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Phnomenologische Forschungen
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4 Phenomenological Studies
5 Recherches Phnomnologiques
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8 Im Auftrage der
9 Deutschen Gesellschaft fr phnomenologische Forschung
10 herausgegeben von
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13 KARL-HEINZ LEMBECK, KARL MERTENS

14 UND ERNST WOLFGANG ORTH

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17 unter Mitwirkung von
JULIA JONAS
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Jahrgang 2013
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THEMA : Soziale Erfahrung
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Herausgegeben von
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DIETER LOHMAR UND DIRK FONFARA
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39 FELIX MEINER VERLAG
40 HAMBURG
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34 Phnomenologische Forschungen · ISSN 0342 – 8117
35  Felix Meiner Verlag, Hamburg 2013. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nach-
drucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der bersetzung, vorbehalten. Dies be-
36 trifft auch die Vervielfltigung und bertragung einzelner Textabschnitte durch alle Ver-
37 fahren wie Speicherung und bertragung auf Papier, Film, Bnder, Platten und andere
Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrcklich gestatten. Druck und Bindung:
38 Druckhaus Beltz, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbestndig nach ANSI-
39 Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

40 Printed in Germany. www.meiner.de/phaefo


INHALT

Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

B E I TR  G E

Ralf Becker: Geteilte Intentionalitt und exzentrische Positionalitt: die


soziale Form der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
Thomas Bedorf: Die ,soziale Spanne’. Von Heideggers Mitsein zur
Sozialontologie Nancys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
Jagna Brudzinska: Mitvollzug und Fremdverstehen. Zur Phnomenologie
und Psychoanalyse der teilnehmenden Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
Marco Cavallaro: Der Beitrag der Phnomenologie Edmund Husserls zur
Debatte ber die Fundierung der Geisteswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . 111
Christian Ferencz-Flatz: Zum Phnomen der „Generation“.
Intersubjektivitt und Geschichte bei Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Shinji Hamauzu: Caring und Phnomenologie – aus der Sicht von Husserls
Phnomenologie der Intersubjektivitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
Dieter Lohmar: Zur Intentionalitt sozialer Gefhle. Beitrge zur
Phnomenologie der Scham unter dem Gesichtspunkt des menschlichen
und tierischen Denkens und Kommunizierens ohne Sprache . . . . . . . . . . . . 155
Karl Mertens: Perspektiven einer phnomenologischen Analyse
handlungskonstitutiver und sozialer Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
Karel Novotný: Die Genese einer Hresie. Epoch und Dissidenz bei Jan
Patočka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
Alice Pugliese: Subjektive und intersubjektive Genesis der Handlung . . . . . 155
Sonja Rinofner-Kreidl: Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht: Zu
Reichweite und ambivalenter Bewertung von (Selbst-)Vergebung . . . . . . . . 155
Inga Rçmer: Worin grndet ethische Verbindlichkeit? Zur Alternative von
diskursethischer und phnomenologischer Begrndungsstrategie . . . . . . . . 155
Tetsuya Sakakibara: Die Intentionalitt der Pflegehandlung . . . . . . . . . . . . 155
Daniel Schmicking: Zur Phnomenologie interpersonellen Handelns und
Bewusstseins. Eine exemplarische Analyse der Improvisation im Jazz . . . . 155
4 Inhalt

Lszl Tengelyi: Singularitt und Responsivitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155


Maren Wehrle: Konstitution des Sozialen oder Soziale Konstitution?
Gemeinschaftshabitualitt als Voraussetzung und Grenze sozialer
Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
Dan Zahavi: Scham als soziales Gefhl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
1 Vorwort
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Soziale Erfahrung ist in ihren vielfltigen Formen ein zentraler Dreh- und An-
6
gelpunkt zahlreicher Diskussionen der Phnomenologie in den letzten Jahrzehn-
7
ten und bis heute immer noch aktuell. Deshalb hat sich die Jahrestagung der
8
„Deutschen Gesellschaft fr phnomenologische Forschung“ (DGPF) 2013 die-
9
sem Thema in seiner ganzen Breite und mit unterschiedlichen phnomenologi-
10
schen Zugangsweisen gewidmet. Zu dieser internationalen Konferenz, die das
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Husserl-Archiv der Universitt zu Kçln in enger Kooperation mit der DGPF
12
vom 25. bis zum 29. September 2013 in Kçln veranstaltet hat, konnten etablierte
13
14
Phnomenologen mit Doktoranden und Postdoktoranden, die sich ber einen
15
Call for Papers um Sektionsvortrge bewerben konnten, ber die Grenzen meh-
16
rerer Fachrichtungen hinaus in einen fruchtbaren Gedankenaustausch gebracht
17
werden. Die große Teilnehmerzahl aus dem In- und Ausland besttigte, dass wei-
18 terhin ein bleibendes und lebendiges Interesse an den Fragen der Phnomenolo-
19 gie besteht. Gleichwohl wurde ebenso deutlich, dass diese von Husserl begrn-
20 dete Wissenschaft eine wandlungsfhige Disziplin ist, die sich auch auf neue
21 Herausforderungen und Themen einstellen kann und will.
22 Die inhaltlichen Aspekte der Konferenz, die sich in den ausgewhlten For-
23 schungsbeitrgen dieses Sammelbandes widerspiegeln, folgen weitgehend aus
24 dem Thema „Soziale Erfahrung“ und richten sich auf alle phnomenologisch zu-
25 gnglichen Bereiche unserer sozialen Beziehungen, seien diese nun gefhlt, real
26 oder imaginr. Ausgangspunkt ist dabei vielfach die Phnomenologie Edmund
27 Husserls, aber es wurden auch Analysen aus der Sicht Heideggers, Merleau-Pon-
28 tys, Ricoeurs und weiteren Vertretern der franzçsischen und amerikanischen
29 Phnomenologie diskutiert. Ein weiteres Anliegen jener Tagung bestand darin,
30 aufs Neue den Standort der Phnomenologie im Kontext der Gegenwartsphilo-
31 sophie und der interdisziplinren Forschung zu bestimmen. Die Phnomenolo-
32 gie hat mit der methodischen Erforschung des Bewusstseins aus der Perspektive
33 des selbst erlebenden Subjekts eine eigenstndige Zugangsweise zum Bewusst-
34 sein und eine eigene Methode, die sie klar von der Psychologie abgrenzt. Ihre
35 Ergebnisse stellen sich zudem oft als methodische Richtschnur und inhaltliche
36 Inspiration fr zahlreiche benachbarte Disziplinen heraus.
37 Andererseits gibt es heute viele Disziplinen, wie z. B. die Neurologie, die das
38 Denken mit naturwissenschaftlichen Methoden zu erforschen versuchen. Hier
39 steht das Denken jedoch nicht im Kontext der Erfahrung und der Motivation
40 einer Person, sondern wird eher als Element einer komplexen Kausalkette ange-

Phnomenologische Forschungen 2013 ·  Felix Meiner Verlag 2013 · ISSN 0342-8117


6 Vorwort

1 sehen, deren brige Elemente auch lediglich kausal bedingt sind. Aber – so sollte
2 man hier einwenden – wir kçnnen in dieser Welt der Physik nicht leben.
3 Hinsichtlich einer gewissen Konkurrenzstellung der Phnomenologie zu den
4 Naturwissenschaften – etwa zur Neurologie, die ja ebenfalls den Anspruch er-
5 hebt, etwas ber unsere sozialen Kompetenzen sagen zu kçnnen – muss man
6 einerseits die Warnung Husserls ernst nehmen, dass wir die Voraussetzungen der
7 Physik nicht einfach akzeptieren kçnnen, wie z. B. die Vorstellung einer univer-
8 salen Kausalitt. Denn die Evidenzen der Lebenswelt bleiben gegenber diesen
9 idealisierenden Voraussetzungen der Physik primr. Dies gilt auch fr die physi-
10 kalisierenden Wissenschaften vom Bewusstsein. Andererseits muss man gleich-
11 falls konzedieren, dass die Erforschung der Funktion und der Leistung des Ge-
12 hirns ein berechtigter Gegenstand naturwissenschaftlicher Untersuchungen ist.
13 Zudem sollte man auch als Phnomenologe dem Sinn dieser Forschungen nach-
14
gehen, um die Beziehungen zwischen den neurologischen Ereignissen und den
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selbst erlebten Bewusstseinsinhalten verstehen zu kçnnen. Selbst wenn wir
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durch die Resultate der Neurologie informiert sind, ist es gerade dann wichtig,
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auch die methodisch gesicherte, deskriptive Analyse aus der selbst erlebten In-
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nensicht des Bewusstseins mit phnomenologischen Methoden weiterzufhren.
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Die Phnomenologie ist eine eigenstndige Form der Empirie, die der neurologi-
20
schen Forschung aus der Dritte-Person-Perspektive gewissermaßen „entgegen-
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kommen“ muss, und zwar damit sie – gleichsam wie beim Tunnelbau von zwei
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Richtungen her – deren Ergebnisse im Rahmen einer intentionalen Psychologie
23
phnomenologischer Prgung sachangemessen interpretieren kann.
24
„Soziale Erfahrung“ ist ein Titel, der nur dann sinnvoll ist, wenn man sich auf
25
26
die personalistische Betrachtungsweise einlsst. Die meisten Erscheinungsfor-
27
men der Sozialitt finden sich nmlich in der alltglichen Lebenswelt des Men-
28 schen, d. h. in der Welt, in der wir Freunde haben, miteinander sprechen und
29 Verantwortung bernehmen, gelegentlich aber auch versagen. Hinsichtlich des
30 zentralen Status der Lebenswelt und ihrer Themen sowie hinsichtlich der Priori-
31 tt der personalistischen Einstellung gegenber der naturalistischen gibt es unter
32 den verschiedenen Richtungen der Phnomenologie einen breiten Konsens. Das
33 Verstehen der Motive Anderer und die Kommunikation mit ihnen ist eine der
34 grundlegenden Voraussetzungen fr den Weltbezug des Menschen berhaupt.
35 Denn wir sind keine solipsistischen Lebewesen.
36 Hieraus ergeben sich auf naheliegende Weise viele Dimensionen der Sozialitt
37 als Forschungsgebiet: das Verstehen der Anderen, eigene und fremde Leiblich-
38 keit, die Handlung des Einzelnen und der Gemeinschaft als Institution, pragma-
39 tische und ethische Maßstbe fr solche Handlungen in Ethik und Politik, die
40 unvermeidlichen Konflikte sowie deren Sinnniederschlge in der Person, die
Vorwort 7

1 Auseinandersetzung mit sich selbst, die Dimension des Gefhls und nicht zu-
2 letzt auch die Sorge um die Anderen.
3 Die Themenbereiche des Bandes ergeben sich weitgehend aus den verschiede-
4 nen Aspekten des Themas „Soziale Erfahrung“. Eine zentrale Rolle spielen die
5 unterschiedlichen Gesichtspunkte des Zugangs und Umgangs mit dem Ande-
6 ren.
7 Ein erster Themenbereich widmet sich dem Ich, der Person bzw. dem Sub-
8 jekt. Doch wird das Subjekt, um das es der Phnomenologie geht, nicht so ein-
9 heitlich vorgestellt wie z. B. das Subjekt des Rationalismus. Jenes Subjekt der
10 Konstitution ist zugleich immer selbst ein Erfahrungsfeld. Es weist viele dispara-
11 te Aspekte auf, es ist konstituiert und in Erfahrungen geworden. Obwohl in Hus-
12 serls transzendental ausgerichteter Phnomenologie von einem „transzendenta-
13 len Subjekt“ die Rede ist, so garantiert dieses Subjekt doch keine Einheitlichkeit.
14 Auch wenn man von dieser transzendentalen Zuspitzung absieht, ist das Subjekt
15 der Phnomenologie immer eines, das in Erfahrungen geworden ist. Es trgt die
16 Spuren und die aktuell wirksamen Einflsse der Anderen und der Gemeinschaft
17 in sich. Und umgekehrt stellt sich das Insgesamt der konstituierten Welt als ein
18 vielfach in Sinnbezgen verflochtenes Gebilde dar. Und das gilt entsprechend
19 auch fr das Ich oder Selbst.
20 Die Abhngigkeit von Anderen liegt nicht nur in der Geschichte des Einzel-
21 nen, sondern nimmt zuweilen auch eine praxisorientierte Form an, nmlich in
22 der helfenden Sorge um Alte, Kranke und geistig Behinderte. Ebenso in dieser
23 Hinsicht bietet die Phnomenologie etwas, hierber belehren uns die Beitrge
24 zum Thema „Caring“. Hier haben wir den englischen Titel ganz bewusst ge-
25 whlt, da eine solche Verbindung von Pflegewissenschaften und Phnomenolo-
26 gie sich erst in den letzten zwanzig Jahren vor allem in den Vereinigten Staaten
27 und in Asien etabliert hat.
28 Die innere Vielheit der „Stimmen“, die unser subjektives Leben charakteri-
29 siert, ist nicht nur ein Thema der Psychologie, sondern ebenfalls ein Thema der
30 phnomenologischen Sozialforschung in einem weiten Sinne. Wir kçnnen uns
31 z. B. fragen: Wie und auf welche Weise lebt sozusagen die „Stimme der Gemein-
32 schaft“ „in uns“ oder die von Anderen, uns nahe stehenden Personen? Auf wel-
33 che Weise leben die Erfahrungen von Abhngigkeit, ungewhlter Bindung, die
34 Hilflosigkeit, welche unsere frhe Kindheit prgt, im Erwachsenen weiter und
35 beeinflussen unsere alltglichen Gegenstandsbezge und Entscheidungen? Dies
36 sind keineswegs Fragen kausaler Abhngigkeit, sondern solche der motivierten
37 Entscheidung. Die Entscheidungen des Subjekts erfolgen stets unter dem Ein-
38 fluss der individuellen Erfahrungen, und sie fgen sich in die Geschichte der Er-
39 fahrung des Einzelnen ein. Diese Betrachtungsweise leitet zum nchsten The-
40 menbereich ber, zur Psychologie.
8 Vorwort

1 Die Psychologie ist eine Disziplin, die sich der empirischen Erforschung der
2 Person widmet, eine Psychologie jedoch, die erst umgedeutet und von den Res-
3 ten der Bildung einer naturalisierenden Theorie befreit werden muss. Besonders
4 wichtig ist in diesem Zusammenhang die Beziehung der Phnomenologie zu
5 dem dringlichen Desiderat der Erneuerung einer geisteswissenschaftlichen Psy-
6 chologie. Diese befindet sich heute leider an den Universitten auf dem Rck-
7 zug, und zwar zu Gunsten einer rein experimentellen Psychologie, die einem
8 naturwissenschaftlichen Paradigma verpflichtet ist. Diese Bewegung wird noch
9 zustzlich gefçrdert durch eine große Euphorie hinsichtlich der Aussagekraft
10 der aktuellen Neurologie. Die phnomenologischen Analysen der Erfahrungsge-
11 schichte des Subjekts, die ebenfalls tief in die Genesis der Person hineinfhren,
12 verbinden die Phnomenologie auch mit der Psychoanalyse. Die Leibbindung
13 des Subjekts ist ein weiterer wichtiger Wink der Phnomenologie fr die Psycho-
14 pathologie, der zur Zeit in vielfacher und fruchtbarer Weise aufgenommen wird.
15 Intersubjektive Beziehungen stehen in Gemeinschaften immer unter normie-
16 renden Regeln, so dass ebenso die Ethik zu den thematischen Bereichen sozialer
17 Erfahrung zhlt. Es sind nicht nur die Einzelnen, die handeln, sondern auch in
18 den politischen Interaktionen hçherstufiger Personalitten, wie Staat oder Staa-
19 tengemeinschaft, liegen relevante Handlungen. Dasselbe gilt fr die Beziehun-
20 gen der Vçlker und Kulturen untereinander.
21 Unsere kommunikativen und intentionalen Beziehungen zu Anderen werden
22 gleichfalls auf der Ebene des Gefhls thematisiert. Dabei bieten sich die sozialen
23 Gefhle wie Stolz, Scham, Mitleid, Liebe, Wut oder Hass besonders an. Diese
24 Untersuchungsrichtung wird zum Teil auch von der zeitgençssischen Analyti-
25 schen Philosophie verfolgt.
26 Die in diesen Band aufgenommenen Beitrge zeigen deutlich, dass uns zu-
27 gleich an einer Strkung der Interdisziplinaritt der phnomenologischen For-
28 schung gelegen ist. Dies scheint heute eine universale Forderung an alle Bereiche
29 des Wissens und Nachdenkens zu sein, und solche Forderungen kçnnen biswei-
30 len sogar als lstige Zwnge des universitren Alltags empfunden werden. Das
31 bedeutet allerdings nicht, dass diese Idee unsinnig ist. Denn man kann versu-
32 chen, die Interdisziplinaritt dort, wo sie sachangemessen ist, unaufgeregt und
33 produktiv zu realisieren.
34 Dem Streben nach einer sinnvoll bemessenen Bercksichtigung anderer Diszi-
35 plinen steht allerdings hufig ein bestimmtes Selbstverstndnis der Philosophie
36 im Weg: Sie begreift sich nmlich grundstzlich als Meta-Disziplin, die sich dem
37 Verstndnis dessen widmet, was in den positiven und in den angewandten Wis-
38 senschaften vor sich geht, deren eigener Beitrag aber auf einem hçheren, die Ur-
39 sprnge und die Begrndung der Wissenschaften erçrternden Niveau liegt und
40 deren letzter Maßstab in einer rationalen und zugleich menschlichen Praxis zu
Vorwort 9

1 suchen ist. Der Blick auf andere Disziplinen kçnnte daher als ein prinzipieller
2 Fehler, als eine Vermengung der Ebenen erscheinen. Selbstverstndlich lsst sich
3 diese Gefahr nie vçllig ausschließen, und sie muss angemessen bercksichtigt
4 werden. Denn wenn Philosophie so ausgefhrt wird, als ob ihre Aufgabe ledig-
5 lich darin bestnde, die berlegene Antwort der Naturwissenschaft fr die einfa-
6 chen Gemter der Geisteswissenschaftler verstndlich zu machen, dann verfehlt
7 sie ganz grundstzlich ihr eigenstes Ziel.
8 Darber hinaus wird Phnomenologie heute hufig so verstanden, als ob sie
9 generell eine kritische Haltung gegenber den Naturwissenschaften einnimmt.
10 Die Gefahren des Naturalismus fr das Selbstverstndnis des Menschen hat Hus-
11 serl oft und mit guten Argumenten herausgestellt: Die meisten Naturwissen-
12 schaften gehen, so Husserl, von starken, idealisierenden Annahmen ber ihren
13 Gegenstand aus, etwa die Vorstellung von einer universalen Kausalitt. Diese
14
Idealisierungen sind in der Physik sehr fruchtbar, aber wenn man sie auf die Ei-
15
genschaften von Subjekten fr die Welt (Menschen und Tieren) bertrgt, bedeu-
16
tet dies eine Verdeutung, da Subjekte nicht nach kausalen Prinzipien organisiert
17
sind. Subjekte haben vielmehr selbst einen aktiven Anteil an der Konstitution
18
von Welt, und darin liegt auch oft ein Freiheitsspielraum, der eine kausale Vor-
19
hersage unsinnig erscheinen lsst. Dazu kommt, dass die Leugnung der Freiheit
20
und der motivationalen Organisation von Subjekten ein ernstes Problem fr die
21
menschliche Praxis darstellen kann. Wird Freiheit geleugnet, macht z. B. Strafe
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keinen Sinn mehr, kann es nur noch Therapie und Prvention geben.
23
Husserl war aber nicht nur ein Kritiker der Wissenschaft, denn er sah ebenso,
24
dass die Phnomenologie auch erkenntnistheoretische Grundlagen fr andere
25
26
Wissenschaften bietet. Dies war sogar das ursprngliche Motiv fr die Ausbil-
27
dung seiner Phnomenologie: Er suchte nach Grundlagen fr Logik und Mathe-
28 matik. Die zeitgençssische Psychologie erlaubte jedoch nicht die Geltungsaus-
29 weisung von apriorischen Einsichten, und infolgedessen konnte die notwendige
30 Geltung logischer und mathematischer Erkenntnisse nicht verstndlich gemacht
31 werden. Die eidetische Methode der Phnomenologie hingegen bot fr diese
32 Problematik einen Ausweg.
33 Auch fr die anderen Wissenschaften – d. h. fr die Naturwissenschaft und
34 ebenso fr die Geisteswissenschaften – hat die Phnomenologie durchaus grund-
35 legende Begriffe und neue Zugangswege gefunden. So hat Husserls scheinbar
36 durchgngige Kritik an den Naturwissenschaften und ihren Idealisierungen nur
37 eine begrenzte Reichweite, die nicht mit einer generellen Ablehnung einhergeht.
38 Denn fr die Phnomenologie sind auch die Natur- und Geisteswissenschaften
39 Gegenstnde der Begrndung. Allerdings erweisen sich bei dieser Sichtweise die
40 Wissenschaften als prinzipiell gleichrangig mit den anderen lebensweltlichen
10 Vorwort

1 Kulturleistungen des Subjekts: gemeinsamen berzeugungen, Institutionen,


2 Werten, Kunst, Religion usw.
3 Entgegen der heute noch weit verbreiteten berzeugung, dass die „wahren“
4 Eigenschaften von Dingen sich erst im Blick der Naturwissenschaft zeigen, eta-
5 bliert Husserl eine andere Grundhaltung gegenber Leben und Wissenschaft:
6 die personalistische Einstellung. Hierdurch wird das menschliche Subjekt in den
7 Mittelpunkt gestellt. Untersucht wird die Weise, wie wir unsere Welt im Ganzen
8 konstituieren. Der Anfang dieser Leistungen ist eine gemeinschaftliche Konstitu-
9 tion von Raum und Zeit, gemeinsamer Dinge und deren Eigenschaften bis hin
10 zu den Wissenschaften. Die Wissensformen wechseln aber je nach dem Kontext,
11 in dem sie vorangetrieben werden. Die Entwicklung der neuzeitlichen Wissen-
12 schaften bildet in diesem Prozess eine wichtige Stufe, die aber zugleich mit ge-
13 wissen Verlusten verbunden ist: Wir vollziehen die Idealisierungen der Natur-
14 wissenschaften mit, haben aber vergessen, dass sie nur ber einen sehr
15 beschrnkten Geltungsradius verfgen. Das Problem besteht nmlich darin,
16 dass sie die grundlegende Schicht des Alltagswissens methodisch ausblenden,
17 auf der sich mundanes Wert- und Handlungswissen und letztlich auch die Wis-
18 senschaft selbst aufbaut. Wissenschaft ist und bleibt eine Institution im Rahmen
19 der praktischen Bewltigung der Welt.
20 Nach diesen Erluterungen zur inhaltlichen Konturierung dieses themati-
21 schen Sammelbandes zur sozialen Erfahrung sollen im Folgenden die einzelnen
22 Beitrge kurz charakterisiert werden.
23 Ralf Becker beschreibt die soziale Form der Vernunft zunchst ausgehend
24 von Helmuth Plessner anhand der exzentrischen Positionalitt menschlicher
25 Mitverhltnisse und danach mit Blick auf Michael Tomasellos These von der ge-
26 teilten Intentionalitt verbaler wie nonverbaler Verstndigung. Die Ergebnisse
27 empirischer Wissenschaft dienen dabei nicht der Begrndung, sondern der Erlu-
28 terung der These, dass menschliche Vernunft auf den gemeinsamen Hintergrund
29 einer kulturellen Praxis bezogen ist, der erst Reflexion ermçglicht. Schließlich
30 wird auch Tomasellos evolutionre Erklrung menschlicher Kognition einer Kri-
31 tik unterzogen, deren Schwerpunkt auf dem ,naturalistischen Fehlschluss‘ von
32 logischen auf ontologische Bedingungen bzw. von kulturellen Handlungen auf
33 natrliche Tatsachen liegt: Kulturelle Ttigkeiten entscheiden ber natrliche
34 ,Tatsachen‘ und nicht umgekehrt.
35 Thomas Bedorf hebt hervor, dass, obgleich die Rezeption Heideggers in der
36 Sozialphilosophie berwiegend zurckhaltend bis ablehnend gewesen sei, viele
37 der franzçsischen Beitrge zur Sozialphilosophie des 20. Jahrhunderts ohne die
38 wegweisenden begrifflichen und hermeneutischen Grundlegungen Heideggers
39 nicht zu verstehen seien. Jean-Luc Nancys kritische Anknpfung an Heideggers
40 Mitsein ist Bedorf zufolge deswegen von besonderer Qualitt, weil sie – moti-
Vorwort 11

1 viert durch die von Heidegger in diesem Begriff angelegte Neigung zum Vçlki-
2 schen – die soziale Bezogenheit des Daseins als singulre Pluralitt radikalisiert.
3 Bedorf zeichnet diesen Weg nach und verweist dabei zugleich auf eine Heideg-
4 ger und Nancy gemeinsame Schwierigkeit, nmlich die Unterbestimmung der
5 Alteritt zu Gunsten der Singularitt.
6 Jagna Brudzińska widmet sich der Frage nach der Erfahrung des Anderen
7 und zielt darauf ab, die Leistungsstruktur dieser Erfahrung als teilnehmende Er-
8 fahrung intentionalgenetisch auszulegen. Einleitend werden Sinn und Bestim-
9 mungsmerkmale der genetischen Analyse skizziert und das Erfahrungsbewusst-
10 sein der genetischen Zusammenhnge als leiblich-emotives Phantasie-
11 bewusstsein thematisiert. Auf diesem Hintergrund werden Grunddimensionen
12 des phnomenologischen Zugangs zum Anderen differenziert: der reflexive ana-
13 logisierende Zugang der so genannten Einfhlung, die vorreflexive Gestalt der
14 direkten leiblichen Nachahmung als synchrones Mit-Fhlen in intersubjektiver Parti-
15 zipation und schließlich der unmittelbare fusionsartige Mitvollzug als sympathetische
16 Partizipation. Diese tiefere und genetisch ursprnglichere Stufe wird als Grundge-
17 stalt einer teilnehmend-individuierenden Erfahrung herausgestellt. Hierbei wer-
18 den entwicklungspsychologische, kognitivistische, neurowissenschaftliche und vor al-
19 lem psychoanalytische Ergebnisse bercksichtigt. Die Psychoanalyse entwickelt
20 (implicite) ein anspruchsvolles Konzept der teilnehmenden Erfahrung. Ihre Er-
21 gebnisse wurden bisher weder von den Kognitionswissenschaften noch von der
22 Phnomenologie selbst hinreichend untersucht. Es sind vor allem die psychoana-
23 lytischen Modelle der gleichschwebenden Aufmerksamkeit, des trumerischen
24 Ahnungsvermçgens sowie die dynamischen Prozesse von bertragung und Ge-
25 genbertragung, die fr die Phnomenologie der teilnehmenden Erfahrung von
26 Bedeutung sind. Die Individuation der Person berhrt ebenfalls in vielen Aspek-
27 ten die genetische Dimension der intersubjektiven Erfahrung. Mit diesem inter-
28 disziplinren Ansatz vertritt Jagna Brudzińska die These, dass wir erst dann von
29 Fremderfahrung als einer besonderen und fr die Wissenschaften vom Men-
30 schen zentralen Form der sozialen Erfahrung sprechen kçnnen, wenn wir eine
31 eigentmlich polare Struktur des teilnehmenden Vollzugs intentionalgenetisch
32 erfasst haben, entsprechend welcher das Ein- oder Nachverstehen erst in Bezug
33 auf das ursprngliche sympathetische Mitfhlen realisiert wird und werden
34 kann. Darin wird auch die Mçglichkeit fr die Zweite-Person-Perspektive gege-
35 ben.
36 Marco Cavallaro beabsichtigt, den Beitrag der Phnomenologie Husserls fr
37 die Diskussion ber die Fundierung der Geisteswissenschaften zu skizzieren.
38 Zunchst wird diese Debatte umrissen, um den philosophisch-historischen Hin-
39 tergrund verstndlich zu machen, in den Husserls Nachdenken ber die Bezie-
40 hung zwischen Phnomenologie und Geisteswissenschaften eingebunden ist.
12 Vorwort

1 Danach wird Husserls originrer Beitrag zu dieser Debatte erçrtert und bewer-
2 tet, wobei insbesondere die von ihm neu eingebrachten Begriffe und Denkmoti-
3 ve nher betrachtet werden, nmlich die regionale Ontologie und die personalis-
4 tische Einstellung. Abschließend wird der von Husserl vertretene Vorrang der
5 Geisteswissenschaften und des Geistes als deren Korrelat gegenber den Natur-
6 wissenschaften dargelegt.
7 Christian Ferencz-Flatz weist auf zwei Stellen von Sein und Zeit hin, an de-
8 nen Heidegger den Begriff der „Generation“ nachdrcklich anfhrt und sich
9 Miteinandersein (d. h. Intersubjektivitt) und Geschichte kreuzen, wobei Dil-
10 they als Urheber jenes Terminus genannt wird. Der Autor erlutert zunchst
11 den Unterschied zwischen Heideggers und Diltheys Auffassung der Generation
12 mittels einer Gegenberstellung ihrer Konzeptionen von Geschichte. Im Aus-
13 gang davon versucht er, den bei Heidegger nur sprlich behandelten Generati-
14 onsbegriff konkret im Sinne seiner existenzialen Analytik auszuarbeiten, indem
15 zum einen Heideggers Begriff des Mitgeschehens herangezogen wird, in dem
16 sich ausdrcklich die Themenbereiche der Intersubjektivitt und der Geschicht-
17 lichkeit verschrnken, und zum anderen der in Sein und Zeit nur kurz erwhnte
18 Zusammenhang der Begriffe Mitbefindlichkeit, Mitverstehen und Mitteilung
19 ausfhrlich interpretiert wird.
20 Shinji Hamauzus Anliegen besteht darin, eine Brcke zwischen der Praxis
21 und dem Selbstverstndnis des Caring und der Phnomenologie zu schlagen.
22 Brentanos Charakterisierung der Intentionalitt ist hierfr noch nicht brauch-
23 bar. Husserl ist jedoch in den Logischen Untersuchungen, den Ideen I und den
24 Ideen II Schritt fr Schritt ber Brentano hinausgegangen. In den Ideen II las-
25 sen sich bereits weiterfhrende und fr die Diskussion des Caring geeignete Ein-
26 stellungsunterschiede finden, nmlich die „naturalistische“ Einstellung auf die
27 Natur und die personalistische Einstellung auf die Person. Dabei wird der Ande-
28 re einmal als Dritte Person und dann personalistisch als Zweite Person aufge-
29 fasst, so dass sich ber den Gegensatz von Curing und Caring auch ein Weg zur
30 Klrung der komplexen Intentionalitt des Caring andeutet. Zu deren weiterer
31 Aufklrung bestehe aber noch die Aufgabe, auch Husserls Texte zu Intersubjek-
32 tivitt, Lebenswelt und Ethik heranzuziehen.
33 Phnomenologische Analysen zeigen, dass es in sozialen Gefhlen wie Stolz
34 und Scham immer Bezge auf mich selbst und meine Gemeinschaft mit ihren
35 Normen gibt. Dieter Lohmar will aufweisen, dass durch die Einbeziehung von
36 Evolutionstheorie und Primatologie neben der phnomenologischen Analyse so-
37 zialer Gefhle die Funktion des çffentlichen, aber weitgehend nicht-sprachli-
38 chen Beschmungsaktes als Mitteilung gruppenspezifischer Normen deutlich
39 wird. Scham und Stolz stellen bei Menschen und wohl auch bei Hominiden und
40 Primaten nicht-sprachlich die Erkenntnis dar, ob meine Handlung mit den Nor-
Vorwort 13

1 men der Gemeinschaft konform ist oder nicht. Auf diese Weise werden zudem
2 einige der Mçglichkeiten unseres Schamerlebens verstndlich, die ansonsten nur
3 schwer eingeordnet werden kçnnen, etwa, dass wir uns fr Andere schmen kçn-
4 nen oder dass wir uns z. B. fr ein Merkmal schmen kçnnen.
5 Karl Mertens versucht in seinem Artikel, Erfahrungen des Normativen als
6 Formen einer sozialen, im Wesentlichen kommunikativen Praxis zu rekonstruie-
7 ren. Dafr werden insbesondere zwei Typen von Normen analysiert: handlungs-
8 konstitutive und soziale. Bezglich der handlungskonstitutiven Normen wird
9 dafr argumentiert, dass Normativitt keine dem Handeln nachgeordnete Di-
10 mension ist, auf Grund deren der bereits etablierte Bereich des Handelns zum
11 Gegenstand prskriptiver Ordnungen wird. Der Bezug auf Normen ist viel-
12 mehr fr die Bestimmung von Handlungen als Handlungen konstitutiv. Um
13 dies zu zeigen, wird eine askriptivistische Auffassung vertreten, gemß der
14
Handlungen und die fr sie konstitutiven Normen ihre Bestimmtheit in sozialen
15
Zuschreibungssituationen gewinnen, in denen wir uns mit anderen ber das,
16
was wir tun, verstndigen. Die wesentliche Funktion sozialer Normen besteht
17
darin, die gesellschaftliche Ordnung zu erhalten, indem ordnungsgefhrdende
18
Handlungen sozial sanktioniert werden. In dieser Hinsicht sind soziale Normen
19
von bloßen Konventionen und Bruchen abzugrenzen, die nicht mit einem Sank-
20
tionsrisiko verbunden sind. Darber hinaus mssen soziale Normen von institu-
21
tionellen und moralischen Normen unterschieden werden.
22
Karel Novotný stellt einige Variationen des „hretischen“ bzw. „dissidenten“
23
Moments im philosophischen Denken Jan Patočkas vor. Dieses Moment ist die
24
Freiheit, die aus einer Art Epoch in dem allgemeinen Sinn des Ereignisses eines
25
26
In-Distanz-versetzt-Seins zur gegebenen Welt hervorgeht, um in ein Verhltnis
27
zur Welt im Ganzen zu treten, was anhand einiger philosophischer Anstze im
28 Werk Patočkas illustriert wird. Das Musterbeispiel – wirkungsgeschichtlich,
29 aber auch systematisch gesehen – fr diese Freiheit, die denkerisch und lebens-
30 praktisch auszutragen ist, stellt fr Patočka die sokratische Sorge um die Seele
31 dar, von deren Ausgang her sich fr ihn sogar die Eigenart der europischen Ge-
32 schichte begreifen lsst. Zum Schluss wird angedeutet, wie diese philosophische
33 Idee der Freiheit auf die Dissidenz im spezifischen Sinn der Opposition gegen
34 eine totalitre politische Macht wirkt.
35 Alice Pugliese rekonstruiert einen phnomenologischen Ansatz zum Pro-
36 blem der Handlung, der ber die Debatte zu Kausalitt und Antikausalitt hin-
37 ausgeht. Die phnomenologische Erfahrungsanalyse legt eine Pluralitt von Mo-
38 tivationsquellen frei, die von den passiven Leistungen der Kinsthesen und des
39 Triebes bis zu dem komplexen Zusammenwirken von personaler und interperso-
40 naler Intentionalitt reichen. Die praktische menschliche Dimension lsst sich
14 Vorwort

1 somit nicht auf ein streng teleologisches und entscheidungsbezogenes Modell


2 reduzieren.
3 Sonja Rinofner-Kreidl befasst sich mit der Vergebung, die gemeinhin als ein
4 interpersonelles Geschehen in der Nachfolge gravierender Schdigungshandlun-
5 gen verstanden wird. Das philosophische Interesse an Vergebung hngt, so ein
6 weithin vertretener Konsens, an der Frage ihrer Rechtfertigung und ihrer Gren-
7 zen. Die Verfasserin vollzieht im Hinblick darauf einen Standpunktwechsel, in-
8 dem sie den Fokus weder auf Fremdvergebung noch auf die Rechtfertigungsfra-
9 ge legt, sondern das Thema primr unter dem Gesichtspunkt der
10 Selbstvergebung analysiert. Ferner geht sie der Leitfrage nach, ber welche F-
11 higkeiten ein Subjekt verfgen muss, um als Subjekt von Vergebungsakten auf-
12 treten zu kçnnen. Basierend auf einem relationalen Konzept des Selbst werden
13 folgende Thesen entwickelt: (i) Selbstvergebung ist primr eine Selbstverpflich-
14 tung und erst sekundr gefhlshafter Natur. (ii) Hinsichtlich der involvierten
15 Gefhle ist von einer Gefhlsverflechtung auszugehen sowie von der Notwen-
16 digkeit, verschiedene Erfahrungsschichten wie intentionale Gefhle, Stimmun-
17 gen und emotionale Grundbefindlichkeiten zu unterscheiden. iii) Selbstverge-
18 bung tritt in zwei grundlegenden Erscheinungsformen auf: als unselbstndiges,
19 begleitendes Moment in Akten der Fremdvergebung und als eigenstndiges Ph-
20 nomen, welches in Analogie zur Fremdvergebung zu verstehen ist. iv) Das in
21 allen Formen und Manifestationen von Vergebung enthaltene Kernthema des
22 Vertrauens verweist auf die Grenzen der rationalen Begrndbarkeit von Soziali-
23 tt, daher kçnnen einige Flle der Vergebung als ein kollektives moral bootstrap-
24 ping beschrieben werden.
25 Inga Rçmer vertritt in ihrem Beitrag die These, dass sich die Strategien der
26 Begrndung ethischer Verbindlichkeit in der Diskursethik und in der phno-
27 menologischen Alterittsethik grundlegend voneinander unterscheiden und die-
28 se beiden Anstze daher nicht ohne Weiteres integriert werden kçnnen. Die Au-
29 torin weist diese These aus, indem sie zeigt, inwiefern die Diskursethik mit einer
30 Argumentationsfigur arbeitet, die Kant im dritten Abschnitt der Grundlegung
31 zur Metaphysik der Sitten verwendet, whrend sich die phnomenologische Al-
32 terittsethik auf eine wesentlich davon abweichende Argumentationsfigur aus
33 der Kritik der praktischen Vernunft sttzt. Angesichts dieser Alternative sucht
34 sie deutlich zu machen, dass der alterittsphnomenologischen Argumentations-
35 figur letztlich eine grçßere berzeugungskraft im Hinblick auf die Begrndung
36 ethischer Verbindlichkeit zukommt.
37 Tetsuya Sakakibara zielt in seiner Untersuchung darauf ab, die Struktur der
38 Intentionalitt der Pflegehandlung mit Hilfe der Phnomenologie Husserls auf-
39 zuklren und somit zur Entwicklung einer phnomenologischen Theorie der
40 Krankenpflege beizutragen. Sakakibara fasst zuerst die phnomenologischen
Vorwort 15

1 Analysen des Wollens und Handelns zusammen, die Husserl in seinen Vorlesun-
2 gen vom Sommersemester 1914 ber Grundfragen zur Ethik und Wertlehre ent-
3 faltet hat. Dann geht er auf Husserls berlegungen zu der Beziehung zwischen
4 Intentionalitt und Motivation in den Ideen II ein. Obwohl jene Analysen ei-
5 gentlich nicht auf das Phnomen der Pflegehandlung bezogen sind, wendet der
6 Verfasser seine Analysen Schritt fr Schritt auf die Pflege an und versucht, einige
7 Strukturmomente der Intentionalitt der Pflegehandlung herauszuarbeiten.
8 Daniel Schmicking erfasst in seinem Beitrag, anknpfend an Schtz’ Analyse
9 des gemeinsamen Musizierens, in einem ersten Schritt die Typen intentionaler
10 Akte, die gemeinsames Musizieren in einer Face-to-Face-Situation ermçglichen.
11 In einer detaillierteren Deskription, die auch empirische Studien bercksichtigt,
12 wird dann die enge Interaktion beim gemeinsamen Improvisieren im Jazz erlu-
13 tert. Face-to-Face-Beziehung in Echtzeit, ausgedehnte gemeinsame Aufmerk-
14 samkeit, Synchronisierung und Grooving, harmonisch-komplementres Inein-
15 andergreifen der individuellen Handlungen, synchrone Emotionalitt und
16 Hçrbarkeit des Geistes umschreiben dabei eine Dimension des Erlebens, die als
17 interpersonelles, partielles Verschmelzen charakterisiert wird. Abschließend
18 wird knapp die Frage beantwortet, warum Formen solchen Verschmelzens we-
19 nig wahrgenommen werden, und wie es stattdessen zur Illusion des inneren, un-
20 hçrbaren Mentalen kommt.
21 Lszl Tengelyi untersucht den Zusammenhang von Singularitt und Respon-
22 sivitt. In dem Sprachgebrauch, der sich mit den Arbeiten von Bernhard Walden-
23 fels auch in der deutschsprachigen Philosophie verbreitet hat, wird unter „Re-
24 sponsivitt“ die Unausweichlichkeit des Antwortens auf fremde Ansprche
25 verstanden. Aus den Werken von Emmanuel Levinas geht dazu hervor, dass die
26 Singularitt des Selbst mit der so verstandenen Responsivitt untrennbar zusam-
27 menhngt. Wie kann jedoch das Verhltnis von beidem genauer bestimmt wer-
28 den? Die Singularitt des Selbst wird sicher nicht erst durch das Antworten auf
29 fremde Ansprche erzeugt. „Singularitt“ ist vielmehr ein subjektivittstheoreti-
30 scher Begriff, der in der Urdifferenz zwischen Subjekt und Mitsubjekt oder dem
31 Selbst und dem Anderen verankert ist. Sie bekundet und verfestigt sich aller-
32 dings im Antworten auf fremde Ansprche. Diese Beobachtung leitet zu der
33 These hin, die Laszlo Tengelyi hier vertritt: Die Responsivitt macht die Singula-
34 ritt des Selbst zwar nicht erst berhaupt mçglich, aber sie macht sie fr das
35 Selbst erst berhaupt erfahrbar. Damit erweist sich der Zusammenhang zwi-
36 schen Singularitt und Responsivitt als ein phnomenologischer.
37 Maren Wehrle beabsichtigt, eine implizite Ebene sozialer Erfahrung, eine pas-
38 sive Konstitution des Sozialen aufzuzeigen: Ausgangspunkt hierfr soll das Kon-
39 zept einer Gemeinschaftshabitualitt sein. Es wird dafr argumentiert, dass die-
40 se als Voraussetzung fr hçhere Stufen sozialer Erfahrung bzw. Handlungen
16 Vorwort

1 dient. Sie ermçglicht ein vorprdikatives Verstndnis anderer Subjekte innerhalb


2 derselben Heimwelt und erleichtert soziale Handlungen. Zugleich wird aber
3 auch die Einfhlung und soziale Interaktion mit Subjekten erschwert, die einer
4 anderen Gemeinschaft oder Kultur angehçren: Die gleichen Prozesse und Me-
5 chanismen, die so zur Kontinuitt und Identitt einer sozialen Gemeinschaft ge-
6 hçren, kçnnen auf diese Weise auch zu Normierung und Ausschluss Anderer
7 fhren. Das gemeinsame Umfeld, die gemeinsame Tradition fungiert hier als
8 eine soziale Konstitution, die jede weitere Erfahrung leitet. Gemeinschaftshabi-
9 tualitt als implizite Ebene sozialer Erfahrung hat insofern nicht nur eine ermçg-
10 lichende, sondern auch eine beschrnkende Funktion.
11 Dan Zahavi beschftigt sich mit der Scham. Fr viele Anstze gilt Scham als
12 eine Emotion, die auf das Ich als Ganzes abzielt und diese Intention auch ent-
13 hlt. Mit der Scham wird das Selbst als Ganzes entwertet, es fhlt sich besch-
14 digt, verletzlich und verdammt. Die Grundfrage, die Zahavi aufwirft, ist: Was
15 sagt die Tatsache, dass wir uns schmen kçnnen, ber die Natur des Selbst aus?
16 Bezeugt Scham, dass ich einen Begriff meiner selbst besitze, dass ich mein
17 Selbst-Ideal verfehlt habe, dass ich die Fhigkeit zur kritischen Selbstbewertung
18 besitze? Oder weist Scham darauf hin – wie einige Interpretationen nahe gelegt
19 haben –, dass das Selbst zum Teil eine soziale Konstruktion ist? Weiterhin will
20 Zahavi klren, ob Scham primr eine selbstbewusste Emotion ist oder als eine
21 bestimmte soziale Emotion verstanden werden sollte.
22 Abschließend sei allen, die bei der Entstehung dieses Bandes mitgewirkt ha-
23 ben, unser besonderer Dank ausgesprochen, in erster Linie Marie Weber, M.A.,
24 und Klaus Sellge, M.A. Fr die Aufnahme in die „Phnomenologischen For-
25 schungen“ als thematisches Sonderheft danken wir ebenfalls recht herzlich den
26 Herausgebern Prof. Dr. Karl-Heinz Lembeck, Prof. Dr. Karl Mertens (Wrz-
27 burg) sowie Prof. Dr. Ernst-Wolfgang Orth (Trier) und dem Verlag Felix Mei-
28 ner fr die ebenso professionelle wie unkomplizierte und harmonische Zusam-
29 menarbeit im Zuge der Drucklegung.
30
31 Kçln, im Mrz 2014 Die Herausgeber
32
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38
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40
1 Ralf Becker
2
3
4 Geteilte Intentionalitt und exzentrische Positionalitt:
5 die soziale Form der Vernunft
6
7
8
9
10 Handeln und Vernunft gehçren ihrem Wesen nach zusammen.1 In politischer
11 Hinsicht hat bereits Aristoteles dieses Verhltnis beschrieben. Der Mensch lebt
12 wie andere Tiere auch in Gemeinschaft, aber anders als diese richtet er seine
13 Handlungen an Vorstellungen von Gut und Schlecht, Gerecht und Ungerecht
14 usw. aus, ber die er sich mittels Sprache verstndigt. Das Besondere an der
15 menschlichen Form des Zusammenlebens ist also, dass die Ausprgung der sozia-
16 len Gemeinschaft in einer Gemeinschaft (koinnia) von Vorstellungen oder ge-
17 nauer: in einem gemeinsamen Sinn (aisthÞsis, lat. sensus communis) fr die ge-
18 nannten Unterschiede grndet. Dies macht die Gemeinschaft zu einer polis, die
19 darum „der Natur nach frher [ist] als die Familie und als der einzelne Mensch,
20 weil das Ganze frher sein muß als der Teil.“2 Das Gemeinwesen setzt sich nicht
21 einfach aus individuellen oder familiren Zellen zusammen – vielmehr bildet es
22 den begrifflichen und normativen Kontext, in dem berhaupt erst das Wesen des
23 Individuellen wie des Partikularen und ihre jeweilige Reichweite fasslich wer-
24 den kçnnen. Entsprechend bilden wir den Begriff des Privaten negativ aus dem
25 des ffentlichen, jedermann Zugnglichen. Die Ethik ist fr Aristoteles deshalb
26 eine politische Wissenschaft, weil der Horizont fr die Bestimmung des Guten
27 von der polis gezogen wird. Deren ethische und rechtliche Verfassung bestimmt
28 ber die Mçglichkeit des guten, das heißt tugendhaft gefhrten Lebens. Ohne
29 Tugend ist der Mensch „das ruchloseste und roheste […] Geschçpf. Die Gerech-
30 tigkeit aber ist ein staatliches Ding. Denn das Recht ist nichts anderes als die in
31 der staatlichen Gemeinschaft herrschende Ordnung, und eben dieses Recht ist
32 es auch, das ber das Gerechte entscheidet.“3 Das zoon logon echon ist eine Art
33 der Gattung zoon politikon. Deshalb folgt bei Aristoteles die Erluterung des-
34
1 Unter Vernunft verstehe ich im Folgenden ganz allgemein mit Schopenhauer im Gegen-
35
satz zum bloßen Verstand die Fhigkeit, aus anschaulichen Vorstellungen abstrakte Begriffe zu
36 gewinnen, die als solche wiederum Handlungen oder Unterlassungen motivieren kçnnen. Un-
37 ter Handeln fasse ich, ebenfalls sehr allgemein, nach Thomas von Aquin jeden actus humanus
38 im Gegensatz zum bloßen actus hominis, d. h. jede Ttigkeit, die von einer voluntas deliberata
bestimmt ist.
39 2 Aristoteles: Politik. 1253a 19 – 20. bers. von Eugen Rolfes. Hamburg ND 1995. 5.

40 3 Aristoteles: Politik. 1253a 36 – 39. 5 f.

Phnomenologische Forschungen 2013 ·  Felix Meiner Verlag 2013 · ISSN 0342-8117


18 Ralf Becker

1 sen, was (praktische) Vernunft vermag, der Bestimmung des menschlichen Han-
2 delns in einer Mitwelt. Hannah Arendt, die im Handeln das genuin Menschliche
3 sieht, interpretiert den logos demgemß als das „Miteinander-Sprechen“ von
4 Brgern, die in Rede und Gegenrede Argumente tauschen.4
5 Aus dieser aristotelischen Einbettung der Vernunft in eine Gemeinschaft
6 wird in der neuzeitlichen Erkenntnistheorie das Erkenntnissubjekt herausge-
7 nommen. Das meditierende Ich kann sich nur seines eigenen Denkens sicher
8 sein. Der denkende Andere ist mir mittels sinnlicher Wahrnehmung gegeben
9 und daher erkenntnistheoretisch grundstzlich fragwrdig. Wenn es darum
10 geht, ein vernnftiges Wesen von einer Maschine bzw. einem Tier – was fr Des-
11 cartes bekanntlich das gleiche ist – zu unterscheiden, gibt es nur zwei Anhalts-
12 punkte: Mein Gegenber muss mir sagen kçnnen, was er meint, und aus Ein-
13 sicht handeln kçnnen, was sich fr mich an der kreativen Vielseitigkeit seiner
14 Problemlçsungsstrategien zeigt. Sprache und instrumentelle Vernunft sind die
15 beiden Kriterien fr die Erkenntnis „wahrer Menschen“.5 Echtes Sprachvermç-
16 gen im Gegensatz zum bloßen Zeichengebrauch definiert fr Descartes die F-
17 higkeit, „Worte auf verschiedene Weisen“ zu ordnen, „um auf die Bedeutung
18 alles dessen“, was in der Gegenwart des betreffenden Subjekts von mir „laut wer-
19 den mag, zu antworten“. Diese Universalitt kennzeichnet auch die Vernunft als
20 solche. Sie ist ein „Universalinstrument, das bei allen Gelegenheiten zu Diensten
21 steht“, whrend es unwahrscheinlich ist, „daß es in einer einzigen Maschine ge-
22 ngend verschiedene Organe gibt, die sie in allen Lebensfllen so handeln lie-
23 ßen, wie uns unsere Vernunft handeln lßt.“6 Descartes’ egologisches Erkenntnis-
24 modell macht die soziale Mitwelt begrndungslogisch abhngig von mir selbst
25 als denkender Monade.
26 Das substanzmetaphysische Cogito reduziert schließlich Kant funktional auf
27
„ein bloßes Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet. Durch dieses Ich, oder Er,
28
oder Es (das Ding), welches denkt, wird nun nichts weiter, als ein transzendenta-
29
les Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, welches nur durch die Gedanken, die
30
seine Prdikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den
31
mindesten Begriff haben kçnnen“.7 Das Subjekt der reinen Vernunft verhlt sich
32
transzendentalphilosophisch gegenber personaler Deklination vçllig indiffe-
33
rent. Es ist das eigenschaftslose Ich (oder Er oder Es) eines Niemands (x). Jeder
34
Versuch, das kantische Vernunftsubjekt erkenntnistheoretisch mit Pluralitt
35
36 4Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom ttigen Leben. Mnchen 82010. 37.
37 5Ren Descartes: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaft-
38 lichen Forschung. V, 10. bers. von Lder Gbe. Hamburg 1996. 93.
6 Ren Descartes: Von der Methode. 93. (meine Hervorhebung).
39 7 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. B 404. Hrsg. von Raymund Schmidt. Ham-

40 burg 1990. 374.


Geteilte Intentionalitt und exzentrische Positionalitt: die soziale Form der Vernunft 19

1 gleichsam aufzuladen, muss daher scheitern. Ganz anders hingegen liegen die
2 Dinge in der empirischen Psychologie. Fr die Pathologie der seelischen Erkran-
3 kungen ist Kant zufolge das „einzige allgemeine Merkmal der Verrcktheit“:
4 „der Verlust des Gemeinsinnes (sensus communis) und der dagegen eintretende
5 logische Eigensinn (sensus privatus), z. B. ein Mensch sieht am hellen Tage auf
6 seinem Tisch ein brennendes Licht, was doch ein anderer Dabeistehende[r] nicht
7 sieht, oder hçrt eine Stimme, die kein anderer hçrt. Denn es ist ein subjektiv-
8 notwendiger Probierstein der Richtigkeit unserer Urteile berhaupt und also
9 auch der Gesundheit unseres Verstandes: daß wir diesen auch an den Verstand
10 anderer halten, nicht aber uns mit dem unsrigen isolieren und mit unserer Privat-
11
vorstellung doch gleichsam çffentlich urteilen.“8 Differentialdiagnostisch bietet
12
Kant noch spezifische Stçrungen des Verstandes, der Urteilskraft sowie der Ver-
13
nunft an („tumultuarische“, „methodische“ und „systematische Verrckung“) –
14
allen gemeinsam ist jedoch eben jener Verlust des Gemeinsinns. Salopp formu-
15
liert: die Privatisierung des Denkens macht verrckt. Denn die allgemeine Men-
16
schenvernunft ist eine çffentliche Einrichtung, die auch fr mein Handeln in der
17
Mitwelt die notwendigen Rationalittskriterien liefert.
18
Kant unterscheidet zwischen der empirischen Erkenntnis und der transzen-
19
20
dentalphilosophischen Erkenntnis des Empirischen berhaupt.9 Letztere ist da-
21
durch definiert, dass sie die Formen untersucht, die immer schon an der Erfah-
22 rung beteiligt sind, ohne aus ihr selbst abgeleitet werden zu kçnnen. Im
23 Folgenden mçchte ich nicht ber soziale Erfahrung als eine Art von empirischer
24 Erkenntnis sprechen, sondern ber die Form des Sozialen im Sinne der Erkennt-
25 nis des Empirischen berhaupt oder krzer: ber das Soziale als Apriori. Es geht
26 mir um die soziale Form der Vernunft selbst, die ich in drei Schritten erlutern
27 mçchte: Zuerst werde ich mit Hilfe von Helmuth Plessners Begriff der exzentri-
28 schen Positionalitt die formale Welthaltigkeit der Vernunft skizzieren, zu der
29 die Mitweltlichkeit des Menschen bereits gehçrt (I). Danach wende ich mich der
30 empirischen Anthropologie Michael Tomasellos zu, der „die verborgene psycho-
31 logische Infrastruktur menschlicher Kommunikation durch eine Betrachtung
32 der natrlichen Gesten des Menschen und ihrer Funktionsweise offenzulegen“10
33 versucht und damit eine Beschreibung der sozialen Form menschlicher Vernunft
34 vorlegt (II). Tomasello belsst es allerdings nicht bei einer Formbeschreibung,
35 sondern ist an einer Erklrung der „Ursprnge“ von Kognition und Kommuni-
36
8 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. § 50. Hrsg. von Reinhard
37
38 Brandt. Hamburg 2000. 127.
9 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. B 401. 372.
39 10 Michael Tomasello: Die Ursprnge der menschlichen Kommunikation. bers. von Jr-

40 gen Schrçder. Frankfurt a.M. 2011. 119.


