mark A. Changizi, Zhang Qiong, Shimojo Shinsuke: Bare skin, blood and the
40 evolution of primate color vision. In: Biology Letters 2 (2006). 217 – 221.
Zur Intentionalitt sozialer Gefhle 143
1 Was wir in diesem kurzen Film sehen kçnnen, ist aber auch, in welch großem
2 Maße Kanzis Schamverhalten von seiner Trainerin Sue Savage-Rumbaugh indu-
3 ziert wird. Es handelt sich um ein geeignetes Beispiel fr den kommunikativen
4 Akt der Beschmung, d. h. der Erziehung von Kindern und auch domestizierten
5 Tieren (wie Hunden oder Pferden) mit Hilfe induzierter Schamgefhle. Besch-
6 mung ist eine relativ komplizierte hochstufige Leistung der Kommunikation
7 und zugleich ein gutes Beispiel fr komplexe, intersubjektive Konstitutionen.
8 Werfen wir einen Blick auf die einzelnen Elemente jenes Beschmungsaktes:
9 Savage-Rumbaugh schimpft verbal mit Kanzi. Das ist sinnvoll, denn er versteht
10 gesprochenes Englisch. Mit dem Lexigramm gibt sie ihm zustzlich die bewer-
11 tende Information: „Bad! Bad!“ Diese ußerung ist einerseits sprachlich, aber
12 auch symbolisch, denn die Bedeutung der abstrakten Zeichen auf dem Lexi-
13 gramm kennt Kanzi ebenfalls. Weiterhin wendet Savage-Rumbaugh zwei wichti-
14 ge Formen nicht-sprachlicher Kommunikation an, die Handlungs- und die
15 Blick-Kommunikation: Sie greift ihn an den Haaren und zieht seinen Kopf
16 leicht hin und her. Dies sieht auf den ersten Blick so aus, als sei es eine einfache
17 Sanktion, aber es ist zugleich ein Element der so genannten Handlungskommu-
18 nikation, zu der einerseits Handlungen gehçren, die der Andere nur sieht, aber
19 andererseits auch Manipulationen seines eigenen Kçrpers. Sie htte ihn z. B.
20 auch am Weggehen hindern kçnnen, wie dies oft bei Kindern notwendig ist, die
21 sich der demtigenden Situation der Kritik und Beschmung zu entziehen versu-
22 chen. Dann dreht sie seinen Kopf so, dass er sie ansehen muss, und erzwingt auf
23 diese Weise, dass auch die Blickkommunikation mçglich ist, deren wichtige und
24 eindringliche Funktion wir bereits im vorigen Kapitel bei dem durch eine Grup-
25 pe von Menschen induzierten Fremdschmen kennengelernt haben.
26 Savage-Rumbaugh zwingt also Kanzi, sie anzusehen und ihren empçrten
27
Blick in der ffentlichkeit zu ertragen.16 Der ganze Stil und die ffentlichkeit
28
der Beschmung zeugen von der Tatsache, dass Savage-Rumbaugh hier „als Ver-
29
treterin einer Gemeinschaft“ agiert und ihn beschmt, einer Gemeinschaft, die
30
sich einig ist hinsichtlich der mitgeteilten Normen.
31
Der empçrte, beschmende Blick zeigt zugleich, dass er eine „çffentliche Ent-
32
rstung“ ist und nicht nur persçnliche Wut oder Emotion. Er findet in der Ge-
33
genwart Anderer (Assistentin, Hund, Kameramann usw.) statt. Der empçrte
34
Blick betrifft zudem eine Handlung, welche die beschmende Person selbst
35
nicht geschdigt hat. Sie ist in dieser Hinsicht also unbeteiligt. Die Sanktion er-
36
folgt deshalb sachlich, mit einer teilnahmslosen „rechthaberischen“ Miene, d. h.
37
mit der ruhigen, abgemessenen Konsequenz der çffentlichen Bestrafung, die ei-
38
39 16 Man sieht auf dem Bildschirm zwar nur sie und Kanzi, aber auch ihre Assistentin ist mit
40 dabei, der Hund, der Kameramann und wahrscheinlich noch ein kleines Team weiterer Helfer.
144 Dieter Lohmar
1 gene Emotionen ausklammern soll. Mitgeteilt wird hier also keine Wut, sondern
2 Empçrung.17 In der çffentlichen Rge wird zudem gelernt, dass die Anderen
3 mich in der Beschmung gleichsam empçrt „ansehen“, wenn ich von der Grup-
4 pe durch einen ihrer Reprsentanten (und in dieser Funktion) beschmt und kri-
5 tisiert werde. Es ist dieser ganze Stil der Interaktion, die diese zu einer çffentli-
6 chen Rge durch einen Agenten der Gemeinschaft macht: „So etwas tut man
7 doch nicht!“18
8 In meinem Beitrag beabsichtigte ich zu zeigen, dass die Einbeziehung von
9 Evolutionstheorie, Primatologie, Psychologie und Sozialforschung in die phno-
10 menologische Analyse sozialer Gefhle einen guten Sinn hat. Weiterhin habe ich
11 den bedeutenden Anteil der Erkenntnis in dem Sinn der sozialen Gefhle heraus-
12 gestellt, der auch ihre Einfgung in das Denken ohne Sprache und die nicht-
13 sprachliche Kommunikation verstndlich macht. Außerdem ging es mir um die
14 Funktion des in großem Umfang nicht-sprachlichen Beschmungsaktes als eines
15 Elements nicht-sprachlicher Kommunikation, der den Inhalt gruppenspezifi-
16 scher Normen mitteilt. Denn Beschmungsakte sind fr das Verstndnis des Sin-
17 nes der Scham von zentraler Bedeutung.
18
19
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21
22
23
24
25
26
27
17 Die Szene enthlt am Ende noch ein interessantes Element, das ich hier aber nicht nher
28
erlutern kann. Kanzi hat nmlich ein Ritual, das Versprechen begleitet, d. h. die Lektion ist
29
erst perfekt, wenn er Milch erhlt, die er aber nur bekommt, wenn er versprochen hat, in Zu-
30 kunft Wohlverhalten zu zeigen. Dies ist eine Art symbolischer Vertragsschluss auf die Zukunft
31 hin, der natrlich nur bei solchen Spezies einen guten Sinn hat, die Symbole fr die Zukunft
verwenden kçnnen.
32 18 Wir kçnnen uns natrlich auch fragen, ob die Methode der Beschmung auch bei anderen
33 Spezies funktioniert. Nach allem, was wir wissen, ist die Fhigkeit, Scham zu empfinden, bei
34 berwiegend solitr lebenden Spezies, wie z. B. Raubkatzen, eher fraglich. Aber bei Hunden
35 und anderen domestizierten Spezies, die schon eine lange Zeit mit Menschen zusammen leben
und die auch als Spezies selbst Kooperation zu gemeinsamen Zwecken betreiben (Jagd, Vertei-
36 digung), ist es wahrscheinlicher, dass sie Scham empfinden kçnnen. Spezies, die in Gruppen
37 leben und miteinander kooperieren, so dass hier eine gewisse Verpflichtung gegenber dem
38 Nutzen fr die Gemeinschaft vermutet werden darf, kommen hierfr aus prinzipiellen Erw-
gungen eher in Frage. Allerdings zeigen auch schon relativ einfache Lebewesen Zeichen koope-
39 rativen Verhaltens, wie z. B. stark soziale Vçgel und sogar Fische, die gemeinsame Verteidigung
40 und Hilfeleistungen betreiben.
1 Karl Mertens
2
3
4 Soziale Dimensionen der Normativitt
5
Perspektiven einer phnomenologischen Analyse handlungskonstitutiver und
6
sozialer Normen
7
8
9
10
11 Die Rede von Normen oder Normativitt im Kontext der Bezugnahme auf
12 Handlungen1 verweist auf Sollensansprche. Wenden wir uns diesen als philoso-
13 phisch Interessierte zu, dann geht es in der Regel um Geltungsfragen, genauer:
14 um das Problem der Begrndung des normativ Beanspruchten. Demgegenber
15 ist die phnomenologische Forschung, ihrem programmatischen Leitspruch ent-
16 sprechend, angehalten, die „Sachen selbst“ zu untersuchen. Ihr methodisches In-
17 teresse richtet sich auf die Analyse der phnomenalen Gegebenheit der jeweils
18 untersuchten Sache – d. h. auf die Weise, wie wir etwas ursprnglich erfahren.
19 Beschftigt man sich mit Normen in phnomenologischer Perspektive, tritt da-
20 her an die Stelle des Programms einer Rechtfertigung der Geltung prskriptiver
21 Stze die Beschreibung des Faktums einer normativen Erfahrung. Verwenden
22
Phnomenologen dabei den Begriff der Begrndung, dann geht es ihnen in der
23
Regel nicht um den argumentativen Ausweis der Berechtigung normativer Gel-
24
tungsansprche, sondern um eine Begrndung ganz anderer Art: um die analyti-
25
sche Nachzeichnung der sinnstiftenden Leistungen, die das Faktum normativer
26
Erfahrung konstituieren, oder auch um dessen genetische Rekonstruktion. Ob-
27
wohl beide Formen des Begrndens auseinanderzuhalten sind, verweisen die
28
mit ihnen verbundenen Fragen des quid iuris und quid facti wechselseitig aufein-
29
ander.
30
Auf der einen Seite erfordert die Rechtfertigung der Geltung normativer, un-
31
ser Handeln betreffender Ansprche an fundamentaler Stelle den Rekurs auf ein
32
33
Faktum: Die Rede von einem normativ Gesollten unterstellt, dass das geforder-
34
te Handeln im Unterschied zu einem Verhalten sich nicht bloß einstellt. Die
35 1 Dieser einschrnkende Zusatz ist fr die folgenden Ausfhrungen wichtig, weil die Rede
36 von Normen sowohl etymologisch als auch in alltglichen, wissenschaftlichen oder auch in
37 spezifisch philosophischen Zusammenhngen sehr unterschiedliche Bedeutungsaspekte auf-
38 weist (vgl. z. B. Klaus Steigleder: Norm. In: Petra Kolmer, Armin G. Wildfeuer [Hg.]: Neues
Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Bd. 2. Freiburg 2011. 1627 – 1638; Hasso Hof-
39 mann, Red.: Norm I. In: Joachim Ritter, Karlfried Grnder [Hg.]: Historisches Wçrterbuch
40 der Philosophie. Bd. 6. Darmstadt 1984. 906 – 910).
1 Adressaten eines Sollens werden vielmehr verstanden als Akteure, die sich prin-
2 zipiell dem Gesollten auch widersetzen kçnnen. Normative Ansprche werden
3 daher nur befolgt, insofern ihre Adressaten tun, was sie tun, weil sie den Gel-
4 tungsanspruch der jeweiligen Norm erfassen. Dieses Erfassen hat zwei Seiten:
5 Zum einen erkennen diejenigen, die einer Norm folgen, die Geltung des norma-
6 tiv Geforderten an. Dies wiederum setzt die Einsicht in die Berechtigung der
7 Gltigkeit einer Norm voraus. Sie argumentativ herzustellen, ist u. a. die Aufga-
8 be philosophischer Normenbegrndung. Um jedoch eine solche Einsicht ber-
9 haupt gewinnen zu kçnnen, bedarf es zum anderen und zunchst eines grundle-
10 genden Sinns fr die fragliche normative Dimension. Sich nach einer Norm zu
11 richten, aber auch, sie zu missachten, in Frage zu stellen, nicht zu akzeptieren
12 usw. – das vermçgen nur diejenigen, die einen Sinn fr die zur Debatte stehen-
13 den normativen Ansprche bereits mitbringen, die verstehen, was es heißt, dass
14 etwas z. B. von einer sozialen oder moralischen Norm geboten oder von einer
15 Rechtsnorm verboten ist.2 Diese Voraussetzung normativer Erfahrung ist ein
16 Faktum.3
17 Auf der anderen Seite besteht zwischen Faktum und Geltung im Falle der
18 praktischen Sphre auch die umgekehrte Beziehung. Um diese soll es im ersten
19 Teil der folgenden berlegungen gehen, in dem ich dafr argumentieren mçch-
20 te, dass das Faktum bestimmter Handlungen selbst im Kontext eines kommuni-
21 kativ-sozialen Konstitutionsprozesses normativ bestimmt ist. Normativitt ist,
22 so meine These, eine Handlungen als Handlungen inhrente Dimension. Im An-
23 schluss daran werde ich in einem zweiten Teil auf die Eigentmlichkeit spezi-
24
2 Diese Voraussetzung ist von grundlegender Bedeutung, insofern als sie die Mçglichkeit
25
erçffnet, einen wesentlichen Unterschied im Bereich des (menschlichen) Verhaltens zu verste-
26 hen, der in unterschiedlicher Terminologie markiert werden kann. So unterscheidet etwa Max
27 Weber ,Regeln‘ als „generelle Aussagen ber kausale Verknpfungen“ von ,Regeln‘ bzw. ,Nor-
28 men‘ als „generelle(n) Aussage(n) […] eines (logischen, ethischen, sthetischen) Sollens“. „Das
,Gelten‘ der Regel bedeutet im zweiten Fall einen generellen Imperativ, dessen Inhalt die
29
Norm selbst ist. Im ersten Fall bedeutet das ,Gelten‘ der Regel lediglich den ,Gltigkeits‘-An-
30 spruch der Behauptung, daß die jener entsprechenden faktischen Regelmßigkeiten in der em-
31 pirischen Wirklichkeit ,gegeben‘ oder aus dieser durch Generalisierung erschließbar seien.“
(Max Weber: R. Stammlers „berwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung
32
(1907). In: Ders.: Gesammelte Aufstze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. von Johannes Winckel-
33 mann. Tbingen 71988. 291 – 359. 322 f. In die gleiche Richtung, wenn auch begrifflich anders
34 gefasst, weist die Differenzierung zwischen einem bloß konvergenten Verhalten einerseits und
35 einem von einer Regel geforderten Verhalten, d. h. eigentlich gesollten Handlungen, anderer-
seits bei Herbert Lionel Adolphus Hart: The concept of law (1961). With a postscript edited
36 by Penelope A. Bulloch and Joseph Raz. Oxford 21994. 8 ff. Bes. 9 f.
3 Die grundlegende Bedeutung dieses Faktums fr den Anspruch des Normativen betont
37
38 z. B. Immanuel Kant in seinen Ausfhrungen zur Rolle des Sittengesetzes als eines Faktums
der Vernunft. (Vgl. Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. In: Ders.: Kants gesam-
39 melte Schriften. Hrsg. von der Kçniglich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. V.
40 Berlin 1908/13. 31.)
Soziale Dimensionen der Normativitt 147
1 fisch sozialer Normen eingehen, die Sollensansprche fr den Bereich des (be-
2 reits konstituierten) Handelns erheben und die im Kontext einer Beschftigung
3 mit sozialen Dimensionen der Normativitt eine entscheidende Bedeutung ha-
4 ben.
5
6 1. Handlungskonstitutive Normen
7
8 Normativitt ist keine dem Handeln nachgeordnete Dimension, mit der der be-
9 reits etablierte Bereich des Handelns nachtrglich als Gegenstand prskriptiver
10 Ordnungen artikuliert wird. Der Bezug auf Normen ist vielmehr fr die Bestim-
11 mung von Handlungen als Handlungen konstitutiv.4
12 Grob gesagt, machen wir einen Unterschied zwischen zwei Weisen, wie wir
13 in die Welt des Geschehens und der Ereignisse involviert sein kçnnen.5 Auf der
14 einen Seite kann uns etwas widerfahren; d. h. wir sind verstrickt in Geschehnis-
15 se, die wir nicht selbst hervorgebracht haben. Auf der anderen Seite kçnnen wir
16 in der Welt ttig sein, insofern wir ein Geschehen selbst hervorbringen und Welt-
17 zustnde verndern. Dem Geschlagenwerden steht etwa das Schlagen gegen-
18 ber. Innerhalb des Bereichs unseres Tuns bzw. Ttigseins unterscheiden wir
19 weiter zwischen einem Tun, dessen Urheber wir sind, das sich aber unserer Kon-
20 trolle entzieht, und einem Tun, das unserer Verfgbarkeit untersteht. Wer jeman-
21 den beim Fußball mit der Hand schlgt, whrend er in einer dynamischen Spiel-
22 situation nach dem Ball tritt, tut etwas anderes als derjenige, der einen Schlag
23 ausfhrt, der den Gegenspieler treffen soll. Terminologisch kçnnen wir diese
24 Differenz ansprechen, indem wir die Rede von einem Verhalten bzw. bloßen Ver-
25 halten dem Handeln oder der Handlung gegenberstellen. In diesem Zusammen-
26 hang berufen wir uns auf Konzepte wie ,Absicht‘, ,Wille‘ usw. Auf Grund sei-
27 ner Absichtlichkeit bzw. Willentlichkeit, so heißt es dann, erweist sich das
28 Handeln als ein Phnomen, das ber ein bloßes Verhalten in wesentlichen Hin-
29 sichten hinausgeht. Handeln ist demnach ein absichtliches oder gewolltes Verhal-
30 ten. Das ist geradezu ein Gemeinplatz, der in unterschiedlicher Terminologie
31 und in verschiedenen theoretischen Kontexten die analytische und die phnome-
32
33
34
35
36 4 Die im Folgenden ausgefhrten berlegungen habe ich in Grundzgen skizziert in: Karl
37 Mertens: Soziale und individuelle Aspekte produktiven und kreativen Handelns. In: Roland
38 Breeur, Ullrich Melle (Hg.): Life, subjectivity & art. Essays in honor of Rudolf Bernet. Dord-
recht 2012. 255 – 276. 260 ff.
39 5 Zu den folgenden Unterscheidungen vgl. Neil Roughley: Wanting and intending. Ele-
1 nicht sozial verankertes Bewusstsein letztlich jedes Verhalten als mit einer Regel
2 bereinstimmend verstehen kçnnten. Wittgenstein schreibt: „Darum ist ,der Re-
3 gel folgen‘ eine Praxis. Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel fol-
4 gen. Und darum kann man nicht der Regel ,privatim‘ folgen, weil sonst der Re-
5 gel zu folgen glauben dasselbe wre, wie der Regel folgen.“10 Erst die soziale
6 Kommunikation ber Handlungen limitiert den Bereich des fr die Ausfhrung
7 von Handlungen eines bestimmten Typs geforderten zulssigen Regelfolgens.
8 Mehr noch: Ohne die soziale Kontrolle und ggf. Korrektur unseres Verhaltens
9 htten wir gar keinen Sinn, gar kein Bewusstsein dafr, was es heißt, eine Hand-
10 lung auszufhren. Korrekturen sind daher konstitutiv fr die Erfahrung des
11 Handlungscharakters eines Verhaltens. Denn durch die Korrektur wird ein Ver-
12 halten als Fall eines Handelns individuiert, das bestimmten normativen Anspr-
13
chen zu gengen hat.11 Handlungen kommen nur dann zustande, wenn das Ver-
14
halten bestimmten Forderungen entspricht. Im Unterschied zur bloß faktischen
15
Regelmßigkeit eines Verhaltens, die lediglich konstatiert und beschrieben wer-
16
den kann, machen Handlungskorrekturen deutlich, dass Handelnde, die etwas
17
Bestimmtes tun, Forderungen entsprechen mssen, die sie prinzipiell auch ver-
18
letzen kçnnen. Insbesondere in der Thematisierung tatschlicher oder mçgli-
19
cher Regelverletzungen wird daher der Spielraum der Handelnden zuschreibba-
20
ren Handlungen expliziert.
21
Regelverletzungen und ihre Korrekturen werden paradigmatisch in Lern-
22
und Lehrsituationen thematisch. Wer z. B. ein Lied singt, muss dafr akustisch
23
wahrnehmbare Tçne produzieren. Bloße Mundbewegungen wrden wir nicht
24
25
als einen Fall von Singen akzeptieren. Einem Kleinkind, das mit der Behaup-
26
tung, es singe, lediglich die Lippen bewegt, wrden wir vielleicht amsiert zu-
27 schauen. Sofern uns eine Erziehungsverantwortung obliegt, wrden wir darber
28 hinaus dem Kind jedoch zu verstehen geben, dass es zwar einen Snger in seinen
29 Bewegungen imitiere, nicht aber singe. Dafr msse es schon hçrbare Laute her-
30 vorbringen.
31 Schreiben wir einem Akteur ein bestimmtes Verhalten als Handeln zu, dann
32 nehmen wir mit der Verwendung intentionaler Begriffe wie ,beabsichtigt‘, ,pro-
33 vokant‘, hinterhltig‘ usw. auf etwas Bezug, das auch aus der Akteurperspektive
34 prinzipiell akzeptierbar sein muss. Das ist so, weil Handlungszuschreibungen
35 auch auf die Erfahrung von Akteuren Rcksicht nehmen mssen. So gibt es in
36 der Perspektive des Ttigen einen wesentlichen Unterschied zwischen einem Re-
37
38
10 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a.M. 1971. § 202.
11 Baltzer: Gemeinschaftshandeln. 213: „Die Korrektur verndert den Status der zu korri-
39 gierenden Handlung, denn durch die Korrektur wird die vorangegangene Handlung als Fall
40 der einzubenden Regel individuiert.“
Soziale Dimensionen der Normativitt 151
40 cept of mind (1949). With an introduction by Daniel C. Dennett. Chicago 2000. Chapter 2.
152 Karl Mertens
1 der Frage schreibt der Erwachsene dem Kind einen Wunsch zu, der besser zum
2 tatschlichen Verhalten des Kindes passt als seine erste Vermutung.“ Und so
3 geht es noch ein wenig weiter, bis der Erwachsene weniger darauf aus ist, den
4 Wunsch des Kindes herauszubekommen, als vielmehr, ihm klarzumachen, dass
5 mit dem Beabsichtigen, Wollen und Wnschen (terminologisch bleiben wir hier
6 im Alltag etwas vage) bestimmte Konsistenzverpflichtungen verbunden sind. So
7 macht der Erwachsene dem Kind deutlich, dass es, so Tetens, nicht „wild zwi-
8 schen Wnschen hin- und herpendeln“ kann.13
9 Das Beispiel verdeutlicht, dass Absichten und die mit ihnen verbundenen
10 Handlungsbestimmungen erstens zugeschrieben werden. Außerdem mssen sie
11 zweitens minimalen Konsistenzbedingungen Genge tun. Ich kann nicht zu-
12 gleich und im selben Sinne x und nicht x beabsichtigen bzw. tun. Drittens muss
13 die Bestimmung von Absichten und Handlungen zu dem mit ihnen verknpften
14 Verhalten passen: Sagt mir jemand, dass sein Winken, das ich auf mich bezogen
15 habe, eigentlich einem Taxi galt, werde ich in Situationen, die fr solche Hand-
16 lungsumdeutungen typisch sind, meine erste Handlungsbeschreibung korrigie-
17 ren. Zeigt mir jemand jedoch einen Vogel und erklrt mir anschließend, er habe
18 mich begrßen wollen, werde ich diese Handlungsbeschreibung kaum akzeptie-
19 ren. Intentionalitts- und Verantwortungszuschreibungen stehen demnach prin-
20 zipiell auf dem Prfstand und kçnnen aus der Erste-, aber auch aus der Dritte-
21 Person-Perspektive korrigiert werden. Dabei setzt die Verstndigung ber unser
22 Tun die reflexive Fhigkeit voraus, auf ein Verhalten zurckzukommen und es
23 zum Gegenstand einer kritischen Bewertung zu machen. Kritisch bewerten lsst
24 sich ein Verhalten aber nur dann, wenn es kein in sich sinnloses, rein naturales
25 Geschehen ist, sondern noch vor seiner expliziten Bestimmung bereits, wie sich
26 im Anschluss an Merleau-Ponty ausfhren lsst, als sinnhaft strukturiert erfah-
27 ren wird.14 Viertens muss die Zuschreibung einer Absicht und der durch sie spe-
28 zifizierten Handlung bestimmten situativen Bedingungen entsprechen. Trompe-
29 te spielen wollen kann man nicht auf einer Geige, und die Absicht, Ski zu laufen,
30 passt nicht zum sommerlichen Wattenmeer. – Die Zuschreibung von Handlun-
31 gen und Absichten15 ist daher kein Akt sozialer Willkr. Die genannten Bedin-
32
33 13 Holm Tetens: Geist, Gehirn, Maschine. Stuttgart 1994. 14.
34 14 Vgl. zu dieser Verwendung des Sinnbegriffs Maurice Merleau-Ponty: Phnomnologie
35 de la perception. Paris 1945; dt.: Phnomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Franzçsischen
bers. u. eingefhrt durch eine Vorrede von Rudolf Boehm. Berlin 1966.
36 15 In den vorigen Ausfhrungen wurde zwischen der Verwendung der Begriffe ,Absicht‘
37 und ,Wille‘ nicht unterschieden. Eine weitere Differenzierung ist hier jedoch sinnvoll. So kçn-
38 nen ,Absicht‘ und ,Wille‘ etwa in folgender Weise terminologisch voneinander abgegrenzt wer-
den: Whrend die Verwendung von Begriffen des Beabsichtigens auf eine nur momentane
39 handlungsleitende Intentionalitt beschrnkt sein kann, impliziert die Rede von Wollen, Wille
40 usw. eine gewisse zeitliche Permanenz und ist mit intentionalen Anforderungen verbunden,
Soziale Dimensionen der Normativitt 153
1 2. Soziale Normen
2
3 Von handlungskonstitutiven Normen zu unterscheiden sind soziale Normen,
4 die die Ausfhrung bestimmter Handlungen gebieten bzw. verbieten oder sich
5 auf bestimmte Aspekte bereits konstituierter Handlungen, wie beispielsweise
6 auf den Modus eines Handlungsvollzugs, beziehen.20 Handlungskonstitutive
7 Normen betreffen das Was des Handelns, soziale Normen regeln das Wie und
8 Wann bestimmter Handlungen. Bestimmen die ersten den jeweiligen Handlungs-
9 typ, so geht es sozialen Normen um die Angemessenheit des Handelns. Dabei
10 bernehmen sie eine die gesellschaftliche Ordnung stabilisierende Funktion.
11 Die Weise, in der soziale Normen diese Funktion erfllen, grenzt sie zugleich
12 von anderen Formen der Handlungsregulierung ab. Soziale Normen zeichnen
13 sich vor allem dadurch aus, dass diejenigen, die soziale Normen verletzen, mit
14 Sanktionen zu rechnen haben. In dieser Hinsicht unterscheiden sich soziale Nor-
15 men wesentlich von reinen Konventionen oder bloßen Bruchen und Traditio-
16 nen. Im Gegensatz zu institutionellen Normen sind jedoch die Sanktionen, mit
17 denen Sozietten die bertretung sozialer Normen ahnden, nicht durch berpar-
18 teiliche Instanzen abgesichert. Insofern gibt es keine festgelegten Mechanismen,
19 mit denen die Befolgung sozialer Normen durchgesetzt werden kann. Anders
20 als moralische Normen sind soziale Normen schließlich wesentlich von spezifi-
21 schen sozialen, kulturellen und historischen Kontexten abhngig und ihrem im-
22 manenten Verstndnis nach auf Wandlung angelegt. – Die folgenden berlegun-
23 gen versuchen, diese Thesen genauer zu erlutern. Um die Ausfhrungen
24 zugleich auf eine anschaulichere Grundlage zu stellen, sollen insbesondere
25 Handlungen des Begrßens und Verabschiedens als Beispiele herangezogen wer-
26 den.21 Beginnen werde ich mit einer Skizze der handlungskonstitutiven Bedin-
27
gungen von Gruß- und Abschiedsakten, aus der sich im Weiteren ergibt, warum
28
diese Handlungen fr eine Regelung durch soziale Normen besonders sensibel
29
sind (1). Es soll dann gezeigt werden, inwiefern fr Gruß- und Abschiedshand-
30
lungen soziale Normen gelten, und welche spezifische gesellschaftliche Funkti-
31
on sozialen Normen zukommt (2). Abschließend wird der Charakter sozialer
32
33 stimmten Kulturen etabliertes Tun im interkulturellen Kontext Irritation, Befremden oder gar
34 Entsetzen hervorruft.
20 Mitunter kçnnen Modalitten eines Handelns auch handlungskonstitutiv sein. So unter-
35
scheiden sich z. B. Joggen und Walken oder Abfahrt- und Langlaufski durch bestimmte situati-
36 ve und modale Merkmale, die das jeweilige Tun spezifizieren. Die im Folgenden thematischen
37 Normen sind davon zu unterscheiden.
21 Vgl. zum Folgenden ausfhrlich Erving Goffman: Das Individuum im çffentlichen Aus-
38
tausch. Mikrostudien zur çffentlichen Ordnung (1971). Frankfurt a.M. 1974. 111 ff., sowie –
39 insbesondere zum Verabschieden – Manfred Sommer: Sammeln. Ein philosophischer Versuch.
40 Frankfurt a.M. 1999. 252 ff.
Soziale Dimensionen der Normativitt 155
1 diese Weise sinnvoll eingeleitet oder beendet werden soll oder auch nur erinnert
2 werden kann. Dies wre etwa dann der Fall, wenn jemand einen ihm Fremden
3 mit einer Grußformel anspricht, sich aber bei der Erwiderung durch den ande-
4 ren von diesem abwendet, oder wenn eine Person einem ihm unbekannten,
5 rasch vorbeifahrenden Radfahrer Gruß- oder Abschiedsworte zuruft, ohne dass
6 es eine sinnvolle Gelegenheit zu einem minimalen Austausch gibt. Hier wren
7 handlungskonstitutive Anforderungen fr die Ausfhrung von Handlungen des
8 Begrßens oder Verabschiedens nicht erfllt, die selbst bei einer kurzen, von Be-
9 grßung und Verabschiedung umrahmten Begegnung zwischen zwei Passanten
10 in der Einkaufsstraße, ja bei einem flchtigen, mçglicherweise sogar einseitigen
11
Gruß zwischen Bekannten bereits erfllt sind.25
12
(2) Im Rahmen des durch handlungskonstitutive Normen bestimmten Spiel-
13
raums fr Begrßungs- und Verabschiedungshandlungen wird innerhalb einer
14
Gesellschaft je nach sozialer Situation und sozialer Gruppe verschieden begrßt
15
und verabschiedet; vor allem aber unterscheiden sich die Gruß- und Abschieds-
16
formen in verschiedenen Gesellschaften und Kulturen grundlegend.26 Dabei ist
17
die Weise, in der wir einander begrßen oder verabschieden, kein Gegenstand
18
19 25 Wie wenig hierbei erforderlich ist, verdeutlichen die eindrucksvollen Analysen von Goff-
20 man, der zeigt, dass Begrßungsrituale auch dann zustande kommen kçnnen, wenn eine Ant-
21 wort unmçglich ist: „So ist zum Beispiel eine Situation denkbar, in der ein Individuum von
22 hinten an einem anderen vorbeiluft, um ein paar Freunde einzuholen, und ihm der andere ein
Hallo zuruft, wobei Ton und Geste signalisieren, daß der Rufende begriffen hat, daß eine Ant-
23 wort nicht mçglich ist. Eine andere Mçglichkeit ist, daß der Laufende selbst das Ritual mit
24 einem Winken seiner Hand und einer halben Drehung seines Oberkçrpers einleitet, durch sein
25 Weiterlaufen aber offensichtlich daran gehindert ist, die Antwort auf seinen Gruß wahrzuneh-
men.“ (Goffman: Individuum. 121.) Die von Goffman beschriebenen Flle kçnnen aber nur
26 dann als Begrßungshandlungen verstanden werden, wenn die an der jeweiligen Situation Be-
27 teiligten sich zumindest flchtig kennen. Denn im Falle einander gnzlich unbekannter Perso-
28 nen ließe sich kein Bezug auf einen interaktiven Kontext zwischen ihnen – und sei er auch nur
andeutungshaft vorhanden – herstellen. Das ausgefhrte Verhalten verlçre dann seinen Sinn als
29
Zugnglichkeitsritual, das Goffman wie folgt analysiert: „Grße bezeichnen den bergang zu
30 einem Zustand erhçhter, Abschiede den bergang zu einem Zustand verminderter Zugnglich-
31 keit. Es ist deshalb folgende sowohl Begrßungen als auch Abschiede umfassende Definition
mçglich: sie sind rituelle Kundgaben, die einen Wechsel des Zugnglichkeitsgrades markie-
32
ren.“ (Ebd. 118 f.)
33 26 Die irritierende Differenz verschiedener Arten von Begrßung beschreibt Goffman in
34 einem aufschlussreichen, B.L. Irving entnommenen, Beispiel, das ebenso die Verfangenheit in
35 der eigenen Gesellschaft wie das Wissen um die Differenz zum Ausdruck bringt: „Auf Flug-
pltzen zum Beispiel werden Mnner jener sozialen Klasse, bei der es nicht die Sitte des ,gesell-
36 schaftlichen Kusses‘ gibt, hufig unschlssig sein, ob sie eine ankommende Freundin der Fami-
37 lie kssen sollen oder nicht. Wenn sie die erste Mçglichkeit whlen, werden sie mçglicherweise
38 versuchen, die Handlung teilweise zu ironisieren oder einen betont flchtigen Kuß aus einer
grçßeren als der blichen Entfernung zu geben, wobei durch den einen Kçrperteil die Respek-
39 tierung des persçnlichen Raums gewahrt ist, whrend ein anderer Teil sie notwendigerweise
40 außer Kraft setzt.“ (Ebd. 112. Anm.)
Soziale Dimensionen der Normativitt 157
1 unserer beliebigen Wahl. Denn als Rituale der Erçffnung und Beendigung sozia-
2 ler Interaktionen betreffen sie neuralgische Punkte des sozialen Miteinanders.
3 Zum einen geht es in Akten der Begrßung und des Abschieds in je anderer Wei-
4 se um die Anerkennung der anderen als Interaktionspartner. Whrend sich dieje-
5 nigen, die sich zuflligerweise treffen oder auch geplant zusammenkommen, im
6 Gruß freinander çffnen und sich wechselseitig als Partner der mit dem Gruß
7 beginnenden Interaktion anerkennen, haben Abschiede die Funktion, die unver-
8 meidbare Beendigung einer begonnenen Interaktion so zu ermçglichen, dass die
9 in der Begrßung geleistete Anerkennung nicht mit dem Ende der Begegnung
10 wieder zurckgenommen wird; der Abschied muss daher so gestaltet werden,
11 dass die Mçglichkeit knftiger Interaktion prinzipiell gewahrt bleibt. Trotz der
12 bevorstehenden Trennung bleibt daher im Abschied der andere mçglicher Inter-
13 aktionspartner knftiger – gewisser, aber auch ungewisser, ja sogar unwahr-
14 scheinlicher – Begegnungen. Zum anderen sind Begrßungs- und Abschiedsri-
15 tuale so zu vollziehen, dass sie dabei zugleich die gesellschaftlichen Hierarchien
16 und Rollen bewahren.
17 Die wesentliche Funktion von Begrßungen und Abschieden betrifft dem-
18 nach die gesellschaftliche Ordnung in grundlegender Weise. Aus diesem Grunde
19 sind Sozietten fr Gruß und Abschied besonders sensibel. Verletzungen der An-
20 erkennung und der mit der jeweiligen gesellschaftlichen Stellung und Rolle ver-
21 bundenen sozialen Hierarchie haben eine die jeweilige Gesellschaft destabilisie-
22 rende Wirkung. Sie rhren geradezu an Tabus bestehender sozialer Ordnungen
23 und mssen von einer Gesellschaft entschieden zurckgewiesen werden. Begr-
24 ßungen bzw. Verabschiedungen haben daher in einer Gesellschaft oder gesell-
25 schaftlichen Gruppe bzw. in einem bestimmten Kontext in einer Weise zu erfol-
26 gen, durch die die soziale Ordnung nicht gefhrdet wird. Dementsprechende
27 Forderungen sind Inhalt sozialer Normen. Sie sind dabei mehr oder weniger
28 strikt. Immer gilt jedoch, dass es zwischen einer angemessenen und einer unange-
29 messenen Begrßung entscheidende Unterschiede gibt; dies gehçrt wesentlich
30 zur normativen Struktur von Begrßungshandlungen. Gleiches gilt fr das Ab-
31 schiednehmen. Werden z. B. Gruß- oder Abschiedsworte mit vollem Mund ge-
32 sprochen, handelt es sich zwar um identifizierbare Gruß- bzw. Abschiedshand-
33 lungen; insofern sie jedoch nicht die fr Begrßen und Verabschieden geforderte
34 gesellschaftliche Anerkennung leisten, verletzen sie eine soziale Norm. Und
35 mag unter Freunden oder Arbeitskollegen auch ein flchtiges „Hallo“ oder
36 „Tschss“ als Gruß- oder Abschiedsritual passen; im Kontext formal geregelter
37 sozialer Begegnungen zwischen Personen mit unterschiedlicher Rolle bzw. ge-
38 sellschaftlicher Stellung, wie zwischen Richter und Angeklagtem vor Gericht,
39 einem hochrangigen Politiker und einem einfachen Brger usw., wren solche
40 Sprechhandlungen ein Fauxpas.
158 Karl Mertens
1 Handlungen wie das Begrßen unterliegen dabei nicht nur der normativen
2 Bewertung hinsichtlich der Frage, ob sie in der angemessenen Weise, d. h. in der
3 gesellschaftlich jeweils geforderten Weise, ausgefhrt werden. Hinzu kommen
4 auch situative Erfordernisse, die bestimmen, wann eine solche Handlung zu voll-
5 ziehen ist. Anders als bei einer Handlung wie dem oben erwhnten Singen oder
6 Klavierspielen kann es hier auch ein Unterlassen geben, d. h. eine nicht erfolgen-
7 de, aber geforderte Begrßungs- oder Verabschiedungshandlung. Insbesondere
8 dieser letzte Umstand ist fr die Bestimmung des normativen Charakters, mit
9 dem wir es dabei zu tun haben, aufschlussreich. Denn offenbar sollen wir in be-
10 stimmten Situationen – in der Regel zu Beginn und am Ende einer personalen
11 Interaktion – einander begrßen und voneinander Abschied nehmen.
12 Soziale Normen sind demnach gesellschaftsstabilisierende Normen, die
13 Handlungen einer bestimmten Art erwartbar machen. Der Soziologe Heinrich
14 Popitz hat soziale Normen mit Hilfe von vier miteinander verknpften zentra-
15 len Merkmalen gekennzeichnet.27 Danach legen soziale Normen erstens ein zu-
16 knftig erwartbares Verhalten fest; dieses weist zweitens bestimmte typische Ver-
17 haltensregelmßigkeiten auf. Das erwartbare Verhalten ist darber hinaus
18 drittens als erwnschtes (oder im Falle der Abweichung als unerwnschtes) aus-
19 gezeichnet. Auf Grund dieser drei Bestimmungen ermçglicht sozial normiertes
20 Verhalten Orientierung im Kontext einer gesellschaftlichen Praxis. Es erzeugt
21 soziale Konformitt, die von Handelnden wechselseitig in Rechnung gestellt
22 werden kann.28 Soziale Normen haben demnach eine fr das soziale Handeln
23 wichtige funktionale Bedeutung, insofern sie Handelnden die Mçglichkeit ver-
24 schaffen, sich am knftigen Handeln anderer auszurichten. Soziale Normen die-
25 nen der Herstellung von Verlsslichkeit und Vertrauen in Bezug auf die gesell-
26 schaftliche Ordnung. Sie versuchen sicherzustellen, dass das erwartete und
27 erwnschte Handeln anderer auch tatschlich erfolgt. Denn nur bei einer grund-
28 stzlichen Erwartbarkeit von sozialen Interaktionen einer bestimmten Art ist
29 ein gesellschaftliches Agieren mçglich. Ohne die Erwartbarkeit bestimmter
30 Handlungen wre eine Gesellschaft, wie Popitz es formuliert, „eine schlangeste-
31 hende Gesellschaft“. Erluternd bemerkt er dazu: „Wenn niemand wagt, sich
32 auf Hypothesen zu verlassen ber das, was der andere tun wird, dann mssen
33 alle ihre Aktivitten so lange stornieren, bis der jeweilige Vordermann seinen
34
35
36
27 Heinrich Popitz: Soziale Normen. Hrsg. von Friedrich Pohlmann und Wolfgang Eß-
37
38 bach. Frankfurt a.M. 2006. 76 ff. Zu einem fnften Merkmal vgl. Anm. 35 dieses Artikels.
28 Vgl. hierzu auch Seumas Miller: Social norms. In: Ghita Holmstrçm-Hintikka, Raimo
39 Tuomela (Hg.): Contemporary action theory. Vol. 2: Social action. Dordrecht 1997. 211 – 227.
40 211.
Soziale Dimensionen der Normativitt 159
1 Part gespielt hat. Offensichtlich wre dies eine außerordentlich langsame Gesell-
2 schaft.“29
3 Der normative Charakter sozialer Normen zeigt sich jedoch vor allem im
4 vierten Merkmal, das Popitz herausarbeitet: Sozial normiertes Verhalten ist nm-
5 lich mit einem Sanktionsrisiko verbunden. Ein Abweichen von der Norm trifft
6 auf die Sanktionsbereitschaft der anderen Interaktionspartner, wobei die For-
7 men der Sanktion sehr verschieden sein kçnnen; sie reichen vom bloßen Tadel
8 bis zur massiven Bestrafung. Sanktionen sichern dabei die Verlsslichkeit des er-
9 warteten Verhaltens und verhindern die Gefhrdung der gesellschaftlichen Ord-
10 nung durch abweichendes Verhalten. Den sozialen Normen entspricht auf der
11 Seite der Handelnden ein Gefhl fr die Verpflichtung zu Handlungen einer be-
12 stimmten Art bzw. – und zumeist – fr ein Verbot von Handlungen, die mit der
13 jeweiligen sozialen Norm unvereinbar sind.30 Insbesondere dieses vierte Merk-
14 mal verdeutlicht den Handlungscharakter des in Frage stehenden Verhaltens.
15 Denn insofern ein Verhalten als gesolltes gefordert oder als nicht gesolltes sank-
16 tioniert wird, wird es als ein Akteuren zurechenbares Tun verstanden.31
17 Begrßen und Abschiednehmen mssen demnach in mehrfacher Hinsicht
18 normativen Bedingungen entsprechen: handlungskonstitutiven Normen fr die
19 sozialen Akte von Begrßung und Abschied und sozialen Normen, die sich ei-
20 nerseits auf den Modus des jeweiligen Handelns beziehen und die andererseits
21 festlegen, in welchen Situationen eine Begrßung bzw. ein Abschied zu erfolgen
22 hat. Wie die handlungskonstitutiven Regeln so werden auch die Normen, denen
23 gemß Begrßung und Abschied angemessen zu vollziehen sind, in sozialen
24 Kommunikationssituationen erlernt. So bringen in der Regel zunchst Eltern ih-
25 ren Kindern nicht nur bei, was es heißt, jemanden und einander zu begrßen
26 bzw. sich voneinander zu verabschieden, sondern auch, in welchen Situationen
27 solche Handlungen gefordert sind und wie sie den sozialen Normen entspre-
28
chend ausgefhrt werden mssen. In allen Hinsichten lassen sich Fehler ma-
29
30 29 Popitz: Soziale Normen. 77.
31 30 Vgl. zu diesem letzten Aspekt Miller: Social Norms. 211.
31 Auch wenn die Wirkweise sozialer Normen insbesondere dort erfahrbar wird, wo ein der
32
Norm zuwiderlaufendes Verhalten zurckgewiesen wird, lassen sich verlssliche Erwartungen
33 unter Handelnden auch durch positive Besttigung und Verstrkung erzeugen. In diesem Zu-
34 sammenhang hat Goffman etwa auf die Bedeutung von „Belohnungen fr exemplarische Re-
35 gelbefolgungen“ hingewiesen, also von Handlungen, die in ausgezeichneter Weise einer sozia-
len Norm entsprechen. In seiner Definition sozialer Normen spricht Goffman diesen
36 doppelten Aspekt des Sanktionsbegriffes an, wenn es heißt: „Eine soziale Norm ist eine durch
37 soziale Sanktionen abgesttzte Richtschnur des Handelns, wobei die Sanktionen entweder ne-
38 gative Sanktionen sind, die Bestrafungen fr Regelverletzungen beinhalten, oder positive, die
Belohnungen fr exemplarische Regelbefolgungen zum Inhalt haben.“ (Goffman: Individu-
39 um. 138.) Im Zusammenhang des vorliegenden Artikels wird insbesondere die Bedeutung nega-
40 tiver Sanktionen herausgestellt.
160 Karl Mertens
1 chen, die beim Erlernen des Begrßens und Verabschiedens korrigiert werden.
2 Abweichungen werden auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlicher
3 Strke sanktioniert, indem sie kritisiert, missbilligt, getadelt oder bestraft wer-
4 den. Wie tief dabei soziale Normen im sozialen Bewusstsein verankert sind,
5 zeigt sich nicht zuletzt daran, dass mehr oder weniger starke Sanktionen eines
6 Fehlverhaltens auch bereits dann erfolgen kçnnen, wenn Handelnde, die gegen
7 die entsprechenden Normen verstoßen, mit den jeweiligen Normen noch nicht
8 oder zumindest noch nicht hinreichend vertraut sind.
9 (3) In ihrer gesellschaftsstabilisierenden Funktion bernehmen soziale Nor-
10 men rational rekonstruierbare Aufgaben. Allerdings ist dies nur eine einseitige
11 Deutung sozialer Normen. Denn soziale Normen kçnnen, wie Jon Elster am
12 Beispiel der Blutrache gezeigt hat, Forderungen zum Inhalt haben, die sich mit
13 Blick auf ein individuelles, soziales oder genetisches Ziel nicht rational rekon-
14 struieren lassen.32 Soziale Normen sind insofern von bloßen Konventionen zu
15 unterscheiden, die rationale Lçsungen fr Koordinationsprobleme bieten.33 So
16 kann sich, um ein Beispiel von David Lewis aufzugreifen, in einer Soziett die
17 Konvention herausbilden, dass bei einer unerwarteten Unterbrechung eines Tele-
18 fonats der Anrufer die Initiative des Rckrufs bernimmt, der Angerufene hinge-
19 gen wartet.34 Whrend jedoch Konventionen allein unter der Perspektive gelin-
20 gender knftiger Koordination beurteilt werden, grndet der Wert sozialer
21 Normen darauf, dass sich die entsprechenden Regeln in der Vergangenheit einer
22 bestimmten Gesellschaft entwickelt haben. In dieser Hinsicht lassen sich soziale
23 Normen aber nicht nur nach rationalen oder gar zweckrationalen Kriterien be-
24 werten.35
25 Soziale Normen verdanken ihre Geltung und ihren Wert wesentlich ihrem
26 Vergangenheitsbezug. Darin hneln sie Bruchen und Traditionen. Sie unter-
27
scheiden sich jedoch von bloßen Bruchen und Traditionen ebenso wie von rei-
28
nen Konventionen dadurch, dass Handelnde, die von einer sozialen Norm ab-
29
weichen, mit unterschiedlich starken Formen von Sanktionen rechnen mssen.
30
Wer eine Konvention wie die oben erwhnte Regelung des Rckrufs verletzt
31
oder wer z. B. bei der Kombination oder Reihenfolge von Speisen gegen landes-
32
33 32 Jon Elster: Norms of revenge. In: Ethics 100 (1990). 862 – 885.
34 33 Vgl. zu dieser Auffassung von Konventionen David Lewis: Convention. A philosophical
35 study (1969). Oxford 2002; dt.: Konventionen. Eine sprachphilosophische Abhandlung. Berlin
1975.
36 34 Vgl. Lewis: Convention. 5, 11 f., 43 f.; dt.: 5, 11 f., 44 f.
35 Heinrich Popitz nennt die Tradierbarkeit als fnftes Kennzeichen sozialer Normen: „So-
37
38 ziale Normen sind tradierbar. Jede Erziehung hat das Ziel, bestimmte Normeninhalte von ei-
ner Generation auf die andere weiterzugeben. Das gelingt oft hçchst mangelhaft. Daß es aber
39 gelingen kann und wohl nie vollkommen mißlingt, ist eine Bedingung der Mçglichkeit jeder
40 Kontinuitt sozialer Lebensformen und Verhaltensmaßstbe.“ (Popitz: Soziale Normen. 73.)
Soziale Dimensionen der Normativitt 161
1 bliche Sitten verstçßt, mag belehrt und korrigiert werden. Er wird dafr jedoch
2 keine soziale Missbilligung erfahren. Auch fr Begrßung und Abschied gibt es
3 diesseits ihrer sozialen Normiertheit blichkeiten, Sitten und Traditionen, die
4 kein Gegenstand mçglicher Sanktionen sind.36 Wer hingegen einer sozialen
5 Norm nicht entspricht, wird nicht nur korrigiert und daran erinnert, wie er in
6 der richtigen Weise zu handeln hat; sein Verhalten wird vielmehr missbilligt, er
7 wird mehr oder weniger offen getadelt oder stçßt sogar auf soziale Ablehnung.
8 So werden beispielsweise Verhaltensweisen beim Essen oder Begrßen sanktio-
9 niert, in denen unverhohlen die Geringschtzung, sei es der dargereichten Spei-
10 sen und damit indirekt auch des Gastgebers, sei es der Interaktionspartner, zum
11 Ausdruck gebracht wird. – Faktisch mçgen dabei die Grenzen zwischen Kon-
12
ventionen, Bruchen und sozialen Normen fließend sein; berdies kçnnen Kon-
13
ventionen zu Bruchen und Traditionen zu sozialen Normen sowie umgekehrt
14
soziale Normen zu bloßen Sitten und blichkeiten werden. Es ist jedoch sinn-
15
voll, zwischen bloßen Bruchen und Traditionen einerseits sowie sozialen Nor-
16
men andererseits phnomenal und begrifflich genau zu differenzieren. Denn
17
zum normativen Charakter sozialer Normen gehçrt es, dass diejenigen, die ge-
18
gen sie verstoßen, mit gesellschaftlichen Sanktionen zu rechnen haben.37
19
Mit den unterschiedlichen sozialen Rollen, die Handelnde einnehmen, sind
20
verschiedene, mit sozialen Normen verknpfte Rollenerwartungen verbunden.
21
Von Ehepartnern, Eltern, Freunden, Geschftspartnern oder politischen Repr-
22
23
sentanten erwarten wir, dass sie sich ihrer Rolle entsprechend verhalten. Abwei-
24 chungen oder gar Nichterfllungen solcher Rollenerwartungen wrden gesell-
25 schaftlich missbilligt und getadelt. Da wir in der Regel viele soziale Rollen
26 einnehmen, kçnnen sich die mit diesen Rollen verbundenen sozialen Normen
27 berlappen. Dies zeigt sich etwa bei den gestuften Formen des Abschieds, die
28 wir praktizieren, wenn wir uns zunchst von einem uns kaum bekannten Gastge-
29 ber auf einem offiziellen Empfang verabschieden und anschließend, auf dem
30 Heimweg, von Freunden und engen Vertrauten, mit denen wir an dem Treffen
31
36 So kçnnen beispielsweise Unsicherheiten, wie sie in der in Anm. 26 erwhnten Begr-
32
ßungssituation skizziert werden, bei entsprechender Unkenntnis zu echten Fehlleistungen fh-
33 ren, die in der Regel korrigiert werden, ohne dass die fehlerhaft Handelnden deshalb mit Sank-
34 tionen rechnen mssen.
37 Nach Popitz ist das Sanktionsrisiko konstitutiv fr Normen und unterscheidet diese
35
etwa von bloßen Bruchen: „Die Geltung von Normen kann offenbar nicht einfach mit erwar-
36 teten Verhaltensregelmßigkeiten aller Art gleichgesetzt werden. Es gibt viele erwartete Regel-
37 mßigkeiten – z. B. den Brauch, zu bestimmter Zeit zu Mittag zu essen –, die keineswegs den
38 Charakter der Verbindlichkeit haben. Man kann es ohne weiteres auch anders machen. Von der
Geltung einer Norm wollen wir erst dann sprechen, wenn ein Abweichen von solchen erwarte-
39 ten Regelmßigkeiten Sanktionen gegen den Abweicher auslçst, etwa demonstrative Mißbilli-
40 gung, Repressalien, Diskriminierung, Strafen.“ (Popitz: Soziale Normen. 69.)
162 Karl Mertens
1 teilgenommen haben. Die Weise des Verabschiedens ist hier eine je andere; eine
2 Verwechslung der Abschiedsformen – der allzu kumpelhafte Abschied von dem
3 uns nahezu unbekannten Gastgeber ebenso wie der sehr fçrmliche Abschied
4 von einem guten Freund – wre in beiden Fllen peinlich und wrde offen oder
5 versteckt getadelt. Dort, wo sich die normativ aufgeladenen Rollenerwartungen
6 zeitlich und rumlich nicht trennen lassen, kommt es immer wieder zu Konflik-
7 ten – etwa wenn die Mutter bzw. der Vater ein heikles berufliches Telefonat
8 fhrt, das sich bei der Heimkehr der kleinen Tochter nicht unterbrechen lsst,
9 und das Kind, das mit den in solchen Situationen mçglichen und blichen For-
10 men gestischer Andeutung noch nicht vertraut ist, deutliches Missfallen ber sei-
11 ne enttuschte Erwartung auf eine angemessene elterliche Begrßung ußert.