20 Ralf Becker

1 kation interessiert. Dabei unterluft ihm ein begrndungslogischer Fehler, den


2 ich abschließend als naturalistischen Fehlschluss kurz diskutieren werde (III).
3
4
5 I. Welthaltige Vernunft: exzentrische Positionalitt
6
7 „Wollte mich jemand fragen, worin Kants Antwort auf die Frage, was der
8 Mensch sei, in Kurzform bestanden htte, msste ich zu der salopp erscheinen-
9 den Antwort greifen: Der Mensch ist die verbilligte Volksausgabe der Ver-
10 nunft.“11 Auch wenn Hans Blumenberg mit dieser Aussage wohl etwas ber-
11 treibt, bleibt festzuhalten, dass Kant in seiner Vernunftkritik zwar von der
12 menschlichen Vernunft ausgeht, es ihm aber gerade nicht auf die anthropologi-
13 sche Differenz ankommt. Der Mensch ist terminus a quo und nicht terminus ad
14 quem der Erkenntnistheorie. Genau umgekehrt verhlt es sich mit Plessners Be-
15 antwortung der Frage nach dem Menschen. Sein terminus a quo ist die erkennt-
16 nistheoretische Beschreibung des Wahrnehmungsobjekts als solchen, um aus ihr
17 den Leitbegriff seiner weiteren Untersuchung zu gewinnen, die vom organi-
18 schen Leben berhaupt zur menschlichen Lebensform im Besonderen fhrt.
19 Der Begriff des Doppelaspekts ebnet den Weg zur „exzentrisch-positionalen“
20 Struktur des spezifisch menschlichen Weltverhltnisses, das Plessner nach Au-
21 ßenwelt, Innenwelt und Mitwelt differenziert betrachtet.12 Mir kommt es hier
22 auf zweierlei an: Erstens beschreibt Plessner mit der Exzentrizitt die Form der
23 Vernunft als Reflexion. Zweitens folgt diese Formbestimmung nicht einer empi-
24 rischen, sondern einer rein strukturellen Begrndung, die aus der Struktur zen-
25 trischer Positionalitt die Mçglichkeit exzentrischer Positionalitt ableitet und
26 im Menschen sozusagen nur die Verwirklichung dieser Mçglichkeit identifi-
27 ziert. Zentrische Positionalitt bedeutet, dass ein Objekt fr ein Subjekt gegeben
28 ist, exzentrische Positionalitt hingegen, dass das Subjekt in einem Verhltnis zu
29 diesem Subjekt-Objekt-Verhltnis und damit zur Gegebenheit des Objekts
30 selbst steht.
31 Da die zentrische Positionalitt in die exzentrische eingebettet ist, spricht
32 Plessner jeweils von einem Doppelaspekt, in dem wir Außenwelt, Innenwelt
33 und Mitwelt perspektiviert erleben. So nehmen wir Dinge und Ereignisse einer-
34 seits konzentrisch auf unseren eigenen Kçrper als absolutes Zentrum bezogen
35 wahr: Sie befinden sich vor oder hinter uns, ber oder unter uns, rechter oder
36
11 Hans Blumenberg: Beschreibung des Menschen. Aus dem Nachlass hrsg. von Manfred
37
38 Sommer. Frankfurt a.M. 2006. 501.
12 Vgl. Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die
39 philosophische Anthropologie. GS 4. Hrsg. von Gnter Dux, Odo Marquard und Elisabeth
40 Strçker. Frankfurt a.M. 1981. 365 – 382.
Geteilte Intentionalitt und exzentrische Positionalitt: die soziale Form der Vernunft 21

1 linker Hand, sie waren eben noch da und sind es jetzt nicht mehr, oder wir erwar-
2 ten sie noch. Andererseits kçnnen wir Dingen, unseren eigenen Kçrper einge-
3 schlossen, auch exzentrisch GPS-Koordinaten zuweisen und Ereignisse nach
4 Uhrzeit und Kalender terminieren. In dieser Außenwelt gibt es keinen absolu-
5 ten Ort mehr, sondern nur noch relative Raum- und Zeitverhltnisse. Sich selbst
6 in dieser Weise exzentrisch von außen zu sehen, beherrscht bereits jedes Schul-
7 kind, das sich im Sitzplan der Lehrerin eintrgt. Die exzentrische Struktur der
8 Außenwelt besteht in einer Beobachtung des eigenen Standortes als Aufenthalts-
9 ort eines beliebigen, austauschbaren Kçrpers.
10 Ebenso wie die physische Welt der Objekte erleben wir auch die psychische
11 unserer Erlebnisse unter einem Doppelaspekt: zum einen konzentrisch auf ein
12 aktuelles Befinden bezogen. Jederzeit ist mir irgendwie zumute, und alles das,
13
was ich hier und jetzt empfinde, erlebe und denke, kann ich weder delegieren
14
noch kann ich mich seinem Einfluss auf mein Handeln radikal entziehen. Zum
15
anderen kenne ich mich exzentrisch als jemanden mit einem ganz bestimmten
16
Temperament, mit Anlagen und Charaktereigenschaften, die auch von anderen
17
erfasst werden kçnnen, mçglicherweise sogar besser als von mir selbst. Die In-
18
nenwelt ist daher keineswegs eine nur von ,innen‘, exklusiv mir selbst zugngli-
19
che Sphre, vielmehr dringt mir meine Persçnlichkeit, nach einem Worte
20
Freuds, aus allen Poren, was ja gerade die Mçglichkeit therapeutischer Konsulta-
21
tion belegt. Und nur eine Person kann anderen oder auch sich selbst etwas vor-
22
machen. Die exzentrische Struktur der Innenwelt zeigt sich ebenfalls schon im
23
kindlichen Rollenspiel, wenn das Kind so tut, als ob es jemand anderes wre.
24
25
Schließlich erscheint auch die Mitwelt unter einem Doppelaspekt: Einerseits
26
erlebe ich egozentrisch mein Ich als das unvertretbare Selbst, das ich bin und
27 dessen Erhaltung ich handelnd betreibe. Andererseits kenne ich das eigene Ich
28 exzentrisch „in der Wir-Form“.13 Bemerkenswert an Plessners Beschreibung der
29 Mitwelt ist die Primordialitt dieser Wir-Form, die sich nicht additiv aus einzel-
30 nen Personen zusammensetzt, sondern „jeder Aussonderung in der ersten, zwei-
31 ten, dritten Person Singularis und Pluralis zugrunde liegt.“14 In der Mitwelt ist
32 „das Mitverhltnis zur Konstitutionsform einer wirklichen Welt des ausdrckli-
33 chen Ich und Du verschmelzenden Wir geworden“.15 Plessner greift Hegels Be-
34 griff des Geistes auf, um diese eigentmliche Sphre zu bezeichnen, die es „nur
35 als Einen Menschen“, aber eben nicht als Ich (cogito), sondern nur als Wir gibt.16
36 Anders als Scheler, der zur gleichen Zeit den Menschen ber den Geist definiert,
37
38
13 Plessner: Die Stufen des Organischen. 377.
14 Ebd. 377.
39 15 Ebd. 382.
40 16 Ebd. 378.
22 Ralf Becker

1 betont Plessner den originr pluralen Charakter dieses Prinzips. Wenn daher die
2 „Mçglichkeit der Objektivation seiner selbst und der gegenberliegenden Au-
3 ßenwelt […] auf dem Geist“ beruht, dann heißt das nichts anderes, als dass die
4 außen- wie innenweltliche Exzentrizittsstruktur durch die mitweltliche be-
5 dingt ist.17 Sich selbst als Kçrper unter Kçrpern bzw. als Person mit verschiede-
6 nen Rollen zu reflektieren, spiegelt (reflektiert) noch einmal die Reflexion von
7 Mitverhltnissen in einem Wir-Bewusstsein.
8 In einer Mitwelt zu leben, bedeutet demnach, dass Mitverhltnisse als solche
9 zum Bewusstsein kommen; es bedeutet, nicht bloß konzentrisch in einer sol-
10 chen Relation zu stehen, sondern exzentrisch die eigene Position im Mitverhlt-
11 nis zu entfalten und zu erfassen.18 „Die geschlossene Organisationsform des tie-
12 rischen Lebewesens gestattet die Konstitution eines eigenen Mitfeldes im
13 Unterschied zum Umfeld nicht. Seine Artgenossen, seine ,Mittiere‘ bilden fr
14 das Tier keine besonders ausgezeichnete und begrenzte Umgebung. Sie sind mit
15 dem Umfeld als Ganzem verschmolzen und werden daher in ihm sinnentspre-
16 chend behandelt.“19 Hier ist daran zu erinnern, dass Plessner in erster Linie
17 Strukturprinzipien (konzentrische und exzentrische Positionalitt) und erst
18 dann tierische und menschliche Lebensformen unterscheidet. Das exzentrische
19 Weltverhltnis ist ein Verhltnis zu einem Verhltnis. Zum exzentrischen Struk-
20 turprinzip gehçrt die Form der Reflexion, welche die Form der Vernunft ist und
21 offenbar eine primordiale ,Wir-Intentionalitt‘ (Searle) aufweist.
22
23
24
25 II. Tomasellos Beschreibung der sozialen Form menschlicher Vernunft
26
27 Der Begriff der Intentionalitt ist doppeldeutig: Erkenntnistheoretisch be-
28 zeichnet er die Ausrichtung eines Bewusstseinsaktes auf einen Bewusstseinsge-
29 genstand, handlungstheoretisch hingegen die Ausrichtung eines Handlungsak-
30 tes auf eine Handlungsabsicht (ein Ziel) nach Handlungsmotiven. Plessner legt
31 mit seiner Beschreibung der exzentrischen Positionalitt als Geist im Sinne der
32 Mitwelt strker den Akzent auf die Bewusstseinsform. Tomasello hingegen inter-
33 essiert sich unter dem Gesichtspunkt der ,geteilten Intentionalitt‘ mehr fr die
34 Handlungsform. Beiden Formbeschreibungen gemeinsam ist erstens die reflexi-
35 ve Struktur und zweitens die Hypothese, dass einige intentionale Akte (in bei-
36 den Bedeutungen) insofern „irreduzibel sozial“ sind, als „der Akteur der Inten-
37
38 17 Ebd. 379.
39 18 Vgl. ebd. 381.
40 19 Ebd. 381.
Geteilte Intentionalitt und exzentrische Positionalitt: die soziale Form der Vernunft 23

1 tionen und Handlungen das Pluralsubjekt ,wir‘ ist.“20 Die These lautet nun: Fr
2 das Verstehen von Gestik und Sprache muss man immer schon das Pluralsubjekt
3 ,wir‘ voraussetzen, das nicht aus der einfachen Addition zweier Singularsubjekte
4 (,ich‘ und ,du‘ oder ,er / sie / es‘) hervorgeht.
5 Am besten lsst sich dies anhand von Tomasellos eigenen Beispielen erlu-
6 tern:
7 (1) „Ein Mann in einer Bar will noch etwas trinken; er wartet, bis der Barkee-
8 per ihn anschaut, und zeigt dann auf sein leeres Schnapsglas. Soll heißen: Richte
9 deine Aufmerksamkeit auf das leere Glas; flle es bitte mit Schnaps.“21 (deikti-
10 sche Geste/Zeigegeste)
11 (2) „Der Sicherheitsbeamte am Flughafen bewegt seine Hand im Kreis, um
12 mir zu sagen, daß ich mich umdrehen soll, damit er meinen Rcken scannen
13
kann. Soll heißen: Stell dir vor, daß dein Kçrper diese Bewegung macht; mache
14
diese Bewegung.“22 (ikonische Geste/Gebrdenspiel)
15
(3) In einem entwicklungspsychologischen Experiment spielten ein Erwachse-
16
ner und ein 18 Monate altes Kleinkind ein Spiel, „bei dem ein Gegenstand gefun-
17
den werden sollte. Bei diesem Spiel verkndete der Erwachsene irgendwann sei-
18
ne Absicht, ,das Toma zu finden‘. Er suchte dann in einer Reihe von Eimern, die
19
alle neue Gegenstnde enthielten (wobei er einige mit schiefem Blick aussortier-
20
te und ersetzte), bis er denjenigen fand, den er haben wollte (was durch ein L-
21
cheln und die Beendigung der Suche angezeigt wurde). Die Kinder lernten das
22
neue Wort Toma fr den Gegenstand, der durch das Lcheln des Erwachsenen
23
angezeigt wurde“. Ebenfalls mit 18 Monaten konnten Kleinkinder „bei einem
24
25
hnlichen Spiel den vom Erwachsenen intendierten Gegenstand sogar dann iden-
26
tifizieren […], wenn sie ihn selbst nie sahen“.23 (Sprechakt, Spracherwerb)
27 Alle drei Beispiele fhren vor die Grenze der Sprache: Das erste schildert eine
28 (scheinbar) einfache Zeigegeste, das zweite eine Gebrde (ikonische Geste) und
29 das dritte die Szene eines Worterwerbs. Whrend Gesten in der gelingenden
30 Durchfhrung die sprachliche Artikulation ersetzen, fhrt das Suchspiel im letz-
31 ten Beispiel allererst an den Gebrauch der Sprache heran. Und doch demonstrie-
32 ren auch diese parasprachlichen Flle eine elaborierte Struktur der Verstndi-
33 gung, die sowohl reflexiv als auch irreduzibel sozial ist. Der Barkeeper, der
34 Fluggast und das 18 Monate alte Kleinkind verstehen, dass der Andere (Mann in
35 der Bar, Sicherheitsbeamter, Erwachsener) die Absicht hat, dass sie ihre Auf-
36 merksamkeit auf etwas richten: die Leere eines Glases, die von der fremden
37
38
20 Tomasello: Ursprnge. 83 (meine Hervorhebung).
21 Ebd. 74.
39 22 Ebd. 78 f.
40 23 Ebd. 172 f.
24 Ralf Becker

1 Handbewegung angedeutete eigene Kçrperdrehung, einen unbekannten Gegen-


2 stand, den das Kind nicht einmal selbst zu Gesicht bekommen muss. Reflexiv ist
3 dieses Verstehen, weil der Verstehende sich selbst von der Stelle des Anderen her
4 denken kann (Perspektivitt). Sozial ist diese Art von Verstehen, weil sie die ge-
5 meinsame Absicht voraussetzt, einander zu verstehen, womit eine gemeinsame
6 Aufmerksamkeit auf die zu verstehende Sache verbunden ist (Intersubjektivitt).
7 Perspektivitt bedeutet, eine Sache oder ein Ereignis von unterschiedlichen
8 Standpunkten aus betrachten zu kçnnen. Da ein imaginrer Rollentausch (Per-
9 spektivenwechsel) vollzogen wird, setzt Perspektivitt immer schon (strukturel-
10 le) Intersubjektivitt voraus. Tomasello konstruiert mit Hilfe von Grices Begriff
11 der kommunikativen Absicht meistens Zweierkonstellationen, die dann eine re-
12 kursive Syntax aufweisen: Ich will, dass Du weißt, das ich etwas von Dir will.
13 Oder: Ich verstehe, dass Du die Absicht hast, dass ich meine Aufmerksamkeit
14 auf x richte. Oder: Ich weiß, dass Du weißt, dass ich weiß, dass… Oder: Ich
15 sehe, dass er sieht, dass ich sehe, dass … Die Pointe an dem, was Tomasello je-
16 doch in seinen eigenen Fallstudien herausarbeitet, liegt vielmehr in einem primor-
17 dialen Wir, das dem wechselseitigen Hin und Her zwischen einem Ich und ei-
18 nem Du oder einem Ich und einem Er/Sie/Es noch vorgelagert ist. Hierbei
19 handelt es sich durchaus nicht um ein zeitliches, sondern um ein logisches Ver-
20 hltnis: Weder der Barmann noch der Fluggast noch das Kleinkind versteht die
21 jeweilige Geste, wenn es nicht einen gemeinsamen Hintergrund gibt, von dem
22 her sie ihre Bedeutung empfngt. Es ist jeweils der Hintergrund einer kulturel-
23 len Praxis: In einer Bar werden Getrnke ausgeschenkt, und solange der Gast
24 zahlt, ist es die Aufgabe des Barkeepers, ihm nachzuschenken. Vor Betreten ei-
25 nes Flugzeuges muss man sich einer Sicherheitskontrolle unterziehen, zu der
26 auch bestimmte Kçrperbewegungen gehçren. Das Suchspiel setzt eine Praxis
27 des Suchens und Findens voraus, in die das Lcheln als Anzeige des Gefundenha-
28 bens gehçrt.
29 „Also nur weil Menschen in der Lage sind, zusammen mit anderen verschiede-
30 ne Formen eines gemeinsamen begrifflichen Hintergrunds zu konstruieren, kçn-
31 nen sehr einfache ikonische und Zeigegesten verwendet werden, um auf komple-
32 xe Weisen zu kommunizieren; das geht weit ber das hinaus, was
33 Menschenaffen mit ihren Intentionsbewegungen und ihren Gesten der Aufmerk-
34 samkeitserheischung kommunizieren kçnnen. Wenn der gemeinsame Hinter-
35 grund besonders gut bestimmt ist, kann man in vielen Fllen mit einfachen Ges-
36 ten durchaus so leistungsfhig kommunizieren wie mit der Sprache.“24 Die
37 Bedingung des gemeinsamen Hintergrundes ist wesentlich fr das Gelingen ges-
38 tischer wie symbolischer Verstndigung. Als komplexen Fall nennt Tomasello
39
40 24 Ebd. 92 f.
Geteilte Intentionalitt und exzentrische Positionalitt: die soziale Form der Vernunft 25

1 die nonverbale Kommunikation zwischen einer Zahnrztin und ihrer Arzthelfe-


2 rin whrend einer Behandlung. Hier kann gemeinsames Wissen sehr weitgehend
3 aufwendige sprachliche Erklrungen ersetzen.
4 Die Leistung der Sprache besteht darin, dass sie die Standpunktreflexion sym-
5 bolisch inkorporiert: Jedes Symbol „verkçrpert“ „eine besondere Perspektive
6 auf einen Gegenstand oder ein Ereignis […] Dieser Gegenstand ist zugleich eine
7 Rose, eine Blume und ein Geschenk. Die perspektivische Eigenart sprachlicher
8 Symbole vervielfacht auf unbegrenzte Weise die Spezifizitt, mit der sie einge-
9 setzt werden kçnnen, um die Aufmerksamkeit der anderen zu steuern“.25 Das
10 Symbol tritt damit an die Stelle des Anderen, von dessen Standpunkt her ich den
11 Gegenstand denken kann. Es tritt außerdem an die Stelle seiner Absicht bezg-
12 lich meiner Aufmerksamkeit, die stattdessen vom Symbol selbst gelenkt wird.
13 Indem nun aber auch Gesten und Gebrden in den gemeinsamen begrifflich be-
14 stimmten Hintergrund einer kulturellen Praxis eingebettet sind, ist das beschrie-
15 bene symbolische Stellvertretungsverhltnis das (und zwar logisch) ursprngli-
16 che. Nach dem Gesagten kçnnen Gesten und Gebrden Sprache um so
17 effektiver ersetzen (das heißt, sie setzen sie voraus), je besser der gemeinsame
18
Hintergrund bestimmt ist.
19
Darin, „daß er es den Menschen ermçglicht, ber ihre eigene egozentrische
20
Perspektive auf die Welt hinauszugehen“,26 erinnert der gemeinsame Hinter-
21
grund an Plessners Wir als ,Einen Menschen‘ (oder an Gehlens Institutionen
22
oder, von Tomasello auch ausdrcklich genannt, an Wittgensteins Lebensfor-
23
men). Er ist aufs Engste mit dem verknpft, was Tomasello geteilte Intentionali-
24
tt (shared intentionality) nennt. In erkenntnistheoretischer Hinsicht bedeutet
25
geteilte Intentionalitt gemeinsame Aufmerksamkeit (joint attention) vor einem
26
gemeinsamen begrifflichen (symbolischen) Hintergrund: So wie wir vis--vis un-
27
sere Blicke auf einen Gegenstand koordinieren kçnnen, so koordinieren Symbo-
28
le verschiedene Sichtweisen auf Gegenstnde und Ereignisse. Beide Koordinati-
29
onsleistungen gelingen nicht ohne ein gemeinsames Wissen, eine geteilte
30
Erfahrung und eine kulturelle Praxis, in die jede individuelle Intention eingebet-
31
tet ist und ohne die sie zwar anschaulich gesttigt sein mçchte, aber begrifflich
32
33
leer bliebe. In handlungstheoretischer Hinsicht heißt geteilte Intentionalitt die
34
gemeinsame Absicht, erfolgreich zu kommunizieren aus der grundlegenden Mo-
35
tivation heraus, andere zu informieren und mit ihnen Einstellungen, Gedanken
36 und Gefhle zu teilen. Gerade der letztgenannte Aspekt ist Tomasello wichtig,
37 da er in der Kooperationsfhigkeit und im Kooperationsbedrfnis ein anthropo-
38 25 Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evoluti-
39 on der Kognition. bers. von Jrgen Schrçder. Frankfurt a.M. 2006. 140.
40 26 Tomasello: Ursprnge. 87.
26 Ralf Becker

1 logisches Radikal sieht. Zu wollen, dass ein Anderer von etwas Kenntnis neh-
2 men will, weil man glaubt, dass es ihm helfen oder ihn interessieren wird, und zu
3 wollen, dass ein Anderer etwas Bestimmtes fhlt, damit wir Einstellungen und
4 Gefhle miteinander teilen kçnnen, sind nach Tomasellos Beobachtung genuin
5 menschliche, prosoziale Motive,27 die seines Erachtens unseren nchsten Ver-
6 wandten, den Menschenaffen, fehlen.
7
8
9 III. Der Primat des Handelns und der naturalistische Fehlschluss
10
11 Tomasellos Ziel ist „eine dynamische Darwinsche Erklrung menschlicher Kog-
12 nition in ihren evolutionren, geschichtlichen und ontogenetischen Dimensio-
13 nen“.28 Seine phylogenetische Herleitung geteilter Intentionalitt, die er aus-
14 drcklich als „spekulativ“ bezeichnet, setzt bei „mutualistische[n]
15 gemeinschaftliche[n] Ttigkeiten von Wesen [an], die wir einfach Homo nennen
16 werden […] Mutualistische gemeinschaftliche Ttigkeiten konnten jedoch nicht
17 entstehen, bevor die Menschen zunchst toleranter und großzgiger bei der Tei-
18 lung der Beute von Gruppenaktivitten geworden waren (z. B. des bei einer ge-
19 meinsamen Jagd erbeuteten Fleisches) und sich dann ein neuer Bestandteil der
20 kognitiven Maschinerie entwickelte: das rekursive Erkennen geistiger Zustnde.
21 Diese entscheidende Komponente erzeugte gemeinsame Ziele, die dann einen
22 fr das gemeinsame Ziel relevanten gemeinsamen Aufmerksamkeitsrahmen
23 schufen, der wiederum als gemeinsamer begrifflicher Hintergrund diente und
24 den Zeigegesten und anderen kooperativen Kommunikationsakten Bedeutung
25 verlieh.“29 Die narrative Form dieser evolutionren Spekulation ist weder rein
26 ußerlich noch erfllt sie bloß didaktische Zwecke – sie bringt vielmehr das Er-
27 klrungsprinzip selbst zur Erscheinung. Nach Roland Barthes besteht das Prin-
28 zip des Mythos darin, dass er „Geschichte in Natur“ verwandelt.30 Und genau
29 eine solche Naturalisierung des Geschichtlichen nimmt Tomasello vor, wenn er
30 den bergang von „natrlichen“ Gesten zu sprachlichen „Konventionen“
31 durch eine „Drift zum Arbitrren“ erklrt.31 Wie bereits gesagt, gibt es so etwas
32 wie natrliche Gesten, zumindest in dem hier relevanten Sinne, nicht, da sie im-
33
27 Vgl. ebd. 99. beraus interessant ist auch die Aufzhlung weiterer, „spezieller Motive fr
34
35 besondere Situationen […], die frh in der Ontogenese auftreten und sehr wahrscheinlich kul-
turell universal sind: grßen/sich verabschieden (,Hallo‘ und ,Auf Wiedersehen‘), Dankbar-
36 keit ausdrcken (,Danke‘) und Bedauern ausdrcken (,Es tut mir leid‘).“ (Ebd. 99. Anm.)
28 Tomasello: Die kulturelle Entwicklung. 272.
37
29 Tomasello: Ursprnge. 255 ff.
38 30 Roland Barthes: Mythen des Alltags. bers. von Horst Brhmann. Frankfurt a.M. 2012.
39 278.
40 31 Tomasello: Ursprnge. 342.
Geteilte Intentionalitt und exzentrische Positionalitt: die soziale Form der Vernunft 27

1 mer bereits den Hintergrund einer kulturellen Praxis voraussetzen, ohne den
2 auch eine gestische Verstndigung nicht gelingen kann. Zeigegesten wie Gebr-
3 den und sprachliche ußerungen sind Handlungen, die in einen begrifflich-nor-
4 mativen Kontext eingebettet sind, der wiederum die Bedingungen fr eine erfolg-
5 reiche Kommunikation festlegt.
6 Daher kann eine Handlung, die nur vor einem kulturellen symbolischen Hin-
7 tergrund etwas bedeutet, logisch nicht aus bloß ,mutualistischen gemeinschaftli-
8 chen Ttigkeiten‘ abgeleitet werden. Die Bedingungen des Verstehens von ,natr-
9 lichen‘ Gesten sind selbst nicht ,natrlich‘, sondern von Handlungen im
10 symbolischen Raum einer Kultur abhngig. Das gilt erst recht fr die „Fhigkeit
11 von Menschen […], auf ihr eigenes Verhalten zu reflektieren und auf diese Weise
12 systematische Strukturen expliziten Wissens zu erzeugen, wie z. B. wissenschaft-
13
liche Theorien.“32 Die Evolutionstheorie kann nicht selbst ein Produkt der Evo-
14
lution sein, da die Geltungsbedingungen der Theorie nicht natrlicher, sondern
15
logischer Art sind. Jede Aussage ber Naturzusammenhnge erhlt ihre Bedeu-
16
tung erst von dem gemeinsamen begrifflichen, und im Falle der Wissenschaft
17
auch theoretischen Hintergrund einer kulturellen Praxis, etwa einer scientific
18
community. Dazu gehçren beispielsweise die Prfkriterien und Maßstbe einer
19
wissenschaftlichen Theorie, Fragen der anzuwendenden Methode, der konsis-
20
tente Gebrauch fachlicher Termini usw. Insofern entscheiden kulturelle Ttigkei-
21
ten ber natrliche ,Tatsachen‘ (die im Wortsinne Tat-Sachen sind) und nicht um-
22
gekehrt. In der Umkehrung dieser Reihenfolge besteht der naturalistische
23
24
Fehlschluss von logischen auf ontologische Bedingungen bzw. von kulturellen
25
Handlungen auf natrliche Tatsachen, whrend die Geltung von Aussagen ber
26 Tatsachen gerade von kulturellen Handlungen abhngig bleibt. Der naturalisti-
27 sche Fehlschluss ignoriert den Primat des Handelns.33
28 Genau diesen Fehlschluss begeht Tomasello, wenn er behauptet, es sei eine
29 „Tatsache, daß die Kultur ein Produkt der Evolution ist“.34 Weder ist die Kultur
30 ein Produkt noch die Evolution ihr Produzent. Freilich kann man sich dafr in-
31 teressieren, daß es kulturelle Artefakte so wenig wie Menschen schon immer ge-
32 geben hat, und dass sie irgendwann auftreten. Aber jede Theorie ist selbst ein
33 von Menschen hervorgebrachtes kulturelles Artefakt, das an ganz bestimmte ar-
34
32 Tomasello: Die kulturelle Entwicklung. 248. Tomasello behauptet hier, dass die „mensch-
35
liche Fhigkeit zur Systembildung […] eine Exaptation“, d.i. eine kreative evolutionre Zweck-
36 entfremdung, „der Reflexionsfhigkeit von Menschen sein [kçnne], die sich ihrerseits von ih-
37 ren sozio-kognitiven Fhigkeiten ableitet.“
33 Zu einer hnlichen Kritik an Tomasellos evolutionrer ,Erklrung‘ menschlicher Sprache
38
vgl. Mathias Gutmann, Willem Warnecke: Sprache und Sprachen als Formen kultureller Inter-
39 aktion. In: Deutsche Zeitschrift fr Philosophie 55 (2007). 769 – 787.
40 34 Tomasello: Die kulturelle Entwicklung. 271.
28 Ralf Becker

1 tifizielle Bedingungen gebunden ist. Daher nimmt Tomasello, mit Husserl ge-
2 sprochen, „fr wahres Sein […], was eine Methode ist“.35 Von gleicher Art ist die
3 folgende Aussage: „Evolution durch natrliche Selektion ist die grundlegende
4 Tatsache, von der die ganze organische Welt beherrscht wird.“36 Darwins Theo-
5 rie natrlicher Selektion geht von der kulturellen Praxis der Domestikation aus,
6 die Menschen seit der Jungsteinzeit beherrschen. Nun muss man jedoch nichts
7 von natrlicher Zuchtwahl wissen, um Tiere domestizieren zu kçnnen (und in
8 der lngsten Zeit der Kulturgeschichte scheint dies ja auch so gewesen zu sein),
9 aber man muss ein Vorwissen ber knstliche Zuchtwahl besitzen, um das Prin-
10 zip der natrlichen Selektion verstehen und damit Aussagen wie die gemachte
11 auf ihre Geltung hin berprfen zu kçnnen. Nicht anders verhlt es sich schließ-
12 lich mit dieser These: „Wie bei der Entstehung von Kommunikationskonventio-
13 nen im allgemeinen reflektiert der Ursprung grammatikalischer Konventionen
14 also die stndige Dialektik zwischen biologischer und kultureller Evolution.“37
15 Diese These unterliegt selbst ihrer Bedeutung und ihrer Geltung nach kommuni-
16 kativen und grammatischen Konventionen, die ausschließlich zum gemeinsa-
17 men Hintergrund einer kulturellen Praxis gehçren, wie die Biologie als Wissen-
18 schaft selbst brigens auch.
19 Die Naturalisierung kultureller Phnomene erzeugt Ursprungsmythen, die je-
20 doch als wissenschaftliche Kausalerklrungen ausgewiesen werden. Tomasellos
21 Erzhlung erinnert nicht zufllig an den weitgefcherten Ursprungsdiskurs des
22 18. Jahrhunderts. Bereits dort fhrten etwa Condillac und Herder an jenen Ab-
23 grund, in den die ontologische Rede vom Ursprung der Sprache strzt, und in
24 den offensichtlich auch Tomasello selbst blickte, als er seinen berlegungen den
25 Stempel des Spekulativen aufprgte. Der philosophische Wert dieser berlegun-
26 gen liegt auf der Ebene der Beschreibung. Das gilt auch und zumal fr den Satz,
27 dass es keine Sprache, „wie wir sie kennen, auf der Grundlage von Konkurrenz
28 geben“ kçnne.38 Denn er formuliert kein genetisches, sondern ein logisches Ver-
29 hltnis zwischen sprachlicher Kommunikation und Kooperation. Begriffliches
30 Verstehen setzt geteilte Intentionalitt vor einem gemeinsamen Hintergrund kul-
31 tureller Praxis voraus. Handeln und Vernunft gehçren ihrem sozialen Wesen
32 nach zusammen.
33
34
35
36 35 Edmund Husserl: Die Krisis der europischen Wissenschaften und die transzendentale

37 Phnomenologie. Eine Einleitung in die phnomenologische Philosophie. Hrsg. von Walter


38 Biemel. Hua VI. Den Haag 1954. 52.
36 Tomasello: Die kulturelle Entwicklung. 25.
39 37 Tomasello: Ursprnge. 262. Vgl. 21.

40 38 Ebd. 362.
1 Thomas Bedorf
2
3
4 Die ,soziale Spanne‘
5
Von Heideggers Mitsein zur Sozialontologie Nancys
6
7
8
9
10 In der Liste der Klassiker der Sozialphilosophie fehlt blicherweise Heidegger.
11 Es ist in dieser nicht eben streng kanonisierten Teildisziplin stets strittig gewe-
12 sen, wer in die Liste aufgenommen gehçrt. Denn stets entscheidet die Auswahl
13 auch darber, welche Fragen die Sozialphilosophie behandeln soll und kann.
14 Man kann historisch zurckgreifen und sie bei Hobbes und seiner konstruktivis-
15 tischen Theorie einer Gesellschaft beginnen lassen, die aus Individuen-Atomen
16 besteht, und von dort ber Kant und Hegel zu den daran orientierten Positionen
17 des 20. Jahrhunderts gelangen. Sozialphilosophische Fragen werden sich dann
18 mit solchen der politischen oder der Rechtsphilosophie vielfach berschneiden.
19 Oder man kann der Auffassung sein, von einer Sozialphilosophie sui generis sei
20 erst mit dem Aufkommen des Begriffs selbst im Neukantianismus zu sprechen
21
und finde seine erste große Figur in Georg Simmel, um dann ein Panorama ver-
22
schiedener Anschlsse und Ausdifferenzierungen zu entfalten. Der Name „Hei-
23
degger“ wird sowohl im weiteren als auch im engeren Panorama selten erwhnt
24
werden.
25
Die Grnde dafr, die sowohl in Heideggers Denken selbst als auch in dessen
26
soziologischer und sozialphilosophischer Rezeption liegen, lassen sich in Hand-
27
bchern nachlesen.1 Die geringe Sichtbarkeit Heideggers als Sozialphilosoph
28
hngt im franzçsischen Rezeptionsraum wiederum damit zusammen, dass der
29
Begriff einer „philosophie sociale“ im Franzçsischen ganz und gar ungebruch-
30
lich ist.2 Es bedarf allerdings keiner besonderen Erwhnung, dass die franzçsi-
31
sche Nachkriegsphilosophie ohne die ausfhrliche Auseinandersetzung mit Hei-
32
33
degger berhaupt nicht zu verstehen ist. Auch wenn die Rezipienten nicht in
34
erster Linie ,als Sozialphilosophen’ angesehen werden, lassen sich etwa die
35 1 Vgl. Hans Bernard Schmid: Heidegger und die Sozialwissenschaften. Verabschiedung,
36 Vereinnahmung und vorsichtige Aneignung. In: Dieter Thom (Hg.): Heidegger-Handbuch.
37 Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2003. 481 – 486.
2 Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet Franck Fischbach, der unter diesem Titel einen
38
anti-universalistischen Vorstoß unternimmt. Vgl. Franck Fischbach: Manifeste pour une philo-
39 sophie sociale. Paris 2009. Eine deutsche bersetzung von Lilian Peter in der Reihe „Sozialphi-
40 losophische Studien“ beim transcript-Verlag, Bielefeld, ist in Vorbereitung.

Phnomenologische Forschungen 2013 ·  Felix Meiner Verlag 2013 · ISSN 0342-8117


30 Thomas Bedorf

1 „praktische Wende“3 bei Derrida ebenso wie die Alterittsphilosophie Levinas’


2 als konstruktiv-kritische Umarbeitungen von Einsichten der heideggerschen
3 Philosophie begreifen. Heidegger als Bezugsgrçße ist hier Teil einer umfassende-
4 ren Rezeption.
5 Jean-Luc Nancy ist sicher derjenige unter den franzçsischen Nachkriegsauto-
6 ren, der sich des Erbes Heideggers am Nachhaltigsten im Sinne eines expliziten
7 Denkens des Sozialen angenommen hat. Dabei geht er von einer doppelten Dia-
8 gnose aus: Einerseits lasse sich das Soziale nur mit und nach Heidegger denken,
9 andererseits sei es unmçglich, es so wie Heidegger zu denken. Aus dieser klaren
10 Diagnose resultiert die emphatische Forderung, „Sein und Zeit neuschreiben“
11 zu mssen und damit vor allem eine „politische Neufassung [rcriture]“ zu ver-
12 binden.4 Er greift damit jene altbekannte Kritik auf, die im zweiten Teil von Sein
13 und Zeit eine „eigentliche“ Form des Mitseins im „Volk“ formuliert sieht, die
14 nicht anschlussfhig ist. Mit Heidegger Sozialphilosophie zu betreiben, hieße
15 dann, sich in wesentlichen Aspekten von ihm zu lçsen und ber ihn hinauszu-
16 kommen; oder, wie es Ian James formuliert, Nancys Anspruch sei „nothing less
17 than a total rethinking of Heidegger by way of Heidegger“.5 Es scheint jedoch,
18 als lge gerade darin eine produktive Anknpfung an Heideggers Denken, die
19 auch systematisch – d. h. innerhalb des Feldes der Sozialphilosophie – gehaltvoll
20 ist. Denn sie entfaltet die begrifflichen Mçglichkeiten einer Philosophie des
21 „Zwischen“, wodurch der traditionelle und doch immer fraglich gebliebene
22 Wechselbezug zwischen Individuum und Gesellschaft unterlaufen wird.
23
24
25
26
I.
27
28
Die Einwnde, die sich gegen Heideggers Bercksichtigung der sozialen Dimen-
29
sion des Daseins machen lassen, sind zur Genge resmiert worden. Ich konzen-
30
triere mich daher auf die immanente Kritik, die Nancy an Sein und Zeit expli-
31
ziert, und auf die Schlsse, die er daraus fr seine eigene Sozialontologie zieht.
32
Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass Nancy in Heideggers Daseinsherme-
33
neutik einen entscheidenden Schritt sieht, um Struktur und Dynamik des Sozia-
34
len zu beschreiben. Was „soziale Erfahrung“ ausmacht, lsst sich – so die ber-
35 3 Vgl. Hans-Dieter Gondek, Bernhard Waldenfels: Derridas performative Wende. In:
36 Dies. (Hg.): Einstze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida. Frankfurt a.M. 1997.
37 7 – 18.
4 Jean-Luc Nancy: tre singulier pluriel. Paris 1996. 118. Anm. 1. Dt.: Singulr plural sein.
38
bers. von Ulrich Mller-Schçll. Berlin 2004. 144. Anm. 78.
39 5 Ian James: The fragmentary demand. An introduction to the philosophy of Jean-Luc

40 Nancy. Stanford 2006. 103.


Die ,soziale Spanne‘ 31

1 einstimmende Basis – nur ber eine Auslegung des Sinns der Sozialitt rekonstru-
2 ieren. Wie fr Heidegger, so ist fr Nancy die wesentliche Dimension der Sinn,
3 den es verstehend auszulegen gilt, wenn die Frage beantwortet werden soll, was
4 das soziale Sein ausmacht. Dies betrifft zunchst das Dasein selbst. „Man kann
5 also sagen: Dasein* ist eine singulre, einzigartige Mçglichkeit, einen Eigensinn
6 der Welt und/oder die Welt eines Eigensinns sich erçffnen zu lassen (zu tun und
7 zuzulassen).“6 Die doppelte – aktive und passive – Dimension des je eigenen
8 Sinns des Daseins beruht auf der „Jemeinigkeit“. „Es hat sich schon immer ir-
9 gendwie entschieden, in welcher Weise Dasein je meines ist.“7 Die je eigene Welt
10 des Sinns ist einerseits fr das Dasein immer schon geçffnet (und dieses ist in
11 jene eingelassen), wie andererseits die je eigene Formung seines In-der-Welt-
12 seins vom Dasein geprgt wird. Kern dieser doppelten ffnung ist seine Kontin-
13 genz, die eigene „Nichtung“ in Heideggers Terminologie, bzw. die ffnung zu
14 nichts anderem „außer zur eigenen Offenheit“8 mit den Worten Nancys.
15 Die sozialphilosophische Sprengkraft von Sein und Zeit besteht nun bekannt-
16 lich darin, die Anderen nicht in der Welt mit vorkommen oder zum Dasein hin-
17
zutreten zu lassen, sondern das Mitsein zur Grundbedingung des In-der-Welt-
18
seins des Daseins berhaupt zu erheben. Damit geht Heidegger ber die am
19
Ego, am Subjekt oder am nutzenmaximierenden Individuum orientierten Be-
20
schreibungen des Sozialen, die die Soziologie wie die Sozialphilosophie lange
21
Zeit geprgt haben, hinaus bzw. genauer gesagt: hinter sie zurck. Die Ko-Pr-
22
senz Anderer in der Welt des Daseins wird von einer bloß beobachtbaren Gege-
23
benheit zu einer ontologischen Bestimmung des Daseins selbst. Sich auf die Welt
24
beziehen zu kçnnen, so hatte Heidegger gezeigt, ist nur mçglich, „weil Dasein
25
als In-der-Welt-Sein ist, wie es ist“,9 weil also, mit anderen Worten, es strukturell
26
schon auf die Welt bezogen und in die Weltbezge verwoben ist. Entsprechen-
27
des gilt dann, wie es im einschlgigen § 26 von Sein und Zeit heißt, fr das Sein
28
mit Anderen: „Die Welt des Daseins ist Mitwelt.“10
29
Nancy arbeitet ber viele Etappen seines Werks hinweg – das sich keineswegs
30
auf ein ,sozialphilosophisches‘ Denken reduzieren lsst – an der leitenden Frage,
31
32
„inwiefern die Ko-Existenz ein experimentum crucis unseres Denkens bildet“.11
33
Das „Mit-“ des Mitdaseins bei Heidegger bildet dabei den Ausgangspunkt von
34
Nancys berlegungen. Nach seiner berzeugung stellt die heideggersche Opti-
35 6 Jean-Luc Nancy: Das Mit-sein des Da-seins. In: Ders.: Singulr plural sein. 151 – 172.
36 153.
37 7 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tbingen 171993. 42.
38
8 Nancy: Das Mit-sein des Da-seins. 153.
9 Heidegger: Sein und Zeit. 57.
39 10 Ebd. 118.
40 11 Nancy: Das Mit-sein des Da-seins. 154.
32 Thomas Bedorf

1 on jedoch keine hinreichende Deutung der Ko-Existenz dar. Das Dasein ist „mit
2 Anderen“, und diese sind mit „da“. „Das innerweltliche Ansichsein dieser [i.e.
3 der Anderen] ist Mitdasein.“12 Nancy unterscheidet drei mçgliche Interpretatio-
4 nen des Mitdaseins Anderer: „[1.] banales Zusammenvorkommen (gemeinsam
5 im Sinne von gemein, gewçhnlich), [2.] das Gemeinsame als geteilte Eigenschaf-
6 ten (Beziehungen, sich Kreuzendes, Mischungen), [3.] das Gemeinsame als eige-
7 ne Instanz, insofern verbindend oder kollektiv.“13 Es fllt nicht schwer, in der
8 ersten und der letzten Interpretation die Positionen eines konsequenten Indivi-
9 dualismus bzw. einer Gemeinschaftsideologie wiederzuerkennen, als zwei Extre-
10 me, zwischen die die Geschichte der politischen und der Sozialphilosophie seit
11 jeher eingespannt ist: philosophisch gesprochen als Opposition zwischen Kant
12 und Aristoteles oder in neuerer Zeit zwischen Liberalismus und Kommunitaris-
13 mus. Nancy nennt die Opponenten „Demokratie“ (gemß Heideggers Distanz-
14 nahme) und „Totalitarismus“. Hier wren Nuancierungen angebracht, wenn die
15 Termini historisch-politische Erfahrungen abbilden sollten. Aber darauf kommt
16 es hier zunchst nicht an. Denn Nancy versucht, die soziale Ko-Existenz im Sin-
17 ne einer Erbschaft Heideggers zu deuten, die darin besteht, sich zwischen diesen
18 beiden Polen zu halten. Keiner von beiden gesteht dem Mitdasein eine konstitu-
19 tive Rolle als Soziales zu, sondern bloß als etwas je anderes: Es wird verstanden
20 als ein Hinzutretendes oder eine ußere Bedingung im ersten Fall bzw. als eine
21 substanzielle Eigenheit, die sich von dem gemeinsamen Sein unterscheiden lsst
22 im zweiten Fall. Individualismus wie Kollektivismus verfehlen berhaupt das,
23 was am Sozialen im genauen Sinn problematisch ist und bleibt. Das „Mit“ ist
24 hingegen der Stand des Denkens, der mit Heidegger erreicht ist und hinter den
25 man nicht zurckgehen kann.
26 Doch hlt Heidegger noch eine zweite Lektion bereit, dass nmlich nicht nur
27 die Tatsache, dass sich Heidegger auf die Seite der Nazis geschlagen hat, seine
28 Anstze zu einer Philosophie der Sozialitt desavouiert, sondern dass die philo-
29 sophische Fortschreibung und Explikation dessen, was aus dem „Mit“ folgt, in
30 Sein und Zeit das darin angelegte Potenzial widerlegt (und nicht bloß unterbie-
31 tet).14 Wie das Dasein hat das Mitsein eine eigentliche und eine uneigentliche Mo-
32
33
34 Heidegger: Sein und Zeit. 118.
12

35 Nancy: Das Mit-sein des Da-seins. 155.


13
14 Vgl. Philippe Lacoue-Labarthe: La fiction du politique. Heidegger, l’art et la politique.
36 Paris 1987. Dt.: Die Fiktion des Politischen. Heidegger, die Kunst und die Politik. bers. von
37 Thomas Schestag. Stuttgart 1990. Dies ist gewissermaßen eine (also: keine) Standardlesart. Fr
38 die franzçsische Heidegger-Rezeption ist insgesamt kennzeichnend, dass deren prominente
Autoren sich alle mit der Frage nach dem Zusammenhang von politischem Engagement und
39 philosophischem Werk auseinandergesetzt haben. Vgl. Jean-FranÅois Lyotard: Heidegger et
40 „les juifs“. Paris 1988. Dt.: Heidegger und „die Juden“. bers. von Clemens-Carl Hrle. Wien
Die ,soziale Spanne‘ 33

1 dalitt. Die uneigentliche stellt bekanntlich das Man dar, jene Seinsweise, in der
2 das Dasein sich „zunchst verfehlt und verdeckt“.15 Zwar bestimmt Heidegger
3 das Man auch und vor allem als unausweichliche „Seinsart der Alltglichkeit“,16
4 die als Existenzial als „ursprngliches Phnomen zur positiven Verfassung des
5 Daseins“17 gehçrt. Doch die Festlegung, dass das Dasein in die „Durchschnitt-
6 lichkeit des Man“ „zerstreut“18 ist, ruft dazu auf, diese Zerstreuung zu beheben
7 und die „Flucht [des Daseins] vor ihm selbst“19 zu beenden. Wo die Eigentlich-
8 keit des Daseins auf das Mitsein trifft, wird – sofern die Verfallenheit an das Man
9 revidiert werden soll – die Suche nach einer „Miteigentlichkeit [copropriati-
10 on]“20 begonnen. Die Suche mndet bei Heidegger in dem nicht minder berhm-
11 ten § 74 von Sein und Zeit, wo die Eigentlichkeit als „Mit-Geschick“,21 als ge-
12 meinsames Schicksal eines Volkes vollzogen wird. „Wenn aber das
13 schicksalhafte Dasein als In-der-Welt-sein wesenhaft im Mitsein mit Anderen
14 existiert, ist sein Geschehen ein Mitgeschehen und bestimmt als Geschick. Damit
15 bezeichnen wir das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes.“22
16 Damit ist gemeint, dass sich das gemeinsame Geschick nicht als Addition von
17 Einzelschicksalen gewinnen lsst, sondern als die in Mitteilung und Kampf arti-
18 kulierte Macht eines Gemeinsamen einer „Generation“, in dem sich „das volle,
19 eigentliche Geschehen des Daseins“23 formt. 1933 wird Heidegger von „der jun-
20 ge[n] und jngste[n] Kraft des Volkes, die ber uns schon hinweggreift“, fabulie-
21 ren und ber den „geschichtlichen Auftrag“, den gerade dieses deutsche Volk
22 bereits „entschieden“24 hat. Nancy ist nicht der erste, der in dieser Zuspitzung
23 Heideggers Anstze zu einer Philosophie des Sozialen radikal scheitern und die
24 von den Apologeten gerne geleugnete Nhe des philosophischen Werks Heideg-
25 gers zum Vçlkischen besttigt sieht.25 Denn ein bergang vom Man zum Volk
26
27 1988. Jacques Derrida: De l’esprit. Heidegger et la question. Paris 1987. Dt.: Vom Geist. Hei-
28 degger und die Frage. bers. von Alexander Garc a Dttmann. Frankfurt a.M. 1988.
15 Heidegger: Sein und Zeit. 130.
29 16 Ebd. 127.

30 17 Ebd. 129.
18 Ebd. 129.
31
19 Ebd. 185.
32 20 Nancy: Das Mit-sein des Da-seins. 160.
33 21 Ebd. 161.
22 Heidegger: Sein und Zeit. 384 f. Heidegger selbst ist es, der ber den in der Anmerkung
34
35 zu dieser Stelle gegebenen Verweis auf den § 26 die Verbindung zum Mitsein herstellt.
23 Ebd. 384 f.
36 24 Martin Heidegger: Die Selbstbehauptung der deutschen Universitt. In: Ders.: Die

37 Selbstbehauptung der deutschen Universitt. Das Rektorat 1933/34. Frankfurt a.M. 21990. 9 –
38 19. 19.
25 Vgl. Theodore Kisiel: Der sozio-logische Komplex der Geschichtlichkeit des Daseins:
39 Volk, Gemeinschaft, Generation. In: Johannes Weiß (Hg.): Die Jemeinigkeit des Mitseins. Kon-
40 stanz 2001. 105 – 128. Das an der eigenen Bedeutung berauschte Geschreibsel von der „Wahr-
34 Thomas Bedorf

1 ist nicht vorgesehen; die beiden Weisen des Aufgreifens des Mit scheiden sich in
2 eine eigentliche und eine uneigentliche. „Das Mit geht in beiden Fllen jeder In-
3 dividualitt voraus“,26 wie Nancy festhlt und woran er seine eigene Philosophie
4 des Zwischen anschließen wird. Doch, so fhrt er fort, bei Heidegger geht das
5 Mit der Individualitt im einen Fall voraus und „folgt auf sie als Anonymitt
6 und gegenseitige Indifferenz aller nebeneinander stehenden Existierenden, im an-
7 deren geht es ihr voraus und folgt auf sie als Gemeinschaft, die mit eigentlich
8 geschickhaften Potentialitten versehen ist.“ Und Nancy schließt: „Letztlich
9 gibt es zwei Verfassungen des Mit-da-seins: eine unmçgliche in der Masse, in der
10 sich die Wesentlichkeit des Mit als solche auflçst, und eine bermçgliche im
11 Volk, in dem sich die Wesentlichkeit des Mit bestimmen wird und sie potentiali-
12 siert. Man sieht nicht, wie es vom einen zum anderen einen bergang geben soll
13 (man sieht kaum etwas, und weder ich noch wir finden uns dort wieder…).“27
14 Wie kommt es nun, so fragt sich Nancy, dass Heidegger – obwohl er der erste
15 ist, der den Zwischenraum des Mit als das Zu-Denkende der Sozialitt gesehen
16 hat – in eine solche Sackgasse geraten ist? Mit einer „ethisch-politischen Verur-
17
teilung“28 Heideggers ist es nicht getan, weil diese Sackgasse Indiz fr eine Para-
18
doxie ist, die bislang einer jeden Philosophie des Sozialen anhaftete. Im Gegen-
19
teil besteht die Lehre, die aus dem Scheitern von Heideggers ,Sozialphilosophie‘
20
zu ziehen ist, darin, die Paradoxie des Daseins zwischen selbsthafter Vereinze-
21
lung und ,waltendem‘ Geschehen, das durch das Selbst hindurch sich vollzieht,
22
in Sein und Zeit nicht auflçsen zu kçnnen. Heidegger irrt sich gerade in der ge-
23
meinschaftlichen Vereindeutigung dieser Paradoxie, die ihn mit den Ideologen
24
des Vçlkischen gemeinsame Sache machen lsst. Die Paradoxie als Paradoxie hin-
25
gegen, um deren Auflçsung Sein und Zeit sich vergeblich bemht, bietet den
26
Anknpfungspunkt fr eine neue „negativistische Sozialphilosophie“.29 Wie
27
nmlich die Ko-Existenz sich denken lsst, die „nichts anderem gegenber expo-
28
niert ist als sich selbst, und sicher nicht einer berexistenz der Gemeinschaft;
29
wie sich eine Mitteilung* denken lsst, die fr die Gemeinschaft keine Botschaft
30
31
darstellt“,30 darin besteht die Aufgabe, der sich Nancys Sozialontologie stellt.
32
heit des vçlkischen Daseins“, fr die Heidegger durch sein Rektorat „Mitverantwortung“ tra-
33 ge, ist der „Gerede“-hafte Reflex jenes „geistige[n] Nationalsozialismus“, fr dessen Ausarbei-
34 tung als „Metapolitik ,des‘ geschichtlichen Volkes“ sich Heidegger zustndig fhlte (Martin
35 Heidegger: berlegungen II-VI [Schwarze Hefte 1931 – 1939]. GA 94. Frankfurt a.M. 2014.
112, 124, 135).
36 26 Nancy: Das Mit-sein des Da-seins. 164.
27 Ebd. 164.
37
28 Ebd. 169.
38 29 Zu diesem Ausdruck vgl. Burkhard Liebsch, Andreas Hetzel, Hans Rainer Sepp (Hg.):
39 Profile negativistischer Sozialphilosophie. Ein Kompendium. Berlin 2011.
40 30 Nancy: Das Mit-sein des Da-seins. 169.
Die ,soziale Spanne‘ 35

1 Diese beruht nmlich auf einem Begriff der „communaut desœuvre“, einer
2 „entwerkten“ Gemeinschaft, die weder Botschaft noch Substanz hat und sich
3 ebensowenig durch eine Eigenschaft seiner Mitglieder wie eine gemeinsame
4 Identitt definiert.31
5
6
II.
7
8
Aus der heideggerschen Sackgasse sucht nun Nancys Philosophie des Zwischen
9
einen Ausweg.32 Deren Grundgedanke liegt im Ausdruck „singulr plural sein“,
10
der dem Hauptwerk seinen Namen gegeben hat.33 Was in seiner Heidegger-Kri-
11
tik als die unartikulierte Paradoxie von Heideggers Ontologie vorgefhrt wird,
12
entfaltet Nancys paradoxer Ausdruck begrifflich. Kontinuitt und Distanz zu
13
Heidegger lassen sich anhand des fraglichen Man einsichtig machen. Nancy beti-
14
telt eines seiner Buchkapitel mit „Les gens sont bizarres“,34 was sich mit „Die
15
Leute sind sonderbar“ wiedergeben lsst. Der Plural „die Leute“ gegenber dem
16
versammelnden Singular „Man“ hebt auf die Vielfalt individueller Existenzwei-
17
sen ab, die sozial in Kontakt zueinander geraten. Gesten, Stimmen, Handlun-
18
gen, Habitualitten zeichnen Kçrper als Einzelne und Einzige aus, unterschei-
19
den sie und setzen sie kommunikativ in Bezug. Sie erzeugen jeweils einen
20
eigenen Sinn, der sich – wenn auch minimal – von den anderen unterscheidet.
21
Diese Nuancen wirken als Attraktoren sozialer Affektivitt: „Vom Gesicht zur
22
Stimme, zu den Gesten, den Haltungen, dem Gebaren und Benehmen – und was
23
auch immer die ,typischen‘ Zge sind, die so großzgig verteilt werden: Es gibt
24
niemanden, der sich nicht bemerkbar macht durch eine Art augenblicklicher
25
berstrztheit, in der sich die Fremdheit einer Singularitt ausdrckt. Ohne sol-
26
che berstrztheit gbe es schlicht keinen ,jemand‘. Und es gbe auch weder
27
Interesse noch Feindschaft, weder Begehren noch Abscheu, auf wen es sich auch
28
immer beziehen wrde.“35
29
Das Man wird pluralisiert, in seine einzelnen Fremdheiten zerlegt. Die Ge-
30
wçhnlichkeit erhlt ihre vielfltigen Konturen zurck, die das entdifferenzieren-
31
de „Man“ ihr genommen hatte. Alle Leute setzen Differenzen in Szene, sie unter-
32
33 31 Jean-Luc Nancy: La Communaut dsoeuvr. Erw. Aufl. Paris 1999. Dt.: Die undarstell-

34 bare Gemeinschaft. bers. von Gisela Febel und Jutta Legueil. Stuttgart 1988.
32 Mit Dieter Thom kçnnte man den Sinn des nancyschen Vorhabens durch die diametral
35
entgegengesetzte Formulierung ebenso gut erfassen: „ausnahmsweise gilt das Interesse hier
36 nicht den Auswegen, sondern den Sackgassen“, so Thom in seinem klar positionierten und
37 einen glnzenden berblick bietenden Artikel „Heidegger und der Nationalsozialismus“. In:
38 Ders. (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2003. 141 – 162. 144.
33 Vgl. Nancy: tre singulier pluriel. Dt.: Singulr plural sein.
39 34 Ebd. 23. Dt.: 25.

40 35 Ebd. 26. Dt.: 28 f.


36 Thomas Bedorf

1 scheiden sich ebenso voneinander wie von sich selbst, d. h. jede Individualitt ist
2 eine Singularitt-im-Augenblick. Die Differenzen liegen also nicht nur auf der
3 Ebene vielfltiger Individualitt, sondern auf der des „Infra-Individuellen“:
4 „Mir sind nie Pierre oder Marie begegnet, sondern der eine oder die andere in
5 gewisser ,Form‘, einem ,Zustand‘ oder einer ,Stimmung‘, usw.“36 Es sind also
6 Individuen und ihre Modalitten, die in Pluralitt zueinander stehen. Zugleich
7 handelt es sich aber nicht um ein bloßes Nebeneinander, sondern um ein Zu-
8 gleich, das nicht reduzierbar ist, eine Pluralitt von Singularitten. Gegenber
9 der irreduzibel pluralen Gleichzeitigkeit ist – von Nancy her gesehen – das Man
10 als Auszeichnung der Gleichfçrmigkeit der Alltglichkeit eine unterkomplexe
11 Terminologie. Das Alltgliche besteht gerade nicht in indifferenter Anonymitt,
12 sondern in der Simultaneitt der Differenzen.
13 „Ein ,Tag‘ ist nicht bloß eine Recheneinheit. Er ist der immer wieder singulre
14 Lauf der Welt, und die Tage, sprich alle Tage, kçnnten ,einander‘ nicht ,gleichen‘,
15 wie man sagt, wenn sie nicht zunchst unterschiedlich, der Unterschied selbst
16 wren. Dasselbe gilt fr die ,Leute‘, oder vielmehr ,die Leute‘ sind mit der irredu-
17 ziblen Sonderbarkeit, die sie als solche konstituiert, selbst in erster Linie die Ex-
18 position der Singularitt, aufgrund derer die Existenz auf irreduzible Weise und
19 allererst existiert […]. Die moderne Welt verlangt, daß diese Wahrheit gedacht
20 wird: daß der Sinn hier selbst ist. Er ist in der unbestimmten Pluralitt der Ur-
21 sprnge und in ihrer Ko-Existenz. Das ,Gewçhnliche‘ ist hier immer außerge-
22 wçhnlich, sofern man seinem Ursprnglichkeitscharakter zum Recht verhilft.
23 Was wir gemeinhin als ,Sonderbarkeit‘ auffassen, ist genau diese Eigenschaft. In
24 der bloßen Existenz und nach dem Sinn der Welt ist die Ausnahme die Regel.“37
25 Nancys Umarbeitung des heideggerschen Man unterliegt hier zwei Impulsen:
26 Pluralisierung und Affirmation. Zum einen werden aus dem totalisierenden
27
Man „die Leute“ als mannigfache Ursprnge des Sinns, die jeweils eine singulre
28
Welt aufspannen. Zum anderen wird die Dichotomie von eigentlicher und unei-
29
gentlicher Existenzweise, die den Zuschnitt des Existenzials „Man“ bestimmte,
30
unterlaufen, indem die Besonderheit nicht in die Eigentlichkeit des vereinzelten
31
Daseins verlegt, sondern in der alltglichen Existenzweise der in vielen sonderba-
32
ren Differenzen Existierenden aufgefunden wird. Nancys Rede von der Außer-
33
gewçhnlichkeit darf man aber nun nicht so missverstehen, dass er einer Glorifi-
34
zierung der Alltagsexistenz das Wort redet. Dass die Ausnahme die Regel ist,
35
besagt, dass die Differenz regiert, die jede Regel zu etwas Sekundrem macht.
36
Wenn weder die Totalitt noch die Individualitt, sondern die Differenz der je
37
eigenen Weltursprnge der instabile Boden ist, auf dem sich das Gemeinsame
38
39 36 Ebd. 27. Dt.: 29.
40 37 Ebd. 27 f. Dt.: 30 f.
Die ,soziale Spanne‘ 37

1 aufbaut, so besteht Sozialitt in nicht viel mehr als diesem „Zugleich“ der Singu-
2 laritten. Metaphorisch formuliert Nancy das als einen Zwischenraum, der aus-
3 einanderhlt und zugleich verbindet. „Tout se passe donc entre nous [unter bzw.
4 zwischen uns]“.38 Aus dem Zwischenraum des Sinns emergieren die Subjektivit-
5 ten, anstatt dass umgekehrt bereits konstituierte Subjekte miteinander in Interak-
6 tion treten. Daraus folgt, dass dasjenige, was bei Husserl noch Intersubjektivitt
7 hieß, hier weder als Konstitution noch als Kontinuitt zu fassen ist, sondern als
8 Kontiguitt, als unausweichliche Nachbarschaft, die gleichwohl durch einen
9 Spalt gekennzeichnet ist. Die „Spanne“,39 wie Nancy unter rumlicher Umdeu-
10 tung eines Zeitwortes Heideggers sagt, stiftet den Abstand zwischen Sinnpunk-
11 ten und schafft Distanz. Zugleich besteht aber zwischen diesen Punkten eine
12 Spannung, die das nicht substantialistisch gedachte Band nicht reißen lsst. „Viel-
13 leicht ist es nicht einmal richtig, von ihm als ,Band‘ zu sprechen: Es ist weder
14 gebunden noch ungebunden, es ist diesseits von beidem […]. Das ,Zwischen‘ ist
15 die Distanzierung und die Distanz, die vom Singulren als solchen erçffnet wird,
16 und eine Art Verrumlichung des Sinns.“40 Es gibt keine „transzendentale“ oder
17 sonst eine Subjektivitt, die den beiden Seiten des Inter gemeinsam wre. Die
18 Bodenlosigkeit der Grndung des Sozialen bedeutet nicht Isolation oder atomis-
19 tische Individualitt, weil jede Spanne als Spannung gedacht wird.41 Der Termi-
20 nus ,Spanne‘ illustriert somit den von Nancy intendierten Doppelsinn eines Ab-
21 standes, der nicht durch eine identitre Gemeinsamkeit berbrckbar ist, und
22 eines Aneinander-gebunden-seins, das sich nicht lçsen lsst.
23 Nancy ist es darum zu tun, diese Spanne in der Existenz ontologisch zu veran-
24 kern, und verfolgt damit die Absicht, Heideggers Unentschiedenheit zwischen
25 „existenzialem ,Solipsismus‘“42 und ontologischer Grundlegung der Sozialitt
26 dezidiert zugunsten letzterer zu beenden. „Wenn das Sein Mit-Sein ist, dann ist
27 im Mitsein das ,Mit‘ das, was das Sein ausmacht, und es wird ihm nicht hinzuge-
28
fgt.“43 Diese Formulierung Nancys kçnnte zweifellos auch in Sein und Zeit ste-
29
30 38 Ebd. 23. Dt.: 25.
31 39 Jean-Luc Nancy: Le sens du monde. Paris 1993. 106. Vgl. Heidegger: Sein und Zeit. 409;
sowie Heidegger: Die Grundprobleme der Phnomenologie. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm
32
von Herrmann. GA 24. Frankfurt a.M. 21989. 372.
33 40 Nancy: tre singulier pluriel. 23. Dt.: 25. Die „Verrumlichung“ fhrt Nancy weiter bis

34 zur These: „Die Ontologie des Mit-seins ist eine Ontologie des Kçrpers, aller Kçrper“ (tre
35 singulier pluriel. 131). Zu Nancys Kçrper- bzw. Leibbegriff vgl. Kathrin Busch: Jean-Luc Nan-
cy – Exposition und Berhrung. In: Emmanuel Alloa u. a. (Hg.): Leiblichkeit. Geschichte und
36 Aktualitt eines Konzepts. Tbingen 2012. 305 – 319.
41 Zu den Konsequenzen dieser Bodenlosigkeit fr das Politische vgl. Thomas Bedorf: Bo-
37
38 denlos. Der Kampf um den Sinn im Politischen. In: Deutsche Zeitschrift fr Philosophie 55
(2007). 689 – 715.
39 42 Heidegger: Sein und Zeit. 188.

40 43 Nancy: tre singulier pluriel. 50. Dt.: 59.


38 Thomas Bedorf

1 hen. Allerdings zielt Nancys Skepsis darauf ab, dass Heidegger die systemati-
2 schen Konsequenzen aus einem solchen Satz nicht gezogen hat. Nancy hingegen
3 will kein Sein, auch kein Dasein kennen, das nicht bereits geteilt ist. Er bringt
4 dies auf folgende Formel: „Singulr plurales Sein heißt: Das Wesen des Seins ist,
5 und ist nur, als Mit-Wesen [co-essence].“44 Das soll heißen, dass es keine Seien-
6 den geben kann, die ontologisch zugnglich, in ihrer Seinsweise erfassbar wren,
7 und denen berdies und unabhngig davon noch das Existenzial „Mit-Sein“ zu-
8 kme. Die Ko-Essenz strukturiert das Sein selbst und koordiniert die Daseine
9 nicht als Sammlung von primr Einzelnen. Wie Levinas der Philosophiegeschich-
10 te ihre Andersheitsvergessenheit vorwirft, so liest Nancy sie als eine Geschichte
11 der Vergessenheit des „Mit“. So versumen es nach Nancy die drei „großen H’s“
12 (Hegel, Husserl, Heidegger), die fr die franzçsische Nachkriegsphilosophie (in-
13 klusive Nancy selbst) so stilbildend waren, trotz ihrer je eigenen Artikulation
14 der Dynamik von Selbst und Anderem, dem Mit mehr als eine sekundre Rolle
15 einzurumen. Die Ontologien der Philosophiegeschichte sind demnach neu zu
16 lesen auf ihren vergessenen oder verdrngten Grund im Mit-sein hin, sodass die
17 These vom singulr pluralen Sein auch eine dekonstruktive Lektre der Klassi-
18
ker mit sich bringt. Das „Mit-sein [ist] das eigentlichste Problem des Seins“45 und
19
ist es fr die Philosophien auch immer gewesen, selbst wenn noch zu beantwor-
20
ten wre, wo und wie sich dies jeweils zeigt.
21
Diese prinzipielle Perspektive bedeutet, dass es keine eigene Sozialontologie
22
geben muss, ja geben kann, weil jede Ontologie bereits Sozialphilosophie ist.
23
Diesen Schluss muss man aus Nancys Erluterung seiner ontologischen These
24
ziehen: „Nicht zuerst das Sein des Seienden und dann das Seiende selbst als Mit-
25
ein-ander, sondern das Seiende – und alles Seiende – in seinem Sein als mit-ein-
26
ander seiend. Singulr plural: derart, daß eines jeden Singularitt von seinem
27
Sein-mit-mehreren nicht zu trennen ist, und weil tatschlich und im allgemeinen
28
Singularitt von Pluralitt nicht zu trennen ist. Auch hier handelt es sich nicht
29
um eine zustzliche Eigenschaft. Der Begriff des Singulren impliziert seine Sin-
30
gularisierung und folglich seine Unterscheidung von anderen Singularitten
31
[…]. Das Singulre ist von vornherein jeder Einzelne, folglich auch jeder mit
32
33
und unter allen anderen. Das Singulre ist ein Plural. […] Das Singulre ist jedes
34
Mal fr das Ganze, auf seinem Platz und in seinem Blick.“46
35
Aus dieser Ontologie ergibt sich fr die Sozialphilosophie die Konsequenz,
36 dass jede Identitt unbegrndbar wird, zumindest solange man sie isoliert und
37 wiedererkennbar konzipiert sehen will. Nancy hat einen Großteil seines Werkes
38 44 Ebd.
39 45 Ebd. 52. Dt.: 61.
40 46 Ebd. 52. Dt.: 61 f.
Die ,soziale Spanne‘ 39

1 darauf verwendet zu zeigen, dass und inwiefern weder Volk noch Gemeinschaft,
2 weder Nation noch Familie als Verkçrperung der Ko-Existenz infrage kom-
3 men.47 Im Gegenteil zeigt sich nun, dass das Mit- als Strukturbedingung des
4 Seins selbst noch der heideggerschen Alternative von Man und Volk vorausliegt.
5 berhaupt lsst sich kein Standpunkt auffinden, von dem aus thetisch ,ber‘ das
6 Mit-Sein zu sprechen wre. Aussprechen lsst es sich nur in der ersten Person
7 Plural. Statt einer Identitt, die man feststellen kçnnte und fr die Kriterien, Ei-
8 genschaften oder Grenzen zu bestimmen wren, spricht ein kontingentes, ereig-
9 nishaftes Wir sich selbst aus. Die Begriffe „Kontingenz“ und „Ereignis“ sind
10 hier ernstzunehmen, wenn die Konsequenzen aus dem plural singulren Sein ge-
11 zogen werden sollen. Sie bedeuten dann nmlich einen stndigen Zwang, sich
12 situativ zu positionieren, ohne sich je abschließend niederlassen zu kçnnen:
13 „Niemals Identitt, immer Identifizierungen.“48
14
15
16
17
III.
18
19
Mit seiner Ontologie des plural Singulren gelingt es Nancy, den kollektivisti-
20
schen Tendenzen aus Sein und Zeit zu entgehen, ohne in einen allzu schlichten
21
methodischen Individualismus zurckzufallen, von dem sich bereits Heideggers
22
Daseinshermeneutik gelçst hatte. Blickt man jedoch auf Heideggers Ausgangs-
23
befund zurck, bekommt die berzeugung, Nancy habe die von Heidegger
24
berlieferten Probleme gelçst, Risse. Dies zeigt sich, wenn man sich die Aus-
25
gangsproblematik vor Augen fhrt, auf die das Existenzial des Mitseins antwor-
26
tet. Die Konstitutionstheorie des Anderen in Husserls Cartesianischen Medita-
27
47 Jean-Luc Nancy: Le Sens du monde. Dt. (in Auszgen): Der Sinn des Politischen. bers.
28
von Jadja Wolf und Eric Hoerl. In: Wolfgang Pircher (Hg.): Gegen den Ausnahmezustand.
29
Zur Kritik an Carl Schmitt. Wien 1999. 119 – 140; Nancy:
loge de la mÞle. In: Ders.: tre
30 singulier pluriel. 169 – 182. Dt.: Lob der Vermischung. bers. von Andreas Knop. In: Lettre
31 Internationale 21 (1993). 4 – 7; Nancy: La communaut affronte. Paris 2001. Dt.: Die herausge-
forderte Gemeinschaft. bers. von Esther von der Osten. Berlin 2007; Nancy: La cration du
32
monde ou la mondialisation. Paris 2002. Dt.: Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisie-
33 rung. bersetzt von Anette Hoffmann. Berlin 2003; und zuletzt: Nancy: Identit. Fragments,
34 franchises. Paris 2010. Dt.: Identitt. Fragmente, Freimtigkeiten. Wien 2010. – Dass eine
35 Mehrdeutigkeit des Begriffs des „Volks“ gerade im Franzçsischen in Zusammenhang mit der
„Unreinheit des Politischen“ stehen und damit nicht einfach verworfen werden kann, ist ein
36 Verdacht, den Volker Schrmann und Grard Bras (in wechselseitiger Unkenntnis) miteinan-
37 der teilen. Vgl. Grard Bras: Les ambigu ts du peuple. Nantes 2008; sowie Volker Schr-
38 mann: Volkhaftigkeit in der Weltgesellschaft. Was kann Plessner meinen? In: Rainer Adolphi,
Andrzej Gniazdowski, Zdzisław Krasnodebski (Hg.): Philosophische Anthropologie zwi-
39 schen Soziologie und Geschichtsphilosophie. Nordhausen (im Erscheinen).
40 48 Nancy: tre singulier pluriel. 88. Dt.: 106.
40 Thomas Bedorf

1 tionen fhrte in die Schwierigkeit, wie die „,analogisierende‘ Auffassung“49 des


2 Anderen sich vom Primat des Bewusstseins lçsen und zu einer selbstndigen Er-
3 fahrung des Anderen als Anderen gelangen kçnnen soll. An Husserls bahnbre-
4 chende, wenngleich im Ergebnis unzureichende Einfhrung der Intersubjektivi-
5 tt in die Philosophie wird im Wesentlichen mit zwei Interpretationslinien
6 angeschlossen, die man die horizontale und die vertikale Deutung der Intersub-
7 jektivitt nennen kann.50 Die horizontalen Deutungen setzen mit Heideggers
8 Mitsein ein, indem sie die alltgliche Mitgegenwart der Anderen betonen und
9 zwischen Selbst und Anderen eine laterale Bezogenheit herstellen. Gadamers
10 Hermeneutik der „Horizontverschmelzung“ setzt ebenso wie Merleau-Pontys
11 „Zwischenleiblichkeit“ diese Deutung fort. Von diesem Anschluss an Husserl
12 setzen sich vertikale Interpretationen der Intersubjektivitt ab, die nicht die
13 Bezogenheit, sondern die Entzogenheit des Anderen betonen. Hierzu ließe sich
14 Sartres Begegnung des Anderen als Entfremdung ebenso zhlen wie Levinas’
15 Ethik der Alteritt und Derridas aporetische Relationierung von absoluter und
16 sozialer Andersheit.
17
In Nancys Umdeutung des Mitseins zeigt sich nun, dass er dem heidegger-
18
schen Vorbild umfassender verpflichtet bleibt, als es seinem eigenen Anspruch
19
gemß naheliegt. Das ist, so die hier abschließend vorgetragene These, in seiner
20
Unterbestimmung der Andersheit begrndet.51 Diese Unterbestimmung der An-
21
dersheit in der intersubjektiven Begegnung war in Heideggers Zugriff auf die
22
Hermeneutik des Daseins nicht berraschend. Heideggers Distanzierung von
23
Husserl, die er in § 26 von Sein und Zeit ausdrcklich macht,52 lsst sich deswe-
24
gen eine horizontale Deutung der Intersubjektivitt nennen, weil er ausdrck-
25
lich die Anderen in den Vordergrund rckt, mit denen nicht „bestimmte Ande-
26
re“53 gemeint sind. Nicht also die ereignishafte Begegnung oder gar
27
Konfrontation mit singulren Anderen verankert die ffnung des Daseins auf
28
Andere ontologisch, sondern die gleichsam laterale Mitanwesenheit.
29
Demgegenber hat Nancy nicht nur stets betont, dass sich die Andersheit der
30
31
Anderen nicht auf eine abstrakte Kategorie reduzieren lsst, sondern auch, dass
32 49 Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen. Hrsg. von Stephan Strasser. Hua I. Den
33 Haag 1973. 140.
50 Vgl. Thomas Bedorf: Andere. Eine Einfhrung in die Sozialphilosophie. Bielefeld 2011.
34
35 93 f.
51 Vgl. dazu auch Simon Critchley: With Being-With? Notes on Jean-Luc Nancy’s rewri-
36 ting of Being and Time. In: Ders.: Ethics – Politics – Subjectivity. Essays on Derrida, Levinas
37 and contemporary French thought. London 1999. 239 – 253; sowie jngst: Daniele Rugo: Phi-
38 losophy and powers of existence. Jean-Luc Nancy and the thinking of otherness. London
2013.
39 52 Heidegger: Sein und Zeit. 124 f.

40 53 Ebd. 126.
Die ,soziale Spanne‘ 41

1 sein Insistieren auf der Ereignishaftigkeit und der Pluralitt des Singulren den
2 homogenen Raum des Man in die Pluralitt heterogener „Leute“ spaltet. Doch
3 darf man die Differenz zwischen einer Philosophie des Mit und einer Theorie
4 des Anderen, die sich an den Begriffen „Singularitt“ bzw. „Alteritt“ terminolo-
5 gisch festmachen lsst, nicht bersehen. Denn mit der Pluralitt des Singulren
6 geht eine radikale Gleichsetzung aller Seinsereignisse einher, die der Ontologie
7 zumindest methodisch einen Primat zuschreibt. Die daraus resultierende Absa-
8 ge an jede ethische Dimension, die sich nicht mit Ontologie verrechnen ließe,
9 illustriert bei aller Kritik Nancys an Heidegger die innige Verwandtschaft von
10 Heideggers und Nancys Unternehmung. „Es gibt keinen Unterschied zwischen
11 Ethik und Ontologie.“54
12 Mit dieser pointierten Formulierung setzt sich Nancy geradezu diametral Le-
13 vinas entgegen als jenem Denker, der dem Primat der Ethik gegenber der Onto-
14 logie sein gesamtes Werk gewidmet hat.55 In singulr plural sein nimmt Nancy in
15 einer Anmerkung direkt und bndig auf dieses Verhltnis Bezug: „In gewissem
16 Sinne ist Levinas als Zeuge exemplarisch fr die Problematik. Was er aber als
17
,autrement qu’Þtre‘ (anders als Sein) versteht, muß verstanden werden als ,das
18
Eigentlichste des Seins‘, eben darum weil es vielmehr darum geht, das Mit-sein
19
zu denken statt den Gegensatz des Anderen zum Sein.“56
20
Sofern nun bei Levinas das „autrement qu’Þtre“ gerade das Auftreten des An-
21
gesichts des Anderen bezeichnet, das sich nicht nur jeder Kategorisierung, son-
22
dern in seiner Ereignishaftigkeit auch jedem ontologischen Zugriff entzieht und
23
so zum Ort des ethischen Appells werden kann, entzieht Nancy Levinas’ Philo-
24
sophie radikaler Alteritt mit diesem Mançver den Boden. Levinas, der stets be-
25
kannt hat, wie viel sein Denken demjenigen Heideggers verdankt (ohne dass – so
26
wird sogleich hinzugefgt – Verdanken Vergessen hieße57), setzt anstelle der on-
27
tisch-ontologischen Differenz eine ontologisch-ethische als grundlegend an.
28
Wenn, wie Levinas die Fundamentalontologie auffasst, Heideggers Rede vom
29
Sein dieses wie ein „identifizierbare[s] Seiende[s]“58 anspricht, so kann Anderes
30
31
nicht in Erscheinung treten. Sein ist „berhaupt die Unfhigkeit zu irgendetwas
32 54 Nancy: tre singulier pluriel. 123. Dt.: 149.
33 55 Der Klarheit der Gegenberstellung zwischen pluraler Ontologie und Alterittstheorie
34 willen ziehe ich hier allein Levinas heran und verzichte auf die Darstellung des verwickelteren
35 Verhltnisses von Derrida und Nancy. Vgl. dazu jedoch Marie-Eve Morin: Jenseits der brder-
lichen Gemeinschaft. Das Gesprch zwischen Jacques Derrida und Jean-Luc Nancy. Wrz-
36 burg 2004.
56 Nancy: tre singulier pluriel. 52. Anm. 1. Dt.: 61. Anm. 32.
37
57 Emmanuel Levinas: Autrement qu’Þtre ou au-del de l’essence. Den Haag 1974. 49.
38
Anm. 1. Dt.: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. bers. von Thomas Wiemer.
39 Freiburg 21998. 96. Anm. 28.
40 58 Ebd. 55. Dt.: 105.
42 Thomas Bedorf

1 Anderem“,59 das nicht eine Wiederholung oder Verdoppelung des Selben ist. Un-
2 terbrechung des Seins kann nur von einem Anderswo herkommen, das nicht
3 schon seinen Ort in der Ontologie eingenommen hat. Jenseits dieser fundamen-
4 talen Differenz in der Auffassung dessen, was Ontologie erfassen kann oder kçn-
5 nen msse, ist fr Levinas jedoch entscheidend, dass Sozialitt bzw. Intersubjek-
6 tivitt nur unter Einbezug einer solchen Unterbrechung angemessen denkbar ist
7 (Levinas’ Bezeichnungen dafr variieren: Trennung, Exterioritt, Jenseits-des-
8 Seins … ). Heideggers hermeneutische Kontinuitten erweisen sich daher als
9 nicht weiterfhrend. „Das Heideggersche In-der-Welt-Sein ist Verstehen: selbst
10 die technische Aktivitt ist Erçffnung, Ent-deckung des Seins, und sei es auf die
11 Weise der Seinsvergessenheit. […] Doch hinter dem, was die Thematisierung er-
12 schließt, […] hinter der Identitt der Seienden, der Pole fr die Identifizierung
13 […] lçst sich die Sensibilitt nicht in jene Licht- und Spiegelspiele auf […]. Sie ist
14 Verwundbarkeit, Empfnglichkeit, Entblçßung, durch den Anderen ,umringt‘
15 und betroffen, irreduzibel auf das Erscheinen des Anderen.“60
16 Es wre noch viel zu sagen zu der Art und Weise, wie Levinas hier Heidegger
17
zuspitzt (bzw. verflacht), wie auch dazu, wie sehr seine Rhetorik zu lockern
18
wre (oder in Beziehung zu setzen zu dem „geschraubt wrdevollen Pathos“61,
19
das er zu Recht an Heideggers Texten moniert). Aber darum geht es hier nicht.
20
Es geht vielmehr um die Mçglichkeiten, die bereitstehen, wenn man nach Hei-
21
degger, aber nicht wie Heidegger sozialphilosophisch denken will.62 Diesbezg-
22
lich steht Levinas’ Betonung eines „jenseits des Seins“ fr eine Option, die Nan-
23
cys Philosophie anvisiert, aber verfehlen muss. Denn – so muss es nach der
24
kurzen Erinnerung an Grundelemente des Denkens der Alteritt scheinen – die
25
Singularitt, die Nancy ebenso nachdrcklich wie kunstvoll namhaft macht,
26
bleibt in der Gleichartigkeit und Gleichsinnigkeit des Seins befangen. Die demo-
27
kratische Pluralitt des Singulren besteht ja gerade in der Formel: „Der Sinn,
28
das sind wir“.63 Alterittstheoretisch gesprochen msste Singularitt hingegen
29
gerade in einem Ereignis bestehen, das sich mit dem Sinn des Seins nicht verrech-
30
31
nen lsst, das zwar nicht vollkommen getrennt, gnzlich anderer Art ist, wie Le-
32
Ebd. 230. Dt.: 389 f.
59
33 Ebd. 101. Dt.: 181.
60
61 Ebd. 230. Dt.: 389.
34
62 So besteht gewiss ein „Defizit“ von Nancys Ontologie des Sozialen in ihrer strukturellen
35
Nhe zur Negativen Theologie, insofern sie ber die Struktur des „Mit“ nur negativ zu spre-
36 chen weiß (so Kurt Rçttgers: Das Soziale als kommunikativer Text. Eine postanthropologi-
37 sche Sozialphilosophie. Bielefeld 2012. 30). Das gravierendere Defizit scheint jedoch zu sein,
38 dass Singularitt Alteritt begrifflich ausschließt. Eine „postanthropologische Sozialphiloso-
phie“ muss das natrlich nicht kmmern.
39 63 Jean-Luc Nancy: L’oubli de la philosophie. Paris 1986. 94. Dt.: Das Vergessen der Philo-

40 sophie. bers. von Horst Brhmann. Wien 1987. 100. Hervorh. Th.B.
Die ,soziale Spanne‘ 43

1 vinas hyperbolisch immer wieder unterstreicht, aber doch als ein berschuss
2 ber die Ordnung des Seins sich deren Zugriff entzieht.
3 Indem das Ereignis der Alteritt, wie es in der „asymmetrische[n] Intersubjek-
4 tivitt“64 statthat (nach Levinas), zu einer ontologischen Existenz unter und zwi-
5 schen anderen Existenzen („entres autres“) gemacht wird (nach Nancy), ver-
6 flchtigt sich jede Mçglichkeit eines Widerstandes im ontologischen Meer der
7 Singularitten.65 Nancy geht mit Heidegger mit und ber ihn hinaus, indem er
8 die Sackgasse, in die Heidegger sich in Sein und Zeit mit der Alternative „Man
9 oder Volk“ mançvriert, nicht zum Anlass nimmt, zu einem sozialen Atomismus
10 der individuellen Freiheit zurckzukehren, sondern als Forderung nach einer
11 systematischen Neugrndung des Sozialen begreift. Wenn man sozialphiloso-
12 phisch von Heidegger lernen will, geht es mit Nancy also darum, das Mitsein
13 ontologisch zu radikalisieren. Was auf der Strecke bleibt, ist die Andersheit des
14 Anderen, die sich dem sozialen Mit, der geteilten Kommunikation, entzieht. Die
15 Prioritten verraten sich bei Nancy in einer beilufigen Formulierung, die ihm
16 selbst nicht ganz geheuer zu sein scheint: „das ,Mit‘ – und der Andere, der damit
17 einhergeht, wenn man so sagen kann“.66 Dass man das gerade nicht so sagen
18 kann, wre der Einwand, den Alterittstheoretiker mit Derrida oder Levinas er-
19 heben wrden.
20 Dabei ist vçllig unstrittig, dass Nancys dichte Beschreibungen der leiblichen
21 Pluralitt des Miteinanderseins fr die Alterittstheorien Wesentliches beigesteu-
22 ert haben: Erweiterungen, Ergnzungen, Przisierungen, Korrekturen. Am Um-
23 gang mit dem heideggerschen Ausgangspunkt jedoch zeigt sich, dass auf der
24 grundlegenden methodischen Ebene Unvereinbarkeiten bestehen. Zwischen ver-
25 tikalen und horizontalen Deutungen dessen, wie Andersheit dem Selbst begeg-
26 net, auf es wirkt und seine Erfahrungen prgt, besteht ein Bruch, der unber-
27 brckbar zu sein scheint.67
28
29
30
31
32
33 64 Emmanuel Levinas: De l’existence l’existant. Paris 31981. 164. Dt.: Vom Sein zum Seien-

34 den. bers. von Anna Maria und Wolfgang Nikolaus Krewani. Freiburg 1997. 119.
65 Nancy formuliert das Problem in seiner Auseinandersetzung mit Heidegger als eine Of-
35
fenheit, die dem Sein eignet bzw. eignen soll, aber von Heideggers Rhetorik qua Schließungs-
36 metaphorik la „conservatisme ,ForÞt-Noire‘“ widerrufen wird. Vgl. Jean-Luc Nancy:
37 L’„thique originaire“ de Heidegger. In: Ders.: La pense drobe. Paris 2001. 105. Anm. iv.
66 Nancy: tre singulier pluriel. 50. Dt.: 60.
38 67 Nancy wrde seinerseits sagen (sagt!), man msse „aussi relire Lvinas partir de Heideg-
39 ger“ (Nancy: L’„thique originaire“ de Heidegger. 105. Anm. vi). Das wre eine Wendung, der
40 hier nicht mehr nachgegangen wird.
1
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39
40
1 Jagna Brudzińska
2
3
4 Mitvollzug und Fremdverstehen
5
Zur Phnomenologie und Psychoanalyse der teilnehmenden Erfahrung
6
7
8
9
10 1. Einleitung
11
12 Die Frage, die mich zu diesem Beitrag bewegt, ist die nach der Erfahrung des
13 Anderen, und sie bewegt mich insbesondere in der Hinsicht, wie wir den Zu-
14 gang zum Anderen in unserem Alltag, aber auch innerhalb der Wissenschaften
15 vom Menschen handhaben, zuallererst in der Psychologie, Psychotherapie und
16 Psychiatrie. berall dort geht es nicht einfach darum, den Anderen als bloß An-
17 deren, als mein bloßes Gegenber, also nur gegenstndlich zu erfassen, sondern
18 auch oder vor allem darum, ihn in seiner Individualitt als einen Mit-Menschen
19 in unserer gemeinsamen Welt zu verstehen, seine Ziele und Motive zu erspren,
20 seine sozusagen innere Welt, sein leibliches und seelisches Erleben zu erfahren.
21 Dieses Erfahren trgt immer praktische Zge. Wir wollen den Anderen kennen
22 lernen, ihm nher kommen oder uns auch vor ihm schtzen. Als rzte oder The-
23 rapeuten wollen wir ihm helfen, ihn von seinem Leid befreien etc. Phnomenolo-
24 gisch gewendet sind wir dabei daher mit der Frage nach der praktischen und
25 nicht der bloß theoretischen Intentionalitt der Fremderfahrung konfrontiert:
26 mit der Frage nach dem immer praktisch motivierten Mitvollzug fremder Inten-
27 tionen. Denn wir haben hier immer und ursprnglich mit subjektiven Interessen
28 zu tun, mit elementaren subjektiven Strebungen, Wollungen, mit wunsch- und
29 bedrfnisgeleiteten Antizipationen, genießenden und leidenden Zu- und Ab-
30 wendungen, Identifikationen, Introjektionen und Imitationen, die bestndig ei-
31 nen subjektiven Sinn aufweisen und nie unmotiviert erfolgen. Sie finden in ei-
32 nem subjektiven oder sogar, so mçchte ich es nennen, transsubjektiven, leiblich
33 getragenen Raum statt. Hier sind wir mit der interessegeleiteten, d. h. prakti-
34 schen Intentionalitt der Fremderfahrung als teilnehmender Erfahrung konfron-
35 tiert, mit einem Phnomen des immer praktisch mitmotivierten Mitvollziehens
36 fremder Intentionen. Jeder dieser Mitvollzge – wie auch alle sonstigen Erfah-
37 rungen, die wir im Laufe unseres Lebens machen – verndert uns, reichert unse-
38 ren Erfahrungsbestand und den Horizont unseres Erfahrens an, prgt und be-
39 stimmt uns so in unserer Individualitt. Denn mit jedem solcher Mitvollzge
40 fgt sich der Andere in unseren Erfahrungshorizont ein, sein Erleben wird zu

Phnomenologische Forschungen 2013 ·  Felix Meiner Verlag 2013 · ISSN 0342-8117


46 Jagna Brudzińska

1 einem der Momente unseres Erfahrens und so auch zu einer Stimme unseres eige-
2 nen Inneren, ja, zu einem Votum unseres Erlebens und Entscheidens. Die Phno-
3 menologie erlaubt an dieser Stelle, vom Prozess der Individuation zu sprechen,
4 vom Prozess der bestndigen subjektiven Entwicklung in einer ursprnglichen
5 Verwobenheit und Verbundenheit mit Anderen, in einem In- und Freinander-
6 sein. In diesem Prozess scheint der Andere von Anfang an mit dabei zu sein.
7 Phnomenologisch stehen wir hier vor der Aufgabe einer differenzierten inten-
8 tionalen Auslegung jener Erfahrung.
9 Sie lsst sich meiner Ansicht nach auch nicht bloß durch den Verweis auf die heute
10 auch neurologisch im zerebralen Bereich identifizierbaren Resonanzphnomene er-
11 klren, die die Wissenschaftler als Grundstein der Empathie deuten. Es ist vor allem
12 die Entdeckung der so genannten Spiegelneuronen gewesen, die gegenwrtig sowohl
13 in der Wissenschaft als auch in den Medien und in der Gesellschaft als Meilenstein in
14 der Erforschung der sozialen Struktur des menschlichen Gehirns und des neurobiolo-
15 gischen Zugangs zum Fremdsubjektiven gerhmt wird.1 Aus der erlebten Innenper-
16 spektive gesehen, beantwortet jedoch das Ausweisen neuronaler Resonanzen von
17 Fremdsubjektivem in unserem Erleben nicht die Frage nach der Fremderfahrung,
18 nach ihrer Leistungsfhigkeit und vor allem ihrem Sinnbezug. Whrend die Neuro-
19 wissenschaften versuchen, die Spiegelneuronen als Grundlage fr die intersubjektive
20 Struktur der menschlichen (und tierischen) Welt zu verstehen, d.h. als Grundlage der
21 Fhigkeit zur Kommunikation, Empathie und des Miteinanders, wird aus phno-
22 menologischer Sicht deutlich, dass wir hierbei zwar von biologischen Strukturen der
23 Realisierung intersubjektiver Bezge sprechen kçnnen, jedoch keineswegs kçrper-
24 lich-emotionale Nachahmungsphnomene mit subjektiven Nach- bzw. Mit-Vollz-
25 gen des Fremderlebens gleichsetzen sollten. Das Spiegelneuronensystem scheint die
26 Emotionen von Anderen psycho-biologisch adquat zu rsonieren. Es informiert
27 uns gleichwohl nicht hinreichend ber die Intentionen des Gegenbers.2 Denn hier
28
29 1 Die Spiegelneuronen als spezielle Nervenzellen bei Primaten wurden bekanntlich in den

30 neunziger Jahren von einer Gruppe italienischer Forscher beschrieben (Giacomo Rizzolatti,
31 Leonardo Fogassi, Vittorio Gallese: Neurophysiological mechanism underlying the understan-
ding and imitation of action. In: Nature Neuroscience 2 [2001]. 661 – 670; siehe auch Vittorio
32
Gallese: The ,shared manifold‘ hypothesis. From mirror neurons to empathy. In: Journal of
33 Consciousness Studies 8 [2001]. 33 – 50; ders.: The roots of empathy: the shared manifold hy-
34 pothesis and the neural basis of intersubjectivity. In: Psychopathology 36 [2002]. 171 – 180).
35 Es handelt sich um Nervenzellen, die whrend der Betrachtung eines Vorgangs beim Gegen-
ber die gleiche Aktivitt zeigen, wie wenn der Vorgang nicht bloß von außen betrachtet, son-
36 dern selbst durchgefhrt wrde. Jene Forscher gehen davon aus, dass wir es hierbei mit Phno-
37 menen spontaner und unmittelbarer kçrperlicher Nachahmung zu tun haben.
2 Vgl. dazu vor allem Thomas Fuchs: Das Gehirn – Ein Beziehungsorgan. Eine phnome-
38
nologisch-çkologische Konzeption. Stuttgart 2007; und Dieter Lohmar: Mirror neurons and
39 the phenomenology of intersubjectivity. In: Phenomenology and Cognitive Science 5 (2006).
40 5 – 16. Diese Kritik formuliert vom Standpunkt der psychoanalytischen Subjektivittsfor-
Mitvollzug und Fremdverstehen 47

1 kommt es auf das subjektive Erleben und den Mit-Vollzug von intentionalen Bez-
2 gen an. Dabei spielen aber, wie bereits angesprochen, die eigenen und fremden Erfah-
3 rungshorizonte, Habitualitten, Ziele und Interessen, die in Erwartungshaltungen
4 zum Ausdruck kommen, eine entscheidende Rolle. An dieser Stelle ist die Phnome-
5 nologie der Intersubjektivitt aufgefordert, vor allem die passiv-vorreflexive, aber
6 auch die genetische Stufe der Fremderfahrung zu durchleuchten und zu schauen, wie
7 die empirisch erfassbaren Resonanzphnomene als Motivationsmomente in einem
8 komplexen intentionalen Erfahrungszusammenhang fungieren.
9 Im Sinne der Phnomenologie will ich diese Aufgabe aus der erlebten Innen-
10 perspektive angehen, die heute auch als Erste-Person-Perspektive bezeichnet
11 wird, und vorwiegend mit den Mitteln der auf Edmund Husserl zurckgehen-
12 den Methode der intentional-genetischen Analyse erçrtern. Es ist vor allem die
13
phnomenologische Methode der genetischen Intentionalanalyse, die es mçg-
14
lich macht, leib-seelische Zusammenhnge im Aufbau intentionaler Erfahrun-
15
gen menschlicher Subjekte zu analysieren und so ihre sinnbildende individuie-
16
rende Leistung zu erfassen. Mit der genetisch-phnomenologischen Analyse
17
wird es mçglich, Strukturen und Dynamiken der personalen, leib-seelischen Er-
18
fahrung in ihren Werdungsprozessen verstndlich zu machen: Niederschlge
19
personaler Erfahrungen zu rekonstruieren, ihre Horizonte, Ziele, individuelle
20
und soziokulturelle Verflechtungen, die auch als leibliche – und immer prakti-
21
sche – inter- oder transsubjektive Intentionalitt ihren Ausdruck finden, zu un-
22
tersuchen.
23
Als genetische Theorie der konkreten Subjektivitt berwindet die Phnome-
24
25
nologie zudem das klassische Verstndnis von der Singularitt des Ich. Aus dem
26
genetischen Blickwinkel gesehen wirkt der Andere von Anfang an in meiner Er-
27 fahrung mit. Die Meinigkeit der Erfahrung kann nur mittels Abstraktion ge-
28 dacht, nicht jedoch in Erfahrungsevidenzen gefunden werden. Das konkrete Ich
29 der Transzendentalphnomenologie Husserls zeigt sich vielmehr als ursprng-
30 lich intersubjektiv mitbestimmt, wofr Husserl in den dreißiger Jahren den Be-
31 griff der egologischen Intersubjektivitt prgt.3 Wird der Gedanke von der ur-
32 sprnglichen Intersubjektivitt der subjektiven Sphre oder des Selbst
33 genetisch-systematisch weiterentwickelt – und auch dazu legt Husserl alle In-
34 strumente bereit –, wird es meiner Ansicht nach mçglich, nicht nur die Erste-,
35 sondern sogar die Zweite-Person-Perspektive fr die Wissenschaft vom Men-
36 schen zu rechtfertigen. Aber gerade dafr scheint es unabdingbar zu sein, die
37
38 schung auch Stephan A. Mitchell: Bindung und Beziehung. Auf dem Weg zu einer relationalen
Psychoanalyse. Gießen 2004.
39 3 Vgl. Edmund Husserl: Zur Phnomenologie der Intersubjektivitt. Texte aus dem Nach-

40 lass. Dritter Teil. 1929 – 1935. Hrsg. von Iso Kern. Hua XV. Den Haag 1973. 192.
48 Jagna Brudzińska

1 spezifische Intentionalitt der teilnehmenden Erfahrung auch genetisch przise


2 auszulegen, dabei vor allem ihre prreflexiven, leiblichen und, wie zu zeigen sein
3 wird, prreflexiv-transsubjektiven Formen zu identifizieren.
4 Diese Aufgabe kann besonders fruchtbar im interdisziplinren Zusammen-
5 hang realisiert werden. Phnomenologisch von Interesse scheinen dabei zum ei-
6 nen die Resultate der Kognitionswissenschaften und der modernen Suglingsfor-
7 schung zu sein. Diese werden inzwischen auch phnomenologisch intensiv
8 ausgewertet. Richtungweisend sind hierbei die Forschungen im Rahmen der so
9 genannten Naturalizing Phenomenology4.
10 Zum anderen sind es aber auch Resultate der Psychoanalyse und der psycho-
11 analytisch orientierten Entwicklungspsychologie, die mir fr die phnomenolo-
12 gische Fragestellung von besonderem Belang zu sein scheinen, zumal sie bisher
13 weder von der Phnomenologie selbst noch von der akademischen Psychologie
14 und auch nicht von den Kognitionswissenschaften hinreichend bercksichtigt
15 wurden. Fr die genetische Phnomenologie scheinen die psychoanalytischen
16 Ergebnisse auch deshalb von besonderem Wert, weil sich die psychoanalytische
17 Empirie von Anfang an als Empirie aus der erlebten Innenperspektive verstehen
18 lsst und auch von Anfang an den genetischen Zusammenhang der subjektiven
19 Erfahrung fokussiert.
20 Mehr oder weniger implizit entwickelt die Psychoanalyse dabei ein an-
21 spruchsvolles Konzept der teilnehmenden Erfahrung. Phnomenologisch lassen
22 sich die Wesenscharaktere jener Erfahrung u. a. an Phnomenen der so genann-
23 ten gleichschwebenden Aufmerksamkeit und an Strukturen der bertragung
24 und Gegenbertragung als Erfahrungsfeldern der klinischen Arbeit gewinnen
25 und identifizieren. Aber was noch bedeutsamer zu sein scheint, ist, dass die psy-
26 choanalytischen Verstndnisse an sehr reichem Anschauungsmaterial ausgewie-
27
28
29 4 Dieser Begriff geht auf den 1999 erschienenen Band von Jean Petitot mit dem gleichnami-

30 gen Titel und die Grndung der Zeitschrift „Phenomenology and Cognitive Science“ von
31 Shaun Gallagher und Dan Zahavi zurck. Im Allgemeinen verteidigt dieses Projekt die Verbin-
dung zwischen der Phnomenologie und den Cognitive Neurosciences. Unter Anerkennung
32
der externalistischen Position der Wissenschaften (Dritte-Person-Perspektive) zielt es auf eine
33 Integration der in der erlebten Innensicht gewonnenen Einsichten (Erste-Person-Perspektive)
34 in den Erklrungsrahmen (explanatory framework) der empirischen Forschung ab. Vgl. Dan
35 Zahavi: Naturalized phenomenology. In: Handbook of phenomenology and cognitive sci-
ence. Dordrecht 2010. 3 – 20. Dabei zeigt sich, dass ein sachbezogener Austausch zwischen den
36 Kognitions- und Neurowissenschaften einerseits und der Phnomenologie andererseits mit Re-
37 spektierung der jeweiligen Grundpositionen (Dritte- und Erste-Person-Perspektive) mit ge-
38 genseitigem Nutzen gefhrt werden kann. Es geht dabei um eine Zusammenarbeit, die zwar
nicht symmetrisch, aber dennoch komplementr und mit praktischem Nutzen fr die For-
39 schung sein kann. Insbesondere Dan Zahavi gelingt es, diesen Ansatz im Rahmen seiner phno-
40 menologischen Intersubjektivittsstudien fruchtbar zu machen.
Mitvollzug und Fremdverstehen 49

1 sen werden, das fr die phnomenologische Fragestellung als wahre Schatzkam-
2 mer gelten darf. In meinem Beitrag werde ich auch darauf Bezug nehmen.
3 Mit diesem interdisziplinren Ansatz will ich zeigen, dass wir erst dann und
4 im eigentlichen Sinne von der Fremderfahrung als einer besonderen und fr die
5 Wissenschaften vom Menschen zentralen Form der sozialen Erfahrung spre-
6 chen kçnnen, wenn wir eine eigentmlich polare Struktur des teilnehmenden
7 Vollzugs intentional-genetisch erfasst haben, entsprechend derer, so meine The-
8 se, das Ein- oder Nachverstehen, also im allgemeinsten Sinne das Einfhlen, erst
9 und unmittelbar bezogen auf das ursprngliche Mitfhlen realisiert wird und
10 werden kann.
11 In beiden Fllen – sowohl beim Ein-Verstehen oder Ein-Fhlen als auch bei
12 jenem fundierenden Mit-Vollzug als Mit-Fhlen – haben wir es mit subjektiven
13 Leistungen zu tun, die aus der erlebten Innenperspektive erfahrbar sind und in-
14 tentional-genetisch verstndlich gemacht werden kçnnen. Das jeweilige Innen
15 wird dabei aber nicht durch die Kçrpergrenzen der erlebenden (vollziehenden)
16 Individuen abgesteckt. Vielmehr zeigt es sich als ein bergreifender leiblich-seeli-
17 scher, dynamischer und medialer Bereich motivationaler Prozesse, charakteri-
18 siert durch fusionsartige Ausbreitungen, separierende und differenzierende Ein-
19 engungen, gegenseitige berlappungen und Verschmelzungen, Ein- und
20 Entgrenzungen. Wir haben es hier also nicht mit Kçrperrumen zu tun, sondern
21 mit dynamischen, leib-seelischen Resonanzrumen.
22
23
24 2. Methodische Vorbemerkung: die intentionalgenetische Analyse
25
26 Innerhalb der phnomenologischen Forschung und insbesondere hinsichtlich
27 der Anwendung der phnomenologischen Methode im interdisziplinren Kon-
28 text werden meist die Methoden der Wesensbeschreibung und der statischen
29 Aktanalyse angewandt. Nach Husserl behandelt letztere die Korrelationen zwi-
30 schen dem erfahrenden Aktbewusstsein und den erfahrenen Gegenstndlichkei-
31 ten als sozusagen geschichtslosen Vorfindlichkeiten der Erfahrung. Das bereits
32 Gewordene der Erfahrung wird auf seine Strukturmomente hin befragt, ohne
33 dass der Werdungsprozess selbst zum Thema gemacht wird. Im Unterschied
34 dazu fokussiert die intentional-genetische Analyse gerade auf die Werdungspro-
35 zesse und Individuationsdynamiken der Erfahrung5 – Werdungsprozesse, die im-
36
5 Edmund Husserl: Zur Phnomenologie der Intersubjektivitt. Texte aus dem Nachlass.
37
38 Zweiter Teil. 1921 – 1928. Hrsg. von Iso Kern. Hua XIV. Den Haag 1973. 38: „<Als> statisch
kann ich wohl phnomenologische Forschungen bezeichnen, die den Korrelationen zwischen
39 konstituierendem Bewusstsein und konstituierter Gegenstndlichkeit nachgehen und geneti-
40 sche Probleme berhaupt ausschliessen. Davon habe ich zu unterscheiden phnomenologische
50 Jagna Brudzińska

1 mer im Horizont der (individuellen) Geschichte stattfinden und sich zugleich in


2 Antizipationen einer (individuell-) mçglichen Zukunft realisieren. Jene Antizipa-
3 tionen werden erlebt und lassen sich als solche auch empirisch identifizieren,
4 und zwar in Form von konkreten subjektiven Erwartungen. Letztere kçnnen als
5 voll ausgebildete Vorstellungen zum Ausdruck kommen. Als solche werden sie
6 der verstehenden Reflexion zugnglich. Sie kçnnen aber auch als diffuse emotive
7 Expressionen wie Stimmungen, mehr oder weniger dunkle Ahnungen oder aber
8 auch als kçrperlich-emotionale Verfassungen und Verhaltungen, wie Verspan-
9 nungen oder Entspannungen, ans Licht kommen, scheinbar zufllig und nicht
10 selten zunchst unverstndlich. Auch kçnnen die subjektiven Erwartungen in
11 Gefhlen, wie zum Beispiel Vorfreude oder Angst vor einem knftigen Ereignis,
12 ihren Ausdruck finden. Oft werden wir unserer Erwartungen erst in den Mo-
13 menten ihrer Enttuschung inne, erst dann werden sie fr uns objektivierbar
14 und gegenstndlich. In allen ihren Expressionsformen weisen unsere subjekti-
15 ven Erwartungen aber immer Spuren unserer erlebten Geschichte auf, sie zeigen
16 sich immer als mehr oder weniger von ihr geprgt. Es sind Spuren, die wir zumin-
17 dest teilweise aufdecken kçnnen, wenn wir unseren Assoziationen folgen und
18 unserer Phantasie freien Lauf lassen. Wir entdecken dann Verweise, Anknpfun-
19 gen an bereits erlebtes hnliches etc. Durch das, was in einer beeindruckenden
20 Weise vor allem die psychoanalytische Methode zu Tage treten lsst, kann es uns
21 gelingen, die Zusammenhnge unseres Werdens als Wirkungsbeziehungen zwi-
22 schen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufzudecken und sie auch syste-
23 matisch zu verfolgen. Aber es ist auch die Psychoanalyse, die zeigt, dass wir hu-
24 fig erst durch den oder mit dem Anderen auf die Spur unserer eigenen
25 Geschichte, auf die Spur unserer darin erwachsenen Erwartungen, Wnsche und
26 Bedrfnisse kommen kçnnen. Denn dazu bedrfen wir eines emotiv sensiblen
27 Resonanzraumes.
28 In allgemeiner Hinsicht charakterisieren solche Werdungsdynamiken alle Stu-
29 fen der Erfahrung, angefangen mit der Stufe des urkonstituierenden Zeitbewusst-
30 seins ber die Stufe der subjektiven Zeit, in der es um Motivationszusammenhn-
31 ge zwischen subjektiven, aber dennoch bereits objektivierbaren Erlebnissen
32 geht, bis hin zur Wirkungszusammenhngen zwischen Erlebnissen in der objek-
33 tiven Zeit. Diese sind sowohl fr die transzendentalphnomenologische For-
34 schung als auch fr die innerpsychologische phnomenologische Analyse von
35 Bedeutung. berall dort geht es um die Leistung der Sinnbildung als ein schon
36
37 Forschungen, die die Typik verschiedener sich darbietender Gestalten des Erlebens und der
38 Genese betrachten nach ihren Wesensmçglichkeiten, Vertrglichkeiten usw., ohne aber die In-
dividualprobleme im Zusammenhang zu betrachten. Endlich haben wir die Phnomenologie
39 der monadischen Individualitt, darin beschlossen die Phnomenologie einer zusammenhn-
40 genden Genesis, in der Einheit der Monade erwchst, in der die Monade ist, indem sie wird.“
Mitvollzug und Fremdverstehen 51

1 auch passiv-assoziativ motivierter – aber eben immer motivierter – Prozess der


2 Sinnbertragung, und zwar bei allen Formen von Apperzeptionen, Antizipatio-
3 nen und Reproduktionen, die wir als erlebende Subjekte in der Welt, ja, als Men-
4 schen in der Welt permanent vollziehen.6
5 Wird das Erleben also unter dem genetischen Blickwinkel betrachtet, haben
6 wir es erstens immer mit Motivationsprozessen zu tun. Die Aufgabe der Unter-
7 suchung betrifft dann das Erfassen des motivierten Auseinander-Hervorgehens
8 von Erlebnissen in der Zeit, um einen Begriff von Dilthey zu verwenden, und
9 nicht eine bloße Beschreibung der Aufeinanderfolge oder des Nebeneinander-
10 Bestehens von Erlebnissen.7 Der motivationale Zusammenhang als Entwick-
11 lungszusammenhang rckt ins Zentrum des Interesses. Zweitens hat die geneti-
12 sche Analyse, im Unterschied zu der statischen Beschreibung von Jetzt-Zustn-
13 den, prozessuale Verlufe zu ihrem Gegenstand. Nicht die sozusagen fertigen
14 Ergebnisse der Erfahrung sollen hier erfasst werden, sondern Prozesse und Ver-
15 lufe des Aufbaus von Erlebnissen, Erlebnisreihen und Erlebniszusammenhn-
16 gen, die sich in der Zeit ereignen. Drittens behandelt die intentional-genetische
17 Analyse, im Unterschied zur statischen Beschreibung, Individuationsprozesse
18 der Erfahrung und nicht Strukturen der (zeitlosen) Identitt.
19 Dabei lassen sich zwei Perspektiven voneinander unterscheiden, und zwar
20 die ontogenetische und die aktualgenetische. Im Fall der ontogenetischen Per-
21 spektive kçnnen wir die genetischen Zusammenhnge bezogen auf den breiten
22 Zeithorizont der individuellen Entwicklung betrachten. Auf der psychologi-
23 schen Ebene haben wir es dann mit der Biographieforschung zu tun. Die Analy-
24 se bezieht sich auf die Dynamiken des Lebenslaufs, so wie sie aus der erlebten
25 Innenperspektive zur Evidenz kommen. Im Fall der aktualgenetischen Fragestel-
26 lung hingegen fokussieren wir uns auf einzelne Erlebnisse in ihrem dynami-
27
6 Wie wichtig es ist, fr das Verstndnis des genetischen Zugangs zur Erfahrung das Verhlt-
28
nis zwischen Apperzeption und Motivation przise auszulegen, betont mehrfach Husserl
29
selbst, so u. a. in der Abhandlung Statische und genetische phnomenologische Methode aus
30 dem Jahre 1921: „Jede Motivation ist Apperzeption. Das Auftreten eines Erlebnisses A moti-
31 viert das eines B in der Einheit eines Bewußtseins; das Bewußtsein von A ist mit einer hinaus-
weisenden, das Mitdasein ,anzeigenden‘ Intention ausgestattet. Aber hier ist zu sagen: Jede
32
unerfllte Intention, jeder unerfllte Horizont birgt Motivationen, Systeme von Motivationen
33 in sich. Es ist eine Potentialitt der Motivation. Wenn die Erfllung eintritt, ist eine aktuelle
34 Motivation da. Man kann auch sagen, daß Apperzeption selbst eine Motivation <sei>, sie mo-
35 tiviere, was auch immer erfllend eintreten mag, sie motiviere ins Leere hinaus. […] Fundamen-
tal fr die Theorie des Bewußtseins ist die universale Durcherforschung der Verhltnisse des
36 ber sich hinausmeinenden Bewußtseins (ber sein Selbst hinaus), das hier Apperzeption
37 heißt, zur Assoziation.“ (Edmund Husserl: Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs-
38 und Forschungsmanuskripten 1918 – 1926. Hrsg. von Margot Fleischer. Hua XI. Den Haag
1966. 337. Anm. 1.)
39 7 Husserl selbst spricht hier auch von Verhltnissen der unmittelbaren und der mittelbaren,

40 also motivierten Aufeinanderfolge. Vgl. Hua XI, 336.