12 Die mit solchen Situationen verbundenen Normenkonflikte sind auf Grund der
13
Pluralitt der sozialen Rollen, die Handelnde in einer Gesellschaft einnehmen,
14
nach Popitz in der Struktur sozialer Ordnungen grundstzlich angelegt.38 Sie
15
sind unvermeidbar und letztlich auch unentscheidbar, da die Gewichtung der
16
verschiedenen sozialen Normen – trotz ihrer Internalisierung und Habitualisie-
17
rung39 – bei sozialen Akteuren individuell sehr unterschiedlich ausfallen kann.
18
Was sozialen Normen in diesem Zusammenhang fehlt, ist eine Instanz, die
19
ihre Einhaltung gegenber konkurrierenden normativen Forderungen durchzu-
20
setzen vermag. Erst durch die Institutionalisierung normativer Forderungen
21
werden Normen von individuellen Gewichtungen entkoppelt und berindividu-
22
elle normative Regelungen getroffen, die von bestimmten Instanzen eingefor-
23
24
dert werden kçnnen. Im institutionellen Kontext, insbesondere im Recht, lassen
25
sich daher – anders als im Bereich sozialer Normen – normative Entscheidungen
26 treffen und erzwingen.40 So gibt es z. B. im Kontext der Organisation offizieller
27 Treffen feste Begrßungs- und Abschiedsrituale, die zugleich den zeitlichen Rah-
28 men fr bestimmte Interaktionen festlegen. Mag auch nach offizieller Beendi-
29 gung eines Treffens noch so mancher persçnliche Abschied genommen werden,
30 mit dem offiziellen Beschluss der Sitzung durch die Verabschiedung der Leiterin
31 oder des Leiters erlischt die Mçglichkeit, etwas im offiziellen Kontext zur Spra-
32 che zu bringen oder gar zu beschließen. Entsprechende Absichten mssen dann,
33 sofern es sich um ein regelmßig zusammenkommendes Gremium handelt, auf
34
35
38 Ebd. 68.
39 Ebd. 73 f.
36 40 Dafr mssen sich, um noch einmal auf Popitz zu verweisen, „Autoritten […], die die
1 die nchste Sitzung vertagt werden. Ein Zuwiderhandeln – etwa der Versuch, im
2 Nachhinein nicht im offiziellen Rahmen Besprochenes als Teil der Sitzung (etwa
3 im Protokoll) aufzunehmen – wird hier nicht nur missbilligt, sondern im Rah-
4 men der institutionell verfgbaren Mechanismen verhindert oder aber bei beson-
5 ders gravierenden Verstçßen, die sich nicht innerhalb der Institution lçsen las-
6 sen, durch juristische Schritte geahndet.
7 Soziale Normen sind – wie alle bisher genannten sozialen Verbindlichkeiten
8 (von den Konventionen bis zu den institutionellen Normen) – auf eine bestimm-
9 te soziale, kulturelle und historische Situation bezogen. Darin unterscheiden sie
10 sich schließlich von moralischen Normen, die – zumindest gemß der Standard-
11
auffassung – eine grundstzliche Unabhngigkeit von sozialen, kulturellen und
12
historischen Kontexten implizieren. Moralische Normen erheben ihrem Selbst-
13
verstndnis nach Anspruch auf universale Geltung.41 Zum Adressatenkreis mora-
14
lischer Normen gehçren prinzipiell alle Menschen. Soziale Normen sind hinge-
15
gen wesentlich auf eine bestimmte Soziett bezogen. Sie gelten gemß ihrem
16
eigenen Anspruch nicht immer und berall, sondern nur fr eine bestimmte Ge-
17
sellschaft. Auf Grund ihrer kontextuellen Bedingungen gehçrt es zum Sinn so-
18
zialer Normen, dass sie ihren Charakter wandeln und ihre Geltung verlieren
19
20
kçnnen. – Diese Differenz spiegelt sich auch im Bewusstsein der Akteure: Han-
21
delnde, die eine Norm als moralische befolgen, tun dies, insofern sie dem Gel-
22 tungsanspruch der Norm ihre innere Zustimmung erteilen.42 Demgegenber
23 kann eine soziale Norm als soziale auch dann befolgt werden, wenn diejenigen,
24 die ihr Folge leisten, den mit ihr verbundenen Geltungsanspruch nicht innerlich
25 anerkennen. Treten ußere Normbefolgung und innere Zustimmung zuneh-
26 mend und dauerhaft auseinander, wird auch die Bereitschaft gelockert und
27 schließlich sogar ganz aufgelçst, normabweichende Handlungen entsprechend
28 zu sanktionieren. Soziale Normen verlieren dann ihre frhere soziale Wirksam-
29 keit. Popitz beschreibt die Dynamik solcher Auflçsungsprozesse wie folgt: „Ab-
30 weichungen werden – zunchst zçgernd – hingenommen, lçsen immer seltener
31 Sanktionen aus, bis sie nach einem bergangsstadium der Unsicherheit schließ-
32 lich freigegeben werden. (Anschauliche Beispiele fr diesen Prozeß der ,Freiga-
33 be‘ ehemals normativ gebundener Verhaltensformen bieten die sogenannten
34 Emanzipationsbewegungen, wie die Emanzipation der Frauen, bestimmter Sozi-
35 alschichten, Volksgruppen und Vçlker.)“43
36
41 Vgl. dazu John L. Mackie: Ethics. Inventing right and wrong. Harmondsworth 1977.
37
38 Chapter 4.
42 Natrlich kçnnen moralische Normen auch bloß ußerlich befolgt werden. In diesem
39 Falle aber wrden sie nicht als moralische Normen befolgt.
40 43 Popitz: Soziale Normen. 72.
164 Karl Mertens
1 Man mag sich bei der Lektre Patočkas darber wundern, dass sich auch in
2 Herzstcken von Texten akademischer und philosophiehistorischer Bestim-
3 mung, wie z. B. in seiner Habilitationsschrift von 1936, Natrliche Welt als philo-
4 sophisches Problem, einerseits oder in den Arbeiten zur Geschichte der Philoso-
5 phie (Platon, Sokrates, Comenius usw.) andererseits, die Idee einer befreienden
6 „Transzendenzbewegung“ des Geistes wiederfindet, die man aus dem „engagier-
7 ten“ Teil seines Werks, d. h. besonders aus seinen Essais zur Existenz, Geschich-
8 te und Politik kennt. Ich denke diesbezglich vor allem – aber nicht nur – an die
9 Ketzerischen Essais zur Philosophie der Geschichte von 1975 oder an die Vorle-
10 sungen ber Plato und Europa von 1973 sowie an frhere Essais aus den dreißi-
11 ger Jahren, die, zum Teil auch in den Bnden der Ausgewhlten Schriften oder
12 gesondert publiziert, seit etwa zwanzig Jahren in franzçsischer und deutscher
13
Sprache (unlngst auch in tschechischer Sprache) zugnglich sind.3
14
Diese beiden Diskurse weisen auf Husserl hin, den Vertreter der Philosophie
15
als strenger Wissenschaft, der jedoch zugleich auch Inspirator fr das Denken
16
der existentiellen Erneuerung war.4 Es kommt durchaus nicht selten vor, dass
17
sich beide Denkstile in einem Text verbinden. Davon zeugt beispielsweise ein
18
fr den IX. Internationalen Kongress fr Philosophie in Paris im Jahre 1937 ver-
19
fasster Vortrag. In diesem Text mit dem Titel ,Gibt es einen definitiven, letztgl-
20
tigen Kanon des philosophischen Lebens?‘ entwirft Patočka eine persçnliche Re-
21
flexion darber, was ein einzelnes Leben zu einem philosophischen Leben
22
macht. Dabei weist er mit Nachdruck auf die Umwandlung hin, durch die die
23
24
Philosophie eigentlich Philosophie wird, die Umwandlung, die den ganzen Men-
25
schen betrifft, jenseits des Bereichs der Theorien, und die deshalb dazu fhig ist,
26 seine Lebensweise neu zu gestalten. Kurz: Wir haben es hier mit einer Wende zu
27 einem „Leben in Wahrheit“ zu tun, um diese klassische Figur zu verwenden, die
28 bei Patočka ohne Zweifel auf Plato und Husserl zurckgeht, allerdings oftmals
29 ausdrcklich antiplatonisch, im Sinne des Denkens der Endlichkeit mit Nietz-
30 sche und Heidegger, modifiziert gestaltet wird.
31 In seinem Text fr den Kongress von 1937 wird auf die Frage, ob es einen
32 definitiven, letztgltigen, fest definierten Kanon des philosophischen Lebens ge-
33 ben kann, der gleichsam der Kanon des wahren Lebens wre, eine negative Ant-
34
3 Jan Patočka: Ketzerische Essais zur Philosophie der Geschichte und ergnzende Schrif-
35
ten. Hrsg. von K. Nellen und J. Němec. Stuttgart 1988. Ders.: Platn a Evropa. Ders.: Kunst
36 und Zeit. Hrsg. von K. Nellen und J. Němec. Stuttgart 1987. Ders.: Schriften zur tschechischen
37 Kultur und Geschichte. Hrsg. von K. Nellen, P. Pithart und M. Pojar. Stuttgart 1992, oder
38 Ders.: Andere Wege in die Moderne. Hrsg. von L. Hagedorn. Wrzburg 2006.
4 Der junge Patočka zitiert im Jahre 1933 einen der Kaizo-Aufstze Edmund Husserls: Die
39 Idee einer philosophischen Kultur. In: Japanisch-deutsche Zeitschrift fr Wissenschaft und
40 Technik 1 (1923). 45 – 51.
Die Genese einer Hresie 167
1 wort gegeben – mit dem Hinweis auf die wesentliche Unabschließbarkeit des
2 philosophischen Suchens. Zugleich fasst er aber in diesem kurzen Entwurf – und
3 deswegen habe ich diesen Text herangezogen – seine Idee der Freiheit zusam-
4 men, die er hier als eine Umkehr des Geistes, als geistige Konversion bezeichnet,
5 was Zeit seines Lebens fr seine eigenen Gedanken ber die Welt, die Existenz,
6 die Geschichte und Politik wesentlich und in diesem Sinne „kanonisch“ wurde
7 und blieb. Ich mçchte nun zeigen, dass diese Idee schon in ihren ersten Ausfh-
8 rungen die Zeichen der „Hresie“ oder der „sokratischen“ Dissidenz in sich
9 trgt.5
10 Was die Umwandlung des Geistes charakterisiert, die in der Philosophie als
11 deren konstitutiver Akt am Werk ist, ist eine neue Stellungnahme zu den Dingen
12 bzw. zu unserer blichen Art und Weise, die Dinge aufzufassen. Es handelt sich
13 um „eine Bewegung sowohl des Willens als auch des Denkens, die sich wesent-
14 lich – aber nie auf eine abstrakte Weise – auf das Geheimnis der Dinge konzen-
15 triert“.6 Das Wissen bleibt das wesentliche Merkmal der philosophischen Um-
16 wandlung, das sie von der religiçsen, moralischen und anderen Umwandlungen
17 unterscheidet, und zwar auf folgende Weise: „Die Konversion […] impliziert
18 ein solches Wissen, das es erlaubt, sich ber die Totalitt des Wirklichen zu erhe-
19 ben, diese zu transzendieren.“7 Nun wird dieser Begriff der Transzendenz noch
20 durch eine Bemerkung przisiert, die mir wichtig erscheint: „Die neue Position,
21 die dadurch gewonnen ist, zeigt sich ex post als durch die Evidenz gewisser Grn-
22 de rechtfertigt, die jedoch nur durch die durchzogene Konversion selbst erst ge-
23 wonnen werden konnten.“8 Daher rhrt – so meine ich – das hretische oder
24 dissidente Moment der Philosophie im authentischen Sinne, so wie sie Patočka
25 auf seinem philosophischen Denkweg zu begreifen und praktizieren versucht
26 hat. Das bedeutet, dass das, was sich selbst in der so gesehen authentischen Philo-
27 sophie abspielt, nicht eine vereinheitlichte Bewegung darstellt; die Brche sind
28
fr die Entstehung der philosophischen Stellungnahme wesentlicher als das Be-
29
30 5 Ich rekurriere hier auf meine frheren Arbeiten, besonders auf Karel Novotný: La gen-
31 se d’une hrsie. Monde, corps et histoire dans la pense de Jan Patočka. Paris 2012. 169 – 180.
Ich danke Herrn Lukas Held fr die deutsche bersetzung dieses Textstckes, das ich fr den
32
Zweck des vorliegenden Beitrags modifiziert und erweitert habe.
33 6 Jan Patočka: Existe-t-il un canon dfinitif de la vie philosophique? In: Travaux du IXe
34 Congrs international de philosophie (Congrs Descartes, Paris 1 – 6/8/1937). Bd. 10. Paris
35 1937. 186 – 189. 188. „un mouvement la fois de volont et de pense, dont l’essentiel consiste
se concentrer – mais jamais d’une manire abstraite – sur le secret des choses“.
36 7 Jan Patočka: Existe-t-il un canon. 188: „
tant plus qu’un savoir, la conversion implique
37 pourtant un savoir, mais un savoir qui n’est jamais particulier, qui permet de s’lever au-dessus
38 de la totalit du rel, de la transcender.“
8 Jan Patočka: Existe-t-il un canon. 188: „La position nouvelle qu’on acquiert ainsi appara-
39 t, aprs coup, justifie par l’vidence de certaines raisons, mais on n’a pu acqurir ces raisons
40 qu’en oprant la conversion elle-mÞme.“
168 Karel Novotný
1 kenntnis zu den Meistern, ihren Lehren und Methoden. Auch fr Patočka ist
2 also die Philosophie nicht einfach die Umsetzung einer Geistesfhigkeit unter
3 anderen; die wahre philosophische Tathandlung erfordert eine Umkehr, inso-
4 fern sie zu bersteigen hat, was schon da ist – und was wir unwiderstehlich und
5 selbstverstndlich als wahre und einheitliche Wirklichkeit vorfinden.
6
7
8 I. Die Hresien der radikalisierten Epoch – ein Exkurs in die
9 phnomenologische Metaphysik Jan Patočkas
10
11 Die „dissidente“ Dimension bei Husserl, die Patočka mit ihm teilt, besteht in
12 dem Gedanken der Epoch: die Enthaltung vom Gebrauch des Wissens von der
13 objektiven Welt und auch die „Ausschaltung“ der damit verbundenen bestimm-
14 ten Setzung des Seins der Welt als solcher. Der Philosoph kann keine neue Ein-
15 stellung zur Welt annehmen, keine kritische Entdeckung gegenber der gewçhn-
16 lichen Art und Weise machen, die Dinge wahrzunehmen, wenn es ihm nicht
17 gelingt, sich von der „natrlichen“, naiven Einstellung zu befreien oder zu dis-
18 tanzieren, die uns das Sein der Welt so, wie sie sich darstellt, glauben macht. In
19 seiner Habilitationsschrift von 1936, dem Werk, in dem er Husserl am nchsten
20 steht, stellt Patočka diesen problematischen Charakter des Seins der Welt heraus
21 durch den Verweis auf die Situation des modernen Menschen in einer verdoppel-
22 ten Welt. Um herauszufinden, was in Wahrheit ist – eine Frage, die sich etwa
23 dann stellt, wenn wir von einer Krise befallen werden, wenn wir uns der Spal-
24 tung zwischen dem subjektiven Erlebnis der Lebenswelt und den angeblichen
25 Tatsachen des objektiven Wissens bewusst werden, den natrlichen Glauben ver-
26 lieren –, haben wir die Mçglichkeit, nicht in die gewohnten oder gelufigen Ver-
27 stehensmodelle zurckzufallen, sondern ihnen gerade zu widerstehen, uns in ei-
28 ner Schwebe zu halten, die sich uns in der Krise erçffnet, wobei die Realisierung
29 dieser Mçglichkeit, dieser Freiheit einen effort von uns verlangt. Dieser Wider-
30 stand erfordert eine Geistesanstrengung: Es geht nicht nur darum, dem „konstru-
31 ierten“ Wesen der Gegenstnde, den substruierten Objektivierungen, die die ge-
32 lebte Welt „bedecken“, die Stirn zu bieten, sondern darum, uns zu distanzieren,
33 unseren Seinsglauben an das Gegebene im Allgemeinen auszuschalten. Die Welt
34 in all ihrer Komplexitt, die man in der Epoch als Akt des philosophischen
35 Blicks freilich nicht aus den Augen verliert, wird durch diesen Akt selbst zu ei-
36 nem Phnomen, das, so Husserl, als solches, in seiner Selbstgegebenheit fr eine
37 transzendentale Subjektivitt untersucht werden kann, gebunden durch ein sozu-
38 sagen „persçnliches“ Band an das Bewusstsein des die Epoch vollziehenden
39 Menschen, der dadurch allerdings entmundanisiert und insofern auch ent-
40 menschlicht wird. Als ein solcher Beobachter kann er das derart gegebene Phno-
Die Genese einer Hresie 169
1 men so deuten, dass er es auf das passive und aktive Leben dieser transzendenta-
2 len Subjektivitt „reduziert“ und „zurckfhrt“, die er in sich erlebt und daher
3 auch in den Blick nehmen kann. Patočka zçgert nicht, sich diesem Problem zu
4 stellen, die idealistischen und spekulativen Implikationen und Konsequenzen
5 der klassischen Positionen in seiner Habilitationsschrift und anderen frhen
6 Schriften kritisch aufzunehmen, um in seinen spteren eigenen Anstzen nach
7 anderen Lçsungen zu suchen. Mit der Dissidenz des aus dem Seinsglauben zu-
8 rckgezogenen Beobachters der transzendentalen Weltkonstitution wird Patoǩ-
9 ka auch in seinen spteren Werken nie abschließen kçnnen, obwohl sie fr die
10 alternativen zeitgençssischen Philosophen eine schwer hinnehmbare Operation
11 darstellte.
12 Von seinen spteren Anstzen zur Radikalisierung der Epoch ist zunchst
13
einmal das bekannt, was er auch selbst im Ausland, also vor allem in Deutsch-
14
land, çffentlich vorgetragen und publiziert hat,9 die sog. „a-subjektive“ Phno-
15
menologie, deren Entwurf er zu Beginn der 1970er Jahre auf folgende Weise for-
16
muliert: Dank der Radikalisierung der Epoch vermag die Welt als ein
17
Phnomen erscheinen, das in sich keinen Hinweis auf die Leistung irgendeines
18
Subjekts enthlt, so dass die Deutung als unphnomenologisch abgewiesen
19
wird, das Erscheinen der Welt auf die Aktivitten und Passivitten der transzen-
20
dentalen (oder gar weltlichen) Subjektivitt zurckzufhren. Es ist ein Ansatz
21
der transzendentalen Phnomenologie, der auf der Epoch ohne Reduktion (im
22
Sinne von: ohne die Rckfhrung der Gegebenheit auf die Sinngebung durch
23
24
das Bewusstsein) insistiert. Diesen negativen Schritt begreift Patočka als Radika-
25
lisierung der Husserlschen Epoch selbst. Mit dieser Hresie gegenber dem
26 Grnder der Phnomenologie steht er allerdings nicht allein, sondern ordnet
27 sich in eine herrschende Tendenz der nachklassischen Phnomenologie ein, die
28 das Erscheinen von der subjektiven bzw. intentionalen Verankerung im sinnge-
29 benden Bewusstsein zu befreien versucht.
30 Die Hresie gegenber der klassischen Phnomenologie kann man diesbezg-
31 lich im Ausgang von einem anderen Ansatz Patočkas, dessen Formulierungen
32 den Verçffentlichungen zur „a-subjektiven“ Phnomenologie am Anfang der
33 70er Jahre vorausgingen, noch besser erfassen. Dank der intensiven Forschun-
34
9 Vgl. vor allem die folgenden drei Aufstze: Jan Patočka: Der Subjektivismus der Husserl-
35
schen Phnomenologie und die Mçglichkeit einer „asubjektiven“ Phnomenologie. In: Philo-
36 sophische Perspektiven 2 (1970). 317 – 334. Ders.: Weltganzes und Menschenwelt. Bemerkun-
37 gen zu einem zeitgençssischen kosmologischen Ansatz. In: Werner Beierwaltes, Wolfgang
38 Schrader (Hg.): Weltaspekte der Philosophie. Festschrift fr R. Berlinger. Amsterdam 1972.
243 – 250. Ders.: Epoch und Reduktion. Einige Bemerkungen. In: Alexius J. Bucher, Her-
39 mann Dre, Thomas M. Seebohm (Hg.): Bewußt sein. Gerhard Funke zu eigen. Bonn 1975.
40 76 – 85.
170 Karel Novotný
1 gen Renaud Barbaras ist dieser andere, „kosmologische“ Ansatz zur Zeit sogar
2 allgemein bekannter – zumindest im franzçsischen Sprachraum.10 Die Annahme
3 einer ontogenetischen Bewegung der Welt selbst oder der Physis, die die tran-
4 szendentale Subjektivitt als Ursprung des Erscheinens ersetzt, bezeichnet ein
5 hretisches Moment dieser Philosophie, die jedoch in einer solchen Radikalitt
6 nur in Manuskripten aus den 60er Jahren zu finden ist und dort auch nur ange-
7 deutet wird. Gleichwohl gehçren die Texte zur Bewegungsproblematik aus den
8 sechziger Jahren zweifellos zur wichtigsten Phase seines Denkens, in deren Ver-
9 lauf er in einer positiven Auseinandersetzung mit der franzçsischen Phnomeno-
10 logie, vor allem mit derjenigen Merleau-Pontys, seine eigene Position gegenber
11 Husserl, Heidegger und Fink zu profilieren sucht. Die Texte zur Bewegungspro-
12 blematik stellen zugleich eine neue Fassung seiner eigenen Untersuchungen zur
13 Weltproblematik aus den 40er und 50er Jahren dar –, aber keineswegs eine bloße
14 Aufnahme oder Nachahmung damaliger Anregungen.11
15 Unter den im Ausland publizierten Texten bezieht er sich ausdrcklich auf
16 den kosmologischen Ansatz nur in dem Aufsatz ,Weltganzes und Menschen-
17 welt. Bemerkungen zu einem zeitgençssischen kosmologischen Ansatz‘, jedoch
18 ohne sich damit zu identifizieren. Ich sehe darin einen Hinweis fr die Annah-
19 me, dass auch fr ihn ein kosmologischer Ansatz eine Hresie darstellt.
20 Der Korrelation von erscheinender Menschen-Welt und ihren Subjekten wr-
21 de nach diesem Ansatz eine Bewegung zugrunde liegen, die phnomenologisch
22 als eine Weltform nachtrglich anschaulich erfassbar wre, die jeder Phnomena-
23 litt, sowohl des subjektiven als auch des objektiven Seienden, als ein Weltaprio-
24 ri vorangeht.12
25 Hretisch wre hier die Reduktion des Erscheinens als solchen auf die Bewe-
26 gung der Welt selbst bzw. auf die Bewegung als solcher. Eine Bewegung des Er-
27
scheinens ohne jegliches Substrat, das man dann phnomenologisch anhand ih-
28
res Sediments als Weltform des Erscheinens erfassen kann, wrde in einem
29
solchen Konzept letztlich auf die Physis zurckweisen, nicht aber auf die Selbst-
30
bewegung der Subjektivitt oder der Seele, die sicherlich in der Welt gewisserma-
31
ßen gegen die Dominanz und den Determinismus der Welt wirkt. Man msste
32
sich daher die Frage stellen: Welchen Platz kçnnte in einem solchen Konzept
33
noch die Sorge um die Seele einnehmen? Wrden wir, dieser Hresie des Monis-
34
mus der Bewegung der Physis das Wort sprechend, dann dem Subjektiven ge-
35
36 10 Vgl. Renaud Barbaras: Le mouvement de l’existence.
tudes sur la phnomnologie de
37 Jan Patočka. Chatou 2007. Ders.: L’ouverture du monde. Lecture de Jan Patočka. Chatou
38 2011. Ders.: Dynamique de la manifestation. Paris 2013.
11 Vgl. dazu Filip Karfk: Unendlichwerden durch die Endlichkeit. Eine Lektre der Philo-
39 sophie Jan Patočkas. Wrzburg 2008.
40 12 Vgl. dazu Patočka: Epoch und Reduktion.
Die Genese einer Hresie 171
1 de sagen: zu Gunsten des Ereignisses des Erscheinens selbst und gemß seiner
2 geschichtlichen Ereignishaftigkeit. Das sind zwar nicht Patočkas Begriffe, aber
3 in diesem Sinne ließe sich vielleicht seine spte „Synthese“ von Phnomenologie
4 und Geschichtsphilosophie deuten.
5 Um aber zu Patočkas eigenen Fragen zurckzukommen: Was ermçglicht und
6 erçffnet eine solch extreme Freiheit gegenber der Korrelation vom In-der-
7 Welt-Sein und der Vorgegebenheit der Welt? Wenn nicht einmal ein autonomes
8 und schaffendes Subjekt bestehen bliebe, und wenn alles zum Phnomen ohne
9 gegebenen Grund wrde, was lieferte dann Anhaltspunkte fr das praktische Le-
10 ben? Die Radikalisierung des philosophischen Akts der Distanz-bernahme
11 zum Gegebenen wird ja in der Phnomenologie gerade motiviert durch die Ab-
12 sicht, das Gegebene zu erreichen – nicht als ein durch ein philosophierendes Sub-
13 jekt Konstruiertes, sondern gerade als Gegebenes, so wie es selbst ist. Sind wir
14 nun aber nicht immer schon in das verwickelt, in das involviert, was gegeben ist?
15 Riskiert die Radikalisierung der Methode nicht, die gelebte Welt, die Lebenswelt
16 zu bergehen, uns wiederum in eine intellektualistische Abstraktion zu verstri-
17 cken, ohne eine mçgliche Rckkehr zum Konkreten? Gegen dieses Risiko hat
18 Patočka in den 60er Jahren eine Reihe genetisch-phnomenologischer Analysen
19 der (subjektiven) Leiblichkeit und Intersubjektivitt der Existenz vorgelegt, die
20 er in seinen spteren Publikationen offensichtlich lediglich zusammenfasst, da
21 sie ihm als eine mit dem neuen Husserl und der neueren Phnomenologie korre-
22 lierende, etablierte Basis diente. Seine Version ist unter dem Titel „Drei Bewe-
23 gungen der menschlichen Existenz“ bekannt. Ob sie nun komplementr oder
24 kontrr zu den „a-subjektiven“ Ausgriffen ist, mag zu dieser Zeit eine offene,
25 von ihm selbst nicht aufgegriffene Frage sein.
26
27
28
29 II. Ketzerische Essais zur Geschichtsphilosophie
30
31 Ich komme nun zurck zur Genesis einer Hresie, die sich konkreter als Hinfh-
32 rung zum letzten und eigentlich einzigen systematischen Werk Patočkas auffas-
33 sen lsst, zu den Ketzerischen Essais zur Geschichtsphilosophie. Eine solche Fra-
34 gestellung war auch dem jungen Patočka der 1930er Jahre brigens nicht fremd,
35 ganz im Gegenteil: Er sah sich mit ihr als einer der wichtigsten Herausforderun-
36 gen des philosophischen Denkens seiner Zeit konfrontiert – eine damals noch
37 immer aktuelle Art philosophischer Reflexion (Historismus-Debatte) –, der er
38 gerecht werden will. Schon sehr frh positioniert sich Patočka ausdrcklich ge-
39
40
Die Genese einer Hresie 173
30 durch Henri Bergson, den Patočka ausfhrlich in seiner Dissertation zitiert. Vgl. Jan Patočka:
31 Pojem evidence a jeho význam pro noetiku (Das Konzept der Evidenz und seine Bedeutung
fr die Erkenntnistheorie) (1931). In: Ders.: Fenomenologick spisy. Teil I. Prag 2008. 13 –
32
125.
33 16 In seinen Essais und Journalaufstzen bezieht er sich u. a. auf Pascal, Kierkegaard, Nietz-
34 sche, Dostoevski und Heidegger. Vgl. dazu etwa Jan Patočka: Ketzerische Essais zur Philoso-
35 phie der Geschichte und ergnzende Schriften; und ders.: Kunst und Zeit.
17 Jan Patočka: Problm počtku a msta dějin – diskuse (Das Problem des Anfangs und des
36 Ortes der Geschichte – Diskussion); ders.: Pče o duši, Teil 3, Prag 2002. 297. Vorgetragen
37 zwischen Oktober 1974 und April 1975, parallel zur Redaktion der Ketzerischen Essais.
18 Jan Patočka: Leben im Gleichgewicht, Leben in der Amplitude. In: Ludger Hagedorn,
38
Hans Rainer Sepp (Hg.): Jan Patočka: Texte, Dokumente, Bibliographie. Freiburg 1999. 91 –
39 102. 91.
40 19 Patočka: Leben im Gleichgewicht. 94. bers. modifiziert von K. N.
174 Karel Novotný
1 Sinns (d. h. der partikularen und relativen Ziele) mçglich macht, so wie diese
2 Funktion in der so genannten vor-geschichtlichen Welt von den Mythen ge-
3 whrt wurde. Da die Hierarchien der relativen Sinne sich in manchen Fllen je-
4 doch als untereinander inkompatibel erweisen, besonders im Kontakt mit den
5 Fremden, und da uns – zumal heute in unserer entmythologisierten Welt – ein
6 Vertrauen in einen umgreifenden Sinn fehlt, der unser Leben zu leiten vermag,
7 kçnnen die negativen Erfahrungen einer Sinnerschtterung in eine „sokrati-
8 sche“ Suche umgewandelt werden, die die Fraglichkeit der gesamten Sinndimen-
9 sion berhaupt erst thematisch erçffnet. Die Eigenheit einer solchen Suche nach
10 dem Sinn des Ganzen, ihr eigentlich historischer Charakter liegt in ihrer wesent-
11 lichen Unabschließbarkeit. Was wir da suchen, ein Sinn des Ganzen, kann in der
12 Tat niemals gegeben werden und wird niemals gegeben sein kçnnen, ebenso wie
13
die Welt selbst in der Gegenwart oder Zukunft niemals zum Objekt einer defini-
14
tiven Erfassung werden kann. Daher rhren vielleicht auch bei Husserl die beun-
15
ruhigenden Motive der notwendigen Iteration der Epoch und der Reduktion.
16
Der Ausgangspunkt der „Sinnphnomenologie“, die Patočka in seinen letz-
17
ten Schriften vorschlgt, besteht in der angedeuteten Erfahrung des Sinnverlusts.
18
Er beginnt, als klassischer Phnomenologe, mit dem Hinweis auf die Erfahrung,
19
die einerseits zeigt, dass „die Dinge nicht Sinn fr sich selbst“, sondern „nur
20
dann einen Sinn haben, wenn jemand ,den Sinn‘ fr sie hat“.25 Fr Patočka weist
21
der dem Sinnverlust eigene Ereignischarakter – d. h. das unvorhersehbare, nicht
22
auf eine einfache Erwartung rckfhrbare, ein Moment der Diskontinuitt be-
23
greifende Ereignis – darauf hin, dass die „Sinngebung vor allem nicht Sache unse-
24
25
res Willens oder unserer Willkr“26 ist. Anders gesagt: „Sie ist nicht ,unsere Sa-
26
che‘, es liegt nicht in unserer Verfgbarkeit, dass die Dinge unter bestimmten
27 Umstnden sinnlos erscheinen, sowie umgekehrt und korrelativ dazu, dass uns,
28 wenn wir offen dafr sind, Sinn aus den Dingen anspricht. Wir sind nicht weni-
29 ger fr das Sinnvolle als fr das Sinnlose offen, und es ist dasselbe Sein, das sich
30 das eine Mal als sinnvoll und das andere Mal als sinnlos, als nichtsagend zeigt.
31 Was bedeutet das anderes als die Fraglichkeit jedes Sinnes?“27
32 Ausgehend von diesen phnomenologischen Beobachtungen schlgt Patočka
33 also vor, die historische Welt ganz allgemein durch die „Fraglichkeit oder Pro-
34 blemhaftigkeit jeden Sinngehalts“28 zu kennzeichnen. Die Erfahrung des Sinn-
35 verlusts wre infolgedessen ein Indiz fr so etwas wie den absoluten Sinn, inso-
36 fern diese Erfahrung zunchst und vor allem die des totalen Nicht-Sinns ist.
37
38
25 Ebd. 76.
26 Ebd. 77.
39 27 Ebd.
40 28 Ebd.
176 Karel Novotný
1 Falls es diese Verlusterfahrung tatschlich gibt – was der Großteil des sechsten
2 Essais ber die „Kriege des 20. Jahrhunderts und das 20. Jahrhundert als Krieg“
3 zu zeigen beabsichtigt –, dann ist sie nicht nur Bekrftigung fr die dogmatische
4 nihilistische These des definitiven Mangels an einem allumfassenden Sinn, son-
5 dern zeugt vielmehr von einer anderen Dimension abseits des partiellen und rela-
6 tiven Sinns, einer Dimension, die mit Heidegger als die des Seins bestimmt wer-
7 den kann, das „nichts Seiendes“ ist, oder mit Patočka als die Dimension einer
8 Transzendenz, von der aus er hnlich aber auch anders als Lvinas, den Men-
9 schen zu begreifen versucht.
10 Fr Patočka bleibt die Beziehung des Menschen zu dieser Dimension, die
11 sich wesentlich abgrenzen lsst von jedem partikularen, von dieser oder jener
12 Lebensttigkeit abhngigen Sinn, allerdings im Unterschied zu Heidegger an
13 eine „aktive“ Haltung gebunden: „Sinn kann nur erscheinen in einer aktiven Su-
14 che, die einem Sinnmangel entspringt, das heißt als Fluchtpunkt der Fraglich-
15 keit, als indirekte Epiphanie. Wenn wir uns nicht tuschen, dann entspricht diese
16 suchende Sinn-Findung als neuer Lebensentwurf dem Sinn der sokratischen
17 Existenz. Die stndige Erschtterung des naiven Sinnglaubens meint eine neue
18
Art von Sinn, meint die Entdeckung, dass der Sinn und die Rtselhaftigkeit des
19
Seins und des Seienden zusammenhngen.“29 Fr Patočka folgen daraus eine
20
zweifache Existenzmçglichkeit: erstens die vor-geschichtliche Existenz des Men-
21
schen, ber die er z. B. sagt: „Der Mensch der vor-geschichtlichen Epoche zieht
22
sich qua Selbstbescheidung in den akzeptierten Frieden mit dem Universum zu-
23
rck […]. Die Mçglichkeit der Erschtterung schwebt ber ihm, aber er schlgt
24
sie aus.“30 Und zu der zweiten Mçglichkeit bemerkt er etwa Folgendes: „Nicht
25
nur das individuelle Leben gelangt, wenn es die Erfahrung des Sinnverlustes
26
durchmacht und aus ihr die Mçglichkeit wie die Notwendigkeit eines vollkom-
27
men neuen Verhltnisses zwischen ihm selbst und allem brigen ableitet, zu ei-
28
ner umfassenden „Konversion“. Es scheint durchaus mçglich, dass das eigentli-
29
che Wesen der Zsur, die wir als Trennungslinie zwischen der vor-
30
geschichtlichen und der eigentlich geschichtlichen Epoche vorschlagen mçch-
31
ten, in der Erschtterung der naiven Sinngewissheit liegt, die das menschliche
32
33
Leben beherrscht – bis zu jener spezifischen Transformation, welche die fast
34
gleichzeitige – und in tiefem Sinne gleichursprngliche – Entstehung von Politik
35
und Philosophie bedeutet.“31
36 Zwei Vorstellungen von Freiheit treffen hier aufeinander: die (letztlich unver-
37 antwortliche) Freiheit des kreativen und des destruktiven Lebens einerseits und
38 29 Ebd. 80 – 81.
39 30 Ebd. 82.
40 31 Ebd. 81.
Die Genese einer Hresie 177
1 die Freiheit des Geistes andererseits, die den Mchten der Welt widersteht und
2 dem Nihilismus des Lebens widerspricht. Wenn Patočka also die philosophi-
3 schen Themen der Jugendzeit wieder aufnimmt, die Bewegung der Freiheit, die
4 sich gegen das unverantwortliche alltgliche Anonymat, gegen den Tag, auflehnt
5 und die sowohl die „geistige“ Existenz (gemß der Terminologie der 30er Jahre)
6 als auch den „geistigen Menschen“ (um den es in den Texten der 70er Jahre
7 geht32) definiert, so ist diese Idee gleichwohl umgestaltet durch ein neues Be-
8 wusstsein der historischen Situation. Patočka wird sich hier der Macht der allge-
9 genwrtigen wissenschaftlich-technischen Wirklichkeit bewusst und durch-
10 schaut genauer, in welchem Maße der Mensch durch das technische Verstndnis
11 alles Seienden bestimmt wird.
12 Und er stellt sich die – fr ihn eigentlich ketzerische – Frage: Inwiefern will
13 und vermag sich der heutige Mensch noch zu dieser sokratisch angesetzten Ge-
14 schichtlichkeit, ja zu dieser Geschichte zu bekennen? Die Ketzerischen Essais
15 stellen die Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz und ihrer Welt heraus,
16 um diese mit der gegenwrtigen Situation zu konfrontieren und in Frage zu stel-
17
len. Patočka hat schon vor den Ketzerischen Essais in der Reihe der Texte zur so
18
genannten nach-europischen Epoche der Geschichte, zu Nach-Europa am An-
19
fang der 70er Jahre Anstze zur De(kon)struktion der europischen Geschichte
20
entworfen.33 Also ist das Hretische der Ketzerischen Essais, die das spte Den-
21
ken Patočkas auf den Punkt bringen, die Infragestellung dessen, woran er sich
22
selbst als einem Kanon des philosophischen Lebens orientiert hat. Die Fraglich-
23
keit betrifft nun auch den Sinnbezug des Geistes als solchen, der im Bezug auf
24
das Ganze besteht, sie betrifft nicht nur den Sinnbezug des Lebens, der durch
25
partikulre Sinn- bzw. Zweckbezge artikuliert ist.
26
„Solches Ketzertum“, schreibt Hans Rainer Sepp, der mich auch hierbei inspi-
27
riert hat, „ist nicht damit charakterisiert, dass man ihm lediglich die Utopie eines
28
metanoein (einer Konversion) konzediert, wie es Paul Ricoeur tut. Es realisiert
29
die schwierige Position, welche zwischen den Extremen einer zu geringen und
30
einer zu großen Differenz die Balance hlt, abgerckt von dem Glauben, auf den
31
32
es sich bezieht, ohne in einem anderen Glauben angekommen zu sein. Die Positi-
33
on des Ketzers ist ein dplacement (Abweichung als wesentliche Bedingung der
34
Verantwortung, so Derrida), eine Verrckung, und darin ein Balanceakt auf den
35 32 Beispielsweise im Vortrag ,Der geistige Mensch und der Intellektuelle‘ vom April 1975
36 im in Anm. 16 erwhnten Rahmen des Vortragszyklus zum Problem des Anfangs und des Or-
37 tes der Geschichte. Jan Patočka: Problm počtku a msta dějin – diskuse (Der geistige Mensch
38 und der Intellektuelle. In: Ludger Hagedorn, Hans Rainer Sepp [Hg.]: Jan Patočka: Texte, Do-
kumente, Bibliographie. Freiburg 1999. 103 – 123).
39 33 Vgl. dazu Karel Novotný: Europa und Nacheuropa in der philosophischen Reflexion Jan
1 Spitzen der Amplitude des Existenzvollzugs. […] nicht mehr da, nicht mehr wo-
2 anders, der Ketzer sagt einfach nein.“34
3
4
5
III. Zur Dissidenz
6
7
In seiner letzten Philosophie, die die Wirklichkeit der wiederum militrisch be-
8
setzten und „normalisierten“ Tschechoslowakei der 70er Jahre widerspiegelt,
9
sind die Freiheits- und Geistesmanifestationen, die den Mchten der Welt zu wi-
10
derstehen vermçgen, fr Patočka selten, sogar ußerst selten, jedoch nicht min-
11
der real geworden in Anbetracht der erheblichen Risiken, die sie begleiten. Ange-
12
sichts dieser Situation radikalisiert Patočka seine Idee der Freiheit. Es geht nun
13
nicht mehr nur darum, das Leben als Entgegnung auf die Alltglichkeit zu erneu-
14
ern, sondern das einfache berleben zu opfern, um die Mçglichkeit, ein mensch-
15
liches Wesen zu bleiben, die Wrde des Menschen als solchem, offenzuhalten.
16
Hier, in einem Gedanken des Opfers, so wie er im sechsten Ketzerischen Essai
17
anhand der exemplarischen Figur des geopferten Frontkmpfers radikalisiert
18
wird, geht Patočka ohne Zweifel weiter als Heidegger auf dem Gebiet der negati-
19
ven Fundierung der menschlichen Freiheit. Daher rhrt die Idee von einer radi-
20
kalen Freiheit, von der in den Ketzerischen Essais und anderen Texten dieser Zeit
21
die Rede ist: Es handelt sich hier nicht um eine Geistesfreiheit in dem Sinne, dass
22
deren letztes Ziel schließlich die contemplatio, die geistige Betrachtung, wre,
23
sondern um eine Freiheit des Menschen, der die Wahrheit seiner Situation nur
24
einsieht, indem er in ihr tatschlich handelt. Der Sinn der Freiheit liegt also nicht
25
in einer Selbstaufgabe, „sondern vielmehr in der Handlung selbst, die diese Geis-
26
teshaltung ermçglicht. Als beispielhaft erscheinen Patočka zu dieser Zeit Leute
27
wie Sakharov oder Soljenitsyne, die sich, hohe Risiken in Kauf nehmend, gegen
28
die Mchte eines gigantischen totalitren Staates und fr die Anerkennung des
29
irreduziblen Werts des Menschenwesens aussprechen“.35
30
Patočkas Philosophie, wie sie sich u. a. in den Essais ber die Geschichte und
31
die Politik darstellt, wurde von seinen Zeitgenossen und von uns, der Generati-
32
on der Schler seiner Schler, als eine Philosophie der Freiheit begriffen, die
33
zum Handeln aufruft. So lsst sich seine Wichtigkeit fr die Dissidentenbewe-
34
gung im weiten Sinne, aber auch spezifischer fr einige Dissidenten begreifen,
35
die sich aktiv dem kommunistischen Regime der Tschechoslowakei widersetzt
36
haben. Die Freiheit des Geistes, die er in den Mittelpunkt seiner Philosophie
37
stellt, scheint mir ein Moment von Dissidenz zu enthalten, insofern die radikale
38
39 34 Hans Rainer Sepp: Nachwort. In: Jan Patočka: Ketzerische Essais. 237.
40 35 Karfk: Unendlichwerden durch die Endlichkeit. 169.
Die Genese einer Hresie 179
1 Zweideutigkeit der Freiheit gegrndet, welche sich selbst entgehen, so wie die
2 ursprngliche Wahrheit sich entziehen kann – und sogar muss.“37
3 Es wird also bei Patočka meines Erachtens wie folgt appelliert: Der Mensch
4 soll seine Fhigkeit und seinen Mut, die Wahrheit ber seine eigene Situation zu
5 erlangen, herausfordern, indem er sich seiner Situation aktiv stellt, er mutet aber
6 dem Menschen kein „Leben in der Wahrheit“ zu, die er besitzen kann oder die
7 ihn besitzen kann. Die Radikalisierung der Epoch, der Kanon des philosophi-
8 schen Lebens, besteht eher in der Negativitt der Freiheit, Nein! zu sagen. Epo-
9 ch ist ein Grundakt der Philosophie fr Patočka, der mit einem Engagement in
10 der sozialen Welt, mit der Freiheit zusammenhngt, in der Welt gegen ihren Ver-
11 fall zu wirken.
12
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36
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38
39 37 Jan Patočka: Vor-geschichtliche Betrachtungen. In: Ders.: Pče o duši. Teil III. Prag
40 3 Ms. A VI 12 II/186a.
1 ziale, politische Welt und ihre zumindest partielle Abhngigkeit von materiellen
2 und faktischen Bedingungen machen es besonders schwer, das handelnde Sub-
3 jekt als den einzigen Urheber der Handlung zu sehen, ihn als die einzig berech-
4 tigte Quelle fr die Bestimmung der Grenzen und der Struktur einer Handlung
5 zu identifizieren.
6 Der theoretische Ansatz, der vom Begriff der „agency“ ausgeht und folglich
7 die Handlung in den Rahmen einer umfassenden Subjektivittstheorie einord-
8 net, scheint zunchst in eine Sackgasse zu fhren. Der Bezug auf die Subjektivi-
9 tt erschçpft die Frage nach dem Handeln nicht, sondern vervielfltigt vielmehr
10 die Unklarheiten. Ein radikaler Verzicht auf den Begriff der Subjektivitt wrde
11 jedoch den Kern der phnomenologischen Perspektive anfechten. Mehr noch:
12 Er wrde die Handlung aus dem Bereich der fr die Person relevanten Phnome-
13 ne in das Reich der Natur zurckversetzen und damit den sozial entscheidenden
14 Fragen nach menschlicher Verantwortung und moralischer Verbindlichkeit den
15 Boden entziehen.
16
17
18 2. Handeln vs. Handlung
19
20 In den Manuskripten von 1909/10, die zu den Studien zur Struktur des Bewusst-
21 seins gehçren, erkundet Husserl unermdlich den Weg, die Handlung als einheit-
22 lichen Prozess mit seinen immanenten Bedingungen der Mçglichkeit zu erfor-
23 schen. Trotz der experimentierenden Einstellung, die die Forschungs-
24 manuskripte charakterisiert, scheint er sich hier von einem traditionellen, star-
25 ren Modell nicht freimachen zu kçnnen. Die Handlung erscheint als bloße Ver-
26 wirklichung eines impulsgebenden Entschlusses, den er wiederholt als ein „fiat“
27 bezeichnet: „es gehçrt a priori zum Wesen der Handlung, dass sie ein fiat <ei-
28 nes> unvermittelten Realisierungswillens ist, das durch solch eine spontane Rei-
29 he stetig hindurchgeht, sich dabei stetig willentlich erfllt, das ist, realisiert“.5
30 Doch selbst innerhalb dieses idealisierten Modells, das die gesamte sinnkonsti-
31 tutive und kreative Wirksamkeit dem mentalen Akt des Entschlusses zuschreibt,
32 ringt Husserl mit der Schwierigkeit, eine „schlichte“ Handlung zu identifizie-
33 ren, und kann schließlich nicht umhin zu bemerken: „Nur ideell kçnnen wir
34 Teilungen vollziehen, Stcke der Handlung ideell herausheben“.6
35 Das symptomatische Auftauchen solcher Dissonanzen stellt uns vor die Her-
36 ausforderung, die husserlschen Untersuchungen ber ihre Grenzen hinaus wei-
37
38
5 Ms. A VI 12 I/8a.
6 Gefangen in seinem starren Modell, versucht Husserl, die Schwierigkeit auf der Basis ei-
39 nes fehlenden fiat zu lçsen: Es ist „in keiner Weise selbstndige Handlung, wenn das fiat fehlt“
40 (Ms. A VI 12 II/212 a).
184 Alice Pugliese
1 terzufhren. Eine vorlufige Antwort auf das Problem der Identifikation „ei-
2 ner“ Handlung zum Zwecke ihrer Definition besteht im Zurckgehen vom
3 Handlungsbegriff auf den Begriff eines „Handelns“ als kontinuierlichen und un-
4 zerstckbaren Prozess.
5 Die Erfahrungsbeschreibung zeigt in der Tat, dass wir weder einzelne Hand-
6 lungen allein fr sich vollziehen noch eine Kette von isolierbaren Momenten
7 durchleben. Wir leben vielmehr in einem unaufhçrlichen praktischen Strom, in
8 dem aktive Verhaltensweisen und praktische Ablufe von verschiedener Natur
9 untrennbar ineinanderfließen.
10 Das Modell eines „Handlungsstroms“ bercksichtigt die dynamische und
11 vielfltige Natur dieser Problematik. Doch erhçht sich dadurch die Gefahr, die
12 Eigenart des Themas aus dem Fokus zu verlieren. Die Betonung der Prozesshaf-
13 tigkeit der Handlung, ihrer internen Mannigfaltigkeit und ihrer Prgung durch
14 unterschiedliche Bewusstseinsqualitten droht die Prgnanz der Handlung als
15 eigenes Phnomen zu verkennen und sie auf eine bloße Ttigkeit mit verschiede-
16 nen Deutungsmçglichkeiten zu reduzieren. Wenn keine ausgeprgte, eigenstn-
17 dige Handlung identifizierbar ist, lsst sich mçglicherweise die gesamte Proble-
18 matik auf einen ununterbrochenen und undifferenzierten Fluss von Ttigkeiten
19 herunterstufen, die lediglich unterschiedlich und jeweils nach Belieben beschrie-
20 ben werden kçnnen. Die Bedeutsamkeit der Handlung als eigenes und wesentli-
21 ches Gebiet der Subjektivittsforschung lsst sich jedoch nicht bersehen. Sie
22 von einer bloßen Ttigkeit zu unterscheiden, bleibt ein wesentliches Anliegen
23 der husserlschen Versuche in dieser Richtung.7 Es muss also ein heuristisches
24 Prinzip, ein Kriterium, herausgearbeitet werden, welches die Eigenart des
25 menschlichen Handelns hervorzuheben ermçglicht, ohne in die Befangenheit ei-
26 ner abstrakten und atomistischen Handlung zurckzufallen.
27
28
29
3. Eindimensionale vs. multidimensionale Auffassung des Handelns
30
31
Eine traditionelle Lçsung dieses Problems greift auf den Begriff der Zweckm-
32
ßigkeit zurck. Nach dieser Interpretation lsst sich die menschliche Handlung
33
nicht auf eine bloße Geste, auf das Ttigsein oder gar auf ein Naturereignis redu-
34
zieren. Die Handlung unterscheidet sich von solchen verwandten Phnomenen
35
36 7 Vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phnomenologie und phnomenologischen
37 Philosophie. Zweites Buch. Hrsg. von Marly Biemel. Hua IV. Den Haag 1952. § 60. 258: „Vor
38 dem Willen mit der aktiven Thesis des ,fiat‘ liegt das Tun als triebmßiges Tun, z. B. das unwill-
krliche ,ich bewege mich‘, das unwillkrliche ,ich greife‘ nach meiner Zigarre, ich begehre
39 danach und tue es ,ohne weiteres‘, was freilich nicht leicht vom Falle der Willkr im engeren
40 Sinne zu scheiden ist“.
Subjektive und intersubjektive Genesis der Handlung 185
1 dadurch, dass durch sie auf einen bestimmten Zweck abgezielt wird. Sie ist typi-
2 scherweise ,zweck-beladen‘, trgt den Zweck in sich und ist deswegen einer eige-
3 nen Form von Rationalitt unterworfen: der Zweck-Mittel-Rationalitt.
4 Christine Korsgaard hat die Entwicklung des teleologischen Handlungsbe-
5 griffs vom britischen Utilitarismus bis zu den zeitgençssischen analytischen
6 Handlungstheorien auf prgnante Weise rekonstruiert.8 Sie identifiziert den phi-
7 losophischen Kern dieses Modells in der Annahme, dass der Eigencharakter der
8 Handlung durch ihren Zweck bestimmt wird. Das Anstreben eines Ziels stellt
9 hiernach nicht nur den Hauptunterschied zwischen Handlungen und bloßen Ak-
10 ten dar, es gilt nicht nur als hermeneutisches Prinzip, als ußerer Maßstab, um
11 verschiedene Phnomene innerhalb der praktischen Dimension zu unterschei-
12 den. Die angestrebte Realisierung eines bestimmten Ziels sei vielmehr das uner-
13
lssliche Merkmal, auf dem das Wesen der Handlung beruht: „An action, then,
14
involves both an act and an end, an act done for the sake of an end“.9 Dem Ziel
15
kommt also ein unvergleichlicher Vorrang zu, nicht nur in Bezug auf das Urtei-
16
len ber die vollzogene Handlung, sondern bereits hinsichtlich deren Eigen-
17
struktur und innerer Normativitt.
18
Diesem zweckorientierten Modell stellt Korsgaard den Ansatz Aristoteles’
19
und Kants gegenber als einen solchen, der eine vielschichtige und komplexere
20
Beschreibung ermçglicht. Diese fhrt die Handlung nicht auf ein einziges aus-
21
zeichnendes Element zurck, sondern entfaltet sie im Ausgang von ihrer inter-
22
nen Pluralitt. Der Zweck, der verfolgt und meist als Grund der vollzogenen
23
Handlung genannt wird, erweist sich damit als nur ein Faktor von vielen, die bei
24
25
deren Entstehung und im Ablauf des praktischen Lebens zusammenwirken.
26
Besonders bei Aristoteles wird diese innere Dynamik im Detail ausgefhrt
27 und ihr Sinn und Wert betont. Nach der aristotelischen Deutung besteht die
28 menschliche Handlung nicht nur in dem Streben nach einem Ziel und nach des-
29 sen mehr oder weniger geglckter Realisierung. Der Erfolg und der praktische
30 Wert einer Handlung kçnnen nicht ausschließlich in Bezug auf den erstrebten
31 Zweck gemessen werden. Entscheidend ist vielmehr die bereinstimmung mit
32 dem orthos logos.10 Die richtige Form und ratio des Handelns wird im Buch VI
33 der Nikomachischen Ethik nach den Maßstben der „mesotes“ (les|tgr), der An-
34 gemessenheit und der Verhltnismßigkeit, bestimmt. Verschiedene, miteinan-
35 der zusammenhngende Koordinaten wie Zeit und Raum, Art, Objekt usw. wir-
36 ken bei der Bestimmung der inneren Natur und Struktur der Handlung, der
37
8 Vgl. Christine M. Korsgaard: Self-Constitution. Agency, identity and integrity. New
38
York 2009. 1 – 26.
39 9 Korsgaard: Self-Constitution. 11.
1 chenden Abstraktion der Handlung aus, sondern ordnet diese in den umfassen-
2 deren Horizont des subjektiven Lebens ein.
3 Um jedoch die Gefahr einer Verformung durch ein einseitiges Modell mit Si-
4 cherheit zu vermeiden, muss eine idealisierende Deutung des Begriffs der Person
5 im Sinne eines metaphysischen Prinzips ausgeschlossen werden. Dafr ist nicht
6 nur an ihrer zentrierenden Rolle festzuhalten, sondern auch ihre konkrete Wir-
7 kung nher auszulegen.
8 Zu diesem Zweck beginnen wir mit folgender Beobachtung: Die Zentrierung
9 durch die Person funktioniert nur, indem sie immer wieder neue De-Zentrierun-
10 gen veranlasst und zulsst. Doch soll die Polarisierung des ununterbrochenen
11 Handlungsflusses um das Subjekt nicht als eine absolute und unbestrittene
12 Macht des Individuums ber die eigene praktische Dimension verstanden wer-
13 den. Die Eigenart und hermeneutische Kraft des phnomenologischen Ansatzes
14 bestehen zwar darin, die Frage nach dem „Wie“ und vor allem nach dem „Wem“
15 der Handlung zu stellen. Die Handlung als Handlung von jemandem zu sehen,
16 heißt, ihre Prgung durch eine unentbehrliche und sinnstiftende Perspektivitt
17 zur Geltung kommen zu lassen, sie insofern von Naturereignissen zu unterschei-
18 den und andere Gesetze als die Naturgesetze fr sie herauszuarbeiten.11
19 Die Struktur der Handlung ermçglicht jedoch keine schlichte absolut egologi-
20 sche Zentrierung. Indem sie immer eine Vernderung in der Welt vollbringt und
21 dadurch eine mehr oder weniger bewusste Interaktion mit Dingen und anderen
22 Lebewesen impliziert, setzt sie den Einsatz der kompletten Person als psycho-
23 physisches Subjekt und als sozialen Akteur voraus. Die geforderte Zentrierung
24 weist also nicht auf einen leeren egologischen Pol. Es wird vielmehr ein dynami-
25 scher Prozess skizziert, der auf unterschiedlichen Niveaus abluft und die Leis-
26 tung eines vielschichtigen Subjekts verlangt. Die Beschreibung einer solchen Dy-
27 namik stellt eine sehr umfangreiche Aufgabe dar. Deshalb mçchte ich im
28 Folgenden versuchen, nur drei Aspekte zu skizzieren, die jeweils auf umfassen-
29 dere Dimensionen hinweisen und weitere Untersuchungsarbeit erfordern.
30
31
32
33
34
35 11 Die phnomenologische Perspektive scheint mir insofern unvertrglich mit naturalisie-
36 renden Anstzen wie demjenigen Davidsons, der zur Erklrung der Handlung fr eine Kausal-
37 basis pldiert. Eine przise Darstellung der phnomenologischen Kritik an Davidson findet
38 sich bei Karl Mertens: Mçglichkeiten und Grenzen einer phnomenologischen Theorie des
Handelns. berlegungen zu Davidson und Husserl. In: Carlo Jerna, Hanne Jacobs, Filip Mat-
39 tens (Hg.): Philosophy, phenomenology, sciences. Essays in commemoration of Edmund Hus-
40 serl. Dordrecht 2010. 461 – 482.
188 Alice Pugliese
1 4. Kinsthesen
2
3 Die erste Schicht der Zentrierung durch die Person geht auf die Prozesse der
4 Leibkonstitution und der Kinsthesen zurck. Die ursprngliche Polarisierung
5 des Handlungsflusses vollzieht sich zunchst nicht durch reflektives Selbstbe-
6 wusstsein. Dieses stellt eine hçherstufige Leistung dar, die nur im Nachhinein
7 und meist erst dann einsetzt, wenn etwas vorfllt: ein unerwartetes Ergebnis, ein
8 Fehler oder Hindernis. Nicht einmal das Sehen, als relativ distanzierte Sinnes-
9 wahrnehmung, ist auf dieser tiefen ersten Stufe der Handlungszentrierung erfor-
10 derlich. Ich sehe nicht meine Handlung, ich empfinde, erlebe, spre, fhle mich
11 selbst – ganz – handelnd. Der ununterbrochene Fluss des Handelns erfhrt eine
12 erste passive und dennoch wesentliche Zentrierung durch das kinsthetische
13 Empfinden. Husserl ordnet dies in Erfahrung und Urteil in ein Zwischenreich
14 zwischen Wahrnehmung und Handlung ein und betont dessen unentbehrliche
15 Rolle fr einen effektiven Wahrnehmungsprozess: „Wir nennen diese Bewegun-
16 gen, die zum Wesen der Wahrnehmung gehçren und dazu dienen, den Wahrneh-
17 mungsgegenstand mçglichst allseitig zur Gegebenheit zu bringen, Kinsthesen.
18 Sie sind Auswirkungen der Tendenzen der Wahrnehmung, in gewissem Sinne
19 ,Ttigkeiten‘, obschon nicht willkrliche Handlungen.“12
20 Die Kinsthesen stellen nicht ein inneres Abtasten, eine innere Prfung der
21 aktuellen leiblichen Verfassung oder des eigenen Kçrperzustandes dar. Sie be-
22 zeichnen vielmehr eine fr die Selbstkonstitution wesentliche Synthesis zwi-
23 schen Leibempfindungen und Objektwahrnehmung. Es handelt sich um die
24 Wahrnehmung einer Bewegung, um das Fhlen einer Vernderung in der eige-
25 nen relativen Position zu den Dingen und schließlich auch das Fhlen des Ver-
26 harrens oder Sich-Vernderns der Dinge selbst: „Nun ist im Ichlichen bei dem
27 ußeren ,Handeln‘ und jedem ußeren Tun, wie <bei> dem bloß wahrnehmen-
28 den Betrachten, eine Vielschichtigkeit der Funktion (d.i. eben des Tuns). In der
29 ußeren Handlung liegt, wenn sie unmittelbar ist (gegenber den mittelbaren,
30 z. B. beruflich Kufe und Verkufe abschließen), also in der wahrnehmungsmßi-
31 gen Umwelt sich abspielt, <eine> Kontinuitt des Wahrnehmens des identi-
32 schen Wahrnehmungsobjektes in seinem unvernderten und dann vernderli-
33 chen Verharren – mit der hçheren Schicht des verndernden, schaffenden Tuns
34 der ußeren Handlung selbst.“13
35
36
37
38
12 Edmund Husserl: Erfahrung und Urteil. Hrsg. von Ludwig Landgrebe. Prag 1939. § 19.
89.
39 13 Edmund Husserl: Spte Texte ber Zeitkonstitution (1929 – 1934). Die C-Manuskripte.
40 Hrsg. von Dieter Lohmar. Hua Mat VIII. Dordrecht 2006. 237 f.
Subjektive und intersubjektive Genesis der Handlung 189
1 zu der verbreiteten Ansicht, die den Trieb als reines Hindernis versteht, als pas-
2 sio, die einen stetigen Widerstand gegen die freie, bewusste, theoretische und mo-
3 ralische Handlung leistet, zeigt die Phnomenologie ein steigendes Interesse fr
4 solche vor-bewussten Tendenzen; sie werden in die Struktur des Bewusstseins
5 integriert und nicht mehr ins Reich des bloß Naturellen oder Kçrperlichen ver-
6 bannt.16
7 Dennoch ordnet Husserl den Trieb in die Sphre der Passivitt ein. Dies kçnn-
8 te, in Verbindung mit dem schon erwhnten starren Modell, das die Handlung
9 als Ausfhrung eines vorangehenden Entschlusses darstellt, der als unmittelba-
10 res fiat wirkt, zur Interpretation der Handlung als aktive berwindung einer
11 ursprnglichen triebhaften Trgheit oder Unbestimmtheit fhren. Allerdings ist
12 dies nicht der Fall, weder im konkreten Ablauf der Phnomene noch in der hus-
13 serlschen Deutung. Husserl beschreibt den Trieb – im Unterschied zum Instinkt
14 – als eine innere Kraft, die keinen vorgeordneten Ablauf von Handlungen und
15 Reaktionen auslçst und kein streng vorgezeichnetes Erfllungsobjekt hat. Der
16 Trieb ist durch eine gewisse Unbestimmtheit geprgt. Dennoch fungiert er als
17 eine intentionale Tendenz. Er ist „allgemein-unbestimmt auf […] Erfllung un-
18 mittelbar gerichtet“.17 Er gehçrt also zur Pluralitt der intentionalen Tendenzen,
19 die das Ich wie folgt charakterisieren: „Ein Ich, eine Einheit des Gesamtstrahles,
20 der Gesamtintention-auf (d.i. Bewusstsein-von), Einheit des Bewusstseins nicht
21 eine einheitliche tabula rasa, ein einheitlicher Sachstrom, sondern uni-versale
22 Einheit von Intentionen, von Richtungen und Gegenrichtungen.“18
23 Die sonderbare, nicht-objektivierende Intentionalitt des Triebes fhrt nicht
24 zu seiner Wirkungslosigkeit wie eine blinde Kraft, die zwar treibt, ohne jedoch
25 eine sinnvolle Orientierung zu ermçglichen. Der Trieb stellt vielmehr eine we-
26 sentliche Quelle der Motivation dar. Obwohl die triebhaften Tendenzen nicht
27 auf ein bestimmtes Objekt gerichtet sind, sind sie intentional, da sie als motivie-
28 rende Kraft im Fluss des Bewusstseins wirken und dadurch durchgehend zu sei-
29 ner individuellen Entwicklung beitragen. Die mannigfaltigen und stets wieder-
30 kehrenden Triebe liefern die Energie – eben die Triebkraft –, die fr ein
31 effektives Handeln unentbehrlich ist. Sie stellen keine formale, sondern eine fak-
32 tische Vorbedingung des Handelns dar, indem sie die dafr notwendige Energie
33
16 Eine tiefgehende und ausfhrliche Darstellung des triebhaften Beitrags zur Konstitution
34
35 und Wahrnehmung findet sich bei Jagna Brudzińska: Depth phenomenology of the emotive
dynamic and the psychoanalytic experience. In: Dieter Lohmar, Jagna Brudzińska (Hg.): Foun-
36 ding psychoanalysis phenomenologically. Phenomenological theory of subjectivity and the
37 psychoanalytic experience. Dordrecht 2012. 23 – 52; Jagna Brudzińska: Assoziation, Imagin-
38 res, Trieb. Phnomenologische Untersuchungen zur Subjektivittsgenesis bei Husserl und
Freud. Kçln 2005. http://kups.ub.uni-koeln.de/2999.
39 17 Husserl: C-Manuskripte. 272.
40 18 Husserl: C-Manuskripte. 37 f.
Subjektive und intersubjektive Genesis der Handlung 191
1 freilassen. Diese durchfließt den ganzen Handlungsstrom und wird in den ein-
2 zelnen Handlungen artikuliert und differenziert.
3 Die Wirkung des Triebes lsst sich allerdings nicht auf eine solche unbestimm-
4 te Urenergie reduzieren wie ein Rohmaterial, das erst durch eine willentliche,
5 bewusste Handlung geformt und sinnvoll gestaltet wird. Der typische Rhyth-
6 mus der wiederkehrenden Triebe und ihrer Befriedigung prgt der Handlung
7 vielmehr eine tiefgehende Regelmßigkeit ein, die ihre Zeitstruktur zwar nicht
8 erschçpft, aber dennoch vorprgt. Es handelt sich um eine subjektive Zeitlich-
9 keit, die, tief verwurzelt in der Leiblichkeit, weltlich und konstituiert ist, jedoch
10 nicht als bloß kçrperlich, natrlich oder biologisch im Sinne der Naturwissen-
11 schaften verstanden werden darf. Obwohl die rhythmische triebhafte Zeitlich-
12 keit nicht zu einer rein transzendentalen Dimension gehçrt, bt sie eine transzen-
13 dentale Funktion aus. Der Trieb wirkt im Handeln nmlich nicht nur als
14 regulierte Energie, als bloße Triebkraft, sondern spielt eine fundamentale konsti-
15 tutive und regulierende Rolle und kann in diesem Sinne als transzendental fun-
16 gierende Tendenz gelten.19 Die Triebintentionalitt erweist sich als eine Form
17 der Gerichtetheit, die den Fluss des Handelns mit- und vorstrukturiert. Aus
18 triebhaften Quellen werden Reliefs und Relevanzen im praktischen Horizont
19 vorgezeichnet, die selbst fr die bewusst geplante Handlung von großer Wichtig-
20 keit sind.20
21 Allerdings luft dieser Prozess nicht immer harmonisch ab wie ein reibungslo-
22 ses Zusammenfließen von Motivationen aus unterschiedlichen Quellen. Sehr
23 hufig treten hier schwerwiegende psychische, existenzielle und moralische Kon-
24 flikte auf. Husserl beobachtet in den Studien einen Kampf der Neigungen zwi-
25 schen Trieb und Willen, in dem jedoch eine gewisse Gleichwertigkeit und not-
26 wendige Interaktion der beiden subjektiven Funktionen fr die Gestaltung eines
27 aktiven Lebens sichtbar wird. Auf Grund der skizzierten vielschichtigen Struk-
28 tur der Subjektivitt erweist sich die Interpretation der Handlung als bloße Aus-
29 fhrung eines vorgefassten Entschlusses abermals als unzureichend. Wir mssen
30 in der Handlung vielmehr eine Vielfalt von Motivationen erkennen, die nicht
31 vollstndig auf hochstufige Bewusstseinsleistungen des Ich zurckzufhren
32 sind. Das Handeln gestaltet sich wie ein stndiges Zurckgreifen, ein Sich-Fort-
33 gestalten durch Aneignung des bereits Vorgeformten.
34
35
36 19 Ich habe versucht, die Transzendentalitt der Triebdimension darzustellen. Vgl. Alice
37 Pugliese: Triebsphre und Urkindheit des Ich. In: Husserl Studies 25 (2009). 141 – 157.
20 Zur Rolle der triebhaften Selbstaffektion in der Artikulation von Relevanzen und Typen
38
vgl. Dieter Lohmar: Phnomenologie der schwachen Phantasie. Untersuchungen der Psycho-
39 logie, Cognitive Science, Neurologie und Phnomenologie zur Funktion der Phantasie in der
40 Wahrnehmung. Dordrecht 2008.
192 Alice Pugliese
1 Natrlich entsteht zumindest ein Teil unseres aktiven Lebens aus freiem Ent-
2 wurf, aus Projekt und Entscheidung. Dieser lebenswichtige Ausdruck der perso-
3 nalen Autonomie lsst sich jedoch nicht vom passiv fungierenden Grund des ei-
4 genen triebhaften Lebens trennen. Die Handlung erschçpft sich somit nicht in
5 einer rationalen und vollkommen durchsichtigen Planung, wie Husserl selbst an-
6 merkt: „[D]as Irrationale [ist] der teleologische Grund fr alles Rationale“.21
7
8
9 6. Die Motivation der Anderen
10
11 Bisher haben die vorangegangenen Analysen der Kinsthese und des Triebes
12 zwei „intra-subjektive“ Argumente gegen das Modell der Handlung als unmit-
13 telbarer Vollzug eines Willensaktes offengelegt. Nun scheint es mir wichtig, ei-
14 nen letzten Aspekt zu umreißen, der mit der intersubjektiven Konstitution der
15 praktischen Welt zusammenhngt. Die Intersubjektivitt stellt allerdings sehr
16 umfassende und verwickelte Fragen, die von den entwicklungspsychologischen
17 Themen der Sozialisierung bis zu den hçheren Niveaus der politischen und so-
18 zialen Institutionen reichen. Um diese Fragenkonstellation bndig darzustellen,
19 ist es hilfreich, auf ein prgnantes Beispiel zurckzugreifen.
20 Wie bereits erwhnt, ist es schwierig, aus dem Fluss des alltglichen Handelns
21 eine exemplarische Handlung zu isolieren. Vielversprechender scheinen literari-
22 sche und besonders mythologische Quellen zu sein, die herausragende menschli-
23 che Taten exemplifizieren. Die philosophische und wissenschaftliche Bedeut-
24 samkeit des Mythos fr eine Reflexion ber den Menschen ist sptestens seit den
25 Analysen von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (1923 – 27) aus-
26 fhrlich belegt.22 In den ergnzenden Untersuchungen zur Krisis vertritt auch
27 Husserl eine entsprechende Position: „Ist die berufsmßige Beschftigung mit
28 dem Mythischen und die Besinnlichkeit hinsichtlich der Eigenheit der mythi-
29 schen Mchte und ihrer eigenen Einheit und sogar Geschichtlichkeit nicht schon
30 eine objektive Rationalisierung des Mythos und der Regelung der menschlichen
31 Beziehung zu ihm und als das eine bergangsform [zur Wissenschaft]?“23 Der
32 Mythos wird somit als „hochdifferenziertes Kulturleben“24 bezeichnet, das als
33
34 21 Ms. E III 9/4b (1931).
35
22 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Den-
ken. Hamburg 2010. 2: „Sein [des Mythos] Bildgehalt umschließt und verbirgt einen rationa-
36 len Erkenntnisgehalt, den die Reflexion herauszuschlen und als seinen eigentlichen Kern auf-
37 zudecken hat.“
23 Edmund Husserl: Die Krisis der europischen Wissenschaften und die transzendentale
38
Phnomenologie. Ergnzungsband. Texte aus dem Nachlass 1934 – 37. Hrsg. von Reinhold N.
39 Smid. Hua XXIX. Dordrecht 1993. 41.
40 24 Husserl: Ergnzungsband. 16 f.
Subjektive und intersubjektive Genesis der Handlung 193
1 lebendige Tradition den Boden fr die Entstehung der Wissenschaft bietet, wh-
2 rend diese sich wiederum als zweckvolle Umbildung des Mythischen25 enthllt.
3 Die Beschreibung der mythischen Rckkehr des Odysseus nach Ithaka und sei-
4 nes performativen Handelns als Bild fr eine intersubjektive Konstitution der
5 Handlung scheint also auf keine grundstzlichen methodologischen Einwnde
6 zu stoßen. Die Figur des Odysseus zeigt darber hinaus eine schon ausgeprgte
7 philosophische Vorgeschichte als ein Symbol fr menschliche Initiative, Tchtig-
8 keit, Schlagfertigkeit und Intelligenz. Besonders in der berhmten Kritik von
9 Horkheimer und Adorno in ihrer Dialektik der Aufklrung (1942) tritt Odys-
10 seus, „der Held der Abenteuer […] als Urbild eben des brgerlichen Individu-
11
ums“26 auf. Seine List ist „das Organ des Selbst, Abenteuer zu bestehen, sich
12
wegzuwerfen, um sich zu behalten“.27 Er stellt einen Helden dar, der sein Glck
13
nicht vorwiegend einer adligen oder gar gçttlichen Abstammung verdankt (wie
14
es bei den meisten griechischen Helden der Fall ist), sondern es aus eigener
15
Handlungsbereitschaft und Fhrungsqualitt schmiedet. Insofern kann seine
16
Heldentat als prgnantes Beispiel fr eine berlegung zum Thema der Hand-
17
lung und zu ihrer konstitutiven Bedeutung in der sozialen Welt dienen.
18
Der Schlussteil des Epos (ab XVI. Gesang) ist der Wiedereroberung von
19
20
Odysseus’ Reich nach dessen Irrfahrt von Troja nach Ithaka gewidmet.28 Auch
21
dieses letzte Abenteuer mndet nicht in unmittelbare Gewalt, sondern zeigt die
22 Begabung des Helden zur Schlauheit und zu pragmatischem Denken. Er greift
23 nmlich die Usurpatoren in seinem Haus nicht direkt an, sondern stellt eine In-
24 szenierung zusammen, die sich um eine prgnant herausgebildete Handlung
25 dreht. Diese bildet einen gut geeigneten Ausgangspunkt fr die Untersuchung:
26 eine Handlung, die eine Flle von Bedeutungen in sich trgt, verwickelte Leitf-
27 den zusammenfhrt und einen neuen Horizont innerhalb der praktischen Um-
28 welt enthllt. Odysseus strandet zunchst verkleidet auf Ithaka und geht erst
29 nach einer gewissen Vorbereitung zum Angriff ber. Im Rahmen eines Wettbe-
30 werbs unter den Usurpatoren wird er als einziger seinen eigenen Bogen spannen
31 kçnnen und damit einen Pfeil durch zwçlf Stahlschilder abschießen. Erst danach
32 wird er sich gegen die Freier wenden und sie zielsicher bekmpfen.
33
34 25 Vgl. Husserl: Ergnzungsband. 11 – 13 (Anm. 1 – 2).
35
26 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklrung. Philosophische Frag-
mente. Frankfurt a.M. 2000. 62.
36 27 Horkheimer, Adorno: Dialektik. 67.
28 In seinen berlegungen zum Mythos bezeichnet Husserl gerade das Motiv des Heimat-
37
38 landes als ein sehr prgnantes und universales Thema der „ersten Auffassung der Welt“:
„Menschliches Dasein in der natrlich-vçlkischen Geschichtlichkeit, in dem Horizont Heimat
39 und Fremde, in der Heimatlichkeit das normale Dasein, der normal sich befriedigenden For-
40 men der Selbsterhaltung eines vçlkischen Daseins“ (Husserl: Ergnzungsband. 38).
194 Alice Pugliese
1 dem Hund setzt die Anerkennung auf dem sehr niedrigen Niveau sinnlicher Kçr-
2 perlichkeit an. Er riecht seinen Herren, um gleich danach getrçstet zu sterben.
3 Sein Tod drfte suggerieren, dass eine so unvermittelte, tiefstufige und rein sinn-
4 liche Erfahrung zu keinem praktischen Einsatz, keiner effektiven Kooperation
5 fhren kann. Die Amme erkennt hingegen eine Narbe auf Odysseus’ Bein. Die-
6 se Anerkennung erfolgt durch Tasten, also noch auf einer leiblichen Ebene, je-
7 doch schon durch das aktive Erinnern an eine gemeinsame Vergangenheit. Auf
8 dieser Basis kann die Amme in die geplante Handlung miteinbezogen werden.
9 Diese Vorbereitungsszenen dienen dazu, die Identitt des Helden schrittwei-
10 se aufzudecken und zu sttzen, seine personale Geschichte zu enthllen und ihn
11 erneut wieder an sie zu binden. Erst danach kann sich die zentrale Handlung
12 sinnvoll entfalten. Wenn Odysseus schließlich mit dem Bogen schießt, zielt er
13 nicht nur, ja nicht primr darauf ab, seine Feinde zu besiegen. Er hat vielmehr in
14 erster Linie vor, diesen mhsamen Prozess der Anerkennung zur Vollendung zu
15 bringen. Indem er nmlich seine Handlung plant, betrachtet er die praktische
16 Situation nicht nur aus seiner eigenen Perspektive als legitimer Kçnig, sondern
17 aktiviert notwendigerweise auch den Blick der Anderen. Er vergegenwrtigt
18 sich deren Perspektive und handelt nicht nur aus sich heraus und auf sein Ziel
19 hin, sondern wird auch durch den Blickwinkel der Anderen mitbestimmt und
20 -geleitet. Er verfolgt nicht nur seine eigenen Motivationen. Aktiv sind auch Mo-
21 tivationen, die von Anderen stammen. Eine zunchst bloß mçgliche Interaktion
22 wird mit-bercksichtigt und ist mit-beabsichtigt. Intentionen der Mit-Men-
23 schen werden der Handlung einverleibt und durch einen mittelbaren Weg zur
24 Ausfhrung gebracht. Der tatkrftige Odysseus, literarisches Symbol des Self-
25 mademan, handelt in erster Linie im Angesicht der Anerkennung von Anderen,
26 ja, er muss die Mit-Verwirklichung ihrer Motivationen fordern, um seine eigene
27 Handlung nicht nur erfolgreich, sondern berhaupt sinnvoll angehen zu kçn-
28 nen.
29 Die literarische Beschreibung liefert uns hier ein deskriptives Muster, das jene
30 Erfahrungsmomente ernst nimmt, in denen Andere mit ihren Motivationen, Vor-
31 stellungen und Forderungen durch uns hindurch handeln, in denen also unsere
32 eigene Handlung die Anforderungen und Motive von Anderen zu erfllen
33 scheint, ohne uns jedoch fremd zu werden. Nicht nur die Extremflle von Mani-
34 pulation oder Entfremdung sind damit gemeint. In allen sozialen Kontexten,
35 von der Ich-Du-Interaktion bei Paaren, in der Familie, bei Eltern-Kind-Bezie-
36 hungen bis hin zu der komplexen Dynamik von Gruppen, Gesellschaften oder
37 Institutionen lsst sich die, wenn auch individuelle, Handlung in einem rein sin-
38 gulren und solipsistischen Akt nicht erschçpfen.
39
40
196 Alice Pugliese
1 7. Schluss
2
3 Die in den vorangegangenen berlegungen erfolgte phnomenologische Rekon-
4 struktion der Handlung hat gezeigt, dass das dualistische Modell, das diese auf
5 Grund einer strikten bereinstimmung zwischen einem Entschluss und einem
6 bestimmten Ziel zu erklren beansprucht, radikal in Frage gestellt werden muss.
7 Das subjektive Handeln erweist sich als Strom, der verschiedenen, aber nicht
8 alternativ zu verstehenden Motivationsquellen entspringt. Leibkçrperliche
9 Funktionen, passive und triebhafte Tendenzen des Bewusstseins sowie die Mit-
10 wirkung von Anderen durch Sozialisierungsprozesse und intersubjektive dyna-
11 mische Prozesse lassen sich nicht als bloße Hindernisse fr eine wirkungsvolle
12 Handlung betrachten. Sie bestimmen vielmehr den beweglichen inneren Hori-
13 zont des subjektiven Handelns und tragen wesentlich zu seiner Strukturierung
14 bei. Gegen die philosophische Idealisierung der Handlung als exklusive Selbst-
15 realisierung eines bewussten Subjekts erhebt die Forderung nach einer umfassen-
16 deren, phnomentreu und heuristisch differenzierten Handlungstheorie Ein-
17 spruch. Ein solcher Ansatz, der eine noch bevorstehende Aufgabe darstellt,
18 fhrt ber die Debatte der kausalen und nicht-kausalen Erklrungen hinaus und
19 zielt darauf ab, die Handlung außerhalb einer Innen-Außen-Alternative zu deu-
20 ten.
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
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36
37
38
39
40
1 Sonja Rinofner-Kreidl
2
3
4 Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht
5
Zu Reichweite und ambivalenter Bewertung von (Selbst-)Vergebung
6
7
8 Schizophrenie Vielfaltmenschlicher Weil dieser Shylock genau in der
Selbstndigkeit Shakespeare Schizophrenie zwischen Vergebung und Rache
9
liegt – dem Spielfeld unserer Existenz.
10
11 Tobias Moretti, der in einem Interview als
12 seine Shakespeare-Wunschrolle „Shylock“ aus
dem Kaufmann von Venedig nennt und nach
13
dem Grund seiner Wahl gefragt wird (Kleine
14 Zeitung. 9. 2. 2014).
15
16
17 Zur Wrde eines Menschen gehçrt die
Einsicht, daß alle innere Selbstndigkeit
18
zerbrechlich ist, auf Sand gebaut. Diese
19 Einsicht kann ein kostbares Gefhl der
20 Solidaritt entstehen lassen.
21
Peter Bieri: Eine Art zu leben. ber die
22
Vielfalt menschlicher Wrde. Mnchen 2013.
23 86.
24
25
Es ist eine verbreitete Ansicht, dass ein Gemeinwesen, sofern dessen letzter
26
Grund nicht rationale Tauschgeschfte und (reale oder imaginre) Kontrakte,
27
sondern soziale Nahbeziehungen sind, welche aus einer geteilten Moralitt er-
28
wachsen, ohne die Fhigkeit und Bereitschaft zur Vergebung kaum stabile und
29
friedliche Formen des Zusammenlebens hervorbringen kçnnte. Ich stimme die-
30
ser Ansicht zu. Gleichwohl ist damit nicht gesagt, dass die pragmatische „Fein-
31
motorik“ unseres alltglichen moralischen Umgangs miteinander auch ein pr-
32
gnantes Wissen darber vermittelt, was denn unter Vergebung zu verstehen und
33
wie deren Reichweite und normative Kraft einzuschtzen sei. Dieser Frage sind
34
die folgenden berlegungen gewidmet. Mein Ausgangspunkt ist, was ich als
35
„Standardauffassung“ von Vergebung bezeichnen mçchte.1
36
Vergebung ist eine mçgliche Antwort auf negativ bewertete Handlungen,
37
durch die andere nicht nur in einem oberflchlichen (z. B. ihre Besitztmer tan-
38
39 1 Prsentiert und diskutiert wird diese u. a. von Jeffrie G. Murphy, Jean Hampton: Forgive-
40 tadelnswerter Handlung und Person bzw. Charakter im Einzelnen verstanden wird. Vgl. Geor-
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 199
1 in authentischer Weise anzuerkennen, dass der Tter nicht auf seine schlechte
2 Tat reduzierbar sei, sei Vergebung mçglich, ohne durch den Akt der Vergebung
3 die Selbstachtung des vormaligen Opfers erneut zu beschdigen oder zu verlie-
4 ren. Die Nichtreduzierbarkeit des Tters auf die Tat (sc. Handlung oder Unter-
5 lassung) bekundet sich auch in der Reue des Tters, die mehrheitlich als notwen-
6 dige Bedingung fr eine moralisch gerechtfertigte Vergebung verstanden wird.
7 Gefhle der Vergebung wie ebenso des Widerstandes gegen Vergebung und der
8 (rachschtig, neidisch etc.) verweigerten Vergebung sind ein Spiegelbild dessen,
9 dass die wechselseitige Anerkennung handelnder Subjekte von subtiler Natur
10 ist. Dieser Subtilitt zwischenmenschlicher Begegnungen kann eine bloß rechtli-
11 che Sanktionierung von Missetaten – so unbestritten deren Legitimation und Un-
12 verzichtbarkeit auch ist – nicht gerecht werden.
13 Wenn Obiges eine zutreffende und konsensfhige Beschreibung dessen ist,
14 was bei Vergebung im Spiel ist und auf dem Spiel steht, dann scheint dies zwei
15 Phnomene, die uns alltglich vertraut sind, auszuschließen: einerseits Selbstver-
16 gebung und andererseits eine Vergebung, die sich nicht auf eine Handlung rich-
17 tet, sondern auf das Sosein einer Person, aus der die fragliche Handlung ent-
18 sprungen ist bzw. berhaupt im Sinne realer Motivation mçglich war. Letzteres
19 unterminiert die fr die moralische Akzeptanz von Vergebung als unabdingbar
20 ausgewiesene Unterscheidung von Tat und Tter. Die praktische Pointe dieser
21 Unterscheidung ist: Whrend die rechtliche Ahndung („Vergeltung“) der Tat zu-
22 lssig und im Sinne der Wiederherstellung sozialer Verhltnisse angemessen ist,
23 ist dies von Rachsucht gegenber dem Tter sorgfltig zu unterscheiden, welche
24 selbst bei gravierenden beltaten mindestens moralisch fragwrdig ist und ge-
25 genwrtig in unserem Kulturraum mehrheitlich zurckgewiesen wird.3 Selbst-
26
27 ge Sher: Desert. Princeton 1987. 150 – 174; ders.: In praise of blame. Oxford 2006. Bes. 33 – 70.
28 Nur soviel ist mit der Tat/Tter-Unterscheidung antizipiert, dass der Zusammenhang nicht so
eng sein darf, dass dem Tter qua Annahme eines psychologischen Determinismus keinerlei
29
Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum seinen eigenen Handlungen gegenber eingerumt
30 wird. In diesem Fall bliebe eine Voraussetzung von Vergebung unerfllt: dass wir nur Handlun-
31 gen fr vergebungsfhig (und gegebenenfalls fr vergebungsbedrftig) halten, welche wir We-
sen zuschreiben, die im Sinne mçglicher Entwicklung und Selbstvervollkommnung eine zu-
32
mindest graduelle Freiheit mit Bezug auf ihr Handeln haben. Kleinkinder, schwer geistig
33 Beeintrchtigte und Demente betrachten wir demnach nicht als mçgliche Adressaten fr Akte
34 der Vergebung. Wie der Hinweis auf solche Mitglieder der Gemeinschaft in Erinnerung ruft,
35 darf der Zusammenhang von tadelnswerter Handlung und Charakter auch nicht so lose sein,
dass aktuell und ber die Zeit hinweg gar kein Bewusstsein der Autorschaft vorliegt, wenn
36 Vergebung in ihrem Anspruch und ihrer Bedeutung verstehbar sein soll.
3 Ohne hier darauf eingehen zu kçnnen, sei auf zwei Qualifizierungen verwiesen. Erstens
37
38 bedarf der Bezug auf „uns“ bzw. „unseren“ Kulturraum nherer Bestimmung, um nicht unge-
bhrliche Einheits- und Homogenittsillusionen zu begnstigen. Der hier grosso modo anvi-
39 sierte nordamerikanisch-europische Kulturraum enthlt durchaus geografische Regionen
40 und soziale Submilieus, in welchen die fr „unsere“ Rechts- und Moralkultur grundlegende
200 Sonja Rinofner-Kreidl
1 vergebung hebt entweder die Bedingung, dass aller Vergebung eine Fremdsch-
2 digung vorangehen msse, schlechthin auf (was ich mir selber vergebe und nur
3 ich mir vergeben kann, kann nicht das mich betreffende Handeln eines anderen
4 sein), oder sie deutet diese Anforderung zum Nachteil der Vergebenden um:
5 Selbstvergebung als Antwort auf eine Fremdschdigung steht unter dem Ver-
6 dacht einer stillschweigenden post hoc-Komplizenschaft mit dem beltter,4 ei-
7 ner imaginren (und vielleicht pathologischen) Tatwiederholung und Selbstab-
8 wertung. Selbstvergebung als Antwort auf eine Selbstschdigung dagegen zieht
9 – was ebenso fr Selbstvergebung auf Seiten des Tters gilt – den kontrren Ein-
10 wand der „cheap grace“ auf sich: Sie ist moralisch suspekt, weil mit einem star-
11 ken, wenn auch unter Umstnden unbemerkten Willen zur Schulderleichterung
12
und Selbstbesttigung zu rechnen ist. Gilt die Standardauffassung von Verge-
13
bung im oben skizzierten Sinn, so scheinen sowohl Selbstvergebung als auch Ver-
14
gebung dessen, dass jemand so ist, wie er ist (und nicht bloß etwas Bestimmtes
15
getan hat), unmçglich. Phnomene dieser Art kçnnten entweder nicht auftreten
16
oder wren, wenn es sie gbe, anders zu beschreiben und zu kategorisieren.
17
Im Folgenden will ich mich auf eines der genannten Phnomene – Selbstverge-
18
bung – beschrnken und dieses einer genaueren Analyse unterziehen. Nach eini-
19
gen kurzen Hinweisen auf das phnomenologische Interesse dieser Untersu-
20
21
chung unterscheide ich im ersten Abschnitt zwei Grundtypen von Fragen,
22
anhand derer das Thema Vergebung bearbeitet werden kann. Je nachdem, ob die
23 Frage nach Rechtfertigung oder die Frage nach Befhigung untersuchungslei-
24 tend ist, treten unterschiedliche Aspekte bei der Phnomenbeschreibung in den
25 Vordergrund. Ich argumentiere, dass allein unter dem Gesichtspunkt der Befhi-
26 gungsfrage die enge Verknpfung von Vergebung und Selbstvergebung wie auch
27 die keineswegs nur sekundre Bedeutung von Selbstvergebung (als Ersatz fr
28
Intuition der Tat/Tter-Unterscheidung unterlaufen wird. Man denke etwa an Ehrenkodizes
29
in Verbrecherkreisen oder an die Tradition der Vendetta (Blutrache). Zweitens ist auch dort,
30 wo die genannte Grundintuition eine gefestigte berzeugung und allgemeine Praxis darstellt,
31 mit einer ambivalenten Haltung zu rechnen, die in einer direkten und indirekten (empathi-
schen) affektiven Betroffenheit grndet: Auch wenn „wir“ uns (historisch u. a. von der katholi-
32
schen Glaubenslehre getragen) generell zur Tat/Tter-Unterscheidung bekennen, kçnnen wir
33 in Extremfllen Akte der Selbstjustiz zumindest emotional und psychologisch nachvollziehen
34 – wie „befremdlich“ auch immer sie von einem distanzierteren Standpunkt der Vernunft er-
35 scheinen mçgen. (Wir sind das „krumme Holz“, von dem Kant spricht. Vgl. Immanuel Kant:
Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbrgerlicher Absicht. In: Ders.: Werke. In sechs
36 Bnden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Bd. IV. Darmstadt 1983. 32 – 50. 41.)
4 Vgl. Susan Brison: Aftermath. Violence and the remaking of the self. Princeton 2002.
37
38 Ch. 1: „Survival of Sexual Violence“; Sonja Rinofner-Kreidl: Selbsttuschung und Flucht in
paternalistische Lebensformen: ber ambivalente Formen des Umgangs mit Angst. In: Dieter
39 Goltschnigg (Hg.): Angst. Lhmender Stillstand und Motor des Fortschritts. Grazer Hum-
40 boldt-Kolleg 6.–9. Juni 2011. Tbingen 2012. 102 – 105.
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 201
37 In: Inga Rçmer (Hg.): Affektivitt und Ethik bei Kant und in der Phnomenologie. Berlin
38 2014 (im Erscheinen).
7 Vgl. Sonja Rinofner-Kreidl: Neid und Ressentiment. Zur Phnomenologie negativer so-
39 zialer Gefhle. In: Karl Mertens, Jçrn Mller (Hg.): Die Dimension des Sozialen. Neue philo-
40 sophische Zugnge zu Fhlen, Wollen und Handeln. Berlin 2014 (im Erscheinen).
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 203
34 of forgiveness. History, conceptual issues, and overview. In: Dies.: Forgiveness. Theory, rese-
35 arch and practice. New York 2000. 1 – 14. 3: „that the 20th century has been the bloodiest and
probably the most unforgiving century in human history, perhaps leading people to conclude
36 that forgiveness constituted little more than a nice sentiment.“
9 Vgl. die Darstellung dieser Einwnde und die Evaluierung des Stellenwertes von Selbst-
37
38 vergebung bei Peter Goldie: Self-forgiveness: A case study. In: Ders.: The mess inside. Narrati-
ve, emotion, and the mind. Oxford 2012. 98 – 116; ders.: Self-forgiveness and the narrative sen-
39 se of self. In: Christel Fricke (Hg.): The ethics of forgiveness. A collection of essays. New York
40 2011. 81 – 94; Griswold: Forgiveness. 122 ff.
204 Sonja Rinofner-Kreidl
1 sens) erlaubt ist zu vergeben, bzw. „Nutznießer“ von Vergebung zu sein, interes-
2 siert mich, was Vergeben ermçglicht bzw. was ihm aus der Sicht der handelnden
3 Personen Sinn verleiht. Eine kurze Erluterung dessen, was ich damit meine,
4 mag einerseits als Problemeinleitung und andererseits als Erklrung dafr die-
5 nen, weshalb es mir beim gegenwrtigen Stand der Debatte wichtig erscheint,
6 mich mit Vergebung zu befassen und das gemß einem bestimmten Problemzu-
7 griff zu tun.
8 Die Auseinandersetzung mit Selbstvergebung lenkt die Aufmerksamkeit auf
9 die Frage, wie ich mich selber verstehen bzw. wie ich sein, d. h. ber welche F-
10 higkeiten ich verfgen muss, um als Subjekt von Akten des Vergebens fungieren
11 zu kçnnen. Dagegen lenkt die Fokussierung auf die Frage nach den notwendi-
12 gen Bedingungen eines moralisch gerechtfertigten Vergebens die Aufmerksam-
13 keit in einer restriktiven Weise auf das Objekt des Vergebens, indem untersucht
14 wird, was der beltter tun msse, um Vergebung zu verdienen. In diesem Zu-
15 sammenhang wird Reue bzw. Reuebereitschaft thematisiert, welche quasi als see-
16 lisches Pendant zu den unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit geforderten
17 Reparationsleistungen begriffen wird. Wer bereut, so ließe sich die gngige Auf-
18 fassung zusammenfassen, erscheint der Vergebung immerhin wrdig, auch
19 wenn weder auf Reue allein automatisch und vorhersehbar Vergebung folge (so
20 wie auf eine hinreichende Ursachenmenge eine bestimmte Wirkung mit naturge-
21 setzlicher Notwendigkeit folge) noch Vergebung berhaupt jemals als ein Recht
22 eingefordert werden kçnne. Vielmehr handle es sich, sofern Vergebung in der
23 betreffenden Situation als zulssig und gerechtfertigt erscheine, unter dem Ge-
24 sichtspunkt singulrer Akte um supererogatorische Handlungen bzw. unter dem
25 Gesichtspunkt einer zeitbergreifenden Haltung und Handlungsbereitschaft um
26 eine Tugend. Deren angemessene Ausbung kçnne jedoch allein im Kontextbe-
27 zug und mit Blick auf die Gefhle und sonstigen (kognitiven, konativen) Fhig-
28 keiten des Akteurs beurteilt werden.12 Den Fokus auf die Handlung und ihre
29
30 12 Vgl. z. B. Nancy Potter: Is refusing to forgive a vice? In: Peggy Des Autels, Joanne
31 Waugh (Hg.): Feminists doing ethics. Lanham 2001. 135 – 150. Kritisch zu Vergebung als su-
pererogatorischem Akt, sofern dieses Konzept dazu tendiert zu unterschlagen, dass die Alter-
32
native zu nicht-verpflichtender Vergebung nicht bloß Vergebung als freiwillige „Mehrleis-
33 tung“, sondern auch schlicht die Unzulssigkeit von Vergebung im jeweiligen Kontext sein
34 kann, ußert sich z. B. Rhonda Anderson: Non-obligatory forgiveness: Supererogatory or im-
35 permissible? In: Auslegung 22 (1997). 39 – 47. Die Autorin weist im Sinne dieser Kritik insbe-
sondere darauf hin, dass Vergebungsakte sozial schdliche Folgen haben kçnnen (z. B. Entsoli-
36 darisierung in Gruppen von Missbrauchsopfern). Vgl. die treffende Diagnose Annette Baiers:
37 „so we must take care that our individual willingness to forgive does not put others in danger.
38 Overwillingness to excuse untrustworthiness, as well as undue distrust, may not merely depri-
ve me of a good, but may destroy a minisystem, a little network of mutually beneficial expecta-
39 tions. Uncomplaining or automatically forgiving long-suffering invites its own continuation.
40 Demanding one’s rights belligerently is certainly one way to destroy trust, but never standing
206 Sonja Rinofner-Kreidl
1 per Distanz wiederherzustellen, wenn auch nur im Sinne eines labilen, konflikt-
2 dmpfenden Friedens. Es kann auch bedeuten, sich den Schutz eines Mchtige-
3 ren durch Nachgeben und geflissentliches bersehen einer erlittenen Demti-
4 gung zu „erkaufen“. Akte der Vergebung kçnnen ebenso unterschwellig darauf
5 abzielen, Selbstgerechtigkeit und moralische Hybris, scheinbar autorisiert durch
6 die Opferrolle, sozial zu legitimieren, d. h. Anerkennung fr die (angebliche) mo-
7 ralische Hçherwertigkeit des Opfers gegenber dem beltter zu verschaffen.
8 In letzterem Zusammenhang kann Vergebung sogar als subtile Form der Rache
9 am beltter und als Inszenierung seiner Verachtung gewhrt werden. Verge-
10 bung kann vom sozialen Umfeld erzwungen oder sich selbst – zu wenig reflek-
11 tiert, zu berstrzt und ohne berzeugung – abgerungen werden. Sie kann halb-
12 herzig, unaufrichtig oder aus den falschen Grnden versprochen und unter der
13 irrigen Annahme einer beliebigen Herstellbarkeit und Manipulierbarkeit der in-
14 neren Bereitschaft zur Vergebung gesucht werden. Die Formen gelingender wie
15 scheiternder Vergebung sind vielfltig.13
16 In smtlichen ihrer Spielarten hat Vergebung, so die hier zugrunde gelegte
17 These, eine soziale Konstitution und Erscheinungsform. Das gilt ebenso fr
18
Selbstvergebung, deren Untersuchung sich keineswegs in einem vor Miss-
19
brauch, Manipulation und Tuschung geschtzten Bereich bewegt. Selbstverge-
20
bung zu thematisieren, fhrt, verglichen mit „normalen“ Fllen von Vergebung,
21
nicht in eine mentale Innenwelt und nicht in eine restriktive Problemsicht. Es
22
handelt sich nicht um eine Schwundstufe sozialer Erfahrung oder darum, blind-
23
lings in die Sackgasse eines reinen Subjektivismus einzubiegen, wo willkrliche
24
Setzungen ohne Anhalt in der Sache selber vorherrschen. Den Fokus auf Selbst-
25
vergebung zu legen, fhrt vielmehr zu einer strker holistischen Sicht von Verge-
26
bensprozessen. Diese schließt die implizite Sozialitt jedes moralisch adressierba-
27
ren menschlichen Subjekts ebenso ein wie jene handlungstheoretischen
28
Komplikationen, welche darin grnden, dass mit Bezug auf die Manifestation
29
einer vergebungsbedrftigen Handlung nicht allein (wiewohl primr auffllig)
30
die Handlungsfolgen, sondern ebenso die „subkutanen“ Fragen der Handlungs-
31
motivation, der Freiheitsvoraussetzung, der nicht bloß nominellen, sondern kon-
32
33
kreten (realen) Selbstbestimmungsfhigkeit eines Akteurs und der entsprechen-
34
den Zuschreibbarkeit von Verantwortung zu bedenken sind.
35
Was die Sozialitt der fraglichen Gefhle und Handlungen betrifft, ist offen-
36 kundig, dass auch unter dem Gesichtspunkt der Selbstvergebung der Umstand
37 zu bercksichtigen ist, dass Vergebung dem Vergebenden ebenso ntzt wie dem,
38 13 Einen diesbezglich reichen Materialfundus bieten nicht nur wissenschaftliche Sozialstu-
39 dien, in Gestalt von Feldforschung und Theoriearbeit, sondern ebenso z. B. die Theaterkunst
40 und die Romane der Weltliteratur.
208 Sonja Rinofner-Kreidl
1 dem vergeben wird, ohne dass aber (stillschweigend) ein enger Nutzenbegriff
2 unterstellt wrde und der Effekt eines geteilten Nutzens bloß als ein Nutzenkal-
3 kl auf Basis eines so genannten „aufgeklrten Eigeninteresses“ handlungslei-
4 tend wre. Andernfalls msste der praktische Nutzen von Vergebung – ihr Bei-
5 trag zum individuellen und kollektiven Wohlbefinden und Wohlergehen – unter
6 allen Umstnden als (Selbst-)Instrumentalisierung gedacht werden. Genuine Ver-
7 gebung und Selbstvergebung erwachsen aus der Selbstsorge von Individuen,
8 d. h. aus einem moralischen Interesse am eigenen Selbst,14 ohne dass die Erfl-
9 lung dieses Interesses jedoch vorweg als Ziel des Vergebungsprozesses bzw. -ak-
10 tes intendiert wre – und intendiert sein kçnnte. Wre dies nmlich der Fall,
11 „kollabierten“ moralisches und egoistisches Interesse: Sie wrden ununter-
12 scheidbar. Unter dieser Bedingung wren Reue und Vergebung nicht mehr als
13 eine pharisische Geste, etwa indem „der Bereuende geistig in seinem Reueakt
14 auf die Gte des jetzt bereuenden Ich hinschielt – und damit auch die Reue zu
15 einem neuen Anlaß seiner Eitelkeit und eines geheimen Ruhms vor sich selbst
16 oder gar vor Gott macht“.15 Ohne die Befhigung zu einer erweiterten (nicht-
17 egoistischen) moralischen Selbstsorge wre unverstndlich, wie ein Prozess der
18 Vergebung einsichtig und eigenmotiviert in Gang gesetzt werden kçnnte, der
19 mehr als bloß ein maskiertes Tauschgeschft zur Stabilisierung von Machtver-
20 hltnissen wre.
21
22
23
24
2. Zur Mçglichkeit und Wirklichkeit von Selbstvergebung
25
26
Selbstvergebung nicht nur im Sinne ihrer widerspruchsfreien Denkbarkeit als
27
formal mçglich, sondern als real mçglich (wirklich) zu verteidigen, schließt im
28
Wesentlichen zwei Aufgaben ein: Erstens bedarf es einer Unterscheidung ver-
29
schiedener Phnomene, die unter dem Titel „Selbstvergebung“ adressiert wer-
30
den, wie auch einer Unterscheidung entsprechender Erlebnistypen. Zweitens
31
muss die Konzeption des Selbst, welche in der Rede ber „Selbstvergebung“ vor-
32 14 Je nachdem, wie eng oder weit das zugrunde liegende Konzept des Selbst angelegt ist, ist
33 die Selbstsorge mehr oder weniger weit von der Sorge um Andere entfernt bzw. umgekehrt
34 mehr oder weniger inklusiv. Gemß einer buddhistischen Denkweise etwa geht Selbstsorge
35 weit ber die Grenzen individueller Existenz hinaus. Der Grund fr eine allgemeine Vergebens-
bereitschaft ist hier ein global erweitertes Mitleiden mit anderen menschlichen und nicht-
36 menschlichen Kreaturen. Dies schließt ausdrcklich auch Mitleid mit belttern ein – unge-
37 achtet der Zurckweisung ihrer moralisch verwerflichen Taten. Vgl. Paul Ekman (Hg.): Emo-
38 tional awareness. Overcoming the obstacles to psychological balance and compassion. A con-
versation between The Dalai Lama and Paul Ekman. New York 2008. 100 – 107. 139 – 225.
39 15 Max Scheler: Reue und Wiedergeburt. In: Ders.: Vom Ewigen im Menschen. Bern 41954.
40 27 – 59. 50.
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 209
1 ausgesetzt ist, explizit gemacht und erlutert werden. Ich wende mich vorerst
2 der zweiten Aufgabe zu.
3 Selbstvergebung ist nur dann begrifflich konsistent einzufhren und im Zu-
4 sammenhang menschlicher Erfahrung verstndlich, wenn eine Konzeption des
5 Selbst zugrunde gelegt wird, fr die Folgendes gilt:
6 a) Das Selbst ist eine Vorstellung bzw., in normativer Interpretation, ein Ideal,
7 das nicht jenseits des sozialen Kontextes entsteht und nicht jenseits (unabhn-
8 gig) von ihm erfahrbar und explizierbar ist. Konstitution des Selbst und Konsti-
9 tution der Sozialitt sind in verschiedener und unauflçsbarer Weise miteinander
10 verflochten.16 Weder ein absolutes epistemisches Privileg der Fremderkenntnis
11 noch ein absolutes epistemisches Privileg der Selbsterkenntnis sind unter der
12 Voraussetzung eines solchen relationalen Selbst-Konzeptes zu verteidigen: We-
13 der kçnnen wir mit Bezug auf berzeugungen, Gefhle, Handlungen u. dgl. der
14 Maxime folgen „nichts ist innen, alles ist außen“ noch der entgegengesetzten Ma-
15 xime „alles ist innen, nichts ist außen“. Nach letzterer Auffassung kennte nur ich
16 allein meine berzeugungen, Gefhle und Handlungen; nur ich wsste, was ich
17 fhle, wer ich bin etc. Anstelle dieser Extrempositionen ist gemß dem obigen
18 Verstndnis von Selbst eine relative, in weitestem Umfang fallible und korrigier-
19 bare Selbsterkenntnis zu setzen, die unter normalen Umstnden verlsslich und
20 nicht auf Fremderkenntnis reduzibel ist, weil sich in diesem Fall die Differenz
21 von ego und alter ego, jedenfalls unter epistemischen Gesichtspunkten, aufhç-
22 be.17
23 b) Ein Selbst ist keine homogene und statische Einheit, sondern in der Zeit
24 vernderbar. Es ist im Hinblick auf seine Identitt irritierbar, oft auch simultan
25 von konfligierenden berzeugungen, Haltungen etc. geprgt. Das Selbst stellt
26 zwar eine Einheit dar, es handelt sich jedoch weder im Sinne der Konsistenz um
27 eine vollstndig rationale Einheit noch um eine vollkommen stabile Einheit. Ein
28 Selbst (wie wir es kennen) ist vielmehr eine mehr oder weniger labile und frag-
29 mentierte Einheit.18 Nur unter dieser Bedingung kann das eigene vergangene
30
16 Das bedeutet z. B., dass selbst solche Phnomene wie Selbsttuschung eine relevante so-
31
ziale Dimension haben. Vgl. Sonja Rinofner-Kreidl: Selbsttuschungen. Zur Sozialitt pseu-
32
do-reflexiver Handlungen. In: Christian Brnner u. a. (Hg.): Mensch – Gruppe – Gesellschaft.
33 Von bunten Wiesen und deren Grtnerinnen bzw. Grtnern. FS fr Manfred Prisching zum
34 60. Geburtstag. Wien 2010. 281 – 298; dies.: Selbsttuschung und Flucht.