52 Jagna Brudzińska

1 schen Werden. Sie bleiben zwar immer in den weiten Zeithorizont der individu-
2 ellen Erfahrung eingebettet und lassen sich in ihrem Lebenssinn nur als solche
3 verstndlich machen. Sie weisen jedoch zugleich einen eigenen zeitlichen und
4 motivationalen Aktualaufbau auf, der bereits bei elementaren Affektionen und
5 Interessenweckungen ansetzt. Hierbei kommen nicht bloß sinnliche Daten zum
6 Wirken, die auf uns unmotiviert von außen einstrçmen, um auf eine rtselhafte
7 Weise das Bewusstsein zu affizieren, sondern wir haben es auf der subjektiven
8 Seite mit einem Gespann von Wnschen, Bedrfnissen und ngsten zu tun, von
9 triebhaft-instinktiven Bewegmomenten bis hin zu habitualisierten Erwerben,
10 die Husserl mit dem Begriff affektives Relief bezeichnet. Es zeigen sich dabei
11 auch Verbote und Gebote der Kultur, Vorstellungen und Normen der Gesell-
12 schaft oder Regeln der Gemeinschaft am Werke. All das wirkt sich bei unseren
13 konkreten antizipierenden Auffassungsleistungen aus.
14 Werden diese genetischen Zusammenhnge in den Fokus genommen, stellt
15 sich die Frage nach dem fr sie zustndigen Erfahrungsbewusstsein und dessen
16 Erfahrungsevidenzen. Es drfte inzwischen klar geworden sein, dass wir es im
17 Fall der genetischen Analyse mit Erfahrungsmodi und Evidenzarten zu tun ha-
18 ben, die das Prsenzfeld der Gegenwart berschreiten und vom schlichten Wahr-
19 nehmungsbewusstsein nicht erfasst werden kçnnen. Meine These ist, dass wir es
20 bei der intentionalgenetischen Forschung mit einem besonderen Erfahrungsbe-
21 wusstsein zu tun haben: mit einem affektiven, leiblichen und gewissermaßen
22 imaginren Bewusstsein. Dieses Erfahrungsbewusstsein spielt eine besondere
23 Rolle, wenn es um das Verstehen der intersubjektiven Erfahrung und den Auf-
24 bau der personal-sozialen Realitt geht. Mit Husserl, aber auch mit Freud lsst
25 sich hier im weitesten Sinne von der Phantasie sprechen.
26
27
28
29 3. Phantasie als Erfahrungsbewusstsein personal-sozialer Realitt
30
31 Es sind sowohl Husserl als auch Freud, die zeigen, dass nicht nur die Gegen-
32 wartswahrnehmung und nicht nur das Wahrnehmungsbewusstsein es ist, das als
33 Erkenntnisbewusstsein der Realitt fungiert und uns empirische Erfahrungsevi-
34 denzen liefert. Sowohl die husserlsche Phnomenologie als auch die freudsche
35 Psychoanalyse leisten, wenn auch in unterschiedlicher Weise, eine enorme Auf-
36 wertung der Phantasie als originres Erfahrungsbewusstsein des Menschen. Hus-
37 serl zeigt, dass und in welcher Weise die Phantasie auch alle unsere Wahrnehmun-
38 gen mitprgt und mittrgt. Sie erfllt zum Teil konservativ ergnzende
39 Funktionen bei der Herstellung der Wahrnehmungsidentitt von Gegenstn-
40
Mitvollzug und Fremdverstehen 53

1 den.8 Zum Teil jedoch zeigt sie sich auch produktiv und kreativ – Husserl prgt
2 dafr den Begriff der reinen Phantasie –, und zwar vor allem, indem sie die sub-
3 jektiven Relevanzen in der Erfahrung wirken lsst, Alternativen vorzeichnet,
4 Wnsche und Bedrfnisse erkennen oder ngste und Sorgen verstehen lsst.
5 Dass und inwiefern dies sogar in unbewusster Form statthaben kann oder statt-
6 hat, zeigt vor allem Freud, der sich bekanntlich mit der Thematik des unbewuss-
7 ten Phantasierens intensiv auseinandergesetzt hat.9
8 Den beiden Autoren folgend kçnnen wir jedenfalls festhalten, dass die Phanta-
9 sie als ein besonderes Leistungsbewusstsein fungiert, und zwar als ein emotiv,
10 und sogar leiblich-emotiv, sinnbildendes Bewusstsein; und dies vielleicht insbe-
11 sondere, wenn es um die Sinnbildung der personal-sozialen Realitt geht. Denn
12 die Wirkungsbeziehungen – als motivationales Gefge, das sich in Erwartungs-
13 haltungen manifestiert – umfassen immer auch die Anderen, denen wir uns mit-
14 teilen wollen, oder auf deren Antworten wir warten, von denen wir gesehen,
15 anerkannt und geliebt zu werden wnschen, deren geahnten oder geußerten Er-
16 wartungen gegenber wir gewachsen sein wollen, denen wir folgen, oder von
17 denen wir uns abwenden, manchmal ngstlich, verrgert, enttuscht oder ver-
18 letzt. berall haben wir es hier mit Erfahrungen zu tun, die fragil, aber dennoch
19 sehr bestimmend sind, die von Ambivalenzen und Widersprchen gekennzeich-
20 net sind, die flchtig und bestndig zugleich sein kçnnen. Darin zeigen sich die
21 besonderen Merkmale der Phantasie als Leistungsbewusstsein: ihre Toleranz fr
22 Widersprche – die Husserl auf ihre Proteusartigkeit zurckfhrt –, ihre Mehr-
23 Zeitlichkeit, ihre Wunsch- und somit auch Angstgebundenheit, als Charakteristi-
24 ka der spezifischen Intentionalitt des Phantasierens.
25 Mit Freud, aber auch mit Eugenio Gaddini, einem italienischen Psychoanaly-
26 tiker, der bereits in den fnfziger Jahren zur Psychoanalyse der ersten psychi-
27 schen und intersubjektiven Strukturen gearbeitet hat, kçnnen wir festhalten,
28 dass die Phantasie als der ursprngliche Erfahrungsmodus des Menschen fun-
29 giert. Fr Freud (wie auch ursprnglich fr Husserl) hatte sie mit Bilder zu tun.
30
8 Mit diesem Aspekt befasst sich insbesondere Dieter Lohmar. Im Hinblick auf die konser-
31
vative Funktion der Phantasmen in der Wahrnehmung spricht er von der schwachen Phantasie.
32
Vgl. Dieter Lohmar: Weak phantasy in perception and cognition. In: Shaun Gallagher, Daniel
33 Schmicking (Hg.): Handbook of phenomenology and cognitive science. Heidelberg 2010.
34 159 – 177; ders.: Phnomenologie der schwachen Phantasie. Phnomenologische, psychologi-
35 sche und neurologische Aspekte der Funktion schwacher Phantasma in Wahrnehmung und
Erkenntnis. Dordrecht 2008.
36 9 Eine sehr aufschlussreiche Analyse dazu legte Rudolf Bernet vor. Vgl. Rudolf Bernet:

37 Phantasieren und Phantasma bei Husserl und Freud. In: Dieter Lohmar, Jagna Brudzińska
38 (Hg.): Founding psychoanalysis phenomenologically. Phenomenological theories of subjecti-
vity and the psychoanalytic experience. Dordrecht 2011. 1 – 21. Siehe dazu auch Jagna Bru-
39 dzińska: Depth phenomenology of the emotive dynamic and the psychoanalytic experience.
40 In: Lohmar, Brudzińska (Hg.): Founding psychoanalysis phenomenologically. 33 ff.
54 Jagna Brudzińska

1 Fr Freud waren es Phantasiebilder, die in einer Art halluzinatorischem Prozess


2 die Wahrnehmungsidentitt von Objekten herstellen sollten, wenn die reale Ge-
3 gebenheit des Objektes nicht gewhrleistet, aber seelisch unbedingt bençtigt
4 war.10 Gaddini zeigt hingegen, dass „die Entwicklung der Phantasie mit Phanta-
5 sien beginnt, die durch Kçrperfunktionen ausgedrckt werden“, die also noch
6 gar nicht fhig sind zur Verbildlichung. Gaddini nennt sie Kçrperphantasien und
7 identifiziert sie bei dem Erleben von Suglingen sowie dem regressiven und re-
8 gressiv-psychotischen Erleben seiner Patienten: „[Bevor] das Auftauchen des
9 Bildes in der Psyche die Realitt des Vorgestellten garantiert, scheint der Psyche
10 diese Garantie durch die konkrete Kçrperlichkeit gegeben zu werden.“11
11 Hier zeichnet sich also ein sehr weiter Begriff der Phantasie ab, nmlich als
12 ein leiblich-emotives, wunschgeleitetes Leistungsbewusstsein. Es ist ein Be-
13 wusstsein, das unser Erfahrungsleben entscheidend mitprgt und -trgt, und
14 zwar schon dadurch, dass es all unseren Wahrnehmungen den Erwartungscha-
15 rakter, aber auch den Wunschcharakter verleiht. Als solches – so meine implizite
16 These – scheint es das eigentliche Erkenntnisbewusstsein subjektiver und vor
17 allem intersubjektiver, interpersonaler Realitt zu sein. Es zeigt sich dabei als ein
18 Reich spezifischer Evidenzen und Intuitionen, und zwar begonnen mit den ele-
19 mentarsten und ursprnglichsten Formen der Kçrperphantasie, also einer Phan-
20 tasie, die gar keiner bildlichen oder symbolischen Vorstellungen bedarf, zu die-
21 sen sogar (noch) nicht fhig ist.
22 Es ist das Wasser im Munde, das zusammenluft, wenn unser Appetit ange-
23 regt wird, es sind aber auch die elementaren, noch vorreflexiven Mit-Vollzge
24 fremder Intentionen, wenn wir zum Beispiel einem kleinen Kind zusehen, das
25 seine ersten Schritte wagt, noch unsicher und instabil, jeden Moment bereit, wie-
26 der hinzufallen. Wenn wir dem Kind nahe sind, wenn uns seine Mhe bewegt,
27 spannen wir selbst unseren Kçrper bei jedem seiner Schritte an, fast als wrden
28 wir fr es – an Stelle von ihm – laufen wollen, es sttzend und beschtzend. In
29 dieser Anspannung, die oft dieselben Muskelpartien betrifft wie die des ben-
30
10 Es handelt sich hierbei um den Vorgang des so genannten Primrprozesses, bei dem sich
31
nach Freud die Assoziationsfhigkeit in den Dienst des Wunsches stellt. Diese Denkform be-
32
zeichnet Freud in Formulierungen ber zwei Prinzipien des psychischen Geschehens (1911)
33 als Halluzinieren bzw. Phantasieren. Als solche wird sie als genuin seelische Aktivitt gedeu-
34 tet. Freud erkennt darin eine spezielle und ursprngliche Denkart des Menschen, aus der sich
35 erst spter das Wahrnehmungsdenken bzw. der Sekundrprozess entwickelt. (Die Befhigung
zum primrprozesshaften Denken hlt sich nach Freud allerdings lebenslang, was sich u. a. an
36 dem Traumdenken oder vielen Beispielen der so genannten Regression zeigt.) Vgl. Sigmund
37 Freud: Formulierungen ber zwei Prinzipien des psychischen Geschehens (1911). In: Ders.:
38 Gesammelte Werke VIII. Frankfurt a.M. 1999. (im Folgenden zitiert als GW mit Angabe des
jeweiligen Bandes).
39 11 Eugenio Gaddini: Das Ich ist vor allem ein Kçrperliches. Beitrge zur Psychoanalyse der

40 ersten Strukturen. Hrsg. von Gemma Jappe und Barbara Strehlow. Tbingen 1998. 216.
Mitvollzug und Fremdverstehen 55

1 den Kindes, sind wir mit ihm eins, leben in seiner Bewegung, ohne dass wir uns
2 wirklich von der Stelle rhren. Unsere Intention, als Erwartungsintention, fin-
3 det ihre Erfllung in seiner kçrperlichen (oder leiblichen) Leistung des Laufens.
4 Dieses Mit-Leben der gewissermaßen fremden Bewegung, die bei uns kçrper-
5 lich in der Vernderung unseres Muskeltonus zum Ausdruck kommt, darf mei-
6 ner Ansicht nach als eine Art stellvertretendes Erleben oder Mit-Erleben gedeu-
7 tet werden. Sie lsst sich nicht mit der bloßen Resonanzthese, etwa im Sinne
8 einer spiegelneuronalen Aktivitt erklren. Vielmehr haben wir es hier mit einer
9 prreflexiv-volitiven, motivierten und zielgeleiteten Aktivitt zu tun. Es ist
10 nicht eine bloße Imitation, nicht eine bloße Resonanz, die hier statthat, es ist ein
11 Mit-Wollen, ein Sich-Mit-Bemhen, Mit-Leisten. Wir wollen – um bei unserem
12 Beispiel zu bleiben – dem Kind helfen, und zwar, indem wir seine Mhe mit-
13 tragen.
14 Dieses und verwandte Phnomene verstehe ich als Beispiele von Erfahrungs-
15 weisen, in denen auch die unmittelbare Kçrperphantasie transsubjektiv und
16 transleiblich zum Tragen kommt. Sie geht jeder Vorstellungsbildung voraus, gilt
17 aber als Evidenzquelle jenes medialen Erlebens. Intentional-genetisch haben wir
18 es dabei mit einer fusionren, sympathetischen, transsubjektiven Dynamik zu
19 tun, die selbst den Titel Fremderfahrung in Frage stellen lsst. Das Erfahrungsbe-
20 wusstsein dieser Art des Erlebens bleibt in meinen Augen die Phantasie, auch als
21 prreflexiver und medialer Zusammenhang leiblich-emotiver Expressionen.
22 Festzuhalten ist dabei, dass uns die Phantasie als ein so verstandenes Leis-
23 tungsbewusstsein nicht in ein Reich eines bloßen Als-Ob versetzt, in eine Welt
24 des Unwirklichen. Das Gegenteil ist der Fall. Paradoxerweise insbesondere in
25 der sozialen, um es so zu nennen, Phantasie sind wir in der wirklichsten Wirk-
26 lichkeit selbst. Es ist die personale Wirklichkeit, in der wir wirklich sind, wenn
27 wir genießen oder leiden, uns freuen oder traurig sind. Hier leben wir unsere
28 Wirklichkeit als Hoffnung und Verzweiflung, als Angst und als Glck, als
29 Scham und als Stolz, als Macht und als Ohnmacht, als Sehnsucht und als Verlas-
30 senheit, als Wut, Hass oder Misstrauen, auf der anderen Seite als Vertrauen, Zu-
31 neigung oder Liebe.
32 Warum sollten wir nicht einfach sagen, es sind soziale Gefhle? Warum die
33 Rede von der Phantasie? Freilich haben wir es hier mit sozialen Gefhlen zu
34 tun. Wir kçnnen sie voneinander unterscheiden, ihre Wesenscharaktere beschrei-
35 ben. Wir kçnnen hierbei eine saubere Wesensphnomenologie betreiben. Aber
36 indem wir unser subjektives und intersubjektives Leben intentional-genetisch
37 auszulegen versuchen, sehen wir, mssen wir bercksichtigen, dass jene Gefhle
38 nicht bloß da sind, sondern unsere Erwartungshaltungen bestimmen, die Relatio-
39 nen der Erwartung – der subjektiven und sozialen Erwartung – prgen, als selbst
40 motivierte Haltungen Erwartungen motivieren. Aus der intentional-genetischen
56 Jagna Brudzińska

1 Sicht sind sie dabei als ein antizipatorischer, und somit nicht gegenwrtiger Mo-
2 dus des Bewusstseins zu deuten. Es ist ein Bewusstsein der Vergegenwrtigung,
3 wenn es um Vergangenes geht, und es ist ein Bewusstsein der Quasi-Gegenwrti-
4 gung und auch der Mit-Gegenwrtigung, wenn es um Erwartung des Knftigen
5 oder vor allem des Fremden geht. Und all diese Erwartungsbildungen weisen
6 immer ausgesprochen emotive Charaktere auf. Sie sind aber ihrem intentional-
7 genetischen Sinn nach immer auch als motivierte Antizipationen des Knftigen
8 und nicht als bloße Gegenwartsbekundungen zu fassen.
9 Meine Analysen werde ich also unter der Annahme fhren, dass das so ver-
10 standene Phantasiebewusstsein als ein medialisierendes Bewusstsein der Selbst-
11 und Fremderfahrung, und zwar als Werdungserfahrung, zu verstehen ist. Es ist
12 ein Bewusstsein, das Widersprche und Ambivalenzen toleriert, eigene Zeitlich-
13 keit aufweist, nicht der bloßen Identitt des Gegenstandes folgt, sondern dem
14 motivierten Wunsch nach einem Optimum leib-seelischer und personaler Befrie-
15 digung und Erfllung. Als eigenstndiger, ursprnglicher, leiblich-emotiver Er-
16 fahrungsmodus des Menschen erçffnet es uns den Zugang zu uns selbst und zu
17 unseren Mitmenschen: zu den Erlebnissen, affektiven Zielen und motivationa-
18 len Strukturen des Anderen, und dies in unterschiedlichen zeitlichen Zusammen-
19 hngen und mit verschiedenen Evidenzweisen. Es ist, wie gesagt, zum einen die
20 motivierte Vergegenwrtigung, die uns den reflexiv-rekonstruktiven Zugang er-
21 çffnet. Zum anderen sind es aber – und ursprnglicher als die Vergegenwrtigun-
22 gen – die ebenfalls immer motivierten Mit-Gegenwrtigungen, die als synchro-
23 ne, leiblich und emotiv realisierte Mit-Vollzge das primre sympathetische
24 Erfahren im intersubjektiven Zusammenhang gewhrleisten. Diese beiden For-
25 men der Erfahrung mssen bercksichtigt werden, wenn wir von der Erfahrung
26 des Anderen als Fremdverstehen sprechen wollen. Und sie zeigen sich einer in-
27 tentional-genetischen Beschreibung und Analyse zugnglich.
28
29
30 4. Dimensionen des phnomenologischen Zugangs zum Anderen – analoge
31 Einfhlung und synchrones Mitfhlen
32
33 Die Frage nach dem intellektuellen und gefhlsmßigen Zugang zu anderen Per-
34 sonen wurde in der deutschen Philosophie schon im ausgehenden 19. bzw. zu
35 Anfang des 20. Jh. unter dem Titel der „Einfhlung“ als philosophisches Pro-
36 blem entfaltet. Die gelufigsten Theorien stellen das Einfhlen als einen Prozess
37 der intellektiven Analogisierung auf Grund von hnlichkeiten des kçrperlichen
38 Ausdrucks dar. Es ist vor allem Theodor Lipps, der seine Einfhlungstheorie im
39 Rahmen der sthetischen Fragestellung entwickelt und die Einfhlung selbst als
40 eine Art innerer Handlung bzw. eines inneren Mitgehens begreift. Das fremde
Mitvollzug und Fremdverstehen 57

1 Ich werde dabei in gewissem Sinne reproduziert, und zwar dadurch, dass die eige-
2 nen Gefhle, die beim Beobachten des Anderen und seines kçrperlichen Aus-
3 drucks entstehen, in das fremde Ich hineingelegt oder eingefhlt wren.12 Doch
4 jene Hineinlegung bleibt rtselhaft, ihre intentionale Struktur wird hier nicht
5 befragt und ausgelegt.
6 Die Phnomenologie im Ausgang von Edmund Husserl thematisiert diese in-
7 tersubjektive Erfahrung zunchst als intentionalen Akt der Einfhlung, um zu
8 zeigen, wie der Andere als leibliche Person in meinem Erleben vergegenwrtigt
9 werden kann. Dabei wenden sich die phnomenologischen Autoren gegen das
10 Verstndnis der Fremderfahrung als induktiven Analogieschluss und sind be-
11 mht, die Unmittelbarkeit der Analogisierung zu begrnden.13
12 Edith Stein und Max Scheler erfassen das Phnomen der Einfhlung auf dem
13 Grund der phnomenologischen Methode der Wesensschau als eine spezielle,
14 leiblich und seelisch getragene intentionale Aktivitt personaler Subjekte. Hier
15 wird vor allem die statische Aktstruktur der Einfhlung behandelt. Insbesonde-
16 re Max Schelers Studien zu Wesen und Formen der Sympathie (1923) leisten da-
17 bei eine phnomenologisch differenzierende Wesensdeskription verschiedener
18 Gestalten des Mitgefhls (Miteinanderfhlen, Mitgefhl, Gefhlsansteckung,
19 Einsfhlung, schließlich Einfhlung). Da jedoch seine Differenzierungen mit-
20 tels der statischen Aktanalyse gewonnen werden, bercksichtigen sie nicht hin-
21 reichend die konstituierenden sinnlich-subjektiven und vor allem passiven Leis-
22 tungen und erreichen daher nicht die genetischen, und auch nicht die passiv-
23 vorreflexiven Ebenen der Einfhlungserfahrung.14 Diesen Zugang erçffnet die
24 transzendentalphnomenologische Analyse Edmund Husserls, und zwar, in-
25 dem sie zunchst den reflexiven Zugang zum Anderen im Hinblick auf die kon-
26 stitutiven Leistungen des Ich beschreibt und dabei auch die prreflexiven und
27 genetischen Momente jener Erfahrung ausweist.
28
29
30
31
32 12 Vgl. Theodor Lipps: Leitfaden der Psychologie. Leipzig 31909. 222 f.
33 13 Husserl selbst betont ausdrcklich in der V. Cartesianischen Meditation: „Es wre also
34 eine gewisse verhnlichende Apperzeption, aber darum keineswegs ein Analogieschluß. Apper-
35 zeption ist kein Schluß, kein Denkakt.“ Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen und
Pariser Vortrge. Hrsg. von Stephan Strasser. Hua I. Den Haag 1950. 141.
36 14 Auch Husserl moniert diesen methodologischen Zusammenhang: „In das erste diese

37 ,transzendentale sthetik‘ bersteigende Stockwerk gehçrt die Theorie der Fremderfahrung,


38 der sogenannten Einfhlung. Es bedarf nur des Hinweises darauf, daß hier dasselbe gilt, was
wir fr die psychologischen Ursprungsprobleme des untersten Stockwerkes gesagt haben, nm-
39 lich daß das Problem der Einfhlung erst durch die konstitutive Phnomenologie seinen wah-
40 ren Sinn empfangen hat und seine wahre Methode der Lçsung.“ (Hua I, 173.)
58 Jagna Brudzińska

1 a) Analoge Einfhlung
2
3 In der V. Cartesianischen Meditation identifiziert Husserl die elementaren passi-
4 ven (synthetischen) Leistungen der leiblich fundierten apperzeptiven bertra-
5 gung und erschließt damit eine phnomenologische reflexive Ich-Du-Perspekti-
6 ve in ihrem passiven Aufbau: Der Andere wird hierbei als mein Gegenber oder
7 mein Analogon, als mir hnlich also, erfasst.15 Die leitende Frage lautet: Wie
8 kann ein Anderer berhaupt in meinem Erleben vergegenwrtigt werden? Hus-
9 serls Antwort besteht darin, dass wir es bei dieser Erfahrung mit einer mittelbaren
10 Intentionalitt der verhnlichenden Apperzeption zu tun haben. Sie wird in zwei
11 Erfahrungsmodis realisiert, die aufeinander aufbauen, und in denen die Reflexivitt
12 dieser Erfahrung grndet. Es handelt sich um einen vergegenwrtigenden und einen
13 gegenwrtigenden Modus. Die in diesen Modis realisierte verhnlichende Apperzep-
14 tion ist als solche an den leiblich-kçrperlichen Ausdruck (Gebaren) des Gegenber
15 gebunden – einen Ausdruck, der immer Psychisches anzeigt.16 Jenes Anzeigen bedeu-
16 tet, dass wir gewissermaßen von innen her unmittelbar erlebend das (er-)kennen, was
17 der ußere Ausdruck des Anderen uns offenbart. Das Gebaren des Anderen weckt in
18 uns ein Erleben, das wir dann quasi zurck auf den Anderen (vergegenwrtigend)
19 bertragen. Diesen Vorgang deutet Husserl als analogisierende apperzeptive bertra-
20 gung. Im Sinne der konstitutiven Analyse identifiziert er die jene bertragung ausma-
21 chenden elementaren synthetischen Leistungen sowie den Gegebenheitsmodus
22 der fremden Subjektivitt wie folgt:
23 Erstens erfasst er das Phnomen der Paarung als hnlichkeitssynthesis. Es
24 handelt sich dabei um eine „ursprnglichste Form synthetischer Passivitt“ und
25 somit um eine „elementare Leistung der Assoziation“. Hier wird hnliches
26 durch hnliches geweckt und assoziativ als konkretes Paar verbunden.17 Wir ha-
27
28 Husserl: Cartesianische Meditationen. Hua I, 138 ff.
15

„Die Apprsentation, die das originaliter Unzugngliche des Anderen gibt, ist verfloch-
16
29
ten mit einer originalen Prsentation (seines Kçrpers als Stck meiner eigenheitlich gegebenen
30 Natur)“ (Hua I, 143). „Der erfahrene fremde Leib bekundet sich fortgesetzt wirklich als Leib
31 nur in seinen wechselnden, aber immerfort zusammenstimmenden Gebaren, derart, daß dieses
seine physische Seite hat, die Psychisches apprsentierend indiziert“ (Hua I, 144).
32 17 Edmund Husserl: Beilage XXII. In: Ders.: Einleitung in die Philosophie. Vorlesungen
33 1922/23. Hrsg. von Berndt Goossens. Hua XXXV. Dordrecht 2002. 437: „Hier ist das erste
34 und im eigentlichen Sinne Unmittelbare, also Primitive, die konkrete Paarung, korrelativ das
35 passiv gegebene (also auch schon vor der Aktivitt der Erfassung, der Rezeption), vorgegebene
Paar.“ Die Paarung wird hier als die zweite Urform der passiven Synthesis, also der Synthesis
36 der Assoziation erkannt, und zwar neben der Synthesis der „Identifikation als Assoziation“:
37 „In einer paarenden Assoziation ist das Charakteristische, daß im primitivsten Falle zwei Da-
38 ten in der Einheit eines Bewußtseins in Abgehobenheit anschaulich gegeben sind und auf
Grund dessen wesensmßig schon in purer Passivitt, also gleichgltig ob beachtet oder nicht,
39 als unterschieden Erscheinende phnomenologisch eine Einheit der hnlichkeit begrnden,
40 also eben stets als Paar konstituiert sind.“ (Hua I, 142.)
Mitvollzug und Fremdverstehen 59

1 ben es dabei mit einem intentionalen bergreifen zu tun, mit einem lebendigen,
2 wechselseitigen Sich-Wecken, einem wechselseitigen, berschiebenden Sich-ber-
3 decken, das jedoch kein Verschmelzen bedeutet, sondern eher ein dynamisches
4 Sich-Verbinden, und zwar immer entsprechend dem erlebten gegenstndlichen
5 Sinn der geweckten Aspekte. Die dabei wirksamen Weckungs- und berra-
6 gungsmomente deuten bereits auf genetische Zusammenhnge hin, auch wenn
7 jene hier noch nicht erschçpfend betrachtet werden.18
8 Zweitens beschreibt Husserl einen Apprsentationsmodus, in dem der Ande-
9 re – auf dem Fundament der phnomenalen Paarung als Grundlage fr die Sinn-
10 berschiebung – als ein in mir vollzogener Sinnzusammenhang als mit-gegen-
11
wrtigt, also im Modus des Mit-Da, wahrgenommen werden soll.
12
Doch mit der Identifikation der phnomenalen Paarung als Grundlage fr die
13
Sinnberschiebung ist die intentionale Situation der Apperzeption des Anderen
14
noch nicht erschçpfend geklrt. Denn durch eine schlichte Apperzeption durch
15
bertragung htten wir zwar, so betont Husserl selbst, einen neuen Leib konsti-
16
tuiert, doch wre es kein fremder Leib und folglich auch kein Anderer, kein alter
17
ego. Eine so gedachte Apperzeption durch bertragung wrde dann mçglicher-
18
weise den Titel Aneignung oder Vereinnahmung verdienen, jedoch nicht erkl-
19
20
ren, was den anderen (Leib) zum anderen macht, zu einem zweiten eigenen Leib
21
und zum zweiten Ich-Leib.
22 Auch wenn die Figur der bertragung bei Husserl – im brigen auch ein
23 psychoanalytisch sehr prominenter Begriff, der noch immer auf seine epistemo-
24 logische Aufklrung wartet – ihren zentralen Stellenwert fr die einfhlende Er-
25 fahrung des Anderen beibehlt, bedarf der Prozess so, wie er sich in seinen Auf-
26 bau auch empirisch zeigt (wir erleben Andere faktisch als Andere), weiterer
27 differenzierender und somit individuierender Leistungen.
28 Und in der Tat, schon in der V. Cartesianischen Meditation weist Husserl die
29 Grundstrukturen jener Leistungen auf, und zwar vor allem, indem er ihre Arten
30 der Bewhrung, also Evidenzausweisung voneinander differenziert.
31 a) Fr den eigenen Leib sei es die schlichte Prsentation, d. h. originres sinnli-
32 ches Empfinden und Gegebensein. Der eigene Leib werde als originr abgeho-
33 ben und somit in originrer, reflexiver oder vorreflexiver (ob ich darauf achte
34 oder nicht), Prsentation erlebt. Wir haben es hier mit der gegenwrtigenden Be-
35 whrung zu tun.
36
18 „Wir finden bei genauer Analyse wesensmßig dabei vorliegend ein intentionales ber-
37
38 greifen, genetisch alsbald (und zwar wesensmßig) eintretend, sowie die sich Paarenden zu-
gleich und abgehoben bewußt geworden sind; des nheren ein lebendiges, wechselseitiges
39 Sich-wecken, ein wechselseitiges, berschiebendes Sich-berdecken nach dem gegenstndli-
40 chen Sinn.“ (Hua I, 142.)
60 Jagna Brudzińska

1 b) Die Bewhrung des fremden Leibes erfolge hingegen in Verflechtung mit


2 dem, was Husserl zunchst als originr unzugnglich ansieht (sinnliche Empfin-
3 dungen des Anderen, seine Erlebnisse und Zustnde im Modus der Selbstgege-
4 benheit, also in unmittelbarer Abgehobenheit), mit den eigenen Prsentationen.
5 Diese Verflechtung werde als Fluss oder Fortlauf assoziativer Paarungssynthe-
6 sen realisiert, und zwar als ein motivierter Fortlauf, der durch kontinuierliche
7 antizipative, also vorgreifende Auslegung der mitgeweckten Horizonte gekenn-
8 zeichnet sei. Denn geweckt werden hier nicht isolierte Erlebensmomente, son-
9 dern immer ganze Erlebniszusammenhnge mit ihren Potenzialitten und mehr
10 oder weniger anschaulichen Horizonten. In ihrer antizipativen Dynamik wird
11 die Bewhrung als erfllend-besttigende Erfahrung verstanden, die auch „po-
12 tentiell bewhrbare Synthesen einstimmiger Forterfahrung“ in Form von auch
13 unanschaulichen Antizipationen miteinschließt.“19
14 Damit zeichnet sich ein sehr weiter Begriff des in der Intersubjektivittserfah-
15 rung wirksamen Horizonts ab. Es scheint hier nicht bloß Erinnerbares aus dem
16 sedimentierten Erfahrungsbereich des Ich, nicht bloß das explizite Gedchtnis,
17 das Abrufbare also, eine Rolle zu spielen, sondern all das unanschauliche, das
18 implizite, das Leibgedchtnis, die instinkthaften und triebhaften Wnsche,
19 wohl auch das Abgespaltene (Verdrngte), nicht zuletzt die nicht verbalisierte
20 und nicht verbalisierbare Bindungsgeschichte (das so genannte implizite Unbe-
21 wusste) weckbar zu sein und eine konstitutive Funktion bei der bertragung zu
22 bernehmen. Denn all dies scheint die Erwartungen bei der antizipativen ber-
23 tragung mitzumotivieren und sich so in den vergegenwrtigenden Antizipatio-
24 nen des Anderen auszuwirken. All diese Charakteristika des Horizonts mssten
25 also bercksichtigt werden, wenn wir die Leistung der Angleichung, Verglei-
26 chung und schließlich der Deutung im Vollzug der Bewhrung der verhnlichen-
27 den Apperzeption bei der Erfahrung des Anderen verstndlich machen wollen.
28 Der antizipatorische Charakter dieser Leistung verlangt auch meiner Ansicht
29 nach, dass bereits hier die Phantasie als Leistungsbewusstsein in ihrer oben disku-
30 tierten Funktion der Medialisierung des Fremden in der Apprsentation berck-
31 sichtigt werden muss. Diese Aspekte werden hier allerdings nicht weiter behan-
32 delt, sondern Husserl hlt noch relativ allgemein an der deutend-bewhrbaren
33 Zugnglichkeit des original Unzugnglichen fest und behauptet, dass darin der
34 Charakter des seienden Fremden grndet.20 Doch indem die motivierten Antizi-
35 pationsverhltnisse angesprochen werden, die immer individuelle und individu-
36 ierende Charaktere aufweisen, wird erneut die genetische Dimension dieser Er-
37
38
39 19 Hua I, 144.
40 20 Ebd.
Mitvollzug und Fremdverstehen 61

1 fahrung angeschnitten und der genetische Zugang zur Analyse der Fremderfah-
2 rung erçffnet.
3 Nun werden diese Resultate innerhalb einer knstlichen, abstraktiven und so-
4 mit bloß experimentellen, so genannten primordialen Einstellung gewonnen. Je-
5 ner auch als Eigenheitssphre genannter Bereich setzt einen konstituierten Eigen-
6 leib bzw. ein Leib-Ich voraus, das dann als Referenz der verhnlichenden
7 bertragung dienen kann. Auch wenn diese Resultate keine Vereinnahmung des
8 Anderen durch das eigene Ich, auch nicht seine bloße Projektion implizieren21,
9 wenn sie ferner die reflexive Ich-Du-Perspektive zum ersten Mal in ihrem passi-
10 ven Aufbau systematisch explizieren und den genetischen Zugang zu weiteren
11 Analysen çffnen, so bleiben sie doch recht voraussetzungsreich (egologisch-ego-
12 zentrische Sicht, reflexive Stufe der Vergegenwrtigung) und bercksichtigen
13 noch nicht hinreichend den Individuationsaspekt der einfhlenden Erfahrung.
14 Ich spreche daher hier von der reflexiven Struktur der analogen Einfhlung. Davon
15 mçchte ich aber die Gestalt der unmittelbaren synchronen Teilhabe an der Erfahrung
16 des Anderen unterscheiden.
17
18
19 b) Synchrones Mit-Fhlen
20
21 Die oben diskutierte analoge Einfhlung ist nicht das Einzige, was uns Husserls
22 Intersubjektivittsanalysen zu bieten haben. In seiner weiteren Vertiefung des
23 Intersubjektivittsverstndnisses revidiert er vor allem die These bezglich der
24 egologischen Perspektive und prgt, wie bereits erwhnt, den Begriff der egologi-
25 schen Intersubjektivitt. Hier wird deutlich, dass wir nicht nur zur Analogisie-
26 rung des Anderen fhig sind, wir auch nicht in der Ordnung eines Nebeneinan-
27 der leben, sondern vielmehr in einem ursprnglichen Konnex verbunden sind,
28
29
30
21 „[J]ede paarende Assoziation [ist] wechselseitig, [enthllt] das eigene Seelenleben nach
31
hnlichkeit und Andersheit […] und [macht] durch die neuen Abhebungen fr neue Assozia-
32
tionen fruchtbar“ (Hua I, 149). „Ich apperzipiere den Anderen doch nicht einfach als Duplikat
33 meiner selbst, also mit meiner oder einer gleichen Originalsphre, darunter mit den rumlichen
34 Erscheinungsweisen, die mir von meinem Hier aus eigen sind, sondern, nher besehen, mit
35 solchen, wie ich sie selbst in Gleichheit haben wrde, wenn ich dorthin ginge und dort wre.
Ferner, der Andere ist apprsentativ apperzipiert als Ich einer primordinalen Welt bzw. einer
36 Monade, in der sein Leib im Modus des absoluten Hier, eben als Funktionszentrum fr sein
37 Walten ursprnglich konstituiert und erfahren ist. Also indiziert in dieser Apprsentation der
38 in meiner monadischen Sphre auftretende Kçrper im Modus Dort, der als fremder Leibkçr-
per, als Leib des alter ego apperzipiert ist, denselben Kçrper im Modus Hier, als den, den der
39 Andere in seiner monadischen Sphre erfahre. Das aber konkret, mit der ganzen konstitutiven
40 Intentionalitt, die diese Gegebenheitsweise in ihm leistet. (Hua I, 146.)
62 Jagna Brudzińska

1 fr-einander-da, mit Husserls Worten: aufeinander-angewiesen-, voneinander-


2 abhngig, miteinander-verbunden.22
3 In einem seiner spten Kommentare zur V. Cartesianischen Meditation be-
4 merkt er ausdrcklich: „Eben damit begrndet sich ein untrennbares Freinan-
5 dersein, weder ich bin fr mich, und so wie ich bin, trennbar vom Anderen, noch
6 ist er es von mir. Jeder ist fr sich und ist doch fr den Anderen. Jeder als seiend
7 hat Sinn zugleich aus sich und zugleich fr jeden Anderen, und das gehçrt zu
8 eines jeden Wesen.“23
9 Phnomenal kommt diese Miteinanderverwobenheit und das Freinander-
10 sein in spontanen leiblich-emotiven Resonanzphnomenen des Fremderlebens
11 zum Ausdruck, in unwillkrlichen Mit-Vollzgen, die vor jeder Analogisierung
12 statthaben. Wir kçnnen dies an vielen Alltagsbeispielen beobachten: Es ist das
13 Mit-Empfinden der Freude oder der Trauer des Anderen, von einfachen Stim-
14 mungsabfrbungen bis hin zum intensiven Ergriffen-Sein. Es sind leiblich und
15 seelisch erfahrene Ver- und Entspannungen, die uns manchmal sogar stellvertre-
16 tend die Angst oder das Glck des Anderen sprbar werden lassen, ohne dass
17
wir ein entsprechendes Verstndnis von der Sachlage haben, oder als Fremdsch-
18
men zum Vorschein kommen. Es sind Erlebnisse der Mutter, die ihr weinendes
19
Kind trçstet oder seiner Freude in ihren Augen und ihrem Gesicht Ausdruck
20
verleiht. Es sind Irritationen dadurch, dass wir nicht wegsehen kçnnen oder gera-
21
de uns schtzen mssen, uns nicht zerstreuen lassen wollen von fremdem, uns
22
manchmal geradezu berwltigendem Erleben. Die Entwicklungspsychologie
23
spricht in diesem Zusammenhang von Nachahmungsphnomenen, die moderne
24
Spiegelneuronenforschung von neuronalen Resonanzen, die Psychoanalyse von
25
inneren Resonanzrumen und sogar stellvertretendem Erleben. Phnomenolo-
26
gisch gesehen handelt es sich hier im Allgemeinen um vorreflexive, leiblich-emo-
27
tive, pr- oder non-verbale Phnomene, und, wie bereits oben erlutert, um ei-
28
nen elementaren und genetisch ursprnglichen Erfahrungsmodus in Form von
29
der Kçrperphantasie, die sich als leibliches Mitgegenwrtigungsbewusstsein deu-
30
31
ten lsst. Jenes Bewusstsein unterscheidet sich wesentlich von dem in der V.
32
Cartesianischen Meditation erfassten Apprsentationsbewusstsein, in dem der
33
Andere als mein Analogon und so auch mein Gegenber in der Weise des mit-da
34 vergegenwrtigt wird. In einem solchen unmittelbaren Mit-Leben lebe ich den
35 Anderen unmittelbar, ich lebe ihn vor jeder Reflexion und jeder deutend-bewh-
36 renden Auslegung, ich lebe ihn synchron, zeitgleich, ich lebe ihn – um erneut
37
38
39 22 Vgl. Hua XV, 193.
40 23 Ebd. 191.
Mitvollzug und Fremdverstehen 63

1 einen Ausdruck Diltheys zu verwenden – „in der Linie des Geschehens“.24 Und
2 dieses Mit-Leben formt und gestaltet mein Leben mit. Es scheint unsere Exis-
3 tenzform als soziale Wesen berhaupt entscheidend mitzuprgen und auch zu
4 tragen.
5 Das unmittelbare, vorreflexiv-passive Erfahren des Anderen in Nachahmung
6 und Imitation wird gegenwrtig innerhalb der Phnomenologie mit Bezug auf
7 Ergebnisse der modernen Suglingsforschung sowie der Kognitions- und Neuro-
8 wissenschaften intensiv ausgewertet. Der zentrale Begriff – ja geradezu ein Zau-
9 berwort – in diesem Zusammenhang scheint die Spiegelung als unmittelbares Re-
10 sonanzphnomen des Erlebens Anderer zu sein. Aber auch Husserl, indem er
11 die (intentionale) Miteinanderverwobenheit der Subjekte im Hinblick auf ihre
12 noetische, also die Vollzugsseite betrachtet hat, greift auf diesen Begriff zurck.
13 Zugleich macht er deutlich, dass wir es hier doch mit komplexen, motivational
14 bestimmten subjektiven Leistungen des teilnehmenden Vollzugs zu tun haben,
15 nicht mit bloßen Spiegelungsreflexen. „Es ist nicht kraftlose Spiegelung, son-
16 dern, wenn wir ein ego ein absolut Reales nennen, so gehçrt es zu einem solchen
17 Realen, dass sein Sein untrennbar ist von jedes anderen Sein und jedes jedes ande-
18 re intentional umgreift und in intentionaler Mittelbarkeit, die nicht eine leere
19 Geste ist, in sich trgt.“25 Auch in einem spten, der Reduktion auf die lebendige
20 Gegenwart gewidmeten Manuskript (Ms. C 3) wird diese Einsicht festgehalten:
21 „Die absoluten Subjekte spiegeln nicht bloß, sondern sie tragen Andere selbst,
22 aber als selbst apprsentierte in sich, so wie ich (und dann jedermann) vergange-
23 nes Sein selbst, aber als vergangenes, in mir trage.“26 Phnomenologisch ist also
24 die Spiegelung als vollzugsmßige Teilnahme – und nicht bloße Teilhabe an der
25 Erfahrung des Anderen, die uns sozusagen geschieht –, zu klren. Ich will diesbe-
26 zglich nun zwei Zugnge zu dieser Erfahrungsdimension voneinander unter-
27 scheiden.
28 Zum einen ist es die heute in der Phnomenologie intensiv diskutierte Gestalt
29 der direkten bertragung in kçrperlicher Nachahmung bzw. Simulation bei An-
30 nahme einer bereits (mindestens minimal) individuierten Subjektivitt. Es han-
31 delt sich dabei um einen Phnomenbereich, der, motiviert vor allem durch die
32 Entwicklungen innerhalb der modernen Suglingsforschung sowie der Kogniti-
33 ons- und Neurowissenschaften, gerade auch phnomenologisch eine neue Ak-
34 tualitt erlangt. Als Evidenzgrundlage gelten hier Phnomene der direkten Nach-
35 ahmung kçrperlicher oder leiblicher Ausdrucksweisen, die sich bei
36
24 Wilhelm Dilthey: Entwrfe zur Kritik der historischen Vernunft. In: Ders.: Wilhelm Dil-
37
38 theys Gesammelte Schriften VII. Hrsg. von Bernhard Groethuysen. Leipzig 1927. 214.
25 Hua XV, 191.
39 26 Edmund Husserl: Spte Texte ber Zeitkonstitution (1929 – 1934). Die C-Manuskripte.

40 Hrsg. von Dieter Lohmar. Hua Mat VIII. Dordrecht 2006. 57.
64 Jagna Brudzińska

1 Erwachsenen und Kindern, aber auch schon bei Suglingen und Neugeborenen
2 beobachten lassen und nicht durch die reflexive Gestalt der Einfhlung verstnd-
3 lich gemacht werden kçnnen.
4 Jean Piaget beschrieb bereits Ende der fnfziger Jahre solche imitativen Ver-
5 haltensweisen anhand des kindlichen Verhaltens beim Spiel, die vor jeder Refle-
6 xion stattfinden.27 Ende der siebziger Jahre beobachtete Andrew Melzoff, ein
7 amerikanischer Psychologe, dass auch Suglinge Nachahmungsaktivitten voll-
8 ziehen, indem sie zum Beispiel zurcklcheln oder auch die Zunge herausstre-
9 cken, wenn man ihnen die Zunge zeigt.28 Weitere Forscher wie Daniel N. Stern
10 oder Giannis Kugiumutzakis haben gezeigt, dass auch Neugeborene solche F-
11 higkeiten aufweisen. Die Kognitivistik spricht hierbei von Spiegelung in den Ver-
12 lufen des primren Empfindens. Der norwegische Psychologe und Soziologie-
13 professor Stein Brten prgte dafr den Begriff der intersubjektiven
14 Partizipation.29
15 Phnomenologisch richtungweisend fr die Deutung dieser Erfahrungsdi-
16 mension sind vor allem die Ergebnisse der Forschungen Dan Zahavis. In seiner
17 phnomenologischen Auswertung der Resultate der Kognitionsforschung und
18 neurowissenschaftlichen Forschung zeigt er (mit ausdrcklicher Referenz auf
19 Gallese), inwiefern sich – im Unterschied zu der immer noch mentalistisch belas-
20 teten, kognitivistischen Auffassung der Simulationstheorie30 – eine phnomeno-
21
22
27 Jean Piaget: Nachahmung, Spiel und Traum: Die Entwicklung der Symbolfunktion beim
23 Kinde. Stuttgart 62009. Fr.: La formation du symbole chez l’enfant. Paris 1959. Wie u. a. aber
24 Brten moniert, vertrat auch Piaget dabei die egozentrische Sicht. Vgl. Stein Brten: Intersub-
25 jektive Partizipation. Bewegungen des virtuellen Anderen bei Suglingen und Erwachsenen.
In: Psyche 65 (2011). 832 – 861. 833.
26 28 Andrew N. Meltzoff, M. Keith Moore: Newborn infants imitate adult facial gestures. In:

27 Child Development 54 (1983). 702 – 809.


29 Stein Brten: Intersubjektive Partizipation.
28
30 Die Simulationstheorie ist eine im Rahmen der Theory of Mind entwickelte Interpretati-
29
on der Fremderfahrung. Insgesamt deutet die Theory of Mind die Fremderfahrung als Mentali-
30 sierung im Sinne einer mittelbaren, intellektiv-interpretativen Funktion des fremden Erlebens,
31 die auch affektiv realisiert werden kann. Gegenwrtig gibt es zwar zwei Theorien zur Theory
of Mind: (i) die kognitive Theorie-Theorie und die (ii) Simulationstheorie. Erstere geht davon
32
aus, dass die Mentalisierung eine Theoriebildung im Kind voraussetzt, die es mçglich macht,
33 Verhaltensweisen Anderer vorherzusehen und abzuleiten (dazu z. B. Henry M. Wellman, Ali-
34 son Gopnik: Why the Child’s theory of mind really is a theory. In: Mind and Language 7
35 [1992]. 145 – 171). Es handelt sich dabei um eine sehr komplizierte, mittelbare, intellektiv-de-
duktive Struktur, die dann automatisiert werden soll. Im Unterschied dazu besagt die Simulati-
36 onstheorie, dass Mentalisierungsprozesse eine Fhigkeit voraussetzen, sich in jemanden hinein-
37 zuversetzen, und zwar derart, dass dabei der eigene mentale Zustand als Modell dient, um den
38 mentalen Prozess der anderen Person zu simulieren und dadurch deren Reaktionen zu verste-
hen (s. z. B. Paul L. Harris: From simulation to folk psychology: The case for development. In:
39 Mind and Language 7 [1992]. 120 – 144). Auch wenn manche Autoren die Simulationstheorie
40 als eigenstndige alternative Theorie und als nicht bloße Unterart der Theory of Mind verste-
Mitvollzug und Fremdverstehen 65

1 logische Interpretation der unmittelbaren Fremderfahrung im Sinne einer ver-


2 kçrperten Simulation (Gallese)31 verteidigen lsst. Doch auch seine neuesten
3 Analysen, die vorreflexive und passive Ebenen der Nachahmungsphnomene
4 phnomenologisch reflektieren und dabei systematisch diese Form des Mit-Fh-
5 lens im Unterschied zu der indirekten Struktur der Einfhlung und auch im
6 Kontrast zu den Annahmen der Simulationstheorie beschreiben,32 befassen sich
7 bisher nicht mit dem Individuationsaspekt dieser empathischen Dynamik. Wir
8 haben es hier zwar mit einer przisen und differenzierten, aber maßgeblich sta-
9 tisch-deskriptiven Analyse der unmittelbaren Nachahmungserfahrung zu tun,
10 die es zwar erlaubt, die aus der beobachtenden Perspektive der Kognitionswis-
11 senschaften gewonnenen Ergebnisse in die Erste-Person-Perspektive zu ber-
12 fhren bzw. sie aus der erlebten Innenperspektive zu interpretieren. Doch diese
13 Analyse fokussiert vorrangig auf die theoretische Struktur der Intentionalitt
14 und macht ihre prreflexiven Formen zum Thema, ohne die praktisch-individu-
15 ierenden Aspekte mitzubercksichtigen. An dieser Stelle sieht sich die Phnome-
16
nologie der Intersubjektivitt aufgefordert, nicht nur diese passiv-vorreflexive
17
Stufe der intersubjektiven Erfahrung theoretisch aufzuklren, sondern im An-
18
schluss daran auch ihre individuierenden Aspekte zu durchleuchten und zu
19
schauen, wie die experimentell erfassbaren Resonanzphnomene als elementars-
20
ten Motivationsmomente in einem komplexen (praktisch-) intentionalen (und
21
vor-intentionalen) Erfahrungszusammenhang fungieren. Meiner Ansicht nach
22
kann hier also die intentional-genetische Analyse vertiefend ansetzen und (unter
23
Bercksichtigung vor allem der psychoanalytischen Ergebnisse) einen weiteren
24
Forschungsweg anbahnen.
25
26 hen (so vor allem Alvin I. Goldman, Chandra Sekhar Sripada: Simulationist models of face-
27 based emotion recognition. In: Cognition 94 [2005]. 193 – 213) und dabei den Unmittelbar-
28 keitsaspekt der Simulation hervorheben (206 f.), so ist auch meiner Ansicht nach weiterhin fest-
zuhalten, dass es sich hierbei um eine letztlich doch mittelbare Erfahrung der Zuschreibung
29
von mentalen Zustnden auf Grund der Simulation (am Modell) handelt. Daran ndert auch
30 die Tatsache nichts, dass die in diesem Sinne mentalistische Simulationstheorie inzwischen von
31 der neurowissenschaftlichen Forschung mit ihrer berhmt-berchtigten Entdeckung der Spie-
gelneuronen in den neunziger Jahren ergnzt oder herausgefordert wurde.
32 31 Vittorio Gallese: Mirror neurons, embodied simulation, and the neural basis of social
33 identification. In: Psychoanalytic Dialogues 19 (2009). 519 – 536.
32 „According to the embodied simulation view defended by Gallese, mindreading typi-
34
35 cally involves an attempt to replicate, imitate or simulate the mental life of the other. But in
contrast to the standard account of simulation theory, as it has been developed by Goldman,
36 Gallese primarily sees the simulation as automatic, unconscious and prelinguistic, and he ar-
37 gues that intercorporeity is more fundamental than any explicit attribution of propositional
38 attitudes to others and that it remains the main source of knowledge we directly gather about
others. Vgl. Dan Zahavi: Empathy and mirroring: Husserl and Gallese. In: Roland Breeur,
39 Ullrich Melle (Hg.): Life, subjectivity & art. Essays in honor of Rudolf Bernet. Dordrecht
40 2011. 217 – 254. 221.
66 Jagna Brudzińska

1 Im Sinne der genetisch-phnomenologischen Intentionalanalyse ist hier –


2 zweitens – die vorreflexive Stufe des unmittelbaren Mit-Vollzugs als Grundge-
3 stalt einer teilnehmend-individuierenden Erfahrung (einer Erfahrung aus einer
4 ursprnglichen Bindung heraus und auf diese stets auch angewiesen) zu untersu-
5 chen. Dabei ist zu zeigen, inwiefern die als Nachahmungsaktivitten menschli-
6 cher (und tierischer) Subjekte erfassten Phnomene in einer komplexen intentio-
7 nalen Dynamik von Bindung und Individuation eine konstitutive Rolle spielen.
8 Dies darf nicht nur fr die experimentellen Neuro- und Kognitionswissenschaf-
9 ten, sondern vor allem fr die Anthropologie sowie fr die anthropologisch fun-
10 dierte Handlungs- und Sozialtheorie von Bedeutung sein, denn hier geht es einer-
11 seits um den Aufbau sozialer Kognition, andererseits um die menschliche
12 Befhigung zur Vergemeinschaftung und Kommunikation berhaupt.
13
14
15 5. Mitvollzug als sympathetische Partizipation
16
17 Den Vollzugscharakter der teilnehmenden Erfahrung und den praktischen Zug
18 der sozusagen teilnehmenden Intentionalitt hebt auch Husserl hervor: „Es ist
19 zu beachten, dass ich dabei nicht nur die Ander[e]n als mit da erfahre oder von
20 den Anderen als Mitseienden ,weiss‘, als mit in der Welt seiende aktuell bewusst
21 in der Form einer doxischen Gewissheit, sondern ich bin als Ich, als Zentrum, als
22 Vollzugssubjekt meiner Aktivitt mit den Anderen als Subjekten ihrer Aktivitt
23 vollzugsmssig verbunden. Ich bin in ihm, er ist in mir aktiv, ich arbeite in sei-
24 nem Arbeiten, er in meinem. Als Liebender in der Liebesgemeinschaft (Freund-
25 schaft), und zwar in meiner Aktualitt, betrachte ich (ich, der liebend Betrachten-
26 de, der liebend auf ihn, in ihn Eingehende) ihn nicht nur als so und so Lebenden,
27 er ist nicht nur als das in meinem Seinsfeld, sondern ich lebe in seinem Leben, ich
28 lebe es mit, und auch ich bin fr ihn evtl. Mitlebender nicht nur von aussen,
29 sondern sein Mitleben umfasst mein Mitleben.“33
30 An einer anderen Stelle bemerkt er: „Fhlend, begehrend, wollend kann ich
31 ,teilnehmen‘ . Mitgefhl, Mitbegehren, Mitwollen <ist> nicht einfach als mein
32 Fhlen etc., das mit dem des Anderen parallel luft, und ebenso nicht im blossen
33 Innesein dieses Zusammentreffens in der Fhlensweise etc. Wenn ich im Ge-
34 sprch dessen innewerde, dass mein Partner sich gleich verhlt wie ich, oder im
35 Schauspiel meinem Nachbarn die gleiche Gemtsbewegung ansehe, so ist das
36 nicht diese ,Teilnahme‘, nicht dieses Mitfhlen mit dem Fhlen des Anderen.“34
37
38
39 33 Hua XV, 512.
40 34 Ebd. 513.
Mitvollzug und Fremdverstehen 67

1 Vom Standpunkt der genetischen Phnomenologie aus drfen wir hier also
2 von noetischen teilnehmenden Vollzgen sprechen, die unsere Erfahrungshori-
3 zonte erweitern, neue Motivationen stiften, intentionale Ziele vermitteln. Das
4 sympathetische (oder, wie Husserl auch sagt, sympathische) Mitfhlen im Sinne
5 der vollzugsmßigen Teilnahme „ist nicht ,den Anderen bemitleiden‘ derart,
6 dass er einem leid tut“.35 Vielmehr zeigt sich dabei die subjektive Struktur in ei-
7 ner spezifischen Durchlssigkeit, die auch die Rede von der Fremderfahrung in
8 Frage stellt. Wir haben es hier mit einer primr fusionren, ja symbiotischen Bef-
9 higung der menschlichen Innerlichkeit zu tun. Diese Innerlichkeit lsst sich
10 nicht durch Kçrperrume und objektive Zeitlichkeit fassen. Eher handelt sich
11 um eine umgreifende Struktur vor der Temporalisation und Lokalisation, also
12 um eine, genetisch gesehen, frhere oder ursprnglichere, vielleicht die ursprng-
13 lichste Erfahrungsstruktur berhaupt. Diese Erfahrung wird nicht reflexiv und
14 diskursiv vollzogen. Wir sind ihr vielmehr schlicht ausgeliefert, da wir den Ande-
15
ren vor jeder Reflexion mit-erfahren. Dennoch weist jene Ausgeliefertheit einen
16
Leistungscharakter auf. Denn es handelt sich hier um ursprngliche, emotive
17
Vollzge des Lebens des Anderen, die jeder Reflexion vorausgehen – ein Fak-
18
tum des ursprnglichen Miteinanders.
19
Ontogenetisch gesehen setzen jene Erfahrungen wohl vor der Ich-Du-Trennung
20
an. Als individuierende Erfahrungen scheinen sie aber die Ontogenese einzuleiten.
21
Die genetische Phnomenologie ist hier dazu herausgefordert zu untersuchen,
22
wie sich in einer so verstandenen ursprnglich intersubjektiven bzw. pr-subjek-
23
tiv sympathetischen Erfahrung ein hinreichend individuiertes Subjekt erst entwi-
24
ckelt, das heißt, wie es sich aus und in einer ursprnglichen, leiblich-emotiven
25
symbiotischen Bindung heraus sukzessive individualisiert.
26
27
Diese Aspekte wurden bereits in den sechziger Jahren in einer psychoanaly-
28
tisch fundierten entwicklungspsychologischen Langzeitstudie untersucht. Mar-
29
gret Mahler und ihr Team identifizierten dabei sowohl zwei Vorphasen als auch
30 vier zentrale Phasen des Loslçsungs- und Individuationsprozesses des menschli-
31 chen Suglings und beschrieben damit zum ersten Mal die etwa zwei Jahre nach
32 der kçrperlich-biologischen Geburt dauernde psychische Geburt des Men-
33 schen.36 Insbesondere erçrterten sie die der Ausbildung des Kçrperschemas vor-
34 ausgehende Phase der symbiotischen Bindung. Auch wenn inzwischen nicht
35 mehr davon ausgegangen werden muss oder darf, dass das Neugeborene autis-
36 tisch und kompetenzlos auf die Welt kommt, sondern wir es durchaus von An-
37
38 35Ebd.
39 36Margret S. Mahler, Fred Pine, Anni Bergmann: Die psychische Geburt des Menschen.
40 Symbiose und Individuation. Frankfurt a.M. 1975, 192008.
68 Jagna Brudzińska

1 fang an mit einem kompetenten Sugling zu tun haben,37 so scheinen die symbio-
2 tischen Prozesse dennoch prgend und fr die Entwicklung bestimmend zu
3 sein. Denn das anthropologische Faktum der Ontogenese, die bei der Teilung
4 der lebendigen Zelle ansetzt und die Not der leiblichen und seelischen Ausdiffe-
5 renzierung aus einer primren lebendigen Einheit bedeutet, bleibt von den Ent-
6 deckungen kognitiv-kommunikativer Kompetenzen auch schon Neugeborener
7 unberhrt. Vielmehr stellen uns jene Entdeckungen – Entdeckungen von Kom-
8 petenzen der Neugeborenen und Suglinge – vor die Herausforderung, ihren
9 Sinn intentional-genetisch als Strukturmomente des Individuationszusammen-
10 hangs aufzuklren, der als ein dynamischer Prozess im Spannungsfeld zwischen
11 Bindung und Separation zu verstehen ist. Wir interessieren uns dann nicht nur
12 dafr, dass Neugeborene kommunizieren, sondern wir fragen, welche Ziele sie
13 darin erfllen und welche Motive sie in welcher Weise dabei realisieren.
14 Die neuesten empirischen Ergebnisse zeigen, dass die meisten Suglinge sogar
15 schon in der ersten Stunde nach der Geburt zu einer Art Kommunikation bereit sind
16 und sie sich sogar aktiv darum bemhen. Wenn die Mtter dafr nicht zur Verfgung
17 stehen, kçnnen andere Personen, ob Frauen oder Mnner, an ihre Stelle treten. Das
18 Neugeborene sucht dann auch nach ihren Gesichtern.38 Stets wird dabei der kompe-
19 tente Sugling gefeiert. Was wir jedoch hier im Hinblick auf die soziale Erfahrung
20 lernen – so betont auch Brten –, ist vor allem, dass die Babys von Anfang an aktiv an
21 der Gestaltung der Beziehung mit ihren Betreuern oder Versorgern beteiligt sind. For-
22 scher beschreiben kommunikative Rhythmen, in denen so genannte Protodialoge
23 stattfinden, whrend denen beide Partner eine erstaunlich przise Aufeinander-Ab-
24 stimmung vollbringen und wie eine Art soziales System zu funktionieren scheinen. J.
25 B. Watson sprach 1972 in diesem Zusammenhang vom Spiel,39 Paul Bloom (1990)
26 von Party,40 Stern (1994) vom Tanz.41
27
28
Die Bezeichnung kompetenter Sugling geht auf den gleichnamigen Titel der Monogra-
37
29
phie von Dornes zurck (Martin Dornes: Der kompetente Sugling. Die prverbale Entwick-
30 lung des Menschen. Frankfurt a.M. 1993). Dornes zeigt, dass Suglingen sowohl kognitive als
31 auch besonders kommunikative Kompetenzen lange vor dem Erwerb der Sprache zuerkannt
werden mssen. Sie betreffen das Sehen, Hçren und Riechen, aber vor allem auch die Fhigkei-
32
ten, zu fhlen und zu interagieren. Dornes belegt an zahlreichen Beispielen aus Alltagsbeobach-
33 tung und der empirischen Forschung, dass jene Kompetenzen von Geburt an sehr viel mehr
34 und sehr viel differenzierter sind, als man frher angenommen hat.
38 Vgl. Brten: Intersubjektive Partizipation. 834.
35 39 John S. Watson: Smiling, cooing, and ,The Game‘. In: Merrill-Palmer Quarterly 18
36 (1972). 323 – 329.
40 Paul Bloom, Steven Pinker: Natural language and natural selection. In: Behavioral and
37
38 Brain Science 13 (1990). 713 – 733.
41 Z.B. Daniel S. Stern: Die Mutterschaftskonstellation. Stuttgart 1998; ders.: Die Lebenser-
39 fahrung des Suglings. Stuttgart 1992, 72000. Zu einer bersicht ber die Ergebnisse der empi-
40 rischen Forschung hinsichtlich der sozialen Kompetenzen von Suglingen vgl. Ulrich
Mitvollzug und Fremdverstehen 69

1 Stein Brten, der sich sowohl von den Thesen Margret Mahlers hinsichtlich ihrer
2 Autismus- und Symbioseannahme als auch von der Egozentrizittsannahme Piagets
3 distanziert, spricht von intersubjektiver Partizipation und formuliert die These eines
4 virtuellen Anderen, der eine dezentrierende Funktion fr das Neugeborene haben
5 soll. Am Beispiel der Interaktion zwischen der elf Tage alten Katharina und ihrer
6 Mutter zeigt er einen Kreislauf dyadischer Struktur, an dem deutlich werden soll, wie
7 sich die beiden einander unmittelbar spren kçnnen.42 Bei der Deutung dieser Vor-
8 kommnisse gelingt es ihm klar zu machen, dass wir es hier nicht mit zwei monadi-
9 schen Individuen zu tun haben, die durch Anpassung ihrer Rhythmen einen Ein-
10 klang herzustellen versuchen. Vielmehr beobachtet er einen dyadischen Kreislauf der
11 gegenseitigen Partizipation, der sozusagen unmittelbaren Teilhabe am Anderen.43
12 Brtens Frage in diesem Zusammenhang, die er im Sinne der Philosophy of Mind
13 formuliert, ist diejenige nach operationalen und organisatorischen Merkmalen „des
14 sich stndig wandelnden Geistes“, die ein solches dyadisches Zusammenwirken mit
15 Anderen schon von Geburt an und bei den meisten von uns whrend des ganzen
16 Lebens ermçglichen. Seine Antwort lautet: Es ist der virtuelle Andere als zentraler
17 und angeborener Mechanismus der unspezifischen gemeinschaftlichen Perspektive
18 des Menschenkindes: „Im Geist des Suglings gibt es schon bei der Geburt einen
19 virtuellen Anderen, der zum Vollzug durch tatschliche Andere in der gefhlten
20 unmittelbaren Umgebung einldt und ihn zulsst. Der normale, sich entwickeln-
21 de und lernende Geist erschafft sich also neu und wandelt sich als selbstorganisie-
22 rende Dyade: einerseits im Selbst-Umgang mit dem virtuellen Anderen und an-
23 dererseits im Umgang mit tatschlichen Anderen, die den Raum der
24
25
26
27
28
Schmidt-Denter (Hg.): Soziale Beziehungen im Lebenslauf. Lehrbuch der sozialen Entwick-
29
lung. Weinheim 42005. 2 ff.
30 42 Vgl. Brten: Intersubjektive Partizipation. 834. Brten bemerkt, dass bereits, bevor er

31 1990 dieses Wechselspiel aufzeichnete, Ergebnisse zu solchen Protokonversationen vorlagen,


die Mary Catherine Bateson (1975) und Colwyn Trevarthen (1974) an sechs bis acht Wochen
32
alten Suglingen beobachtet hatten. (Mary Catherine Bateson: Mother-infant exchanges: The
33 epigenesis of conversational interaction. In: Annals of the New York Academy of Sciences 263
34 [1975]. 101 – 113; Colwyn Trevarthen: Conversations with a two-month-old. In: New Scien-
35 tist 2 [1974]. 230 – 235.) Ebenfalls stellten van Rees und de Leeuw (1987) Videoaufnahmen der
sechs Wochen alten Naseeria vor, die in der Lage war, in einem Duett mit ihrem Vater zu inter-
36 agieren. (Saskia van Rees, Richard de Leeuw: Born to soon: The Kangaroo method with prema-
37 ture babies. Video. Stichting Lichaamstaal [Gesellschaft fr Kçrpersprache], Heuthuysen
38 [1987]. www.stichtinglichaamstaal.nl.)
43 „Die Muster des gegenseitigen Lchelns, Anschauens und Duetts sind nicht das Ergebnis
39 der Versuche zweier monadischer Mitwirkender, einen Einklang herzustellen.“ (Brten: Inter-
40 subjektive Partizipation. 834.)
70 Jagna Brudzińska

1 Gemeinschaft mit dem virtuellen Anderen ausfllen und beeinflussen und damit
2 in gegenwrtiger Unmittelbarkeit direkt gefhlt werden.“44
3 Der Begriff virtuell soll in diesem Zusammenhang also einen ursprnglichen,
4 unspezifischen inneren Anderen bezeichnen, der eine Ergnzung zum kçrperli-
5 chen Selbst darstellt und dennoch nicht einen faktischen Anderen und auch
6 nicht dessen Reprsentation bedeutet. Gemß Brten kann der innere, virtuelle
7 Andere in (Proto-) Dialoghandlungen durch einen faktischen, konkreten Ande-
8 ren ersetzt werden oder ihn ersetzen. Dies fhrt Brten zur These von der Alte-
9 rozentrizitt des menschlichen Suglings.45
10 Phnomenologisch kann eine solche Instanz natrlich nicht ohne Weiteres ange-
11 nommen werden. Hier muss vielmehr die intentionale Leistung befragt werden. Hus-
12 serl selbst spricht von einer bergreifenden Intentionalitt und der Fhigkeit zur voll-
13 zugsmßigen Teilnahme am Leben des Anderen, die genetisch sehr frh ansetzt,
14 nmlich bereits im Mutterleib.46 Der Verweis auf das mutterleibliche Kind verlagert
15 die Frage nach der subjektiven Genese und der intersubjektiven Befhigung in den
16 oben angesprochenen, breiteren ontogenetischen Individuationskontext. Auch wenn
17 angenommen werden muss, dass wir von Anfang an mit kognitiven und kommunika-
18 tiven Fhigkeiten ausgestattet sind, so bleibt es eine Tatsache, dass wir einen Separati-
19 onsprozess zu durchlaufen haben, der eine Art subjektive oder psychische Geburt
20 bedeutet. Zu allererst bedeutet er einen Prozess des Sich-Ausdifferenzierens aus dem
21 mtterlichen Leib. Dabei drfen wir aber keine Alterozentrizitt voraussetzen, son-
22 dern sollten doch eine primr symbiotische Struktur bercksichtigen, die sowohl der
23 Altero- als auch der Egozentrizitt vorausgeht.
24 Dies lsst mich erneut an die Ergebnisse Margret Mahlers denken. Auch wenn wir
25 im Einklang mit der Kritik Bratens (aber auch mit den anderen und psychoanalyti-
26 schen Suglingsforschern, so vor allem mit David Sterns) ihre Annahme des psychi-
27 schen Autismus der ersten Woche und des vollstndigen Mangels an Kçrperschema
28 bei Neugeborenen nicht teilen (kçnnen und sollen), so kann man sich doch darber
29 verstndigen, dass die primre Bindung symbiotische Charaktere aufweist, die erst
30 nach und nach relativiert werden kçnnen. In diesem Modell gibt es zwar keinen virtu-
31 ellen Anderen, doch partizipiert das menschliche Neugeborene an der Leiblichkeit
32 seiner Bezugsperson unmittelbar emotional und leiblich im Sinne der Kontinuitt sei-
33 ner Ontogenese. Der gemeinsame leibliche Beginn einer Individualbiographie
34 scheint mir der entscheidende Moment der primr intersubjektiven Befhigung des
35 Menschen zu sein, die ich hier, unter dem genetischen Gesichtspunkt, nicht intersub-
36
44 Stein Brten: Infant attachment and self-organization in light of this thesis: Born with the
37
38 other in mind. In: Ingeborg L. Gomnaes, Elisie Osborne (Hg.): Making links. How children
learn. Oslo 1993. 25 – 38. 26.
39 45 Brten: Intersubjektive Partizipation. 835 f.