17 „The capacity for the fragmented self to ,appear to oneself distinctly‘ is less than perfect,
35
but it is demonstrable, especially in examples of self-condemnation for harming others.“ (Kath-
36 ryn Norlock: Forgiveness from a feminist perspective. Lanham 2009. 145.)
18 Ein sich teilweise der rationalen Vereinheitlichung (z. B. im Sinne konstanter Prferen-
37
38 zen) entziehendes und in diesem Sinn fragmentiertes Selbst ist nicht mit einem geteilten Selbst
(partitioned self) zu verwechseln. Lge im strengen Sinn ein geteiltes Selbst vor, so wre der
39 Bewusstseinszusammenhang aufgehoben, so dass auch von einer Selbstvergebung nicht mehr
40 gesprochen werden kçnnte.
210 Sonja Rinofner-Kreidl
1 Selbst im Hinblick auf das, was es getan und unterlassen, gefhlt, gewollt, ge-
2 dacht und bezweckt hat, in einem nicht-pathologischen Sinn als „fremd“ erfah-
3 ren werden. Selbstvergebung ist eine mçgliche Art und Weise, auf solche Ent-
4 fremdungserfahrungen zu reagieren. Sie ist mit dem Anspruch verbunden, aus
5 dem Stand einer mehr oder weniger stark empfundenen Distanz zu sich selber
6 eine (wiederum prekre) narrative Einheit des Selbst zu erlangen und bis auf
7 Weiteres fr gltig zu erachten. Das Verhltnis zum eigenen Selbst kann jedoch
8 nur dann als Variante eines Verhltnisses zu einem anderen – und entsprechend
9 Selbstvergebung nur dann als strukturanalog zu Fremdvergebung – verstanden
10 werden, wenn mir mein eigenes vergangenes Handeln als fremd (oder „befremd-
11 lich“) erscheinen kann: so als ob ich nicht (mehr) die wre, die so gehandelt hat
12 bzw. handeln konnte. Mit Blick auf die bloße Form des hier implizierten Selbst-
13 verhltnisses kçnnen wir mithin sagen: „Selbstvergebung“ bezeichnet die pro-
14 zessual zu vermittelnde Wiedererlangung einer (relativen) Einheit mit sich sel-
15 ber – was einen vorgngigen Zwiespalt, eine Uneinigkeit mit sich voraussetzt.
16 Diese re-stabilisierende Funktion von Selbstvergebung erweist sich als analog
17 zur Funktion der Fremdvergebung, welche darin liegt, in gewissen Milieus und
18 auf einem gewissen Niveau kooperationsfhige soziale Einheiten wiederherzu-
19 stellen, welche vordem zerbrochen oder stark geschwcht waren.
20 Fassen wir zusammen: Selbstvergebung kann sich nur auf Basis einer Konzep-
21 tion des Selbst, welche, erstens, dessen relationalen Charakter, d. h. den intrinsi-
22 schen Zusammenhang von Personalitt und Sozialitt, anerkennt, als ein (wie-
23 der)erkennbares Phnomen abheben. Selbstvergebung ist nur dann mçglich,
24 wenn wir, zweitens, nicht von einem maximal vereinheitlichten (und in diesem
25 Sinn „starken“) Selbst ausgehen, sondern dessen relativ instabilen, partiell dis-
26 kontinuierlichen, fragmentierten Charakter anerkennen.19 Was bedeuten die so-
27 ziale Konstitution und dynamische Identitt des Selbst im Hinblick auf die mçg-
28
lichen Erscheinungsformen von Vergebung? Aus a) und b) resultiert eine
29
30 19 Vgl. Norlock: Forgiveness. 137 ff. Ich werde hier nicht zu Gunsten dieser beiden Annah-
31 men argumentieren. Vgl. Sonja Rinofner-Kreidl: Scham und Autonomie. In: Phnomenologi-
sche Forschungen 2013. 163 – 191; dies.: Selbst-Objektivation, Selbst-Entfremdung, Selbst-Be-
32
stimmung. Zur phnomenologischen Konzeption von Subjektivitt. In: Dies.: Mediane
33 Phnomenologie. Subjektivitt im Spannungsfeld von Naturalitt und Kulturalitt. Wrzburg
34 2003. 108 – 124. Mir geht es im Folgenden allein darum zu klren, was sich mit Bezug auf
35 Selbstvergebung deskriptiv und argumentativ ausfhren lsst, wenn man diese Annahmen,
d. h. den oben skizzierten Theorierahmen, zugrunde legt. Dass eine anschauungsbasierte ph-
36 nomenologische Analyse berhaupt eine relative Theorieabhngigkeit von Phnomenbeschrei-
37 bungen anerkennen kann (und muss) – anstatt sich einem naiven und dogmatischen Intuitionis-
38 mus zu verschreiben –, ist die Obiges umgreifende Meta-These, deren Gltigkeit ich im
Folgenden ebenfalls unterstelle. Vgl. Sonja Rinofner-Kreidl: Phenomenological intuitionism
39 and its psychiatric impact. In: Thomas Fuchs, Thiemo Breyer, Christoph Mundt (Hg.): Karl
40 Jaspers’ philosophy and psychopathology. New York 2014. 33 – 60.
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 211
1 der Unparteilichkeit unhaltbar wre. Mit anderen Worten: Die der sozialen Er-
2 fahrung inhrente Tendenz auf Objektivierung ist von spezifisch wissenschaftli-
3 chen, theoretischen Objektivittsbegriffen und -idealen zu unterscheiden.
4 Wie kçnnen wir uns nun auf Basis des oben skizzierten relationalen Kon-
5 zepts des Selbst dem Problem der Vergebung und Selbstvergebung annhern?
6 Der Aspekt der Selbstvergebung ist zwar ein Sonderfall insofern, als Vergebung
7 in den meisten alltglichen Bezugnahmen als ein Geschehen verstanden wird,
8 das mehrere Personen involviert, welche als Subjekt und Objekt von Akten des
9 Vergebens auftreten. Dennoch ist Vergebung prinzipiell von Selbstvergebung
10 nicht zu trennen, weil moralische Subjekte sowohl aus dem Verhltnis zu ande-
11 ren als auch aus dem Verhltnis zu sich leben. Aus einem solchen Verhltnis zu
12 leben, bedeutet nicht zwingend, es kognitiv „im Griff zu haben“: es (jederzeit)
13 reflexiv und reprsentational zugnglich und verfgbar zu haben. In menschli-
14 chen Angelegenheiten ist allgemein davon auszugehen, dass intrapersonelle
15 (Konflikt-)Verhltnisse nicht unabhngig von interpersonellen (Konflikt-)Ver-
16 hltnissen entstehen und auch nicht unabhngig von solchen verstanden werden
17 kçnnen. Aus psychologischer Sicht kann man dem Rechnung tragen, indem Ver-
18 gebung als ein psychosoziales Konstrukt eingefhrt wird.23 Aus phnomenologi-
19 scher Sicht versuchen wir, der Verflechtung von Individuellem und Sozialem aus
20 der Erste-Person-Perspektive bewusster Erfahrungen gerecht zu werden, indem
21 wir entsprechende Komplexitten auf Seiten der Intentionalitt der betreffen-
22 den Erfahrungen aufweisen.24
23
24 23 „[I]t is the forgiver (specifically, in his or her thoughts, feelings, motivations, or behavi-
25 ors) who changes. In this sense, forgiveness is a psychological construct. However, forgiveness
has a dual character; it is interpersonal as well as intrapersonal. Forgiveness occurs in response
26 to an interpersonal violation, and the individual who forgives necessarily forgives in relation to
27 someone else. Thus, even while being a psychological phenomenon, forgiveness is interperso-
28 nal in the same sense that many other psychological constructs are interpersonal in nature
(e. g., trust, prejudice, empathy): Each construct has other people as its point of reference. Alt-
29
hough someone might be said to possess trust, prejudice, or empathy, each of these constructs
30 attempts to describe dimensions of persons that are inescapably social in nature. Both the intra-
31 personal and social aspects of forgiveness are ,real‘; thus, to intrapersonally and interpersonally
conceptualize forgiveness is an eminently reasonable thing to do. Perhaps it is most comprehen-
32
sive to think of forgiveness as a psychosocial construct.“ (McCullough, Pargament, Thoresen:
33 Forgiveness. 9) Ob gemß dem vorliegenden theoretischen Rahmen Selbstvergebung aus- oder
34 eingeschlossen ist, hngt davon ab, wie eng oder weit, wçrtlich oder metaphorisch man „neces-
35 sarily forgives in relation to someone else“ versteht (s. dazu das Folgende im Text).
24 Auf Basis der phnomenologischen Methode ist demnach auch ein kritischer Blick auf
36 narrative Konzeptionen des Selbst zu werfen: „Narratives are reflective selections and orga-
37 nizations of a life. In this sense the narrative captures less than an individual’s life, for not all of
38 a life as pre-reflectively lived can be fitted into a narrative, which best suits goal-directed ac-
tion. […] narratives, by virtue of their selectivity, impose more unity than life itself has manife-
39 sted. […] The narrative account is inadequate to identify the structures and conditions that
40 make possible our emotions, including those that irrupt our ongoing narratives and are subse-
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 213
1 Wenn die obige Bestimmung des Verhltnisses von Vergebung und Selbstver-
2 gebung zutrifft, dann ist davon auszugehen, dass Selbstvergebung (sc. dass ich
3 mir vergebe, einen anderen oder mich selbst verletzt oder geschdigt zu haben) –
4 ihre Mçglichkeit (Denkbarkeit) vorausgesetzt – moralisch nicht fragwrdiger
5 bzw. im Hinblick auf eine moralische Bewertung nicht negativer oder ambiva-
6 lenter zu beurteilen ist, als das auch fr Fremdvergebung gilt (sc. dass ich einem
7 anderen vergebe, mich verletzt oder geschdigt zu haben). Strker noch: Wenn
8 zutrifft, dass im komplexen Phnomen der Vergebung interpersonelle und intra-
9 personelle Momente nicht zufllig, sondern auf Grund des Wesens der fragli-
10 chen Erlebnistypen vereinigt sind, dann ist es ungerechtfertigt, Selbstvergebung
11 vorweg auf Grund eines definitorischen „fiat“ aus dem Untersuchungsfeld aus-
12 schließen zu wollen. Vielmehr ist anzunehmen, dass auch Selbstvergebung intra-
13
personelle und interpersonelle Momente in sich birgt,25 und dass die Untersu-
14
chung von Selbstvergebung zu einem differenzierteren Verstndnis von
15
Vergebung beitragen kann – und auf diese Weise auch zum Verstndnis der Bin-
16
dungsfaktoren in menschlichen Gemeinschaften berhaupt. Die Struktur von
17
Selbstvergebung zu untersuchen, bedeutet, bestimmte Aspekte von Vergebungs-
18
prozessen hervorzuheben, welche fr alle Flle von Vergebung relevant sind.
19
Meine diesbezglichen Thesen lauten wie folgt (I-III):
20
(I) Jede Vergebung schließt in einem nicht-thematischen und basalen Sinn
21
Selbstvergebung insofern ein, als ich selbst dann, wenn ich einem anderen verge-
22
be, ein bestimmtes Verhltnis zu mir selber einnehme.26 In dieser beilufigen
23
24
(nicht-thematischen) wie auch in jeder anderen Spielart und Manifestation von
25
Selbstvergebung stellt diese primr eine Selbst-Verpflichtung dar, nmlich eine
26
27
28
quently captured in new narratives. Narratives fall short of clarifying the emotional experience
29
as lived, and in particular, they fall short of differentiating the cognitively penetrable from the
30 cognitively impenetrable as lived.“ (John Drummond: ,Cognitive Impenetrability‘ and the
31 complex intentionality of the emotions. In: Journal of Consciousness Studies 11 (2004). 109 –
126. 119.)
32 25 Vgl. z. B. Norlock: Forgiveness. 153: „Being valued and affirmed by others make sense as
33 a part of self-forgiveness.“
26 Der hier gemeinte Zusammenhang ist unabhngig von der vçllig anders gelagerten ber-
34
35 legung, ob nicht ein Einschlussverhltnis im Sinne einer kausalen Abfolge oder einer notwendi-
gen Bedingung vorliegen msse derart, dass Vergebung durch andere vorangehen msse, wenn
36 Selbstvergebung moralisch gerechtfertigt sein solle, bzw. dass Selbstvergebung nur dann ohne
37 diesen „Vorlauf“ auskomme, wenn Vergebung durch die relevanten anderen, z. B. aufgrund
38 von deren Ableben, nicht mehr mçglich sei. Diese Sichtweise, welche Selbstvergebung zu ei-
nem bloß ußeren Annex oder Surrogat fr Vergebung erklrt, beruht vielmehr darauf, dass
39 das zugrunde liegende (nicht-relationale, nicht-dynamische und nicht-dialektische) Konzept
40 des Selbst unanalysiert bleibt.
214 Sonja Rinofner-Kreidl
1 Verpflichtung auf mein zuknftiges Selbst27 bzw. die Gestaltbarkeit meiner Zu-
2 kunft auf Basis dessen, dass ich Vertrauen in mein zuknftiges Selbst setze.28 Die-
3 ses Vertrauen zielt nicht auf ein abstraktes Subjekt-sein als solches, sondern dar-
4 auf, dass ich von anderen als ein moralisch respektables Selbst anerkannt und
5 folglich eines sein werde, das Selbstrespekt wird haben kçnnen. Wenn wir
6 „Selbstvergebung“ in diesem Sinn verstehen, dann handelt es sich um einen As-
7 pekt – oder besser: um eine Tiefendimension – jedes mçglichen Aktes einer au-
8 thentischen (aufrichtigen) Vergebung: Vergebung ohne ein zugrunde liegendes
9 Votum zu Gunsten von Vertrauen und Selbstrespekt ist unmçglich. Allein aus
10 einem zukunftsgerichteten Vertrauen wird jenes „Seinlassen“ vergangener Ver-
11 letzungen mçglich, das hufig als ein Charakteristikum von Vergebung (auf Sei-
12 ten der Vergebenden) genannt und zu Recht sowohl von einem Vergessen wie
13 auch von einem Verzeihen der vergangenen beltat unterschieden wird.29 Auch
14 die einem anderen gewhrte Vergebung („Fremdvergebung“, „other-forgive-
15 ness“) teilt den oben genannten Verpflichtungscharakter und investiert Vertrau-
16 en. Sie ist Verpflichtung darauf, den anderen als ein moralisches Subjekt anzuer-
17 kennen: ihn als ein solches trotz seiner Missetat rehabilitiert zu sehen. Darin
18 bekundet sich der Wille, den anderen nicht auf seine Tat zu reduzieren. Indem
19 die Vergebung den anderen somit fr sein zuknftiges Handeln „freigibt“, ihn
20 nicht als von seinen bçsen Taten determiniert denkt, stellt der auf ihn gerichtete
21 Vergebungsakt einen Vertrauensvorschuss dar, der sich darauf bezieht, wie ich
22 dem anderen zutraue, in Zukunft zu handeln.30
23 Die Tiefendimension von Vergebung, in der es um das Verhltnis des verge-
24 benden Selbst (wie auch des Selbst, dem vergeben wird) zu sich selber geht, ist
25 zugleich jene in unserem Alltagshandeln verborgene Ebene der Interpersonali-
26
27 27 Vgl. Norlock: Forgiveness. 151: „Given my adherence to the ontology of the fragmented
28 self, I see forgiveness as a commitment to the ultimate long-term relationship: the set of relati-
onships between one’s past, current, and future selves.“ Vgl. Goldie: The Mess Inside.
29 28 Dem entspricht die Vermutung, dass Vergebenkçnnen ein Resilienzfaktor ist, was auf der
30 Ebene eines rationalen Diskurses ber Bedingungen des Vergebens nicht greifbar wird. Vgl.
31 z. B. Beverly Flanigan: Forgiving the Unforgivable. Overcoming the bitter legacy of intimate
wounds. New York 1992. 144 – 146. 160 – 163, 188.
32 29 McCullough, Pargament, Thoresen: Forgiveness. 8: „It appears that most theorists and
33 researchers now agree with Enright and Coyle (1998) that forgiveness should be differentiated
34 from ,pardoning‘ (which is a legal term), ,condoning‘ (which implies a justification of the of-
35 fense), ,excusing‘ (which implies that the offender had a good reason for committing the of-
fense), ,forgetting‘ (which implies that the memory of the offense has simply decayed or slip-
36 ped out of conscious awareness), and ,denying‘ (which implies simply an unwillingness to
37 perceive the harmful injuries that one has incurred). Most also seem to agree that forgiveness is
38 distinct from ,reconciliation‘ (which implies the restoration of a relationship).“
30 In der Literatur findet sich das in Vergebungsprozessen enthaltene Vertrauensthema gele-
39 gentlich auch unter anderen Bezeichnungen, z. B. als „Glaubenskredit“ (Crespo: Das Verzei-
40 hen. 115) ausgewiesen.
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 215
1 tt, die den letzten „Grund“ unseres moralischen Lebens ausmacht: dass wir
2 wechselseitig voneinander im Sinne der Anerkennung abhngig sind und nur ver-
3 trauensvoll vergeben kçnnen, wenn wir einander berhaupt vergeben kçnnen.
4 In diesem Zusammenhang ist es plausibel, Vergebung mit dem Persçnlichkeits-
5 merkmal der Hingabefhigkeit zu assoziieren.31 Was hier im glcklichen Fall des
6 Gelingens gelebt wird, ist, sich „ohne Argwohn“, ohne innere Vorbehalte und
7 prima facie unbekmmert um die Mçglichkeit von Missbrauch und Enttu-
8 schung, dem Anderen zu berlassen. Erst auf dieser basalen affektiven Ebene
9 wird nachvollziehbar, weshalb Vergebung als ein Neubeginn, als Erneuerung
10 oder Wiedergewinnung von Lebensenergie, Lebensfreude und Zukunftsoffen-
11 heit beschrieben wird. Analoges gilt fr die Reue als Bestandteil von Prozessen
12 der Vergebung. Symptomatisch ist diesbezglich Max Schelers Hinweis darauf,
13 „wie der Reueakt […] ganze Vçlker, ja Kulturkreise generationenlang durch-
14 rauscht; wie er die verstockten und verhrteten Herzen çffnet und lebensweich
15 macht“.32 Vertrauen und Hingabefhigkeit kçnnen als Meta-Befhigungen oder
16 Meta-Tugenden insofern verstanden werden, als sie nicht nur gelegentlich im
17 Entscheidungs- und Handlungskontext problematisiert werden und selber Be-
18 standteil derartiger Vollzge sind, sondern auch in Zeiten der Unthematizitt
19 prsent sind (sei es, weil sie blockiert sind oder weil sie fraglos gelebt werden).
20 Derartige Meta-Tugenden sind den konkret handlungsbezogenen und hand-
21 lungsleitenden Tugenden wie z. B. Tapferkeit und Gerechtigkeit insofern berge-
22 ordnet, als sie positive Grundhaltungen und Bereitschaften einer Person darstel-
23 len, welche deren Handeln und Leben indirekt und unthematisch stark
24 beeinflussen, in bestimmte Richtungen lenken und im Zuge dessen den Erwerb
25 und die Ausbung anderer emotionaler und kognitiver Fhigkeiten unterstt-
26 zen und motivieren.
27 Als „deep level“-Qualitten stehen Vertrauen und Hingabefhigkeit fr eine
28 (individuell variable) emotionale Grundverfassung von Personen.33 Diese ist
29
30 31 Vgl. Josef Rattner, Gerhard Danzer: Persçnlichkeit braucht Tugenden. Positive Eigen-
31 schaften fr eine moderne Welt. Berlin 2011. 86 ff. Die Autoren nehmen diesbezglich auch
einen Zusammenhang mit Großzgigkeit und Generositt (Freigebigkeit, Großmut, Großher-
32
zigkeit) an und weisen auf die „Ich-Erweiterung“ hin, „die meistens auf Akte der Hingabe
33 erfolgt.“ (Ebd. 88.)
32 Scheler: Reue und Wiedergeburt. 52. Nach Scheler ist Reue eine Form der „Selbsthei-
34
35 lung“ der Seele, eine Wiedergewinnung ihrer verlorenen Krfte (ebd. 33), die „sittliche Verjn-
gung“ bewirke (ebd. 35 f.). Schelers gedanklich anspruchsvolle Auseinandersetzung mit Reue-
36 gefhlen beruht auf einer bestimmten Konzeption der Erinnerung und der Geschichtlichkeit
37 personalen Lebens. Diese liegt z. B. der (von Seiten der Psychoanalyse und -therapie gut best-
38 tigten) These zugrunde: „Nicht die bereute Schuld, sondern nur die unbereute hat auf die Zu-
kunft des Lebens […] determinierende und bindende Gewalt.“ (Ebd. 36.)
39 33 Auch wenn eine philosophische Untersuchung deren autobiografische Genese und psy-
40 chotherapeutische oder sonstige Gestaltbarkeit nicht thematisiert, muss dies nicht bedeuten,
216 Sonja Rinofner-Kreidl
37 sind nicht nur verschiedene Flle von Vergebung zu unterscheiden (z. B. die Vergebung, zu der
38 sich die Eltern eines Kindes, das bei einem fahrlssig verursachten Verkehrsunfall getçtet wur-
de, nach langem inneren Kampf durchringen, im Unterschied zum Prozess der Vergebung, den
39 ein Ehemann durchlaufen mag, dessen Frau ihm eine heimliche Liebesaffre gesteht). Ebenso
40 ist davon auszugehen, dass sich paradigmatische Flle von Nicht-Vergebung (z. B. ethnisch mo-
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 217
1 dern darber hinaus verschiedene Phasen umfasst, die in einer bestimmten Ver-
2 laufsordnung aufeinander folgen.35 Insofern dieser Prozess ein bestimmtes Telos
3 hat, kçnnte das am Ende vorherrschende Gefhl (sofern es sich einstellt!) als
4 „das“ Gefhl der Vergebung angesprochen werden. Dieses lsst sich annhe-
5 rungsweise als eine Mischung aus Erleichterung, Entlastung, Stolz, Zuversicht
6 und Freude beschreiben.
7 Auch wenn diese Gefhle rein phnomenale Aspekte aufweisen, die im Sinne
8 der Strkung und des „Selbstgenusses“ der Akteurin beachtenswert sind, ist der
9 komplexe Gefhlszustand nicht notwendig einer, der im Hinblick auf die einzel-
10 nen beteiligten Gefhle und Gefhlsmomente eindeutig bestimmbar und exakt
11 zeitlich datierbar sein msste. Ebenso wie ein Zustand des Vergebens, im fragli-
12 chen Moment durchaus unerwartet, plçtzlich „aufgehen“ kann, kann er sich
13 auch durch eine allmhlich anwachsende, zunehmend strker und deutlicher be-
14 merkbar werdende Gefhlslage ankndigen. Es ist darber hinaus kein Zufall,
15 dass gerade mit Bezug auf Prozesse der Vergebung, die nicht durch eine be-
16 stimmte und einheitliche, reine Empfindungs- und Gefhlsqualitt charakteri-
17 siert werden kçnnen, vielmehr typische Abfolgen verschiedener Gefhle oder
18 Gefhlsamalgame einschließen, der andernorts deutliche Unterschied zwischen
19 Gefhl und Stimmung verschwimmen kann.36 Vergebung zu erreichen, kann
20 auch bedeuten, sich in einer Stimmung wiederzufinden, die zwar nach manchen
21 Momenten bestimmbar sein mag und jedenfalls im Ganzen eine bestimmte posi-
22 tive Erlebnisqualitt hat, dennoch aber die gegenstndliche Ausrichtung be-
23 stimmter Gefhle nicht oder nur andeutungsweise aufweist. Dies kann insbeson-
24 dere verlaufsbedingt der Fall sein: Ein zuvor momentan und prgnant
25 eintretendes Gefhl der Vergebung kann sich im weiteren Verlauf in eine lnger
26 anhaltende erhebende Gefhlsstimmung (sic!) verschleifen. (Ein derart verwan-
27 deltes Vergebungsgefhl ist gleichwohl nicht mit der oben erwhnten emotiona-
28
len Grundbefindlichkeit zu verwechseln.) Die Art und Weise, wie sich die Ge-
29
30 tivierte Massenmorde; finanzieller Ruin durch Freundesbetrug) im Hinblick auf die Art und
31 Intensitt der beteiligten Gefhle unterscheiden.
35 Flanigan z. B. markiert sechs Phasen, die sie wie folgt unterscheidet: 1. Naming the Inju-
32
ry, 2. Claiming the Injury, 3. Blaming the Injurer, 4. Balancing the Scales, 5. Choosing to For-
33 give, 6. The Emergence of a New Self (Flanigan: Forgiving. 69 – 170).
36 Auch insofern sind individuelle Prozesse der Vergebung Teil einer sozialen Praxis, als sie
34
35 von einem in bestimmten Sozietten vorherrschenden oder zumindest deutlich sprbaren,
wenn auch begrifflich und sprachlich schwer fassbaren „Klima“ der (Nicht-)Vergebung beein-
36 flusst sind, das eine kollektive Stimmung zum Ausdruck bringt. Es ist anzunehmen, dass sich
37 eine entsprechende Disponiertheit Einzelner vor allem in Auseinandersetzung mit ihrem sozia-
38 len Primrkontext herausbildet. Man denke z. B. an das Leben als buddhistischer Mçnch in
einem tibetischen Kloster, verglichen mit dem Aufwachsen in einer politisch engagierten
39 irisch-katholischen Familie in Dublin oder in einer israelischen Siedlerfamilie, die seit Genera-
40 tionen in den israelisch-arabischen Gebietsstreit involviert ist.
218 Sonja Rinofner-Kreidl
1 Selbstvergebung ja nicht mehr sei, als eine billige Art und Weise sich selber Abso-
2 lution zu erteilen („cheap grace“), potentiell einen Anhalt in der Sache selber.
3 Der oben angesprochene Tugendcharakter von Vergebung muss die Ebene des
4 konkreten Handelns einschließen, auf der der Umgang mit Gefhlen modelliert
5 wird. (Tugenden, die sich allermeist nicht bzw. niemals manifestieren, werden
6 nicht als Tugenden anerkannt und sind als solche nicht erkennbar.) Tugendhaf-
7 tigkeit kommt aus der erlebten Verklammerung dessen ins Spiel, was ich als ver-
8 schiedene Ebenen (oder „Dimensionen“) von Akten bzw. Prozessen der Verge-
9 bung unterschieden habe. Tugendhaftigkeit zeigt sich insbesondere darin, wie
10 die „Grund“-Themen des Vertrauens und Selbstrespekts in die sichtbare Dimen-
11 sion des Handelns in einer kontextsensitiven Weise eingebracht werden. Sind die
12 ußeren Umstnde und sozialen Rahmenbedingungen des Handelns derart, dass
13 sie Vertrauen und Selbstrespekt verunmçglichen oder fr andere Zwecke in
14 Dienst nehmen, welche das Selbst korrumpieren, indem sie Misstrauen und
15 Selbstverachtung nhren, dann kann Vergebung – auch wenn sie unter den gege-
16 benen Bedingungen als eine soziale Praxis nahe liegend erscheint oder gar gefor-
17 dert wird – nicht „aus freien Stcken“ (autonom) und authentisch zum Aus-
18 druck gebracht werden.39 Wenn zutrifft, wofr ich oben argumentiert habe, dass
19 Vertrauen und Selbstrespekt die Kernthemen sind, die in Prozessen der Verge-
20 bung ausdrcklich oder unausdrcklich „bearbeitet“ werden, und wenn ber-
21 dies zutrifft, dass die Frage nach Befhigungen auf die reale, von Individuum zu
22 Individuum variierende Kçnnerschaft im Umgang mit Vergebungsanforderun-
23 gen in konkreten Situationen hinfhrt, deren Gestaltung in erheblichem Maße
24 das individuelle Wollen berschreitet, dann muss es Spielraum fr eine ambiva-
25 lente Bewertung von Vergebung in wechselnden sozialen Realitten geben. Es
26 ist zu erwarten, dass diese Bewertung in graduellen Abstufungen verluft, je
27 nachdem, ob der vorliegende Kontext Vertrauen und Selbstrespekt auf Seiten
28 der Vergebenden strkt und fçrdert oder aber erschwert und konterkariert. In
29 letzterem Fall kann sich Vergebungsbereitschaft bzw. Vergebung, so sie zu Las-
30 ten der Chance auf Selbstrespekt geht und das Vertrauen der Vergebenden aus-
31 hçhlt, sogar als Laster erscheinen:40 „to seek restoration at all cost – even at the
32 cost of one’s very human dignity – can hardly be a virtue. And, in intimate relati-
33
39 Der sinnliche Ausdruck kann in Wort und Tat erfolgen. Vgl. die Analyse der sprachlichen
34
35 ußerungen von Vergebungsakten in Glen Pettigrove: The forgiveness we speak: The illocu-
tionary force of forgiving. In: The Southern Journal of Philosophy XLII (2004). 371 – 392.
36 40 Eine kontextgebunden schwankende moralische Beurteilung von Vergebung entspricht
37 nicht der in unserem Kulturkreis vorherrschenden katholischen Morallehre. Sie muss gegen
38 deren prgenden Einfluss erarbeitet werden. Dem steht freilich von religiçser – und keines-
wegs nur katholischer – Seite der Anspruch entgegen, dass sich das Problem der Vergebung
39 von der hçheren Warte einer gçttlichen Liebe fr alles Kreatrliche eben anders darstelle als
40 aus den „Niederungen“ unseres irrenden und getriebenen Menschenlebens.
222 Sonja Rinofner-Kreidl
1 onships, it can hardly be true love and friendship either“41. Eine derart ambiva-
2 lente Bewertung von Vergebung geht mit dem Anspruch einer differenzierten
3 sozialen Wahrnehmung einher.42 Auch wenn moralische Wahrnehmung und so-
4 ziale Wahrnehmung nicht ohne Weiteres begrifflich gleichgesetzt werden kçn-
5 nen, sind sie in unserer Erfahrungsrealitt doch jederzeit nur in enger wechselsei-
6 tiger Verschrnkung zur Kenntnis zu nehmen und auszuben.
7 Gerade das, was mit Bezug auf Selbstvergebung suspekt erscheint und oft als
8 Grund der Zurckweisung dieses Phnomens angefhrt wird – dass Selbstverge-
9 bung keine objektive Beurteilungsinstanz kennt, d. h. keine, die unabhngig von
10 eben jenem Selbst wre, das hier als Subjekt und Objekt des Vergebens auftritt –,
11 erweist sich in gewissem Sinn als „Substanz“ alltglicher Vergebungsakte. Selbst
12 dann, wenn angemessene Reue und Besserungsabsicht vorliegen und die Scha-
13
densfolgen nach Mçglichkeit kompensiert werden, ist damit keine den Akt des
14
Vergebens prinzipiell transzendierende Gewhr dafr gegeben, dass das zuknf-
15
tige Handeln das vorangegangene Vergeben als berechtigt erweisen und bestti-
16
gen wird. Was bedeutet es also, dem Anderen (oder sich selber) in einem Akt der
17
(Selbst)Vergebung einen Vertrauensvorschuss zu geben? Indem ich einen sol-
18
chen Akt vollziehe, bekunde ich, dass ich mich darauf verlasse, dass der, dem ich
19
vergebe, nicht nur Objekt, sondern zugleich auch Subjekt jener Gemeinschaft
20
bzw. jener Verpflichtung auf Gemeinschaft ist, die in jedem mçglichen Akt des
21
Vergebens immer schon vorausgesetzt ist. Dass vergemeinschaftete Subjekte ein-
22
ander durch freiwillige und freie wechselseitige Anerkennung Beurteilungsin-
23
24
stanzen sind, heißt freilich nicht, dass eine im starken Sinn objektive, d. h.
25
schlechthin akteursunabhngige Beurteilungsinstanz zur Verfgung stnde.
26 Gleichwohl bedeutet es, dass wir uns niemals nur auf uns selber verlassen, auch
27 dann nicht, wenn wir um Selbstvergebung ringen und eben darin als soziale Sub-
28 jekte agieren.
29 Was ich im Folgenden unter der – nicht mit selbiger sprachlicher Prgnanz ins
30 Deutsche bertragbaren – Bezeichnung „moral bootstrapping“ erlutern werde,
31 betrifft einerseits die unhintergehbare Verschrnkung von Individuum und So-
32 ziett in allen Fragen des praktischen Lebens (wozu am Ende auch die Gestal-
33 tung der normativen Kritik unseres Denkens gehçrt). Es betrifft andererseits
34
41 Jeffrie G. Murphy: Forgiveness and resentment. In: Ders., Jean Hampton: Forgiveness
35
and mercy. Cambridge 1988. 14 – 34. H 17.
36 42 Vgl. die folgende Einschtzung, die sich freilich nicht auf die obige Unterscheidung einer
37 Tiefen- und Oberflchendimension von Akten des Vergebens sttzt: „It is plausible to believe
38 that forgiveness is a virtue, but attitudes towards forgiveness may change when we examine
how teachings on forgiveness play themselves out vis--vis power relations. When the parties
39 most often called on to forgive are the oppressed, what looks like a virtue may turn out to be
40 more of a vice.“ (Potter: Is refusing. 135.)
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 223
1 den zuletzt unaufhebbar „subjektiven“ Grund jeder Form von menschlicher Pra-
2 xis – auch wenn die fragliche Subjektivitt gerade nicht eine nur-subjektive ist:
3 eine, die nur einem Individuum zugehçrig wre. Der subjektive Grund jeder
4 Form von Praxis ist in seinem Ursprung nicht rational – im Sinne eines explizier-
5 baren und rechtfertigbaren kognitiven Zustandes.43 Er kann ebenso als Praxis
6 „am Grunde“ jeder Form von Subjektsein (oder: Subjektivitt) beschrieben wer-
7 den.44 Fr den vorliegenden Zusammenhang heißt das: Was letztendlich (Selbst-)
8 Vergebung ermçglicht – was uns dazu befhigt, anderen und uns selber zu verge-
9 ben –, ist als ein moral bootstrapping zu verstehen, wenn nmlich zutrifft, dass
10 der Kern des hier zur Disposition stehenden Phnomens Vertrauen ist. Vertrau-
11 en kann nur nach dem operativen Muster eines bootstrapping gewhrt werden.45
12 Es kann anders nicht gelebt werden: nur so oder gar nicht. Was individuelle
13 Selbstvervollkommnung und ein Gemeinschaftsleben ermçglicht, ist zuletzt –
14 ber alle rationalen Grnde und Absicherungen hinaus – unsere Fhigkeit und
15 unser Wille, uns gemeinsam auf ein bootstrapping einzulassen. Sich darauf einlas-
16 sen, heißt, sich „ohne Weiteres“ darauf zu verlassen. Mit Bezug auf den nicht-
17 rationalen Grund eines moralischen bootstrapping luft die Frage nach Rechtfer-
18 tigung ins Leere. Denn der Vorgang, um den es sich hier handelt, kann nicht
19 vorweg als gerechtfertigt oder nicht gerechtfertigt ausgewiesen werden. Viel-
20 mehr ist er so verfasst, dass er sich erst im Vollzug der fraglichen Praxis als ge-
21 rechtfertigt erweisen wird bzw. die Bedingungen seiner Rechtfertigbarkeit ber-
22 haupt erst durch diesen Vollzug selber hervorgebracht werden.46 Dass Analoges
23
24
43 Was nicht rational ist, ist nicht eo ipso irrational – letzteres vielmehr nur dann, wenn das
25
nicht rationale Verhalten einem in der betreffenden Situation ebenso verfgbaren rationalen
26 Grund vorgezogen wrde.
27 44 Zu den mçglichen Konzeptualisierungen des hier Gemeinten gehçrt (jedenfalls nach mei-
28 ner Lesart), was Kevin Mulligan „compter sur nos certitudes primitives“ nennt (Kevin Mulli-
gan: Wittgenstein et la philosophie austro-allemande. Paris 2012. 181 – 222). Vgl. Danile
29
Moyal-Sharrock: Unravelling certainty. In: Dies., William H. Brenner (Hg.): Readings of Witt-
30 genstein’s On Certainty. Houndmills 2007. 76 – 99.
45 Vgl. „Man kann es [Vertrauen, SR] sich erst verdienen, wenn man schon davon zehrt.“
31
(Martin Seel: 111 Tugenden, 111 Laster. Eine philosophische Revue. Frankfurt a.M. 2011. 189.)
32 46 Im vorliegenden Zusammenhang kann ich nicht auf die Frage eingehen, ob bootstrapping
33 in praktischen und theoretischen Kontexten verschieden zu beurteilen ist bzw. worin sich boot-
34 strapping als praktischer Grund (Ermçglichung, Befhigung) und bootstrapping als epistemi-
35 sche Zirkularitt unterscheiden. Nur soviel sei hier angedeutet: Das Besondere eines prak-
tisch-moralischen bootstrapping liegt darin, dass sich die Frage nach „Begrndung“ hier nicht
36 auf kognitive Gehalte beschrnkt, sondern das Verhltnis zwischen dem Handelnden und ei-
37 nem erst noch zu realisierenden Zustand einschließt. Soll es mçglich sein, den fraglichen Zielzu-
38 stand zu erreichen, muss ich ihn bereits im ersten Schritt seiner Verwirklichung antizipieren.
Und dies ist nicht so zu verstehen, als wrde ich, um einen Begrndungsprozess in Gang zu
39 setzen, an dessen Anfang so tun, als ob dieser gerechtfertigt wre, um ihn erst nachtrglich
40 „objektiv“ (sc. ohne Rekurs auf den Handlungsvollzug des Akteurs) zu begrnden. Vielmehr
224 Sonja Rinofner-Kreidl
1 mit Bezug auf Vergebung zu konstatieren ist, ist ein starkes Argument zu Guns-
2 ten der Anerkennung von Selbstvergebung wie auch zu Gunsten der These einer
3 intentionalen Verflechtung von Akten der Vergebung und Selbstvergebung.
4 In beispielhafter Weise hat Max Scheler das hier Gemeinte in seiner Analyse
5 der Reue zum Ausdruck gebracht – ohne freilich die Bezeichnung „bootstrap-
6 ping“ zu verwenden und ohne das Problem in der obigen Weise einzufhren.
7 Was ist der Kern des Problems gemß Schelers Darstellung? Erst indem ich
8 Reue zeige, gelange ich in jene Distanz zu meiner vormaligen Tat, die es mir
9 ermçglicht, aufrichtig zu bereuen. Reue ist ein berwltigtwerden von der Ein-
10 sicht in die Schlechtigkeit des eigenen Tuns, ohne dass dem aber eine von diesem
11 Gefhl unabhngige kognitive Beurteilung vorangegangen wre. „Dies […] ist
12 das Eigentmliche des Reueaktes, daß im selben Akte, der schmerzvoll verwirft,
13 auch die Schlechtigkeit unseres Ich und unserer Tat uns erst voll zur Einsicht
14 kommt; und daß im selben Akte, der nur von dem ,freieren‘ Standort des neuen
15 Lebensniveaus aus rational verstndlich scheint, dieser freiere Standort selbst er-
16 klommen wird. So ist der Reueaktus in gewissem Sinne frher als sein Ausgangs-
17 punkt und als sein Zielpunkt, frher als sein Terminus a quo und sein Terminus
18 ad quem. Erst im Reueakt geht uns darum die volle evidente Erkenntnis jenes
19 Gekonnthabens eines Besseren auf. Aber diese Erkenntnis schafft nichts; sie ist
20 Erkenntnis, Durchdringung der damaligen Benebelung durch die Triebe. Sie
21 schafft nicht, sie zeigt nur an.“47
22 Mit Blick auf die im vorliegenden Kontext erçrterte Frage der Selbstverge-
23 bung und die oben skizzierte relationale Konzeption des Selbst sollte uns insbe-
24 sondere die Frage interessieren, inwiefern die Realitt der fraglichen Phnome-
25 ne, zumindest in einem gewissen Spektrum von Fllen, davon abhngt, moral
26 bootstrapping als eine interpersonale Praxis anzuerkennen.
27
28
29
30
31
32
33 ist die oben beschriebene „Selbstermchtigung“ die einzige Art und Weise, wie wir praktisch
34 anfangen kçnnen, und durch eine objektive Begrndung nicht einzuholen.
47 Scheler: Reue und Wiedergeburt. 41. Vgl. „Derart scheint nun die Reue nicht mehr jene
35
Niveauerhçhung des sittlichen Seins schon vorauszusetzen, die sie doch erst herbeifhren soll.
36 Es ist also ein und derselbe dynamische Aktus, durch den sowohl das Aufklimmen des Ich auf
37 die ihm mçgliche Hçhe seines idealen Wesens erfolgt, wie das steigende Untersichsehen, die
38 Verwerfung und Ausstoßung des alten Ich. Wie wir im selben Aktus des Steigens auf einen
Berg die Spitze sich uns nhern und das Tal unter unseren Fßen versinken sehen und beide
39 Bilder durch diesen Aktus bedingt erleben, so klimmt die Person in der Reue zugleich empor
40 und sieht die ltere Ich-Konstitution unter sich.“ (Ebd. 42.)
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 225
40 ment. 24 f.
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 227
40 54 Ebd. 304.
228 Sonja Rinofner-Kreidl
1 Mann. Gleichzeitig formt sich in ihr – eher im Sinne einer kçrperlichen Bereit-
2 schaft und Konzentration als in Gestalt eines fertigen Gedankens – die Gewiss-
3 heit, dass sie, wenn diese Situation kein gutes Ende nimmt, ein fortan getrennt
4 zu fhrendes Leben in Kauf nehmen wird. Im selben Atemzug berfallen sie die
5 Trauer und der Schmerz, die daraus entstnden, und die sie auch stellvertretend
6 fr ihr Kind, pro futuro und quasi imaginr, empfindet. Die Mutter weist die
7 Forderung, sich als Nichtbetroffene zurckzuziehen, vehement zurck und
8 macht klar, dass sie ihr Kind in dieser Situation um jeden Preis untersttzen und
9 verteidigen werde; dass sie sehr wohl betroffen sei, sofern das Kind betroffen
10 sei. Dennoch fhlt sie sich innerlich hin und her gerissen. Sie weiß, was fr ihr
11 Kind auf dem Spiel steht: ob es fortan seinem Vater so wie bisher vorbehaltlos
12 wird vertrauen kçnnen. Dasselbe gilt fr ihr eigenes emotionales Verhltnis zu
13 ihrem Mann, das nun „bis zum Zerreißen gespannt“ ist. Die Mutter ist entschlos-
14 sen, eine wirksame Schutzmacht darzustellen. Zugleich sprt sie deutlich die Ge-
15 fahr einer Gefhlsbersteigerung und bermoralisierung, welche sowohl Schau-
16 platz einer selbstgerecht demonstrierten moralischen berlegenheit sein kçnnte
17 („mir kçnnte eine solche Entgleisung niemals, unter keinen denkbaren Umstn-
18 den, passieren“) als auch ein effektives Hindernis, das der Versçhnung von Vater
19 und Kind im Wege steht. Eben diese Versçhnung – daran zweifelt die Mutter
20 nicht – wre fr die weitere Entwicklung und fr die Lebensressourcen des Kin-
21 des positiv und unbedingt wnschenswert wie ebenso fr den Vater, der einen
22 Verlust seines Kindes nicht verdient htte. Trotz ihrer Aufgebrachtheit und ihres
23 reaktiven Zorns empfindet sie Anflge von Mitleid mit ihrem Mann.
24 Die Situation droht zu eskalieren. Das Kind steht schluchzend zwischen den
25 Eltern. Es nimmt deren starke Emotionen und Kampfesdrohungen mit wachsen-
26 der Angst wahr. Es ist zerrissen zwischen dem Wunsch, es mçge doch alles wie-
27 der gut sein, und dem Aufbegehren gegenber dem Vater, von dem es sich zum
28 ersten Mal zurckgestoßen und verlassen fhlt. Das Kind fhlt sich bergangen
29 und als zuflliges Opfer des misslaunigen Vaters, der sich offenbar in seiner Zei-
30 tungslektre durch die wiederholten und beharrlichen Nachfragen des Kindes,
31 wann er denn nun, wie versprochen, mit ihm Fußballspielen gehen wolle, ge-
32 stçrt gefhlt hatte – bis er dann die Nerven verlor. Die Demtigung des Geschla-
33 genwerdens ist fr das Kind so nur der geballte, „harte“ Ausdruck einer schon
34 lnger von ihm bemerkten Geistesabwesenheit und Unaufmerksamkeit des Va-
35 ters ihm gegenber. Es fhlt sich vernachlssigt und zurckgesetzt. Kaum je-
36 mals hat der Vater Zeit, ihm zuzuhçren, wenn es ihm von seinen letzten Erfol-
37 gen in seinem Lieblings-Computerspiel erzhlen will. Der Schlag ins Gesicht,
38 der das Kind in seine Schranken weisen und „zur Rson bringen“ sollte, ist eine
39 Zurckweisung, deren Echo ber die momentane Situation hinaus in das Leben
40 des Kindes hineinwirkt. Es ist verzweifelt, weil der Vater doch der ist, mit dem
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 233
1 es sich messen, ihn bertrumpfen und beeindrucken will. Das Kind sucht im
2 Vater einen Maßstab fr seine Geschicklichkeit und Kçrperkraft. Noch nie hat
3 sich diese Kraft gegen es selber gewandt. Nun steht das Kind wie vor einer Tr
4 in eine fremde Welt, voller Angst und Schrecken, und in der Sorge, dass sich
5 diese nicht mehr schließen lassen werde.
6 Am Hçhepunkt der sich steigernden Krfte und Anspannungen kippt die
7 Stimmung. Der erste Impuls dazu kommt vom Vater, der irritiert ist von dem
8 verzweifelten Weinen des Kindes und von der offenkundig unverstellten Ge-
9 fhlsaufwallung der Mutter, die ihre Arme um das Kind gelegt hat und es zu
10 trçsten versucht. Die Betroffenheit von dem, was er getan und in Gang gesetzt
11 hat, lçst nun beim Vater ein starkes Reuegefhl aus, das wie eine heiße Welle
12 ber ihn hinweg geht. Dass er seinem Kind Angst eingejagt und es, als es sich
13 gegen den bergriff zur Wehr setzen wollte, grimmig zurechtgewiesen und ein-
14 geschchtert hat, erfllt ihn mit tiefer Scham, die er im ersten Schreck hinter
15 einem betont selbstbewussten und barschen Verhalten zu verbergen gesucht hat-
16 te. Insgeheim sprt der Vater aber, dass dieses Verhalten brchig ist und seine
17 Scham „hindurchscheint“. Und er ahnt mit zunehmender Unruhe, dass ihm die
18 Situation aus den Hnden zu gleiten droht, dass die Bedeutung dieses Vorfalls,
19 der ihn selber in seinem Bild von sich als Vater erschttert, fr das Kind und fr
20 die Mutter bedrohlich anwachsen wird, wenn es ihm nicht gelingt, dem Ganzen
21 rasch eine andere Wendung zu geben. Der Vater nhert sich dem Kind, umarmt
22 es und beginnt, sich ihm zu erklren und sich bei ihm zu entschuldigen. Das
23 Kind ist erleichtert, sofort versçhnungsbereit und froh, dass es seinen Vater wie-
24 der in vertrauter Weise bei sich hat. Sehr zur berraschung des Vaters steigert
25 diese offenherzige Bereitschaft zur Wiedergutmachung, die das Kind, unter Tr-
26 nen strahlend, unaufgefordert an den Tag legt, kurzfristig noch seine Reue- und
27 Schamgefhle.59 Die Mutter fhlt, dass sich der Vater den Schritt, um Verzei-
28 hung zu bitten, hart abringen musste. Sie sieht, wie er von widerstrebenden Ge-
29 fhlen (Stolz und Scham, Liebe und Eitelkeit) hin- und hergerissen ist, und dass
30 er ihre Untersttzung braucht, um mit sich und der Situation ins Reine zu kom-
31 men.60 Sie gibt ihm diese Untersttzung, indem sie dem Vater fr seine Hinwen-
32 dung zum Kind Raum lsst und ihm damit signalisiert, dass sie ihm zutraut, die
33
59 Ein mçglicher alternativer Verlauf stellte eine Variante dessen dar, was Schelers obige Ana-
34
35 lyse der Reue in den Raum stellt: dass u. U. berhaupt erst das Auftreten von Reuegefhlen
einem Handelnden die Einsicht in die Tragweite und Bedeutung seines eigenes Tun erçffnet,
36 die Reue mithin das, worauf sie antwortet, in gewissem Sinn selber erst hervorbringt.
60 Anders als dies die oben aufgenommenen berlegungen Baiers nahelegen, ist moral boot-
37
38 strapping fr Situationen wie die hier geschilderte nicht geeignet, als Ersatz fr motivationales
Verstehen zu fungieren. Vielmehr ist das „intuitive“ Erfassen der ambivalenten Motivationsla-
39 ge der anderen ein wesentlicher Faktor auf dem Weg zu einem gelingenden kollektiven boot-
40 strapping.
234 Sonja Rinofner-Kreidl
1 Wogen zu gltten. Sie berlsst die beiden fr einige Momente sich selber und
2 tritt erst wieder hinzu, nachdem sich Vater und Kind ausgesprochen und ihrer
3 Zuneigung versichert haben. Die Mutter bemht sich, Ruhe auszustrahlen, trçs-
4 tet ihren Mann und spricht dem Kind gegenber aus, wie stolz sie sei, dass der
5 Vater um Verzeihung gebeten und das Kind die Entschuldigung angenommen
6 habe.
7 Die obige Szene ist der Grauzone unseres Lebensalltags entnommen, in der
8 die bergnge zwischen Verzeihen und Vergeben ebenso durchlssig werden
9 wie die zwischen Vergebung und Selbstvergebung. Im vorliegenden Fall ist deut-
10 lich, dass moral bootstrapping bedeutet, aus einer gemeinsam – wenn auch aus
11 verschiedenen Perspektiven – erlebten und „erlittenen“ Situation heraus einen
12 deeskalierenden Umgang mit schwierigen und ambivalenten Gefhlen zu fin-
13 den und sich darin, Schritt fr Schritt, im Vollzug des Erlebens und Tuns, mit
14 den anderen zu akkordieren, indem deren Reaktionen in jedem Moment „mit
15 allen Sinnen“ aufgenommen und in eigene „Antworten“ umgesetzt werden. Ge-
16 lingt diese Akkordierung, so hat sie mehr mit Resonanz als mit Replik zu tun,
17 mehr mit dem gemeinsamen Stimmen von Instrumenten als mit besseren Argu-
18 menten. Darin erfolgreich zu sein, schließt den oben erwhnten Vertrauensvor-
19 schuss ein: Trotz des geschilderten Vorfalls wird das weitere Leben, so es ge-
20 meinsam gefhrt wird, nicht unter dem Vorzeichen unausgesetzt erwarteter
21 Vertrauensbrche stehen. Es ist vielmehr so gesichert und offen wie zuvor. Es ist
22 sogar anzunehmen, dass sich das wechselseitige Vertrauen vertieft hat – schließt
23 es nun doch die Erfahrung ein, Vertrauensbrche gemeinsam bewltigen zu kçn-
24 nen. So hat sich das wechselseitige Vertrauen um eine konkrete Zuversicht berei-
25 chert; es ist strker geworden. Das beschriebene kollektive moral bootstrapping
26 ist, wie Annette Baier sagt, „a case of the use of trust to let trust grow“. Auch
27 wenn dies im Falle des Gelingens „leicht“ aussehen mag, ist es nichts, das leicht-
28 hin erfolgte oder durch Beschlsse und Stellungnahmen einzelner Akteure zu
29 bewirken wre. Wenn sich ein solches moral bootstrapping durch gemeinsames
30 Handeln einstellt, dann als ein mittlerer Weg zwischen den Extremen von cheap
31 grace („letting oneself/the other off the moral hook in an easy way“) und Rach-
32 sucht: Beide Extreme sind in Reichweite und ber die Gefhle der Beteiligten
33 als eine Mçglichkeit prsent. In vielen alltglichen Situationen stellt moral boot-
34 strapping hohe Ansprche an unsere Wahrnehmungsfhigkeit, unser Gespr fr
35 Situationen und menschliche Zustnde, an unseren Umgang mit eigenen und
36 fremden affektiven Beanspruchungen, Gefhlen, Dispositionen, Tugenden und
37 Lastern, an unsere Kritikfhigkeit und Lernbereitschaft.
38
39
40
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 235
1 Auch wenn wir Vergebung zu Recht unter die Bedingung der Wertschtzung
2 und der Autonomie(fçrderung) der Opfer von absichtlich61 schdigenden Hand-
3 lungen stellen, kçnnen wir nicht umhin, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Op-
4 fer nicht nur mit einem „urtmlichen“ Willen zur Gemeinschaftlichkeit – der im
5 vorliegenden Fall ein stark affektiv gegrndeter ist – agieren, sondern auch in
6 Abhngigkeitsverhltnissen zu ihrem sozialen Umfeld (einschließlich u. U. der
7 beltter) stehen. Dies sollte sich in der Beschreibung von Vergebungsakten
8 bzw. -prozessen ebenso niederschlagen wie in der theoretischen Konzeption
9 von Vergebung, weil unsere Theorie der Vergebung andernfalls die tatschlich
10 gelebte Praxis des Vergebens verzerrte und bestenfalls selektiv trfe. Unter den
11 genannten Umstnden ist offenkundig, dass moral bootstrapping als ein zentra-
12
ler und positiver Faktor in Vergebungsprozessen zu bercksichtigen ist, wie sie
13
in alltglichen Zusammenhngen vorkommen. Diese Form einer „unbegrnde-
14
ten“ moralischen Selbstaufwertung ist nicht nur fr den Spezialfall der Selbstver-
15
gebung als eines selbstndigen Aktes grundlegend. Sie liegt ebenso einer Viel-
16
zahl von alltglichen Akten der Fremdvergebung als ein meist unreflektierter
17
Tribut an die Sozialitt des menschlichen Lebens zugrunde. Dennoch sind hier
18
zwei Kautelen zu beachten. Erstens: Die grundlegende Bedeutung von moral
19
bootstrapping festzustellen, ist nicht als ein Votum zu Gunsten einer Denkbe-
20
quemlichkeit zu verstehen. Vielmehr ist der Tendenz entgegenzutreten, diesen
21
elementaren Sachverhalt mit andersgearteten Intentionen und Handlungen zu
22
23
vermengen, etwa mit einer unter dem Deckmantel der „Vergebung“ erfolgenden
24 autoritr bzw. sozial erzwungenen Komplizenschaft des Opfers mit dem Tter.