40 46 Hua XV, 604.


Mitvollzug und Fremdverstehen 71

1 jektive, sondern – tiefer ansetzend – sympathetische Partizipation nennen mçchte. Da-


2 bei haben wir es mit einer gewissermaßen transleiblichen intentionalen Dynamik zu
3 tun, die fusionsartige Strukturen aufweist und die subjektive Zentrizitt gleichsam
4 auflçst oder zumindest verflssigt. Bei den Prozessen des gegenseitigen Sich-Anl-
5 chelns, Anschauens und Aufsprens finden unsere Intentionen in den (leiblich-emo-
6 tionalen) Reaktionen des Anderen ihre Erfllung, in ihren, sozusagen emotiven Reso-
7 nanzen. Die berhmt-berchtigte Spiegelung zeigt sich dabei als eine kraftvolle,
8 Subjektstrukturen stiftende Leistung des rsonierenden, zugleich fusionsartigen Mit-
9 vollzugs. Die Nachahmung erweist sich hier als eine Weise des Seins und Sein-Wol-
10 lens, von einem also stricto sensu existenziellen Ziel getragen.
11 Es ist Eugenio Gaddini, der im Anschluss an die freudsche Analyse des Mechanis-
12 mus der Identifikation und unter Bercksichtigung der umfassenden psychoanalyti-
13 schen Diskussion dieses Mechanismus auf die, wie mir scheint, intentional-genetisch
14 und subjekttheoretisch gesehen fundamentale Bedeutung der Imitation aufmerksam
15 gemacht hat. Gaddini ordnet den Imitationsbegriff in den Kontext des Identifikati-
16 onskonzepts Freuds. Letzterer fhrte jenes 1900 in Bezug auf die hysterischen Phno-
17 mene der psychischen Ansteckung ein und grenzte, indem er deren komplexe Struk-
18 tur der unbewussten bertragung betonte, es stricte von der Imitation ab.47 Von da
19 an hat die Identifizierung nicht mehr sehr viel mit der Imitation zu tun, sie wurde
20 allerdings differenziert durch Begriffe wie Inkorporation und Introjektion.48 Gaddini
21 vertritt jedoch die These, dass die Imitation ein genetisch frheres Phnomen dar-
22 stellt und erst spter in der Identifizierung aufgeht oder aufgehen kann. Auf jeden
23 Fall sieht er erstere in den Dienst der Anpassungsprozesse des frhen Ich bzw. Selbst
24 gestellt. Bei diesem Anpassungsprozess wird die Imitation mit der Wahrnehmung
25 verbunden, die anfnglich nur rudimentr vollzogen werden kann. Primitive Wahr-
26 nehmungen scheinen also physische Imitationen zu sein. Gaddini verwendet hierzu
27
den Begriff der „imitativen Wahrnehmungen“, die nicht ein Ziel fr sich darstellen,
28
sondern in einem existenziellen Zusammenhang eine existenzielle und individuieren-
29
de Funktion erhalten, nmlich zu sein.49 Entsprechend seiner Deutung wird der
30
imitative Vorgang kraft der Kçrperphantasie realisiert, die sich dabei in ihrer pri-
31
mren intersubjektiven oder – um es nun genauer zu formulieren – sympatheti-
32
schen Funktion zeigt. Im Prozess der Imitation werden wir gleichsam zum Ande-
33
ren, wir machen seine Erfahrung im Sinne eines umgreifenden, sympathetischen
34
Selbst. Phnomenologisch und intentional-genetisch haben wir es dabei mit anti-
35
36 47 Sigmund Freud (1900): Die Traumdeutung. GW III. 150: „Die Identifizierung ist also

37 nicht simple Imitation, sondern Aneignung aufgrund des gleichen tiologischen Anspruches;
38 sie drckt ein ,gleichwie‘ aus und bezieht sich auf ein im Unbewussten verbleibendes Gemein-
sames.“
39 48 Vgl. Gaddini: Das Ich ist vor allem ein Kçrperliches. 77.

40 49 Vgl. ebd. 77 ff.


72 Jagna Brudzińska

1 zipativ-partizipativen und kinsthetisch-phantasmatischen Dynamiken der


2 Selbstwerdung zu tun. Und diese Erfahrungen sedimentieren wir, von Beginn an
3 fgen sie sich in unseren Erfahrungshorizont ein, teilweise werden sie dabei zu
4 unseren emotiv-leiblichen Habitualitten. Hier spielt die Phantasie eine entschei-
5 dende Rolle, nicht zuletzt die oben thematisierte Kçrperphantasie als unmittelbare
6 leibliche Teilnahme innerhalb der sympathetischen Erfahrung.
7 Auch als Erwachsene imitieren wir und schließlich bernehmen wir auch auf
8 diese Weise mimische Ausdrucksweisen, Gesten, sogar ganze Kçrperhaltungen
9 von den uns nahestehenden oder wichtigen Personen. Beachten wir, dass bereits
10 Neugeborene dazu in der Lage sind, drfen wir festhalten, dass sie damit die
11 ursprngliche Bindung (die in ihrer Prform leibliche Einheit bedeutet) in neuen
12 Formen aufrechterhalten, und zwar, indem sie in solchen fusionren Vollzgen
13 zum gewnschten, ja existenziell bençtigten Anderen in ihrem leiblichen Selbst-
14 gefhl oder Selbsterleben werden.
15 Es ist auch die Psychoanalyse, die zeigt, dass wir ebenfalls aktualgenetisch, in ein-
16 zelnen Erlebnissen der intersubjektiven Gegenwart, und nicht nur im ontogeneti-
17 schen Prozess der Selbstwerdung, zu solchen fusionren Verhaltungen fhig sind, zu
18 elementaren sympathetischen Mitvollzgen, welche die ichliche Zentrizitt aufheben
19 zu Gunsten eines bergreifenden sympathetischen Selbsterlebens. Es ist zunchst das
20 Modell der gleichschwebenden Aufmerksamkeit, das bereits Freud (1912) beschrie-
21 ben hat, ferner das Modell des trumerischen Ahnungsvermçgens (RÞverie), das auf
22 Wilfried Bion zurckgeht. Neben der praktisch-klinischen Bedeutung jener Modelle
23 gewinnen wir damit ebenfalls Evidenzquellen fr die sympathetische Erfahrungs-
24 struktur, die als einer der Grundpfeiler der teilnehmenden Erfahrung verstanden wer-
25 den kann (oder soll).
26
27 6. Abschließendes zu psychoanalytischen Evidenzen des sympathetischen
28 Mitvollzugs und zur Struktur der teilnehmenden Erfahrung
29
30 In seiner klinischen Praxis sieht Freud die Mçglichkeit besttigt, Resonanzen
31 des fremden Seelischen aufzufangen und zu deuten, und zwar als eine Art Echo
32 des fremden Unbewussten. Er weist darauf hin, dass „jeder Mensch in seinem
33 eigenen Unbewussten ein Instrument besitzt, mit dem er die ußerungen des
34 Unbewussten bei anderen zu deuten vermag“.50 Jenes Deuten heißt zunchst
35 aber Vernehmen. Gefragt wird hier nach nichts anderem als der Fhigkeit zur
36 fusionr-sympathetischen Verwebung mit dem Anderen, zum Sich-Einlassen
37 auch – oder vor allem – auf sein unbewusstes Erleben. Freud spricht hierbei von
38 der Kommunikation von Unbewusst zu Unbewusst.
39
40 50 Sigmund Freud: Die Disposition zur Zwangsneurose (1913). GW VIII. 445.
Mitvollzug und Fremdverstehen 73

1 Das Unbewusste des Patienten – wie das Unbewusste berhaupt – kommt


2 nmlich nicht vorstellungsmßig, direkt oder diskursiv zum Vorschein. Viel-
3 mehr ußert es sich auf Umwegen und kommt zum Wirken nicht zuletzt inter-
4 subjektiv in so genannten bertragungen verschiedener Art, die im psychoanaly-
5 tischen Prozess eine zentrale Rolle spielen. Bei der bertragung handelt es sich
6 um eine besondere Gefhlsbeziehung des Patienten zum Arzt, die einen regressi-
7 ven Charakter aufweist.51 Das regressive Moment besteht in der Aktualisierung
8 von unbewussten, frheren und prgenden Beziehungsmustern, Wunsch- und
9 Erwartungshaltungen, Mustern, die in der psychoanalytischen Situation auf den
10 Analytiker bezogen werden, jedoch ursprnglich und in ihrem eigentlichen Sinn
11 den frheren Objekten gelten. In diesem Sinne bedeutet Regression die Realisie-
12 rung der Vergangenheit im Jetzt, die dadurch auch behandelbar wird.52 Wir ha-
13 ben es hier mit einer unbewussten Dynamik des Wiederholens zu tun. Der Arzt
14 wird hierbei zu einer gewissen Projektionsflche fr die innere Realitt des Pati-
15 enten, damit aber in die Erfahrung miteinbezogen. Das Durcharbeiten der ber-
16 tragung wird, neben der Methode der freien Assoziation, zum zentralen Arbeits-
17 feld der psychoanalytischen Behandlung. Als solche stellt sie aber auch eine
18 Evidenzquelle des sympathetischen Erfahrens dar. Dieses Erfahren bedeutet zu-
19 gleich Rsonieren: „Wie der Analysierte alles mitteilen soll, was er in seiner
20 Selbstbeobachtung erhascht, mit Hinhaltung aller affektiven Einwendungen, die
21 ihn bewegen wollen, eine Auswahl zu treffen, so soll sich der Arzt in den Stand
22 setzen, alles ihm Mitgeteilte fr die Zwecke der Deutung, der Erkennung des
23 verborgenen Unbewußten zu verwerten, ohne die vom Kranken aufgegebene
24 Auswahl durch eine eigene Zensur zu ersetzen, in eine Formel gefasst: er soll
25 dem gebenden Unbewußten des Kranken sein eigenes Unbewußtes als empfan-
26 gendes Organ zuwenden, sich auf den Analysierten einstellen, wie der Receiver
27 des Telephons zum Teller eingestellt ist. Wie der Receiver die von Schallwellen
28 angeregten elektrischen Schwankungen der Leitung wieder in Schallwellen ver-
29 wandelt, so ist das Unbewußte des Arztes befhigt, aus den ihm mitgeteilten Ab-
30 kçmmlingen des Unbewußten dieses Unbewußte, welches die Einflle des Kran-
31 ken determiniert hat, wiederherzustellen.“53
32
33
34
35
51 Vgl. Sigmund Freud: Zur Dynamik der bertragung (1912). GW VIII. 364 ff.
52 Das Phnomen der Regression als seelischer Mechanismus erforscht insbesondere Micha-
36 el Balint. Dabei fokussiert er insbesondere auf die pr-çdipale, frhkindliche Stufe der Ent-
37 wicklung bzw. die frhe Mutter-Kind-Beziehung und beleuchtet nicht nur die innerseeli-
38 schen, sondern auch intersubjektiven Aspekte der Regression. Vgl. vor allem Michael Balint:
Regression. Therapeutische Aspekte und die Theorie der Grundstçrung. Mnchen 1968.
39 53 Sigmund Freud: Ratschlge fr den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung (1912).

40 GW VIII. 381 f. (Hvh. v. Vf.).


74 Jagna Brudzińska

1 Die Metapher vom Receiver des Telefons veranschaulicht vor allem das Kon-
2 zept des inneren Resonanzraumes, den der Psychoanalytiker dem Analysierten
3 anbietet, und zwar als Resonanzraum des eigenen Unbewussten gegenber dem
4 fremden Unbewussten.
5 In diesem Zusammenhang erfasst Freud auch das Modell der gleichschweben-
6 den Aufmerksamkeit. Es handelt sich um eine gewissermaßen unintendierte Auf-
7 merksamkeit, also um einen attentionalen Bewusstseinsmodus. Freud legt damit
8 ein anspruchsvolles Konzept des Verstehens vor, das nicht bei der Deutung eines
9 erfassten gegenstndlichen Sinnes der ußerungen, d. h. ihres noematischen Ge-
10 halts, ansetzt, sondern vor allem die noetischen Leistungen bercksichtigt. Es
11 geht um das innere Vernehmen eigener und fremder noetischer Verlufe und noe-
12 matischer Gehalte, die einen Widerhall im eigenen Unbewussten finden. Es sind
13 assoziativ-affektive Weckungen (fremd-)subjektiver Tendenzen, die im eigenen
14 Erleben ersprt werden sollen (und kçnnen), Strebungen und Gegenstrebungen,
15 loses Phantasieren und scheinbar unmotivierte Einflle, die in ihren Verwandlun-
16 gen, Entwicklungen und Wirkungen gerade im Hinblick auf ihre motivationalen
17 Momente vernommen werden. Hierzu legt Freud bestimmte Rahmenbedingun-
18 gen fest. Er fordert, auf alle Hilfsmittel, wie das Niederschreiben, oder sich et-
19 was Besonderes merken zu wollen, zu verzichten. Allem, was von Seiten des
20 Analysierten zu Tage tritt, soll die gleiche, die gleichschwebende Aufmerksam-
21 keit entgegengebracht werden. Und dieses besagt zunchst ein spezifisches Los-
22 lassen. Die eigenen Motivationen des Analytikers sollen unwirksam bleiben, sei-
23 ne Vorerwartungen das Vernehmen des Fremdseelischen nicht prgen. Zum
24 einen bedeutet es, zunchst keine Anstrengung des Verstehens zu unternehmen,
25 sondern im Zuhçren die ußerungen des Patienten auf sich wirken zu lassen. Es
26 ist bei Weitem keine einfache Aufgabestellung. Freud erhofft sich, dass die eige-
27
ne Lehranalyse die Kandidaten dazu befhigt, ihre eigenen, auch unbewussten
28
Motivationen und Erwartungen insoweit zu erkennen und dadurch in der Lage
29
zu sein, sich bei der spteren Ausfhrung der Behandlungen von ihnen nicht
30
leiten zu lassen. Diese spezifische Enthaltsamkeit versteht Freud als Bedingung
31
dafr, dass Neues, bisher Unerkanntes zum Vorschein kommen kann.54
32
33 54 Sigmund Freud (1912): GW VIII. 377: „Man erspart sich auf diese Weise die Anstren-

34 gung der Aufmerksamkeit […] und vermeidet eine Gefahr, die von dem absichtlichen Aufmer-
35 ken unzertrennlich ist. Sowie man nmlich seine Aufmerksamkeit bis zu einer gewissen Hçhe
anspannt, beginnt man auch, unter dem dargebotenen Materiale auszuwhlen; man fixiert das
36 eine Stck besonders scharf, eliminiert dafr ein anderes und folgt bei dieser Auswahl seinen
37 Erwartungen oder seinen Neigungen. Gerade dies darf man aber nicht; folgt man seinen Erwar-
38 tungen, so ist man in der Gefahr, niemals etwas anderes zu finden, als was man bereits weiß;
folgt man seinen Neigungen, so wird man sicher die mçgliche Wahrnehmung flschen. Man
39 darf nicht darauf vergessen, daß man ja zumeist Dinge zu hçren bekommt, deren Bedeutung
40 erst nachtrglich erkannt wird.“
Mitvollzug und Fremdverstehen 75

1 Vom Standpunkt der genetischen Intentionalanalyse aus haben wir es hier mit
2 einer Modalitt der Erfahrung zu tun, die auf die primr sympathetische Befhi-
3 gung des Menschen zurckgeht. Zum Tragen kommt dabei ein emotiv struktu-
4 riertes, mediales und vor-intentionales Denken in der synchronen Zeitstruktur
5 der Quasi-Gegenwart, worin wir eine gewisse Nhe zum Traumdenken erken-
6 nen kçnnen. Gerade diese Verwandtschaft greift der britische Psychoanalytiker
7 Wilfried R. Bion auf, indem er auf den trumerischen Aspekt der psychoanalyti-
8 schen Arbeit hinweist. In seiner neo-psychoanalytischen Interpretation spricht vom
9 trumerischen Ahnungsvermçgen (RÞverie) und analogisiert dieses Vermçgen mit der
10 Fhigkeit der Mutter, eine Art des Resonanzraumes (container) fr das primre Emp-
11 finden des Suglings zur Verfgung zu stellen. Diese Fhigkeit bezeichnet Bion als
12 RÞverie und schreibt ihr einen zentralen Stellenwert fr das Gelingen der seelischen
13 Entwicklung zu, insbesondere der Entwicklung des Denkens und des Realittssin-
14 nes. Hier bedeutet das Sich-Einlassen auf den Patienten mehr, als nur sein Erleben in
15 sich urteilsfrei wirken zu lassen. Bion scheint eine tiefere oder sogar eigentliche Struk-
16 tur des sympathetischen Erfahrens anzusprechen. Er fordert fusionre Rckvollzge
17 im Sinne des seelischen Verdauens fremder Emotionen in der trumerischen Mitein-
18 ander-Verwobenheit.55
19 Doch jene Miteinander-Verwobenheit bedeutet, dass auch der Arzt nicht neu-
20 tral bleibt. Auch er antwortet mit seinen unbewussten Wnschen und Erwartun-
21 gen. Im Vollzug des fusionr-sympathetischen Erlebens, entsprechend der Leis-
22 tungsstruktur des phantasmatischen Bewusstseins, lsst sich weder das Frhere
23 vom Gegenwrtigen leicht unterscheiden noch das Fremde vom Eigenen. Hier
24 stehen wir vor der Notwendigkeit einer nachtrglichen Differenzierung, einer
25 rekonstruktiv-reflexiven Analyse, um nicht nur der Fusion, sondern auch der
26 Differenzierung, der Getrenntheit also, gerecht zu werden. Damit erreichen wir
27
den zweiten Grundpfeiler der teilnehmenden Erfahrung, die sich nicht in im fu-
28
sionr-sympathetischen Mitvollzug erschçpft, in einem innerseelischen Sich-Ver-
29
weben, sondern, darauf aufbauend, ein Sich-Entweben fordert, einen nachtrgli-
30
chen Separations- oder Differenzierungsvorgang als im engeren Sinne
31
individuierende Aktivitt. Hier kommt es auf die Leistungsfhigkeit des Verge-
32
genwrtigungsbewusstseins an. Wie ein anderer italienischer Psychoanalytiker,
33
Stefano Bolognini, in seiner in jeder Hinsicht beachtenswerten Studie zum psy-
34
choanalytischen Einfhlungsbegriff deutlich gemacht hat, ist es die Arbeit des
35
36 55 Vgl. Wilfried R. Bion: Learning from experience. New York 1962. 230. Einen Vergleich

37 der Konzepte Freuds und Bions unternimmt Klaus Grabska. Er zeigt, dass sich die RÞverie
38 Bions auf tiefere, strker reduzierte und bruchstckhafte bertragungsdimensionen bezieht
als die gleichschwebende Aufmerksamkeit bei Freud. Vgl. Klaus Grabska: Gleichschwebende
39 Aufmerksamkeit und trumerisches Ahnungsvermçgen (RÞverie). In: Forum der Psychoanaly-
40 se 16 (2000). 247 – 260.
76 Jagna Brudzińska

1 Psychoanalytikers, die Einfhlung von der fusionren bertragung-Gegenber-


2 tragung-Leistung zu unterscheiden, und zwar, um dadurch sowohl dem Fusions-
3 erlebnis als auch der Getrenntheit gerecht zu werden.56 Phnomenologisch gese-
4 hen kommt es hier auf die Reflexion der Motivationsreihen an, die in der
5 bertragung (und Gegenbertragung) ausgelçst werden. Bezogen auf die Zeit-
6 struktur des Erfahrungsbewusstseins lsst sich dabei festhalten: Whrend das
7 fundierende sympathetische Fusionieren den Mit-vollzug im Sinne der ursprng-
8 lichen Mit-Gegenwrtigung ermçglicht, bedrfen wir einer vergegenwrtigen-
9 den Reflexion, um die Getrenntheit in der Einfhlung wiederzuerlangen. Beide
10 Aspekte gehçren daher zur phnomenologischen Analyse der Fremderfahrung
11 als teilnehmende Erfahrung, die im Wesentlichen als Leistung des leiblich-emoti-
12 ven Phantasiebewusstseins verstanden werden muss, und zwar in seiner zweifa-
13 chen Befhigung – als fusionstragende Mit-Gegenwrtigung und differenzie-
14 rungleistendes Vergegenwrtigungsbewusstsein. Darin liegt auch meiner
15 Ansicht nach die originre Mçglichkeit der Zweite-Person-Perspektive in der
16 Forschung.
17
18
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34
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36
37
38
39
40 56 Stefano Bolognini: Die psychoanalytische Einfhlung. Gießen 22012. 107 ff.
1 Marco Cavallaro
2
3
4 Der Beitrag der Phnomenologie Edmund Husserls zur Debatte
5 ber die Fundierung der Geisteswissenschaften
6
7
8
9
10
1. Einleitung
11
12 Edmund Husserl stellt in einer Anmerkung der Ideen II die folgende Frage: „In
13 der ,sozialen Erfahrung‘ sind uns die sozialen Gegenstndlichkeiten gegeben.
14 Was ist das, soziale Erfahrung?“1 Zweifellos kommt der Phnomenologie Hus-
15 serls nicht der Primat zu, das Thema der sozialen Erfahrung und ihrer Gegen-
16 stndlichkeiten in den Bereich spezifisch philosophischer Untersuchungen ein-
17 gefhrt zu haben, denn auch viele andere Denker zuvor haben sich mit dem
18 Problem unserer Erfahrung des Anderen und der damit zusammenhngenden
19 Frage nach dem Aufbau einer sozialen Welt beschftigt. Schon ein kurzer Blick
20 in die Philosophiegeschichte zeigt uns, dass das Rtsel der sozialen Erfahrung
21 seit seiner ersten Thematisierung im antiken Griechenland ein Leitmotiv im phi-
22 losophischen Denken darstellt. Zudem ist zu bemerken, dass sich die For-
23 schungslandschaft gerade in den letzten Jahrhunderten wesentlich erweitert hat
24 und sich neue Methoden und theoretische Einstellungen diesem Gebiet ange-
25 nommen haben. So haben seit dem 19. Jahrhundert die sogenannten Geisteswis-
26 senschaften, d. h. Disziplinen wie Geschichte, Soziologie, Kunsthistorie und der-
27 gleichen, eine wichtige Rolle bei der Bestimmung und wissenschaftlichen
28 Auslegung der sozialen Phnomene eingenommen und weiten diese derzeit im-
29 mer mehr aus.2
30 In der Vorlesung Les sciences de l’homme et la phnomnologie3 von 1951/
31 1952 wies Maurice Merleau-Ponty schon auf eine fruchtbare Begegnung zwi-
32 schen der Phnomenologie und der Methodologie der Geisteswissenschaften
33 hin. Seitdem hat sich das Panorama der empirischen Forschung allerdings deut-
34
1 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phnomenologie und phnomenologischen Phi-
35
losophie. Zweites Buch: Phnomenologische Untersuchungen zur Konstitution. Hrsg. von
36 Marly Biemel. Hua IV. Den Haag 1952. 200. (im Folgenden zitiert als Ideen II).
2 Was im Kontext des 19. Jahrhunderts als „Geisteswissenschaften“ bezeichnet wurde, ist
37
38 heutzutage innerhalb des deutschsprachigen Bereichs unter dem Sammelbegriff „Kulturwissen-
schaften“ bekannt geworden.
39 3 Maurice Merleau-Ponty: Les sciences de l’homme et la phnomnologie. In: Claude Le-

40 fort (Hg.): Maurice Merleau-Ponty. Œuvres. Paris 2010. 1203 – 1266.

Phnomenologische Forschungen 2013 ·  Felix Meiner Verlag 2013 · ISSN 0342-8117


78 Marco Cavallaro

1 lich weiterentwickelt. Hinsichtlich der Bedeutung und den Grenzen einer mçgli-
2 chen Anwendung der Phnomenologie auf die Geisteswissenschaften herrscht
3 jedoch aktuell keine Einigkeit. Ein Anzeichen dafr ist die in der letzten Dekade
4 aufgekommene Diskussion in der kontinentalen und der analytischen Philoso-
5 phie ber die Mçglichkeit einer „Naturalisierung“ der Phnomenologie.4 Dieses
6 Projekt, die phnomenologische Forschung auf die Ebene empirischer Wissen-
7 schaften, wie z. B. die kognitiven Wissenschaften und die Entwicklungspsycho-
8 logie, zurckzufhren, hat zur Zeit den Rang eines umfassenden Titels angenom-
9 men, unter dem mehrere, auch entgegengesetzte, Perspektiven der
10 Naturalisierung subsumiert werden.5
11 Es ist nicht das Ziel dieses Beitrags, diese Debatte aufzugreifen und in ihr eine
12
eigene Position einzunehmen. Vielmehr geht es uns darum, die Funktion der
13
Phnomenologie gegenber den Geisteswissenschaften deutlich vom Projekt
14
der Naturalisierung zu unterscheiden. Es scheint uns nmlich, dass die sogenann-
15
te „Naturalisierung“ (trotz ihrer verschiedenen Auffassungen) dem generellen,
16
und nicht immer klar ausgedrckten, Versuch entspricht, die phnomenologi-
17
schen Analysen des Bewusstseinslebens in den Dienst der Entwicklung neuer
18
empirischer Theorien zu stellen. Ein Beispiel dafr stellt unserer Ansicht nach
19
die Anwendung der von Husserl und anderen Phnomenologen entwickelten
20
Intersubjektivittstheorie auf die aktuelle Diskussion ber „social cognition“
21
dar, eine Forschungsrichtung, die unter dem Titel „theory of mind debate“ be-
22
23
kannt geworden ist. Zeitgençssische Autoren, wie u. a. Shaun Gallagher und
24 Dan Zahavi, nehmen Begriffe und Gesichtspunkte der phnomenologischen Tra-
25 dition auf, um eine neue, konkurrenzfhige Theorie ber die soziale Erfahrung
26 zu entfalten, die das traditionelle, doppelte Paradigma der theory-theory und si-
27 mulation-theory berwinden soll.6
28 Es ist hier nicht unsere Absicht, dieses Projekt der Naturalisierung und der
29 Anwendung phnomenologischer Begriffe auf die empirische Forschung zu wi-
30 derlegen. Das Projekt scheint im Gegenteil den Vorzug zu haben, die Phnome-
31
4 Vgl. Jean Petitot (Hg.): Naturalizing phenomenology. Issues in contemporary phenome-
32
nology and cognitive science. Stanford 1999.
33 5 Siehe u. a. Dan Zahavi: Phenomenology and the project of naturalization. In: Phenome-

34 nology and the Cognitive Sciences 3 (2004). 331 – 347; Dieter Lohmar: Phnomenologische
35 Methoden und empirische Erkenntnisse. In: C. Ierna, H. Jacobs, F. Mattens (Hg.): Philoso-
phy, phenomenology, sciences. Dordrecht 2010. 191 – 219; James Mensch: The question of na-
36 turalizing phenomenology. In: Symposium 17 (2013). 210 – 228.
6 Siehe dazu den wegweisenden Aufsatz von Shaun Gallagher: Phenomenological contri-
37
38 butions to a theory of social cognition. In: Husserl Studies 21 (2005). 95 – 110. Fr eine einlei-
tende Diskussion ber die oben genannten Theorien vgl. Shaun Gallagher, Dan Zahavi: The
39 phenomenological mind. An introduction to philosophy of mind and cognitive science. New
40 York 22012. 191 – 218.
Der Beitrag der Phnomenologie Edmund Husserls 79

1 nologie mit den Geisteswissenschaften in einen fruchtbaren Dialog zu bringen


2 und damit die problematische Beziehung zwischen beiden Bereichen zu themati-
3 sieren. Denn die Funktion der Phnomenologie fr die Geisteswissenschaften
4 muss von Anfang an angemessen bercksichtigt werden, wenn man eine Anwen-
5 dung ihrer Begriffe und Methoden auf die empirische Forschung beabsichtigt.
6 Husserls Untersuchungen der sozialen Welt stellen einen geeigneten Aus-
7 gangspunkt dar, um gerade diese Beziehung zwischen Phnomenologie und
8 Geisteswissenschaften zu verdeutlichen. Im Folgenden soll sie daher in Anbe-
9 tracht der von Husserl wiederholt erçrterten These, dass die Phnomenologie
10 eine leitende Funktion fr die Geisteswissenschaften haben kçnne, nher be-
11 trachtet werden. Anders ausgedrckt: Es ist in den nachfolgenden Analysen zu
12 berprfen, in welcher Hinsicht die Phnomenologie Husserls eine letzte Fun-
13 dierung bzw. Begrndung der Geisteswissenschaften leisten kann. Eine solche
14 Aufgabe sollte Husserls eigenem Verstndnis nicht fernstehen. Husserl hat an
15 verschiedenen Stellen seines Werkes die Phnomenologie in einer besonderen Be-
16 ziehung zu den Geisteswissenschaften dargestellt. Beispielsweise betont er in
17
der Einleitung zum dritten Abschnitt der Ideen II, dass zum Projekt einer wis-
18
senschaftlichen Grundlegung der konkreten Geisteswissenschaften „nur eine ra-
19
dikale, auf die phnomenologischen Quellen der Konstitution der Ideen Natur,
20
Leib, Seele und der verschiedenen Ideen von Ich und Person gerichtete Untersu-
21
chung […] die entscheidenden Aufschlsse geben kann und zugleich den wert-
22
vollen Motiven aller solcher Untersuchungen ihr Recht angedeihen lassen
23
[kann].“7 Das Grundproblem besteht nun darin, wie diese Begrndung ber-
24
haupt zu begreifen ist, und wie Husserl de facto versucht hat, sie in seinen Wer-
25
ken zu verwirklichen.
26
Im Folgenden werden wir zunchst die Debatte ber die Fundierung der Geis-
27
teswissenschaften in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts kurz zu-
28
sammenfassen, um auf diese Weise den philosophiehistorischen Hintergrund ver-
29
stehen zu kçnnen, in den Husserls Konzeption der Beziehung von
30
31
Phnomenologie und Geisteswissenschaften eingebettet ist. Daraufhin soll Hus-
32 7 Ideen II. 173. Dasselbe gilt aber Husserl zufolge fr die von den Geisteswissenschaften
33 zu unterscheidenden Naturwissenschaften, die sich der wissenschaftlichen Erklrung der Na-
34 tur als physisch-kausaler Realitt widmen. Auf die besondere Problematik der phnomenologi-
35 schen Begrndung der Naturwissenschaften kçnnen wir hier jedoch nicht nher eingehen.
Dennoch soll folgender Gedanke kurz erwhnt werden: Husserl versteht die Unterscheidung
36 zwischen Natur- und Geisteswissenschaften so, dass eine Erçrterung ihrer wesentlichen Bezie-
37 hungen und Abgrenzungen unbedingt erforderlich scheint. Den prinzipiellen Gegner in seiner
38 Diskussion der Geisteswissenschaften stellt nmlich der Naturalismus dar, der die naturalisti-
sche Einstellung und ihre Methoden auf die Geisteswissenschaften anwendet. Auf das Leitmo-
39 tiv des Unterschieds zwischen Natur und Geist und die entsprechenden Einstellungen inner-
40 halb der husserlschen Philosophie werden wir spter noch nher eingehen.
80 Marco Cavallaro

1 serls eigener Beitrag in dieser Debatte zur Sprache kommen, wobei im Besonde-
2 ren die neuen Begriffe und Denkmotive betrachtet werden, die er in die Diskus-
3 sion eingebracht hat, nmlich die regionale Ontologie und die personalistische
4 Einstellung. Dieser Abschnitt schließt mit einer Erçrterung des von Husserl ver-
5 tretenen Vorrangs der Geisteswissenschaften, und des Geistes als deren Korre-
6 lat, gegenber den Naturwissenschaften.
7
8
9
10 2. Die Debatte ber die Fundierung der Geisteswissenschaften und Husserls
11 Kritik an Dilthey, Windelband und Rickert
12
13 Zwei grundverschiedene Denkrichtungen haben die Debatte um die Fundierung
14 der Geisteswissenschaften beherrscht, die im deutschsprachigen Bereich gegen
15 Ende des 19. Jahrhunderts begann: die Lebensphilosophie Wilhelm Diltheys
16 und der Neukantianismus Wilhelm Windelbands und Heinrich Rickerts. Dass
17 Husserl ein besonderes Interesse daran hatte, in dieser Debatte einen theoreti-
18 schen Standpunkt fr seine Phnomenologie zu finden, belegen die gelegentli-
19 chen Hinweise auf den Streit ber die methodische Grundlage der Natur- und
20 Geisteswissenschaften in zahlreichen Texten aus den Jahren zwischen 1910 und
21 1930.
22 Husserl bezieht sich in der Einleitung zum dritten Abschnitt der Ideen II ex-
23 plizit auf diese Diskussion, wenn er die Reaktionen „gegenber der dem natur-
24 wissenschaftlichen Zeitalter selbstverstndlichen naturalistischen Deutung der
25 Geisteswissenschaften als bloßer deskriptiver Naturwissenschaften“8 erwhnt.
26 Auf die vorherrschende naturalistische Deutung bzw. den Naturalismus seiner
27 Zeit hatte Husserl schon in seinem Logos-Artikel von 1911 kritisch hingewiesen.
28 Dort erklrt er: Dasjenige, „was alle Formen des extremen und konsequenten
29 Naturalismus […] charakterisiert, ist einerseits die Naturalisierung des Bewusst-
30 seins […]; andererseits die Naturalisierung der Ideen und damit aller absoluten
31 Ideale und Normen.“9 Unter der „Naturalisierung des Bewusstseins“ versteht
32 Husserl den von der neuzeitlichen Psychologie unternommenen Versuch, das
33 Subjekt innerhalb der Natur, d. h. als Naturfaktum zu verstehen. Grundstzlich
34 teilen Husserl, Dilthey und die Neukantianer Rickert und Windelband die An-
35 sicht, dass der Naturalismus und der von ihm abhngige methodische Reduktio-
36 nismus berwunden werden sollte, um die Autonomie der Geisteswissenschaf-
37
38 Ideen II. 172.
8

Edmund Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft (1911). In: Ders.: Aufstze und
9
39 Vortrge (1911 – 1921). Mit ergnzenden Texten hrsg. von Thomas Nenon und Hans Reiner
40 Sepp. Hua XXV. Den Haag 1987. 9.
Der Beitrag der Phnomenologie Edmund Husserls 81

1 ten zu gewhrleisten. Dennoch unterscheiden sich jene Denker voneinander, ins-


2 besondere, wenn man die Grnde der Unabhngigkeit genauer betrachtet.
3 Husserl lobt in den Ideen II den Genius Wilhelm Diltheys, der zuerst die
4 Unmçglichkeit gesehen habe, den konkreten Geisteswissenschaften durch die
5 moderne Psychologie, die bis zu diesem Zeitpunkt als Naturwissenschaft des
6 Seelischen verstanden wurde, eine wissenschaftliche Grundlegung zu geben.10
7 Zugleich bemngelt er in demselben Text aber, dass Diltheys Lebensphilosophie
8 einer streng wissenschaftlichen Theoretisierung entbehre und zu den entschei-
9 denden Problemformulierungen und methodisch gesicherten Lçsungen noch
10 nicht durchgedrungen sei. Diese Schwchen hebt Husserl dann in seiner Vorle-
11 sung ber Phnomenologische Psychologie vom Sommersemester 1925 noch ein-
12 mal deutlich hervor.11 In der Einleitung findet sich eine kritische Anmerkung
13 gegen die Idee einer rein beschreibend-zergliedernden Psychologie, die, so Dil-
14 theys Intention, die Naivitt der naturalistischen Interpretation der Geisteswis-
15 senschaften berwinden sollte.12 Laut Husserl ist eine solche Psychologie je-
16 doch ungeeignet, die Anliegen einer wissenschaftlichen Grundlegung der
17 Geisteswissenschaften zu fçrdern, da jene Disziplin nur die geistigen bzw. histo-
18 rischen Faktizitten in ihren individuellen Zusammenhngen darstellt, ohne eine
19 Aussage ber allgemeingltige psychologische Gesetze begrnden zu kçnnen.
20 Wçrtlich sagt Husserl ber Dilthey: „er hat noch nicht gesehen, dass es so etwas
21 wie eine generelle Wesensdeskription auf dem Grund der Intuition, aber nur ei-
22 ner Wesensintuition, gibt“.13 Denn der prinzipielle Fehler der diltheyschen Psy-
23 chologie besteht Husserl zufolge darin, die Mçglichkeit einer eidetischen Intuiti-
24 on innerhalb der Geisteswissenschaften und dementsprechend eine Erklrung
25 der universellen Gesetze des Bewusstseinslebens bersehen zu haben. Anstatt
26 nach eidetischen Allgemeinheiten zu streben, wrde sich Dilthey auf vage empi-
27 rische Generalisierungen einer induktiv morphologischen Typologie des geisti-
28 gen Lebens beschrnken, die, so Husserls Auffassung, keine begrndende Funk-
29 tion fr die Geisteswissenschaften haben kçnnen.
30 Wie schon Dilthey, so erkennt auch Husserl den Wert der anderen Position
31 jener Debatte an, nmlich den Verdienst der neukantianischen Schule, den me-
32 thodologischen Naturalismus innerhalb der Geisteswissenschaften kritisiert zu
33
10 Es ist nicht mçglich, hier auf die Diskussion ber das Verhltnis zwischen Husserl und
34
35 Dilthey nher einzugehen. Vgl. dazu aber Ernst Wolfgang Orth (Hg.): Dilthey und die Philoso-
phie der Gegenwart. Freiburg 1985; und Rudolf A. Makkreel, John Scanlon (Hg.): Dilthey and
36 phenomenology. Washington 1987.
11 Siehe Edmund Husserl: Phnomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemester
37
38 1925. Hrsg. von Walther Biemel. Hua IX. Den Haag 1968.
12 Siehe Wilhelm Dilthey: Ideen ber eine beschreibende und zergliedernde Psychologie
39 (1894). In: Ders.: Gesammelte Schriften V. Stuttgart 1990. 139 – 240.
40 13 Husserl: Phnomenologische Psychologie. 13.
82 Marco Cavallaro

1 haben. In der aus dem Jahr 1927 stammenden Vorlesung ber Natur und Geist
2 befasst sich Husserl explizit mit Windelbands und Rickerts Auslegung der geis-
3 teswissenschaftlichen Methode.
4 Zum einen kritisiert Husserl damit den Unterschied zwischen idiographi-
5 schen und nomothetischen Wissenschaften, den Windelband in Geschichte und
6 Naturwissenschaften14 von 1894 vertreten hatte. Naturwissenschaften definie-
7 ren sich laut Windelband als nomothetische Wissenschaften, da es ihre Art sei,
8 auf das Allgemeine, das Gesetzliche (nomos), abzuzielen. Demgegenber wer-
9 den die Geisteswissenschaften dadurch als idiographisch charakterisiert, dass ih-
10 rem methodischen Ziel das Individuelle, das zeitlich Begrenzte, mit einem Wort:
11 das „Ereignis“ entspreche. Diese Lehre, die lediglich einen methodischen Unter-
12 schied zwischen Geistes- und Naturwissenschaften vertritt, widerspricht der
13
Mçglichkeit, innerhalb der geistigen Welt Erklrungen nach streng wissenschaft-
14
lichen Gesetzen leisten zu kçnnen. Dementsprechend fhrt Husserl in besagter
15
Vorlesung „den alten, lngst schon von John Stuart Mill klar durchgefhrten Ge-
16
danken […], dass Gesetzeserkenntnis allein nie die tatschliche Welt zur Er-
17
kenntnis bringen kann“,15 wie zuvor auf Dilthey, so jetzt auf Windelband zu-
18
rck. Eine Geisteswissenschaft, deren Erklrungen nicht auf eidetische Gesetze
19
abzielen, gehe nach Husserl auf eine naturalistische Auffassung der Geisteswis-
20
senschaften zurck, welche eine mçgliche Gesetzmßigkeit innerhalb des Geis-
21
teslebens vçllig ausschließt.
22
In derselben Vorlesung nimmt Husserl ferner das große Werk des Neukantia-
23
ners Heinrich Rickert ber die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbil-
24
25
dung (1896) kritisch unter die Lupe. Husserl zufolge ergnze Rickerts Beitrag
26
„durch tiefere systematische Begrndung […] das ganze Grundgerst der Win-
27 delbandschen Gedanken“.16 Hier werden nun einige Neuerungen der rickert-
28 schen Lehre in Betracht gezogen, die Husserls Unterscheidung zwischen Geis-
29 tes- und Naturwissenschaften beeinflusst haben. In erster Linie geht es um den
30 von Rickert eingefhrten Begriff der theoretischen „Einstellung“, der eine große
31 Rolle in Husserls eigener Deutung des wissenschaftstheoretischen Unterschie-
32 des spielt. Nach Rickerts Auffassung sind Natur- und Geisteswissenschaftler
33 theoretisch auf eine und dieselbe empirische Realitt gerichtet, dennoch ist ihre
34 jeweilige Einstellung in Bezug auf sie verschieden. Gerade die Einstellung des
35 Wissenschaftlers stelle die Quelle der Begriffsbildung im entsprechenden wissen-
36 schaftlichen Bereich dar. Auf der Basis einer Einstellung ergibt sich Rickert zu-
37
38 Siehe Wilhelm Windelband: Geschichte und Naturwissenschaften. Straßburg 1894.
14

Edmund Husserl: Natur und Geist. Vorlesungen Sommersemester 1927. Hrsg. von Mi-
15
39 chael Weiler. Hua XXXII. Dordrecht 2000. 84.
40 16 Ebd. 86.
Der Beitrag der Phnomenologie Edmund Husserls 83

1 folge immer ein bestimmtes theoretisches Interesse, das die Unterscheidungs-


2 merkmale von individuellen Gegenstnden und Tatsachen einschtzt. Dement-
3 sprechend grenzen sich Natur- und Geisteswissenschaften nicht gemß den je-
4 weiligen Objekten ihrer Untersuchungen voneinander ab, sondern gemß ihrer
5 wesentlich unterschiedlichen theoretischen Einstellungen.
6 Husserl identifiziert Rickerts Voraussetzung jener Unterscheidung zwischen
7 Natur- und Geisteswissenschaften mit dem „theoretischen Gedanken von der
8 berwindung der unendlichen Mannigfaltigkeit der zu erkennenden Welt durch
9 die beiden korrelativen Wege der Generalisierung und historischen Individuali-
10 sierung“ (also durch das, was bei Windelband als nomothetische und idiographi-
11 sche Leistung bezeichnet wird).17 Mit anderen Worten: Rickert setzt die Exis-
12 tenz einer unendlichen empirischen Realitt voraus. Diese Unendlichkeit wird
13 von ihm in zweierlei Hinsicht charakterisiert: einerseits als eine intensive Unend-
14 lichkeit, welche die unendliche Zahl der Erfahrungen betrifft, andererseits als
15 eine extensive Unendlichkeit von den unendlich verschiedenen Modalitten ei-
16 ner und derselben Erfahrung. Hinsichtlich des Problems der Auffassbarkeit sol-
17 cher Unendlichkeiten whlt Rickert, nach Husserl, eine typisch kantianische Lç-
18 sung: „Nur durch den Begriff kann der endliche […] Menschengeist […] die
19 Unbersehbarkeit der extensiven und […] intensiven Mannigfaltigkeit“ der em-
20 pirischen Realitt berwinden.18 Infolgedessen sind wissenschaftliche Erkennt-
21 nisse im Grunde genommen formale, durch die Anwendung einer bestimmten
22 Methode entstehende Begriffsbildungen, die auf eine ihrem Wesen nach irratio-
23 nale Realitt angewendet werden. Diese Voraussetzung, die Emil Lask, ein Sch-
24 ler Rickerts, mit dem fichteschen Ausdruck „hiatus irrationalis“ genannt hat,19
25 bringt eine unauflçsbare Dichotomie zwischen der irrationalen Erfahrung und
26 dem aus dem Vermçgen des Subjekts stammenden Begriff mit sich.20
27 Bekanntlich setzt Husserl dieser erkenntnistheoretischen Lehre vom hiatus
28 irrationalis seine Phnomenologie der natrlichen bzw. personalistischen Ein-
29 stellung und ihres Korrelats, der sozialen Welt, entgegen. Im folgenden Ab-
30 schnitt werden wir uns damit beschftigen und zugleich versuchen, Husserls ge-
31 nuinen Beitrag fr die Debatte um die Unabhngigkeit der
32 Geisteswissenschaften zu bewerten.
33
34
35 17 Ebd. 87.
36 18 Heinrich Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logi-
37 sche Einleitung in die historischen Wissenschaften. Freiburg 1896. 33.
19 Vgl. Emil Lask: Fichtes Idealismus und die Geschichte. Tbingen 1902.
38 20 Fr eine detaillierte Darstellung dieses Wesensunterschieds zwischen der Philosophie
39 Husserls und Rickerts vgl. Iso Kern: Husserl und Kant. Eine Untersuchung ber Husserls
40 Verhltnis zu Kant und zum Neukantianismus. Den Haag 1984. 374 ff.
84 Marco Cavallaro

1 3. Husserls Beitrag fr die Debatte um die Fundierung der Geisteswissenschaften


2
3 In den vorangegangenen berlegungen sind zwei kritische Punkte deutlich ge-
4 worden, die Husserl gegen Dilthey und den Neukantianismus anfhrt. Auf der
5 einen Seite kritisiert er Diltheys Lebensphilosophie und auch Windelbands Cha-
6 rakterisierung der geisteswissenschaftlichen Methode als idiographische, d. h. als
7 eine auf das Individuelle gerichtete Methode, und zwar auf Grund der Abwesen-
8 heit einer streng wissenschaftlichen, d. h. auf eidetische Gesetze bezogenen Er-
9 klrung der geistigen Welt. Andererseits kritisiert Husserl an Windelbands Ver-
10 stndnis der Geisteswissenschaften, dass eine solche Beschrnkung auf das
11 individuelle Faktum eine Art Naturalismus innerhalb der Geisteswissenschaften
12 darstelle. Eine derartige Eingrenzung gestehe dem Geistesleben nicht die Mçg-
13 lichkeit eines gesetzlichen Apriori zu. Die Klassifikation der Wissenschaften
14
nach bestimmten Methoden fhrt laut Husserl jedoch zu einer Vermengung der
15
entsprechenden Gegenstndlichkeiten. Denn, so betont er in seiner Vorlesung
16
von 1927, „sachlich betrachtet kçnnen […] dieselben Gegenstnde und Gegen-
17
standsgebiete nomothetischer, aber auch idiographischer Methode unterworfen
18
werden, sie werden dann also je nachdem Themen fr Naturwissenschaften und
19
Themen fr Geschichtswissenschaften.“21 Eine derartige methodische Abgren-
20
zung von Natur- und Geisteswissenschaften entspricht allerdings nicht der Auf-
21
fassung Husserls, der, im Gegenteil, schon in den Ideen I fr eine „regional-
22
ontologische“ Differenzierung zwischen beiden Gebieten eintrat.
23
Die Idee einer regionalen Ontologie stellt damit sicherlich den ersten neuen
24
25
Beitrag dar, den Husserl zur Debatte um die Begrndung der Geisteswissen-
26
schaften leistet. Seine Lehre von den Seinsregionen hat außerdem eine zustzli-
27 che besondere Bedeutung hinsichtlich der Kritik am methodischen Naturalis-
28 mus. Wie schon Ludwig Landgrebe in seinem Aufsatz „Seinsregionen und
29 regionale Ontologie in Husserls Phnomenologie“ andeutete, erkennt der Natu-
30 ralismus „nur eine Weise des Seins, die des ,objektiv‘, exakt naturwissenschaft-
31 lich bestimmbaren Gegenstandes, und nur eine Art von Gesetzen, die die Zusam-
32 menhnge des Seienden regeln, die kausale Gesetzlichkeit des
33 Naturzusammenhanges“, an.22 Aus diesem Grund sei die ontologische Plurali-
34 tt, d. h. die Anerkennung verschiedener Regionen des Seienden, der prinzipielle
35 Weg zu einer berwindung der naturalistischen Missdeutung der Geisteswissen-
36 schaften. Husserl, so hebt Landgrebe hervor, geht nmlich von der Tatsache aus,
37
38 Husserl: Natur und Geist. 93.
21

Ludwig Landgrebe: Seinsregionen und regionale Ontologie in Husserls Phnomenologie


22
39 (1956). In: Ders.: Der Weg der Phnomenologie. Das Problem einer ursprnglichen Erfah-
40 rung. Gtersloh 1963. 143 – 162. 143.
Der Beitrag der Phnomenologie Edmund Husserls 85

1 dass die Welt unserer Erfahrung auf mannigfaltige Art und Weise zum Gegen-
2 stand wissenschaftlicher Bestimmung werden kann.23 Jede Wissenschaft habe
3 ihr Gebiet von Gegenstnden der Erfahrung, aber sie gebe sich dieses Gebiet
4 nicht selbst, sondern es sei ihr schon vorgegeben. Man msse dabei hingegen
5 bedenken, dass die Unterscheidung von Seinsregionen laut Husserl nicht durch
6 eine schlechthin apriorische Teilung des Seienden nach logisch-sprachlichen
7 Prinzipien, wie dies schon bei Aristoteles zu finden ist, durchgefhrt werden
8 kann. Die Unterscheidung von Seinsregionen ergebe sich vielmehr nur im Hin-
9 blick auf die Korrelation des Gegebenen zur Weise der Gegebenheit der Seinsre-
10 gionen fr das Bewusstsein. In diesem Sinne entwickelt sich „die Frage nach den
11 Seinsregionen von Husserl als eine transzendentalphilosophische Frage […], als
12 Frage nach der notwendigen Korrelation von Sein und Bewusstsein, und das
13 sagt, nach der Konstitution des Seins fr das Bewusstsein“.24
14 Husserl weist in seinen Ideen auf einen ontologischen, und in diesem speziel-
15 len, transzendentalphilosophischen Sinn zu verstehenden Unterschied zwischen
16 Natur und Geist hin. Im ersten Buch betont er, dass allen naturwissenschaftli-
17 chen Disziplinen die eidetische Wissenschaft von der physischen Natur, d. h. die
18 „Ontologie der Natur“ entsprche,25 und im dritten Abschnitt der Ideen II be-
19 schftigt er sich dezidiert mit einer Abgrenzung der ontologischen Regionen
20 „Natur“ und „Geist“ und den entsprechenden Wissenschaften. Um diese Abhe-
21 bung der beiden Seinsregionen zu unterstreichen, stellt er folgende rhetorische
22 Frage: „Handelt es sich wirklich um zweierlei Welten, um die ,Natur‘ auf der
23 einen, die Geisteswelt auf der anderen Seite, beide durch kardinale Seinsunter-
24 schiede gesondert? Das braucht nicht zu besagen und soll das auch nicht, dass
25 die beiden Welten gar nichts miteinander zu tun haben, dass ihre Sinne nicht
26 Wesensbeziehungen zwischen ihnen herstellen“.26 Es ist wiederum klar, dass
27
Husserl bei Natur und Geist an zwei verschiedene Regionen des Seienden
28
denkt, das bedeutet aber lediglich, dass beiden jeweils eine besondere Weise der
29
Gegebenheit fr das Bewusstsein entspricht.
30
Wir mssen also diesen Seinsunterschied, wie es Landgrebe betont hat, als ei-
31
nen transzendentalen Unterschied zwischen den Weisen der Gegebenheit fr
32
das Bewusstsein von Natur und Geist anerkennen. Und in der Tat weist Husserl
33
in diesem Zusammenhang auf die unterschiedlichen Einstellungen hin, aus de-
34
nen die verschiedenen Wissenschaften stammen. Natur und Geist werden von
35
36 23 Landgrebe: Seinsregionen. 144.
37 24 Landgrebe: Seinsregionen. 147.
25 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phnomenologie und phnomenologischen Phi-
38
losophie. Erstes Buch: Allgemeine Einfhrung in die reine Phnomenologie. Neu hrsg. von
39 Karl Schuhmann. Hua III/1. Den Haag 1976. 24.
40 26 Ideen II. 210.
86 Marco Cavallaro

1 ihm als Korrelate der naturalistischen bzw. personalistischen Einstellung be-


2 schrieben. Den Begriff der Einstellung hatten wir bereits im vorigen Abschnitt
3 im Kontext von Rickert erwhnt. Dieser unterscheidet ja zwei mçgliche theore-
4 tische Einstellungen: einerseits die Einstellung, welche die Naturwissenschaften
5 beherrscht, die gemß ihrem Gegenstand Naturgesetzen der physischen Welt
6 nachgeht, andererseits die Einstellung, die das Individuelle zu bestimmen ver-
7 sucht. Beide sind aber lediglich theoretische Einstellungen, die ein bestimmtes
8 wissenschaftliches Interesse verfolgen. Demgegenber besteht das Neue der Ein-
9 stellungslehre Husserls darin, eine nicht-wissenschaftliche bzw. nicht-theoreti-
10 sche Einstellung offengelegt zu haben, die sogenannte personalistische oder na-
11 trliche Einstellung. Er beschreibt letztere in den Ideen II als diejenige, „in der
12 wir allezeit sind, wenn wir miteinander leben, zueinander sprechen, einander im
13 Gruß die Hnde reichen, in Liebe und Abneigung, in Gesinnung und Tat, in
14 Rede und Gegenrede aufeinander bezogen sind“.27 Diese Einstellung wird nun,
15 im Gegensatz zu der „knstlichen“ Naturalisierung, als „natrlich“ charakteri-
16 siert. Dies sollte deutlich machen, dass Husserl auf den Unterschied zwischen
17 personalistischer oder natrlicher Einstellung und geisteswissenschaftlicher
18 bzw. knstlicher Einstellung abzielte. In den Ideen II und den dazugehçrigen
19 Manuskripten erscheint dementsprechend an zahlreichen Stellen der Ausdruck
20 „geisteswissenschaftliche Einstellung“, um die theoretische Einstellung des Geis-
21 teswissenschaftlers im Gegensatz zu der des Naturforschers hervorzuheben.
22 Also besteht die prinzipielle Neuheit von Husserls Einstellungslehre gegenber
23 derjenigen Rickerts in der Auffassung der „personalistischen“ bzw. „natrli-
24 chen“ Einstellung, die von keinem theoretischen Interesse geleitet wird, sondern
25 die gewçhnliche und alltgliche Einstellung des Menschen im Verhltnis zu sei-
26 ner Umwelt bezeichnet.28
27 In Bezug auf unsere Frage nach der Beziehung zwischen Phnomenologie
28 und Geisteswissenschaften ist es nun wesentlich zu verstehen, inwiefern die geis-
29 teswissenschaftliche und die natrlich-personalistische Einstellung miteinander
30 verbunden sind, und ob und wenn ja, auf welche Weise die Einstellung des Na-
31 turwissenschaftlers von jenen beiden unterschieden werden muss. Es ist zwar
32 bekannt, dass Husserl besonders in dem in Husserliana IV verçffentlichten Text
33 der Ideen II die Vorrangstellung des Geistes gegenber der Naturwelt hervor-
34 hebt. Es ist hingegen schwierig, in diesem Text Hinweise darauf zu finden, inwie-
35
36
37
38 Ideen II. 183.
27

Sebastian Luft hat daher zu Recht von einer „phnomenologischen Entdeckung der na-
28
39 trlichen Einstellung“ bei Husserl gesprochen (Sebastian Luft: Husserl’s phenomenological
40 discovery of the natural attitude. In: Continental Philosophy Review 31 [1998]. 153 – 170).
Der Beitrag der Phnomenologie Edmund Husserls 87

1 fern die Geisteswissenschaften gegenber den Naturwissenschaften einen Pri-


2 mat aufweisen.
3 Husserl gemß stellen Geist und Natur das „intentionale Korrelat“29 oder
4 „korrelative Gegenstndlichkeiten“30 zweier verschiedener Einstellungen dar.
5 Das besagt, dass die Gegebenheit, und zwar sowohl der Natur als auch des Geis-
6 tes, von der entsprechenden Einstellung des Bewusstseins abhngt. Grundstz-
7 lich betrifft die Einstellung, wie Andrea Staiti in seinem Aufsatz darlegt, „dieje-
8 nige qualitative Eigenart eines Aktes, die bestimmt, welche gegebenen
9 Eigenschaften des im Akt jeweils erscheinenden Gegenstandes thematisiert und
10 aktiv aufgefasst werden kçnnen und welche nicht“.31 Somit legt jede Einstellung
11 die Art fest, in der uns die Gegenstnde der Erfahrung gegeben sind, sodass
12 „Zum-Gegenstand-Haben von Seiendem abhngig […] von einer ,Einstellung‘
13 des erkennenden Subjekts“ ist.32 Die Einstellung fungiert dabei vçllig unabhn-
14 gig von dem jeweils betrachteten Gegenstand, d. h. es ist jederzeit mçglich, die
15 Einstellung gegenber demselben Gegenstand zu wechseln.33 Dies scheint aber,
16 auf den spezifischen Fall der Beziehung zwischen naturalistischer und geistes-
17 wissenschaftlicher Einstellung angewendet, prima facie der von Husserl einge-
18 fhrten regionalontologischen Differenzierung von Natur und Geist zu wider-
19 sprechen. Es kçnnte daher gegen Husserl derselbe Einwand erhoben werden,
20 den er gegenber der neukantianischen Klassifikation der Wissenschaften im
21 Hinblick auf ihre Methode erhebt. Da es die besondere theoretische Einstellung
22 ist, welche die jeweiligen Eigenschaften des Gegenstands bestimmt, kann die Un-
23 terscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften nicht als ein regional-
24 ontologischer Unterschied verstanden werden. Wie bei Rickert, ist es auch hier
25 die theoretische Einstellung, die den Gegenstand einer bestimmten Wissenschaft
26 festsetzt, und gerade nicht eine vorgegebene Pluralitt des Seienden, wie Hus-
27
serls regionale Ontologie impliziert.
28
Dieser scheinbare Widerspruch lsst sich ausrumen, wenn man Husserl dar-
29
in folgt, dass es sich bei dem Unterschied von naturalistischer und personalisti-
30
scher Einstellung – erstere als Voraussetzung der Naturwissenschaft, letztere als
31
diejenige der Geisteswissenschaft – nicht um zwei auf derselben Ebene nebenein-
32
ander befindliche Einstellungen handelt, sondern dass „die naturalistische Ein-
33
stellung sich der personalistischen unterordnet und durch eine Abstraktion oder
34
vielmehr durch eine Art Selbstvergessenheit des personalen Ich eine gewisse
35
36 29 Ideen II. 174.
37 30 Ideen II. 211.
31 Andrea Staiti: Systematische berlegungen zu Husserls Einstellungslehre. In: Husserl
38
Studies 25 (2009). 219 – 233. 221.
39 32 Landgrebe: Seinsregionen. 154.

40 33 Staiti: Systematische berlegungen. 223.


88 Marco Cavallaro

1 Selbststndigkeit gewinnt, dadurch zugleich ihre Welt, die Natur, unrechtmßig


2 verabsolutierend“.34 Anders ausgedrckt, gilt nach Husserl eine unbersehbare
3 Differenz zwischen den Arten der Einstellung in den Natur- bzw. den Geistes-
4 wissenschaften. „Wer berall Natur sieht, Natur im Sinne und gleichsam mit
5 den Augen der Naturwissenschaft,“ so Husserl, „ist eben blind fr die Geistes-
6 sphre, die eigentmliche Domne der Geisteswissenschaften. Er sieht keine Per-
7 sonen und […] keine Kultur-Objekte“.35 An einer anderen Stelle fgt er hinzu:
8 „[Der Naturforscher] hat Scheuklappe[n]. Als Forscher sieht er nur Natur.
9 Aber als Person lebt er wie jeder andere und weiß sich bestndig als Subjekt sei-
10 ner Umwelt“.36 Demgemß ist der Naturforscher nicht in der Lage, eine wirk-
11 lich fundamentale Seinsregion in ihrer theoretischen Betrachtung der Welt zu
12 erfassen. Auf der einen Seite ist die naturwissenschaftliche Weltanschauung sozu-
13 sagen ,zu eng‘. Dementsprechend ist Husserls Kritik am Naturalismus seiner
14 Zeit noch radikaler als diejenige, die der Debatte zwischen Dilthey und den Neu-
15 kantianern zugrunde liegt. Naturalismus besagt demnach nicht lediglich eine
16 Art methodischer Reduktionismus, durch den die Methoden der Naturwissen-
17 schaften auf die Geistessphre angewandt werden; vielmehr bedeutet er fr Hus-
18 serl letztlich einen ontologischen Reduktionismus. In diesem Sinne spricht er
19 von den „Sinnesschranken der natrlichen Einstellung“: „der natrliche Mensch
20 und insbesondere der Naturforscher“, so fhrt er aus, „merkt diese Schranken
21 nicht, er merkt nicht, dass alle seine Ergebnisse mit einem bestimmten Index be-
22 haftet sind, der ihren bloß relativen Sinn anzeigt“.37
23 Auf der anderen Seite erweisen sich die personalistische Einstellung und ihr
24 Korrelat, die geistige bzw. soziale Welt, als absolut. Dem relativen Sinn der Na-
25 tur steht also der absolute Charakter des Geistes gegenber. Husserl befasst sich
26 mit diesem Unterschied zwischen Natur und Geist insbesondere im letzten Para-
27
graphen der Ideen II. Um die Absolutheit des Geistes zu prfen, fhrt er eine
28
Art „Reduktion auf den absoluten Geist“ ein, die teilweise an die transzendental-
29
phnomenologische Reduktion des ersten Bandes der Ideen erinnert.38 Er be-
30
hauptet zwar, „eine Reduktion auf so etwas wie physische Natur […] ist undenk-
31
bar“, weil „Natur […] ein Feld durchgngiger Relativitten“ ist.39 Der Geist
32
33 Ideen II. 183 f.
34

34 Ebd. 191.
35
36 Ebd. 183.
35 37 Ebd. 179.
36 38 Manfred Sommer spricht in diesem Zusammenhang von einer „Reduktion auf den absolu-

37 ten Geist“, die, im Gegensatz zur Reduktion der Ideen I, in die alle „Kulturgebilde“ mit einbe-
38 zogen sind, die Welt auf den Kopf stellen wrde (Manfred Sommer: Einleitung. Husserls Gçt-
tinger Lebenswelt. In: Edmund Husserl: Die Konstitution der geistigen Welt. Hamburg 1984.
39 IX-XLII. XXXVII).
40 39 Ideen II. 297.
Der Beitrag der Phnomenologie Edmund Husserls 89

1 hingegen ist „absolut […], irrelativ. Nmlich, streichen wir alle Geister aus der
2 Welt, so ist keine Natur mehr. Streichen wir aber die Natur, […] so bleibt noch
3 immer etwas brig: der Geist als individueller Geist.“40
4 Wie ist nun diese Absolutheit des Geistes und die entsprechende Relativitt
5 der Natur genauer zu verstehen? Einen Hinweis darauf bietet uns Husserls Dis-
6 kussion um den psychischen Parallelismus. Dem letzten Paragraphen der Ideen
7 II, in dem sich Husserl in klaren Worten auf den Vorrang des Geistes bezieht,
8 geht ein mindestens ebenso wichtiger Paragraph voran, der sich mit dem Pro-
9 blem des psychophysischen Parallelismus beschftigt. Dieses Problem spielt
10 eine wichtige Rolle bei der Polemik gegen den Naturalismus und bei der Unter-
11 scheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Dem psychophysischen
12 Parallelismus entspricht nmlich die Mçglichkeit, dass „jederlei Auffassungen
13 und vor allem Bewusstsein berhaupt abhngig sei vom Leib und seinen leib-
14 lich-objektiven Vorkommnisse[n]“.41 Da eine mçgliche berwindung des me-
15 thodischen Naturalismus dem Parallelismus von Natur und Geist nicht unbe-
16 dingt widersprechen wrde, hat Husserl ein Interesse daran, sich in dieser
17
Hinsicht zu positionieren. Aus einem angeblichen Parallelismus zwischen Na-
18
tur und Geist wrde nmlich folgen, dass sich beide „ergnzen und durchset-
19
zen“, wie „nur zwei Seiten einer und derselben Sache“, die „in beiden Seiten
20
dieselbe Sache ausdrcken.“42 Dass dies „aber nicht der Fall“ sein kann, ist fr
21
Husserl unbezweifelbar. Seiner eigenen Auffassung nach ist dieser Parallelismus
22
schon eine Art Naturalismus, dem aber nicht unbedingt ein methodischer Re-
23
duktionismus folgt.43 Der Hauptgrund dafr, warum der Parallelismus „radikal
24
zu widerlegen“ ist,44 besteht nach Husserl darin, dass die Gesetze der materiel-
25
len Realitt einen vçllig anderen Sinn haben als die Gesetze des Bewusstseins,
26
d. h. des Geistes. Die physischen nderungen, von denen mein physischer Kçr-
27
per abhngt, „sind faktische Vernderungen, sie unterstehen Naturgesetzen, die
28
auch andere sein kçnnten“.45 Wesentlich anders steht es aber mit den Gesetzen,
29
denen die Abfolge und Koexistenz der Bewusstseinserlebnisse unterliegen. Sie
30
31
sind laut Husserl „Wesensgesetze“, das besagt, sie entsprechen dem apriorischen
32 40 Ebd.
33 41 Ebd. 289 f.
42 Ebd. 289.
34
43 Wie schon Claude Evans dargelegt hat, bezieht sich Husserls Kritik sowohl auf den me-
35
thodisch reduktionistischen Charakter des Naturalismus als auch auf einen Eliminativismus,
36 d. h. eine Theorie, die davon ausgeht, dass jede psychologische bzw. soziale Fragestellung
37 durch Fragestellungen hinsichtlich materieller Realitt ausgetauscht werden kann (Claude J.
38 Evans: Where is the Life-World? In: Thomas Nenon, Lester Embree [Hg.]: Issues in Husserl’s
Ideas II. Dordrecht 1996. 57 – 65. 63).
39 44 Ideen II. 294.

40 45 Ebd. 293.
90 Marco Cavallaro

1 Wesen des Bewusstseins, das sich nicht empirisch bestimmen lsst. Aus diesem
2 Grund hebt der psychophysische Parallelismus entgegen dem Anliegen Hus-
3 serls die Mçglichkeit einer eidetischen Erklrung des Bewusstseinslebens auf
4 und ist demzufolge in letzter Konsequenz abzulehnen.
5 Auf Grund der Erçrterung des Parallelismus von Natur und Geist in Hus-
6 serls Ideen II ist uns auch der Absolutismus des Geistes klarer geworden. Geist
7 und Natur sind nicht zwei gleichgerichtete Seinsregionen, die ursprnglich aus
8 einer allumfassenden Realitt stammen. Der Dualismus von Geist und Natur
9 wird fr Husserl nicht dialektisch in einem Monismus aufgehoben. Der Monis-
10 mus bzw. die Absolutheit des Geistes ist vielmehr von Anfang an der phno-
11 menologischen Perspektive vorgngig.46 Das impliziert natrlich nicht, dass
12 Husserl die Mçglichkeit einer Wechselwirkung zwischen Geist und physischer
13 Natur ausschließt.47 Im Gegenteil, eine Wirkung der physischen Bestimmtheiten
14 auf den psychischen Bereich wird von Husserl explizit anerkannt: In der geisti-
15 gen Sphre ist jede physische Einwirkung, von dem Gesichtspunkt des Geistes
16
aus betrachtet, als „eine notwendige, aber nicht hinreichende Vorbedingung“ zu
17
verstehen.48 Das heißt, dass alle physischen Reize als „Motivation“ fr weitere
18
Akte vom Geist angenommen werden kçnnen. In der Geistessphre gilt nm-
19
lich, so Husserl, das Motivationsgesetz, das wesentlich eine lediglich kausale Be-
20
ziehung zwischen Personen und Dingen widerlegt. Es charakterisiert unsere Be-
21
ziehung auf Andere als eine „intentionale Beziehung“, die von der real-kausalen
22
Beziehung zwischen bloßen Natursachen zu unterscheiden ist: „die reale Bezie-
23
hung fllt weg, wenn das Ding nicht existiert: die intentionale Beziehung bleibt
24
bestehen“.49
25
Diese letzte These sollte uns schon darauf aufmerksam machen, dass es in der
26
geistigen Sphre Raum fr eine ausgezeichnete Art von Natur geben kann. In
27
der Tat ist die geistige Welt nicht nur durch individuelle sowie durch intersubjek-
28
29 46 Hierzu hat Ullrich Melle in seinem Aufsatz ber Natur und Geist in der husserlschen

30 Phnomenologie zu Recht festgestellt, dass „Husserl’s idealistic conception of the relationship


31 between nature and spirit is radically spirit-centered“ und dass „nature plays only a subordina-
te role for Husserl“ (Ullrich Melle: Nature and spirit. In: Thomas Nenon, Lester Embree
32
[Hg.]: Issues in Husserl’s Ideas II. Dordrecht 1996. 15 – 35. 34).
33 47 Melle merkt dazu an: „Husserl’s critique of the naturalistic reduction of man and spirit is

34 not directed against the naturalistic research program as such. […] It is not the naturalistic
35 research program itself […] problematic, but rather its absolutism“ (Melle: Nature and spi-
rit. 23).
36 48 Ideen II. 297.
49 Ebd. 215. Dies bildet auch das Fundament, auf dem sich Husserl auf die Existenz der
37
38 „Geister“ im Sinne von „Gespenstern“ als eine grundlegende Mçglichkeit der geistigen Welt
bezieht (z. B. ebd. 94 f., 216, 287). Auch wenn ihnen keine reale bzw. kausal-materielle Gegen-
39 stndlichkeit entspricht, sind sie dennoch fr das geistige Subjekt „real“, da es mit ihnen durch
40 eine intentionale Beziehung verbunden ist.
Der Beitrag der Phnomenologie Edmund Husserls 91

1 tive Personalitten zusammengesetzt, welche Husserl bekanntlich „Personalit-


2 ten hçherer Ordnung“ nennt. Eine Dingwelt ist dem Geist ebenso gegeben und
3 stellt die „Umwelt“ seiner aktuellen und mçglichen Erfahrungen dar. „Als Per-
4 son“, so Husserl, „bin ich, was ich bin […] als Subjekt einer Umwelt. Die Begrif-
5 fe Ich und Umwelt sind untrennbar aufeinander bezogen“.50 Diese Umwelt zei-
6 ge sich als ein „Widerspiel der Natur“; das besagt aber nur, dass „das in ihr
7 Erfahrene nicht Natur ist im Sinne aller Naturwissenschaften“.51 Prinzipielle
8 Teile der geistigen bzw. sozialen Welt sind entweder Personalitten oder materi-
9 elle Dinge, die aber als Trger einer „geistigen Bedeutung“ fungieren. Innerhalb
10 des objektiven Geistes muss man also zwei Dimensionen oder Regionen niede-
11 rer Stufe auseinander halten: Erstens gibt es all das, was Produkt einer aktiven
12 Leistung des Geistes ist, z. B. einen mathematischen Beweis, eine musikalische
13
Komposition usw. Zweitens werden hier all diejenigen Objekte als geistige Be-
14
deutungen tragende Gegenstndlichkeiten betrachtet, die mit einem wertenden
15
oder praktischen Akt behaftet sind oder sein kçnnen. Husserl erlutert diesen
16
letzten Punkt anhand des folgenden Beispiels: Kohle ist in sich selbst ein Natur-
17
objekt, d. h. sie ist nicht Produkt geistiger Leistung wie ein Gedicht oder ein Por-
18
trt. Nichtsdestoweniger kann die Kohle als geistige Gegenstndlichkeit aufge-
19
fasst werden, z. B. wenn ich sie als Heizmaterial betrachte, d. h. als dienlich und
20
dienend zum Heizen, als dazu geeignet und dazu bestimmt, Wrme zu erzeu-
21
gen.52
22
Die Rede von „geistigen Prdikaten“, die sich insbesondere in Husserls Vorle-
23
sungen ber Natur und Geist von 1919 und 1927 findet, kçnnte den Eindruck
24
25
erwecken, dass die materielle Natur im Aufbau der Welt als unterste Schicht an-
26
zusiedeln sei, und zwar so, als ob die Natur im naturwissenschaftlichen Sinne
27 die erste konstituierte Einheit darstellen wrde und dementsprechend die geisti-
28 ge Welt als hçhere Schicht, sozusagen auf dieser untersten „aufliegend“, zu ver-
29 stehen wre. Dass dies keineswegs die Auffassung Husserls wiedergibt, wird vor
30 allem aus dem Grundsatz der Absolutheit des Geistes und der Relativitt der
31 Natur klar. Wie Landgrebe bemerkt, liegt die Natur nach Husserl „also nicht
32 allem Seienden als eine unterste Schicht realiter zugrunde, sondern wir gelangen
33 zu ihr durch ein bewusstes Absehen von all den anderen Charakteren, Bedeu-
34 tungscharakteren usw., in denen uns die Dinge erscheinen“.53 Die „objektive Na-
35 tur“ der Naturwissenschaften wird demnach durch die Anwendung einer beson-
36 deren Methode erreicht und stellt gerade nicht dasjenige dar, was uns
37
38
50 Ebd. 185.
51 Ebd. 180.
39 52 Siehe ebd. 187 f.
40 53 Landgrebe: Seinsregionen. 154.
92 Marco Cavallaro

1 ursprnglich gegeben ist. Demgemß ist vor allem eine besondere methodisch
2 gerichtete Einstellung erforderlich, um die Erfassung dieser Natur zu gewhrleis-
3 ten. Als „Kunstprodukt der Methode“, wie Husserl die physisch-kausale Natur
4 in der Vorlesung ber Phnomenologische Psychologie nennt,54 ist sie als „kultu-
5 relles Objekt“ zu bezeichnen, und demgemß kann sie Gegenstand geisteswis-
6 senschaftlicher Untersuchungen werden.55 Der Vorrang der Geisteswissenschaf-
7 ten und demzufolge der geisteswissenschaftlichen Einstellung vor den
8 Naturwissenschaften und ihrer entsprechenden Einstellung besteht darin, dass
9 die Natur und sogar der Naturalismus, d. h. die Anwendung der naturwissen-
10 schaftlichen Methoden auf den Bereich der geistigen Forschung, als kulturelle
11 bzw. soziale Phnomene verstanden werden kçnnen und, Husserl zufolge, auch
12 verstanden werden sollten. Aus diesem Grund haben letztlich die Geisteswissen-
13 schaften nach Husserl die wichtige Aufgabe, sowohl den Naturalismus als theo-
14 retisches Produkt zu bewerten als auch ihn kritisch-normativ zu beurteilen.56
15
16
17
4. Fazit
18
19
Aus den soeben durchgefhrten Analysen wird die Bedeutung der leitenden
20
Funktion, die laut Husserl die Phnomenologie in Bezug auf die geisteswissen-
21
schaftlichen Erkenntnisse leisten sollte, ersichtlich. Die Geisteswissenschaften
22
sollen Husserls prinzipieller Auffassung zufolge in letzter Konsequenz einer
23
ethischen Aufgabe nachgehen. Die Krise der Menschheit, die er sowohl in sei-
24
nen Wiener Vorlesungen als auch in den Kaizo-Artikeln mehrfach betrachtet
25
hat, stellt er letztlich als Krise der Kultur dar, deren grundlegende Ursache der
26
Naturalismus, d. h. die Verabsolutierung der naturwissenschaftlichen Betrach-
27
tung der Welt ist. Demgemß erhlt die Debatte ber die Fundierung der Geistes-
28
wissenschaften eine dezidiert ethische Prgung. Aber kommen wir noch einmal
29
zurck auf unsere einleitende Frage, welche Funktion der Phnomenologie in
30
jener Debatte zukommt. In einer seiner zahlreichen „methodischen Besinnun-
31
gen“ in den Ideen II gibt Husserl eine mçgliche Antwort darauf. Im Gegensatz
32
zum Naturforscher, und auch zum Geistesforscher, ist der Phnomenologe in
33
der Lage, die verschiedenen Einstellungen zu trennen und ihren relativen Sinn
34
einzuschtzen. „Das Erzieherische der phnomenologischen Reduktion“, so Hus-
35
36 Husserl: Phnomenologische Psychologie. 54.
54

37 Siehe Melle: Nature and spirit. 32.


55
56 Melle hat auf diese Aufgabe der Geisteswissenschaften besonders hingewiesen und er-
38
klrt: „This critical-normative examination of natural science in the context of spiritual life
39 […] asks if and how far natural science promotes the becoming of a humanity of reason“
40 (Melle: Nature and spirit. 33).
Der Beitrag der Phnomenologie Edmund Husserls 93

1 serl, „liegt […] auch darin, dass sie uns nun berhaupt fr die Erfassung von
2 Einstellungsnderungen empfnglich macht, die der natrlichen [bzw. persona-
3 listischen] oder […] naturalen Einstellung ebenbrtig sind, die also wie diese nur
4 relative und beschrnkte Seins- und Sinneskorrelate konstituieren“.57 Was wir in
5 unserem Beitrag, dem Gedanken Husserls folgend, geleistet haben, ist eine Ana-
6 lyse der personalistischen und naturalistischen Einstellung, die nur von einem
7 phnomenologischen Gesichtspunkt aus mçglich ist. Daraus wird die zentrale
8 Funktion der Phnomenologie fr die Besinnung und Entwicklung der Geistes-
9 wissenschaften deutlich, und damit auch fr eine allgemeine, wissenschaftlich
10 begrndete Interpretation der sozialen Welt.58
11
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37 57 Ideen II. 179.
38
58 An dieser Stelle mçchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. Dieter Lohmar und dem Team des
Husserl-Archivs der Universitt zu Kçln, Dr. Dirk Fonfara, Marie Weber, M.A. und Klaus
39 Sellge, M.A. fr die Untersttzung bei der sprachlichen und inhaltlichen Korrektur des vorlie-
40 genden Textes ganz herzlich bedanken.
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1 Christian Ferencz-Flatz
2
3
4 Zum Phnomen der „Generation“
5
Intersubjektivitt und Geschichte bei Heidegger
6
7
8
9
10 I. Von der Einfhlung zum Mitgeschehen
11
12 Der Zusammenhang von Intersubjektivitt und Geschichte ist bei Heidegger
13 schon frh belegt. In einer seiner ersten Vorlesungen werden die beiden Begriffe
14 an einer der wenigen Stellen, an denen der Terminus „Intersubjektivitt“ ber-
15 haupt vorkommt, ausdrcklich aufeinander bezogen.1 Selten ist bei Heidegger
16 auch von „Einfhlung“ die Rede, wobei der Begriff in der Vorlesung vom WS
17 1919/20 wiederum gerade eine Schnittstelle der beiden Themenbereiche bezeich-
18 net. Indem Heidegger hier versucht, den von Husserl grob als quivalent der
19 „Apprsentation“ gebrauchten Begriff der „Bekundung“2 fr eine Bestimmung
20 der Wissenschaften berhaupt zu verwerten, bemerkt er zunchst bezglich der
21 Geschichte, diese lege lebensweltliche Gegenstnde als „Bekundungen“ der Ver-
22 gangenheit aus, und erwhnt im Anschluss daran auch die Biologie als Beispiel.
23 Dabei setzt er in einer kritischen Randbemerkung zu dieser Stelle hinzu, dass
24 der Zusammenhang von Historie und Biologie seinerseits eigens htte berck-
25 sichtigt werden sollen,3 indem er der „Einfhlung“ – hnlich wie bei Dilthey
26 oder auch Husserl – die Rolle einer beiden gemeinsamen Bekundungsform zuzu-
27 schreiben scheint. Bekanntlich verwendet aber Heidegger zunchst zur Bezeich-
28 nung der Intersubjektivitt vornehmlich den Terminus Mitwelt, der zusammen
29
mit der Umwelt und der Selbstwelt ein eigenartiges Begriffsschema bildet. Mit
30
diesen Wortprgungen will Heidegger die Tatsache betonen, dass alles Gegebene
31
als solches berhaupt erst in einem lebensweltlichen Horizont erfahren wird,
32
und so sind zunchst auch die Anderen nur als bedeutsamer Umstand einer er-
33
lebten Welt zugnglich. Dabei fllt sogleich auf, dass der Terminus „Mitwelt“
34
selbst schon geschichtlich konnotiert ist, indem er gewçhnlich als ein Bereich
35
36 1 Martin Heidegger: Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem (KNS

37 1919). In: Ders.: Zur Bestimmung der Philosophie. Frankfurt a.M. 21999. 51.
2 Vgl. dazu auch Christian Ferencz-Flatz: Der Begriff der „Bekundung“ bei Husserl und
38
Heidegger. In: Husserl Studies 26 (2010). 189 – 203.
39 3 Martin Heidegger: Grundprobleme der Phnomenologie (WS 1919/20). Frankfurt a.M.
2
40 2010. 50. Anm. 7. (im Folgenden zitiert als GA 58).

Phnomenologische Forschungen 2013 ·  Felix Meiner Verlag 2013 · ISSN 0342-8117


96 Christian Ferencz-Flatz

1 geschichtlicher Gleichzeitigkeit der Nachwelt und der Vorwelt entgegengesetzt


2 wird. Heidegger scheint auf diese noch bei Schtz zentrale Bedeutungsrichtung
3 nicht einzugehen, obwohl er in seinen frhen Vorlesungen in der Tat vornehm-
4 lich von einer aktuell gegebenen Mitwelt spricht, die in der Weise des „Begegnis-
5 ses“ erfahren wird. Darber hinaus hebt Heidegger auch des fteren hervor, die
6 jeweilige Mitwelt sei als solche eben stets eine „historisch bestimmte“.
7 Diese gesamte Terminologie wird nun um 1924 revidiert, wobei an die Stelle
8 der Mitwelt das Miteinandersein rckt, ein Begriff, der zusammen mit dem Mit-
9 sein und dem Mitdasein die Intersubjektivittslehre von Sein und Zeit prgt. Das
10 Miteinandersein wird hier, gleich wie das In-der-Welt-sein berhaupt, als eine
11 apriorische Grundstruktur des Daseins betrachtet: „Die Klrung des In-der-
12 Welt-seins zeigte, dass nicht zunchst ,ist‘ […] ein bloßes Subjekt ohne Welt.
13 Und so ist am Ende ebensowenig zunchst ein isoliertes Ich gegeben ohne die
14 Anderen.“4 hnlich wie bei Scheler geht also auch bei Heidegger die Intersubjek-
15 tivitt dem Subjekt voraus, doch scheint Heidegger noch einen Schritt weiter
16 gehen zu wollen, indem er diese Feststellung „existenzial“, d. h. als eine Seinswei-
17 se des Daseins selbst deutet. Diese Blickrichtung bestimmt schon den Sinn, in
18 dem hier berhaupt von den „Anderen“ gesprochen wird: „,Die Anderen‘ be-
19 sagt nicht soviel wie: der ganze Rest der brigen außer mir, aus dem sich das Ich
20 heraushebt, die Anderen sind vielmehr die, von denen man selbst sich zumeist
21 nicht unterscheidet, unter denen man auch ist.“5 Gerade dieses „Auch-da-sein“
22 des Daseins bezeichnet Heidegger als Mitsein, wobei diese existenziale Struktur
23 des eigenen Daseins das Mitdasein der Anderen berhaupt erst ermçglicht. All
24 dies scheint allerdings zunchst wenig mit Geschichte zu tun haben, doch dieser
25 Schein verschwindet, sobald man den systematischen Gedankengang von Sein
26 und Zeit nher bedenkt. Denn Heidegger betrachtet, wie bekannt, die gesamten
27
Ausfhrungen des ersten Abschnitts des Textes einschließlich jener Ausfhrung
28
ber das Miteinandersein nur als eine vorlufige Ausarbeitung der existenzialen
29
Struktur des Daseins, die dann im zweiten Abschnitt aus Sicht der Zeitlichkeit
30
zu wiederholen ist. Dabei bemerkt er zugleich, dass diese zeitlich geprgte Wie-
31
derholung ihrerseits zu einer ursprnglicheren Auffassung der „Zeitigungsstruk-
32
tur der Zeitlichkeit“ fhre, die er als „Geschichtlichkeit“ bezeichnet. Wenn man
33
nun aber diesen Gedankengang noch einen Schritt weiter verfolgt, so msste das
34
konkretere Auffassungsniveau der Geschichtlichkeit wenn nicht eine dritte Aus-
35
arbeitung, so doch wenigstens eine gewisse Neuausrichtung der existenzialen
36
Strukturen einleiten, die dann auch eine erneute, geschichtlich gerichtete Inter-
37
pretation des Miteinanderseins einschließen msste. Dieser Schritt wird bekannt-
38
39 4 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tbingen 171993. 116. (im Folgenden zitiert als SuZ).
40 5 SuZ, 118.
Zum Phnomen der „Generation“ 97

1 lich in Sein und Zeit nicht durchgefhrt, aber Heidegger bezeichnet, im vorletz-
2 ten Kapitel des Werkes, dennoch den genauen Schnittpunkt von Intersubjektivi-
3 tt und Geschichte, den solche berlegungen nahelegen, und zwar im prgnan-
4 ten Begriff Mitgeschehen.
5 Der Ausdruck Mitgeschehen kommt in Sein und Zeit ein einziges Mal in fol-
6 gendem Satz vor: „Wenn aber das […] Dasein als In-der-Welt-sein wesenhaft im
7 Mitsein mit Anderen existiert, ist sein Geschehen ein Mitgeschehen“6. Die Stel-
8 le, an der er angefhrt wird, erregt allerdings zunchst Bedenken, denn zum ei-
9 nen wird hier die als „Schicksal“ bestimmte Geschichtlichkeit mit dem kollekti-
10 ven „Geschick“ des „Volkes“ in Verbindung gebracht, was schon des fteren
11 Anlass zur Kritik gab. Zum anderen scheint die als „Geschehen“ interpretierte
12 Geschichtlichkeit nur einen ziemlich blassen Sinn von Geschichte zu behalten,
13 was schon frh von Adorno, Misch, Lçwith oder auch Benjamin beklagt wurde.
14 Beide Einwnde wrden gewiss eine Diskussion lohnen. Indessen wollen wir
15 hier lediglich einen einzigen Begriff besprechen, der in diesem Zusammenhang
16 erwhnt wird und einerseits solchen Einwnden weniger ausgesetzt zu sein
17 scheint, andererseits aber den im Begriff „Mitgeschehen“ ausgedrckten Zusam-
18 menhang von Intersubjektivitt und Geschichte vortrefflich exemplifiziert. Es
19 ist dies der Begriff der „Generation“, den Heidegger gleich im Anschluss an jene
20 Stelle verwendet: „Das schicksalhafte Geschick des Daseins in und mit seiner
21 ,Generation‘ macht das volle, eigentliche Geschehen des Daseins aus.“7
22
23
24
II. Dilthey und Heidegger
25
26
In einer Anmerkung zu dieser Stelle weist Heidegger auf Dilthey als Quelle sei-
27
ner Auffassung des Generationsbegriffs hin. Dazu bemerkt Karl Mannheim in
28
einem kurz nach Sein und Zeit erschienenen Aufsatz,8 Heidegger unternehme
29
hier eine radikale Vertiefung des diltheyschen Ansatzes. In seinem Buch Martin
30
Heidegger and the Problem of Historical Meaning9 (1987) behauptet J.A. Ba-
31
rash, Heideggers Ausfhrungen zum Generationsproblem seien nicht nur eine
32
getreue Wiedergabe der diltheyschen Konzeption, sondern vielmehr ein Ver-
33
such, dessen Bedingungen der Mçglichkeit zu ergrnden. In diesem Zusammen-
34
hang wird der Terminus Generation auch als ein Grundbegriff der Geschichts-
35
36 6 SuZ, 384.
37 7 Ebd. 384 f.
8 Karl Mannheim: Das Problem der Generationen. In: Kçlner Vierteljahrshefte fr Sozio-
38
logie 7 (1928). 164.
39 9 Jeffrey Andrew Barash: Martin Heidegger and the Problem of Historical Meaning. New

40 York 22003. 171.


98 Christian Ferencz-Flatz

1 auffassung von Sein und Zeit angesprochen.10 Nhere Erluterungen sind hinge-
2 gen bei keinem der beiden Autoren zu finden, so dass leicht der Anschein entste-
3 hen kçnnte, Heidegger stelle in seinem Werk eine komplexe und ausfhrliche
4 geschichtsphilosophische Theorie der Generationen auf. In der Tat wird der Be-
5 griff, abgesehen von der vorhin zitierten Stelle, nur noch ein einziges Mal beilu-
6 fig erwhnt: „Seine eigene Vergangenheit – und das besagt immer die seiner ,Ge-
7 neration‘ – folgt dem Dasein nicht nach, sondern geht ihm je schon vorweg.“11
8 Wie auch immer man diese beiden Stellen lesen mçchte, klar ist in jedem Fall,
9 dass sich aus ihnen Heideggers Auffassung der Generation nicht ohne Weiteres
10 erhellt, sondern einer eingehenden Analyse derjenigen begrifflichen Zusammen-
11 hnge bedarf, in denen der Terminus steht oder wenigstens stehen msste. Dies
12 soll im Folgenden unternommen werden.
13 Zu diesem Zweck ist es zunchst hilfreich, Heideggers Verhltnis zu Diltheys
14 Konzeption des Begriffs der Generation genauer zu bedenken. In Diltheys Ab-
15 handlung ber das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen,
16 der Gesellschaft und dem Staat (1875), auf die sich Heidegger bezieht, bezeich-
17 net der Terminus zunchst, im Gegensatz zur rein chronologisch gemessenen
18 Zeit, eine innere Maßeinheit des geschichtlichen Zeitverlaufs. So zhlt die Geis-
19 tesgeschichte Europas, von Thales bis zum Jahr 1875, 84 Generationen. Indessen
20 gebraucht Dilthey den Terminus auch in einem weiteren Sinn, den er wie folgt
21 bestimmt: „Generation ist alsdann eine Bezeichnung fr ein Verhltnis der
22 Gleichzeitigkeit der Individuen; diejenigen, welche gewissermaßen nebeneinan-
23 der emporwuchsen, d. h. ein gemeinsames Kindesalter hatten, ein gemeinsames
24 Jnglingsalter, deren Zeitraum mnnlicher Kraft teilweise zusammenfiel, be-
25 zeichnen wir als dieselbe Generation.“12 Zu einer Generation gehçrt also zum
26 einen die Gemeinsamkeit gewisser Eindrcke, Erfahrungen und Einwirkungen,
27
zu welchen Dilthey sowohl das allgemeine geistige Niveau der Zeit als auch die
28
Gesamtheit der bestehenden und neu hinzutretenden gesellschaftlichen, politi-
29
schen, çkonomischen oder kulturellen Lebensumstnde rechnet. Zum anderen
30
mssen solche Eindrcke zugleich in die Jahre der grçßten Empfnglichkeit fal-
31
len, wobei Dilthey sich vornehmlich auf das Jugendalter bezieht, aber auch die
32
Bedeutung gemeinsamer Kindheitseindrcke erwhnt.
33
Ausgehend von diesen Ausfhrungen, kann offensichtlich ein entscheidender
34
Unterschied zwischen Heideggers und Diltheys Generationsbegriff festgestellt
35
36 Barash: Martin Heidegger. XXIV.
10

37 SuZ, 20.
11
12 Wilhelm Dilthey: ber das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen,
38
der Gesellschaft und dem Staat (1875). In: Ders.: Die geistige Welt. Einleitung in die Philoso-
39 phie des Lebens. Erste Hlfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften.
40 Gçttingen 81990. 37.
Zum Phnomen der „Generation“ 99

1 werden. Fr Dilthey ist dieser Terminus vornehmlich ein methodologisches In-
2 strument zum Studium der Geschichte, dessen besondere Aufschlusskraft im Be-
3 reich der biografischen Forschung liegt. So wird er auch ausdrcklich in einer
4 Vorarbeit zur vorhin erwhnten Abhandlung von 1875 eingefhrt: „Ein Indivi-
5 duum kann nur studiert werden, indem aufgrund der gemeinsamen Bedingun-
6 gen dieselben Individuen, welche in bestimmten Jahren dieselben fruchtbaren
7 Eindrcke empfangen haben, ins Auge gefasst werden.“13 Heidegger hingegen
8 betrachtet die Generation nicht als heuristisches Prinzip fr eine wissenschaftli-
9 che Geschichtsforschung in der Dritten Person, sondern vielmehr als Korrelat
10 einer jemeinigen Struktur des Daseins (welches „in und mit seiner Generation“
11 geschichtlich existiert), d. h. als Existenzial.
12 In der Sprache des jngeren Heidegger wird hier also einem objektgeschichtli-
13
chen Terminus eine vollzugsgeschichtliche Wendung gegeben. Die Grundlage die-
14
ser Unterscheidung liegt zunchst in Heideggers Bestimmung dreier Kategori-
15
en: Objekt, Gegenstand und Phnomen. Ein Gegenstand ist rein formal alles,
16
was nur berhaupt vermeint wird. Ein Objekt ist indessen ein Gegenstand, so
17
wie er aus Sicht einer rein theoretischen Betrachtung erfasst wird. Beide Begriffe
18
bezeichnen somit einen erfahrenen Gehalt, doch indem Heidegger weiter bei je-
19
der Erfahrung zwischen ihrem Gehalt, ihrem Bezugssinn und dessen Vollzugs-
20
weise unterscheidet, bezeichnet das Phnomen gerade die Einheit dieser drei Mo-
21
mente. Aus dieser Sicht ist nun eine objektgeschichtliche Betrachtung der
22
Geschichte grundstzlich im Bezugs- und Vollzugsmodus der theoretischen Ob-
23
24
jekterfassung verankert,14 whrend eine vollzugsgeschichtliche oder phnomeno-
25
logische Betrachtung der Geschichte diese als volles Phnomen, d. h. als Struktur-
26 ganzheit eines existenziellen Vollzugs erfasst. Die Grundtendenz dieser
27 Unterscheidung ist offensichtlich noch in Sein und Zeit bestimmend, indem Hei-
28 degger hier der theoretisch gerichteten Historie vorhlt, sie verstehe das Ge-
29 schichtliche nur als Objekt,15 weshalb er ihr eine Auslegung der Geschichte als
30 Bewegtheit der eigenen Existenz (d. h. als „Geschehen“) entgegensetzt.16 In die-
31 sem Sinn wird nun auch der bei Dilthey „objektgeschichtlich“ verstandene Ge-
32 nerationsbegriff in Sein und Zeit „vollzugsgeschichtlich“ gedeutet. Dies belegt
33 schon eine Stelle in der Aristoteles-Vorlesung von 1921, welche die Generation
34
13 Wilhelm Dilthey: Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Ge-
35
schichte. Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften (1865 – 1880). Tbingen
36 2
2000. 48.
14 Vgl. Martin Heidegger. Einleitung in die Phnomenologie der Religion (WS 1920/21). In:
37
38 Ders.: Phnomenologie des religiçsen Lebens. Frankfurt a.M. 22011. 64. (im Folgenden zitiert
als GA 60); vgl. auch ebd. 51.
39 15 SuZ, 375.

40 16 Ebd. 375.
100 Christian Ferencz-Flatz

1 ausdrcklich als geschichtliche Bewegtheit anspricht. Das faktische Leben lebt,


2 so Heidegger hier, „in seinen Erfahrungen […] so […], dass diese […] ihre Be-
3 wegtheit haben in der geschichtlichen Bewegtheit von Wirkungszusammenhn-
4 gen (Generation), die faktisch in eigener Weise begegnet und ,da ist‘“.17
5
6
7
8 III. Miterschlossenheit
9
10 Was Heidegger somit als Generation anspricht, ist eine vollzugsgeschichtliche
11 Figur der Intersubjektivitt oder auch: eine konkrete Form des Mitgeschehens.
12 Um sie genauer zu kennzeichnen, ist es offensichtlich nçtig, auf die nheren Be-
13 stimmungen des Miteinanderseins einzugehen. Dabei kann es leicht so aussehen,
14 als erschçpfe sich Heideggers Intersubjektivittslehre als solche letztlich ledig-
15 lich in dem Gegensatz der eigentlichen „Frsorge“ und der uneigentlichen „Ver-
16 fallenheit an das Man“; ein Gegensatz, der in der Tat kaum vielversprechend er-
17 scheint fr eine Thematisierung des Generationsphnomens. Indessen schlgt
18 Heidegger auch einen weniger auffallenden Weg zur Auslegung des Miteinander-
19 seins an, der in Sein und Zeit vornehmlich in den Ausfhrungen ber das Exis-
20 tenzial der Rede zur Geltung kommt und seinen begrifflichen Niederschlag in
21 den Kategorien Mitbefindlichkeit, Mitverstehen und Mitteilung findet.18 Diese
22 Begriffe entsprechen den drei Grundmodi der „Erschlossenheit“ des Daseins:
23 Befindlichkeit, Verstehen und Rede. Indem die Erschlossenheit bei Heidegger
24 generell die jeder theoretischen Erkenntnis vorhergehende, simultane Offenheit
25 der Welt, des Selbst und der Anderen im Vollzug des In-der-Welt-seins bezeich-
26 net, bekundet ihre angedeutete intersubjektive Wendung offensichtlich den Ver-
27 such, die existenzialen Grundstrukturen des Daseins zugleich als Strukturmo-
28 mente des Mitseins zu denken. In der Mitteilung „konstituiert sich die
29 Artikulation des verstehenden Miteinanderseins. Sie vollzieht die ,Teilung‘ der
30 Mitbefindlichkeit und des Verstndnisses des Mitseins. […] Mitdasein ist wesen-
31 haft schon offenbar in der Mitbefindlichkeit und im Mitverstehen. Das Mitsein
32 wird in der Rede ,ausdrcklich‘ geteilt, das heißt, es ist schon, nur ungeteilt als
33 nicht ergriffenes und zugeeignetes.“19 Indem nun diese drei Termini in ihren je-
34 weiligen begrifflichen Zusammenhngen zugleich Indizes fr ihre Interpretati-
35 on aus Sicht der Geschichtlichkeit bereitstellen, zeichnet sich fr uns ein Weg
36 zur „mitgeschichtlichen“ Erluterung des Generationsproblems im Sinne der
37
17 Martin Heidegger: Phnomenologische Interpretationen zu Aristoteles (WS 1920/21).
38
Frankfurt a.M. 21994. 161.
39 18 SuZ, 162.

40 19 Ebd.
Zum Phnomen der „Generation“ 101

1 existenzialen Analytik vor. Diesen Weg mçchten wir im Folgenden nachzeich-


2 nen.
3 a) Die Befindlichkeit bezeichnet in Sein und Zeit die stimmungsmßige Er-
4 schlossenheit des Daseins.20 Was die Stimmung bezglich des Daseins erschließt,
5 ist genauer die nackte Tatsache seines Seins – sein „dass es ist“ – was Heidegger
6 auch als Geworfenheit oder Faktizitt anspricht. Dies bezieht sich aber grund-
7 stzlich nicht bloß auf das einzelne Individuum als solches, sondern stets auf das
8 Strukturganze des In-der-Welt-seins: „Das Gestimmtsein […] ist […] kein Zu-
9 stand drinnen, der dann auf rtselhafte Weise hinausgelangt und auf die Dinge
10 und Personen abfrbt. […] Sie ist eine existenziale Grundart der gleichurspngli-
11 chen Erschlossenheit von Welt, Mitsein und Existenz“.21 Da nun aber das Da-
12 sein in Heideggers Sicht wesenhaft in der Weise des Mitseins existiert, muss letzt-
13 lich auch sein Gestimmtsein in einer intersubjektiven Prgung, d. h. als
14 „Mitgestimmtsein“ gedacht werden, was Heidegger schließlich im Begriff der
15 Mitbefindlichkeit terminologisch festlegt.
16 Dieser Begriff wird zwar in Sein und Zeit nicht nher ausgefhrt, er scheint
17 jedoch, wenn man sich eine kurze Bemerkung ber die Furcht ansieht, als Ober-
18 begriff einer Vielfalt von Modifikationen zu gelten. Heidegger spricht vom
19 Frchten-fr-jemanden, das er sowohl vom Sich-mit-frchten als auch vom Mit-
20 einanderfrchten abgrenzt.22 Da all diese Varianten als Formen der Mitbefind-
21 lichkeit bezeichnet werden, indiziert der Begriff selbst als solcher offensichtlich
22 bloß das allgemeine Faktum einer intersubjektiven Relativitt der Stimmungen
23 berhaupt. Eine hnliche Auffassung entwickelt Heidegger, ohne auf den Be-
24 griff der Mitbefindlichkeit zurckzukommen, auch in der Vorlesung vom WS
25 1929/30. Indem er zunchst vom Beispiel der Traurigkeit ausgeht, die einen ber-
26 fllt, stellt er fest, dass diese Stimmung als solche keineswegs bloß zum inneren
27 Zustand der betroffenen Einzelperson gehçre, sondern zugleich auch eine gewis-
28 se Modifikation des Miteinanderseins einleite, da die Traurigkeit des Einen ihn
29 fr die Anderen verschließt und unzugnglich macht. Somit ist aber fr mich die
30 Verstimmtheit eines Anderen nicht nur seine persçnliche Angelegenheit, son-
31 dern zugleich auch ein affektiver Modus unseres Zusammenseins, eine Verstim-
32 mung des „Wir“. Dieselbe Bemerkung wird auch im Ausgang von den miteinan-
33 der geteilten sozialen „Atmosphren“ besprochen, die als intersubjektiv
34 verankerte Gefhlsrume stets auch ansteckend wirken.23 Auf diesem Wege ge-
35 langt Heidegger letztlich zu einer hnlichen Schlussfolgerung wie in Sein und
36
37 20 Ebd. 134.
38
21 Ebd. 137.
22 Ebd. 142.
39 23 Auf diesen letzteren Punkt geht Hermann Schmitz des fteren ein. Vgl. Hermann

40 Schmitz: Der Leib. Berlin 2011. 89 – 96.


102 Christian Ferencz-Flatz

1 Zeit: „Die Stimmung ist nicht ein Seiendes, das in der Seele als Erlebnis vor-
2 kommt, sondern das Wie unseres Miteinander-Daseins.“24
3 Wenn wir aber zugleich bedenken, dass Stimmung und Geschichtlichkeit bei
4 Heidegger in der Tat aufeinander bezogen sind, indem die Geworfenheit (als ei-
5 gentlicher „Gegenstand“ der stimmungsmßigen Erschlossenheit) nicht nur das
6 faktische Befinden des Individuums, sondern zugleich seine geschichtlich ge-
7 prgte, weltliche Situation betrifft,25 so kann mittels einer geschichtlich vertief-
8 ten Auffassung der Mitbefindlichkeit auch das Phnomen der Generation als Fi-
9 gur des Mitgeschehens legitim im Sinne der existenzialen Analytik besprochen
10 werden. Heidegger selbst tut dies allerdings nicht. Doch wenn das Miteinander-
11 sein berhaupt primr als Mitbefindlichkeit erschlossen ist und wenn jenes „in
12 und mit seiner Generation“ des Daseins, wie es in Sein und Zeit heißt, tatsch-
13 lich ein geschichtlich bestimmter Modus des Mitseins ist, dann ist damit auch
14 der kategoriale Rahmen vorgezeichnet, um das Generationsphnomen als ein Be-
15 findlichkeitsphnomen, genauer: als eine geschichtlich bedingte Stimmungsge-
16 meinschaft zu verstehen. Einer bestimmten Generation zuzugehçren, wrde aus
17 dieser Sicht soviel bedeuten wie: gewisse geschichtlich bestimmte soziale Ge-
18 fhlskonfigurationen zu teilen, whrend die Generationsunterschiede entspre-
19 chend als Produkte einer geschichtlichen Differenzierung der Mitbefindlichkeit,
20 d. h. als geschichtlich bestimmte Abgrenzungen im kollektiven Gefhlsleben
21 (etwa als soziale „Atmosphren“, in denen wir nicht mehr aufgehen) zu denken
22 wren. Dieser Gedanke kann zunchst etwas fingiert klingen, doch er wird plau-
23 sibler, sobald wir ihn mit einer hnlichen Auffassung von Hermann Schmitz
24 konfrontieren, nmlich seinem Begriff der „kollektiv dominanten leiblichen Dis-
25 positionen“. Letztlich besteht, hnlich wie fr Schmitz, so auch fr Heidegger –
26 wie aus seiner Vorlesung vom SS 1934 erhellt –, ein enger Zusammenhang zwi-
27 schen Stimmung und Leib.26 Hermann Schmitz versucht bekanntlich, den Stil-
28 wandel in den Bildenden Knsten, jedoch auch andere Formen geschichtlicher
29 Umbrche, auf Grund eines Umschlags in der herrschenden kollektiven leibli-
30 chen Disposition zu erklren, indem er die Letzteren auch mit den jeweiligen
31 gefhlsmßigen „Atmosphren“ der Epoche in Zusammenhang bringt. Dabei
32 betont Schmitz ausdrcklich, dass die geschichtlichen „Umstimmungen der leib-
33 lichen Disposition“ nicht alle Zeitgenossen ohne Unterschied betreffen, und ver-
34
35
36 24 Martin Heidegger: Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (WS

37 1929/30). Frankfurt a.M. 32004. 100.


25 SuZ, 383: „Geworfen ist [das Dasein] angewiesen auf eine ,Welt‘ und existiert faktisch
38
mit Anderen.“
39 26 Vgl. Martin Heidegger: Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache (SS 1934). Frank-

40 furt a.M. 1998. 131 f.