25 Zweitens wre es falsch, moral bootstrapping pauschal als moralisch unbedenk-
26 lich zu betrachten. Vielmehr sind die Umstnde der schdigenden Handlungen
27 und deren soziale Hintergrnde sehr genau zu beachten. Auf bootstrapping als
28 Bestandteil unserer sozialen und moralischen Wirklichkeit hinzuweisen, heißt
29 nicht, dessen Wirksamkeit und normative Kraft undifferenziert, ohne Rcksicht
30 auf Handlungstypen und -kontexte, zu unterstellen.
31
61 Mit Bezug auf den obigen Anwendungsfall ist die Absichtlichkeit der Handlung freilich
32
erluterungsbedrftig. Denn der Vater wird unter den gegebenen Umstnden darauf bestehen,
33 dass die schdigende Handlung weder geplant noch Ausdruck einer entsprechenden Dispositi-
34 on zu Gewaltausbrchen gewesen sei, sondern eine bloß „okkasionell“ auftretende impulsive
35 Zornreaktion, ein momentaner Kontrollverlust, den er selber retrospektiv nicht gutheißen kçn-
ne. Die Handlung war somit zwar absichtlich im Sinn einer in der betreffenden Situation aktu-
36 ell vorliegenden Intention. Die Handlung ist nicht unbewusst und nicht ohne Zutun des Han-
37 delnden erfolgt, der – wie er sich im Nachhinein eingestehen muss – durchaus ein „Veto“ htte
38 einlegen kçnnen. Sie ist aber nicht im engeren Sinn beabsichtigt gewesen: Im Falle einer (kon-
trafaktisch angenommenen) reflexiven Rckfrage htte der Handelnde die Handlung nicht be-
39 sttigt. Insofern kann mit Recht gesagt werden, dass die Handlung keine feste (belastbare) Ab-
40 sicht bzw. Gesinnung des Akteurs zum Ausdruck bringt.
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1 Inga Rçmer
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4 Worin grndet ethische Verbindlichkeit?
5
Zur Alternative von diskursethischer und phnomenologischer
6
Begrndungsstrategie.
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10
11 Die Tradition der Frankfurter Schule, ihrer Nachfolger und Randpersonen ist so
12 etwas wie eine Erzrivalin der Phnomenologie. Im politischen Klima der Nach-
13 kriegszeit konnte lange Zeit hindurch von einer nchternen sachlichen Auseinan-
14 dersetzung kaum die Rede sein. Erst langsam weicht diese Frontstellung nicht
15 nur im Ausland, sondern auch in Deutschland auf. Damit aber werden immer
16 mehr Anknpfungspunkte fr eine fruchtbare Debatte sichtbar. Einer dieser
17 mçglichen Anknpfungspunkte betrifft die Frage nach dem Grund ethischer
18 Verbindlichkeit. In Bezug auf diese Frage stehen sich heute insbesondere die von
19 Apel und Habermas entwickelte Diskursethik und die phnomenologische Alt-
20 erittsethik, so wie sie von Levinas und seinen Nachfolgern ausgearbeitet wur-
21 de, gegenber. Es ist jedoch noch keineswegs ausgemacht, ob und inwiefern die-
22
se beiden Anstze sich ausschließen oder ergnzen kçnnten.
23
Einiges scheint derzeit fr die Mçglichkeit eines komplementren oder gar
24
integrativen Verhltnisses zu sprechen. So formuliert Bernhard Waldenfels, des-
25
sen responsive Ethik wesentlich von Levinas beeinflusst ist, dass sein Ansatz an-
26
dere Spielarten der Ethik, darunter die Diskursethik, nicht ersetzen kçnne, son-
27
dern vielmehr andere Akzente setze, die das Diesseits der Kommunikation
28
betrfen.1 In der Frankfurter Tradition verfolgt Axel Honneth das Anliegen, die
29
Habermas’sche Diskursethik durch eine durch den frhen Hegel inspirierte viel-
30
schichtige Anerkennungstheorie zu ergnzen, und sieht den systematischen Ort
31
phnomenologisch inspirierter Alterittsethiken auf der von ihm behaupteten
32
33
34
1 „Dementsprechend unterscheiden wir zwischen Ziel- oder Werteethik, Gesetzesmoral,
35
Diskursethik und utilitrer Ethik. Prominente Namen, die sich mit diesen Anstzen verbin-
36 den, sind Aristoteles, Immanuel Kant, Jrgen Habermas und John Stuart Mill. Eine responsive
37 Ethik, wie ich sie im Sinne habe, kann die anderen Spielarten nicht ersetzen, aber sie setzt ande-
38 re Akzente und verlagert die Gewichte.“ Die responsive Ethik „reicht […] tiefer als eine kom-
munikative Ethik oder eine Vernunftmoral“. Vgl. Bernhard Waldenfels: Responsive Ethik zwi-
39 schen Antwort und Verantwortung. In: Deutsche Zeitschrift fr Philosophie 58 (2010). 71 – 81.
40 71, 72.
1 kritisiert denn Kant auch ganz ausdrcklich dafr, dass dieser mit der „Lehre
2 vom ,Faktum der Vernunft‘ […] seine zunchst“, nmlich in der Grundlegung,
3 „vorgesehene Letztbegrndung der Gltigkeit des Sittengesetzes eher abbricht
4 als zu Ende fhrt“,14 wohingegen Fichte den Apel’schen „Weg einer ,rekonstruk-
5 tionistischen‘ Transzendentalphilosophie“ direkt vorbereitet habe, indem er
6 „das ,Faktum der Vernunft‘ durch einsichtigen Mit- und Nachvollzug nach und
7 nach in seiner bloßen Faktizitt auflçsen“ wollte.15
8 Habermas hat bekanntlich Apels Letztbegrndungsanspruch zurckgewie-
9 sen und verzichtet damit auf die Rede von einem apriorischen Faktum der Argu-
10 mentation. Ihm zufolge kann ein solches apriorisches Faktum nicht behauptet
11 werden, weil wir a priori nicht die Mçglichkeit ausschließen kçnnen, dass sich
12 unsere Praxis doch einmal ndert. Die Apel’sche These, dass es zur Argumentati-
13 on und ihren Voraussetzungen keine Alternative gibt, ist nach Habermas auf den
14 schwcheren „Status einer Annahme“ zu reduzieren, die „wie eine Gesetzeshy-
15 pothese an Fllen berprft werden“ muss.16 Solange wir jedoch die Praxis des
16 Denkens und Argumentierens haben, die wir haben, lsst sich jeder einzelne, der
17 Diskursethik argumentierend entgegentretende Skeptiker durch das Argument
18 des performativen Widerspruchs widerlegen. Der Skeptiker kann der Gltigkeit
19 der diskursethischen Grundnorm und dem performativen Widerspruch allen-
20 falls noch dadurch entgehen, dass er sich in den Wahnsinn flchtet.
21 Keineswegs nun mçchte ich mich unter das Heer der armen Skeptiker bege-
22 ben, deren Gegenschlag der Diskursethiker mit einer Art Aikido-Technik ab-
23 wendet, wenn er die argumentative Kraft des Gegners dazu nutzt, diesen nieder-
24 zustrecken. Es geht mir vielmehr um die Hypothese, dass es dem
25 diskursethischen Argument trotz all seiner Scharfsinnigkeit letztlich selbst nicht
26 gelingt, das zu begrnden, was es begrnden will. Der Grund dafr ist meines
27 Erachtens, dass es nicht die richtige Art von Argument ist, um moralische Ver-
28 bindlichkeit zu begrnden. Was ist der Grund fr diese Hypothese? Der Ur-
29 sprung moralischer Verbindlichkeit liegt fr den Diskursethiker in einer Nçti-
30 gung zur Kohrenz: Wenn ich nicht inkohrent sein will, muss ich in meinem
31 Argumentieren jener Nçtigung zur Kohrenz Folge leisten und der moralischen
32 Grundnorm entsprechend handeln. Ist aber die Nçtigung zur Kohrenz und der
33
34 terittsphnomenologischer Sicht bedeutsam, unterscheidet sich in jedem Falle eine Aufforde-
35 rung zur Selbstttigkeit von dem Levinas’schen Aufruf zur Verantwortung fr den Anderen.
14 Karl-Otto Apel: First things first. Der Begriff primordialer Mit-Verantwortung. Zur Be-
36 grndung einer planetaren Makroethik. In: Matthias Kettner (Hg.): Angewandte Ethik als Po-
37 litikum. Frankfurt am Main 2000. 21 – 50. 31.
15 Karl-Otto Apel: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der
38
Ethik. 420, 419.
39 16 Jrgen Habermas: Diskursethik – Notizen zu einem Begrndungsprogramm. In: Ders.:
1 ihr entsprechende Wille zur Kohrenz mit sich selbst das richtige Motiv fr Mo-
2 ralitt? Wenn mich jemand fragt ,Weshalb hast Du dieser Person geholfen?‘ und
3 ich in letzter Instanz antworten muss ,Weil ich anderenfalls einen performativen
4 Widerspruch begangen htte‘, so scheint dies nicht diejenige Antwort zu sein,
5 die uns dazu bewegen wrde, von einem moralisch guten Handeln zu sprechen.
6 Vielmehr scheint jene Antwort in die Richtung eines moralischen Eigendnkels
7 zu weisen, innerhalb dessen ich nur deshalb hilfsbereit bin, weil ich mit mir
8 selbst im Reinen sein will und nicht zu einem unvernnftigen Etwas degenerie-
9 ren mçchte. Zwar ist fr den Diskursethiker die Ermittlung der konkreten Nor-
10 men durch den realen intersubjektiven Diskurs von entscheidender Bedeutung;
11 diese Nçtigung zum realen intersubjektiven Diskurs hat ihren Grund jedoch in
12 der Nçtigung zur Selbstkohrenz und dem dieser Nçtigung entsprechenden
13 Streben nach Vermeidung des performativen Selbstwiderspruchs. Mit anderen
14 Worten, ich muss mich auf die anderen Diskurspartner und ihre Argumente
15 ernsthaft einlassen, wenn ich mir nicht selbst widersprechen will.
16 Wenden wir uns nun der Frage zu, wie die phnomenologische Alteritts-
17 ethik Verbindlichkeit zu begrnden sucht und inwiefern sie dabei an Kants Argu-
18 mentationsfigur aus der zweiten Kritik anknpft. Fr den spten Levinas ist Sub-
19 jektivitt ursprnglich nicht eine denkende und damit quasi argumentierende
20 Subjektivitt, sondern eine Subjektivitt im Akkusativ, die in ihrem Denken und
21 Fhlen immer schon auf einen Anspruch des Anderen antwortet. Es ist inner-
22 halb der Phnomenologie eine umstrittene Frage, welche Art von Verbindlich-
23 keit mit diesem Anspruch des Anderen einhergeht. Meines Erachtens liegt je-
24 doch bereits im Anspruch des Anderen selbst eine ethische Verbindlichkeit vor,
25 weil der Anspruch durch die spezifische, mit ihm einhergehende Bindung des
26 Begehrens eine praktische Rationalitt jenseits der Aneignungsbeziehungen stif-
27
tet. Im ethischen Widerstand des ersten Wortes ,Du wirst nicht tçten!‘ bekundet
28
sich laut Levinas eine praktische „an-archische Vernunft“,17 die dazu verbindet,
29
die Dimension des aneignenden Genießens zu berschreiten und auf den vom
30
Anderen her aufkommenden Sinn einzugehen. Der Anspruch des Anderen ist
31
damit weder ein bloßes factum brutum, noch spricht er bereits im Namen einer
32
Ordnung; er ist aber auch keine bloße Motivation dazu, ethische Verbindlich-
33
keit durch einen Freiheitsakt allererst zu stiften. Der Anspruch des Anderen ist
34
vielmehr das von sich aus aufkommende Stiftungsmoment einer anarchisch-prak-
35
tischen Rationalitt, die ber die Aneignungs- und Instrumentalisierungsbezie-
36
hung hinausweist und durch eine spezifische Bindung des Begehrens erstmals
37
ethische Verbindlichkeit hervorbringt. Diese Verbindlichkeit des Anspruchs er-
38
39 17 Emmanuel Levinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. bers. von Thomas
1 streckt sich dabei jedoch nicht schon auf seinen konkreten Inhalt, sondern sie ist
2 allein eine ethische Verbindlichkeit dazu, auf den Anspruch selbst einzugehen
3 und ihn nicht fr meine Zwecke zu instrumentalisieren. Ausdrcklich formu-
4 liert Levinas in diesem Sinne: „Die Rede verpflichtet zum Eingehen auf die
5 Rede (Discours qui oblige entrer dans le discours).“18 Was im Bereich dieser an-
6 archischen Vernunft, diesseits von Prinzipien und universal gltigen Grnden,
7 jedoch ein vernnftiges Eingehen auf den Anspruch des Anderen bedeuten
8 kann, verlangt nach einer gesonderten Erçrterung, der ich mich im hiesigen Zu-
9 sammenhang nicht eigens widmen kann.
10 An dieser Stelle entscheidend jedoch ist, dass die jener primordialen ethischen
11 Verbindlichkeit zum Eingehen auf die Rede entspringende Verantwortung kei-
12 neswegs jene laut Apel nicht widerspruchsfrei bestreitbare „primordiale Mit-Ver-
13 antwortung“ fr die „Aufdeckung bzw. Identifizierung und [die] anzustrebende
14 […] Lçsung aller moralisch relevanten Probleme der Lebenswelt im argumenta-
15 tiven Diskurs“ ist.19 Die alterittsethische Verantwortung ist keine universale,
16 widerspruchsfrei nicht bestreitbare Norm, sondern sie ist vielmehr die aus der
17 Erste-Person-Perspektive unleugbare Erfahrung, in meinem innersten Selbst
18 zum vernnftigen Eingehen auf den Anspruch des Anderen verbunden zu sein.
19 Die fr die Diskursethik allein relevante Dimension der Normen hat hinge-
20 gen aus Levinas’ Perspektive ihren Ursprung darin, dass mich im Gesicht des
21 Anderen auch immer schon der Dritte mit anspricht. Weil ich mich ethisch dazu
22 verbunden finde, nicht nur auf den Anspruch des Anderen, sondern auch auf die
23 Ansprche der Anderen des Anderen einzugehen, drngt sich mir die Frage
24 nach gerechten Maßstben auf. Whrend es aus Levinas’ Sicht bereits beim An-
25 spruch des Anderen unmçglich ist, eine den Anspruch restlos befriedigende Ant-
26 wort tatschlich zu finden, bleiben die anhand von Maßstben des „Vergleich[s]
27 der Unvergleichlichen“20 gefundenen Antworten erst recht unzureichend. So er-
28 forderlich und auch allein gerecht es ist, derartige Vergleichsmaßstbe angesichts
29 der Pluralitt der Anderen zu finden, kommt dem jeweils einzelnen Anderen
30 jedoch der Primat zu: „Meine Beziehung mit dem Anderen, dem Nchsten, gibt
31 meinen Beziehungen mit allen Anderen ihren Sinn.“21
32 Es mag nun den Anschein haben, als kreuzten sich Diskursethik und Alteri-
33 ttsethik auf der Ebene des Dritten. Dieser Eindruck trgt jedoch meines Erach-
34 tens, weil die moralische Verbindlichkeit der Diskursethik von der in der Dimen-
35 sion des Dritten aufkommenden Verbindlichkeit insofern radikal verschieden
36
18 Emmanuel Levinas: Totalitt und Unendlichkeit. Versuch ber die Exterioritt. bers.
37
38 von Wolfgang Nikolaus Krewani. Freiburg 42008. 289 (frz.: 175). Einfgung des Orig. I.R.
19 Karl-Otto Apel: First things first. 37.
39 20 Emmanuel Levinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. 344 (frz.: 201).
1 bleibt, als die Verbindlichkeit der Normen, die ich angesichts des Dritten finde,
2 der von den Anderen ausgehenden Nçtigung zum Eingehen auf die Rede ent-
3 springt, whrend die moralische Verbindlichkeit der diskursethischen Normen
4 aus der Nçtigung zur Vermeidung des Selbstwiderspruchs hervorgeht.
5 Mit der alterittsethischen Argumentationsfigur deutet sich eine Nhe zu
6 Kants Lehre vom Faktum der Vernunft an. In jener Lehre beansprucht Kant ge-
7 zeigt zu haben, dass es reine praktische Vernunft gibt. Der einzige Beleg dafr,
8 dass es sie wirklich gibt, ist fr Kant der an das Subjekt ergehende sittliche An-
9 spruch. Die Wirklichkeit der reinen praktischen Vernunft wird nicht aus etwas
10 anderem abgeleitet, sondern manifestiert sich von sich aus im sittlichen An-
11 spruch selbst. Dies aber ist dem Levinas’schen Gedanken analog: Der immer
12 schon an mich ergangene Anspruch des Anderen hat in mir eine praktisch an-
13 archische Vernunft gestiftet, mit der ethische Verbindlichkeit erstmals auf-
14
kommt. Die an-archische Vernunft, die in letzter Instanz den spannungsvollen
15
Beziehungen zum Anderen und zum Dritten den Sinn verleiht, wird von Levi-
16
nas als eine solche verstanden, die es genau und nur deshalb gibt, weil ich mich
17
durch die Ansprche zum nichtinstrumentalisierenden Eingehen auf sie verbun-
18
den erfahre.
19
Whrend Kant allerdings die Wirklichkeit der reinen praktischen Vernunft
20
noch hnlich einer sich im Menschen einfach entfaltenden energeia versteht,
21
grndet die Wirklichkeit jener an-archischen Vernunft Levinas zufolge darin,
22
dass mich der Andere und der Dritte immer schon angesprochen, zur Ver-ant-
23
wortung gerufen und mein Begehren derart gebunden haben. Damit wird bei
24
Levinas erlutert, was bei Kant im Dunkeln beziehungsweise schlicht vorausge-
25
26
setzt blieb, nmlich wie jene nicht instrumentelle praktische Vernunft in uns auf-
27
kommt und weshalb wir uns mit ihr zu identifizieren vermçgen.
28 Obgleich Levinas in seinem Sptwerk auch ganz ausdrcklich an Kants Ge-
29 danken einer reinen praktischen Vernunft anknpft, indem er sie als ein ,Jenseits
30 des Seins‘ und einen Vorlufer seiner eigenen Konzeption versteht, ist er in ei-
31 nem bestimmten Punkt pessimistischer als Kant: Whrend Kant die Wirklich-
32 keit reiner praktischer Vernunft im Menschen gleichsam fr ein anthropologi-
33 sches Faktum hlt, leben wir laut Levinas in einer nachnietzscheanischen
34 Epoche, in der die Wirklichkeit jener Dimension ethischer Verbindlichkeit so
35 sehr schillert, dass sie zuweilen aus der Erfahrung zu verschwinden droht. Sollte
36 sie aber tatschlich verschwinden und wir nicht mehr jenen ethischen Wider-
37 stand erfahren, der uns daran hindert, die Anderen guten Gewissens fr unsere
38 Zwecke zu instrumentalisieren, dann kann sie Levinas zufolge aus keiner theore-
39 tischen Vernunft abgeleitet, kann sie uns durch kein Argument der Welt ande-
40 monstriert werden.
Worin grndet ethische Verbindlichkeit? 247
31 Intentionality of Caring‘. In: Alessandro Salice (Hg.): Intentionality. Historical and systema-
tic perspectives. Mnchen 2012. 369 – 394. Bei dieser Gelegenheit mçchte ich Herrn Professor
32
Dr. Dieter Lohmar und der Deutschen Gesellschaft fr phnomenologische Forschung sehr
33 herzlich danken fr die Einladung zu der Tagung ber „Soziale Erfahrung“. Herrn Dr. Dirk
34 Fonfara danke ich auch sehr herzlich fr die sprachlichen Korrekturen dieses Textes.
2 Patricia Benner, Judith Wrubel: The primacy of caring. Stress and coping in health and
35
illness. Menlo Park 1989 (= PC).
36 3 Vgl. PC, 1, 42, 47 – 48.
4 Zu Benners und Wrubels phnomenologischem Menschenbild und ihrer phnomenologi-
37
38 schen Theorie der Krankenpflege vgl. Tetsuya Sakakibara: The experience of illness and the
phenomenology of caring. In: Ronshu (Philosophical Studies) 25 (2007). 13 – 33; Tetsuya Sa-
39 kakibara: Phenomenological research of nursing and its method. In: Schutzian Research 4
40 (2012). 133 – 150.
1 ich aber auch, dass diese fnf Momente – insbesondere „caring“ als ein Invol-
2 viertsein in Dinge, Ereignisse und Personen, die uns etwas angehen und uns am
3 Herzen liegen – nicht gengen, um einige Aspekte der Aktivitten bei der Kran-
4 kenpflege zu begreifen.5 Indem die Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger in
5 die Situation involviert sind, beabsichtigen sie, sich aktiv mit den Patienten oder
6 ihren Familien zu befassen und sie gut zu pflegen.
7 In dieser Untersuchung mçchte ich auf Husserls Begriff der „Intentionali-
8 tt“, besonders auf seine Analyse der Intentionalitt des Wollens und Handelns,
9 eingehen, um diesen fehlenden Aspekt zu ergnzen. Denn „caring“ oder Pflege
10 kann im Allgemeinen als eine „Handlung“ oder eine Reihe von „Handlungen“
11 betrachtet werden, die einen besseren Zustand einer Person erreichen „will“,
12 oder als ein „Handlungswille“, der auf den besseren Zustand einer Person ab-
13 zielt. Die Nursingpraxis ist in der Tat eine Pflegehandlung oder eine Reihe von
14 Pflegehandlungen, die einen besseren Zustand des Patienten realisieren will.6
15 Man kçnnte sich nun fragen, ob die oben erwhnte Skizzierung der Nursing-
16 praxis als ein Handlungswollen zu einem besseren Zustand zu optimistisch oder
17 sogar idealisiert ist, da in den realen Nursingpraxen durchaus negative Vor-
18 kommnisse zu finden sind. Wegen der berforderung und berlastung durch
19 den beruflichen Alltag fhlen sich nicht wenige Krankenpflegerinnen und Kran-
20 kenpfleger manchmal zur Pflege lediglich verpflichtet. Gelegentliche Widerstn-
21 de oder Gewaltttigkeiten der Patienten kçnnten bei ihnen sogar zu rger und
22 Unlust bei der Pflege fhren usw. In diesem Beitrag will ich mich aber auf eine
23 intentionale Analyse derjenigen Pflegehandlung konzentrieren, die erfolgt oder
24 erfolgen soll, wenn die Krankenpflegerin oder der Krankenpfleger einen besse-
25 ren Zustand des Patienten realisieren will.
26
27
28
5 Diesen Punkt habe ich kurz diskutiert in: Sakakibara: Phenomenological research. 142.
29 6 Vgl. Milton Mayeroff: On caring. New York 1971 (= OC). Mayeroff erklrt, dass das
30 „general pattern of caring“ ein „helping the other grow“ ist (OC, 2). „In helping the other
31 grow […] I allow the direction of the other’s growth to guide what I do“ (OC, 9). Wenn auch
die Zukunft „weitgehend unvorhersehbar (largely unforeseeable)“ ist (OC, 10), versuche ich,
32
die „Richtung des Wachstums des Anderen“, also die Richtung zu einem besseren Zustand des
33 Anderen, zu sehen und, „geleitet von der Richtung“, den Anderen zu pflegen (OC, 12). In der
34 Krankenpflege kçnnen wir auch von einem Wachstum des Patienten in verschiedenem Sinne
35 sprechen: z. B. Kurieren oder Besserung der Krankheit, Erleichterung der Leiden; oder, wenn
auch eine vçllige Heilung nicht mehr erwartet werden kann, ein Sich-Abfinden mit der Krank-
36 heit oder eine positive Neu-Interpretation der eigenen Lebenssituation. In der Nursingpraxis
37 versuchen die Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger, eine Richtung des Wachstums des
38 Patienten, eine Richtung zu seinem besseren Zustand in den genannten Weisen zu antizipieren;
und wenn auch die Zukunft weitgehend unvorhersehbar ist, wollen sie, von der „Richtung“
39 geleitet, den Patienten pflegen (vgl. OC, 42). Das kçnnte wohl ein wesentliches Charakteristi-
40 kum der Krankenpflege sein.
Die Intentionalitt der Pflegehandlung 251
1 Ziel dieses Beitrags ist es also, die Struktur der Intentionalitt einer zu realisie-
2 renden Pflegehandlung anhand der Phnomenologie Husserls aufzuklren und
3 somit zur Entwicklung einer phnomenologischen Theorie der Krankenpflege
4 beizutragen.
5 Im Folgenden werde ich zuerst die phnomenologischen Analysen des Wol-
6 lens und Handelns, die Husserl in seinen Vorlesungen vom Sommersemester
7 1914 ber Grundfragen zur Ethik und Wertlehre entwickelt hat, zusammenfas-
8 sen und dann auf seine berlegungen zur Beziehung von Intentionalitt und Mo-
9 tivation in den Ideen II eingehen. Obwohl Husserl hierbei eigentlich nicht auf
10 das Phnomen der Pflegehandlung den Fokus legt, werde ich seine Analysen
11 Schritt fr Schritt auf die Pflege anwenden und versuchen, einige Strukturmo-
12 mente der Intentionalitt der Pflegehandlung herauszuarbeiten.
13
14
15
16 2. Intentionalitt des Wollens und Handelns
17
18 Zuerst skizziere ich Husserls Analyse zur Intentionalitt des Wollens und Han-
19 delns:7 Hier unterscheidet Husserl zunchst das „Wollen im Sinne eines handeln-
20 den Wollens“ vom „Wollen im Sinne des Sich-zu-etwas-Entschließens“.8 Er
21 weist dann als Gemeinsames beider Wollens-Arten darauf hin, dass der „Wille“
22 „nicht auf Vergangenes, sondern auf Knftiges“ gehen kann9 und nichts anderes
23 als „Wirklichmachung“ ist in dem Sinne, dass etwas von dem Willen verwirk-
24 licht wird.10 Husserl schreibt weiter: „Das Bewusstsein sagt gewissermaßen
25 nicht: ,Es wird sein, und demgemß will ich es‘; sondern: ,Weil ich es will, wird
26 es sein.‘“11 Aber ist es dann nicht erforderlich, dass man sich zu diesem „es“, das
27 gewollt wird, im Voraus entschlossen hat oder es zumindest, wenn auch in vager
28 Weise, antizipiert hat? Sonst kçnnte man nicht sagen: „Weil ich es will, wird es
29 sein.“ Da dieses „es“ noch nicht verwirklicht ist, kann es zwar nicht klar und
30 deutlich vorgestellt oder erfasst werden; um verwirklicht zu werden, muss „es“
31 aber in jedem Fall antizipiert worden sein, und dieses antizipierte „es“ kann erst
32 gewollt werden. Auch in der Nursingpraxis mssen die Krankenpflegerinnen
33 und Krankenpfleger im Voraus einen besseren Zustand des Patienten, wenn
34 auch in vager Weise, antizipieren, und erst danach kçnnen sie diesen Zustand
35 verwirklichen wollen.
36
37 7 Vgl. Hua XXVIII, 102 – 112.
38
8 Ebd. 103.
9 Ebd. 106.
39 10 Ebd. 107.
40 11 Ebd.
252 Tetsuya Sakakibara
1 Intention, und diese ,erfllt‘ sich in der ausfhrenden Handlung.“18 Die Intenti-
2 on in der Nursingpraxis ist auch eine „schçpferische Intention“ des Willens, der
3 auf einen besseren Patientenzustand gerichtet ist und ihn verwirklichen will. Es
4 ist eine solche Intention, die in einer Pflegehandlung oder einer Reihe von Pflege-
5 handlungen erfllt wird.
6 Husserl beschreibt diesen Zusammenhang von Intention und Erfllung auch
7 in zeitlicher Hinsicht: „Seine [= des erfllenden Handlungswillens] erste Phase
8 ist sogleich aktuell schçpferisch; das in ihm als jetzt seiend Gegebene und per-
9 zeptiv Konstituierte tritt auf als aus dem fiat heraus geworden, als Geschaffenes.
10 In diesem Zeitpunkt aber ist in eins bewußt ein Zukunftshorizont des noch zu
11 Realisierenden. […] Die Willensthese geht nicht nur auf das Jetzt mit seinem
12 schçpferischen Anfang, sondern auf die weitere Zeitstrecke und ihren Gehalt.
13 […] Nun geht aber das Jetzt in ein immer neues Jetzt ber, stetig verwandelt sich
14 die vorgesetzte schçpferische Zukunft in die schçpferische Gegenwart und wird
15 also zu wirklich Geschaffenem. Das soeben Geschaffene erhlt den Charakter
16 der schçpferischen Vergangenheit, whrend andererseits der Zukunftshorizont
17 weiter fortbesteht.“19
18 Wenn man jede aktuelle Phase des handelnden Wollens betrachtet, wird also
19 deutlich, dass der „jeweilige Jetztpunkt mit seiner aktuellen Jetzt-Leistung“ ei-
20 nen „doppelte[n] Horizont“ des „schçpferische[n] Vergangene[n]“ und des
21 „Schçpferische[n] der Zukunft“ hat. Der „Anfangspunkt mit dem ersten und ge-
22 wissermaßen den schçpferischen Uranstoß verleihenden fiat“ und der „End-
23 punkt mit dem Charakter ,Es ist vollbracht‘“ gehçren sogar auch zu dem doppel-
24 ten Horizont. „Whrend des Prozesses entquillt bestndig Wollen aus Wollen,
25 was dann in die Reproduktionen bergeht, so daß berhaupt in den Willenskon-
26 tinuitten, die zu jedem Zeitpunkt gehçren, die Wollensmomente nicht neben-
27 einander liegen, sondern in kontinuierlichen Relationen des Auseinander-Her-
28 vorquellens stehen.“20 Aus der Wahrnehmung des wirklich Geschaffenen
29 entquillt ein Wille zu einer noch zu realisierenden Zukunft, und aus diesem Wil-
30 len folgt andererseits der Wille, auf die schçpferische Gegenwart und Vergangen-
31 heit zu reflektieren. Dieser Hin- und Rckblick gibt dem Vergangenen einen
32 Sinn, und aus dem Vergangenen entquillt ein Wille zur Zukunft. Husserl
33 schreibt berdies: „In jedem Jetzt geht die Willensrichtung und das schçpferi-
34 sche ,Es werde!‘ durch die Kontinuitt der Willensmomente hindurch; mit je-
35
36
37
38 18 Hua XXVIII, 109.
39 19 Ebd. 110.
40 20 Ebd. 110 f.
254 Tetsuya Sakakibara
1 dem neuen aktuellen Schçpfungspunkt erfllt sich eine vorgngige, auf seinen
2 Gehalt gerichtete Willensintention.“21
3 Ein aktueller Wille in jedem Jetzt kçnnte zwar nach der aktuellen Wahrneh-
4 mung des bisher Realisierten modifiziert oder erneuert werden. Da aber die
5 „Willensrichtung“ auf den zuknftig zu realisierenden Zustand durch die „Kon-
6 tinuitt der Willensmomente“ hindurchgeht, kann die gesamte Einheit des han-
7 delnden Wollens bewahrt werden, und in jedem Jetztpunkt erfllt sich eine „vor-
8 gngige […] Willensintention“. „[J]eder Wille richtet sich auf die Sachen,
9 schçpferisch erfllt auf die jeweilige Jetztphase des Vorgangs und ,intendierend‘
10 auf den ganzen Rest des Vorgangs als zu realisierenden.“22
11 Es ist aber zu beachten, dass das bisher gewollte Ziel der Willensrichtung („Es
12 werde!“) auch im realisierenden Prozess der wollenden Handlung erneuert wer-
13 den kçnnen muss, wenn der Wille oder das handelnde Wollen wirklich „schçpfe-
14 risch“ sein soll. In der Nursingpraxis kann es bisweilen vorkommen, dass das zu
15 realisierende Ziel im Prozess der Pflegehandlung je nach Besserung oder Ver-
16 schlechterung des Patientenzustandes modifiziert oder erneuert wird.23 Die
17 „Willensrichtung“, die durch die „Kontinuitt der Willensmomente“ hindurch-
18 geht, darf also nicht von Anfang bis Ende statisch fixiert sein, was aber aus dem
19 obigen Zitat nicht deutlich hervorgeht. Die Willensrichtung muss vielmehr eine
20 offene und dynamische sein, die dem jeweiligen (bisher realisierten) Zustand ge-
21 mß modifiziert oder erneuert werden kann. Auch der „Endpunkt mit dem Cha-
22 rakter ,Es ist vollbracht‘“ muss in einem solchen offenen und dynamischen Pro-
23 zess bewusst werden.
24 Unsere bisherigen Betrachtungen kçnnen jetzt in folgender Weise zusammen-
25 gefasst werden: Wenn das Wollen eines zuknftigen Zustandes entsteht und zu
26 fungieren beginnt, ist der zu erzielende Zustand bereits (zumindest in vager Wei-
27 se) antizipiert. Bei dem Prozess des handelnden Wollens gehçrt nicht nur ein
28 aktueller Handlungsakt, sondern auch ein doppelter Horizont der Vergangen-
29 heit und Zukunft zu jedem Zeitpunkt. Hierbei wird eine noch zu realisierende
30 Zukunft gewollt auf Grund eines Bewusstseins von der geschaffenen und erfll-
31 ten Vergangenheit. Das handelnde Wollen richtet sich auf eine antizipierte und
32 zu erzielende Sache und auf das brige „noch zu Realisierende“, den schaffen-
33
34 21 Ebd. 111.
35
22 Ebd.
23 Ein zu verwirklichendes Ziel kann in naturwissenschaftlich-medizinischer und in natr-
36 lich-lebensweltlicher Einstellung auf andere Weise antizipiert werden. Deswegen ereignet sich
37 leider bisweilen die Tragçdie, dass eine Behandlung oder eine Pflege, die unter dem medizini-
38 schen Gesichtspunkt im Hinblick auf eine antizipierte Besserung des Patientenzustandes er-
folgt, z. B. eine Chemotherapie bei Krebs, gerade den Patienten sehr qult und ihm fr den
39 Rest seines Lebens ein ruhiges Dasein raubt. Im Prozess der Pflegehandlung muss also die Anti-
40 zipation des zu verwirklichenden Zieles selbst eventuell erneuert werden.
Die Intentionalitt der Pflegehandlung 255
1 den Prozess und das Geschaffene jeweils wahrnehmend. Weil die Willensrich-
2 tung in dem ganzen Prozess beibehalten wird, ist die gesamte Einheit des han-
3 delnden Wollens bewahrt, wenn auch der aktuelle Wille je nach Wahrnehmung
4 des bisher Realisierten manchmal modifiziert oder erneuert werden muss. Ein
5 Wille, gerichtet auf Zuknftiges, entquillt kontinuierlich aus der Wahrnehmung
6 des geschaffenen Vergangenen, und dieser Wille zu dem noch zu realisierenden
7 Zustand verleiht dem schon Geschaffenen und Realisierten einen bestimmten
8 Sinn. Und dieser Prozess, in dem sogar das Ziel des noch zu Schaffenden eventu-
9 ell erneuert werden kann, gelangt zu dem „Endpunkt“ mit dem Bewusstsein „Es
10 ist vollbracht. “ 24
11 Auch in der Nursingpraxis ist ein besserer Zustand des Patienten, der in der
12 Zukunft realisiert werden soll, zumindest in vager Weise antizipiert, wenn das
13 Wollen zu einer Pflegehandlung geweckt wird. Im ganzen Prozess der Pflege-
14 handlung bleibt die „Willensrichtung“ zu einem antizipierten besseren Patien-
15 tenzustand bewahrt,25 obwohl der jeweilige aktuelle Wille, je nach Wahrneh-
16 mung des Patientenzustandes und des bisher in der Pflege Realisierten,
17 manchmal modifiziert oder erneuert werden muss. Aus der Wahrnehmung des
18 schon Realisierten entquillt ein Wille im Hinblick auf alles brige des „noch zu
19 Realisierenden“. Und dieser Wille zu einem zuknftigen besseren Patientenzu-
20 stand verleiht dem realisierten Zustand des Patienten einen Sinn. berdies kann
21 im Rahmen dieses Prozesses die Antizipation des zu verwirklichenden Zieles
22 selbst eventuell nach jeweiliger Wahrnehmung des Patientenzustandes erneuert
23 werden.26 Auf diese Weise erfolgt die Pflegehandlung bis zum Endpunkt in dem
24 Bewusstsein, dass der antizipierte und noch zu realisierende Patientenzustand
25 nun „vollbracht“ ist.27
26
27 24 Zu diesem Punkt schreibt Mayeroff: „I act with certain expectations, undergo or suffer
28 the results of my actions, and then link up these two phases and see whether what I expected
was in fact achieved, […] I see what my actions amount to, whether I have helped or not, and,
29
in the light of the results, maintain or modify my behavior so that I can better help the other.“
30 (OC, 22.)
25 In der Nursingpraxis ist diese im ganzen Prozess bewahrte „Willensrichtung“ nichts ande-
31
res als das „langfristige Ziel“ des Heilens und Pflegens des Patienten, und sie fundiert und
32
ermçglicht eine Intentionalitt des Wollens der einzelnen medizinischen Behandlungen und
33 Pflegehandlungen. berdies muss, da die Nursingpraxis eine Zusammenarbeit mit rzten und
34 anderen Krankenpflegerinnen und Krankenpflegern ist, die Willensrichtung intersubjektiv be-
35 wahrt und beibehalten werden. Vgl. dazu Abschnitt 5 sowie ebenso Yumi Nishimura, Tetsuya
Sakakibara: Kango-Jissen no Kozo – Husserl no Shikosei-Gainen tono Taiwa (Die Struktur
36 der Nursingpraxis – ein Dialog mit Husserls Begriff der Intentionalitt) (im Erscheinen).
26 Vgl. Anm. 23.
37
27 Diese Struktur der Intentionalitt der Pflegehandlung gilt besonders fr die kçrperliche
38
Krankenpflege (body nursing) in der Krankenhausstation. Ich habe aber neulich von Frau Misa-
39 to Nishio erfahren, die sich mit einer phnomenologischen Forschung ber die psychiatrische
40 Tagespflege (psychiatric day-caring) beschftigt, dass im Arbeitsfeld der psychiatrischen Tages-
256 Tetsuya Sakakibara
40 35 Ebd.
Die Intentionalitt der Pflegehandlung 257
1 ist Subjekt eines Leidens oder eines Ttigseins, passives oder aktives in Bezie-
2 hung auf die noematisch ihm vorliegenden Objekte, und korrelativ haben wir
3 von den Objekten ausgehende ,Wirkungen‘ auf das Subjekt. Das Objekt ,drngt
4 sich dem Subjekt auf‘, bt auf es Reize (theoretische, sthetische, praktische Rei-
5 ze), es will gleichsam Objekt der Zuwendung sein, klopft an die Pforte des Be-
6 wußtseins in einem spezifischen Sinne (nmlich dem des Zuwendens), es zieht
7 an, das Subjekt wird herangezogen, bis schließlich das Objekt Aufgemerktes ist.
8 Oder es zieht praktisch an, es will gleichsam ergriffen sein, es ladet zum Genusse
9 ein usw.“36
10 Der erste Anlass ist also eine vom Objekt ausgehende Wirkung auf das Sub-
11 jekt. Das Objekt geht mich etwas an, „drngt sich“ mir „auf“, „bt auf“ mich
12 „Reize“. Das ist gerade das, was Benner und Wrubel als „matter to“ bezeichnet
13 haben. Das Subjekt als Subjekt eines Leidens wird vom Objekt passiv affiziert
14 und erfhrt „Reize“ von ihm. Die Pflegeforschung lehrt uns aber, dass das Ob-
15 jekt, welches dem Subjekt am Herzen liegt und auf es Reize bt, manchmal noch
16 nicht noematisch artikuliert oder expliziert ist,37 obwohl Husserl hier nur von
17 den „noematisch ihm vorliegenden Objekte[n]“ spricht. Der Anfang ist jeden-
18 falls ein Am-Herzen-Liegen in dem Sinne, dass irgendein Objekt das Subjekt
19 etwas angeht. Das Subjekt wird somit „herangezogen“ und motiviert, sich ihm
20 zuzuwenden. Dann kann erst das Subjekt als „wollendes Subjekt“ „aktiv darauf
21 reagieren, zu einem Tun bergehen“,38 was jedoch Benner und Wrubel nicht hin-
22 reichend geklrt haben. Dieses „Tun“ ist, nach Husserl, ein „ich tue“, das in der
23 Vermçglichkeit des „ich kann“ gegrndet ist,39 und es „hat ein Ziel“ und zielt auf
24 dessen Verwirklichung.40
25 In der Nursingpraxis ist dies auch der Fall: Der Anfang der Pflegehandlung
26 besteht immer darin, dass ein Patient die Krankenpflegerin oder den Kranken-
27 pfleger etwas angeht und sich ihr bzw. ihm aufdrngt. Ihr bzw. ihm erscheint
28 der Patient mit einem (eventuell dringlichen) Anliegen, und diese sinnhafte, aber
29 manchmal nicht ausreichend artikulierte Erscheinung des Patienten bt Reize
30 auf die Krankenpflegerin bzw. den Krankenpfleger. Sie bzw. er wird affiziert
31 von dem Patienten, und der entsprechende aktive Wille zur Pflegehandlung
32 wird geweckt. Die Praxis der Krankenpflegerin oder des Krankenpflegers ist
33 eine Handlung oder eine Reihe von Handlungen des „ich tue“, das von den je-
34 weiligen fachlichen Kenntnissen, Fhigkeiten und bisherigen Erfahrungen unter-
35 sttzt wird, die ihre bzw. seine Vermçglichkeit des „ich kann“ konstituieren.
36
37 36 Ebd. 219 f.
38
37 Vgl. Anm. 49.
38 Hua IV, 217.
39 39 Ebd. 216.
40 40 Ebd. 217.
258 Tetsuya Sakakibara
1 Diese Pflegehandlung oder die Reihe von Pflegehandlungen hat ein „Ziel“, nm-
2 lich einen besseren Zustand des Patienten, und dieses Ziel, das schon bei dem
3 Ttigwerden des Willens zur Pflege auf Grund der Vermçglichkeit der Kranken-
4 pflegerin oder des Krankenpflegers, wenn auch in vager Weise, antizipiert ist
5 und im ganzen Prozess bewahrt bleiben soll, soll in der Nursingpraxis schritt-
6 weise verwirklicht werden.41
7 Auf Grund unserer Betrachtung im vorangegangenen Abschnitt kçnnen wir
8 Folgendes festhalten: In diesem Prozess der Pflegehandlung als wollendem Han-
9 deln kann der aktuelle Wille, je nach Wahrnehmung des Patientenzustandes und
10 des bisher in der Pflege Realisierten, manchmal modifiziert oder erneuert wer-
11 den. Aus der Wahrnehmung des schon Realisierten entquillt ein Wille hinsicht-
12 lich des brigen „noch zu Realisierenden“. Und dieser Wille zu einem zuknfti-
13 gen besseren Patientenzustand verleiht dem realisierten Zustand des Patienten
14 einen bestimmten Sinn. berdies kann bei diesem Prozess die Antizipation des
15 zu verwirklichenden Zieles selbst eventuell je nach Wahrnehmung des Patienten-
16 zustandes erneuert werden.42 Auf diese Weise erfolgt die Pflegehandlung bis
17 zum Endpunkt in dem Bewusstsein, dass der antizipierte und zu realisierende
18 Patientenzustand „vollbracht“ ist.
19
20
21
22
4. Was heißt das: Verstehen des Anderen und des Patienten?
23
24
Auf Grund der husserlschen phnomenologischen Analysen des Wollens, Han-
25
delns und der Motivation haben wir bisher die Struktur der Intentionalitt der
26
Nursingpraxis, besonders der Krankenpflegehandlung schrittweise aufgeklrt.
27
Die Pflege kann aber gar keine Pflege sein ohne ein Verstehen der gepflegten
28
Person. Grundstzlich kçnnen wir einen Anderen nie vçllig verstehen, da wir
29
keinen direkten Zugang zu dessen Bewusstsein haben. Das bedeutet aber nicht,
30
dass das Verstehen der gepflegten Person nicht relevant wre. Was heißt denn
31
das, Verstehen des Anderen, besonders der gepflegten Person? In der zweiten
32
Hlfte des Paragraphen 56 der Ideen II erlutert Husserl die Beziehung zwi-
33
schen der Motivation und dem Verstehen des Anderen. Dies werde ich nun auf
34
die Nursingpraxis anwenden. ber die „Apperzeption ,Mensch‘“ schreibt Hus-
35 41 Es ist deutlich, dass nun Benners und Wrubels Begriff des „caring“ – eine fundamentale
36 Seinsweise des Menschen, in der Dinge, Ereignisse und Personen uns „etwas angehen“ und wir
37 dadurch in sie und in die Welt „involviert“ werden – als diejenige Intentionalitt phnomenolo-
38 gisch aufgeklrt ist, in der das Subjekt von einer sinnhaften Erscheinung des (noematischen)
Gegenstandes passiv affiziert wird, motiviert ist und dann als wollendes auf das antizipierte
39 Ziel hin aktiv handeln will.
40 42 Vgl. auch Anm. 23.
Die Intentionalitt der Pflegehandlung 259
1 serl zunchst Folgendes: „Wir wissen schon aus der Selbsterfahrung, daß eine
2 doppelte mçgliche Auffassung darin impliziert ist: die als Naturobjekt und die
3 als Person. Das gilt auch fr die Betrachtung anderer Subjekte. Gemeinsam ist
4 beiderseits die Gegebenheit des Nebenmenschen durch Komprehension, aber
5 diese fungiert hier und dort verschieden. Einmal ist das Komprehendierte Na-
6 tur, das andere Mal Geist; einmal ist fremdes Ich, Erlebnis, Bewußtsein introjek-
7 tiv gesetzt, aufgebaut auf die Grundauffassung und Setzung materieller Natur,
8 aufgefaßt als von ihr funktionell Abhngiges, ihr Anhngendes. Das andere Mal
9 ist das Ich als Person, als ,schlechthin‘ gesetzt und damit gesetzt als Subjekt sei-
10 ner personalen und dinglichen Umgebung, als durch Verstndnis und Einver-
11 stndnis auf andere Persçnlichkeiten bezogen, als Genosse eines sozialen Zusam-
12 menhangs, dem eine einheitliche soziale Umwelt entspricht.“43
13 Hieraus schließt Husserl, dass das Verstehen des Anderen nichts anderes ist
14
als das Verstehen derjenigen „Motivationen“, die die betreffende Person als „Per-
15
son“ hat.44 In der Nursingpraxis entspricht der Auffassung des Menschen als Na-
16
turobjekt die medizinische Betrachtung des Patienten als „kranker“ (diseased)
17
Menschenleib. In der Tat sehen die rzte den Patienten grundstzlich als Men-
18
schenleib, der ein funktionelles Aggregat der Organe ist.45 Der Patient ist aber
19
als „Person“, als „Subjekt seiner personalen und dinglichen Umgebung“, durch
20
die Umgebung motiviert und erfhrt seine „Krankheit“ (disease) sinnhaft als
21
„Leiden“ (illness).46 Das Verstehen des Patienten ist nichts anderes als ein Verste-
22
hen seiner „Motivationen“ oder seines Motivationszusammenhangs.
23
Selbstverstndlich ist der medizinische Gesichtspunkt unentbehrlich fr die
24
Krankenpflege. Pflege kann gar keine Krankenpflege sein ohne ihn. Aber im Un-
25
26
terschied zu den rzten, die ihren Blick hauptschlich auf die Organe des Patien-
27
ten richten und versuchen, die Krankheit (disease) als deren Dysfunktion zu be-
28
handeln, wollen die Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger sowohl die
29 Krankheit des Patienten als auch seine Erfahrung der Leiden verstehen. Sie ver-
30 stehen den Patienten als vollstndige Person, die durch ihre personalen und ding-
31 lichen Umgebungen motiviert ist und die Krankheit als ein sinnhaftes Leiden
32 erfhrt, und versuchen, ihn zu umsorgen. Es ist nmlich eine Eigentmlichkeit
33 der Krankenpflege, dass sie nicht auf ein bloßes Kurieren reduziert werden
34
35 43 Hua IV, 228 f.
36 44 Vgl. ebd. 228.
45 Vgl. S. Kay Toombs: The meaning of illness. A phenomenological account of the diffe-
37
38 rent perspectives of physician and patient. Dordrecht 1993.
46 Zum Unterschied zwischen „disease“ und „illness“ vgl. Arthur Kleinman: The illness
39 narratives. Suffering, healing, and the human condition. New York 1988. 3 ff.; vgl. auch PC,
40 xii, 8 – 9.
260 Tetsuya Sakakibara
1 kann.47 Jetzt ist es klar, dass sowohl die „naturalistische Einstellung“ der medizi-
2 nischen Auffassung des Patienten als „Naturobjekt“ als auch die „personalisti-
3 sche Einstellung“ der Auffassung des Patienten als „Person“ fr die Kranken-
4 pflege notwendig sind, und dass die Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger
5 je nach Bedarf die beiden Einstellungen abwechseln sollten. Die personalistische
6 Einstellung der Auffassung des Patienten als Person und das Verstehen seiner
7 Motivationen sind jedoch fr die Krankenpflege wesentlich und unentbehrlich.
8 Wenn man versucht, einen Anderen als Person und seine Erlebnisse und Moti-
9 vationen zu verstehen, ist die verbale Kommunikation nicht das einzige Mittel.
10 Es kçnnte ja einen Patienten geben, der nicht mehr sprechen kann und wegen
11 der Schmerzen nur das Gesicht verzieht. Husserl schreibt dazu: „Ich hçre den
12 Anderen sprechen, sehe sein Mienenspiel, lege ihm die und die Bewußtseinser-
13
lebnisse und Akte ein und lasse mich dadurch so und so bestimmen. Das Mienen-
14
spiel ist gesehenes Mienenspiel und ist unmittelbar Sinnestrger fr das Bewußt-
15
sein des Anderen, darunter z. B. fr seinen Willen, der in der Einfhlung
16
charakterisiert ist als wirklicher Wille dieser Person und als an mich durch seine
17
Mitteilung adressierter Wille. Dieser so charakterisierte Wille nun, bzw. das ein-
18
fhlende und dabei in der Weise der Einfhlung setzende Bewußtsein von die-
19
sem Willen, motiviert mich in meinem Gegenwillen, in meinem Mich-unterwer-
20
fen etc. Von einer Kausalbeziehung […] ist keine Rede und ebensowenig von
21
irgendwelchen anderen psychophysischen Beziehungen. Die Mienen des Ande-
22
ren bestimmen mich (schon das ist eine Art der Motivation), an sie einen Sinn im
23
Bewußtsein des Anderen zu knpfen. Und die Miene ist eben die gesehene Mie-
24
25
ne, die ich sehend ebensowenig in kausale Beziehungen zu meinem Sehen, mei-
26
nen Empfindungen, Erscheinungen etc. bringe wie bei irgendwelchem schlich-
27 ten sinnlichen Wahrnehmen sonst.“48
28 Hier spricht Husserl von dem Fall, dass ich den Anderen sprechen hçre. Der
29 Kontext aber zeigt, dass es ebenso gilt fr den Fall: „Ich hçre den Anderen nicht
30 sprechen.“ Wenn auch der „Andere“ nicht spricht oder sogar nicht mehr spre-
31 chen kann, ist sein „Mienenspiel“ noch unmittelbar „Sinnestrger“ fr sein „Be-
32 wußtsein“, z. B. fr „seinen Willen“. Der Wille des Anderen, der „als an mich
33 durch seine Mitteilung adressierter Wille“ erfahren ist, affiziert mich und „moti-
34 viert mich in meinem Gegenwillen, in meinem Mich-unterwerfen“. berdies ist
35 das Mienenspiel „gesehenes Mienenspiel“, das ich auf verschiedene Weise erfasse
36 gemß meinen bisherigen Erfahrungen und meinen Vermçglichkeiten des „ich
37
47 Benner und Wrubel behaupten: „Nurses are in the unique position of being able to under-
38
stand both the disease experience and the meanings that the patient brings to that experience.“
39 (PC, 62.)
40 48 Hua IV, 235.