Zum Phnomen der „Generation“ 103

1 weist in dieser Hinsicht zustimmend auf Wilhelm Pinders, von Dilthey inspirier-
2 tem, Begriff der Generationen.27
3 b) Als zweites Moment der „Erschlossenheit“ bespricht Heidegger das Verste-
4 hen. Der Terminus wird vornehmlich auf das Phnomen des Seinkçnnens bezo-
5 gen, das Heidegger als „existenziale Mçglichkeit“ auffasst und – hnlich wie
6 Husserl die „praktischen Mçglichkeiten“ des „Ich kann“ – von den leeren logi-
7 schen Mçglichkeiten des „es ist mçglich“ absetzt. Alles Verstehen wird aus die-
8 ser Sicht grundstzlich als „Entwurf existenzialer Mçglichkeiten“ und somit als
9 Spielform des Seinkçnnens gedeutet, wobei der hier in Frage stehende Mçglich-
10 keitsbegriff freilich nicht nur ein subjektives Vermçgen, sondern zugleich damit
11 auch die entsprechende Auffassung der Welt als Wozu und Womit des Umgangs
12 bezeichnet. Da nun Heidegger das Dasein grundstzlich im Zeichen des Mit-
13 seins interpretiert, so muss auch seine Grundstruktur des Verstehens, d. h. sein
14 Bezug zu den je eigenen Daseinsmçglichkeiten intersubjektiv gedeutet werden.
15 Das Seinkçnnen des Daseins muss grundstzlich als ein Mitseinkçnnen (oder als
16 ein „Auch-sein-kçnnen“), d. h. als ein Kçnnen in Bezug auf Andere verstanden
17 werden, und in diesem Sinn wird dann auch ausdrcklich der Begriff Mitverste-
18
hen geprgt. Wenn Heidegger berhaupt im Bereich der existenzialen Mçglich-
19
keiten zwischen solchen des umweltlichen Besorgens, solchen der Frsorge fr
20
die Anderen und solchen der Bekmmerung fr sich selbst unterscheidet,28 so
21
kann dies auch so ausgedrckt werden, dass jedem Seinkçnnen berhaupt ein
22
frsorgliches Moment innewohnt.
23
Das als Mitseinkçnnen gedeutete Mitverstehen muss nun aber ebenfalls im
24
Sinne von Sein und Zeit geschichtlich gedeutet werden. Dies kommt vornehm-
25
lich in der prinzipiellen Aufeinanderbezogenheit der beiden Momente, Verste-
26
hen und Befindlichkeit, zum Ausdruck, da die Befindlichkeit laut Heidegger ihr
27
entsprechendes Verstehen hat, whrend das Verstehen stets ein befindliches ist.
28
Als Seinkçnnen ist somit das Dasein stets „durch und durch geworfene Mçglich-
29
keit“;29 ein Zusammenhang, der bei der erneuten Betrachtung des Verstehens im
30
zweiten Abschnitt des Werkes eine zentrale Bedeutung erhlt. Denn hier wird,
31
wie bekannt, das „vorlaufende“ Seinkçnnen als zukunftsgerichtete Zeitekstase
32
33
verstanden, die stimmungsmßige Geworfenheit indessen als ursprnglicher Mo-
34
dus der „Gewesenheit“. Wenn wir aber den Zusammenhang der beiden Momen-
35
te in ihrer zeitlich geprgten Auffassung im Licht des Geschichtlichkeitskapitels
36 betrachten, dann kommt damit zweierlei zum Ausdruck: Zum einen bedeutet
37 dies nmlich, dass das Dasein das geschichtlich Gewesene ursprnglich zukunfts-
38 27 Schmitz: Der Leib. 111.
39 28 SuZ, 143.
40 29 Ebd. 144.
104 Christian Ferencz-Flatz

1 gerichtet, d. h. als Mçglichkeit bernimmt und erschließt. Das Vergangene bietet


2 sich somit dem Dasein ursprnglich als Virtualitt und somit als ein Mçglich-
3 keitsangebot an, das das Dasein mittels der Wiederholung in seinem eigenen Sein-
4 kçnnen bernimmt. Zum anderen bedeutet dies aber zugleich, dass das Dasein
5 seine eigensten Mçglichkeiten als solche stets der bernahme seiner eigenen Ge-
6 worfenheit und damit seiner jeweiligen geschichtlichen Situation und ihren Mçg-
7 lichkeitsangeboten verdankt. Die existenzialen Mçglichkeiten des Daseins sind
8 somit immer geerbte Mçglichkeiten einer bestimmten sozialen und geschichtli-
9 chen Situation,30 wobei die berlieferung dieser Mçglichkeiten bei Heidegger
10 einen wesentlichen Schnittpunkt der beiden Themenbereiche – Intersubjektivi-
11 tt und Geschichte – ins Spiel setzt.
12 Dies alles lsst sich fr eine Auslegung des Generationsbegriffs im Sinne der
13 existenzialen Analytik fruchtbar machen, denn was kann es berhaupt fr das
14 Dasein bedeuten, „in und mit“ seiner Generation zu sein, wenn nicht: Miteinan-
15 dersein in einer geschichtlich bestimmten berlieferungssituation, in der be-
16 stimmte Daseinsmçglichkeiten „kursieren“ und offen stehen? Aus dieser Per-
17 spektive her msste die generationsmßige Zusammengehçrigkeit zunchst
18
gerade in der Teilnahme an denselben Seinsmçglichkeiten grnden, wobei ber-
19
haupt erst im Rahmen eines so verstandenen vergemeinschafteten Kçnnens ein
20
„miteinander Handeln“ im Sinne der „Interaktion“ mçglich ist. Diesem gemein-
21
samen Kçnnen mssten im Falle der Generationsunterschiede generativ be-
22
stimmte Formen des Nicht-Mitkçnnens entsprechen, die wohl in einer ge-
23
schichtlich zugespitzten Formulierung als Nicht-mehr- und Noch-nicht-
24
Mitkçnnen spezifiziert werden sollten. Offensichtlich kommt dies der Behaup-
25
tung nahe, genuine Gemeinschaft sei als solche berhaupt nur dort mçglich, wo
26
auch Mçglichkeiten sinnvoller Interaktion bestehen, whrend Letztere eben
27
grundstzlich geschichtlichen Konditionierungen unterliegen. In jedem Fall
28
birgt aber fr Heidegger, dank der wesentlichen Aufeinanderbezogenheit von
29
Verstehen und Befindlichkeit, jede mçgliche „Interaktion“ (im Sinne des Mitver-
30
stehens) auch einen Untergrund der Mitbefindlichkeit (der wohl entsprechend
31
als „Interpassion“ bezeichnet werden kann).
32
33
c) „Wenn der kºcor das Miteinander-Dahaben der Welt ausmacht, konstitu-
34
iert sich in ihm die Bestimmung des Miteinandersein.“31 Dieser Satz findet sich
35
in der Marburger Vorlesung vom SS 1924 (Grundbegriffe der aristotelischen Phi-
36 losophie), in der Heidegger erstmals versucht, die Frage der Intersubjektivitt
37 nicht durch das Begriffsschema der Mitwelt, sondern als „Miteinandersein“ aus-
38 30 Vgl. dazu etwa SuZ, 383.
39 31 Martin Heidegger: Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie (SS 1924). Frankfurt
40 a.M. 2002. 56. (im Folgenden zitiert als GA 18).
Zum Phnomen der „Generation“ 105

1 zulegen, wobei der Terminus hier den aristotelischen Begriff joimym¸a bersetzt.
2 Heideggers Intention ist dabei zunchst, die beiden berhmten Definitionen des
3 Menschen bei Aristoteles (als „sprechendes“ und als „politisches“ Wesen) zusam-
4 menzudenken, indem er sich dem zweiten Kapitel des ersten Buches der aristote-
5 lischen Politik zuwendet, in der die Bestimmung der „politischen“ Gemein-
6 schaft auf Grund der Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, genauer:
7 zwischen dem menschlichen kºcor und der tierischen vym¶ erfolgt. So gelangt
8 Heidegger letztlich dazu, die menschliche Gemeinschaft berhaupt (d. h. das
9 Miteinandersein) als eine im Sprechen (kºcor) fundierte zu betrachten. Derselbe
10 Gedanke wird auch folgendermaßen ausgedrckt: „Sprechen ist nicht primr
11 und zunchst ein Vorgang, zu dem nachher andere Menschen dazukommen, so
12 dass es dann erst ein Sprechen mit anderen wrde, sondern das Sprechen ist in
13 ihm selbst als solches Sichaussprechen, Miteinandersprechen mit anderen Spre-
14 chenden und deshalb das seinsmßige Fundament der joimym¸a.“32 In derselben
15 Vorlesung behauptet Heidegger bezglich des „Man“ – ein Terminus, der hier
16 noch eher neutral als „das eigentliche Wie des […] durchschnittlichen, konkre-
17 ten Miteinanderseins“33 aufgefasst wird: „der eigentliche Trger dieses Man ist
18 die Sprache. Das Man hlt sich auf, hat seine eigentliche Herrschaft in der Spra-
19 che“.34
20 Freilich scheint nun Heidegger in Sein und Zeit den als Rede verstandenen
21 kºcor nicht mehr schlichtweg als Fundament der Intersubjektivitt berhaupt
22 zu betrachten. Und auch schon in der Vorlesung vom SS 1924 sind radikale Aus-
23 sagen solcher Art an etlichen Stellen abgemildert, zum einen dadurch, dass Hei-
24 degger das Sprechendsein und das Miteinandersein letztlich als „gleichursprng-
25 lich“ betrachtet35, zum anderen aber dadurch, dass die Unterscheidung von
26 Mensch und Tier (und damit auch jene von kºcor und vym¶) grundstzlich als
27 nicht-exklusiv behandelt wird. In der Tat bemerkt Heidegger, die Wesensbestim-
28 mungen des Tieres seien laut Aristoteles gegenber jenen des Menschen nicht
29 rein ußerlich, sondern vielmehr in diese mit einbeschlossen „wie alle Mçglich-
30 keiten, die das Tier hat“.36 Diese Bemerkung ist aber bezglich des Verhltnisses
31 von kºcor und vym¶ insofern von Bedeutung, als Heidegger tatschlich die ge-
32 samte Erçrterung der beiden Momente der vym¶ (nmlich der Anzeige des Zu-
33 trglichen und Nachtrglichen und deren Kundgabe an andere) in einer Termino-
34 logie durchfhrt, die er spter mit Beziehung auf den Menschen in der
35 existenzialen Analytik gebrauchen wird. So liegt die Funktion der vym¶ zu-
36
37 32 GA 18, 50.
38
33 Ebd. 64.
34 Ebd.
39 35 Ebd. 62 f.
40 36 Ebd. 53.
106 Christian Ferencz-Flatz

1 nchst darin, das Leben zu „erheben“ oder zu „verstimmen“, whrend sie ande-
2 rerseits als Lock- oder Warnsignal eben die „Befindlichkeit“ (di²hesir bei Aristo-
3 teles) des Signalisierenden „bekundet“. Wenn aber die „phonetischen“ Mçglich-
4 keiten des Tieres tatschlich in den „sprachlichen“ Mçglichkeiten des Menschen
5 mitbefasst sind, dann msste die Sprache selbst als kºcor zunchst in jener vor-
6 nehmlich emotionalen Kommunikationsform der vym¶ ihren Untergrund ha-
7 ben, whrend die beiden Momente des kºcor (Aufzeigen und Mitteilung) ihrer-
8 seits die entsprechenden Momente der vym¶ (Anzeige und Kundgabe) als
9 Unterlage htten. Entsprechend msste aber freilich auch dem „Miteinander-
10 sprechen“ eine Art vorsprachlicher, emotionaler Verstndigung vorangehen –
11 was Heidegger in Sein und Zeit gewissermaßen zu befrworten scheint.
12 Gemß den Ausfhrungen in Sein und Zeit wird der als „Rede“ aufgefasste
13 kºcor durch vier Momente bestimmt, unter denen auch jene zu finden sind, die
14 in der Aristoteles-Vorlesung vom SS 1924 der vym¶ zugeschrieben wurden: 1)
15 das Worber der Rede, bezglich dessen man freilich auch zwischen dem tatsch-
16 lich besprochenen Thema und den damit verbundenen impliziten Themata un-
17 terscheiden msste; 2) das Geredete als solches, zu dem laut Heidegger das Ge-
18 sagte selbst, darber hinaus aber gewiss auch das nur als Andeutung oder
19 Anspielung Geußerte sowie ebenso die in der zwischenleiblichen Verstndi-
20 gung mitwirkenden Modi der Gestik und Mimik gehçren; 3) die durch das Mo-
21 ment des „Geredeten“ ermçglichte Mitteilung, zu der ebenfalls nicht nur der
22 rein sprachliche Austausch zu rechnen ist, da der Begriff in einem existenzial
23 weiten Sinne gefasst sein soll; 4.) die Bekundung der Befindlichkeit des Reden-
24 den, die durch das Wie des Geredeten, durch Tonfall, Modulation, Tempo und
25 „Art des Sprechens“ vermittelt ist.
26 Bei der heideggerschen Erluterung dieser vier Punkte ist zunchst auffal-
27 lend, dass die intersubjektive Seite der Rede nur in der Behandlung der Mittei-
28 lung zum Ausdruck kommt, wodurch leicht der Eindruck entsteht, das Mitein-
29 andersprechen sei nun nicht mehr eigentlich ein konstitutives Charakteristikum
30 der Sprache berhaupt wie in der Aristoteles-Vorlesung vom SS 1924, in der es
31 hieß: „Sprechen ist […] in ihm selbst […] Miteinandersprechen“.37 Indessen sind
32 aber auch die anderen drei Momente der Rede intersubjektiv geprgt: Das Wor-
33 ber ist, wie Heidegger dies bezglich des Verhltnisses von Rede und Gegenre-
34 de darstellt, stets ein schon Geteiltes, die Befindlichkeit wird berhaupt als Mit-
35 befindlichkeit bestimmt, und das Geredete ist stets ein Miteinander-Geredetes,
36 das von einer gemeinsamen Sprache und von gemeinsamen Sprechgewohnheiten
37 getragen wird. Dies fhrt aber zu einer gewissen Spannung in der Thematisie-
38 rung der Mitteilung und insbesondere ihres Verhltnisses zu Mitbefindlichkeit
39
40 37 Ebd. 50.
Zum Phnomen der „Generation“ 107

1 und Mitverstehen, denn zum einen heißt es von der Mitteilung: „In dieser kon-
2 stituiert sich die Artikulation des verstehenden Miteinanderseins. Sie vollzieht
3 die ,Teilung‘ der Mitbefindlichkeit und des Verstndnisses des Mitseins.“38 Zum
4 anderen aber relativiert Heidegger diese Behauptung, indem er hinzufgt: „Mit-
5 dasein ist wesenhaft schon offenbar in der Mitbefindlichkeit und im Mitverste-
6 hen. Das Mitsein wird in der Rede ,ausdrcklich‘ geteilt“.39
7 Gemß der ersteren Bestimmung wird die Mitteilung zunchst parallel zur
8 Definition der Rede berhaupt verstanden. Von der Rede heißt es nmlich eben-
9 so: „Rede ist die Artikulation der Verstndigkeit“,40 oder auch: „Reden ist das
10 ,bedeutende‘ Gliedern der Verstndlichkeit des In-der-Welt-seins“,41 wobei das
11 damit Gegliederte ausdrcklich als „Bedeutungsganzes“ bezeichnet wird. Was
12 damit eigentlich gemeint wird, ist wohl am leichtesten im Ausgang von einer
13 kurzen Anmerkung am Ende von § 34 (Da-sein und Rede. Die Sprache) zu ent-
14 nehmen, in der ausdrcklich auf die „radikale Fassung“ der Bedeutung in Hus-
15 serls Ideen I hingewiesen wird.42 Entscheidend ist hier vor allem folgende Stelle
16 zu den Termini „Bedeuten“ und „Bedeutung“: „Ursprnglich haben diese Wor-
17 te nur Beziehung auf die sprachliche Sphre, auf die des ,Ausdrckens‘. Es ist
18 aber nahezu unvermeidlich und zugleich ein wichtiger Erkenntnisschritt, die Be-
19 deutung dieser Worte zu erweitern und passend zu modifizieren, wodurch sie in
20 gewisser Art auf die ganze noetisch-noematische Sphre Anwendung findet:
21 also auf alle Akte, mçgen diese nun mit ausdrckenden Akten verflochten sein
22 oder nicht.“43 Fr Husserl wird dies besonders im Falle der „gegliederten“ oder
23 „polythetischen“ Synthesen relevant, da sich erweist, dass Sinngliederungen die-
24 ser Art nicht erst mit der Schicht des Ausdrucks, sondern schon vorausdrcklich
25 in der rein erfahrungsmßigen Unterschicht einsetzen. Indessen spricht Husserl
26 nicht nur von einer beziehenden Gliederung der Wahrnehmung, sondern eben-
27 falls von einem beziehenden Gefallen und einem beziehenden Wollen „um eines
28 anderen Willen“.44 Diesen Gedanken einer vorsprachlichen Gliederung greift
29 auch Heidegger zunchst in seiner Analyse der Zeugwelt auf. Laut Heidegger ist
30 das Zeug nmlich als solches wesentlich durch seine Verweisungsbezge der
31 Dienlichkeit (Wozu) und Verwendbarkeit (Wobei) konstituiert, whrend der „Be-
32 zugscharakter“ dieser Bezge – die letztlich das Seinkçnnen des Daseins (das
33
34 38 SuZ, 162.
35
39 Ebd.
40 Ebd. 161.
36 41 Ebd.
42 Ebd. 166. Anm. 1.
37
43 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phnomenologie und phnomenologischen Phi-
38
losophie. Erstes Buch: Allgemeine Einfhrung in die reine Phnomenologie. 1. Halbband.
39 Den Haag 1977. 285. (im Folgenden zitiert als Hua III/1).
40 44 Hua III/1, 274.
108 Christian Ferencz-Flatz

1 Heidegger als „Worumwillen“ und somit als „primres Wozu“ bezeichnet) mit
2 der instrumentellen Verfassung der Zeugwelt verschrnken – als „bedeuten“ ge-
3 fasst wird: „Das Worumwillen bedeutet ein Um-zu, dieses ein Dazu, dieses ein
4 Wobei des Bewendenlassens, dieses ein Womit der Bewandtnis.“45 Die Gesamt-
5 heit dieser Bezge wird als Bedeutsamkeit bezeichnet, die laut Heidegger die
6 Grundstruktur der Weltlichkeit berhaupt darstellt und zugleich damit auch das
7 ontologische Fundament des Sprachlichen schlechthin bietet: „Die Bedeutsam-
8 keit aber […] birgt in sich die ontologische Bedingung der Mçglichkeit dafr,
9 dass das verstehende Dasein als auslegendes so etwas wie ,Bedeutungen‘ erschlie-
10 ßen kann, die ihrerseits wieder das mçgliche Sein von Wort und Sprache fundie-
11 ren.“46 Genau diese vorsprachliche (und Sprache berhaupt ermçglichende) Glie-
12 derung wird nun aber in den Ausfhrungen zum Existenzial der Rede wieder
13 aufgenommen, doch tritt jetzt die Rede an die frhere Stelle der Bedeutsamkeit:
14 „Die Rede ist die bedeutungsmßige Gliederung der befindlichen Verstndlich-
15 keit des In-der-Welt-seins.“47 Sowohl die Rede als auch die Bedeutsamkeit – auf
16 deren offensichtlichen Zusammenhang Heidegger berraschenderweise gar
17 nicht eingeht – werden durchgehend in einer uneinheitlichen Ausdrucksweise
18 bald als sinngebende Leistung des Daseins48, bald als ein vorfindliches Netzwerk
19 von Sinnverweisungen dargestellt, whrend diese Zweideutigkeit von Heideg-
20 ger als „apriorisches Perfekt“ auf den Begriff gebracht wird.49
21 Gleichwohl besteht aber zwischen der Bedeutsamkeit und der Rede ein ent-
22 scheidender Unterschied. Denn wenn zunchst der bergang von der Stufe der
23 Bedeutsamkeit zu jener der sprachlichen Bedeutung nur dank der Auslegung er-
24 folgt,50 so soll die Bestimmung der Rede vielmehr auf einer ursprnglicheren Stu-
25 fe angesetzt werden: „Verstndlichkeit ist auch schon vor der zueignenden Aus-
26 legung immer schon gegliedert. Rede ist die Artikulation der Verstndlichkeit.
27
Sie liegt daher der Auslegung und Aussage schon zugrunde.“51 Die Auslegung
28
bestimmt Heidegger generell als „Ausbildung des Verstehens“, d. h. als ausdrck-
29
liche Zueignung einer vorhergehenden, unabgehobenen Verstndlichkeit, wobei
30
dieser Prozess (nicht unhnlich der husserlschen „Explikation“) schon auf der
31
vorprdikativen Stufe der Alltglichkeit einsetzt: „Alles Zubereiten, Zurechtle-
32
33 45 SuZ, 87.
34 46 Ebd.
47 Ebd. 162.
35 48 So spricht Heidegger des fteren vom „Reden“ als einem aktiven „Gliedern“ oder gleich-
36 falls vom aktiven „Bedeuten“ der Bedeutsamkeit, vgl. SuZ, 87: „In der Vertrautheit mit diesen
37 Bezgen ,bedeutet‘ das Dasein ihm selbst, es gibt sich ursprnglich sein Sein und Seinkçnnen
38 zu verstehen hinsichtlich seines In-der-Welt-seins.“
49 Vgl. SuZ, 84 f.
39 50 Vgl. ebd. 87.

40 51 Ebd. 161.
Zum Phnomen der „Generation“ 109

1 gen, Instandsetzen, Verbessern, Ergnzen vollzieht sich in der Weise, dass um-
2 sichtig Zuhandenes in seinem Um-zu auseinandergelegt und gemß der sichtig
3 gewordenen Auseinandergelegtheit besorgt wird.“52 In der Auslegung wird das
4 Verstandene ausdrcklich als jenes, das es schon implicite fr uns ist, verstanden,
5 und gerade in jenem „Als“ liegt auch ihre spezifische „Ausdrcklichkeit“. Hei-
6 degger unterscheidet hier, wie bekannt, zwischen der existenzial-hermeneuti-
7 schen „Als“-Struktur der vorprdikativen Auslegung und dem apophantischen
8 „Als“ der theoretischen Aussage.
9 Nun soll aber die Rede, wie gesehen, schon auf der Stufe jener unabgehobe-
10 nen Verstndlichkeit des umsichtigen Weltlebens angelegt werden, die der Ausle-
11
gung vorausgeht. Dabei fllt jedoch sogleich auf, dass die Bestimmung des ein-
12
zig betont intersubjektiven Moments der Rede (der Mitteilung) in Begriffen
13
erfolgt, die diese schlichtweg als einen Modus der Auslegung erscheinen lassen.
14
Die Leistung der Mitteilung besteht nmlich laut Heidegger gerade darin, ein
15
schon vorhergehend erschlossenes Miteinandersein „ausdrcklich“ zu „teilen“
16
und „zuzueignen“. Da er aber an einer anderen Stelle des Werkes jenes implizite,
17
der Mitteilung vorhergehende Miteinandersein in die Bezugszusammenhnge
18
der Bedeutsamkeit einbezieht, indem er das Mitsein als „Umwillen Anderer“ im
19
20
Schema der Wozu-Wobei-Verweisungen aufnimmt,53 msste dem auch eine spe-
21
zifisch intersubjektive, unabgehobene Bezugsganzheit der „Bedeutsamkeit“
22 oder der „Rede“ entsprechen, die vor jeder ausdrcklichen Zueignung die geglie-
23 derte Struktur des Miteinanderseins als Artikulation der Verstndigkeit des Mit-
24 seins bestimmt. Diese msste, gemß den Existenzialien der Mitbefindlichkeit
25 und des Mitverstehens, allgemein als Mitrede bezeichnet werden. Hingegen leis-
26 tet die Mitteilung als Moment der Rede lediglich die intersubjektive Auslegung
27 jenes durch Mitbefindlichkeit, Mitverstehen und Mitrede bestimmten Miteinan-
28 derseins.54 Damit wre auch der Missstand beseitigt, dass die Rede zum einen
29 mit der Befindlichkeit und dem Verstehen als gleichursprnglich aufgefasst
30 wird, zum anderen gerade ihr einziges intersubjektiv geprgtes Moment nur als
31 eine Explizierung der intersubjektiven Momente der Mitbefindlichkeit und des
32 Mitverstehens gilt.
33
34 52 Ebd. 148 f.
35
53 Vgl. ebd. 123: „Im Mitsein als dem existenzialen Umwillen Anderer sind diese in ihrem
Dasein schon erschlossen. Diese mit dem Mitsein vorgngig konstituierte Erschlossenheit der
36 Anderen macht demnach auch die Bedeutsamkeit […] mit aus, als welche sie im existenzialen
37 Worum-willen festgemacht ist.“
54 Die Auslegung der Intersubjektivitt ist somit als Mitteilung eine Leistung der Intersub-
38
jektivitt selbst. Dabei msste freilich im Sinne Heideggers zwischen einer existenzial-herme-
39 neutischen Mitteilung (die sich im Bereich der impliziten „Rcksicht“ und „Nachsicht“ der
40 „Frsorge“ aufhlt) und einer apophantischen Mitteilung unterschieden werden.
110 Christian Ferencz-Flatz

1 Um aber von all dem zur Bestimmung der Geschichtlichkeit zu gelangen, ist
2 es notwendig, auf ein weiteres Phnomen einzugehen, das Heidegger in diesem
3 Zusammenhang bespricht, nmlich auf die Sprache, die hier keineswegs mit der
4 Rede schlechthin zusammenfllt. Wenn die Rede berhaupt als ursprngliches
5 Existenzial der Erschlossenheit des Daseins dessen Struktur des In-der-Welt-
6 seins teilt – und somit wesentlich sowohl ein „noetisches“ Moment des In-Seins
7 als auch ein „noematisches“ Moment der Weltlichkeit umfasst –, so ist die Spra-
8 che laut Heidegger gerade das weltliche Korrelat der Rede, d. h. ihre in der Welt
9 vorfindliche, „herausgesprochene“ Seite. Da laut Heidegger die traditionelle
10 Thematisierung des kºcor nur diese eine Seite der Rede bercksichtigt und sie
11 gewçhnlich sogar auf die Sphre der theoretischen Aussage reduziert, mçchte er
12 im Gegenteil die phnomenale Ganzheit der Rede wiederherstellen, indem er
13 vornehmlich Aspekte wie das Hçren oder das Schweigen ins Auge fasst, die
14 zwar zur existenzial gefassten Rede, aber gerade nicht zum engeren Bereich der
15 Sprache und gewiss nicht zur urteilsmßigen Aussage gehçren. Obwohl die Spra-
16 che tatschlich die Strukturganzheit der Rede nicht erschçpft, so stellt sie den-
17 noch ein notwendiges Bestimmungsmoment von ihr dar: „Die Rede ist existen-
18
zial Sprache, weil das Seiende, dessen Erschlossenheit sie bedeutungsmßig
19
artikuliert, die Seinsart des […] auf die ,Welt‘ angewiesenen In-der-Welt-seins
20
hat.“55 Mit diesem sprachlichen Moment der Rede hngen aber entscheidende
21
geschichtliche Implikationen zusammen: „Die Rede spricht sich zumeist aus
22
und hat sich schon immer ausgesprochen. Sie ist Sprache. Im Ausgesprochenen
23
liegt aber dann je schon Verstndnis und Auslegung. Die Sprache als die Ausge-
24
sprochenheit birgt eine Ausgelegtheit des Daseinsverstndnisses in sich. […] Ihr
25
ist das Dasein zunchst und in gewissen Grenzen stndig berantwortet, sie re-
26
gelt und verteilt Mçglichkeiten des durchschnittlichen Verstehens und der zuge-
27
hçrigen Befindlichkeit. Die Ausgesprochenheit verwahrt im Ganzen ihrer geglie-
28
derten Bedeutungszusammenhnge ein Verstehen der erschlossenen Welt und
29
gleichursprnglich damit ein Verstehen des Mitdaseins Anderer und des je eige-
30
nen In-Seins.“56 Darin bekundet sich nun ein eigentmliches Verhltnis gegensei-
31
tiger Fundierung zwischen den „fundamentalen“ Modi der Erschlossenheit (Be-
32
33
findlichkeit und Verstehen) und der Rede. Denn zum einen behauptet
34
Heidegger, die befindliche Verstndlichkeit des In-der-Welt-seins „spricht sich“
35
als Rede „aus“,57 zum anderen aber sind die Mçglichkeiten der Befindlichkeit
36 und des Verstehens, wie aus dem obigen Zitat erhellt, ihrerseits durch das Mo-
37 ment der Sprache geschichtlich vorbestimmt. Dasselbe Verhltnis besteht aber
38 55 Ebd. 161.
39 56 Ebd. 167 f.
40 57 Ebd. 161.
Zum Phnomen der „Generation“ 111

1 auch bezglich der intersubjektiv gewendeten Formen dieser Existenzialien. Ob-


2 wohl es nmlich zunchst so scheinen mag, als ob die Mitteilung als intersubjek-
3 tives Moment der Rede in den vorprdikativen Modi der Mitbefindlichkeit und
4 des Mitverstehens fundiert ist, so bestimmt die Sprache ihrerseits die jeweiligen
5 Mçglichkeiten der mitverstndlichen „Interaktion“ und der mitbefindlichen „In-
6 terpassion“. Vermutlich hatte Heidegger dies im Blick, als er in seiner frhen
7 Vorlesung vom SS 1924 behauptete, der eigentliche Trger des „Man“ sei die
8 Sprache.
9 Dieses wechselseitige Fundierungsverhltnis zwischen der sprachlich be-
10 stimmten Rede und ihrem vorsprachlichen Untergrund kommt allerdings schon
11 in der Vorlesung vom SS 1925 in einer polemischen Zuspitzung zum Ausdruck:
12 „[Wir] sprechen […] nicht das aus, was wir sehen, sondern umgekehrt, wir se-
13 hen, was man ber die Sache spricht.“58 In derselben Vorlesung bringt nun aber
14 Heidegger ausdrcklich die Sprache und das Generationsproblem miteinander
15 in Verbindung: „Innerhalb einer herrschenden Sprache, in der das Dasein selbst
16 mit seiner Geschichte ist, hat dann auch jede Zeit und Generation ihre Sprache
17 und ihre spezifische Mçglichkeit des Verstehens. Das zeigt sich deutlich an der
18 Herrschaft bestimmter Worte und Formeln.“59 Im Hinblick auf diese Bemer-
19 kung kçnnen wir nun die Zugehçrigkeit zu einer Generation mit einem dritten
20 Moment als eine geschichtlich bestimmte Gemeinschaft der Mitrede bestim-
21 men. Dass das Dasein „in und mit seiner Generation“ ist, bedeutet aus dieser
22 Perspektive nicht nur, dass es simultan dieselben Seinsmçglichkeiten mit Ande-
23 ren teilt oder zugleich dieselben Spezifizierungen der Mitbefindlichkeit erfhrt,
24 sondern auch, dass es in einer geschichtlich privilegierten Weise mit Anderen
25 reden kann, was freilich nur mçglich ist, sofern man dieselbe (auch geschichtlich
26 und nicht nur national differenzierte) Sprache teilt. Dies betrifft aber nicht nur
27 das engere Moment der gegenseitigen Mitteilung, sondern zugleich auch die an-
28 deren drei Momente der Rede, denn die Mitglieder derselben Generation teilen
29 erstens stets geschichtlich bestimmte Gesprchsthemen als ihr Beredetes, was
30 zum einen mit dem Zusammenspiel ihrer gemeinsamen, geschichtlich bedingten
31 Interessen (die Heidegger wohl dem Bereich des Mitverstehens zuschreiben
32 msste), zum anderen aber mit dem geschichtlich geprgtem Modus ihrer An-
33 sprache60 zusammenhngt; sie bekunden zweitens durch die geschichtlich ge-
34 prgte Eigenart ihres Tonfalls, ihrer Modulation und ihrer Sprechrhythmen –
35 allgemein: durch eine gegenseitig erkennbare, generationsmßig spezifizierte
36
58 Martin Heidegger: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (SS 1925). Frankfurt
37
38 a.M. 31994. 75. (im Folgenden zitiert als GA 20).
59 GA 20, 374 f.
39 60 Vgl. SuZ, 162: „Das Beredete der Rede ist immer in bestimmter Hinsicht und in gewissen

40 Grenzen ,angeredet‘.“
112 Christian Ferencz-Flatz

1 Sprechart – ihre emotionale Kompatibilitt im Zusammenhang derselben Konfi-


2 gurationen des kollektiven Gefhlslebens; und sie teilen drittens denselben ge-
3 schichtlich bestimmten Sprachgebrauch, d. h. dieselbe Eigenart des Geredeten,
4 was sowohl die von Heidegger selbst angesprochenen modischen Worte und
5 Formeln betrifft (wie sie etwa Jugendliche in einem Sprachgebrauch prgen, der
6 fr die Generation ihrer Eltern unzugnglich bleibt) als auch die spezifischen
7 Weisen der gegenseitigen Anrede und die sprachlich bedingten Mçglichkeiten
8 der impliziten Verstndigung, da Mitglieder anderer Generationen oft Schwierig-
9 keiten haben, jenseits des schlechthin Gesagten Anspielungen oder Andeutun-
10 gen (wie sie etwa im alltglichen Sprachgebrauch schon in jedem Witz vorliegen)
11 unmittelbar zu erfassen.
12
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40
1 Shinji Hamauzu
2
3
4 Caring und Phnomenologie – aus der Sicht von Husserls
5 Phnomenologie der Intersubjektivitt
6
7
8
9
10
Einleitung
11
12
Nach der Publikation meiner Dissertation Husserls Phnomenologie der Inter-
13
subjektivitt1 begann ich, mich mit dem neuen Thema „Care“ oder „Caring“ zu
14
beschftigen, das ich als eine Variation von Intersubjektivitt oder auch Intentio-
15
nalitt verstehe. Damit ist nicht nur ein interdisziplinres Thema gemeint, das
16
gemeinsam mit Forschern aus verschiedenen Disziplinen wie Soziologie, Psy-
17
chologie, Pdagogik, Anthropologie, Medizin, Krankenpflege u. a. zu bearbei-
18
ten wre, sondern auch ein Berhrungspunkt von Theorie und Praxis. Aus die-
19
sem Grund habe ich mit verschiedenen Forschern und Praktikern
20
zusammengearbeitet und eine Einleitung zur Anthropologie des Caring2 heraus-
21
gegeben, worauf ich hier leider nicht ausfhrlich eingehen kann. Obwohl ich
22
mich lange mit dem Thema „Caring“ ohne direkten Bezug zur Phnomenologie
23
Husserls befasst habe, begann ich in den letzten Jahren, eine Brcke zwischen
24
„Caring“ und der Phnomenologie zu schlagen, dies werde ich in diesem Bei-
25
trag nher erçrtern.
26
Zunchst aber mçchte ich einen kurzen berblick zum „Caring“ geben und
27
dann prfen, ob Husserls Phnomenologie den Akt oder die Handlung des „Ca-
28
ring“ gut beschreiben und aufklren kann. Ich werde daher andere Phnomeno-
29
logen wie Heidegger oder Merleau-Ponty im Folgenden nicht bercksichtigen
30
kçnnen, selbst wenn sie das Phnomen „Caring“ noch besser behandelt haben
31
sollten.
32
33 1. Was ist „Caring“?
34
35 Es gibt viele japanische Wçrter, welche wir als bersetzungen des englischen
36 Wortes „Care“ benutzen kçnnen. Da man je nach thematischem Bereich unter-
37
1 Shinji Hamauzu: Husserls Phnomenologie der Intersubjektivitt (in japanischer Spra-
38
che). Tokio 1995.
39 2 Shinji Hamauzu (Hg.): Einleitung zur Anthropologie des Caring (in japanischer Spra-

40 che). Tokio 2005.

Phnomenologische Forschungen 2013 ·  Felix Meiner Verlag 2013 · ISSN 0342-8117


114 Shinji Hamauzu

1 schiedliche bersetzungen verwendet, gewinnt man bisweilen den Eindruck, als


2 ob man jeweils mit einer anderen Sache zu tun htte. Aus diesem Grund gebrau-
3 chen wir oft den englischen Terminus als Lehnwort ohne bersetzung. In der
4 deutschen Sprache verhlt es sich meiner Meinung nach hnlich. Als berset-
5 zung von „Care“ kommen z. B. Pflege, Sorgfalt, Versorgung, Betreuung, Sorge,
6 Vorsicht, Frsorge, Obhut, Mhe, Zuwendung und Achtsamkeit in Frage, selbst
7 wenn wir uns nur auf das Nomen beschrnken. Auch in der deutschen Sprache
8 kçnnte dann eine hnliche Situation entstehen, in der wir die Identitt der Sache
9 nicht erfassen kçnnen, da sie mit jeweils anderen Wçrtern bezeichnet wird. Ich
10 mçchte also mit dem Wort „Care“ bzw. „Caring“ hier die Gemeinsamkeiten
11 von Geburtshilfe, Kinderpflege, Krankenpflege, Alterspflege, Behindertenpfle-
12 ge, Pflege am Ende des Lebens, Sterbehilfe usw. zum Ausdruck bringen.
13 Das Wort „Care“ ist im Englischen so allgegenwrtig, dass es auch kleine Kin-
14 der im Alltag verstehen und benutzen. So sagt z. B. die Mutter zu ihrem Kind,
15 das morgens das Haus verlassen und in die Schuhe gehen will: „Take care!“ Ge-
16 genstnde, worauf wir uns mit dem Akt von „Care“ richten, mssen nicht unbe-
17 dingt Personen sein, sondern kçnnen auch Lebewesen, Pflanzen oder sogar Din-
18 ge sein. Weiterhin kçnnen wir den Ausdruck auch fr Beziehungen,
19 Gemeinschaften oder Staaten verwenden. Ich mçchte hier jedoch den Gebrauch
20 von „Care“ auf Personen begrenzen, damit meine Ausfhrungen nicht zu umfas-
21 send und vage werden. Wenn ich mich auf Personen beschrnke, kçnnte man
22 sagen, dass wir Menschen mit „Care“ durch den Anderen geboren sind, mit
23 „Care“ durch den Anderen Tag fr Tag leben und mit „Care“ durch den Ande-
24 ren frher oder spter sterben und begraben werden. Das Wort soll hier also in
25 einem sehr weiten Sinne verstanden werden.
26 Unter einem anderen Gesichtspunkt lassen sich in den Bedeutungen von
27 „Care“ wenigstens zwei Aspekte unterscheiden. Einerseits bezieht es sich auf
28 Sorge oder Frsorge im Sinne einer Einstellung oder Gemtsverfassung, in der
29 wir uns um jemanden sorgen, wie es sich in der Wendung „care about somebo-
30 dy“ findet. Andererseits bezieht sich das Wort auch auf eine konkrete Hand-
31 lung, Behandlung oder Technik, mit der ich mich um jemanden kmmere, wie es
32 in der Wendung „care for somebody“ zum Ausdruck kommt. Kurz gesagt, das
33 Wort „Care“ vereint die beiden Aspekte einer Gemtseinstellung und einer Tat
34 als Handlung. Weiterhin kçnnen wir sagen, dass diese Einstellung oder Hand-
35 lung keine negativen Beziehungen auf den Gegenstand des „Care“ enthlt, wie
36 z. B. zerbrechen, verletzen oder bedrohen, sondern nur eine positive Beziehung
37 wie schtzen, verbessern, heilen oder erziehen. Mit dem Begriff des „Caring“
38 mçchte ich eine solche positive Beziehung zu den Anderen thematisieren, wh-
39 rend ich zugleich in einem gewissen Maße die Beziehung zu mir selbst (d. h. „self
40 care“) leider nicht in Betracht ziehen kann.
Caring und Phnomenologie 115

1 Vorlufig kçnnen wir sagen: „Care for or about somebody“ bedeutet, jeman-
2 dem gegenber eine positive Einstellung zu haben und auch etwas Gutes fr ihn
3 zu tun. Zwischen meiner berzeugung, etwas Gutes fr ihn zu tun, und seiner
4 eigenen berzeugung kann jedoch eine Kluft entstehen, d. h. es ist nicht sicher,
5 ob auch die andere Person glaubt, dass das, was ich tue, etwas Gutes fr sie ist.
6 Was ich fr gut fr jemanden halte und Entsprechendes tue, kçnnte fr ihn eine
7 unnçtige Sorge bedeuten oder ihm sogar als etwas Schlechtes erscheinen. Ande-
8 rerseits kann es vorkommen, dass ich nicht an ihn denke und nichts fr ihn tue,
9 und das kçnnte fr ihn dennoch als eine achtsame Sorge erscheinen und viel-
10 leicht sogar etwas Positives fr ihn bewirken. Auf Grund dieser Diskrepanzen
11 bei der Interpretation einer Haltung oder Tat kçnnen viele Verstndigungspro-
12 bleme und auch ethische Probleme im Kontext des „Caring“ entstehen, worauf
13 ich hier ebenfalls nicht nher eingehen kann.
14 Weiterhin mssen wir uns fragen, ob „Caring“ eine einseitige Gemtsverfas-
15 sung oder Handlung ist, oder ob es eine wechselseitige Handlung oder ein ge-
16 meinsamer Akt ist, welcher nur in der wechselseitigen Beziehung vollzogen wer-
17 den kann. Ich mçchte mich hier auf die Frage konzentrieren, ob ein so
18 verstandenes „Caring“ mit den Methoden der Phnomenologie, vor allem mit
19 deren Urform bei Husserl, angemessen begriffen werden kann oder nicht.
20
21
22 2. Kann eine Analyse der Intentionalitt den Akt des „Caring“ aufklren?
23
24 Der ursprngliche Gedanke Brentanos, von dem ausgehend Husserl sein Kon-
25 zept der Intentionalitt entwickelte, lsst sich meines Erachtens in folgenden
26 vier Thesen zusammenfassen:
27 Erstens, die Immanenz-These: „Jedes psychische Phnomen ist durch das cha-
28 rakterisiert, was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (auch wohl
29 mentale) Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben“3.
30 Zweitens, die Richtungs-These: Intentionalitt ist dasjenige, „was wir, ob-
31 wohl [in] nicht ganz unzweideutigen Ausdrcken, die Beziehung auf einen In-
32 halt, die Richtung auf ein Objekt […] oder die immanente Gegenstndlichkeit
33 nennen wrden.“4
34
35
36
37
38 3 Franz Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkt. Erster Band. Hamburg
39 1924. 124.
40 4 Ebd. 124 f.
116 Shinji Hamauzu

1 Drittens, die Korrelations-These: „In der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in


2 dem Urteil ist etwas anerkannt oder verworfen, in der Liebe geliebt, in dem Has-
3 se gehasst, in dem Begehren begehrt usw.“5
4 Viertens, die Fundierungs-These: „Wir drfen es […] als eine unzweifelhaft
5 richtige Bestimmung der psychischen Phnomene betrachten, dass sie entweder
6 Vorstellungen sind oder […] auf Vorstellungen als ihrer Grundlage beruhen.“6
7 Solange wir bei diesen Thesen Brentanos bleiben, kçnnen wir den Akt des
8 „Caring“ auf der Grundlage seines Intentionalittsbegriffs wohl nicht hinrei-
9 chend aufklren. Husserl hat jedoch Brentanos Verstndnis von Intentionalitt
10 nicht geteilt, sondern ist Schritt fr Schritt darber hinausgegangen. Er begann
11 in den Logischen Untersuchungen (1900/01) mit der Intentionalitt der Sprache
12 und trat in den Ideen I (1913) deutlich einen Schritt nach vorn, und zwar zu
13 einer Analyse der Intentionalitt der Wahrnehmung. Schon hier kritisierte er
14 Brentanos Immanenz-These und wurde auf diese Weise zur phnomenologi-
15 schen Reduktion gefhrt.7 Dazu bemerkt Klaus Held in seiner Einleitung zu
16 Husserls Phnomenologie: „Mit dem Begriff der Intentionalitt erledigt sich so
17 im Prinzip das klassische Problem der neuzeitlichen ,Erkenntnistheorie‘, wie ein
18 zunchst weltloses Bewusstsein die Beziehung zu einer jenseits seiner liegenden
19 ,Außenwelt‘ aufnehmen kçnne“.8
20 In diesem Zusammenhang mçchte ich aber besonders darauf aufmerksam ma-
21 chen, dass Husserl in den Ideen I einen neuen Punkt aufgreift, der Brentanos
22 Begriff der Intentionalitt noch fremd war. An einer Stelle, an der Husserl von
23 der Intentionalitt im Sinne der Richtungs-These spricht, bemerkt er: „Wir ver-
24 standen unter Intentionalitt die Eigenheit von Erlebnissen, ,Bewußtsein von et-
25 was zu sein‘. Zunchst trat uns diese wunderbare Eigenheit […] entgegen im ex-
26 pliziten cogito.“9 Dieses „explizite“ oder „aktuelle“ cogito wird mit der
27
Metapher des Blicks wie folgt gekennzeichnet: „In jedem aktuellen cogito rich-
28
tet sich ein von dem reinen Ich ausstrahlender ,Blick‘ auf den ,Gegenstand‘ des
29
jeweiligen Bewußtseinskorrelats, auf das Ding, den Sachverhalt usw. und voll-
30
zieht das sehr verschiedenartige Bewußtsein von ihm.“10 Es wird jedoch sogleich
31
hinzugefgt, „daß nicht in jedem Erlebnis diese vorstellende, denkende, werten-
32
33 5 Ebd. 125.
34 6 Ebd. 120.
7 Da ich dies in meiner Dissertation bereits erçrtert habe, mçchte ich diesen Punkt hier
35
nicht weiter ausfhren.
36 8 Klaus Held: Einleitung. In: Edmund Husserl: Die phnomenologische Methode. Ausge-

37 whlte Texte I. Stuttgart 1985. 25.


9 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phnomenologie und phnomenologischen Phi-
38
losophie. Erstes Buch: Allgemeine Einfhrung in die reine Phnomenologie. 1. Halbband:
39 Text der 1.–3. Auflage. Neu hrsg. von Karl Schuhmann. Hua III/1. Den Haag 1976. 188.
40 10 Ebd. 188.
Caring und Phnomenologie 117

1 de, […] Ichzuwendung zu finden ist, dieses aktuelle Sich-mit-dem-Korrelatge-


2 genstand-zu-schaffen-machen, Zu-ihm-hin-gerichtet-sein […], whrend es
3 doch Intentionalitt in sich bergen kann.“11 Dieses Zitat beschreibt die Rich-
4 tungs-These mit der Metapher des „Blicks“, zeigt aber zugleich an, dass diese
5 Richtung nicht nur vom „aktuellen cogito“ gilt. Mit anderen Worten: „Ein Ge-
6 fallen, ein Wnschen, ein Urteilen u. dgl. kann im spezifischen Sinne ,vollzogen‘
7 sein, nmlich vom Ich, das in diesem Vollzuge sich ,lebendig bettigt‘[…]; es kçn-
8 nen aber solche Bewußtseinsweisen sich schon ,regen‘, im ,Hintergrunde‘ auftau-
9 chen, ohne so ,vollzogen‘ zu sein. Ihrem eigenen Wesen nach sind diese Inaktua-
10 litten gleichwohl schon ,Bewußtsein von etwas‘.“12 Mit dem Gegensatz von
11 „vollzogen“ und „regen“ oder analog von „aktuell/explizit“ und „inaktuell/im-
12 plizit“ behauptet er, dass sich im Hintergrund der sich auf einen Gegenstand
13 aktuell richtenden Intentionalitt schon eine inaktuelle Intentionalitt (spter
14 auch „Horizont-Intentionalitt“ genannt) verbirgt. Diese Erweiterung der Rich-
15 tungs-These stellt ein wichtiges Ergebnis der Theorie der Intentionalitt in den
16 Ideen I dar, wie schon Ludwig Landgrebe klarstellte.13 Das kçnnte hilfreich fr
17 meinen Versuch sein, „Caring“ mit Hilfe der Intentionalitt aufzuklren. Aber
18 nun mçchte ich auf den zweiten Punkt eingehen, der sich auf die Fundierungs-
19 These bezieht.
20 Im direkten Kontext der oben angefhrten Stelle schreibt Husserl: „ein Wahr-
21 nehmen ist Wahrnehmen von etwas, etwa einem Dinge; ein Urteilen ist Urteilen
22 von einem Sachverhalt; ein Werten von einem Wertverhalt; ein Wnschen von
23 einem Wunschverhalt usw.“14 Soweit stimmt dies noch mit der oben genannten
24 Korrelations-These berein, es heißt jedoch im Folgenden: „Handeln geht auf
25 Handlung, Tun auf Tat, Lieben auf Geliebtes, sich Freuen auf Erfreuliches
26 usw.“15 Diese Erweiterung der Intentionalitt bezieht sich dagegen eher auf die
27
Fundierungs-These. Die Intentionalitt, die zuerst mit Beispielen der Wahrneh-
28
mung erçrtert wurde, wird in den folgenden Paragraphen Schritt fr Schritt ent-
29
faltet, z. B. durch „Erinnerung“, „Erwartung“ und „Phantasie“ (§ 91), „Auf-
30
merksamkeit“ (§ 92), eine „hçhere Bewußtseinssphre“ (§ 93), z. B. „Urteil“
31
(§ 94) sowie die „Gemts- und Willenssphre“ (§ 95). Dazu heißt es bei Husserl,
32
indem er die Metapher der „Schichten“ benutzt: „Dabei sind die Schichtungen,
33
allgemein gesprochen, so, daß oberste Schichten des Gesamtphnomens fortfal-
34
len kçnnen, ohne daß das brige aufhçrte, ein konkret vollstndiges intentiona-
35
36 11 Ebd. 188 f.
37 12 Ebd. 189.
13 Ludwig Landgrebe: Der Weg der Phnomenologie. Das Problem einer ursprnglichen
38
Erfahrung. Gtersloh 1963. 41 ff.
39 14 Husserl: Ideen I. Hua III/1, 188.

40 15 Ebd.
118 Shinji Hamauzu

1 les Erlebnis zu sein, und daß auch umgekehrt ein konkretes Erlebnis eine neue
2 noetische Gesamtschicht annehmen kann; wie wenn z. B. sich auf eine konkrete
3 Vorstellung ein unselbstndiges Moment ,Werten‘ aufschichtet, bzw. umgekehrt
4 wieder fortfllt. Wenn in dieser Art ein Wahrnehmen, Phantasieren, Urteilen
5 u. dgl. eine es ganz berdeckende Schicht des Wertens fundiert, so haben wir in
6 dem Fundierungsganzen, […] verschiedene Noemata, bzw. Sinne.“16 Diesem
7 Modell folgend, schichtet sich auf eine Vorstellung ein unselbstndiges Moment
8 von „Werten“ aus der „Gemts- und Willenssphre“ auf. Husserl schreibt hier-
9 zu weiter: „Andererseits verbinden sich mit den neuartigen Momenten auch neu-
10 artige ,Auffassungen‘, es konstituiert sich ein neuer Sinn, der in dem der unterlie-
11 genden Noese fundiert ist, ihn zugleich umschließend. Der neue Sinn bringt eine
12 total neue Sinnesdimension herein, mit ihm konstituieren sich keine neuen Be-
13 stimmungsstcke der bloßen ,Sachen‘, sondern Werte der Sachen, Wertheiten,
14 bzw. konkrete Wertobjektitten: Schçnheit und Hsslichkeit, Gte und Schlech-
15 tigkeit; das Gebrauchsobjekt, das Kunstwerk, die Maschine, das Buch, die Hand-
16 lung, die Tat usw.“17 Obwohl die Wertungen fundiert sind, konstituiert sich in
17 ihnen ein neuer Sinn. Hier wird die Fundierungs-These in Frage gestellt.
18 Nach Emmanuel Lvinas verzichtete Husserl seit den Logischen Untersuchun-
19 gen auf die Fundierungs-These, indem er behauptet, dass sowohl ein nicht-theo-
20 retischer Akt als auch ein theoretischer Akt einen neuen Gegenstand konstitu-
21 iert. Dies fhrt ihn zu dem Gedanken, dass ein Kontakt mit der Welt der Werte
22 nicht deren theoretisches Erkennen enthlt. Lvinas wrdigt gerade dieses
23 Schwanken Husserls: Obwohl seine Phnomenologie damit noch nicht von der
24 Erkenntnistheorie befreit sei, trete sie hiermit aus dem engen Rahmen der Er-
25 kenntnistheorie heraus und suche den Platz des Seins im konkreten Leben. Und
26 Lvinas beendete sein Werk mit folgendem Satz: „Mais, la possibilit mÞme de
27 dpasser cette difficult ou fluctuation dans la pense de Husserl, n’est-elle pas
28 donne avec l’affirmation du caractre intentionnel de la vie pratique et axiologi-
29 que?“18 Diese Frage kçnnen wir unseres Erachtens bejahen.
30
31
32
33 3. Entwicklung der Intentionalitt in den Ideen II
34
35 Was Lvinas mit seiner Deutung schon vorausahnte, wurde von Husserl in den
36 Ideen II weiter entwickelt, von denen Levinas jedoch keine Kenntnis hatte.
37
38
16 Ebd. 220.
17 Ebd. 267.
39 18 Emmanuel Lvinas: La Thorie de l’intuition dans la phnomnologie de Husserl. Paris

40 1930. 223.
Caring und Phnomenologie 119

1 Dort schreibt Husserl z. B.: „Wertende Akte […] kçnnen sich auf vorgegebene
2 Gegenstndlichkeiten beziehen […]. Es sind nicht nur berhaupt fundierte Ge-
3 genstndlichkeiten und in diesem Sinn Gegenstndlichkeiten hçherer Stufe, son-
4 dern eben als spontane Erzeugnisse sich ursprnglich konstituierende und nur
5 als solche zu mçglicher originrer Gegebenheit kommende Gegenstndlichkei-
6 ten.“19 Der Wert als Gegenstand des Wertens erweist sich hier als ursprnglich
7 konstituiert, und er ist ein Gegenstand, der als solcher zu originrer Gegeben-
8 heit kommt.
9 Vom „Werten“ heißt es dort weiter: „Wir hatten frher einander gegenberge-
10 stellt das bloße sehende Bewußthaben des blauen Himmels und den theoreti-
11 schen Vollzug dieses Aktes. Wir vollziehen das Sehen nicht mehr in dieser ausge-
12 zeichneten Weise, wenn wir, den strahlend blauen Himmel sehend, im
13 Entzcken darber leben. Tun wir das, so sind wir nicht in der theoretischen
14 oder erkennenden, sondern in der Gemtseinstellung“.20 Husserl bemerkt hier-
15 zu weiter: „Verstehen wir unter ,Werten‘, ,Werthalten‘ das Gemtsverhalten,
16 und zwar als ein solches, in dem wir leben, so ist es kein theoretischer Akt. […]
17
es (Wert) ist Angeschautes, aber nicht nur sinnlich Angeschautes […], sondern
18
axiologisch Angeschautes.“21 Das Werten ist eine nicht in Vorstellungen fundierte
19
„axiologische Anschauung“. Aus diesem Grund folgert Husserl: „Die ursprng-
20
lichste Wertkonstitution vollzieht sich im Gemt als jene vortheoretische (in ei-
21
nem weiten Wortsinne) genießende Hingabe des fhlenden Ichsubjektes, fr die
22
ich den Ausdruck Wertnehmung schon vor Jahrzehnten in Vorlesungen verwen-
23
det habe. […] Der hnlichkeit sollte die Ausdrucksparallele Wahrnehmen –
24
Wertnehmen Ausdruck geben.“22 Kurz gesagt: Das Wertnehmen vollzieht sich
25
nicht fundiert in dem Wahrnehmen, sondern beide liegen auf dem gleichen Ni-
26
veau der Unmittelbarkeit, so dass die Fundierungs-These hier schon aufgegeben
27
ist.
28
Ich habe bereits die Metapher des „Blicks“ in den Ideen I erwhnt und auch
29
deren Zusammenhang mit der Richtungs-These angedeutet. Obwohl Husserl
30
z. B. hinsichtlich der Wahrnehmung von „Blickrichtungen des reinen Ich auf den
31
32
von ihm vermçge der Sinngebung ,gemeinten‘ Gegenstand“23 spricht, weist er in
33
den Ideen II auf Folgendes hin: „In gewissem allgemeinen Sinn richtet sich
34
zwar berall das Ich auf das Objekt, aber im besonderen Sinn geht mitunter ein
35 19 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phnomenologie und phnomenologischen Phi-
36 losophie. Zweites Buch: Phnomenologische Untersuchungen zur Konstitution. Hrsg. von
37 Marly Biemel. Hua IV. Den Haag 1952. 7 f.
20 Ebd. 8.
38 21 Ebd. 8 f.
39 22 Ebd. 9 f.

40 23 Husserl: Ideen I. Hua III/1, 202.