Die Intentionalitt der Pflegehandlung 261
1 Krankenzimmer eingetreten, und ein Patient ist [vielleicht nach einer Operati-
2 on] ins Krankenzimmer zurckgekommen, und ich habe gefhlt, dass dieser Pa-
3 tient irgendwie merkwrdig ist [obwohl ich den Patienten zum ersten Mal gese-
4 hen habe]. So habe ich [eine Kollegin, die bisher den betreffenden Patienten
5 gepflegt hat,] gefragt: ,Findest Du nicht jenen Patienten merkwrdig?‘ Ihre Ant-
6 wort lautete: ,Doch. Stimmt. Er sieht ganz normal aus, ist aber super-merkwr-
7 dig!‘ Sie hat dann so und so erklrt. Aha, er ist doch merkwrdig! Als ich so
8 gedacht habe, habe ich mich ganz davon berzeugt, dass mein Gefhl vollstn-
9 dig zurckgekehrt ist.“
10 Diese Reden von D analysiert Nishimura auf folgende Weise: „Was hier zu
11 beachten ist, ist die Tatsache, wie sich die Krankenpflegerin D davon berzeugt
12 hat, dass es ihr endlich gut gegangen ist, d. h. dass ihr Gefhl, das sie vor der
13 sechsjhrigen Arbeitsunterbrechung hatte, zurckgekehrt ist. Als D in das Zim-
14 mer eines Patienten, den sie bis dahin nicht gepflegt hatte, eintrat, hat sie so-
15 gleich gefhlt, dass der Patient merkwrdig ist. D charakterisiert dieses Gefhl
16 als ,wohl ein natrliches und notwendiges Gefhl, das alle htten‘, und D hat
17 eine mit ihr arbeitende Krankenpflegerin befragt, und ihr eigenes Gefhl wurde
18 von dieser besttigt. Dadurch, dass D dabei wirklich so gefhlt hat wie alle, hat
19 sich D davon berzeugen lassen, dass es ihr endlich gut gegangen ist. ,Ein natrli-
20 ches und notwendiges Gefhl, das alle htten‘, hat D auch gefhlt – das wurde
21 hier von D in dem Sinne erfahren, dass ein Gefhl der Expertin zurckgekehrt
22 ist. Aus diesen Analysen kann man wohl entnehmen, dass D und auch die ande-
23 ren Krankenpflegerinnen in ihrer Krankenpflege ihre Ansicht oder Perspektive
24 ber die Patientenzustnde jeweils mit der Ansicht der ,Alle‘ verglichen und,
25 indem sie sich ihre jeweiligen Differenzen klargemacht haben, ihre eigene, doch
26 mit den anderen bereinstimmende Ansicht konstituiert haben.“
27 Auf Grund dieser Analysen Nishimuras kçnnen wir jetzt Folgendes festhal-
28 ten: Die erfahrenen Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger beobachten den
29 Patientenzustand zwar aus ihrer eigenen Perspektive, sorgen sich aber immer
30 darum, wie die anderen Kolleginnen und Kollegen denselben Zustand sehen
31 oder fhlen, und eignen sich damit schon die Ansicht der „Alle“ an. Die erfahre-
32 nen Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger wissen also, dass die Ansicht der
33 „Alle“ schon in ihrer eigenen Perspektive impliziert ist. Natrlich kçnnen An-
34 fnger die jeweilige Lage nicht so einschtzen wie Erfahrene. Aber auch sie mss-
35 ten wissen oder zumindest fhlen, dass sie eine solche Ansicht der „Alle“ noch
36 nicht haben, und mssten daher jeweils in Erfahrung bringen, wie die Erfahre-
37 nen den Zustand sehen, um mit ihnen gut zusammenzuarbeiten. In diesem Sinne
38 kann man wohl sagen, dass eine Ansicht der „Alle“ auch in der Perspektive einer
39 gerade erst anfangenden Krankenpflegerin, wenn auch nur in antizipierter Wei-
40 se, impliziert ist.
264 Tetsuya Sakakibara
1 Nun kehren wir zu Husserls Text zurck, den wir jetzt, so hoffe ich, leichter
2 verstehen kçnnen: „Wie das Einzelsubjekt seine Umwelt mit offenen Horizon-
3 ten hat, so hat eine kommunizierende Subjektvielheit eine gemeinsame Umwelt
4 als die ,ihre‘. Jeder einzelne hat seine Sinnlichkeit, seine Apperzeptionen und
5 bleibenden Einheiten; die kommunizierende Vielheit hat gewissermaßen auch
6 eine Sinnlichkeit, eine bleibende Apperzeption und als Korrelat eine Welt mit
7 einem Unbestimmtheitshorizont. Ich sehe, ich hçre, ich erfahre nicht nur mit
8 meinen Sinnen, sondern auch mit denen des Anderen, und der Andere erfhrt
9 nicht nur mit seinen, sondern auch mit meinen Sinnen; […] Und das ist nicht
10 bloß eine objektive Rede, sondern eine Bewusstseinstatsache, fr mich und fr
11 jeden Anderen, etwas, was fr mich bestndig wirksam ist in meinem Verhalten,
12 schon in dem [Verhalten] in der Sphre meiner Passivitt, meiner Affektion und
13 bloßen Rezeption. Wir richten uns alle danach in unserem sinnlichen Leben, wir
14 richten uns nach ,unseren‘ […] Erfahrungen.“52
15 Diese Beschreibung Husserls kçnnen wir jetzt mit der Nursingpraxis der mit-
16 einander kooperierenden Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger in Bezie-
17 hung setzen: Eine kommunizierende und miteinander zusammenarbeitende Sub-
18 jektvielheit der Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger hat im Krankenhaus
19 eine gemeinsame Arbeitswelt als die „ihre“. Jedes Mitglied dieser Subjektviel-
20 heit hat seine Sinnlichkeit, seine Apperzeptionen und bleibenden Einheiten und
21 Fhigkeiten; aber die kommunizierende und miteinander zusammenarbeitende
22 Vielheit der Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger hat auch eine Sinnlich-
23 keit, eine bleibende Apperzeption und als Korrelat eine Arbeitswelt mit einem
24 Unbestimmtheitshorizont. Ich sehe, ich hçre, ich erfahre nicht nur mit meinen
25 Sinnen, sondern auch mit denen der Kolleginnen und Kollegen. Diese Intentio-
26 nalitt fungiert nicht nur in der Sphre der Aktivitt, sondern schon in der der
27 Passivitt. Auf diese Weise richten sich die miteinander zusammenarbeitenden
28 Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger jeweils nach „unserer“ Ansicht der
29 „Alle“ und kçnnen gemeinsam das unverndert gebliebene „Ziel“ eines besseren
30 Patientenzustandes antizipieren, beibehalten oder, falls erforderlich, erneuern.
31 Aber wie konstituiert sich eine gemeinsame Sinnlichkeit, eine bleibende Ap-
32 perzeption und „unsere“ Ansicht der „Alle“ in concreto? Das hat Husserl im
33 oben zitierten Text nicht hinreichend geklrt. Wir hatten aber zuvor auf Grund
34 der Arbeit Nishimuras Folgendes diskutiert: Die Krankenpflegerinnen beobach-
35 ten den Patientenzustand zwar aus ihrer eigenen Perspektive, sorgen sich aber
36 immer darum, wie ihre Kolleginnen denselben Zustand sehen, und dadurch eig-
37 nen sie sich allmhlich, und zwar teils sogar passiv, die Ansicht der „Alle“ an. In
38 ihrer Nursingpraxis vergleichen sie ihre eigene Perspektive jeweils mit der so
39
40 52 Hua XIV, 197.
Die Intentionalitt der Pflegehandlung 265
1 konstituierten Ansicht der „Alle“ und, indem sie sich ihre jeweiligen Differen-
2 zen klarmachen, konstituieren und erneuern sie ihre eigene, doch gemeinsame
3 Ansicht. Es scheint mir, dass diese Genesis der Intentionalitt nicht nur fr die
4 Nursingpraxis, sondern mutatis mutandis auch fr eine andere soziale Kommu-
5 nikation oder Erfahrung der Subjektvielheit gelten kann.
6
7
8 6. Schluss
9
10 Der Ausgangspunkt dieser berlegungen bestand darin, die Aufmerksamkeit
11 zu lenken auf Benners und Wrubels Begriff des „caring“ als „fundamentale
12 Seinsweise“ des Menschen, in der Dinge, Ereignisse und Personen uns „etwas
13 angehen“ und wir dadurch in sie und in die Welt „involviert“ werden. Der erste
14 Anlass zur Pflegehandlung ist zwar immer, dass uns jemand „etwas angeht“,
15 aber wir haben, auf Husserls Analysen des Wollens, des Handelns und der Moti-
16 vation referierend, einige sich daran anschließende Aspekte der Aktivitt bei
17 Pflegehandlungen aufgeklrt, die Benner und Wrubel nicht hinreichend offenge-
18 legt haben.
19 Offensichtlich ist die Tragweite des Begriffs der „Pflege“ sehr groß. Selbst im
20 Bereich der Nursingpraxis wird Pflege sehr verschieden ausgebt, je nachdem,
21 ob die Krankheit des Patienten chronisch oder akut ist, und je nachdem, ob sie
22 noch behandelbar ist oder nicht. Dieser Beitrag konnte nur einige Momente der
23 intentionalen Struktur der Krankenpflegehandlung offenlegen, nmlich der ge-
24 wnschten und zu realisierenden Pflegehandlung, und zwar auf der Grundlage
25 der phnomenologischen Analyse Husserls. In einer spteren Untersuchung
26 werde ich noch auf die Analyse der Intentionalitt bei einer ganz bestimmten
27 Pflegehandlung eingehen, genauer gesagt, auf die Pflege eines Dialysepatienten.
28 Das kçnnte vielleicht dazu fhren, weitere Aspekte der Intentionalitt des Wol-
29 lens und Handelns, die Husserl nicht hinreichend erklrt hat, zu entdecken.
30 Dann wird eine Phnomenologie der Pflege von den Sachen selbst her neu entwi-
31 ckelt werden, und das wird uns dazu motivieren, die bestehende Phnomenolo-
32 gie zu modifizieren. Ich hoffe, dass dies zu einer Weiterentwicklung der Phno-
33 menologie selbst fhren kann.
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1 Daniel Schmicking
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4 Zur Phnomenologie interpersonellen Handelns und Bewusstseins
5
Eine exemplarische Analyse der Improvisation im Jazz1
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10 I. Einleitung
11
12 Die Neurowissenschaft hat das Musizieren als ein Fenster auf komplexe integra-
13 tive Hirnprozesse entdeckt. Sowohl das intrapersonale motorische Planen und
14 Handeln der Musiker als auch ihre sensomotorische, nonverbale Koordination
15 bzw. Kommunikation untereinander bilden aufschlussreiche Modelle des Han-
16 delns und Interagierens berhaupt. Inzwischen sind erste Experimente zur Er-
17 forschung der beteiligten Hirnareale und der unterliegenden neuralen Codes
18 durchgefhrt worden.2 Es gibt aber bislang kaum Gerte und Verfahren, die zur
19 Untersuchung mehrerer in komplexen Situationen miteinander interagierender
20 Personen geeignet sind. Auch nach eigener Einschtzung der Experimentatoren
21
sind die Ergebnisse aus diesen Experimenten noch mit der gebotenen Vorsicht
22
zu interpretieren.3 Trotzdem scheint sich hier eine der wichtigsten zuknftigen
23
Entwicklungen hin zu interzerebralen Versuchsanordnungen und Theorien an-
24
zukndigen.4 Die erfolgreiche Beantwortung vieler offener Fragen wird vor al-
25
lem abhngig sein von der Entwicklung angemessener Verfahren: der geeigneten
26
Technologie, çkologisch valider Designs und der Instrumente zur statistischen
27
Auswertung.
28
29 1 Fr die zahlreichen wertvollen Hinweise und Anregungen zu diesem Beitrag danke ich
30 herzlich Angelika Hagen (Wien), Andreas Schreiber (Linz/Wien) und Klaus Sellge (Kçln). Lei-
31 der kann ich in diesem Rahmen nicht alle Anmerkungen angemessen bercksichtigen. Fr anre-
gende Gesprche danke ich ferner Han-An Liu und Oliver Schwarz (beide Kçln). Fr wertvol-
32
le redaktionelle Hinweise danke ich Dirk Fonfara, Dieter Lohmar und Klaus Sellge.
33 2 Besonders interessant, da in relativ realistischen Situationen interagierende Musiker unter-
34 sucht wurden, sind Ulman Lindenberger u. a.: Brains swinging in concert. Cortical phase syn-
35 chronization while playing guitar. In: BMC Neuroscience 10 (2009). Article 22.; Johanna Sn-
ger u. a.: Intra- and interbrain synchronization and network properties when playing guitar in
36 duets. In: Frontiers in Human Neuroscience 6 (2012). Article 321.
3 Vgl. Snger u. a.: Intra- and interbrain synchronization. 13.
37
4 Riitta Hari, Miiamaaria V. Kujala: Brain basis of human social interaction: From con-
38
cepts to brain imaging. In: Physiological Reviews 89 (2009). 453 – 479. Vgl. auch Uri Hasson
39 u. a.: Brain-to-brain coupling: a mechanism for creating and sharing a social world. In: Trends
40 in Cognitive Sciences 16 (2012). 114 – 121.
1 Die Handlungen eines Musikers sind also nicht nur durch die Gedanken des
2 Komponisten und seine Beziehung zu den Zuhçrern orientiert, sondern ebenso
3 durch seine Wahrnehmung der Mitmusiker. Er muss seinen Part interpretieren,
4 aber ebenso die Interpretation der Partitur durch seine Mitspieler antizipieren
5 und deren Antizipationen seiner eigenen musikalischen Gesten bercksichtigen:
6 „He [the performer, D.S.] has not only to interpret his own part […], but he
7 has also to anticipate the other player’s interpretation of his – the Other’s – part
8 and, even more, the Other’s anticipations of his own execution. […]. Both share
9 not only the inner dure in which the content of the music played actualizes
10 itself; each, simultaneously, shares in vivid present the Other’s stream of cons-
11 ciousness in immediacy.“10
12 Ermçglicht werde dieses unmittelbare Teilnehmen am Bewusstseinsstrom
13 des Anderen durch die echte Face-to-Face-Beziehung der miteinander Musizie-
14 renden. Gesichts- und Kçrperausdruck, alle Bewegungen werden aufgefasst als
15 Indikationen der weiteren musikalischen Gesten bzw. ihrer Intentionen.
16 Nach Schtz liegt also dem gemeinsamen Musizieren eine komplexe Ver-
17 schrnkung von Zeitformen zugrunde: 1. Mein subjektives Erleben verbindet
18 sich in Quasi-Gleichzeitigkeit mit dem Sinn der Partitur, der in innerer Zeit gege-
19 ben ist. Parallel geschieht das auch zwischen allen Mitmusizierenden und Hç-
20 rern. 2. Mein Erleben koppelt sich mit den Gesten bzw. Klngen meiner Mitmu-
21 sizierenden in der ußeren Zeit, in der wir alle unsere Gesten bzw. Klnge
22 wahrnehmen und koordinieren. 3. Darber hinaus kommt es zu einer Form par-
23 tiellen Verschmelzens: Ich erlebe unmittelbar die musikalischen Intentionen der
24 Anderen, nicht bloß ihre physikalischen Bewegungen in der ußeren Zeit. In le-
25 bendiger Gegenwart teile ich die Bewusstseinsstrçme der Anderen und umge-
26 kehrt.
27 Hinsichtlich der fundierenden sozialen Beziehung und der zeitlichen Dimen-
28 sionen des Musizierens sieht Schtz keinen prinzipiellen Unterschied zwischen
29 der Klassischen Musik, einer Jazzimprovisation oder Liedern, die Laien am La-
30 gerfeuer oder im Gottesdienst singen. Diese Generalisierung ist nicht unproble-
31 matisch. Schtz’ Annahmen auf der Basis komponierter Klassischer Musik tref-
32 fen so z. B. nicht auf freie Improvisation zu. Die Abwesenheit von Partituren
33 oder zumindest von den Beteiligten vorbekannten und verwendeten harmoni-
34 schen und rhythmischen Mustern verndert sowohl die Interaktion zwischen
35 den Musizierenden als auch das Tuning-in mit dem Publikum. Die Ausfhrun-
36 gen Schtz’ treffen aber weitgehend auf Improvisation im Mainstream-Jazz zu.
37 Auch dies ist ein Grund, warum die nachfolgenden Analysen auf diesen Aus-
38 schnitt begrenzt sind.
39
40 10 Ebd. 176.
Zur Phnomenologie interpersonellen Handelns und Bewusstseins 271
1 Auch aus eigener Kenntnis des Musikmachens hat Schtz bereits wesentliche
2 Strukturen und Details des Interagierens beim gemeinsamen Musizieren erfasst.
3 Was meines Erachtens jedoch noch nicht hinreichend klar wird, ist die Konstitu-
4 tion dessen, was Schtz, mehr andeutend, als eine gemeinsame Zeitform charak-
5 terisiert, und was aus der Perspektive der Musizierenden als eine besondere
6 Form der Empathie beschrieben werden kann. Anknpfend an Schtz, wird da-
7 her die folgende Deskription versuchen, zu einem etwas detaillierteren Verstnd-
8 nis gerade der Teilhabe am Bewusstseinsstrom des Anderen beizutragen.
9
10
11
12
III. Zur Deskription des gemeinsamen Improvisierens im Jazz
13
14
Zunchst gebe ich einen berblick ber die beteiligten intentionalen Leistungen
15
beim gemeinsamen Musizieren berhaupt. Das Ergebnis dieser Analyse, wie
16
auch der folgenden, wird anhand einer Reihe abstraktiv gesonderter Momente
17
prsentiert. Der gesamte deskriptive Kontext dazu kann hier unmçglich erçrtert
18
werden. Als Belege dienen letztlich viele Einzelerfahrungen, vikariierend auch
19
die Anderer. Wie hufig in phnomenologischer Feldforschung, wird ein Ergeb-
20
nis prsentiert, das sich zwar knapp darlegen lsst, das aber letztlich nur durch
21
umfngliche deskriptive Details zu rechtfertigen wre. Dies darf allerdings nicht
22
darber hinwegtuschen, dass es sich um den Kern dieser Untersuchung han-
23
delt, der das argumentative Hauptgewicht trgt.
24
Bei den folgenden acht Punkten handelt es sich um weit gefasste Gruppen
25
von Akten, die beim gemeinsamen Musizieren auftreten bzw. dieses erst ermçg-
26
lichen. Jede dieser Gruppen kçnnte feinkçrniger weiter beschrieben und analy-
27
siert werden.
28
1) Auditive Wahrnehmungen der Klnge bzw. Gesten11 der Anderen, auch
29
von vokalen Gesten, soweit sie fr das musikalische Handeln relevant sind, 2)
30
visuelle Wahrnehmungen der Gesten der Anderen und darber hinaus ihrer Be-
31
wegungen, sofern sie fr das musikalische Handeln bedeutsam sind, 3) musikali-
32
sche Empathie, d. h. Einfhlen in die Gesten der Anderen, gegenseitige Antizipa-
33
tionen der musikalischen Intentionen, partielles Verschmelzen, was Schtz als
34
ein unmittelbares Teilnehmen am Bewusstseinsstrom des Anderen bezeichnet,
35 11 Der Begriff der musikalischen Geste wird hier so verwendet, dass er alle (pr-)intentiona-
36 len und motorischen Teilakte umfasst, die dafr notwendig sind, ein Motiv oder einen einzel-
37 nen Klang mit musikalisch-gegenstndlichem Sinn zu erzeugen. Der durch den leiblich-moto-
38 rischen Teil erzeugte Klang ist abstraktes Moment der Geste, in dem sich die gesamte Gestalt
der Bewegung in feinsten Nuancen ausdrckt. Vgl. dazu auch Daniel Schmicking: Warum ein
39 Klang mehr ist als man hçrt. […]. In: Ingo Gnzler, Karl Mertens (Hg.): Wahrnehmen, Fh-
40 len, Handeln: Phnomenologie im Wettstreit der Methoden. Mnster 2013. 73 – 90.
272 Daniel Schmicking
1 4) Planung und Kontrolle der eigenen Gesten (hierzu wirken motorische Inten-
2 tionalitt, Kinsthesen und Propriozeption zusammen), 5) auditive Wahrneh-
3 mung der eigenen Klnge (als weiteres Feedback fr 4), 6) Ko-Konstitution des
4 Musikstcks,12 7) im Falle einer Auffhrung mit Publikum die Wahrnehmung
5 und Interaktion mit dem diesem13 und 8) Wahrnehmung der akustischen Verhlt-
6 nisse und Anpassen der eigenen Gesten an diese Bedingungen mittels des auditi-
7 ven Feedbacks.14
8 Wie eingangs angedeutet, ist das, was hier unter (3) als Empathie, Antizipie-
9 ren und Verschmelzen gefasst wird, nicht ein Zustand, der eindimensional oder
10 monolithisch ist und sich automatisch mit dem gemeinsamen Musizieren ein-
11 stellt. Es handelt sich um ein komplexes graduelles Phnomen, das vielen Bedin-
12 gungen unterliegt, z. B. der Bereitschaft der Beteiligten, sich gegenber den An-
13 deren ,zu çffnen‘. (Diese Metapher wird im Laufe der folgenden Deskription
14 noch expliziert.) Hinzu kommt die hinreichende Beherrschung des Instruments
15 und der musikalischen Strukturen durch die Musizierenden, die sonst ihre Auf-
16 merksamkeit berwiegend auf die Gestalt des Stcks richten mssen, anstatt
17 sich auf das interaktive Geschehen einzulassen.
18 Wie oben gezeigt, hat bereits Schtz’ Analyse herausgearbeitet: Ich treffe als
19 Musiker nicht nur kontinuierlich Entscheidungen ber meine eigenen Gesten,
20 sondern muss auch die Gesten bzw. Entscheidungen der Anderen antizipieren,
21 wie auch ihre Protentionen und Antizipationen meiner Gesten bzw. Entschei-
22 dungen. Gerade diese Reziprozitt mag Nichtmusikern berraschend oder als
23
24 12 Hierbei handelt es sich um den Titel weiterer erforderlicher Analysen, die auch von den
1 chung ist entscheidend, dass gerade Musiker damit Qualitten verbinden, die
2 ber strukturelle Eigenschaften (exakte rhythmische Synchronisation aller Betei-
3 ligten, harmonischer und klangfarblicher Zusammenklang) hinausgehen und
4 subjektive Eigenschaften wie Intensitt oder swing und letztlich das enge, har-
5 monische Zusammenspiel, die Kohsion der Spieler betreffen. „Grooving“ be-
6 zeichnet also auch einen emotionalen und interpersonellen Aspekt, der nicht er-
7 zwungen werden kann, der sich einstellt oder nicht, der graduell ist und in seiner
8 hçchsten Form durchaus nicht immer erreicht wird.18
9 Im Rahmen ihrer enaktivistischen Theorie der Intersubjektivitt weisen
10 Fuchs und De Jaegher darauf hin, dass Koordination nicht notwendig eine per-
11 fekte Synchronisation verlangt. „Perfect synchronization would lead to an undif-
12 ferentiated, homogenous feeling state.“19 Tatschlich kann aber gemeinsames
13 Musizieren zu einem solchen interpersonellen Erleben eines homogenen, ge-
14 meinsamen Handelns und begleitenden Gefhls fhren. Man denke etwa an ein
15 Ensemble, das einen hypnotischen Rhythmus ber lngere Zeit spielt, in dem
16 alle Mitspieler tranceartig ,aufgehen‘. Aus eigener Erfahrung wrde ich solche
17 Situationen so beschreiben: Wenn das grooving erreicht ist, gibt es Phasen, in
18 denen der sense of agency deutlich zurcktritt.20 Es ist dann nicht entscheidend,
19 dass ich gerade dies spiele, sondern dass dies ein Element des Ganzen ist, das sich
20 in jeder Hinsicht harmonisch zum Ganzen verhlt. Man kçnnte auch sagen: Es
21 stellt sich das Gefhl ein, dass der groove bernimmt. Dies besttigt den Ein-
22 druck des verminderten sense of agency. Hufig ist mit diesen Phasen auch ein
23 besonders transparentes Hçren verbunden. Alle Stimmen sind klar, gegenwrtig
24 und gleichberechtigt.
25
26
27 2. Harmonisches Ineinandergreifen der (Teil-)Handlungen
28
29 Miteinander Musizierende intendieren und erleben ein harmonisches Ineinand-
30 ergreifen all ihrer Teilhandlungen. Die musikalischen Gesten bzw. Handlungen
31 ergnzen und besttigen sich gegenseitig in einer Weise, die idealerweise ein l-
32 ckenloses Ineinandergreifen des Denkens und Tuns erzeugt, das nur in wenigen
33
34 18 Vgl. Monson: Saying something. Jazz improvisation and interaction. Chicago 1996. 66 –
35 69.
19 Thomas Fuchs, Hanne de Jaegher: Enactive intersubjectivity: Participatory sense-ma-
36 king and mutual incorporation. In: Phenomenology and the Cognitive Sciences 8 (2009). 465 –
37 486. 471.
20 Alf Gabrielsson, Siv Lindstrçm Wik (Strong experiences related to music: a descriptive
38
system. In: Musicae Scientiae 7 [2003]. 157 – 217. 175 f., 181) fhren „loss of control“ und Out-
39 of-body-Erfahrungen (typischerweise von Musikern, nicht Hçrern) unter den Merkmalen in-
40 tensiver Erfahrungen von Musik an.
Zur Phnomenologie interpersonellen Handelns und Bewusstseins 275
1 drckt umgekehrt der Schlagzeuger den Puls sehr klar aus, gibt dies dem Bassis-
2 ten Gelegenheit, rhythmisch spannungsreiche Figuren zu spielen.
3 Ebenfalls auf sublime Weise mssen sich Bassist und Pianist harmonisch auf-
4 einander einstellen: Auf Grund psychoakustischer Prinzipien hat der tiefste Ton
5 eine wichtige Bedeutung dafr, wie eine Harmonie empfunden wird. Dadurch
6 kann der Bassist, der (hufig) akustisch dominante tiefe Tçne spielt, eine domi-
7 nierende Rolle einnehmen, indem er die Akkorde bzw. harmonischen Bewegun-
8 gen des Pianisten ,einfrbt‘ und beeinflusst. Folgt ein Bassist nicht den Harmoni-
9 en des Pianisten, wird sich Letzterer in der Wahl seiner Akkorde darauf
10 einstellen. Umgekehrt haben Pianisten auch Erwartungen bezglich der Art, in
11 der Bassisten harmonisch auf sie reagieren, etwa auf Akkordsubstitutionen und
12 -variationen, die der Pianist spielt, ohne dass sie in Komposition oder Arrange-
13 ment verwendet werden. Zwischen Schlagzeuger und Pianist entsteht typischer-
14 weise eine rhythmische Koordination, indem sie mit ihren Figuren aufeinander
15 reagieren. Besonders dienen dem Schlagzeuger hierzu Begleitfiguren, die er auf
16 den Trommeln spielt, whrend er den Beat auf dem Becken hlt.29 Auf diese Wei-
17 se sind sozusagen einzelne Teile des Schlagzeugers mit unterschiedlichen Mitmu-
18 sikern koordiniert: das Becken-Spiel, an dessen Beat sich die gesamte Band orien-
19 tiert, besonders mit dem Bassisten, die ,freie‘ Hand und der rechte Fuß mit dem
20 Pianisten und/oder dem Solisten.
21 Durch fills, das sind Interjektionen des Schlagzeugers, wobei dieser hufig
22 den kontinuierlichen Ride-Rhythmus auf dem Becken unterbricht, beteiligt sich
23 der Schlagzeuger am melodischen Geschehen, markiert bergnge und kann
24 das musikalische Geschehen entscheidend intensivieren. Typischerweise fhrt
25 ein fill auf einen Zielpunkt, z. B. den ersten Schwerpunkt eines spteren Taktes.30
26 Der Weg dorthin, der ber mehrere Takte fhren kann, lsst die Mitmusiker den
27
Zielpunkt antizipieren. Ihre Erwartung wird ihrerseits vom Schlagzeuger antizi-
28
piert, der die Anderen mittels seines fills ,mitnehmen‘ will, d. h. eine Reaktion
29
erwartet, die Reaktionen der Anderen nicht dem Zufall berlassen will.
30
Auf einen zentralen interaktiven Aspekt des Schlagzeugspiels sei hier noch
31
hingewiesen, der Außenstehende vielleicht zunchst berrascht: Entgegen dem
32
Stereotyp vom Schlagzeug als einem lauten und typisch mnnlichen Instrument
33
verstehen (nicht nur) Jazz-Schlagzeuger ihre Rolle durchaus als weiblich (wobei
34
hier ebenfalls ein stereotypes lteres Rollenbild zugrunde liegt): Der Schlagzeu-
35
ger sollte idealerweise die unterschiedlichen Gemtslagen, Stimmungen und
36
Emotionen der anderen Mitmusiker mit seinem Spiel ausgleichen, abfangen,
37
kompensieren, so wie eine Mutter die verschiedenen Stimmungen und Emotio-
38
39 29 Vgl. hierzu Monson: Saying something. 31 f., 49, 58 f.
40 30 Ebd. 59 f.
278 Daniel Schmicking
1 nen ihrer Kinder, die alle gleichzeitig nach Hause kommen und auf sie einreden.
2 Dieser Vergleich stammt von dem Schlagzeuger Kenny Clarke.31 Ohne dieses
3 Genderstereotyp drckt dies der Drummer Billy Higgins wie folgt aus: „It’s so-
4 mething about reading everybody individually […] you have a slot in your mind
5 for other people. So the drums are supposed to be that kind of instrument where
6 you can make everything fit, and that’s the whole challenge of it all“.32
7 Diese Beispiele fr Interaktion bzw. reziproke Modulation der Musiker im
8 Jazz sollten einige der sublimen Formen deutlich machen, die musikalische Ges-
9 ten und Empathie hier annehmen.33 Die Reichweite gelingenden gegenseitigen
10 Antizipierens hngt sicher nicht nur von der Meisterschaft der Instrumentalis-
11
ten ab, sondern auch wesentlich von der Vertrautheit mit dem individuellen Stil
12
der Mitmusiker.34 Natrlich ist fr die Entwicklung eines solchen einfhlenden
13
Hçrens35 auch erforderlich, ein umfangreiches Repertoire und zahlreiche Mus-
14
ter implizit zu beherrschen. Aber mit der Kenntnis von Mustern allein ist diese
15
Form von einfhlendem und antizipierendem Hçren nicht zu erklren, denn im
16
tatschlichen Improvisieren gibt es zu viele individuelle Entscheidungen, die
17
nicht einem vorbekannten Muster folgen, oder dessen individuelle Realisierung
18
gerade nicht durch allgemeine, vorbekannte Merkmale abgedeckt ist.
19
20
Darber hinaus darf ferner nicht bersehen werden, dass ebenso Spannung
21
innerhalb der Rhythmusgruppe wie auch zwischen dieser und dem Solisten er-
22 zeugt werden muss, als ein konstitutiver Teil des Gesamtgeschehens, etwa durch
23 rhythmische und harmonische Reibungen und berlagerungen. Diese Vorgnge
24 kçnnen nicht einfach durch maximale Synchronisierung erklrt werden, son-
25 dern erfolgen viel eher in Form der eben skizzierten komplementierenden, kom-
26 mentierenden Interaktionen. Dazu ist auch erforderlich, ausreichend Vertrauen
27 zu haben, um etwa gegen den Beat zu spielen. Wenn die Anderen dies zur selben
28 Zeit in gleichem Maße tun, droht der Beat verloren zu gehen. Auch hier ist ein
29 Antizipieren und momentanes ,Aushandeln‘ und Ausgleichen nçtig.36
30
31 31 Vgl. ebd. 64 f.
32 Ebd. 63.
32 33 Monson legt im 5. Kapitel ihrer Studie (Saying something. Bes. 137 – 185) eine detaillierte
33 Analyse u. a. anhand einer Transkription von 154 Takten eines Jazzquartetts vor. Interessierte
34 Leser finden dort zahlreiche Beispiele fr die hier nur schematisch erklrten Formen der Inter-
35 aktion und fr das, was Monson intensification nennt. Eine Besonderheit dieses Beispiels sind
auch zwei Fehler, die auf kooperative Weise von den Mitmusikern ausgeglichen werden. Zu
36 den Herausforderungen von Fehlern fr das gemeinsame Spiel vgl. auch Berliner: Thinking in
37 jazz. 379 – 383.
34 Vgl. hierzu auch Berliner: Thinking in jazz. 356 f., 364 – 368.
38 35 Auch Monson spricht bezeichnenderweise von dem developed and empathetic sense of
39 listening. Vgl. Monson: Saying something. 50.
40 36 Vgl. die Aussage des Bassisten Ron Carter bei Monson: Saying something. 175.
Zur Phnomenologie interpersonellen Handelns und Bewusstseins 279
1 schlich, was Mitmusiker ausfhren, etwa whrend einer Probe oder des solit-
2 ren Arrangierens. Dies widerspricht dem Verstndnis von Empathie und Menta-
3 lisieren als einer Form der Imagination (der Simulationstheorien); hnlich selten
4 drften Akte des theoretischen Verstehens von Intentionen der Anderen sein
5 (als Indiz dafr, dass die Theorie-Theorien auch nicht die Default-Haltung im
6 gemeinsamen Musizieren beschreiben). Allerdings werden Dirigenten, Big-
7 band-Leiter und Arrangeure hufiger auf solche expliziten Formen des Mentali-
8 sierens zurckgreifen: Sie kçnnen zwar nicht alle Instrumente selbst spielen, ha-
9 ben aber ein theoretisches Wissen ber die Instrumente und ihre mçglichen
10 Spielweisen, was sie dann auch einsetzen, um etwa empathisch ihren Musikern
11 Partien ,auf den Leib zu schneidern‘.
12 Dies sind also, in einer ersten deskriptiven Annherung, wesentliche Momen-
13 te, die gemeinsames Improvisieren im Mainstream-Jazz fundieren: eine Face-to-
14 Face-Beziehung in Echtzeit, ausgedehnte gemeinsame Aufmerksamkeit, SMS
15 bzw. Grooving, harmonisch-komplementres Ineinandergreifen der individuel-
16 len Handlungen, synchrone Emotionalitt und Hçrbarkeit des Geistes. Diese
17 Momente ermçglichen die besondere Form musikalischer Empathie und fhren,
18 wie gezeigt, zu einem interpersonellen Bewusstsein, das als Sich-çffnen und par-
19 tielles Verschmelzen zu charakterisieren ist. Was an dem hier verwendeten Aus-
20 druck „Verschmelzen“ eventuell irritiert, ist der cartesische Nachhall von Termi-
21 ni wie „Bewusstsein“ bzw. „Fremdbewusstsein“, die traditionell Innerliches,
22 Verborgenes, Unbeobachtbares bezeichnen. Setzt man aber voraus, und nimmt
23 man ernst, dass das Mentale vielmehr eine ffnung zur Welt und den Anderen
24 bildet, dass es sich mit anderen solchen ffnungen in Situationen berkreuzt
25 oder trifft, dann verliert die Redeweise vom „Verschmelzen“ hoffentlich ihren
26 befremdlichen Beiklang.
27 Eine Deskription wie die hier vorgestellte ist per se phnomenologisch wie
28 psychologisch erhellend. Eingangs ist schon auf die heuristische Funktion des
29 Verstndnisses der Koordination und Interaktion beim Musizieren fr experi-
30 mentelle Forschungen hingewiesen worden. Abschließend soll aber gefragt wer-
31 den, welche Implikationen diese deskriptiven Ergebnisse fr das phnomenolo-
32 gische Verstndnis von sozialer Erfahrung haben.
33
34
35 IV. Die Illusion des inneren Denkens
36
37 Ein interessanter nchster Schritt bestnde darin, hnliche Formen des Ver-
38 schmelzens in verschiedenen Typen menschlicher Kooperation bzw. sozialer Er-
39 fahrung aufzusuchen und phnomenologisch zu analysieren. hnliches ge-
40 schieht bereits im Rahmen interdisziplinrer Forschungen, bei denen
282 Daniel Schmicking
1 wir uns durch die bereits konstituierten und zuvor ausgedrckten Gedanken,
2 die wir still erinnern, der Illusion eines inneren Denkens und Lebens hingeben.44
3 Ich mçchte dieses Argument um eine Beobachtung ergnzen, die Merleau-
4 Ponty nicht erwhnt und die die Art betrifft, wie wir uns an die bereits artikulier-
5 ten Gedanken erinnern: Wenn wir still berlegen oder lesen, tun wir dies mittels
6 einer inneren Stimme. Eine wichtige Wurzel der Illusion eines Innenlebens des
7 Denkens, und damit des Verschlossen-seins bzw. der Unhçrbarkeit des Geistes,
8 ist daher sicher auch die Tatsache, dass wir bei allem Nachdenken wie auch beim
9 stillen Lesen eine Quasi-Stimme erleben, die den Anderen tatschlich nicht zu-
10 gnglich ist. Diese innere Stimme kçnnte als wichtiges Indiz fr einen privaten,
11 inneren, verborgenen Geist interpretiert worden sein, als sich die Auffassung
12 vom inneren, privaten Mentalen ausbildete bzw. verfestigte.
13 Unsere ,inneren‘ sprachlichen Akte sind aber letztlich ein Sprechen, ein stiller
14 Dialog, der abhngig ist von der interkorporalen Genese seiner vorkonstituier-
15 ten Ausdrcke. Außerdem ist dieses ,innere Sprechen‘ nur ein Teil unseres Erle-
16 bens und unseres gesamten Zur-Welt-Seins bzw. jedes konkreten In-einer-Situa-
17 tion-Seins. Wir drfen nicht bersehen, dass wir, abgesehen von Schlaf und
18 hnlichen Zustnden, stets geçffnet sind zu der Welt und den Anderen. Merleau-
19 Ponty zufolge besteht zwischen meinem Leib und dem des Anderen eine innere
20 Relation, die den Anderen als die Vollendung (achvement) des Systems erschei-
21 nen lsst.45 Erst Widerstnde und Stçrungen beim gemeinsamen Handeln und
22 Sinn-Schaffen und die theoretische Reflexion heben oder reißen uns aus diesem
23 System intermittierend heraus, lassen die Transparenz der Anderen opak wer-
24 den, machen den eben noch in berlappung unmittelbar erlebten Geist zum
25 ,Fremdpsychischen‘. Unsere Intentionen und unser Erleben sind aber den Ande-
26 ren immer partiell zugnglich. Menschen sind zwar keine offenen Bcher, die
27 man von der ersten bis zur letzten Seite lesen kann, aber stets ein Stck weit
28 geçffnet bzw. lesbar. Das Mentale ist nicht ausschließlich Inneres, Privates, Un-
29 hçrbares. Es hat zwar eine innere Dimension, aber ebenso eine ußere, d. h. eine
30 Seite oder vielmehr ffnung, die den Anderen stets zugewandt ist, und die
31 streng genommen erst mit dem Tod verschwindet.
32
33
34
35
36
37
38
39 44 Vgl. Merleau-Ponty: Phnomnologie. 213.
40 45 Vgl. ebd. 405.
1
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40
1 Lszl Tengelyi
2
3
4 Singularitt und Responsivitt
5
6
7
8
„Es gibt keine mir und den anderen gemeinsame Selbstheit“ – behauptet Emma-
9
nuel Levinas.1 Trifft diese Feststellung zu, so ist die Selbstheit des Selbst jeweils
10
einzig, einmalig und deshalb unersetzbar und unwiederholbar. Mit „Singulari-
11
tt“ ist hier und im Folgenden die so verstandene Einzigkeit des Selbst gemeint.
12
13
Es wre irrefhrend, „Singularitt“ als „Jemeinigkeit“ zu bersetzen, weil sich
14
diese von Martin Heidegger geprgte Bezeichnung nach einer ausdrcklichen
15 Behauptung des Autors in Sein und Zeit mit einem „existenzialen ,Solipsismus‘“
16 verbindet.2 Es soll hier aber im Anschluss an Levinas gerade die Grundthese be-
17 dacht werden, der zufolge die Singularitt des Selbst untrennbar von der Respon-
18 sivitt ist, wobei unter „Responsivitt“ die Unausweichlichkeit des Antwortens
19 auf fremde Ansprche verstanden wird. Diese Grundthese ist im Titel „Singula-
20 ritt und Responsivitt“ angedeutet. Levinas drckt sie in der ihm eigentmli-
21 chen Sprache auf eine besonders plastische Weise aus: „[…] mein
22 Ich-und-kein-Anderer-sein lçst sich auf in Stellvertretung; und aufgrund dieser
23 Stellvertretung bin ich nicht ,ein Anderer‘ oder ,ein Anderes‘, sondern ich. Das
24 Selbst im Sein ist genau das ,sich nicht entziehen kçnnen‘ angesichts einer Vorla-
25 dung, die auf keinerlei Allgemeinheit abzielt.“3
26 Im Sinne der hier erçrterten Singularittsidee hat die Einzigkeit oder Einma-
27 ligkeit des Selbst nichts mit dem Kult einer oft ostentativ zur Schau gestellten
28 Besonderheit oder Originalitt der individuellen Persçnlichkeit zu tun. Nicht,
29 als ob man auf die individuelle Persçnlichkeit keinen Wert legen sollte oder
30 kçnnte. Aber in den folgenden berlegungen soll uns ein solcher Wert ebenso-
31 wenig beschftigen wie andere Werte. Denn der Terminus „Singularitt“, so wie
32 wir ihn im Ausgang von der phnomenologischen Intersubjektivittstheorie
33 und der Levinas’schen Alterittsphilosophie verstehen kçnnen, ist ein subjektivi-
34 ttstheoretischer Ausdruck, der sich nur auf den grundlegenden Unterschied
35 zwischen dem einen Subjekt und dem anderen, nicht aber auf einzelne Unter-
36
1 Emmanuel Levinas: Autrement qu’Þtre ou au-del de l’essence. dition „Livre de po-
37
38 che“. Dordrecht 1990. 201. Dt.: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. bers. von
Thomas Wiemer. Freiburg 1992. 282.
39 2 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tbingen 1979. § 40. 188.
1 schiede zwischen dem einen Individuum und dem anderen bezieht. Das Indivi-
2 duum ist bereits in seiner Eigenschaft als Subjekt Trger von Singularitt, ganz
3 abgesehen davon, ob es als Individuum originell genug ist, um sich in seiner Per-
4 sçnlichkeit von anderen Individuen wesenhaft zu unterscheiden.
5 Nach der Grundthese, die wir erwgen, prfen und deuten wollen, sind nicht
6 individuelle Charakterzge des Einzelnen, sondern intersubjektive Verhltnisbe-
7 stimmungen des jeweiligen Subjekts fr die Singularitt des Selbst verantwort-
8 lich. Diese intersubjektiven Verhltnisbestimmungen erwachsen jedoch nicht
9 aus Beziehungen, die man unmittelbar als „soziale“ oder auch nur als „interper-
10 sonale“ beschreiben kçnnte. Sie verweisen vielmehr, um einen Terminus zu ge-
11 brauchen, der von Maurice Merleau-Ponty stammt, auf eine „wilde Region“, die
12 den interpersonalen und den sozialen Beziehungen in gewissem Sinne vorgeord-
13 net ist.4 In dieser wilden Region findet die Eigentmlichkeit, die wir im Gefolge
14 von Bernhard Waldenfels „Responsivitt“ oder, auf Deutsch, „Antwortlich-
15 keit“ nennen, ihren Herkunftsort.
16 Damit sind die Hauptschritte einer Analyse vorgezeichnet, der wir nun den
17 Zusammenhang von Singularitt und Responsivitt unterziehen wollen. Zu-
18 nchst soll der Gedanke, dass „Singularitt“ ein subjektivittstheoretischer Be-
19 griff ist, deutlicher gefasst werden. Zweitens wollen wir den Herkunftsort der
20 Responsivitt in der wilden Region bestimmen, so wie sie den interpersonalen
21 und den sozialen Beziehungen bereits zugrunde liegt. Auf Grund dieser berle-
22 gungen kçnnen wir dann drittens versuchen, den Zusammenhang zwischen Re-
23 sponsivitt und Singularitt nher zu bestimmen.
24
25
26
1. „Singularitt“ als subjektivittstheoretischer Begriff
27
28
Der Phnomenologie kommt das Verdienst zu, von jeher einen Unterschied zwi-
29
schen dem einen Subjekt und dem anderen gemacht zu haben. Auch vor der Ph-
30
nomenologie wurde dem Subjekt in der westlichen Denktradition ein großes Ge-
31
wicht zugeschrieben, und zwar nicht erst in der gesamten neuzeitlichen
32
Philosophie, sondern – wie Richard Sorabji in seinem Buch ber das Selbst5 be-
33
sonders deutlich zeigte – weitgehend auch schon in der Philosophie der Antike.
34
Immer wurde aber das eine Subjekt genau so wie das andere aufgefasst. Entwe-
35
36 4 Maurice Merleau-Ponty: De Mauss Claude L
vi-Strauss. In: Ders.: loge de la philoso-
37 phie et autres essais. Paris 1960. 123 – 142. 135. Dt.: Von Mauss zu Claude Levi-Strauss. In:
38 Alexandre M
traux, Bernhard Waldenfels (Hg.): Leibhaftige Vernunft. Spuren von Merleau-
Pontys Denken. Mnchen 1986. 13 – 28. 21.
39 5 Richard Sorabji: Self. Ancient and modern insights about individuality, life, and death.
40 Oxford 2006.
Singularitt und Responsivitt 287
40 1928/1929. Hrsg. von Otto Saame und Ina Saame-Speidel. GA 27. Frankfurt a.M. 1976. 87.
288 Lszl Tengelyi
1 Denkanstze anfhren: Sie sind ernstzunehmende Versuche, die Gefahr des So-
2 lipsismus – auch des rein methodologischen Solipsismus – zu bannen. Mir
3 scheint jedoch, dass eine durch die Phnomenologie zum ersten Mal erschlosse-
4 ne und ihr eigentmliche Fragedimension in ihnen nicht hinreichend offen gehal-
5 ten bleibt. Dagegen bewegen sich die Betrachtungen von Husserl, Sartre und Le-
6 vinas ber das Verhltnis von Subjekt und Mitsubjekt, Selbst und Anderem
7 vornehmlich in dieser Fragedimension. An sie knpfen dann auf je verschiedene
8 Weise in Frankreich Jean-Luc Marion und Jean-Louis Chr
tien, in Deutschland
9 Bernhard Waldenfels und seine Nachfolger an.
10 Vom Levinas’schen Alterittsdenken empfngt auch Paul Ricœurs Besinnung
11 auf das Selbst „als einen Anderen“9 entscheidende Anregungen. Doch geht die
12 Theorie einer „narrativen Identitt“, so wie sie von Ricœur im Anschluss an Wil-
13 helm Dilthey, Hannah Arendt, Wilhelm Schapp und Alasdair MacIntyre entwi-
14 ckelt wird, im Ganzen in eine andere Richtung als die Levinas’sche Alteritts-
15
ethik. Auch diese Theorie leitet die Singularitt des Selbst keineswegs etwa aus
16
den jeweiligen Charaktereigenschaften des Einzelnen ab. Sie entdeckt sie viel-
17
mehr in der Einheit einer Lebensgeschichte, die sie zugleich als eine erzhlbare –
18
und zum Teil jeweils schon erzhlte – Geschichte auffasst. Allerdings setzt sich
19
Ricœur jeder konstruktivistischen Auffassung von der narrativen Identitt entge-
20
gen. Er fasst das erzhlte Selbst nicht einfach als das Ergebnis der Erzhlung auf.
21
Nach ihm kann das Selbst vielmehr nur deshalb durch Erzhlung von Geschich-
22
ten aus dem je eigenen Leben erfasst werden, weil es bereits vorhanden und auch
23
in sich selbst zugnglich ist. Gewiss hat die Narration dabei mehr als eben nur
24
die Aufgabe, das fertig Vorgefundene abzubilden. Ricœur verspricht sich von
25
der Erzhlung geradezu eine Neugestaltung (refiguration) von Zeitlichkeit und
26
27
Selbstgefhl. Aber er meint damit keineswegs eine beliebige Umwandlung des
28
Gegebenen, sondern er gesteht der neugestaltenden Erzhlung die Leistung zu,
29
das Selbst in der ihm eigentmlichen Einzigkeit und Einmaligkeit greifbar zu
30 machen. Deshalb formuliert er seine Theorie des hermeneutischen Zirkels von
31 Prfiguration, Konfiguration und Refiguration als eine Theorie (dreifacher) Mi-
32 mesis, damit einen Begriff aufgreifend, der in der europischen Tradition der Phi-
33 losophie von alters her einen Anspruch auf Wirklichkeitserfassung ausdrckte.
34 Wie konstituiert sich jedoch das Selbst, dessen Wirklichkeit narrativ erfasst
35 wird, in der prnarrativen Sphre? Sicherlich hat John Locke recht, wenn er die
36 Beteiligung eines – keineswegs notwendig reflexiv verfassten – Selbstbewusst-
37
38 9 Vgl. Paul Ricœur: Soi-mÞme comme un autre. Paris 1990. Dt.: Das Selbst als ein Anderer.
39 bers. von Jean Greisch in Zusammenarbeit mit Thomas Bedorf und Brigitte Schaaff. Mn-
40 chen 1996.
Singularitt und Responsivitt 289
1 seins an diesem Vorgang hervorhebt.10 Thomas Reid gab eine allzu voreilige und
2 irrefhrende Deutung von diesem Grundansatz, als er den Locke’schen Gedan-
3 ken des Selbstbewusstseins im Sinne einer Selbstkonstitution durch das Gedcht-
4 nis auslegte. Denn darin lag bereits eine Reduktion des bewusstseinsmßig Erleb-
5 ten und Erfahrenen auf das rein kognitiv verstandene Vermçgen der
6 Erinnerung.11 Nur deshalb konnte der Begrnder des Britischen Empirismus lan-
7 ge Zeit hindurch zugleich als der Urheber derjenigen Auffassung von der perso-
8 nalen Identitt betrachtet werden, die man gewçhnlich als psychological con-
9 tinuity theory bezeichnet. Freilich ging von Locke auch ein weiterer Anstoß zu
10 dieser Auffassung aus. Er trat ja in verschiedenen Gedankenexperimenten fr
11 die Idee einer grundstzlichen Trennbarkeit des Selbstbewusstseins von seinem
12 leiblichen Trger ein. Dagegen ist es heute eine beinahe einhellige Meinung, dass
13 die Leiblichkeit durchaus konstitutiv fr die personale Identitt ist. Schließlich
14 ist man in unseren Tagen auch davon berzeugt, dass die Selbstheit – mit einem
15 Ausdruck, der aus der literarischen Autobiographieforschung stammt – eine „re-
16 lationale“ Bestimmung des Selbst ist, worunter man in diesem Zusammenhang
17 eine intersubjektive Verhltnisbestimmung versteht.12
18 Es drfte damit feststehen, dass Bewusstheit, Leiblichkeit und Relationalitt
19 oder Intersubjektivitt als drei unerlssliche Bedingungen fr die Selbstheit des
20 Selbst zu gelten haben. Nach der Grundthese, die wir bedenken, sind sie jedoch
21 weder je einzeln noch in ihrer Gesamtheit hinreichend fr die Singularitt des
22 Selbst, die sich vielmehr immer erst in einem ganz und gar eigentmlichen Ver-
23 hltnis zu dem Anderen – oder den Anderen – manifestiert, nmlich in dem Ver-
24 hltnis, das wir als „responsives“ bezeichnen kçnnen.
25 Worin unterscheidet sich jedoch dieses Verhltnis von anderen intersubjekti-
26 ven Relationen? Diese Frage leitet uns zum zweiten Teil unserer Betrachtungen
27 ber.
28
29
30
31
32
33 10 John Locke: An essay concerning human understanding. Kap. XXVII, Abschnitt 19:
34 „This may show us wherein personal identity consists: not in the identity of a substance, but,
35 as I have said, in the identity of consciousness […].“ Siehe den englischen Originaltext zusam-
men mit der franzçsischen bersetzung von tienne Balibar in: John Locke: Identit
et diff
r-
36 ence. L’invention de la conscience. Vorgestellt, bersetzt und hrsg. von tienne Balibar. Paris
37 1998. 166 f.
11 Marya Schechtman: The constitution of selves. Ithaca 1996. 108.
38 12 John Paul Eakin: How our lives become stories. Ithaca 1999. 43. Eakin verweist auch
39 darauf, dass der Terminus „relational identity“ ursprnglich aus der feministischen Autobio-
40 graphieforschung stammt (47 f.).
290 Lszl Tengelyi
40 tant donn
. Paris 1997. 397.
Singularitt und Responsivitt 291
1 nur die persçnliche Freiheit und einen persçnlichen Einsatz, sondern auch die
2 Person als Trger genau umgrenzter Verpflichtungen und einer ihnen angemesse-
3 nen Verantwortung voraus. Mit „Person“ ist von vornherein das Subjekt des
4 Rechts und einer dem Recht nachgebildeten, legalistisch konzipierten Moral ge-
5 meint. Es handelt sich dabei, wie John Locke treffend sagt, um einen „forensi-
6 schen Terminus“,22 der das Selbst gleichsam aus der Perspektive eines Gerichts
7 sichtbar werden lsst. Dagegen gehçrt die Responsivitt in eine Sphre intersub-
8 jektiver Beziehungen, in der der Andere dem Selbst nicht als Person, nicht als
9 Subjekt von Recht und Moral, sondern einfach als Quelle fremder Ansprche
10 gegenbersteht.
11
In dieser wilden Region macht sich ein Antwortzwang geltend. Das jeweilige
12
Selbst findet sich vor die Notwendigkeit gestellt, auf fremde Ansprche zu ant-
13
worten. Mit einer ethischen Verbindlichkeit darf man diese Notwendigkeit na-
14
trlich nicht verwechseln. Das Antworten auf fremde Ansprche ist deshalb un-
15
ausweichlich, weil im Anspruchsfeld keine Antwort auch eine Antwort ist. Man
16
muss also antworten, weil man nicht nicht antworten kann. Wohl zu Recht be-
17
hauptet zwar Waldenfels: „Das ,Man muß antworten‘ oder ,Man kann nicht
18
nicht antworten‘ bezeichnet genau den Punkt, wo ethische Forderungen ent-
19
20
springen, wo etwas ist, was zu sein hat.“23 Aber der Antwortzwang selbst beruht
21
auf keiner ethischen Forderung. Die Verantwortung, die Levinas aus dem Ant-
22 wortzwang ableitet, ist, wie ebenfalls Waldenfels feststellt, nichts mehr als eine
23 responsabilit sauvage (also eine „wilde“ Verantwortung).24 Sie bleibt daher auch
24 nur ein Phnomen der wilden Region „diesseits“ der Kultur – en-deÅ de la civi-
25 lisation –, dem lediglich insofern eine ethische Bedeutung zukommt, als es eine
26 „Nicht-Indifferenz gegenber dem Anderen“25 ausdrckt, in der Levinas die in
27 sich selbst nicht-ethische Grundlage aller Ethik entdeckt.
28 Der Weg, der vom Antwortzwang zur ethischen Verbindlichkeit fhrt, kann
29 ohne ein ausfhrlicheres Eingehen auf das, was bei Levinas „endliche Freiheit“
30 heißt, nicht angemessen nachgezeichnet werden. Diese Untersuchungsrichtung
31 schlagen wir hier nicht ein.26 Uns interessiert die Unausweichlichkeit des Ant-
32 wortens auf fremde Ansprche eher nur deshalb, weil sie einen Einblick in die
33
22 John Locke: An essay concerning human understanding. Kap. XXVII. Abschnitt 26. In:
34
35 Locke: Identit
et diff
rence. L’invention de la conscience. 176 f.
23 Waldenfels: Antwortregister. 358.
36 24 Bernhard Waldenfels: Singularitt im Plural. In: Ders.: Deutsch–Franzçsische Gedanken-
1 Ist diese Deutung zutreffend, so finden wir den gesuchten Rahmen, in dem
2 wir von der Responsivitt als einer intersubjektiven Grundeigentmlichkeit des
3 Selbst sachgemß Rechenschaft ablegen kçnnen, in subjektivittstheoretischen
4 berlegungen, die zu einer – allerdings nicht traditionellen, sondern rein phno-
5 menologischen – Metaphysik gehçren. In diesem Rahmen kçnnen wir auch den
6 Zusammenhang zwischen Singularitt und Responsivitt zum Gegenstand unse-
7 rer berlegungen machen.
8
9
10 3. Der Zusammenhang zwischen Singularitt und Responsivitt
11
12 Es wre irrefhrend zu behaupten, dass die Singularitt des Selbst durch das Ant-
13 worten auf fremde Ansprche erzeugt wird. Denn nach unseren vorigen Betrach-
14 tungen ist „Singularitt“ ein subjektivittstheoretischer Begriff, der in der Urdif-
15 ferenz zwischen dem Subjekt und dem Mitsubjekt oder dem Selbst und dem
16 Anderen verankert ist. Anders gesagt ist die Einzigkeit oder Einmaligkeit des
17 Selbst eine „metaphysische Urtatsache“ im Sinne des spten Husserl. Man kann
18 jedoch sehr wohl behaupten, dass sich die Singularitt des Selbst im Antworten
19 auf fremde Ansprche bekundet und verfestigt. Die Responsivitt macht also
20 die Singularitt des Selbst zwar nicht erst berhaupt mçglich, aber sie macht sie
21 fr das Selbst erst berhaupt erfahrbar.
22 Demnach ist der Zusammenhang zwischen Singularitt und Responsivitt ein
23 deutlicher Erfahrungszusammenhang. Damit ist er zugleich ein ureigenes The-
24 ma phnomenologischer Untersuchungen.
25 An die Spitze ihn betreffender oder ihm gewidmeter Untersuchungen kann
26 wohl eine negative Einsicht gestellt werden: Unter den Bedingungen eines „exis-
27 tenzialen ,Solipsismus‘“ wird die Einzigkeit und Einmaligkeit des Selbst nicht
28 voll erfahrbar. Gewiss ist etwa der Tod durch „Jemeinigkeit“ charakterisiert.
29 Zweifelsohne ist im Tod jedermann unersetzbar: Keiner kann anstelle eines ande-
30 ren sterben. Wird aber diese Unersetzbarkeit in der Vereinzelung der Angst vor
31 dem Tod voll und ganz erfahren? Das ist deshalb fragwrdig, weil Geburt und
32 Tod eher die Grenzen des Erlebbaren und Erfahrbaren andeuten, als dass sie
33 selbst erlebt und erfahren werden kçnnten. Zum Erlebbaren und Erfahrbaren
34 gehçrt allem Anschein nach nur das „Vorlaufen“ in den Tod, das aber von der
35 Einzigkeit und Einmaligkeit des Selbst fr sich allein keineswegs notwendig ein
36 angemessenes Zeugnis ablegt. Auch nach Heidegger selbst bleibt es ja auf eine
37 „existenzielle Bezeugung“ angewiesen, die ihm der Ruf des Gewissens liefern
38 soll. Wie steht es aber mit diesem Ruf ? So wie er in Sein und Zeit beschrieben
39 wird, ist er eine „formale Anzeige“, in der sich die Einzigkeit und Einmaligkeit
40 des Selbst zumindest kundgibt, nur dass er, wie Heidegger betont, im „Modus
Singularitt und Responsivitt 295
1 des Schweigens“ redet. Als Ausdruck einer wahrhaften Erfahrung der Singulari-
2 tt kann er deshalb meiner Meinung nach nicht gelten. Er ist ein Anzeichen, aber
3 kein Ausdruck der Singularitt; als bloßes Indiz verrt er nicht, worin sie be-
4 steht.
5 Anders verhlt es sich dort, wo das Selbst ausdrcklich Rede und Antwort zu
6 stehen hat. Die Singularitt des Selbst ist in Wahrheit gar kein immanenter
7 Grundzug einer vereinzelten Existenz. Sie ist vielmehr eine „diakritisch“ zu be-
8 greifende Folgeerscheinung des Unterschieds vom Anderen. Daher ist es eigent-
9 lich nicht berraschend, dass sie notwendig nur in intersubjektiven Verhltnisbe-
10 stimmungen ihren Ausdruck finden kann. Sie wird in der einmaligen Gestaltung
11 von Beziehungen manifest, die dem Selbst einen unverwechselbaren Ort im „in-
12 tersubjektiven Raum“ als in einem es immer schon umgebenden Anspruchsfeld
13 bestimmen. Dem Selbst geben die ihm widerfahrenden Anspruchsereignisse in
14 diesem Anspruchsfeld zu antworten. Indem es sich vor die Aufgabe gestellt
15 sieht, ein antwortendes Verhalten im Umgang mit dem Widerstreit simultaner
16 Ansprche zu entwickeln, macht es nicht nur mit den ihm widerfahrenden An-
17 spruchsereignissen eine Erfahrung, sondern es kann zugleich seine Einzigkeit
18 und Einmaligkeit miterfahren.
19 Darin liegt bereits die Einsicht, dass die Singularitt des Selbst niemals fr sich
20 selbst erfahren, sondern immer nur miterfahren werden kann. Allerdings best-
21 tigt diese Einsicht nicht etwa die von Hegel bis zu Hannah Arendt immer wie-
22 der vertretene These, die das Selbst mit der Reihe seiner Taten gleichsetzt. Das
23 Antworten auf fremde Ansprche erschçpft sich in Wahrheit nicht in den ab-
24 sichtlichen Handlungen, die immer schon aus dem aktiven Bewusstseinsleben
25 des jeweiligen Selbst erwachsen. Oft verbleiben Gemtsregungen, Wnsche
26 und Phantasievorstellungen in der passiven Sphre, ohne dass sie in den tatsch-
27 lich vollzogenen Taten zum Zuge kommen kçnnten. Sie bilden eine Innerlich-
28 keit, eine Interioritt im Selbst, die ihm eine eigene Tiefe gibt. Niemand kann
29 sagen, wer einer – oder eine – ist, ohne diese Innerlichkeit mit anzudeuten. Das
30 kçnnte nur dann anders sein, wenn ein lckenloses Ausdrucksverhltnis zwi-
31 schen dem Inneren und dem ußeren angesetzt werden kçnnte. Weit entfernt
32 jedoch, das Selbst in den Kerker eines existenzialen Solipsismus einzusperren,
33 bildet diese Innerlichkeit gleichsam eine Vorratskammer im Selbst, von der sich
34 seine Fhigkeit, ein antwortendes Verhalten im Umgang mit fremden Anspr-
35 chen zu entwickeln, nhren kann. Ohne diese Vorratskammer wre das Selbst
36
37
38
39
40
296 Lszl Tengelyi
1 vielleicht gar nicht im Stande, sich von der Ereignisfolge seiner Handlungen los-
2 zumachen, um unvorhersehbar Neues in Wort und Tat zu prgen.29
3 Allerdings liegt ein Paradox in der Behauptung, dass die Einzigkeit in der ein-
4 maligen Gestaltung von Beziehungen Ausdruck findet, die dem Selbst einen un-
5 verwechselbaren Ort im intersubjektiven Raum bestimmen. Denn im intersub-
6 jektiven Raum ist kein Ort, sei er noch so unverwechselbar mit anderen Orten,
7 einem Einzigen vorbehalten. Gleichwohl drckt dieses Paradox einen echten
8 Grundzug der Erfahrung aus, die man mit der je eigenen Einzigkeit und Einma-
9 ligkeit macht. Mit dem Ausdruck „Singularitt des Selbst“ ist nicht etwa eine –
10 mehr oder weniger immer unbestimmt bleibende – Abweichung von einer Be-
11 stimmtheit gemeint, sondern vielmehr eine in sich selbst fest umrissene Be-
12 stimmtheit, die jedoch nur eine einzige Realisierungsinstanz hat. Johannes Duns
13 Scotus war wohl der Erste in der Tradition abendlndischer Logik und Metaphy-
14 sik, der die Mçglichkeit einer derartigen Bestimmtheit deutlich erkannte. Des-
15 halb verwarf er das thomistische Individuationsprinzip, nmlich den Stoff als
16
materia signata („bezeichnete Materie“), das heißt als jeweils schon rumlich
17
und zeitlich, qualitativ und quantitativ und auch in jeder anderen Hinsicht kon-
18
kret bestimmte Materie,30 um das Prinzip der Individuation vielmehr als eine in
19
sich selbst fest umrissene Formbestimmtheit mit einer einzigen Realisierungsin-
20
stanz zu begreifen. Er fhrte diese Formbestimmtheit allerdings nicht auf eine
21
der jeweiligen Artbestimmtheit zustzlich hinzukommende Form zurck, son-
22
dern erfasste sie als die einzigartige und einmalige Verwirklichungsweise der all-
23
gemeinen Form, mithin als die „letzte Realitt der Form (realitas ultima for-
24
mae)“,31 der er – einer von Aristoteles stammenden und in der Scholastik
25
26 29 Siehe vom Vf.: Betrachtungen ber die Handlungsfreiheit und die Selbstheit des Handeln-
27 den. In: Markus Pfeifer, Smail Rapic (Hg.): Das Selbst und sein Anderes. Festschrift fr Klaus
28 Erich Kaehler. Freiburg 2009. 245 – 258.
30 Thomas von Aquin: De ente et essentia. Kap. 2, Z. 72 – 75. In: Ders.: De ente et essentia –
29
Das Seiende und das Wesen. Lateinisch–deutsche zweisprachige Ausgabe. Hrsg., bers. und
30 kommentiert von Hans Leo Beeretz. Stuttgart 21987. 14 f.
31 Johannes Duns Scotus: Ordinatio II. dist. 3. pars 1. q. 6. art. 180 (Opera omnia. Hrsg. von
31
Carolus Balić. Civitas Vaticana 1950. Bd. VII. 479). Vgl. Duns Scot: Le principe d’individua-
32
tion. Lateinisch–franzçsische zweisprachige Ausgabe. Hrsg., bers. und kommentiert von G
-
33 rard Sondag. Paris 2005. 200 f. In der von G
rard Sondag verfassten Einleitung zu diesem Band
34 heißt es von der „letzten Realitt der Form“: „Sie ist das, was jede Form, insofern sie gemein-
35 sam ist, in letzter Instanz bestimmt (Elle est ce par quoi toute forme, en tant que commune, est
dtermine en dernire instance)“ (61). Auf hnliche Weise sagt tienne Gilson von der „letz-
36 ten Realitt der Form“, dass sie sich der Artbestimmtheit, der „Washeit“ (quiddit), „als eine
37 innere Bestimmung (dtermination intrinsque)“ hinzufgt, um ihr die Einzigkeit (singularit)
38 zu verleihen. (tienne Gilson: Jean Duns Scot. Introductions ses positions fondamentales.
Paris 1952. 464. Dt.: Johannes Duns Scotus: Einfhrung in die Grundgedanken seiner Lehre.
39 bers. von Werner Detloff. Dsseldorf 1959. 480.) In diesem Sinne kann hier von einer in sich
40 selbst fest umrissenen Formbestimmtheit die Rede sein.
Singularitt und Responsivitt 297
37 viduation. 206 f.
33 Ludger Honnefelder: Johannes Duns Scotus. Mnchen 2005. 106.
38 34 tienne Gilson: Jean Duns Scot. Introductions ses positions fondamentales. 466. Dt.:
39 483.
40 35 Ebd. 476. Dt.: 494.
298 Lszl Tengelyi
1 Die Schwierigkeit ergibt sich, wie wir es nunmehr unabhngig von Duns Sco-
2 tus sagen kçnnen, keineswegs etwa daraus, dass die Verwendung allgemeiner Ter-
3 mini die sprachliche Erfassung des Einzigen, Unikalen oder Singulren von vorn-
4 herein ausschlçsse. Dabei handelt es sich um ein bloßes Vorurteil, das bereits
5 durch die Unizittstheoreme der Mathematik und anderer Wissenschaften gehç-
6 rig widerlegt ist. Neben den Eigennamen enthlt die Sprache auch allgemeinbe-
7 griffliche Ausdrcke, die geeignet sind, unikale Objekte wie zum Beispiel die
8 kleinste oberste Schranke aller Folgen innerhalb des offenen Intervalls zwischen
9 0 und 1 auf der Zahlengerade genau zu bezeichnen. Bertrand Russell hat diese
10 eindeutig bestimmten Beschreibungen im Englischen bekanntlich definite de-
11 scriptions genannt. Die Schwierigkeit ergibt sich eher nur daraus, dass allgemein-
12 begriffliche Ausdrcke dieser Art zwar sehr wohl unikale Charaktereigenschaf-
13 ten des Selbst, nicht aber seine positional bestimmte Singularitt erfassen
14 kçnnen.
15 Daher ist der Anspruch der Theorie narrativer Selbstkonstitution, die Erzh-
16 lung als den einzig angemessenen sprachlichen Ausdruck der Selbstheit in ihrer
17 Singularitt geltend zu machen, durchaus ernst zu nehmen. Besonders beden-
18 kenswert ist dieser Anspruch dann, wenn die Erzhlung als sprachlicher Aus-
19 druck der Erfahrung aufgefasst wird, die das Selbst mit seiner Einzigkeit und
20 Einmaligkeit macht. Denn im Gegensatz zu dieser Einzigkeit und Einmaligkeit,
21 die ihrer kategorialen Bewandtnis nach kein Geschehnis und keine Begebenheit
22 ist, hat die Erfahrung, die das Selbst mit seiner Einzigkeit und Einmaligkeit
23 macht, sehr wohl als eine Ereignisfolge zu gelten, die als solche zum Gegenstand
24 erzhlter Geschichten gemacht werden kann.
25 Allerdings lsst sich ein scheinbar wohlbegrndeter Einwand gegen diese Auf-
26 fassung von der Erzhlung als einem Ausdruck der Erfahrung mit der Einzigkeit
27 und Einmaligkeit des Selbst geltend machen. Offenbar kann kein Selbst mit sei-
28 ner Einzigkeit und Einmaligkeit eine Erfahrung machen, ohne die ihm widerfah-
29 renden Anspruchsereignisse ebenfalls zu erfahren. Aber diese Anspruchsereig-
30 nisse sind dem unmittelbaren Erleben niemals voll zugnglich. Sie werden zum
31 Teil immer nur in der Antwort erfahrbar, die das Selbst auf sie gibt. Levinas hat
32 sie gerade deshalb durch die Eigentmlichkeit der Diachronie gekennzeichnet
33 und ihnen auf Grund dieser Eigentmlichkeit die Erzhlbarkeit abgesprochen.
34 Seine Einsicht in die diachronische Grundverfassung der Anspruchsereignisse
35 leitete ihn dazu hin, der Theorie der narrativen Identitt, und sei es in der verfei-
36 nerten Fassung, die ihr Paul Ricœur angedeihen ließ, seine Zustimmung zu ver-
37 weigern.
38 Gewiss hat dieses Gegenargument sein Gewicht. Gleichwohl ist es kein ent-
39 scheidender Einwand. Denn er setzt voraus, dass die Erzhlung nur das Erzhl-
40 bare zum Gegenstand machen kann und an seine Grenze stçßt, wo das Nicht-Er-
Singularitt und Responsivitt 299
1 zhlbare beginnt. Soviel ist daran selbstverstndlich auch richtig, dass die Erzh-
2 lung das Nicht-Erzhlbare tatschlich nicht im wçrtlichen Sinne erzhlen kann.
3 Ein Blick auf die literarische Narrationskunst kann jedoch zeigen, dass es der
4 Erzhlung sehr wohl gegeben ist, auf indirekte Weise auch das Nicht-Erzhlbare
5 zu ihrem Gegenstand zu machen.
6 Man denke nur an Marcel Proust. Der Protagonist des Romanzyklus Auf der
7 Suche nach der verlorenen Zeit erzhlt nicht allein die Begebenheiten in der vor-
8 nehmen Gesellschaft der Familie Guermantes und in der weniger vornehmen
9 Gesellschaft des Ehepaars Verdurin oder auch die Geschichte seiner aufeinander
10 folgenden Liebesempfindungen zu Gilberte Swann, zu Oriane von Guermantes
11 und zu Albertine Simonet. Seine Erzhlung macht zugleich seine „Berufung“
12 zum Knstlertum, zur Schriftstellerexistenz, sprbar, obgleich Kunst und Litera-
13 tur in seinem Dasein nach seinem eigenen, vielleicht zu peremptorischen, aber
14 im Wesentlichen doch zutreffenden Urteil „keine Rolle gespielt hatte[n]“.36
15 Wenn er die Beschreibung seines Lebens doch unter dem Titel „Eine Berufung“
16 zusammenfassen kann, so nicht deshalb, weil diese Berufung in ihr im wçrtli-
17 chen Sinne erzhlt wrde, sondern nur deshalb, weil „dieses Leben, die Erinne-
18 rungen an seine Kmmernisse und Freuden, eine Reserve hnlich dem Eiweiß-
19 vorrat bildeten, der im Keim der Pflanzen ruht, damit dieser daraus seine
20 Nahrung schçpft, um sich in Samen zu einer Zeit umzuwandeln, in welcher der
21 Embryo einer Pflanze sich entwickelt, ohne dass man noch etwas davon ahnt
22 […]“.37 Setzt der Protagonist hinzu: „So stand mein Leben mit dem in Verbin-
23 dung, was seine Reifung endlich herbeifhren wrde“,38 so verrt er, worum es
24 ihm auf den mehr als viertausend Seiten seiner Erzhlung geht: Es kommt ihm
25 eigentlich nur darauf an, etwas Nicht-Erzhlbares zum Gegenstand der Erzh-
26 lung zu machen. Wiedergefunden wird damit nicht sosehr eine einmal erlebte
27 und erfasste, seitdem aber verloren gegangene Zeit, sondern vielmehr eine Ver-
28 gangenheit, die wegen ihrer diachronischen Grundverfassung niemals gegenwr-
29 tig sein, daher aber auch nicht vergehen konnte, sondern vielmehr der unvergng-
30 liche Nhrboden eines einmaligen Knstlertums und einer einzigartigen
31 Schriftstellerexistenz geblieben ist.
32
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37
36 Marcel Proust: Le Temps retrouv
. Collection folio. Paris 1989. 206. Dt.: Auf der Suche
38
nach der verlorenen Zeit. 3 Bde. bers. von Eva Rechel-Mertens. Frankfurt a.M. 2000. 3990.
39 37 Ebd. 206. Dt.: 3990.
40 38 Ebd.
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1 Maren Wehrle
2
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4 Konstitution des Sozialen oder soziale Konstitution?
5
Gemeinschaftshabitualitt als Voraussetzung und Grenze sozialer Erfahrung.
6
7
8
9
10 1. Einleitung: Das „Ineinander der Konstitution“
11
12 Konstitution steht in Husserls Phnomenologie fr die Einsicht, dass Sein und
13 Sinn ohne Bezug auf ein erkennendes und wahrnehmendes Bewusstsein nicht
14 denkbar ist. Wirklichkeit kann daher nur im Bewusstsein erscheinen, Welt ist
15 uns nur zugnglich, wenn sie in irgendeiner Form Teil unserer Erfahrung ist
16 oder werden kann. Um einen solchen Zugang, d. h. eine kohrente Erfahrung zu
17 ermçglichen, bedarf es nach Husserl synthetischer Leistungen des Bewusstseins.
18 Hiermit sind jedoch nicht nur kategoriale Formungen gemeint, wie etwa bei
19 Kant, sondern spezifische passive und aktive Synthesen, die den Sinn und die
20 Seinsgeltung von Welt, Gegenstnden und anderen Subjekten konstituieren.
21 Konstitution wird definiert als sinngebende und Seinsgltigkeit verleihende Leis-
22 tung der Subjektivitt. Phnomenologie als Konstitutionsanalyse versteht sich
23 demnach als Auslegung dieses Sinnes, den die Welt bereits „fr uns alle vor je-
24 dem Philosophieren hat“.1 Sie versucht, die konstitutiven Stufen der einheitsstif-
25 tenden und objektivierenden Prozesse retrospektiv aufzuklren, die dem ,ferti-
26 gen‘ Sinn vorangehen mssen. Seine eigentliche Bedeutung erhlt der Begriff der
27 Konstitution insofern in der genetischen Phnomenologie: Hier werden nicht
28 mehr nur einzelne intentionale Aktformen (aktive Synthesen) im Hinblick auf
29 ihre statische Fundierung in anderen, objektivierenden, Akten untersucht. Der
30 Fokus liegt nun auf den passiven Synthesen und Sinnbildungen, die jede weitere
31 intentionale Aktivitt genetisch fundieren und damit ermçglichen.2 Die geneti-
32 sche Konstitutionsanalyse beschftigt sich dabei mit der Gewordenheit sowohl
33 der Gegenstnde als auch der Subjektivitt selbst, den Strukturen und Aufbau-
34 formen ihrer eigenen zeitlichen und passiven Genesis. Im Gegensatz zu einer
35 aktfokussierten Beschreibung bleibt hier das Subjekt selbst nicht unberhrt von
36
1 Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vortrge. Hrsg. von Stephan
37
38 Strasser. Hua I. Den Haag 1950. 177.
2 Vgl. Edmund Husserl: Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und For-
39 schungsmanuskripten (1918 – 1926). Hrsg. von Margot Fleischer. Hua XI. Den Haag 1966.
40 112.
40 11 Ebd. 477.
Konstitution des Sozialen oder soziale Konstitution? 303
1 von Husserl analog zur Einzelperson als eine „Personalitt hçherer Ordnung“12
2 angesehen.
3 Doch lsst sich neben dieser ausdrcklichen (personalen) Ebene der sozialen
4 Handlung bei Husserl auch eine Beschreibung weniger expliziter sozialer Erfah-
5 rung finden? Msste ein solches ausdrckliches „habituelles Wir“13 nicht seine
6 Entsprechung oder gar Fundierung in der Ebene der leiblichen Erfahrung fin-
7 den? Wenn jede Konstitution, d. h. jeder weltliche Sinn, bereits auf Intersubjekti-
8 vitt zurckweist und jede Welterfahrung immer schon eine Gemeinschaftser-
9 fahrung ist, dann muss sich dies auch in den passiven Schichten der Erfahrung
10 niederschlagen und dort aufzeigen lassen.
11 Der folgende Beitrag mçchte eine solche implizite Ebene sozialer Erfahrung,
12 eine passive Konstitution des Sozialen aufzeigen: Als Ausgangspunkt der berle-
13 gungen soll dabei das Konzept einer Gemeinschaftshabitualitt dienen. Diesen
14 Begriff verwendet Husserl nur ein einziges Mal im zweiten Teil der Intersubjek-
15 tivittsbnde, um die Verflechtung zwischen Einzelsubjekt und Gemeinschaft
16 offenzulegen. Trotzdem kçnnte der Begriff der Gemeinschaftshabitualitt in ei-
17 ner genetisch erweiterten Form den Kern einer vorprdikativen Ebene sozialer
18 Erfahrung bilden, die alle hçheren kommunikativen sozialen Akte fundiert. Im
19 Folgenden wird der Versuch gemacht zu erlutern, wie sich das oben zitierte
20 „Ineinander der Konstitution“ auf einer solchen passiv-leiblichen, d. h. nicht aus-
21 drcklichen Ebene konkreter Subjektivitt manifestieren kçnnte. Dabei wird zu-
22 nchst auf den Begriff der Habitualitt bei Husserl nher eingegangen. Hierbei
23 wird zwischen verschiedenen Stufen der Habitualitt unterschieden, namentlich
24 passiver, leiblicher und personaler Habitualitt. Ausgehend davon und in Analo-
25 gie dazu wird versucht zu klren, was Husserl unter Gemeinschaftshabitualitt
26 verstanden haben kçnnte. ber Husserl hinausgehend soll dieses Konzept gene-
27
tisch erweitert werden, um eine Ebene passiver sozialer Konstitution freizule-
28
gen. Der Fokus wird hierbei besonders auf unterschiedliche Formen leiblicher
29
Gemeinschaftshabitualitt gelegt. Im abschließenden Punkt sollen die phno-
30
menologischen Ergebnisse in einen umfassenderen Kontext gesetzt werden, der
31
es erlaubt, diese mit postmodernen Genealogien und sozialkonstruktivistischen
32
Anstzen ins Gesprch zu bringen.
33
In diesem Sinne ließe sich eine (aktive) Konstitution des Sozialen, ausgehend
34
von leiblichen Subjekten her, wie folgt denken: Gemeinsame Ttigkeiten und
35
Erlebnisse fhren hier zu gemeinsamen leiblichen Habitualitten, die als positi-
36
ves Fundament fr hçhere soziale Akte fungieren. Dies wird als explizite Soziali-
37
tt bezeichnet. Zugleich kçnnte man aber von einer passiv-diskursiven oder so-
38
39 12 Ebd. 479.
40 13 Ebd.
304 Maren Wehrle
37 selbst finden. Er unterscheidet diesbezglich zwischen einer primren Passivitt von Disposi-
38 tionen und Trieben und der sekundren Passivitt einer Habitualitt, die auf vorangehende
aktive (explizite) Willensentschlsse zurckgeht. Weiterhin betont er, dass das psychophysi-
39 sche Subjekt ein Subjekt der (praktischen) Vermçgen oder des Kçnnens ist, dessen positive
40 Potenzialitt „immerfort in Bereitschaft“ ist. (Edmund Husserl: Zur Phnomenologie der In-
Konstitution des Sozialen oder soziale Konstitution? 305
1 dung fr einen bestimmten Beruf oder eine religiçse Lebensweise, die zuknftig
2 die gesamte Erfahrung auch in passiver, d. h. impliziter, Weise prgt. Die Wir-
3 kung personaler Habitualitten kann dabei im Gegensatz zu den rein passiven
4 Erwerben vom Subjekt – zumindest teilweise – kontrolliert werden: So kann
5 eine Gesinnung oder Lebensweise bewusst aufgegeben werden, und in der Folge
6 verndern sich auch die damit verbundenen Verhaltensweisen und Einstellun-
7 gen.
8 Alle Ebenen zusammen bilden das, was man eine Person mitsamt ihrem per-
9 sçnlichen Erfahrungsstil nennen kann. Dieser typische Erfahrungsstil bildet
10 dann in Verbindung mit aktuellen Bedrfnissen oder Handlungszielen den Maß-
11 stab fr die Selektionskriterien, die bestimmen, was wir innerhalb eines aufge-
12 fassten Wahrnehmungsfeldes bemerken, bzw. was jeweils im Fokus oder Hinter-
13 grund der Wahrnehmung erscheint. Man kçnnte dahingehend argumentieren,
14 dass der selektive Wahrnehmungsstil von Subjekten nicht nur Einfluss darauf
15 hat, wie wir etwas wahrnehmen und erfahren, sondern auch darauf, was wir zu
16 einem gegebenen Zeitpunkt berhaupt bemerken und erfahren kçnnen. Die
17 Funktion einer solchen selektiven Erfahrung, die habituell fundiert ist, ermçg-
18 licht dabei auf der einen Seite eine stabile und kohrente Erfahrung der Umwelt
19 fr das Subjekt und auf der anderen Seite eine relative Stabilitt des Subjekts, der
20 Person selbst, „ein stehendes und bleibendes personales Ich“.23 Letzteres ist be-
21 sonders in Bezug auf hçherstufige intersubjektive Handlungen und Kommuni-
22 kation von entscheidender Bedeutung, da solche sozialen Interaktionen auf rela-
23 tiv ,stabile‘ Personen mit identifizierbaren und antizipierbaren Einstellungen
24 und Positionen angewiesen sind. Auf der anderen Seite fungiert der habituelle
25 Erfahrungsstil als Beschrnkung dessen, was Subjekte oder Gruppen ,objektiv‘24
26
27 23 Husserl: Cartesianische Meditationen. 101.
28
24 Objektiv heißt, von einem objektiven Standpunkt, einer Dritten-Person-Perspektive, aus
betrachtet, wie sie zum Beispiel bei psychologischen Experimenten zur Aufmerksamkeit vor-
29
liegt. Hier wird den Probanden ein Bild, eine Szene etc. gezeigt und geprft, was jeweils davon
30 bemerkt wurde. In Experimenten zum Phnomen der Inattentional Blindness wird die Diskre-
31 panz zwischen Prsentiertem und Gesehenem besonders deutlich: Hier werden die Probanden
in eine bestimmte Aufgabe involviert, z. B. die Psse zu zhlen, die in einem Film ein Basket-
32
ballteam jeweils spielt. Ein im Film plçtzlich auftauchender Gorilla (bzw. als Gorilla verkleide-
33 ter Mensch) wird dabei in den allermeisten Fllen nicht bemerkt, obwohl er sich in der Mitte
34 des Blickfeldes befindet. Das, was Probanden jeweils explizit bemerken, hngt demnach nicht
35 vom visuell bestimmbaren Fokus ab, sondern von den individuellen Selektionskriterien der
Subjekte, die hier durch die aktuelle Handlung oder Aufgabe bestimmt sind: Ein Gorilla ist in
36 diesem Fall nicht relevant, besonders, wenn dieser kein weißes T-Shirt trgt wie die visuell zu
37 verfolgende Basketballgruppe. Vgl. Daniel J. Simon, Christopher F. Chabris: Gorillas in our
38 midst: Sustained inattentional blindness for dynamic events. In: Perception 28 (1999). 1059 –
1074; Steven B. Most, Brian J. Scholl, Erin R. Clifford, Daniel J. Simons: What you see is what
39 you set: Sustained inattentional blindness and the capture of awareness. In: Psychological Re-
40 view 112 (2005). 217 – 242.
308 Maren Wehrle
1 sehen, bemerken oder fr wichtig halten. In diesem Sinne lsst sich auch von
2 habituellen Scheuklappen sprechen.
3
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5
6
3. Gemeinschaftshabitualitt
7
8
Der Ursprung der Personalitt, wie sie im Konzept der Habitualitt zur Sprache
9
kommt, liegt nach Husserls eigener Aussage im Sozialen.25 Dies impliziert fr
10
Husserl zunchst immer die konkrete Begegnung zweier Subjekte oder der Ver-
11
such der Einfhlung in ein anderes Subjekt, auf deren Fundierung weitere sozia-
12
le Akte aufbauen. Komplementr oder kontrastiv zu dem expliziten Akt der Ein-
13
fhlung in Mitsubjekte thematisiert Husserl auch die (ungewollte)
14
Fremdeinwirkung derselben Mitsubjekte auf mein eigenes Seelenleben. Fremde
15
Gedanken, Gefhle und Befehle dringen in diesem Sinne in die eigene Seele
16
ein.26 Diesen „Zumutungen“ kann das Subjekt dann entweder passiv nachgeben
17
oder sich diese „selbstttig aneignen“27 und zu eigenen Stellungnahmen machen.
18
Neben konkreten Einzelsubjekten, die sich einfhlend gegenbertreten oder
19
sich gegenseitig intentional beeinflussen, gibt es fr Husserl aber noch eine allge-
20
meine Ebene der Fremdeinwirkungen, eine „unbestimmte […] Allgemeinheit
21
auftretende[r] Zumutungen“, die in Gestalt von Sitten, Bruchen oder eines geis-
22
tigen Milieus auftritt und schlicht als Tradition oder Konvention bezeichnet wer-
23
den kann.28 Diese berpersonale Ebene der Tradition kçnnte man als eine allge-
24
meine und primr passive Form von Gemeinschaftshabitualitt verstehen. Die
25
Personalitt beruht in diesem Sinne nicht nur auf konkreten und explizit einfh-
26
lenden, nachverstehenden oder sozialen Akten, sondern der Ursprung der Perso-
27
nalitt im Sozialen, wie Husserl es ausdrckt, zeigt sich hier in einem tieferen,
28
d. h. passiven Sinn. Sozialitt beginnt hier nicht erst dort, wo ein Subjekt aktiv in
29
eine Sozialitt oder Gemeinschaft eintritt. Vielmehr wird deutlich, dass sich sei-
30
ne Erfahrung immer schon innerhalb einer solchen Sozialitt abspielt. Der habi-
31
tuell ausgebildete Erfahrungsstil ist also nicht nur individuell, sondern Teil einer
32
Tradition, das Subjekt ist ein „Kind seiner Zeit“ und „Erbe“ einer Kultur.29 Ha-
33
bitualitt ist insofern nicht nur einzelsubjektiv bestimmt, sondern beinhaltet
34
auch berpersonale Faktoren, wie etwa kulturelle Normen. Das Subjekt wird in
35 25 Husserl: Zur Phnomenologie der Intersubjektivitt. Zweiter Teil. 175.
36 26 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phnomenologie und phnomenologischen Phi-
37 losophie. Zweites Buch. Phnomenologische Untersuchungen zur Konstitution. Hrsg. von
38 Marly Biemel. Hua IV. Den Haag 1952. 268.
27 Ebd. 269.
39 28 Ebd.
1 eine spezifische Tradition hineingeboren, die seine personale Erfahrung und vor
2 allem seine Leiblichkeit von Beginn an prgt, und die dem Subjekt durch wieder-
3 holte Interaktionen mit seiner Umwelt sozusagen in ,Fleisch und Blut‘ bergeht.
4 Hier zeigt sich in gleicherweise wie bei der Habitualitt der Einzelperson die
5 zentrale Rolle der Leiblichkeit. Leibliche Habitualitt beruht demzufolge nicht
6 nur auf subjektiven Handlungen und Bewegungen, sondern hat immer schon
7 berpersonale, soziale und kulturelle Wurzeln. Bewegungen, kçrperliche Reak-
8 tionen sowie Gefhle bilden sich innerhalb von Institutionen wie Familie, Schu-
9 le oder Militr aus. Diese kulturell spezifischen Bewegungsmuster und Sitten
10 schreiben sich durch Wiederholung regelrecht in den Leib ein und bestimmen,
11 wie wir uns in bestimmten Umgebungen und Situationen bewegen, unmittelbar
12 kçrperlich reagieren oder sogar, wie wir fhlen. In hnlicher, aber radikalerer
13 Weise hat Michel Foucault dies in berwachen und Strafen als Disziplinierung
14 von Kçrpern beschrieben, am Beispiel von vorgegebenen Sitz- und Stehhaltun-
15 gen in Schule und Fabrik sowie automatisierter Mançver im Militr.30 Durch
16 wiederholte Zwangsmaßnahmen werden Kçrper moralisch gezchtigt oder aber
17 çkonomisch nutzbar gemacht: Die Einschreibung von Macht und Normen setzt
18
direkt am Kçrper und damit in der Erfahrung der Subjekte an: „Es handelt sich
19
nicht mehr um Zeichen, sondern um bungen: Stundenplne, Zeiteinteilungen,
20
vorgeschriebene Bewegungen, regelmßige Ttigkeiten, einsame Meditation, ge-
21
meinsame Arbeit, Schweigen, Aufmerksamkeit, Respekt, gute Gewohnhei-
22
ten.“31 Diese bungen werden im Kontext bestimmter Institutionen und meist
23
zusammen mit anderen Subjekten ausgefhrt. Hier entsteht zwar keine Habitua-
24
litt durch eine gemeinsame (freiwillige) Ttigkeit im eigentlichen Sinne, wohl
25
aber entstehen Gruppen von Kçrpern, d. h. Subjekten, die dieselben leiblichen
26
Habitualitten ausbilden (einen hnlichen Bewegungs- und Reaktionsstil auf-
27
weisen).
28
Gemeinschaftshabitualitt im Sinne einer solchen berpersonalen-kulturellen
29
Habitualitt hat nach den im zweiten Abschnitt vorgenommenen Differenzie-
30
rungen als primre Passivitt zu gelten. Dies wrde aber nicht nur fr die oben
31
erwhnten institutionellen Zwangsmaßnahmen, sondern auch fr gewçhnliche
32
33
Entwicklungs- und Lernprozesse bei Kindern gelten, in denen etwa Bewe-
34
gungs- und Erfahrungsmuster und Gefhlsreaktionen von den Bezugspersonen
35
passiv bernommen, d. h. imitiert werden. In beiden Fllen ist das so primr pas-
36 siv habitualisierte Verhalten fr das Subjekt nicht in seiner ,Gewordenheit‘ er-
37 kennbar und wird als ,normal‘ empfunden. Davon unterschiedene Bewegungs-
38 30 Michel Foucault: berwachen und Strafen. Die Geburt des Gefngnisses. bers. von
39 Walter Seitter. Frankfurt a.M. 1994. 173 ff.
40 31 Ebd. 167.
310 Maren Wehrle
1 muster, Gewohnheiten oder Reaktionen von Personen mit einer anderen institu-
2 tionellen, kulturellen oder sozialen Prgung werden insofern als Abweichung
3 von dieser Normalitt erfahren.32
4 Doch neben solch einer primren Passivitt, die man auch als soziale Konstitu-
5 tion oder gar Konstruktion bezeichnen kann, lsst sich phnomenologisch von
6 Gemeinschaftshabitualitt auch in einem ,positiven‘ oder aktiveren Sinne reden,
7 als Konstitution des Sozialen: Fr Husserl bedeutet Gemeinschaftshabitualitt
8 im Sinne einer Tradition in erster Linie eine konstitutive Leistung von Subjek-
9 ten. Das Subjekt ist hier nicht nur Teil einer Tradition, sondern jeder seiner
10 Akte, jede berzeugung hat nicht nur eine individuelle Fortgeltung, sondern
11 schafft nach Husserl eine Tradition. Durch die Verflechtung des Einzel-Ich in
12 die Gemeinschaft kommt es so nicht nur zu personalen Habitualitten, sondern
13 zur Konstitution einer Gemeinschaftshabitualitt, einer gemeinsamen Traditi-
14 on.
15 Genetisch erweitert und auf die Ebene der Leiblichkeit bertragen, hieße
16 dies, dass sich durch kçrperliche Ttigkeiten mit Anderen gemeinsame Habitua-
17 litten generieren kçnnen. Durch gemeinsam verrichtete Handlungen oder ge-
18 meinsam erlebte Situationen kçnnen sich gemeinsame Interessen und Ziele bil-
19 den, die ber die der einzelnen Subjekte hinausgehen. Dies ist etwa bei Kindern
20 zu beobachten, wenn zwei anfangs allein spielende Kinder plçtzlich anfangen,
21 zusammen zu spielen, etwa versuchen, ein Objekt gemeinsam zu bewegen. Bei-
22 spiele fr eine solche passive leibliche Gemeinschaftshandlung sind bei Erwach-
23 senen nur schwer zu finden, da hier immer schon die kognitiv hçherstufige Wir-
24 Intentionalitt mitspielt, d. h. explizite Interessen und Ziele der Beteiligten die
25 Handlungen im Voraus bestimmen. Mçgliche Beispiele kçnnten hierbei aber ge-
26 meinsam ausgefhrte Teamsportarten wie Fuß- oder Basketball sein sowie ge-
27
meinsames Tanzen oder Musizieren, insbesondere wenn es sich um Improvisa-
28
tionen handelt.33 Husserl beschreibt in diesem Kontext eine Art leibliches
29
Ineinander der Konstitution: In gemeinsamen Ttigkeiten sind die Subjekte
30
wechselseitig aufeinander bezogen, das Tun des einen geht in das Tun des Ande-
31
ren mit ein, und die Subjekte durchdringen sich auf verbindende Weise.34 Eine
32
auf Dauer gemeinsam verrichtete kçrperliche Ttigkeit, wie etwa eine Sportart
33
oder ein Spiel, fhrt auf diese Weise noch in strkerem Maße als hnliche Erfah-
34
rungen oder dasselbe Umfeld auf berpersonaler Ebene zu einem gemeinsamen
35
36 32 Zu einer ausfhrlicheren Darstellung und Diskussion des Normalittsbegriffs bei Hus-
37 serl siehe Maren Wehrle: Die Normativitt der Erfahrung. berlegungen zur Beziehung von
38 Normalitt und Aufmerksamkeit bei E. Husserl. In: Husserl Studies 26 (2010). 167 – 187.
33 Vgl. hierzu etwa den Beitrag von Daniel Schmicking ber gemeinsames Musizieren in
39 diesem Band.
40 34 Husserl: Zur Phnomenologie der Intersubjektivitt. Zweiter Teil. 179.
Konstitution des Sozialen oder soziale Konstitution? 311
28 1952. Hrsg. von Bernhard Waldenfels. Mnchen 1994. 194; Maurice Merleau-Ponty: Das
Auge und der Geist. Philosophische Essays. Hamburg 2003. 256; sowie Bernhard Waldenfels:
29
Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phnomenologie des Leibes. Hrsg. von Regula Giuliani.
30 Frankfurt a.M. 2000. 287 ff.; Thomas Fuchs: Non-verbale Kommunikation: Phnomenologi-
31 sche, entwicklungspsychologische und therapeutische Aspekte. In: Zeitschrift fr klinische
Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie 51 (2003). 333 – 345.
32 36 Thomas Fuchs, Hanne de Jaegher: Enactive intersubjectivity: Participatory sense-ma-
33 king and mutual intercorporation. In: Phenomenology and the Cognitive Sciences 8 (2009).
34 465 – 486.
37 Darin sehen Kognitionswissenschaftler und Phnomenologen ein physiologisches Indiz
35
fr die neuronale Verankerung sozial-kognitiver Leistungen. Mittlerweile scheint das Interesse
36 an Spiegelneuronen aus vorwiegend methodologischen Grnden jedoch abgenommen zu ha-
37 ben. Vgl. Giacomo Rizzolatti, Leonardo Fogassi, Vittorio Gallese: Neurophysiological mecha-
38 nisms underlying the understanding and imitation of action. In: Nature Reviews Neuroscience
2 (2001). 661 – 670; Simone Schtz-Bosbach, Wolfgang Prinz: Perceptual resonance: Action-
39 induced modulation of perception. In: Trends in Cognitive Science 11 (2007). 349 – 355; Shaun
40 Gallagher, Dan Zahavi: The phenomenological mind. London. New York 2008. 181 f.
312 Maren Wehrle
1 ten anschließend mehr Details wiedergeben werden, sondern dieser wurde auch
2 in den meisten Fllen positiver bewertet.38
3 Welche Auswirkung kçrperliche Fhigkeiten und Habitualitten auf die
4 Wahrnehmung und vor allem auf die Antizipation von Bewegungen haben, zei-
5 gen auch Studien, die den Einfluss der von motorischen Fertigkeiten (skills) auf
6 die Art und Weise untersuchen, wie und was wir im weiteren Wahrnehmungsver-
7 lauf antizipieren. Verschiedene Wahrnehmungen werden hier automatisch mit
8 den entsprechenden gelernten Bewegungen verknpft und gezeigte Bewegun-
9 gen antizipatorisch vervollstndigt.39 Dies zeigt z. B. eine Studie, in der Amateu-
10 re, Experten und Profibasketballer angeben sollen, wie eine gezeigte Spielsituati-
11 on ausgehen wird. Whrend Amateure weitgehend falsche Antizipationen
12
machen, liegen Experten fast immer richtig. Interessant hierbei ist, dass Profis
13
dazu neigen, sich zu sehr auf ihre Erfahrung zu verlassen, und sofort den Spiel-
14
verlauf antizipieren, ohne auf die tatschlich prsentierten Informationen zu ach-
15
ten. Neue Spielausschnitte werden insofern als bereits bekannt interpretiert. Was
16
zu einem bestimmten Zeitpunkt sensuell gegeben ist oder nur antizipiert, kann
17
dabei nicht mehr unterschieden werden.40 Weiterhin gibt es Hinweise, dass pro-
18
fessionelle Basketballspieler motorische Reaktionen der anderen Spieler regel-
19
recht an deren Kçrpern ,kinematisch ablesen‘ kçnnen, noch bevor der andere die
20
21
Bewegung ausfhrt.41
22
Im Sinne einer Gemeinschaftshabitualitt kçnnte ein solcher Antizipations-
23 stil auch fr eine ganzes Team von Basketball- oder Fußballspielern gelten. Die-
24 se wre dann keine „kommunikative Vielheit“, wie Husserl es nennt, sondern
25 eine „ttige Vielheit“, die als solche ihre Sinnlichkeit und ihre Apperzeptionen
26 hat, analog zum Einzelsubjekt. Husserls Beobachtung, dass wir „nicht nur mit
27 unseren eigenen Sinnen erfahren, sondern auch mit denen des Anderen“, lsst
28
38 Beatriz Calvo-Merino, Julie Grzes, Daniel E. Glaser, Richard E. Passingham, Patrick
29
Haggard: Seeing or doing? Influence of visual and motor familiarity in action observation. In:
30 Current Biology 16 (2006). 1905 – 1910; Beatriz Calvo-Merino, Daniel E. Glaser, Julie Grzes,
31 Richard E. Passingham, Patrick Haggard: Action observation and acquired motor skills: An
fMRI study with expert dancers. In: Cerebral Cortex 15 (2005). 1243 – 1249; Beatriz Calvo-
32
Merino, Shantel Ehrenberg, Delia Leung, Patrick Haggard: Experts see it all: Configural effe-
33 cts in action observation. In: Psychological Research 74 (2010). 400 – 406.
39 Dies ist z. B. bei Personen der Fall, die regelmßig Texte abtippen: Buchstaben werden
34
35 hier automatisch mit den entsprechenden Bewegungen verknpft. Vgl. Martina Rieger: Auto-
matic keypress activation in skilled typing. In: Journal of Experimental Psychology: Human
36 Perception and Performance 30 (2004). 555 – 565.
40 Andr Didierjean, Evelyne Marmche: Anticipatory representation of visual basketball
37
38 scenes by novice and experts players. In: Visual Cognition 12 (2005). 265 – 283.
41 Salvatore M. Aglioti, Paola Cesari, Michela Romani, Cosimo Urgesi: Action anticipation
39 and motor resonance in elite basketball players. In: Nature Neuroscience 11 (2008). 1109 –
40 1116.
Konstitution des Sozialen oder soziale Konstitution? 313
1 Hinsicht als Fundierung fr hçhere Stufen sozialer Handlungen und Kommuni-
2 kation gelten.
3 Zugleich wird aber auch die Einfhlung in Subjekte und soziale Handlungen
4 mit Subjekten erschwert, die nicht dieselben Normen und Erfahrungen teilen
5 und einer anderen Tradition, Gemeinschaft oder Kultur angehçren: Kontrastiv
6 zur so genannten Heimwelt44 konstituiert sich nach Husserl auch eine Fremd-
7 welt.45 Die gleichen Prozesse und Mechanismen, die so zu Kontinuitt und Iden-
8 titt der einen sozialen Gemeinschaft beitragen, kçnnen also auch zu Normie-
9 rung und Ausschluss einer anderen sozialen Gruppe fhren. Das gemeinsame
10 Umfeld, die gemeinsame Tradition, fungiert hier als eine soziale Konstitution,
11 die jede weitere Erfahrung leitet. Gemeinschaftshabitualitt als implizite Ebene
12 sozialer Erfahrung hat insofern nicht nur eine ermçglichende, sondern auch eine
13 beschrnkende Funktion.
14
15
16
17 4. Soziale Konstitution und Konstitution des Sozialen
18
19 Phnomenologisch gesehen ist Konstitution ein positiver und notwendiger Vor-
20 gang, eine „Leistung“ des Subjekts oder der Subjekte. In den passiven Schichten
21 der Erfahrung vollzieht sich diese Sinnbildung jedoch automatisch bzw. opera-
22 tiv: Sich wiederholende Vorgnge und Ttigkeiten fhren zu Kontinuitt und
23 bleibenden personalen Fhigkeiten und Eigenschaften. Getragen wird diese
24 Kontinuitt formal durch die Struktur des Zeitbewusstseins und inhaltlich
25 durch die passive Synthesis der Assoziation, die Gegebenes nach Kontrast und
26 hnlichkeit selektiert und integriert. Merleau-Ponty knpft hier an, verschiebt
27 aber die Bedeutung der Konstitution, weg von einer transzendentalen Leistung
28 hin zu einer Sinnbildung, die sich zwischen dem leiblichen Subjekt und seiner
29 Interaktion mit der Welt vollzieht. Konstitution im phnomenologischen Sinne
30 ist insofern die Bedingung fr eine kohrente (d. h. temporal und inhaltlich struk-
31 turierte) Wahrnehmung und einen gelungenen Weltbezug. Sie bildet damit zu-
32 gleich die Voraussetzung fr die Ausbildung und Stabilisierung eines personalen
33 Ich. Die Konstitution wird dabei nicht vom Subjekt allein geleistet, sondern ist
34 von Beginn an eine intersubjektive Sinnbildung. Einheitlichkeit und Objektivi-
35 tt kann insbesondere auf der Ebene kultureller Erwerbe nur durch die stndige
36 Abstimmung und Verifizierung durch Mitsubjekte zustande gebracht werden.
37
44 Vgl. Edmund Husserl: Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer
38
Konstitution. Texte aus dem Nachlass (1916 – 1937). Hrsg. von Rochus Sowa. Hua
39 XXXIX. 155.
40 45 Vgl. ebd. 168.
Konstitution des Sozialen oder soziale Konstitution? 315
1 Husserl spricht in diesem Sinne von Gemeinschaftsleistungen. Fr ihn steht die
2 explizite bereinkunft und Kommunikation der Subjekte im Vordergrund, die
3 passiv-genetische Fundierung einer solchen Wir-Intentionalitt wird hingegen
4 kaum thematisiert. Es hat sich allerdings gezeigt, dass eine gemeinsame Heim-
5 welt und gemeinsame Habitualitten die Voraussetzungen von Kommunikation
6 und bereinkunft jeglicher Art sind, selbst wenn es sich nur um eine geteilte
7 Sprache handelt.
8 Sozialitt kann nicht nur auf explizite gemeinsame Ttigkeiten, wie etwa
9 Handlungen oder Kommunikation, zurckgefhrt werden, sondern muss be-
10 reits vor jeglicher expliziter Aktivitt einzelner oder mehrerer Subjekte in impli-
11 ziter Weise vorhanden sein. Die Kultur, die Geschichte oder das jeweilige sozia-
12 le Milieu, in das ein konkretes Subjekt hineingeboren wird, prgen in diesem
13 Sinne seine spezifischen Gewohnheiten, Umgangsformen, Normen und Werte.
14 Dies geschieht von Geburt an durch Interaktion mit den Eltern, dem nheren
15 Umfeld, und durch den Einfluss eines umfassenderen Weltbildes, das ber Medi-
16 en vermittelt wird. Durch wiederholende Einbung werden so die bestehenden
17 Normen vom heranwachsenden Subjekt inkorporiert, erlernt, passiv bernom-
18 men und spter auch aktiv besttigt oder abgelehnt.
19 Aus einer anderen Perspektive kann das Konzept der Konstitution deshalb
20 auch anders verstanden werden: nicht so sehr als eine vermeintlich aktive Leis-
21 tung von Subjekten, also als eine Konstitution des Sozialen, sondern als eine so-
22 ziale Konstitution, indem das Soziale selbst es ist – in Form von gewaltsam und
23 anonym wirkenden Normen, Machtkonstellationen und Diskursen –, welches
24 das Subjekt (oder unseren Sinn von Subjekt) konstituiert. Hier bestimmt, wie
25 etwa bei Judith Butler, die geltende Werte- und Normenmatrix, was als Subjekt
26 bzw. Person gelten kann, und in welcher Weise es konstituiert, d. h. materiali-
27 siert wird. Butler spricht hier, genau wie Husserl, von einer Sedimentierung
28 oder Materialisierung, nur dass es sich hierbei nicht um eine Sinnsedimentierung
29 als positives Resultat einer konstitutiven Leistung des Subjekts handelt, sondern
30 die Normen selbst sich durch wiederholte Benennung materialisieren: Das Sub-
31 jekt muss in seiner Geschlechtsidentitt stets aufs Neue benannt werden und die-
32 se Anrufung selbst wiederholen.46
33 Besonders radikal ist das Prinzip der Wiederholung im Falle der von Foucault
34 beschriebenen kçrperlichen Disziplinierung, die durch institutionalisierte Tech-
35 niken und bungen, z. B. in Schulen, Fabriken und im Militr, vollzogen wird.
36 Kann in der diskursiven Konstitution noch ein subversives Element festgemacht
37 werden, da sich in den Wiederholungen der jeweilige Sinn bestndig verschiebt,
38 so ist dies bei der kçrperlichen Einschreibung von Diskursen schon schwieriger.
39
40 46 Judith Butler: Kçrper von Gewicht. 35 f.
316 Maren Wehrle
1 hierbei, welche Personen, Ereignisse, Subjekte und Kçrper fr uns in einer gewis-
2 sen Zeit „von Gewicht“48 sind und welche nicht. Gewisse, nicht in diese kultu-
3 rell ausgerichteten Raster fallenden Erfahrungen und Subjekte werden entweder
4 nicht gesehen und gehçrt oder gar gewaltsam ausgeschlossen. Die implizite So-
5 zialitt aktualisiert und stabilisiert so bestndig bestimmte Normensysteme,
6 ohne dass uns diese Vorgnge transparent werden. Sozialitt lsst sich in diesem
7 Sinne in hnlicher Weise charakterisieren, wie Foucault einst die Funktion des
8 Diskurses beschrieben hat: Einerseits hat sie eine ermçglichende Funktion (in
9 Form von Zusammengehçrigkeit, Verbundenheit und Verstndnis), andererseits
10 eine beschrnkende Funktion (Ausschluss des ,Fremden‘).
11 Es scheint, dass das eine ohne das andere nicht zu haben ist.
12
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40 48 Vgl. hierzu den Titel von Butlers Monographie: Kçrper von Gewicht.
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40
1 Dan Zahavi
2
3
4 Scham als soziales Gefhl1
5
6
7
8
In vielen Standardinterpretationen ist Scham eine Emotion, die das Selbst in sei-
9
ner Ganzheit betrifft und einbezieht. In der Scham ist das Selbst von einer globa-
10
len Entwertung betroffen, es fhlt sich fehlerhaft, anstçßig, verdammt. Ich
11
mçchte im Folgenden die Frage stellen und diskutieren: Was sagt uns die Tatsa-
12
che, dass wir Scham empfinden, ber die Natur des Selbst? Bezeugt Scham das
13
Vorhandensein eines Selbstkonzepts, eines missglckten Selbstideals und das
14
Vermçgen zu einer kritischen Selbsteinschtzung, oder weist sie nicht vielmehr,
15
wie einige vorgeschlagen haben, darauf hin, dass das Selbst in Teilen sozial kon-
16
struiert ist?2 Sollte Scham in erster Linie als selbstbewusste Emotion verstanden
17
werden oder ist sie eher eine ausgeprgt soziale Emotion?
18
19
20
21
1. Scham und Selbstbewusstsein
22
23
Die Emotionsforschung hat viel Zeit darauf verwandt zu untersuchen, was
24
Ekman die „grundlegenden Sechs“ (basic six) genannt hat: Freude, Furcht, Trau-
25
er, berraschung, rger und Ekel.3 Angeblich zeigen sich diese Emotionen be-
26
reits frh in der menschlichen Entwicklung, sie haben eine biologische Basis,
27
einen charakteristischen Gesichtsausdruck und sind kulturell universal. Es ist al-
28
lerdings recht offensichtlich, dass diese grundlegenden oder primren Emotio-
29
nen keineswegs den Reichtum unseres emotionalen Lebens erschçpfen. Denken
30
Sie nur an komplexere Gefhle wie Verlegenheit, Neid, Scham, Schuldgefhl,
31
Stolz, Eifersucht, Reue oder Dankbarkeit. Ein Verfahren, die verschiedenen
32
Emotionen zu klassifizieren, besteht nach Michael Lewis darin, mit einer Unter-
33
scheidung zwischen selbstbewussten und nicht selbstbewussten Emotionen zu
34
arbeiten. Whrend die primren Emotionen kein Selbstbewusstsein einschlie-
35
36 1 Eine frhere und lngere Fassung dieses Artikels wurde ursprnglich in englischer Spra-
37 che verçffentlicht. Vgl. Dan Zahavi: Self, consciousness, and shame. In: Ders. (Hg.): The Ox-
38 ford handbook of contemporary phenomenology. Oxford 2012. 304 – 323.
2 Cheshire Calhoun: An apology for moral shame. In: Journal of Political Philosophy 12
39 (2004). 127 – 146. 145.
40 3 Paul Ekman: Emotions revealed. Understanding faces and feelings. London 2003.
1 ßen, tun dies die komplexeren Emotionen.4 Tatschlich gehen nach Lewis die
2 letzteren mit aufwendigen kognitiven Prozessen einher, sie alle kommen durch
3 Selbstreflexion zustande und erfordern ein Selbstkonzept. Daher sei es eine ent-
4 wicklungsmßige Voraussetzung fr das Erleben solcher Emotionen, dass das
5 Kind ber ein Selbstkonzept oder eine Selbstreprsentation verfge, was nach
6 Lewis erst ab einem Alter von etwa achtzehn Monaten eintreten kann.
7 Lewis unterscheidet ferner zwei Gruppen selbstbewusster Emotionen. Beide
8 Gruppen beinhalten Selbst-Exponierung und objektives Selbstbewusstsein, d. h.
9 Selbstreflexion. Whrend jedoch die erste mit einer nicht-bewertenden Exponie-
10 rung einhergeht, beinhaltet die zweite sowohl Selbstexponierung als auch Bewer-
11 tung. Die erste Gruppe zeigt sich mit etwa 18 Monaten und enthlt Emotionen
12 wie Verlegenheit und Neid. Die zweite Gruppe zeigt sich mit etwa 36 Monaten.
13
Sie enthlt Scham und Schuldgefhl und erfordert das Vermçgen, sich Normen,
14
Regeln und Ziele anzueignen und sie zu verinnerlichen, und das eigene Verhal-
15
ten mit solchen Standards zu bewerten und zu vergleichen.5
16
Am Ende definiert Lewis Scham als eine intensive negative Emotion, die aus-
17
gelçst wird, wenn wir ein Versagen in Bezug auf eine Norm erfahren, uns verant-
18
wortlich dafr fhlen und glauben, dass unser Scheitern ein beschdigtes Selbst
19
widerspiegle. Whrend Lewis den Aspekt des çffentlichen Versagens als relevant
20
fr Verlegenheit ansieht, leugnet er dessen Relevanz, wenn es um Emotionen
21
wie Scham, Schuldgefhl oder Stolz geht.6
22
Ein ganz anderer Zugang zur Scham findet sich im Werk von Rom Harr.
23
24
Kurz gefasst argumentiert Harr, dass Scham auftritt, wenn ich begreife: Ande-
25
re haben bemerkt, dass mein Handeln moralisch verwerflich war. Verlegenheit
26 hingegen entstehe dann, wenn ich begreife: Andere haben bemerkt, dass meine
27 Handlung die Konvention oder die Anstandsregeln verletzt hat.7
28 Ich finde beide Vorschlge problematisch. Auch wenn wir ohne Weiteres zu-
29 stimmen, dass Verlegenheit weniger niederschmetternd und schmerzlich ist als
30 Scham, dass sie mehr zu tun hat mit peinlicher sozialer Bloßstellung (wegen ei-
31 nes offenen Hosenknopfs, einem lautstarken Magengerusch, unangemessener
32 Kleidung etc.) als mit der Verletzung wichtiger persçnlicher Werte, sind Harrs
33 Definitionen und seine saubere Distinktion unbefriedigend. Er legt nicht nur zu
34
4 Michael Lewis: Self-conscious emotional development. In: Jessica L. Tracy, Richard W.
35
Robins, June Price Tangney (Hg.): The Self-conscious emotions: Theory and research. New
36 York 2007. 134 – 149. 136.
5 Lewis: Self-conscious emotional development. 135.
37
6 Michael Lewis: Shame and stigma. In: Paul Gilbert, Bernice Andrews (Hg.): Shame: In-
38
terpersonal behavior, psychopathology, and culture. New York 1998. 126 – 140. 127.
39 7 Rom Harr: Embarrassment. A conceptual analysis. In: W. Ray Crozier (Hg.): Shyness
40 and embarrassment. Perspectives from social psychology. Cambridge 1990. 181 – 204.
Scham als soziales Gefhl 321
1 viel Wert auf die Anwesenheit eines konkreten Publikums – als ob man sich
2 nicht auch ganz allein schmen kçnnte, oder als ob man sich nur schme, weil
3 man erwischt worden ist –, auch seine scharfe Unterscheidung von Moralver-
4 stoß und Konventionsbruch ist fragwrdig. Auch wenn man sich fr morali-
5 sches Fehlverhalten schmen kann, so kann man sich gewiss auch fr Dinge sch-
6 men, die nichts mit Ethik zu tun haben. Ja, Scham braucht nicht einmal durch
7 etwas verursacht zu werden, das man willentlich tut. Man kann sich wegen einer
8 kçrperlichen Behinderung schmen oder wegen seiner Herkunft oder Hautfar-
9 be. Statt also Scham und Verlegenheit an die Verletzung moralischer Werte bzw.
10 sozialer Konventionen zu binden (ein Versuch, der auch an der Tatsache vorbei-
11 geht, dass ein und dasselbe Ereignis von verschiedenen Leuten als beschmend
12 oder als peinlich empfunden werden kann), denke ich, dass ein plausibleres Ab-
13 grenzungskriterium ein solches wre, das zwar Scham, nicht jedoch Verlegen-
14 heit an eine umfassende Minderung des Selbstwertgefhls oder des Selbstre-
15 spekts bindet.
16 Was Lewis betrifft, habe ich einige Probleme mit seinem allgemeinen Ver-
17 stndnis von Bewusstsein und Selbstbewusstsein, das in meinen Augen auf einer
18 strittigen reprsentationalen Bewusstseinstheorie hçherer Ordnung beruht,8
19 aber mein Hauptbedenken hier betrifft Lewis’ Herunterspielen der sozialen Di-
20 mension von Scham. Betrachten wir noch einmal den englischen Titel seines
21 Buchs: Shame: The exposed Self. Den Untertitel erlutert Lewis so: „Der Unter-
22 titel dieses Buches lautet Das bloßgestellte Selbst. Was ist ein bloßgestelltes
23 Selbst, und vor wem ist es bloßgestellt? Das Selbst ist vor sich selber bloßge-
24 stellt, das heißt: Wir sind in der Lage, uns selbst zu sehen. Ein Selbst mit dem
25 Vermçgen der Selbstreflexion ist spezifisch fr den Menschen.“9
26 Lewis definiert also die fragliche Exponiertheit als eine, bei der man sich
27 selbst gegenber exponiert ist. Wenn er also vom bloßgestellten, exponierten
28 Selbst spricht, bezieht er sich auf unser Vermçgen zur Selbstreflexion. Verglei-
29 chen wir das dagegen mit einer Bemerkung von Darwin: „Es ist nicht der simple
30 Akt, auf unsere eigene Erscheinung zu reflektieren, sondern der Gedanke, was
31 Andere von uns denken, der uns errçten lsst“.10 Ein Problem mit einer Scham-
32 definition wie der von Lewis, die sich einzig auf die eigene negative Selbstein-
33 schtzung des Individuums konzentriert, liegt darin, dass es schwierig wird,
34 Scham von anderen negativen Selbstevaluierungen wie Selbst-Enttuschung
35 oder Selbstkritik abzusetzen. Ein weiteres Problem mit diesem Hervorheben un-
36
8 Dan Zahavi: Shame and the exposed self. In: Jonathan Webber (Hg.): Reading Sartre: On
37
38 phenomenology and existentialism. London 2010. 211 – 226.
9 Michael Lewis: Shame: The exposed self. New York 1992. 36.
39 10 Charles Darwin: The expression of the emotions in man and animals. Cambridge 2009.
40 325.
322 Dan Zahavi
1 serer Sichtbarkeit fr uns selbst besteht darin, dass es auf diese Weise wohl nicht
2 gelingt, jenen zweifellos sozialen Formen der Scham gerecht zu werden, die
3 durch eine Herabminderung und Entwertung unserer çffentlichen Erscheinung
4 und sozialen Selbstidentitt ausgelçst werden, durch das Bloßlegen einer Un-
5 stimmigkeit zwischen dem, der wir zu sein beanspruchen, und dem, wie wir von
6 Anderen wahrgenommen werden. Kurzum, wir brauchen einen Begriff von
7 Scham, der auch erklren kann, warum wir persçnliche Schwchen, die wir in
8 der Privatsphre als unerhebliche Mngel verstehen und tolerieren, als besch-
9 mend empfinden, sobald sie çffentlich exponiert werden.
10 Doch scheinen meine Kritiken an Lewis und an Harr in entgegengesetzte
11 Richtungen zu weisen. Ich tadle Harr, weil er die Notwendigkeit eines konkre-
12 ten Publikums bertreibt, und Lewis, weil er die Bedeutung der Sozialitt herun-
13 terspielt. Wie passen diese Kritiken zusammen? Lassen Sie uns weitergehen und
14 einige alternative Sichtweisen der Scham betrachten, die sich in der Phnomeno-
15 logie finden.
16
17
18 2. Varianten der Scham
19
20 Im dritten Teil von Das Sein und das Nichts behauptet Sartre, Scham sei, statt
21 einer bloßen selbstreflexiven Emotion, vielmehr eine Emotion, die unsere Rela-
22 tionalitt offenbare, unser Sein-fr-Andere.
23 Nach Sartre ist Scham eine Form intentionalen Bewusstseins. Sie ist eine be-
24 schmende Apprehension von etwas, und dieses Etwas bin ich selber. Ich sch-
25 me mich fr das, was ich bin, und insoweit bringt Scham auch ein Selbstverhlt-
26 nis zum Ausdruck. Wie Sartre freilich betont, ist Scham nicht in erster Linie und
27 ursprnglich ein Reflexionsphnomen. Ich kann auf meine Mngel reflektieren
28 und mich als Resultat schmen, aber ich kann auch Scham empfinden, bevor ich
29 berhaupt reflektiere. Scham ist, wie er es ausdrckt, „ein unmittelbarer Schau-
30 der, der mich von Kopf bis Fuß durchluft ohne jede diskursive Vorberei-
31 tung“.11 Tatschlich – und noch bezeichnender – ist Scham in ihrer Urform nicht
32 ein Gefhl, das ich einfach nach eigenem Belieben durch Reflexion hervorrufen
33 kçnnte, vielmehr ist Scham die Scham ber sich selbst vor dem Anderen.12 Sie
34 setzt die Einmischung des Anderen voraus, nicht allein, weil der Andere derjeni-
35 ge ist, vor dem ich mich schme, sondern auch und mehr noch, weil der Andere
36 derjenige ist, der das konstituiert, worber ich mich schme. Das heißt: Das
37 Selbst, dessen ich mich schme, meine çffentliche persona, wenn Sie so wollen,
38 11 Jean-Paul Sartre: Being and nothingness. An essay in phenomenological ontology.
39 bers. von Hazel E. Barnes. London 2003. 246.
40 12 Ebd. 246, 312.
Scham als soziales Gefhl 323
1 existierte noch gar nicht vor meiner Begegnung mit dem Anderen. Es wird
2 durch diese Begegnung erst herbeigefhrt. Auch wenn Scham also eine Selbstre-
3 flexion zum Ausdruck bringt, haben wir es nach Sartre zu tun mit einer wesent-
4 lich vermittelten Form der Selbstbeziehung, wobei der Andere der Mittler zwi-
5 schen mir und mir selbst ist. Sartre wrde demnach bestreiten, dass Scham
6 entweder eine selbstbewusste oder eine soziale Emotion sei. Nach ihm ist sie
7 beides.
8 Sich zu schmen bedeutet – und sei es noch so vorbergehend –, die Bewer-
9 tung des Anderen zu akzeptieren; sich zu identifizieren mit dem Objekt, das der
10 Andere anschaut und beurteilt. Wenn ich beschmt bin, nehme ich die Bewer-
11 tung des Anderen hin und erkenne sie an. Ich bin so, wie der Andere mich sieht,
12 und ich bin nichts weiter als das.13 Der Blick des Anderen bertrgt auf mich
13 eine Wahrheit, ber die ich keine Kontrolle habe und gegen die ich – in diesem
14 Augenblick – machtlos bin. Sartres zentrale Behauptung ist daher, dass es, damit
15 Scham eintreten kann, eine Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen
16 geben muss, in der das Selbst die Bewertung des Anderen wichtig nimmt. Zu-
17
dem macht es nach Sartre keinen Unterschied, ob die Bewertung des Anderen
18
positiv oder negativ ausfllt, da allein schon die Verobjektivierung Scham be-
19
wirkt.
20
Mag Sartres Scham-Analyse auch die bekannteste phnomenologische Dar-
21
stellung sein, so ist seine Analyse weder die erste noch die eingehendste in der
22
Phnomenologie. 1933 verçffentlichte Erwin Straus einen kurzen, aber eindrck-
23
lichen Aufsatz mit dem Titel „Die Scham als historiologisches Problem“ im
24
Schweizer Archiv fr Neurologie und Psychiatrie,14 und bereits zwanzig Jahre
25
frher schrieb Max Scheler einen langen Essay „ber Scham und Schamgefhl“.
26
Ein Grund, sich Straus und Scheler nher anzusehen, besteht darin, dass sie bei-
27
de die sartresche Analyse sowohl ergnzen als auch herausfordern. Zudem hat in
28
den letzten Jahren Schelers Ansatz eine Art Revival erfahren und wurde in neue-
29
ren Bchern positiv bewertet, zum Beispiel von Nussbaum15 oder Deonna, Ro-
30
dogno und Teroni.16
31
32
Straus und Scheler haben gemeinsam, dass sie die Notwendigkeit betonen, ver-
33
schiedene Typen von Scham zu unterscheiden. Sie argumentieren beide gegen
34
die Auffassung, Scham sei per se eine negative und repressive Emotion, die wir
35 13 Ebd. 246, 287.
36 14 Erwin W. Straus: Die Scham als historiologisches Problem. In: Schweizer Archiv fr
37 Neurologie und Psychiatrie 31 (1933). 339 – 343.
15 Martha C. Nussbaum: Hiding from humanity: Disgust, shame and the law. Princeton
38
2004. 174.
39 16 Julien A. Deonna, Raffaele Rodogno, Fabrice Teroni: In defense of shame. New York
40 2011. 151.
324 Dan Zahavi
1 aus unserem Leben zu entfernen trachten sollten,17 und sie wrden daher Tang-
2 ney und Dearings jngster Beschreibung widersprechen, nach der Scham „ein
3 extrem schmerzvolles und hssliches Gefhl [ist], das eine negative Auswirkung
4 auf zwischenmenschliches Verhalten hat“.18 Was Straus betrifft, so unterscheidet
5 er zwischen einer schtzenden Form der Scham, welche Sensitivitt fr und Re-
6 spekt vor den Grenzen des Intimen einbindet, und einer verbergenden Form,
7 der es mehr um die Aufrechterhaltung des Sozialprestiges geht. Um zu veran-
8 schaulichen, was Straus im Sinn haben kçnnte, wenn er von der bewahrenden
9 Form von Scham spricht, stellen Sie sich eine Situation vor, in der Sie sich sch-
10 men, weil intime Details aus Ihrem Leben çffentlich enthllt worden sind. Sie
11 kçnnten sich selbst dann schmen, wenn das Publikum nicht kritisch reagiert,
12 einfach als Ergebnis der Bloßstellung selbst. Bollnow spricht dasselbe Phno-
13 men an und verbindet Scham mit dem Bedrfnis, den privatesten und intimsten
14 Kern unserer selbst vor der Verletzung zu schtzen, die durch çffentliche Besich-
15 tigung entstehen kçnnte.19
16 Scheler wiederum hlt die Empfindsamkeit fr und die Fhigkeit zur Scham
17 fr ethisch wertvoll und bindet sie an das Auftreten eines Gewissens – es sei, wie
18 er betont, kein Zufall, dass die Genesis das Schmen explizit auf das Wissen um
19 Gut und Bçse beziehe.20 Tatschlich mssen wir, wenn wir uns einer Sache sch-
20 men, nach Scheler die Schamreaktion im Licht einer normativen Verbindlichkeit
21 sehen, die bereits vor der Situation existierte, deren wir uns schmen.21 Das
22 Schamgefhl entstehe gerade wegen des Widerspruchs zwischen den Werten, die
23 man befrwortet, und der tatschlichen Situation. So kçnnte Scham-Angst, also
24 die Furcht vor beschmenden Situationen, durchaus als Hterin der Wrde be-
25 trachtet werden. Sie lsst uns auf der Hut sein vor wrdelosem Betragen, das uns
26 (und andere) in beschmende Situationen brchte. Wie Platon bereits in den Ge-
27
setzen betont, ist Scham etwas, das den Menschen davon abhlt, Unehrenhaftes
28
zu tun.22 Tatschlich legt schon der Begriff der Schamlosigkeit nahe, dass der
29
Besitz eines Gesprs fr Scham einen moralischen Wert darstellt. Statt also
30
grundstzlich krftezehrend zu wirken, kçnnte Scham, kurz gesagt, auch eine
31
konstruktive Rolle in der moralischen Entwicklung spielen.
32
33 17 Vgl. Carl D. Schneider: A mature sense of shame. In: Donald L. Nathanson (Hg.): The
1 Scheler wre mit der Idee einverstanden, dass Scham eine wesentlich das
2 Selbst involvierende Emotion sei, aber er weist explizit die Behauptung zurck,
3 Scham sei eine grundstzlich soziale Emotion, die zwangslufig Andere involvie-
4 re. Scheler argumentiert eher dafr, dass es eine selbstgesteuerte Form von
5 Scham gebe, genauso fundamental wie die Scham, die man in der Gegenwart von
6 Anderen empfinden kann, und dass die zentrale Eigenschaft von Scham darin
7 bestehe, dass sie auf die Kollision oder den Widerspruch unserer hçheren geisti-
8 gen Werte mit unserer animalischen Natur und ihren leiblichen Bedrfnissen hin-
9 weise.23 Darum behauptet Scheler auch, Scham sei eine eindeutig menschliche
10 Emotion, wie sie weder Gott noch Tiere haben kçnnten. Sie ist in seiner Sicht
11 eine fundamentale menschliche Emotion; eine Emotion, welche die conditio hu-
12 mana prgt.24
13
14
3. Andere im Sinn
15
16
An diesem Punkt mssen wir uns klarer darber werden, welche Rolle die Ande-
17
ren spielen. Zu behaupten, Scham entstehe nur in Situationen, wo ein diskreditie-
18
rendes Faktum ber einen selbst vor Anderen enthllt wird, ist nicht berzeu-
19
gend. Gewiss kann man auch Scham empfinden, wenn man ganz allein ist; sie
20
bedarf keines konkreten Beobachters oder Publikums. Man kann sich sogar
21
dann einer Angelegenheit schmen, wenn man sicher ist, dass sie fr immer ge-
22
heim bleiben wird. Aber besagt das, der Bezug auf Andere sei unwesentlich, und
23
eine Interpretation von Scham kçnne auf die soziale Dimension verzichten? Las-
24
sen Sie uns einige mutmaßliche Flle nicht-sozialer Scham betrachten.
25
1. Sie haben eine angeborene Gesichtsentstellung und schmen sich, wenn Sie
26
in den Spiegel schauen.
27
2. Sie haben etwas getan, von dem Sie glauben, dass es nicht getan werden
28
sollte (oder etwas nicht getan, von dem Sie glauben, dass es getan werden sollte).
29
In einer solchen Situation kçnnten Sie sich durchaus hinterher schmen. Viel-
30
leicht fhlen Sie sich schuldig wegen der fraglichen Tat, es kçnnte aber eben
31
auch sein, dass Sie sich schmen, einfach die Art von Person zu sein, die so etwas
32
tun (oder unterlassen) konnte.
33
3. Sie schmen sich fr den, der Sie geworden sind, verglichen mit dem, der
34
Sie einmal waren, d. h., Sie schmen sich, weil Sie Ihren Fhigkeiten nicht ge-
35
recht werden, weil Sie ihr Potenzial verraten haben.
36
4. Sie haben den festen Entschluss gefasst, nie wieder Alkohol anzurhren.
37
Aber in einem schwachen Moment geben Sie Ihrem Drang nach und beginnen
38
39 23 Scheler: ber Scham. 68, 78.
40 24 Ebd. 67, 91.
326 Dan Zahavi
1 eine Sauferei, die Sie am Ende bewusstlos zurcklsst. Wenn Sie aus der Benebe-
2 lung wieder emporkommen, schmen Sie sich wegen Ihres Mangels an Selbstbe-
3 herrschung, ihrer Kapitulation vor dem, was Sie fr niedere Instinkte halten.
4 5. Sie sind zusammen mit einer Gruppe Gleichgestellter. Diese beginnen eine
5 politische Diskussion, und schnell bildet sich ein rassistischer Konsens, mit dem
6 Sie entschieden nicht einverstanden sind. Doch hindert Sie Ihre Angst vor
7 Scham, Ihre abweichende Meinung zu ußern, damit Sie nicht verlacht oder aus-
8 gegrenzt werden. Im Nachhinein freilich, allein mit sich, sind Sie tief beschmt
9 ber Ihre feige Haltung.
10 Gewiss zeigen diese Beispiele, dass Schamgefhl nicht die Anwesenheit eines
11 konkreten Beobachters erfordert. Doch wie steht es mit einem vorgestellten An-
12 deren? In vielen Fllen, wo das Scham erfahrende Subjekt allein und nicht in der
13 Gegenwart von Anderen ist, wird er oder sie die Perspektive der Anderen verin-
14 nerlicht haben, er oder sie wird Andere im Sinn haben, others in mind, um einen
15 Ausdruck von Philippe Rochat zu verwenden.25 Die unverkennbare Gefhlstç-
16 nung der Schamerfahrung enthlt hufig die berzeugung, dass Andere nicht so
17 gehandelt htten oder gewesen wren. An einer Aufgabe zu scheitern, die nie-
18 mand sonst bewltigen kçnnte, und von der auch niemand erwartet, dass Sie sie
19 bewltigen, wird weniger wahrscheinlich in einer Erfahrung von Scham enden.
20 Der imaginierte Andere wird daher nicht nur als ein kritischer Beobachter fun-
21 gieren, sondern auch als Punkt des Kontrasts oder Vergleichs. Betrachten Sie als
22 typischen Fall das erste Beispiel. Auch wenn die entstellte Person, die sich
23 schmt, wenn sie in den Spiegel schaut, allein ist, so denke ich, es wre eine natr-
24 liche Deutung, das Schamgefhl habe damit zu tun, dass die Person die Entstel-
25 lung als Stigma erfhrt, als etwas, das sie oder ihn von der Normalitt aus-
26 schließt.
27 Allerdings finden sich Einwnde gegen diese Beweisfhrung in verschiede-
28 nen neueren Publikationen von Deonna und Teroni: Deonna und Teroni behar-
29 ren darauf, dass wir sorgfltiger die verschiedenen Definitionen dessen auseinan-
30 derhalten sollten, was eine soziale Emotion ausmacht. Besteht die Behauptung
31 darin, dass 1) das Objekt der Scham spezifisch sozial ist – sei es entweder jemand
32 anderes oder unser eigener sozialer Status –, oder darin, dass 2) die Werte, die in
33 die Scham eingebunden sind, durch den Kontakt mit Anderen erworben wer-
34 den, dass 3) Scham stets erfordert, eine Außenperspektive auf uns selber einzu-
35 nehmen oder 4), dass Scham immer in einem sozialen Kontext stattfindet? Deon-
36 na und Teroni weisen alle diese Vorschlge grundstzlich zurck. Es ist in ihren
37 Augen recht unplausibel zu behaupten, es gebe stets reale oder vorgestellte Zu-
38 schauer, wenn wir uns schmen; auch trifft es ihrer Ansicht nach nicht zu, dass
39
40 25 Philippe Rochat: Others in mind: Social origins of self-consciousness. Cambridge 2009.
Scham als soziales Gefhl 327
1 Scham immer mit einer vermeintlichen Gefhrdung unseres sozialen Status ver-
2 bunden sei.26 Auch wenn das durchaus der Fall sein kann, wenn es zu dem
3 kommt, was sie als „oberflchliche Scham“ bezeichnen, ist das, was sie „tiefe“
4 Scham nennen, etwas, das wir als Resultat persçnlichen Versagens empfinden,
5 ganz ungeachtet der Bewertung durch Andere, zum Beispiel, wenn wir auf un-
6 ser eigenes moralisch widriges Verhalten reflektieren.27 Deonna und Teroni ru-
7 men als Nchstes ein, dass die bei Scham involvierten Werte zwar sozial erwor-
8 ben sein mçgen, aber sie argumentieren dafr, dass dies kaum hinreiche, um die
9 Behauptung zu rechtfertigen, Scham sei eine wesentlich soziale Emotion, zumal
10 die Aneignung von Werten, die bei anderen nicht-sozialen Emotionen eine Rolle
11 spielen, gleichermaßen sozial sei.28 Schließlich greifen Deonna und Teroni noch
12 den Aspekt des Perspektivenwechsels auf. Es sei, wie sie schreiben, unmçglich,
13 sich fr etwas zu schmen, in das man vollstndig eingetaucht ist. In diesem Sinn
14 beinhaltet Scham in der Tat die kritische Perspektive eines Begutachters. Aber
15 sie bestreiten, dass der Begutachter ein Anderer zu sein habe, oder dass der Per-
16 spektivenwechsel durch Andere motiviert werden msse. Vielmehr sei, und hier
17 kommen sie Lewis’ Ansicht nahe, der Perspektivenwechsel nur eine Frage der
18 Verschiebung vom unreflektierten Tter zum reflektierten Bewerter.29
19 Was ist dann ihr positiver Vorschlag? Ihrer Ansicht nach involviert Scham
20 eine negative bewertende Haltung zu sich selbst. Sie ist motiviert durch die Be-
21 wusstheit eines Konflikts zwischen einem Wert, auf den man verpflichtet ist,
22 und einem (Un-)Wert, exemplifiziert durch das, weswegen man sich schmt.30
23 Im engeren Sinne schlagen sie die folgende Definition von Scham vor: „Scham
24 ist das Bewusstsein des Subjekts, dass die Art, wie es ist oder handelt, so sehr in
25 Konflikt steht mit den Werten, die es umzusetzen sucht, dass es hierdurch an-
26 scheinend ausgerechnet dafr disqualifiziert wird, sich fr diesen Wert zu enga-
27 gieren, d. h. es empfindet sich als unfhig, ihn auch nur auf einer minimalen Ebe-
28 ne zu exemplifizieren.“31
29 Wie sollen wir nun diese verschiedenen Einwnde und nicht-sozialen Defini-
30 tionen von Scham bewerten? Deonna und Teroni sind sehr darauf bedacht, mit
31 einer Definition von Scham aufzuwarten, die alle eventuellen Flle abdeckt. Das
32 ist in gewissem Maß natrlich ein vollkommen respektables Unterfangen, doch
33
26 Julien A. Deonna, Fabrice Teroni: Is shame a social emotion? In: Anita Konzelman-Ziv,
34
35 Keith Lehrer, Hans Bernhard Schmid (Hg.): Self evaluation. Affective and social grounds of
intentionality. Dordrecht 2011. 193 – 212.; dies.: The self of shame. In: Mikko Salmela, Verena
36 E. Mayer (Hg.): Emotions, ethics, and authenticity. Amsterdam 2009. 33 – 50. 39.
27 Deonna, Teroni: Is shame a social emotion? 201.
37
28 Ebd. 195.
38 29 Ebd. 203.
39 30 Ebd. 206.
1 luft eine solche Orientierung auch Gefahr, uns ein zu undifferenziertes Bild der
2 Emotion zu prsentieren. Sie kçnnte uns eine Definition anbieten, die uns fr
3 wichtige Unterscheidungen blind macht. Ich glaube nicht, dass jemand bestrei-
4 ten wrde, Scham sei ein facettenreiches Phnomen, aber wie wir bereits gese-
5 hen haben, wrden einige weiter gehen und auf der Notwendigkeit einer Unter-
6 scheidung zwischen verschiedenen irreduziblen Formen der Scham bestehen –
7 wie Scham aus Schande oder Scham aus Taktgefhl, verbergende oder schtzen-
8 de, moralische und nicht moralische Scham oder Leibesscham und Seelenscham,
9 um nur einige der verfgbaren Kandidaten anzufhren.32
10 In Anbetracht dieser Lage mçchte ich von der gewagten, aber wohl auch allzu
11
ambitionierten Aufgabe Abstand nehmen, eine fest umrissene Definition von
12
Scham zu liefern; eine, die ihre notwendigen und hinreichenden Eigenschaften
13
festschriebe. Daher mçchte ich auch nicht versuchen, die Existenz von nicht-
14
sozialen Typen der Scham zu widerlegen; stattdessen behaupte ich lediglich,
15
dass es andere, wohl eher prototypische Formen der Scham gibt, die mit Hilfe
16
nicht-sozialer Bestimmungen nicht adquat verstanden werden kçnnen, und
17
dass der Versuch, eine nicht-soziale Definition von Scham aufzustellen, zwangs-
18
lufig etwas ganz Wesentliches verfehlt. Betrachten Sie fr den Anfang – und im
19
20
Folgenden werde ich mich hauptschlich auf Scham aus Schande konzentrieren
21
– diese fnf Beispiele:
22 1. Beim Verfassen Ihres neuesten Artikels machen Sie ausgedehnten Ge-
23 brauch von Passagen aus einem Essay eines wenig bekannten und unlngst ver-
24 storbenen Gelehrten. Nachdem Ihr Artikel publiziert worden ist, nehmen Sie an
25 einer çffentlichen Tagung teil, wo Sie plçtzlich des Plagiats bezichtigt werden.
26 Sie bestreiten das mit Nachdruck, aber der Anklger – Ihr Erzfeind aus dem In-
27 stitut – schafft unwiderlegbare Beweise herbei.
28 2. Sie werden von Ihren Altersgenossen verspottet, als Sie auf einer High-
29 School-Party in altmodischen Klamotten erscheinen.
30 3. Sie bewerben sich um eine Stelle und haben Ihren Freunden erzhlt, dass
31 Sie sicher seien, sie zu bekommen. Doch nach dem Bewerbungsgesprch, und in
32 Anwesenheit Ihrer Freunde, werden Sie durch das Bewerbungsgremium infor-
33 miert, dass Sie fr den Job einfach nicht qualifiziert sind.
34 4. Sie haben einen Krach mit Ihrer ungezogenen fnfjhrigen Tochter; schließ-
35 lich verlieren Sie die Geduld und langen ihr eine. Sie fhlen sich auf der Stelle
36
32 Siehe z. B. David P. Ausubel: Relationships between shame and guilt in the socializing
37
38 process. In: Psychological Review 62 (1955). 382; Bollnow: Ehrfurcht. 55 – 57; Richard H.
Smith, J. Matthew Webster, W. Gerrod Parrott, Heidi L. Eyre: The role of public exposure in
39 moral and nonmoral shame and guilt. In: Journal of Personality and Social Psychology 83
40 (2002). 138 – 159. 157.
Scham als soziales Gefhl 329
1 schuldig, doch dann bemerken Sie auf einmal, dass die Leiterin des Kindergar-
2 tens die ganze Szene beobachtet hat.
3 5. Sie haben eine neue romantische Beziehung begonnen. Nach einer Weile, in
4 einem intimen Moment, offenbaren Sie Ihre sexuellen Prferenzen. Ihre Enthl-
5 lung trifft auf den entgeisterten Blick Ihres Partners.
6 Wenn wir diese fnf Beispiele erwgen, wie plausibel ist es dann zu behaup-
7 ten, dass Andere fr die fragliche Emotion ganz akzidentell seien, und dass ge-
8 nau dieselbe Schamerfahrung auch im nicht-çffentlichen Rahmen htte eintre-
9 ten kçnnen? Ich halte einen solchen Vorschlag fr keineswegs einleuchtend.
10 Noch einmal, ich bestreite nicht, dass wir ber uns selbst zu Gericht sitzen und
11 als Ergebnis Scham empfinden kçnnen, doch ich denke, dass diese Art reuiger
12 selbstreflexiver Scham mit ihrem begleitenden Gefhl der Selbst-Enttuschung,
13 des Selbstelends oder gar Selbsthasses eine etwas andere intentionale Struktur
14 und Phnomenalitt hat als das Schamgefhl, das man in der Gegenwart Ande-
15 rer erleben kann. Im letzteren Fall gibt es ein gesteigertes Empfinden von Expo-
16 niertheit und Verletzlichkeit und den begleitenden Wunsch, sich zu verstecken
17 und zu verschwinden, unsichtbar zu werden, im Boden zu versinken. Auch
18
kommt es zu einer typischen Verengung des Fokus. Sie kçnnen sich nicht sorg-
19
sam den Details Ihrer Umgebung widmen, whrend Sie dieser Art vom Scham
20
unterworfen sind. Vielmehr tritt die Welt zurck, und das Selbst steht preisgege-
21
ben da. Wir stehen im Rampenlicht, ob wir wollen oder nicht. Auch die Art, wie
22
sich Scham im ußeren Verhalten manifestiert – zusammengesackte Haltung, ge-
23
senkter Kopf und Blickvermeidung –, unterstreicht die Zentripetalitt der Emo-
24
tion.
25
Diese Art von Scham durchbricht auch den normalen Fluss der Zeit. Wh-
26
rend die bereuende, selbstreflexive Scham rckwrts schaut und vergangenheits-
27
orientiert ist, whrend die Angst vor Scham – die in jedem Fall eher eine Disposi-
28
tion als ein sich ereignendes Gefhl sein mag – weitgehend antizipatorisch und
29
zukunftsorientiert ist, lsst sich die interpersonale Schamerfahrung, auf die ich
30
gerade mein Augenmerk richte, vielleicht am besten als „erstarrtes Jetzt“ („fro-
31
zen now“) charakterisieren.33 Die Zukunft ist verloren und das Subjekt auf den
32
33
gegenwrtigen Moment fixiert. Wie Sartre schreibt, erfahre ich mich in der
34
Scham als gefangen in der Faktizitt, als unheilbar der, der ich bin (anstatt als
35
jemanden mit Zukunftsperspektiven), als wehrlos angestrahlt von einem absolu-
36 ten Licht (ohne schtzende Intimsphre).34 In seiner Analyse der verschiedenen
37 ontologischen Dimensionen des Leibes fhrt Sartre fort, dass der Blick des Ande-
38 33 Vgl. Gunnar Karlsson, Lennart Gustav Sjçberg: The experiences of guilt and shame. A
39 phenomenological–psychological study. In: Human Studies 32 (2009). 335 – 355. 353.
40 34 Sartre: Being and nothingness. 286, 312.
330 Dan Zahavi
1 ren meine Kontrolle der Situation unterbreche.35 Statt einfach leiblich zu existie-
2 ren, statt einfach in meinen diversen Vorhaben aufzugehen und vertrauensvoll
3 mit der Umgebung zu interagieren, werde ich mir schmerzlich der Faktizitt
4 und der Prsenz meines Leibes bewusst. Ich werde mir bewusst, dass mein Kçr-
5 per etwas ist, auf das sich die Perspektiven der Anderen auswirken. Darum
6 spricht Sartre vom Leib als etwas, das mir auf allen Seiten entflieht, und als ein
7 fortwhrendes „Außen“ meines allerintimsten „Innen“.36 Whrend das Schuld-
8 gefhl hauptschlich auf die negativen Folgen fr Andere fixiert ist und den
9 Wunsch enthlt, die Tat ungeschehen zu machen, vielleicht auch zu wiedergut-
10 machenden Handlungen motiviert, lsst das akute interpersonale Schamgefhl
11 keinen Raum fr die Erkundung knftiger Erlçsungsmçglichkeiten.
12
13
14
4. berlegungen zur Entwicklung
15
16
In seiner Analyse beleuchtet Sartre die Wirkung des Blicks. Dessen Natur frei-
17
lich kann enorm variieren. Wie Straus aufzeigt, ist der Blick des Voyeurs so ver-
18
schieden von dem Blick, den Liebende tauschen, wie das rztliche Betasten vom
19
zrtlichen Streicheln.37 Sartres Analyse kann somit als einigermaßen einseitig kri-
20
tisiert werden. Wichtiger ist noch, dass Scham nicht nur durch den Blick der An-
21
deren ausgelçst werden kann, sondern auch durch ihr absichtliches bersehen
22
meiner Person. In seiner faszinierenden Studie Unsichtbarkeit diskutiert Honn-
23
eth verschiedene Akte absichtlicher Nichtwahrnehmung von der „harmlosen
24
Unaufmerksamkeit dessen, der einen Bekannten auf einer Party zu grßen ver-
25
gisst, ber die selbstvergessene Ignoranz des Hausherrn gegenber der Putzfrau,
26
die er wegen ihrer sozialen Bedeutungslosigkeit bersieht, bis hin zum demon-
27
strativen ,Hindurchsehen‘, das vom betroffenen Schwarzen nur als ein Zeichen
28
der Demtigung verstanden werden kann.“38
29
Honneth weist auf Forschungen zur frhen Kindheit hin, die nahelegen, dass
30
es eine Reihe von Ausdrcken Erwachsener gibt (etwa das liebevolle Lcheln,
31
die ausgestreckte Hand, das wohlwollende Zunicken), die das Kind wissen las-
32
sen, dass es der Empfnger von Aufmerksamkeit und Zuwendung ist, und argu-
33
mentiert dann, dass das Kind, indem es solche Ausdrcke rezipiert, sozial sicht-
34
bar werde. Dagegen bedeutet absichtliches Nichtwahrnehmen, also eine Person
35
36 35 Ebd. 289.
37 36 Ebd. 375.
37 Erwin W. Straus: Phenomenological psychology. The selected papers of Erwin W.
38
Straus. New York 1966. 219.
39 38 Axel Honneth: Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivitt. Frankfurt
40 and pride: Affect, sex and the birth of self. New York 1994.
332 Dan Zahavi
34 Osofsky (Hg.): Handbook of infant development. New York 21987. 419 – 493. 431.
45 Doris Bischof-Kçhler: Empathy and self-recognition in phylogenetic and ontogenetic
35
perspective. In: Emotion Review 4 (2012). 40 – 48. 41.
36 46 Doris Bischof-Kçhler: The development of empathy in infants. In: Michael E. Lamb,
37 Heidi Keller (Hg.): Infant development: Perspectives from German speaking countries. Hills-
38 dale 1991. 245 – 273. 245.
47 Bischof-Kçhler: Development of empathy. 254, 260.
39 48 Doris Bischof-Kçhler: Spiegelbild und Empathie. Die Anfnge der sozialen Kognition.
1 kind eine ganz normale Face-to-Face-Interaktion ein. Das wird abgelçst durch
2 eine Phase, in welcher der Erwachsene teilnahmslos wird und einen unbewegten
3 Ausdruck einnimmt (das reglose Gesicht). Diese starre Periode wird dann in der
4 Regel abgelçst durch eine weitere Phase normaler Face-to-Face-Interaktion.
5 Selbst im Alter von zwei Monaten zeigen Kleinkinder eine stabile Reaktion auf
6 das unbewegte Gesicht: Sie sind empfnglich fr solche Stçrungen sozialer Inter-
7 aktionen und versuchen, ihren sozialen Partner wieder zu reaktivieren, indem
8 sie lcheln, Laute von sich geben und gestikulieren. Wenn das aber fehlschlgt,
9 zeigen Sie Blickkontaktvermeidung und Kummer.53 Die generelle Interpretation
10 solcher Befunde ist nicht nur, dass etwas im Blick des Anderen vom Kind als so
11 bedeutsam empfunden werden muss, dass es starke emotionale Reaktionen
12 weckt, sondern auch, dass Kinder Erwartungen haben, auf welche Weise Face-
13 to-Face-Interaktionen ablaufen, und wie die angemessenen interaktiven Antwor-
14 ten der sozialen Partner beschaffen sein sollten.54
15 Statt also anzunehmen, die so genannten komplexeren Emotionen setzten ein
16 Selbstkonzept voraus und involvierten reflexive Selbstbewertung, statt die be-
17 treffenden Emotionen berhaupt selbstbewusste Emotionen zu nennen, ist es
18 vielleicht am Ende besser, sie als selbst-und-fremd-bewusste Emotionen zu be-
19 zeichnen, da sie uns ein relationales Sein bewusst machen und das Selbst-in-Rela-
20 tion-zum-Anderen betreffen.55 In ihrer frhesten Entwicklungsform sind es
21 Emotionen, welche die exponierte und interpersonale Natur des Selbst offenba-
22 ren, reguliert durch die Sichtbarkeit des Selbst als Objekt der Aufmerksamkeit
23 des Anderen. Das ist offenkundig ein ganz anderes, aber meiner Ansicht nach
24 weit angemesseneres Verstndnis dessen, worauf die exponierte Natur des Selbst
25 hinausluft, als die Erklrung, die Lewis anbietet.
26
27
28
29
5. Fazit
30
31
Lassen Sie mich schließen, indem ich auf die Frage zurckkomme, mit der ich
32
begonnen hatte: Was sagt uns die Tatsache, dass wir uns schmen kçnnen, ber
33
die Natur des Selbst? Welche Art von Selbst wird von Scham affiziert? Scham
34
bezeugt unsere Exponiertheit, unsere Verletzbarkeit und Sichtbarkeit, und sie ist
35 53 Edward Tronick, Heideliese Als, Lauren Adamson, Susan Wise, T. Berry Brazelton: Inf-
36 ants response to entrapment between contradictory messages in face-to-face interaction. In:
37 Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 17 (1978). 1 – 13.
54 Philippe Rochat, Tricia Striano: Social-cognitive development in the first year. In: Philip-
38
pe Rochat (Hg.): Early social cognition. Understanding others in the first months of life. Hills-
39 dale 1999. 3 – 34.
40 55 Reddy: Infants. 145.
Scham als soziales Gefhl 335
1 (es ist keineswegs so, dass wir uns nur schmen, weil wir das Gesicht verlieren,
2 oder dass die Bewertungen Anderer stets an dem beteiligt wren, was uns be-
3 schmt), so bleibt immer noch die Frage nach dem Verhltnis von intrapersona-
4 ler und interpersonaler Scham. Ich habe nicht nur die Behauptung zurckgewie-
5 sen, dass letztere auf die erste reduziert oder auf deren Grundlage erklrt werden
6 kçnne, sondern ich stimme auch mit jenen Philosophen und Entwicklungspsy-
7 chologen berein, die behaupten, dass intrapersonale Scham im Anschluss an in-
8 terpersonale Scham entsteht (und durch sie bedingt ist). Es ist mein Wahrneh-
9 men der Aufmerksamkeit des Anderen und meine nachfolgende
10 Verinnerlichung dieser fremden Perspektive, die es mir am Ende erlauben, gen-
11 gend Selbstdistanz zu gewinnen, um eine kritische Selbstbewertung zu ermçgli-
12 chen.
13 Ein nahe liegender Weg, die Gltigkeit dieser These weiter zu erkunden,
14 wre, sich Scham bei Individuen mit Autismus anzusehen. Angesichts ihrer so-
15 zialen Beeintrchtigungen, ihrem Mangel an Sorge, wie sie auf Andere wirken,
16 ihren Schwierigkeiten, sich selbst als Subjekte im Kopf der Anderen zu begrei-
17 fen, ließe sich erwarten, dass ihnen eine normale Erfahrung von Scham fehlen
18 msste. Leider wurde dieses Thema bislang nur sehr wenig systematisch er-
19 forscht. In einer Studie von 2006 haben Hobson und seine Mitarbeiter aber die
20 Eltern von kleinen Kindern befragt, ob die Kinder Scham zeigten. Nach ihren
21 Befunden ließ keines der autistischen Kinder eindeutig Scham erkennen, im Un-
22 terschied zur Mehrheit der Kinder in der Kontrollgruppe.59
23 Viel mehr msste ber Scham gesagt werden. Ein adquateres Verstndnis die-
24 ses komplexen Phnomens erforderte auch eine eingehende Analyse etwa ihres
25 entwicklungsmßigen Verlaufs (wie frh tritt sie auf, inwieweit hnelt kindliche
26 Scham – wenn sie existiert – der Scham des Erwachsenen, welche Rolle spielt sie
27
in der Adoleszenz etc.?) und ihrer kulturellen Besonderheiten (inwieweit unter-
28
scheiden sich schamauslçsende Situationen, die Schamerfahrung selbst und die
29
zur Verfgung stehenden Strategien zu ihrer Bewltigung von Kultur zu Kul-
30
tur?). Aber das sind keine Themen, die ich an dieser Stelle weiterverfolgen kçnn-
31
te. Lassen Sie mich zum Schluss nur feststellen: Ich glaube, die vorangegangene
32
Diskussion hat gezeigt, dass es fraglich ist, ob die Selbstrelation, die wir in der
33
Scham vorfinden, so in sich geschlossen und innengerichtet ist, wie Lewis sowie
34
Deonna und Teroni behaupten. Ich denke, dass prototypische Formen der
35
Scham lebhafte Beispiele fr fremdvermittelte Formen der Selbsterfahrung bie-
36
ten. Genauer gesagt, ich glaube, dass Scham – und andere Formen von „selbst-
37
und-fremd-bewussten Emotionen“ (self-other-conscious emotions), um Reddys
38
39 59 R. Peter Hobson, Gayathri Chidambi, Anthony Lee, Jessica Meyer: Foundations for
1 Tetsuya Sakakibara ist Professor fr Philosophie an der Universitt Tokio. Seine
2 Arbeitsbereiche liegen in der Phnomenologie, der Existenzialphilosophie und
3 der Philosophie des Caring. Buch: Die Genesis der Phnomenologie Husserls.
4 Eine Untersuchung ber die Entstehung und Entwicklung ihrer Methode (To-
5 kio 2009, in japanischer Sprache). Artikel: Das Problem des Ich und der Ur-
6 sprung der genetischen Phnomenologie bei Husserl. In: Husserl Studies 14
7 (1997). 21 – 39, sowie zahlreiche weitere Artikel zu Husserls Phnomenologie
8 und Caring.
9
10 Dr. Daniel Schmicking ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Studium Generale
11 der Johannes Gutenberg-Universitt Mainz. Seine Arbeitsbereiche liegen in der
12 Phnomenologie, insbesondere der auditiven Erfahrung und des Musizierens,
13 auch in Verbindung mit den Kognitionswissenschaften, und Schopenhauer.
14 Buch: Hçren und Klang. Wrzburg 2003; Herausgabe (zusammen mit S. Gallag-
15 her): Handbook of Phenomenology and Cognitive Science. Dordrecht 2010, so-
16 wie weitere Artikel berwiegend zur Phnomenologie und zu Schopenhauer.
17
18 L szl
Tengelyi ist Professor am Philosophischen Seminar der Bergischen Uni-
19 versitt Wuppertal und Vorsitzender des dortigen Instituts fr phnomenologi-
20 sche Forschung. Bcher: Der Zwitterbegriff Lebensgeschichte (Mnchen 1998),
21 L’exprience retrouve (Paris 2006), Erfahrung und Ausdruck. Phnomenologie
22 im Umbruch bei Husserl und seinen Nachfolgern (Dordrecht 2007), (zusam-
23 men mit Hans-Dieter Gondek) Neue Phnomenologie in Frankreich (Frankfurt
24 a.M. 2011), sowie die soeben erschienene Aufsatzsammlung L’experience de la
25 singularit. Essais philosophiques II (Paris 2014).
26
27 Dr. Maren Wehrle ist Assistentin am Husserl Archiv des Philosophischen Insti-
28 tuts der Katholischen Universitt Leuven. Ihre Arbeitsbereiche sind Phnome-
29 nologie, insbesondere Husserl und Merleau-Ponty, kognitive Psychologie und
30 historische Anthropologie. Buch: Horizonte der Aufmerksamkeit (Mnchen
31 2013). Artikel: Medium und Grenze: der Leib als Kategorie der Intersubjektivi-
32 tt. In: T. Breyer (Hg.): Grenzen der Empathie. Paderborn 2013. 217 – 238; Die
33 Normativitt der Erfahrung. In: Husserl Studies 26 (2010). 167 – 187, sowie wei-
34 tere Artikel zu den oben erwhnten Forschungsbereichen.
35
36 Dan Zahavi ist Professor fr Philosophie und Direktor des Zentrums fr Subjek-
37 tivittsforschung an der Universitt Kopenhagen. Arbeitsschwerpunkte: Phno-
38 menologie und Kognitionswissenschaft, Selbstheit, Selbstbewusstsein und Inter-
39 subjektivitt. Bcher: Husserl’s Phenomenology (Stanford 2003), Subjectivity
40 and Selfhood (Cambridge MA 2005) und (zusammen mit Shaun Gallagher) The
Autorenverzeichnis 343