120 Shinji Hamauzu

1 vom reinen Ich vorschießender Ichstrahl auf das Objekt hin und kommen von
2 diesem gleichsam Gegenstrahlen entgegen.“24 Oder: „Das Ich ist das identische
3 Subjekt der Funktion in allen Akten desselben Bewußtseinsstroms, es ist das
4 Ausstrahlungszentrum, bzw. Einstrahlungszentrum alles Bewußtseinslebens, al-
5 ler Affektionen und Aktionen, […] Tuns und Leidens usw.“25 Hier wird der
6 „Blick“ mit einer Ausstrahlung aus dem Ich verglichen, aber als eine solche Aus-
7 strahlung, die zugleich von der Einstrahlung von den Dingen her affiziert und
8 bedingt ist. Obwohl die Intentionalitt der Richtungs-These zufolge einseitig zu
9 sein scheint, wird hier eine Passivitt als Gegenrichtung angedeutet. Auch hierin
10 liegt meiner Meinung nach ein hilfreicher Hinweis, wie wir „Caring“ als einen
11 Fall von Intentionalitt aufklren kçnnen.
12 Dies wird noch klarer im bergang vom Gesichtssinn zum Tastsinn. Wh-
13
rend Husserl in Bezug auf den Gesichtssinn von einer Art Doppelstrahlung
14
spricht, weist er fr den Tastsinn auf die Doppelempfindung als eine eigentmli-
15
che Doppeltheit und Umwandlung des Sinnes hin. In der auch von Merleau-
16
Ponty zitierten bekannten Stelle der Ideen II beschreibt Husserl Folgendes:
17
„Die linke Hand abtastend habe ich Tasterscheinungen, d. h. ich empfinde nicht
18
nur, sondern ich nehme wahr und habe Erscheinungen von einer weichen, so
19
und so geformten, glatten Hand. Die anzeigenden Bewegungsempfindungen
20
und die reprsentierenden Tastempfindungen, die an dem Ding ,linke Hand‘ zu
21
Merkmalen objektiviert werden, gehçren der rechten Hand zu. Aber die linke
22
Hand betastend finde ich auch in ihr Serien von Tastempfindungen, sie werden
23
in ihr ,lokalisiert‘, sind aber nicht Eigenschaften konstituierend […]. Spreche ich
24
25
vom physischen Ding ,linke Hand‘, so abstrahiere ich von diesen Empfindungen
26
[…]. Nehme ich sie mit dazu, so bereichert sich nicht das physische Ding, son-
27 dern es wird Leib, es empfindet.“26 Diese bekannte Analyse der Doppelempfin-
28 dung vom „Tasten der linken Hand mit der rechten Hand“ hat Merleau-Ponty
29 in seiner Phnomnologie de la Perception inspiriert und ihm den ersten Schritt
30 zu dem Gedanken der „intercorporeit“ ermçglicht.
31 Da sich eine solche Doppelempfindung nur im Tastsinn ereignen kann, be-
32 merkt Husserl im Hinblick auf den Gesichtsinn: „hnliches haben wir nicht
33 beim rein visuell sich konstituierenden Objekt. Man sagt zwar mitunter ,das
34 Auge, ber das Objekt hinblickend, tastet es gleichsam ab‘.“27 Unmittelbar da-
35 nach erlutert er dies jedoch wie folgt: „Aber wir merken sofort den Unter-
36 schied. Das Auge erscheint nicht visuell, und es ist nicht so, daß an dem visuell
37
38
24 Husserl: Ideen II. Hua IV, 98.
25 Ebd. 105.
39 26 Ebd. 144 f.
40 27 Ebd. 147.
Caring und Phnomenologie 121

1 erscheinenden Auge dieselben Farben als Empfindungen lokalisiert erscheinen


2 […]. Und desgleichen haben wir keine ausgebreitete Augenhaftigkeit derart,
3 daß fortschreitend Auge an Auge entlanggehen und das Phnomen der Doppel-
4 empfindung entstehen kçnnte; […] Ich sehe mich selbst, meinen Leib, nicht, wie
5 ich mich selbst taste. Das, was ich gesehenen Leib nenne, ist nicht gesehenes Se-
6 hendes, wie mein Leib als getasteter Leib getastetes Tastendes ist.“28 Hier stellen
7 wir fest, dass Husserl Intentionalitt nicht nur mit Hilfe des Gesichtssinnes, son-
8 dern auch mit Hilfe des Tastsinnes verstehen will, und dass er beim Tastsinn
9 nicht nur eine einseitige Beziehung, sondern eine wechselseitige Beziehung aner-
10 kennt.
11 In der hier nachgezeichneten Entwicklung von den Ideen I zu den Ideen II
12 sehen wir deutlich, dass alle oben genannten Thesen zu Brentanos Intentionali-
13 ttsbegriff aufgegeben, erweitert oder verndert wurden. Obwohl Husserl bis
14 zur Sptzeit Formulierungen wie Intentionalitt, Noesis und Noema sowie co-
15 gito und cogitatum durchgngig verwendet, verndert sich ihr Inhalt. In dieser
16 Vernderung des Sinnes von Intentionalitt finden wir fr die Diskussion der
17 Bedeutung des „Caring“ wichtige, hilfreiche Hinweise. Ich werde nun noch ei-
18 nen anderen Aspekt diskutieren, der die verschiedenen Arten der Intentionalitt
19 betrifft.
20
21 4. Zwei Arten der Intentionalitt in den Ideen II
22
23 In den Ideen II bezeichnet Husserl die Einstellung der Naturwissenschaften als
24 „naturalistisch“, die Einstellung der Geisteswissenschaften und auch diejenige
25 des Alltagslebens jedoch als „personalistisch“. Wenn wir uns auf den Menschen
26 (oder den konkreten Anderen) richten, treten beide Einstellungen als zwei ver-
27 schiedene Arten der Intentionalitt hervor. Um es klar und einfach zu formulie-
28 ren, schlage ich vor, die „naturalistische“ Einstellung als Einstellung auf die Na-
29 tur, hingegen die „personalistische“ Einstellung als Einstellung auf die Person zu
30 bezeichnen. In der ersteren richten wir uns auf den Menschen (oder den konkre-
31 ten Anderen) als Gegenstand des naturwissenschaftlichen „Erklrens“, whrend
32 wir uns in der letzteren auf den Menschen (oder den Anderen) als Gegenstand
33 des geisteswissenschaftlichen „Verstehens“ richten. Da die Einstellung auf die
34 Person auch die Seinsweise unserer Mitsubjekte im alltglichen Leben charakte-
35 risiert, sollten wir in diesem Zusammenhang eher nicht von „Gegenstnden“
36 sprechen.
37 Die Differenz der beiden Einstellungen wird heute oft durch die Gegenber-
38 stellung von „Caring“ (als die Pflege des Kranken) und „Curing“ (als dessen
39
40 28 Ebd. 147 f.
122 Shinji Hamauzu

1 medizinische Behandlung) ausgedrckt. Meines Erachtens entspricht „Cure“


2 der Einstellung auf die Natur, hingegen das „Care“ der Einstellung auf die Per-
3 son. Beim „Curing“ versuche ich, den Anderen in der Einstellung auf die Natur
4 zu beobachten, seine Kçrpervorgnge zu erklren und zu behandeln, whrend
5 ich beim „Caring“ den Anderen in der Einstellung auf die Person zu verstehen
6 beabsichtige, seinen seelischen und leiblichen Bedrfnissen entsprechen und
7 ihm helfen mçchte. Um dem Sinn des „Caring“ in seiner besonderen Intentiona-
8 litt aufzuklren, finden wir meines Erachtens bei der Einstellung auf die Person
9 einen Anhaltspunkt. Im Folgenden werde ich dieser Idee folgen und den Kon-
10 trast beider Einstellungen genauer untersuchen.
11 Husserl ußert sich ber die Einstellung auf die Natur folgendermaßen: „Sie
12 [d.h. ichliche Zustnde] werden, wie Seelisches berhaupt, in der naturalisti-
13 schen Erfahrung dem physisch erscheinenden Leibe bei- bzw. ,eingelegt‘, mit
14 ihm in der bekannten Weise lokalisiert und temporalisiert. Sie gehçren in den
15 Verband der realen (substantial-kausalen) Natur.“29 Dies betrifft auch den gan-
16 zen Menschen: „Dieser Mensch dort sieht und hçrt, vollzieht auf Grund seiner
17 Wahrnehmungen die und die Urteile, die und die Wertungen und Wollungen in
18 vielgestaltigem Wechsel. Daß ,in‘ ihm, diesem Menschen dort, ein ,Ich denke‘
19 auftaucht, das ist ein Naturfaktum, fundiert in dem Leibe und leiblichen Vor-
20 kommnissen, bestimmt durch den substantial-kausalen Zusammenhang der Na-
21 tur, die eben nicht bloße physische Natur ist, whrend doch die physische die
22 alle sonstige Natur begrndende und mitbestimmende ist.“30 In der Einstellung
23 auf die Natur halten wir also den Kçrper (oder den Leib) und die Seele des Ande-
24 ren fr ein Naturfaktum innerhalb der Naturkausalitt und erklren sein Verhal-
25 ten sowie seine kçrperlichen Vorgnge (d. h. wir naturalisieren ihn); in der Ein-
26 stellung auf die Person dagegen leben wir als Person in der Gemeinschaft:
27 „Ganz anders ist die personalistische Einstellung, in der wir allzeit sind, wenn
28 wir miteinander leben, zueinander sprechen, einander im Gruße die Hnde rei-
29 chen, in Liebe und Abneigung, in Gesinnung und Tat, in Rede und Gegenrede
30 aufeinander bezogen sind.“31 In dieser Einstellung halten wir den Anderen fr
31 eine Person, mit welcher wir zusammen leben, zu welcher wir sprechen, der wir
32 zum Gruße die Hnde reichen usw. Deswegen schreibt Husserl: „Es handelt
33 sich also um eine durchaus natrliche und nicht um eine knstliche Einstel-
34 lung“.32
35
36
37
38
29 Ebd. 181.
30 Ebd.
39 31 Ebd. 183.
40 32 Ebd.
Caring und Phnomenologie 123

1 Zur naturalistischen Einstellung bemerkt er: „Wer berall nur Natur sieht,
2 Natur im Sinne und gleichsam mit den Augen der Naturwissenschaft [sieht], ist
3 eben blind fr die Geistessphre, die eigentmliche Domne der Geisteswissen-
4 schaften. Er sieht keine Personen und aus personalen Leistungen Sinn empfan-
5 genden Objekte – also keine ,Kultur‘-Objekte“.33 In der Einstellung auf die Na-
6 tur sehen wir den Anderen nicht als eine Person, sondern als Naturobjekt. Ganz
7 anders verhlt es sich in der Einstellung auf die Person: „in der komprehensiven
8 Erfahrung vom Dasein des Anderen verstehen wir ihn also ohne weiteres als per-
9 sonales Subjekt und dabei auf Objektitten bezogen, auf die auch wir bezogen
10 sind: auf Erde und Himmel, auf Feld und Wald, auf das Zimmer, in dem ,wir‘
11 gemeinsam weilen, auf ein Bild, das wir sehen usw.“34 In der Einstellung auf die
12 Person interpretieren wir den Anderen als eine Person und beziehen uns auf eine
13
gemeinsame Umwelt.
14
Kurz gesagt: Das Verhltnis zwischen Person und Person besteht darin, dass
15
die Personen mit der Absicht, untereinander verstanden zu werden, eine Hand-
16
lung vollziehen und eine Wirkung auf den jeweiligen Anderen ausben, sowie
17
darin, dass der eine auf das Wirken hin wieder eine Reaktion zeigt, die an den
18
Anderen gerichtet ist. Das ist kein Verhltnis der „Kausalitt“, sondern der „Mo-
19
tivation“. So beschreibt Husserl die Fremderfahrung: „Einfhlung ist nicht ein
20
mittelbares Erfahren in dem Sinn, daß der Andere als psychophysisch Abhngi-
21
ges von seinem Leibkçrper erfahren wrde, sondern eine unmittelbare Erfah-
22
rung vom Anderen.“35 Weiter schreibt er: „hnliches gilt von der Erfahrung der
23
Kommunikation mit Anderen, des Wechselverkehrs mit ihnen. Sehen wir einan-
24
25
der in die Augen, so tritt Subjekt mit Subjekt in eine unmittelbare Berhrung.
26
Ich spreche zu ihm, er spricht zu mir, ich befehle ihm, er gehorcht. Das sind
27 unmittelbar erfahrene personale Verhltnisse.“36 Also erfahre ich den Anderen
28 unmittelbar, und zwar motiviert (d. h. mit einer gewissen Passivitt), und indem
29 ich mich in ihn einfhle (d. h. mit einer Aktivitt).
30 Husserl verwendet das von Theodor Lipps entlehnte Wort „Einfhlung“, ob-
31 wohl er es von Anfang an kritisiert hat. Wenn ich diesen Terminus recht verste-
32 he, bedeutet er nichts anderes als das, was Husserl schlicht als „Fremderfah-
33 rung“ bezeichnet. Hierzu ußern sich Gallagher und Zahavi folgendermaßen:
34 „empathy, properly understood, is not a question of feelingly projecting oneself
35 into the other, but rather an ability to experience behaviour as expressive of
36 mind, i. e. an ability to access the life of the mind of others in their expressive
37
38
33 Ebd. 191.
34 Ebd.
39 35 Ebd. 374.
40 36 Ebd.
124 Shinji Hamauzu

1 behaviour and meaningful action.“37 Es ist „eine Art der Erfahrung“ gemeint, in
2 der wir den Anderen als eine Person erfahren und seine Intentionalitt unmittel-
3 bar verstehen. Obwohl die Phnomenologie bisweilen so verstanden wird, als
4 ob sie auf die Perspektive der Ersten Person ein Licht werfen kann, kçnnte die
5 Fremderfahrung auch so verstanden werden, als ob sie auch eine Phnomenolo-
6 gie aus der Perspektive der Zweiten Person ermçglicht. Hierzu noch einmal Gal-
7 lagher/Zahavi: „One of the frequent claims made by defenders and detractors
8 alike is that the distinguishing feature of a phenomenological approach to the
9 mind is its sustained focus on the first-person perspective. As we have also tried
10 to show, however, this is an overly narrow definition.“ Sie behaupten weiter:
11 „Phenomenological analyses of the nitty-gritty details of action, embodiment,
12 intersubjectivity, and so on, provide more than simply a description of first-per-
13 son experience. In numerous investigations of how the subjectivity of others ma-
14 nifests itself in gestures, expressions, and bodily behaviour, phenomenologists
15 have also provided detailed analyses from the second-person perspective“.38 Es
16 kçnnte meines Erachtens fr die Intentionalitt des „Caring“ hilfreich sein, auf
17 diese Weise die „Intentionalitt des Anderen“ aus der Perspektive der Zweiten
18 Person zu betrachten.
19
20
21
22 5. Zwei Arten der Person als Anderer
23
24 Nun komme ich zu meinem letzten Schritt, um den Begriff des „Caring“ mit
25 Hilfe der Intentionalitt zu beschreiben. Das Wort „Person“ benutzt man auch
26 im grammatischen Sinne, wie „Erste Person“ (ich), „Zweite Person“ (du) und
27 „Dritte Person“ (er, es, sie). Auf der Grundlage der oben genannten Differenz
28 der Einstellungen kann man sagen, dass es in der Einstellung auf die Natur nicht
29 um die Person geht, whrend es in der Einstellung auf die Person gerade um
30 diese geht, und zwar auch im grammatischen Sinne. In den Situationen, in denen
31 es sich nicht um die Person handelt, benutzt man normalerweise nur die Form
32 der „Dritten Person“. In derjenigen Einstellung hingegen, in der es um die Per-
33 son geht, treten oft die sprachlichen Formen der „Ersten Person“ und der „Zwei-
34 ten Person“ auf. Wenn wir also das Problem des Zugangs zum Anderen bzw. der
35 Fremderfahrung diskutieren wollen, mssen wir den Unterschied zwischen dem
36 Anderen in der „Dritten Person“ und dem Anderen in der „Zweiten Person“ in
37 Betracht ziehen. Obwohl gelegentlich die Probleme des Verhltnisses von „Ich
38 37 Shaun Gallagher, Dan Zahavi: The phenomenological mind. An introduction to philoso-
39 phy of mind and cognitive science. London 2008. 213.
40 38 Gallagher, Zahavi: The phenomenological mind. 240.
Caring und Phnomenologie 125

1 und Anderem“ und desjenigen von „Ich und Du“ vermengt werden, muss man
2 zwischen beiden unterscheiden. Es sieht nmlich so aus, als fhre die Zweite Per-
3 son eher als die Dritte Person zum Verstndnis dessen, was „Caring“ ist.
4 Nebenbei bemerkt, unterschied Martin Buber zwei verschiedene „Haltun-
5 gen“ zum Menschen mit den „Grundwçrtern“ oder „Wortpaaren“ „Ich–Du“
6 und „Ich–Es“. Dem ersten Anschein nach meint man, dass „Ich–Du“ ein Ver-
7 hltnis zu Personen bedeutet, hingegen „Ich–Es“ ein Verhltnis zu einem Ding.
8 Genau besehen differenziert Buber eher zwischen der Zweiten Person und der
9 Dritten Person als zwischen Person und Ding, weil „ohne nderung des Grund-
10 wortes fr Es auch eins der Worte Er und Sie eintreten kann“.39 Er grenzt bei der
11
Diskussion des Anderen also das Problem des „Du“ (Zweite Person) von demje-
12
nigen des „Es“ (Dritte Person) ab.
13
Wenn Husserl in den ersten Analysen der I. Logischen Untersuchung vom
14
„Ausdruck in kommunikativer Funktion“ (§ 7) spricht, sagt er, dass der „Hçren-
15
de“ den „Sprechenden“ als „eine Person, die nicht bloß Laute hervorbringt, son-
16
dern zu ihm spricht“ versteht, also in einer Situation, in welcher der „Sprechen-
17
de“ dem „Hçrenden“ einen Sinn „mitteilen will“. Aber Husserl bezeichnet hier
18
sowohl den „Sprechenden“ als auch den „Hçrenden“ als „er“, also in der Form
19
20
der „Dritten Person“.40 Im Gegensatz dazu erscheint in einer Anmerkung zu
21
den Ideen II und in einer Beilage (abgefasst zwischen 1913 und 1917), in der
22 Husserl das Problem der „Person“ behandelt, der Kontrast zwischen „Ich und
23 Du“.41 Auch in einem Text aus dem ersten der Intersubjektivittsbnde (geschrie-
24 ben 1910/11) erwhnt Husserl „Ich-Du-Akte“.42 Obwohl diese Formulierung
25 uns an Martin Bubers oben genanntes Werk erinnert, kann es Husserl nicht be-
26 einflusst haben, weil bei diesem schon sehr frh von „Ich und Du“ die Rede ist,
27 wie z. B. in der 1914 niedergeschriebenen These: „das Ich konstituiert sich erst
28 im Kontrast zum Du“.43 Die erste Erwhnung des „Du“ findet sich in einem
29 Text des ersten Intersubjektivittsbandes aus dem Jahr 1908: „Dein Bewusstsein
30 ist fr mein Bewusstsein absolutes Aussensein, und mein Bewusstsein fr
31 dich“.44 Auch in anderen Texten der Husserliana findet sich bisweilen der Aus-
32 druck „Du“.45
33
34 39 Martin Buber: Ich und Du. Leipzig 1923. 9.
35
40 Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phnomenolo-
gie und Theorie der Erkenntnis. Hrsg. von Ursula Panzer. Hua XIX/2. Den Haag 1984. 39.
36 41 Husserl: Ideen II. Hua IV, 277, 319.
42 Husserl: Zur Phnomenologie der Intersubjektivitt. Texte aus dem Nachlaß. Erster
37
38 Teil: 1905 – 1920. Hrsg. von Iso Kern. Hua XIII. Den Haag 1973. 88.
43 Husserl: Zur Phnomenologie der Intersubjektivitt. Hua XIII, 247.
39 44 Husserl: Zur Phnomenologie der Intersubjektivitt. Hua XIII, 6.

40 45 Z.B. Hua IV, 289; Hua XXV, 167; Hua VIII, 232; Hua IX, 215; Hua IX, 228 usw.
126 Shinji Hamauzu

1 Die fnfte Cartesianische Meditation, in der Husserl die Fremderfahrung als


2 „Einfhlung“ diskutiert, wurde bisher von vielen Forschern kritisiert. Einige die-
3 ser Kritiken beruhen meines Erachtens aber auf Missverstndnissen. Hier mçch-
4 te ich nur darauf hinweisen, dass sich dort die Urform der Fremderfahrung in
5 der „Paarung“ als einer Form der „passiven Synthesen“ findet. Husserl behaup-
6 tet dort, „daß ego und alter ego immerzu und notwendig in ursprnglicher Paa-
7 rung gegeben sind.“46 Aber diejenigen, die sich da „paaren“, sind doch nicht „ich
8 und er/sie/es“, sondern „ich und du“. Husserl selbst konnte aber die Besonder-
9 heit der „Paarung“ hier nicht im przisen Zusammenhang von „ich und du“ erçr-
10 tern, obwohl er an anderer Stelle dieses Textes „Ich-Du-Akte“ erwhnt.47 Trotz-
11 dem scheint mir hierin ein Hinweis zu liegen, der zu einer Phnomenologie des
12 Du fhren kçnnte.
13 Derzeit suche ich nach einem Weg zur Phnomenologie des Du bei Husserl.
14 Obwohl es bei ihm nicht viele Stellen gibt, die uns hierbei leiten kçnnen, finden
15 sich jedoch meines Erachtens einige ußerungen, in denen Husserl gerade eini-
16 ge dem „Caring“ entsprechende Wendungen benutzt, so z. B.: „In der natrlich
17 erwachsenden Familiengemeinschaft sehen wir leicht, dass das Erste die natr-
18 lich naiv erwachsende Frsorge der Mutter fr die Kinder, des Mannes fr die
19 Mutter als Gattin und als Mutter der Kinder usw. ist.“48 Das Wort „Frsorge“
20 lsst sich ins Englische mit „Care“ bersetzen. Oder betrachten wir folgende
21 Aussage Husserls: „sowie ich abstraktiv schon den Anderen im Weltfeld habe
22 […], habe ich ihn auch als wertendes und praktisches Mitsubjekt, aber auch als
23 Objekt, Objekt meiner Sorgen, meiner Ttigkeiten etc.“49 Auch das Wort „Sor-
24 ge“ lsst sich mit „Care“ wiedergeben. Obwohl es noch weitere Stellen gibt, an
25 denen Husserl hnliche und damit verwandte Ausdrcke verwendet,50 kann ich
26 diese hier leider nicht nher interpretieren.
27
28
29
30
31
32
33 46 Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen. Hrsg. und eingel. von Walter Biemel.

34 Hua I. Den Haag 1950. 142.


47 Husserl: Cartesianische Meditationen. Hrsg. und eingel. von Elisabeth Strçker. Ham-
35
burg 1995. 135. Dieser Ausdruck fehlt jedoch in der entsprechenden Stelle von Hua I, 159.
36 48 Edmund Husserl: Zur Phnomenologie der Intersubjektivitt. Texte aus dem Nachlaß.

37 Zweiter Teil: 1921 – 1928. Hrsg. von Iso Kern. Hua XIV. Den Haag 1973. 180.
49 Edmund Husserl: Zur Phnomenologie der Intersubjektivitt. Texte aus dem Nachlaß.
38
Dritter Teil: 1929 – 1935. Hrsg. von Iso Kern. Hua XV. Den Haag 1973. 134 f.
39 50 Z.B. Husserl: Zur Phnomenologie der Intersubjektivitt. Texte aus dem Nachlaß. Zwei-

40 ter Teil. Hua XIV. 165 f., 167, 175 usw.


Caring und Phnomenologie 127

1 6. Schluss
2
3 Wir haben festgestellt, dass Husserl die vier Brentano’schen Thesen zur Intentio-
4 nalitt, d.i. Immanenz, Richtung, Korrelation und Fundierung, schon in der Ent-
5 wicklung von den Ideen I zu den Ideen II in Frage stellte und auf einige der
6 Teilthesen verzichtet hat. Die Intentionalitt, die zu Anfang, und zwar wegen
7 der Deutungen Brentanos, fr die Beschreibung des „Caring“ ungeeignet zu
8 sein schien, kçnnte dafr in der hier vorgestellten Umdeutung durch Husserl
9 durchaus eine Mçglichkeit erçffnen. Wenn Intentionalitt sich nmlich nicht
10 nur auf die Gemtsverfassung, sondern auch auf die Handlung bezieht, wenn sie
11 nicht nur einseitig, sondern wechselseitig ist, und wenn sie aus dem Hintergrund
12 und dem Horizont affiziert und motiviert, somit ein wechselseitiger Akt ist und
13 damit keine bloße Beobachtung der Natur bezeichnet, sondern eine Handlung
14 zum Nutzen einer Person enthlt, und wenn sie nicht zuletzt einen Weg zu einer
15 Perspektive der Zweiten Person, des „Du“, erçffnet, dann kçnnen wir sagen,
16 dass es nicht unmçglich ist, den Sinn des „Caring“ mit Hilfe des so verstandenen
17 Begriffs der Intentionalitt aufzuklren. Aber eine konkrete Beschreibung des-
18 sen, was fr ein Akt „Caring“ ist, kçnnen wir in Husserls Texten nur bruchstck-
19 weise finden. Ich sehe deshalb meine knftige Aufgabe darin, den Sinn des Ca-
20 ring mit Hilfe anderer Texte Husserls zur Intersubjektivitt, Lebenswelt und
21 Ethik aufzuklren.
22
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1 Dieter Lohmar
2
3
4 Zur Intentionalitt sozialer Gefhle
5
Beitrge zur Phnomenologie der Scham unter dem Gesichtspunkt des
6
menschlichen und tierischen Denkens und Kommunizierens ohne Sprache
7
8
9
10
11 1. Soziale Gefhle sind komplexe Erkenntnisintentionen in einem
12 nicht-sprachlichen Medium der Vorstellung.
13
14 Soziale Gefhle wie Stolz, Scham, Neid, Bedauern, Reue, Unter- und berlegen-
15 heitsgefhle, Mitleid, aber auch die Fhigkeit, sich fr Andere zu schmen, usw.
16 sind hochgradig komplexe intentionale Leistungen. Meiner Meinung nach sind
17 z. B. Stolz und Scham immer zugleich auf mich selbst, und zwar als Person im
18 sozialen Verband, auf Andere sowie auf unsere Gemeinschaft und deren Nor-
19 men gerichtet. Diese Gefhle tragen komplexe Intentionen auf Erkenntnisse,
20 Wertungen und Handlungsabsichten in sich, die sich in phnomenologischer Re-
21 flexion beschreiben lassen, und sich – obwohl sie selbst nicht sprachlich sind –
22 gut in sprachlichen Darstellungen erlutern lassen.1
23 Im Fall von Scham und Stolz ist der Aspekt der Beziehung auf mich bzw.
24 mein „Selbst“ im Sinn des Gefhls meist klar zu erfassen.2 Auch die Beziehung
25
26
27 1 Es gibt bereits viele Analysen ber soziale Gefhle, von denen ich nur einige nennen

28 mçchte: David Hume: Ein Traktat ber die menschliche Natur. bersetzt und mit Anmerkun-
gen und Register von Theodor Lipps, mit einer Einfhrung neu hrsg. von Reinhard Brandt.
29
Hamburg 1973; Jean Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Hamburg 1980; ders.: Entwurf
30 einer Theorie der Emotionen (1931). In: Ders.: Die Transzendenz des Ego. Hamburg 1964;
31 Max Scheler: Scham und Schamgefhl. In: Ders.: Schriften aus dem Nachlass. Bd. I: Zur Ethik
und Erkenntnislehre. Hrsg. von Maria Scheler. Bern 1957. 67 – 154; ders.: Reue und Wiederge-
32
burt (1917). In: Ders.: Vom Ewigen im Menschen. Gesammelte Werke V. Hrsg. von Maria
33 Scheler. Bern 1954. 27 – 59; Richard Wollheim: Emotionen. Mnchen 1999; Hilde Landweer:
34 Scham und Macht. Phnomenologische Untersuchungen zur Sozialitt eines Gefhls. Tbin-
35 gen 1999; Sonja Rinofner-Kreidl: Scham und Schuld. Zur Phnomenologie selbstbezglicher
Gefhle. In: Phnomenologische Forschungen 2009. 165 – 201; dies.: Neid und Ressentiment.
36 Eine phnomenologische Analyse. Vortrag, gehalten auf den Husserl-Arbeitstagen 2012 in
37 Leuven; und Dan Zahavi: Self, consciousness and shame. In: The Oxford handbook of contem-
38 porary phenomenology. Oxford 2012. 304 – 323.
2 Diese Beziehung sozialer Gefhle wie Stolz und Scham auf ein identisches Selbst fhrte
39 schon David Hume im zweiten Buch seines Treatise mit dem Titel On Emotions dazu, seine
40 Skepsis bezglich eines Eindrucks der Identitt des Selbst, die er noch im ersten Buch vertreten

Phnomenologische Forschungen 2013 ·  Felix Meiner Verlag 2013 · ISSN 0342-8117


130 Dieter Lohmar

1 sozialer Gefhle auf einen Anderen und eine Gemeinschaft (oder eine Gruppe
2 Anderer) scheint mir unstrittig zu sein.3 Die Intention auf die Gemeinschaft
3 kann in verschiedenen Formen vorkommen, sie kann real sein, imaginr oder in
4 der Form der Einnahme des Standpunkts der Gemeinschaft sozusagen „im
5 Blick auf mich selbst“ liegen.4 Ich mçchte in meinem Beitrag auf Folgendes auf-
6 merksam machen: (1) Soziale Gefhle enthalten komplexe Erkenntnisintentio-
7 nen in sich, sie stellen diese aber auf eine nicht-sprachliche Weise in unserem
8 Bewusstsein dar. Meiner Ansicht nach sind soziale Gefhle daher auch ein wich-
9 tiges Element des nicht-sprachlichen Denkens.
10 Das nicht-sprachliche Denken funktioniert beim Menschen vor allem auf der
11 Basis von phantasierten Bildern und szenischen Phantasmen. Das sind ,wie wirk-
12
lich gesehene‘, imaginierte Folgen von „Bildern“ und komprimierte, wie visuell
13
gesehene Szenen, die eine Einsicht enthalten. Wenn ich z. B. zu meinem Fahrrad
14
komme und bemerke, dass ein Reifen platt ist, so stelle ich mir die Ursache hier-
15
fr phantasmatisch wie die gesehene Handlung einer bestimmten Person vor,
16
die ich der Tat verdchtige. Diese Szenen sind oft von Gefhlen begleitet, die
17
Grundlage der Bewertung und auch der weiteren Handlung werden kçnnen.
18
(2) Weiterhin mçchte ich zeigen, dass Scham und Stolz, wie viele andere sozia-
19
le Gefhle, direkt oder indirekt auf Akte der Kommunikation zurckgehen, im
20
21
Fall der Scham auf Beschmungsakte, die ebenfalls berwiegend nicht-sprach-
22
lich vor sich gehen.
23 (3) Mein Interesse ist ferner auf die handlungsleitende Funktion dieser sozia-
24 len Gefhle gerichtet. Denn Scham und Stolz stellen die Erkenntnis dar, dass
25 meine Handlung (oder eine Folge von Handlungen, die auf eine feste Haltung
26 bei mir, sozusagen auf meinen Charakter hinweisen) mit den Normen der Ge-
27 meinschaft konform ist oder nicht. Ich schme mich fr eine Handlung vor einer
28
hatte, wieder zurckzunehmen. Dies ist jedoch von den meisten Interpreten nicht beachtet
29
worden.
30 3 Ich beziehe mich hier ganz allgemein auf die Gemeinschaft, aber natrlich sollte man in

31 dieser Hinsicht differenzierter sein. Die Sozialwissenschaft weist auf diesen wichtigen Aspekt
der Scham hin: Ein Subjekt kann sich in ganz verschiedenen Loyalittskreisen bewegen und
32
infolgedessen sich auch fr verschiedene Dinge schmen, je nachdem, welche soziale Rolle es
33 gerade einnimmt. Ein Banker kann sich schmen, wenn sein Chef seinen kmmerlichen Mo-
34 natsumsatz rgt. Er kann sich aber auch dessen schmen, dass er seine Mutter gerade nach dem
35 Erreichen des Rentenalters in ein Altersheim abgeschoben hat. Er kann auf einen Gewinn im
Warenterminhandel stolz sein und sich doch zugleich schmen, dass er dieses Geschft faktisch
36 mit dem Hunger von Hunderttausenden erkauft hat, die unter demselben Geschftsabschluss
37 leiden werden. Die Sozialwissenschaft zeigt uns, dass dieselben Personen in ganz verschiede-
38 nen Loyalittsgruppen leben kçnnen und zwischen ihnen auch wechseln kçnnen.
4 In dieser Hinsicht bin ich mit den Analysen von Dan Zahavi (in diesem Band, S.&-&) und
39 Sonja Rinofner (Rinofner-Kreidl: Scham und Schuld. 165 – 201; dies.: Neid und Ressentiment)
40 ganz einverstanden.
Zur Intentionalitt sozialer Gefhle 131

1 normierenden Gemeinschaft, der ich angehçre, und deren Normen ich teile. Da
2 ich diese Normen fr mich akzeptiere, habe ich sie zuvor „internalisiert“.5 Die
3 Folge ist: Ich bin auch in der Abwesenheit Anderer und der Gemeinschaft in der
4 Lage, mich sozusagen reflexiv selbst zu bewerten, und – wenn ich dies will –
5 meine Handlungen an die Normen der Gemeinschaft anzupassen, indem ich mir
6 selbst (bzw. meinen Handlungen) gegenber den Standpunkt der Gemeinschaft
7 einnehme.
8 Daher stellen diese sozialen Gefhle auch eine „Methode“ dar, um zu wissen,
9 was ich tun soll oder nicht tun darf.6 Wenn ich mir eine Handlungsoption vor-
10 stelle, die von der Gemeinschaft nicht akzeptiert wird, dann meldet sich sofort
11 das Gefhl der Scham und zeigt mir im Vorgriff auf die Realisierung, dass diese
12 Handlung von der Gemeinschaft nicht akzeptiert werden wird. Bei der Vorstel-
13 lung einer gebotenen Handlung ist es der Stolz, der als ein Motiv auftritt, so zu
14 handeln, natrlich immer auch neben anderen Motiven. Soziale Gefhle sorgen
15 zugleich mit dem Wissen um soziale Normen fr deren Anwendbarkeit und
16 Wirksamkeit in unserem motivierten Handeln, und zwar, weil Gefhle Hand-
17
lungen motivieren. Der Modus, in dem ich „weiß“, was die Gruppe von mir als
18
Handelndem fordert, und was ich nicht tun darf, ist das soziale Gefhl.
19
Hierfr weise ich auf eine Analogie mit dem Gebrauch der Sprache hin. Es
20
gibt in jeder Sprache Regeln dafr, wie man welchen Sachverhalt, welche Akti-
21
on, welches Zeitverhltnis usw. ausdrckt, aber die Art und Weise, in der ein
22
Muttersprachler diese Regeln kennt, ist eher die des Gefhls. Ich „weiß“, dass
23
ich ein Wort richtig gebrauche, eher im Modus des Gefhls als im Wissen um
24
eine semantische oder syntaktische Regel. Wenn ein Muttersprachler eine miss-
25
glckte sprachliche Wendung hçrt, dann fhlt er mehr, als er weiß, dass da etwas
26
nicht stimmt. Wir sagen zwar manchmal: „Es hçrt sich falsch an“, aber eigent-
27
lich ist gemeint: „Es fhlt sich falsch an!“ Denn ich weiß auf der Basis meiner
28
bisherigen Erfahrung und der normativen Spracherziehung, dass man dies so
29
nicht ausdrcken darf, dass es anders gesagt werden soll, denn es geht hier um
30
die Befolgung von gemeinschaftlichen Normen.
31
32
Auf die gleiche Weise weiß ich, welche Handlungsweise meine Gemeinschaft
33
in bestimmten Situationen von mir erwartet: Es fhlt sich gut und richtig oder
34
falsch und schlecht an, so zu handeln. Und ich brauche nicht erst die Handlung
35 5 Dies formuliert auch Dan Zahavi mit der Aufnahme der beliebten pdagogischen Figur
36 der Internalisierung (vgl. in diesem Band, S. &). Wie Internalisierung vor sich geht, wre ein
37 interessantes Thema fr die Phnomenologie. Meiner Meinung nach verlangt dies eine Aufkl-
38 rung der Scham induzierenden Kommunikationsakte.
6 Schon Platon erwhnt, dass uns Scham vor unehrenhaftem Handeln bewahrt. Da die
39 Handlungsregulation durch Gefhle nicht-sprachlich ist, kann man vermuten, dass sie z. B.
40 auch bei moralanalogem Handeln von Primaten eine Rolle spielt.
132 Dieter Lohmar

1 wirklich auszufhren, um dies auch aktuell zu wissen, denn es gengt, sich nur
2 vorzustellen, so zu handeln, dann stellt sich bereits Scham ein. Und wenn ich so
3 (denke oder) handle, dann fhlt es sich nicht gut an, und ich kann dieses Gefhl
4 unmittelbar auf meine Handlungen beziehen: Diese Handlung ist „in den Au-
5 gen meiner Gemeinschaft“ falsch. Dies weiß ich im Modus des Gefhls, und
6 zwar auch, ohne dass ich die genaue Norm angeben kann, der die Handlung wi-
7 derstreitet.
8 Soziale Gefhle sind nicht sprachlich, obwohl sie offensichtlich im Kontext
9 komplexer Erkenntnisleistungen stehen und sprachlich erlutert werden kçn-
10 nen. Was bedeutet das? Dies ist einerseits eine Selbstverstndlichkeit, ber die
11 wir uns normalerweise nicht viele Gedanken machen, andererseits liegt hierin
12 eine Herausforderung. Denn folgt man der antiken Seelenlehre, stehen Gefhle
13 und Erkenntnisleistungen in einem Gegensatz: Erkenntnis gehçrt zum rationa-
14 len Teil, Gefhle zum irrationalen Teil der Seele. Aber diese einfache Antwort
15 wird dem Erkenntnisgehalt der sozialen Gefhle nicht gerecht.7
16 Mein besonderes Interesse besteht darin, die Funktion der sozialen Gefhle
17 in den Kontext des Denkens und der Kommunikation ohne Sprache zu stellen.8
18 Die Grundidee dabei ist, dass das menschliche Denken fr uns zwar auf den ers-
19 ten Blick berwiegend sprachlich zu sein scheint, dass aber in unserem Bewusst-
20 sein zugleich immer auch ltere Modi der Vorstellung von Erkenntnissen fungie-
21 ren, die ohne Sprache die gleichen Aufgaben bewltigen. Man muss fr eine
22 Untersuchung dieser nicht-sprachlichen Modi des Denkens die Aufmerksam-
23 keit auf diejenigen Elemente unseres Bewusstseinslebens richten, die sozusagen
24 berbleibsel dieser lteren, nicht-sprachlichen Formen des Denkens sein kçnn-
25 ten. Hiermit erçffnen sich sofort zwei wichtige Fragerichtungen, und zwar im
26 Hinblick auf die Hominiden und die Primaten.
27
28
29
30 2. Der Blick auf die Hominiden und die Primaten
31
32 Einerseits verbinden uns die alten, nicht-sprachlichen Modi des Denkens mit
33 den Vorfahren des heutigen Menschen, den Hominiden, denn unsere Lautspra-
34
7 Eine weitere Einsicht, die sich beim Nachdenken ber die Funktion der Gefhle im Er-
35
fahrungsleben ergibt, besteht darin, dass einige Gefhle, wie z. B. das Gefhl der Sicherheit
36 oder Unsicherheit hinsichtlich des tatschlichen Bestehens eines Sachverhalts, auch Meta-Kog-
37 nitionen beinhalten kçnnen. Sie spiegeln also nicht nur komplexe Erkenntnisse, sondern auch
38 hochstufige Einsichten.
8 Vgl. Dieter Lohmar: Denken ohne Sprache (im Erscheinen); ders.: Thinking and non-
39 language thinking. In: Dan Zahavi (Hg.): Handbook of contemporary phenomenology. Ox-
40 ford 2012. 377 – 398.
Zur Intentionalitt sozialer Gefhle 133

1 che ist – evolutionr gesehen – nicht sehr alt. Man schtzt ihr Alter heute hçchs-
2 tens auf 120 – 150.000 Jahre. Das hierfr aussagekrftige Leitfossil ist das große
3 Zungenbein, das den homo sapiens sapiens von allen anderen Spezies unterschei-
4 det. Es wird als Voraussetzung fr eine ausgefeilte Ausformung von Vokalen
5 und Konsonanten einer Lautsprache angesehen. Von diesem Zungenbein hat
6 man bisher kein Exemplar gefunden, das lter als 120.000 Jahre ist. Die fr den
7 Menschen spezifische Lebensweise in einem Verband genetisch verwandter Per-
8 sonen und weiterer Gefhrten, in der soziale Verpflichtungen bernommen und
9 (in nicht-sprachlicher Kommunikation) Normen aufgestellt werden, ist aber si-
10 cher wesentlich lter. Wahrscheinlich geht sie bis auf die eingreifende Vernde-
11 rung der Lebensweise bei der Entstehung des homo erectus vor etwa 1,8 – 2,0
12 Mio. Jahren zurck.
13 Andererseits verbinden uns die nicht-sprachlichen Denkleistungen auch mit
14 den Tieren, ganz besonders mit den hoch cerebralisierten Sugetieren, vor allem
15 mit den Primaten. Die Lebensweise der Primaten hat einige Elemente, die der
16
menschlichen Lebensweise sehr nahe sind. So gibt es Regeln fr das Verhalten
17
jedes Mitglieds einer Primatengruppe, und zwar solche, welche die Hierarchie
18
betreffen, und solche, die den Nutzen fr die gesamte Gruppe betreffen. Zum
19
Beispiel gibt es die Regel, dass gefundene Nahrung der ganzen Gruppe zu mel-
20
den ist. Zuwiderhandlungen gegen diese Norm werden von der Gruppe sanktio-
21
niert, so dass man hier durchaus von moralanalogen Regeln sprechen darf.9
22
Nun ist es heute noch eher ungewçhnlich, wenn man mit dem Anspruch, Ph-
23
nomenologie zu betreiben, auf Primatenforschung und die Evolution der Homi-
24
niden verweist. Ich stimme den hier anklingenden, skeptischen Bedenken zum
25
Teil zu. Ich meine, dass diese Verbindung nur dann untersucht werden sollte,
26
wenn man die Fruchtbarkeit dieses Blicks auf die Vorgeschichte des Menschen
27
oder andere Spezies fr die Phnomenologie selbst aufweisen kann. Das ist aber
28
29 9 Es gibt neben der Regel, gefundenes Fressen der ganzen Gruppe zu melden, solche Re-

30 geln, die fordern, die Hierarchie einzuhalten, die Hierarchie durch ritualisierte Formen der
31 Kommunikation (Unterwerfungsgesten) regelmßig und çffentlich anzuerkennen, sowie die
Regeln, die durch Teilgruppen aufrechterhalten und durch diese auch sanktioniert werden
32
(etwa die so genannten Mutterregeln, die z. B. besagen, dass Kinder nicht zu eigenen Zwecken
33 instrumentalisiert werden drfen). Vgl. hierzu Frans de Waal: Der gute Affe. Der Ursprung
34 von Recht und Unrecht bei Menschen und anderen Tieren. Mnchen 1997. 114 ff.
35 Affen besitzen zudem eine Art Gefhl fr Gerechtigkeit und Fairness. Dies zeigt ein Expe-
riment von Frans de Waal und Sarah Brosnan: Eine Maschine tauschte Spielsteine gegen zwei
36 verschiedene Arten von Gtern: Trauben, die sehr beliebt waren, und weniger begehrte Gur-
37 kenstcke. Die Maschine konnte dann so manipuliert werden, dass sie gezielt einzelne Mitglie-
38 der der Gruppe bevorzugte und demnach nicht mehr „gerecht“ belohnte. Nach dieser Manipu-
lation wandten sich die meisten Kapuzineraffen von dem bis dahin attraktiven Spielzeug ab.
39 Vgl. Frans de Waal, Sarah Brosnan: Monkeys reject unequal pay. In: Nature 425 (2003). 297 –
40 299.
134 Dieter Lohmar

1 in diesem Fall mçglich. Wir werden nmlich sehen, dass sich einige Besonderhei-
2 ten von Scham und Stolz mit dem Blick auf ihre evolutionre Funktion besser
3 verstehen lassen als mit dem eingeschrnkten Blick auf die Innenperspektive des
4 Erlebens allein. Es geht mir dabei aber keineswegs darum, die phnomenologi-
5 sche Perspektive aufzugeben, sondern darum, sie besser zu machen, indem sie
6 die Hinweise anderer Wissenschaften auf die funktionelle Einfassung von Be-
7 wusstseinserlebnissen aufnimmt und zu integrieren versucht. Wir werden z. B.
8 sehen, dass die Mitteilung und die Kommunikation ber den Inhalt von Regeln
9 fr die Ausprgung sozialer Gefhle wesentlich ist und dass sie etwa in Form
10 einer nicht-sprachlichen Beschmung erfolgen kann.
11 Mit Blick auf die Hominiden kann man festhalten, dass die Genese des Men-
12 schen zeigt, dass Hominiden Spezies sind, die mehrere radikale Vernderungen
13 ihrer Lebensweise erfolgreich vollzogen haben. Dazu gehçrt der Wechsel so-
14 wohl ihres Lebensraumes vom Regenwald in die Savanne bis hin zu den nçrdli-
15 chen Lndern Europas mit einem ausgeprgten Winter als auch ihrer Ernh-
16 rungsgrundlage vom berwiegenden Pflanzenfresser bis zum Allesfresser sowie
17 ihrer Sexualstrategie von stark dimorphen, d. h. haremshaltenden Gruppen zu
18 einer gemßigten Monogamie. Diese zahlreichen radikalen Vernderungen ms-
19 sen außerdem noch den starken jahreszeitlichen Klimawechsel kompensieren,
20 der die nçrdlichen Siedlungsgebiete der Hominiden zwischen homo erectus und
21 homo sapiens sapiens kennzeichnet. All dies zeigt, dass sich die konkreten Inhal-
22 te der Gruppenregeln bei Hominiden ndern kçnnen und ndern kçnnen ms-
23 sen, denn dies ist eine Voraussetzung fr ihr berleben. Normen des Verhaltens
24 sind Kulturprodukte. Das weist zugleich darauf hin, dass wir uns mit unserer
25 Fragestellung in einem Teil der Evolution befinden, in dem es immer auch um
26 Kultur und deren Entwicklung geht. Normen verweisen auf Einigungs- und
27 Mitteilungsakte, die wir uns allerdings in einer nicht-sprachlichen Form nicht
28 leicht vorstellen kçnnen. Dasselbe gilt bereits fr viele hoch cerebralisierte Su-
29 getierspezies, insbesondere fr die Primaten mit ihren stark regionalisierten
30 Werkzeugkulturen und sozialen Institutionen.
31 Wegen der Vernderlichkeit der Normen muss es also zu der Mitteilung an
32 Kinder und Jugendliche so etwas wie eine Methode der Beschmung geben, die
33 zur nicht-sprachlichen Kommunikation gehçrt. Hierbei muss man bedenken,
34 dass hoch cerebralisierte Tiere, die in Gruppen leben, noch andere Wege der
35 Kommunikation haben, die uns Menschen auch zur Verfgung stehen, die uns
36 aber als Formen der Kommunikation nicht so bewusst sind: die Kommunikati-
37 on mittels Blicken und Handlungen.
38 So gibt es etwa Sanktionen bei Fehlverhalten, die man nicht nur als Strafen
39 interpretieren darf, denn sie informieren die Jugendlichen zugleich ber ihre
40 Pflichten und Verbote. Es gibt z. B. Sanktionen durch die ganze Gruppe, wenn
Zur Intentionalitt sozialer Gefhle 135

1 ein Mitglied die spezifischen Warnrufe zu seinem eigenen Vorteil nutzt und so
2 faktisch diese entweder falsch verwendet oder schlicht lgt. Beides kommt vor.10
3 Was sich im Hinblick auf Hominiden und Primaten fr unsere Analyse der
4 Scham und des Stolzes ersehen lsst, ist also Folgendes: Die Normen der Ge-
5 meinschaft kçnnen sich ndern, und sie mssen dies gelegentlich auch. Außer-
6 dem mssen sie den jeweils nachkommenden, jngeren Mitgliedern der Gruppe
7 in nicht-sprachlichen Kommunikationsakten mitgeteilt werden. Bei diesen Ak-
8 ten spricht man am besten von çffentlichen Beschmungsakten. Derjenige, der
9 jemanden beschmt, tritt dabei „çffentlich“ auf, d. h. er tritt in der Funktion als
10 Vertreter der normierenden Gemeinschaft auf und macht durch Sanktionierung
11
klar, dass die erfolgte Handlung nicht den Normen der Gemeinschaft gemß ist.
12
Hierzu ein Beispiel: Viele Primatenspezies besitzen nur ein schmales Spek-
13
trum von Warnrufen, z. B. haben Schimpansen einen Ruf fr Leopard, einen fr
14
Schlange und einen fr Raubvogel.11 Fr das berleben der Gruppe ist es ent-
15
scheidend, dass die Semantik dieser Rufe eingehalten wird. Aber es geschieht
16
immer wieder, dass jngere Mitglieder diese Warnrufe in strategischer Absicht
17
verwenden. Ein Jugendlicher stçßt z. B. den Ruf „Leopard!“ aus, als er in Ge-
18
meinschaft mit den Anderen auf eine verlockende Nahrungsquelle gestoßen ist.
19
20
Die Anderen fliehen auf die Bume, und der Kleine macht sich ber die Frchte
21
her. Danach wird er aber von den zurckkommenden Gefhrten verprgelt,
22 und zwar wohl aus mehreren Grnden. Denn er hat nicht nur gegen die Regel
23 der richtigen Verwendung der Warnrufe verstoßen, er hat sogar absichtlich gelo-
24 gen, zudem hat er die Regel missachtet, dass der Zugang zu gefundenem Fressen
25 in der Gruppe hierarchisch geregelt ist: Die Ranghçchsten erhalten zuerst Zu-
26 gang zu der Nahrung.
27
10 In Primatengruppen gibt es oft sehr regionale Konventionen ber die Art und Weise, wie
28
man Mitglieder der Gruppe begrßt, wie man die Hierarchie besttigt usw. Dass lebenswichti-
29
ge Kulturleistungen auch bei Primaten durch Tradierung sehr lange erhalten bleiben kçnnen,
30 zeigt der Fall der Nsse knackenden Schimpansen. Zu den Schimpansen des Tai-National-
31 parks, die Palmnsse mit Hilfe von Steinen knacken und diese Fhigkeit auch an ihre Nach-
kommen weitergeben, vgl. Christophe Boesch, Hedwige Boesch: Mental map in wild chimpan-
32
zees. An analysis of hammer transports for nut cracking. In: Primates 25 (1984). 160 – 170;
33 Christophe Boesch: Teaching among wild chimpanzees. In: Animal Behaviour 41 (1991). 530 –
34 532; Tetsuro Matsuzawa: Field experiments on use of stone tools in the wild. In: Richard W.
35 Wrangham, William C. McGrew, Frans B.M. de Waal, Paul G. Heltne (Hg.): Chimpanzee Cul-
tures. Cambridge 1994. 351 – 370. Zu der Tatsache, dass sich diese Tradition sogar teilweise
36 ber 4300 Jahre nachweisen lsst, vgl. Julio Mercader, Huw Barton, Jason Gillespie, Jack Har-
37 ris, Steven Kuhn, Robert Tyler, Christophe Boesch: 4300-year-old chimpanzee sites and the
38 origins of percussive stone technology. In: PNAS 104 (2007). 3043 – 3048.
11 Zu Warnrufen bei Schimpansen vgl. Volker Sommer: Lob der Lge. Mnchen 1992. 82 f.;
39 Dorothy L. Cheney, Robert Seyfarth: Wie Affen die Welt sehen. Das Denken einer anderen
40 Art. Mnchen 1994. Kapitel 7. Besonders 259 ff. sowie Kapitel 4 und 5.
136 Dieter Lohmar

1 Wenn wir erst die Notwendigkeit von kommunikativen Beschmungsakten


2 zur Vermittlung von kulturgeprgten Normen eingesehen haben, dann erschlie-
3 ßen sich auch einige der rtselhaften Formen von Scham auf einfache Weise.
4 Dies gilt z. B. fr die merkwrdige Tatsache, dass wir uns auch fr Etwas, z. B.
5 ein kçrperliches Merkmal, schmen kçnnen, und auch das Rtsel des Fremdsch-
6 mens wird dadurch gelçst.
7
8
9 3. Beschmung als soziales Werkzeug (Sich-fr-etwas-Schmen)
10
11 Wenn es solche çffentlichen Akte der Beschmung gibt und sie konstitutiv fr
12 Schamgefhle hinsichtlich bestimmter Inhalte sind, dann kçnnen solche Akte
13 auch von Einzelnen oder von kleinen Gruppen der Gemeinschaft als soziales
14 Werkzeug genutzt werden. Das bedeutet, sie nutzen die Beschmung – zu der
15 jeder fhig ist – zur Ausgrenzung Einzelner oder ganzer Gruppen. So kann z. B.
16 eine kleine peer-group erklren, dass eine Person zu dick ist, um anerkannt zu
17 werden. Sie kann auch dafr diskriminiert werden, dass sie keine Markenklei-
18 dung trgt, dass sie die falsche Hautfarbe, Sprache oder Religion hat usw. Auf
19 diese Weise wird verstndlich, dass die Arten von Scham, die sich auf bestimmte
20 kçrperliche, kulturelle, religiçse oder geistige Merkmale richten und die schein-
21 bar von mir auch „ganz allein“ empfunden werden kçnnen, direkt von einem
22 solchen Initiationsakt abhngen, der die Autoritt der Gemeinschaft in einer çf-
23 fentlichen Beschmung imitiert. Das Sich-fr-Etwas-Schmen ist also eine in sol-
24 chen Akten induzierte Scham, in denen die Autoritt der sinnvollen Besch-
25 mung durch die Gemeinschaft nachgeahmt wird. Auf diese Weise kann es zu
26 einer sozialen Diskriminierung von Teilen der Gruppe kommen.
27 Aber diese Schaminduktion gelingt nur dann, wenn eine reprsentative Grup-
28 pe (Teilgruppe) mir diese Eigenschaft zum Vorwurf macht, abwertend darber
29 spricht und mich deshalb von weiterer gemeinschaftlicher Aktivitt ausschließt.
30 Sie erklrt damit „çffentlich“, dass bestimmte Eigenschaften die Voraussetzung
31 fr eine Teilnahme an ihrer Gemeinschaft ist. Sie will pragmatisch damit eine
32 Beschmung und eine Ausgrenzung der stigmatisierten Person erreichen. Scham
33 und Beschmung funktionieren nur, wenn sie çffentlich erklrt werden. Besch-
34 mung erweist sich somit als ein soziales Werkzeug, das nicht nur zwischen dem
35 Einzelnen und der Gemeinschaft, sondern auch zwischen dem Einzelnen und
36 einer Teilgruppe und zwischen Teilgruppen der Gemeinschaft funktioniert.
37 Die çffentliche Beschmung hat auch Nachwirkungen fr das Selbstwertge-
38 fhl der so Beschmten. Denn das ußerlich (oder im Denken) bemerkbare Stig-
39 ma bleibt erhalten, und es kann daher jederzeit die induzierte Scham wieder her-
40 vorrufen, indem mich z. B. mein Anblick im Spiegel an den Makel erinnern
Zur Intentionalitt sozialer Gefhle 137

1 kann. Ich schme mich aufs Neue und werte mich in den Augen der Anderen
2 selbst ab, indem ich deren Standpunkt mir selbst gegenber einnehme. Dabei
3 internalisiere (bernehme) ich die vermeintlich allgemein akzeptierten Regeln,
4 die mich diskriminieren. Dies wirft auch ein interessantes Licht auf die Eindring-
5 lichkeit solcher Beschmung: Ich kann mich gegen sie nur schwer wehren, bin
6 wehrlos und ihr gegenber gleichsam durchlssig.
7 Die Verwendung der Scham als soziales Werkzeug (Kampfmittel) durch Ein-
8 zelne oder kleine Gruppen ist aber eine abgeleitete Form der originren Funkti-
9 on der Scham und des Beschmens zwischen dem Einzelnen und der Gemein-
10 schaft. Die Forderungen, welche die Gruppe als Ganze an das Verhalten des
11 Einzelnen stellt, werden durch die çffentliche Beschmung mitgeteilt und vom
12 Einzelnen als gltig angenommen, d. h. „internalisiert“. Wenn nur eine Teilgrup-
13 pe beschmt, dann geht es meist um Diskriminierung, dennoch wird die Interna-
14 lisierung auch dann hufig vollzogen.
15 In einem ersten Schritt haben wir die Rolle der çffentlichen Beschmung auf-
16 gezeigt, die auch ohne den Gebrauch von Sprache mçglich sein muss.
17
18
19 4. Das Rtsel des Fremdschmens – Sich-fr-Andere-Schmen
20
21 Das Sich-fr-Andere-Schmen, auch Fremdschmen genannt, ist eine weitere
22 rtselhafte Form der sozialen Gefhle. Es weist folgende drei Typen auf:
23 1) Ein Kind bohrt in der ffentlichkeit ungeniert in der Nase, und die Mutter
24 schmt sich fr ihr Kind. Hier kçnnte man vermuten, dass sie sich fr das Verhal-
25 ten ihres Kindes irgendwie verantwortlich fhlt.
26 2) Ein Kind schmt sich fr seinen alkoholisierten Vater und dessen peinliches
27 Benehmen in der ffentlichkeit.
28 3) Wir schmen uns oft auch fr das Verhalten unserer Freunde und Bekann-
29 ten, und bisweilen sogar fr nur zufllige Bekannte. Ein Beispiel: Ich treffe zufl-
30 lig gleichzeitig mit einem Bekannten auf einer Party ein. Schnell stellt sich her-
31 aus, dass er bereits betrunken war und jetzt beginnt, die anderen Gste mit
32 Spinat vom Buffet zu bewerfen. Ich empfinde dafr Scham, denn er benimmt
33 sich schlecht, und irgendwie schauen mich die Anderen so an, als ob ich fr sein
34 Verhalten mit verantwortlich sei.
35 Hinsichtlich der ersten beiden Beispiele sieht man schon einen Weg zum Ver-
36 stndnis, wenn man eine Theorie des „erweiterten Selbstbildes“ zu Hilfe nimmt.
37 Das heißt: In meinem Selbstbild gibt es nicht nur mich selbst, sondern in einem
38 erweiterten Sinne gehçren gleichsam auch meine Eltern, Kinder usw. dazu so-
39 wie weitere Verwandte und die Personen, die eine gemeinsame Geschichte mit
40 uns haben, eine Geschichte, die uns mit ihnen „verbindet“. Diese Verbindung
138 Dieter Lohmar

1 kçnnen wir als eine gefhlte, teilweise oder graduelle „Identifikation“ mit deren
2 Wohl und Wehe verstehen.
3 Diese „Identifikation“ bzw. Verbindung weist auf tiefengenetische Aspekte
4 der Vorstellung meiner selbst hin. Das sind Elemente der Vorstellung meiner
5 selbst, die in sehr frhen Phasen der Entwicklung meiner Typen entstanden und
6 sedimentiert worden sind. Zum Beispiel finden wir es verstndlich, dass in der
7 jngsten Kindheit der einzige Punkt, auf den sich die gemeinschaftliche Aner-
8 kennung richten kann, die Eltern sind, nicht das Kind selbst. Das Kind ist am
9 Anfang seiner Erfahrungsgeschichte stolz oder beschmt, weil und wenn seine
10 Eltern anerkannt oder beschmt werden.
11 Dieses zu Anfang sehr „weite Selbstbild“ wird in der vielfltigen, spter fol-
12 genden Erfahrung modifiziert, berschrieben und berdeckt. Es weicht dann
13 langsam dem Selbstbild des Erwachsenen, bei dem hinsichtlich der Grnde fr
14 Scham oder Stolz seine eigenen Taten, Leistungen und Entscheidungen im Vor-
15 dergrund stehen. Aber die tieferen und scheinbar verschtteten Sinnelemente
16 des Typus „ich selbst“ kçnnen in bestimmten Situationen immer wieder ge-
17 weckt werden, denn sie werden nie ganz funktionslos.
18 Dies ist eine kleine Theorie des „erweiterten Selbst“, dessen Funktion sich
19 z. B. im Fremdschmen zeigt. Dieses erweiterte Selbst der Erfahrungssedimente
20 nimmt auch Personen in sein Bild mit auf, die mit mir eine gemeinsame Ge-
21 schichte haben, und denen ich emotional nahe stehe, wie z. B. meine Eltern, mei-
22 ne Kinder, aber auch langjhrige Gefhrten und so genannte Wahlverwandte.
23 Ich glaube, dass man diese Erweiterungen des Selbstbildes durchaus durch eine
24 phnomenologische Aufklrung der Sedimentationsweise und der Funktion
25 von Erfahrungen im Typus „ich selbst“ verstndlich machen kann. Es gibt viele
26 Typen in uns, bei denen nicht nur die zuletzt erfahrene Schicht des Sinnes fun-
27 giert, sondern auch die tieferen Sinnschichten aktiviert werden kçnnen.
28 Die verschtteten Elemente meines Selbstbildes sind niemals vçllig funktions-
29 los. Sie kçnnen bei bestimmten Gelegenheiten sozusagen „eruptiv“ die Sedimen-
30 tationsschichten durchdringen und sich wieder in den Vordergrund bringen.
31 Der Typus „ich selbst“ enthlt eine Art Geschichtsschreibung meiner Erfahrun-
32 gen mit dem Gegenstand. Die verdeckten Sinnelemente kçnnen gelegentlich die
33 Ordnung der Sedimente durchbrechen und wieder aufs Neue fungieren. Das
34 Fremdschmen zeigt, dass hierfr insbesondere solche Gelegenheiten geeignet
35 sind, bei denen es um unsere identifizierenden Verbindungen zu Anderen geht.
36 Der oben genannte dritte Fall bleibt jedoch auch im Hinblick auf das „erwei-
37 terte Selbstbild“ noch unverstndlich. Warum schmen wir uns sogar fr solche
38 „zuflligen Gefhrten“? Gemeint sind solche Personen wie derjenige, der auf
39 der Party mit Spinat wirft. Ich habe ihn zufllig getroffen, und nur die Anderen
40 glauben, dass ich ihn kenne und fr sein Verhalten irgendwie verantwortlich sei.
Zur Intentionalitt sozialer Gefhle 139

1 Ich selbst weiß allerdings, dass dies nicht so ist. Wie kommt es aber, dass wir uns
2 in dieser Situation dennoch schmen?
3 Hier hilft ein Verweis auf die nicht-sprachlichen Formen der Kommunikati-
4 on, die in dieser Situation durch die anderen Gste begonnen wird: Sie fangen
5 an, mich zu beschmen. Diese Beschmung ist ein Akt nicht-sprachlicher Kom-
6 munikation, die bei dieser Gelegenheit vor allem auf der Basis der Blickkommu-
7 nikation verluft. Die Anderen schauen auf denjenigen, der mit Spinat wirft,
8 und ihr Blick wandert dann mit gemessener Berechnung zu mir, und er ruht auf
9 mir, so dass ich fhle, wie schwer der Vorwurf, der gar nicht ausgesprochen wer-
10 den muss, auf mir lastet. Denn unausgesprochen teilt mir diese Blickfolge mit:
11 Diesen Mann hast du mitgebracht, du httest wissen mssen, dass er schon be-
12 trunken ist und dass er sich nicht benehmen kann usw. Und obwohl ich gute
13 Argumente gegen die Berechtigung dieser Beschmung habe (z. B. dass ich ihn
14 gar nicht kenne und nur zufllig mit ihm zusammen bei der Party angekommen
15 bin), schme ich mich rtselhafter Weise doch.
16 Dies zeigt, dass ich hinsichtlich dieser Art nicht-sprachlicher Kommunikati-
17 on im intersubjektiven Kontext gar nicht autonom bin, sondern eher passiv und
18 durchlssig bleibe. Ich kann mich der Wirkung einer solchen kollektiven Besch-
19 mung gar nicht entziehen, und selbst, wenn ich es versuche, so weiß ich doch,
20 dass es auf die Anderen nur wie eine hilflose Verteidigung, d. h. wie eine Ausre-
21 de, wirken wird. Der Induktion des Schamgefhls durch eine Gemeinschaft
22 oder eine Teilgruppe kann ich mich nicht entziehen. Die Phnomenologie kann
23 dies jedoch nur konstatieren, aber mit Hilfe eines Blicks auf die Evolution und
24 die Handlungsregulierung bei anderen Spezies wird der gute Sinn dieser Hilflo-
25 sigkeit verstndlich.
26
27
28 5. Soziale Gefhle bei Menschen und Primaten in Verbindung mit der realen
29 Anwesenheit Anderer und ohne sie
30
31 An den sozialen Gefhlen bemerken wir, dass sie in der Regel auf komplexen
32 Gefgen von Erkenntnis, Handlungsplnen und Normen der Gemeinschaft be-
33 ruhen. Ihre Kernfunktion ist das aufrufbare und anwendbare Wissen um die ge-
34 meinschaftlich akzeptierten Normen und zugleich eine Motivation, die somit
35 auch eine effektive Regulierung unseres Handelns leistet. Sie haben einen Bezug
36 auf eine Handlung, eine bewertende Gemeinschaft und auch einen Bezug auf
37 mich, mein Selbst, meine Person, und zwar wird dieses Selbst als eine Person in
38 einer Gemeinschaft vorgestellt. Ich schme mich z. B. fr eine Handlung „in den
39 Augen“ der Gemeinschaft, auf die es mir ankommt, in deren Augen ich aner-
40 kannt werden mçchte.
140 Dieter Lohmar

1 Daher ist es auch kein großes Rtsel, dass ich mich auch dann fr eine Hand-
2 lung schmen kann, wenn mich real keine andere Person sieht, vor der ich mich
3 schmen msste. Auch bei Primaten ist es so, dass die Regeln, die sich aus der
4 Hierarchie ergeben, und solche, die sich direkt auf den Nutzen der ganzen Grup-
5 pe richten, in der berwiegenden Zahl der Flle von den einzelnen Personen die-
6 ser Gemeinschaft befolgt werden, und zwar auch in der Abwesenheit anderer
7 Gruppenmitglieder. Man kann hier von einer weitgehend erfolgreichen Regulie-
8 rung des Verhaltens sprechen. Die Einzelnen fhlen sich den Regeln der Gruppe
9 gegenber verpflichtet. Aber dieses Wohlverhalten ist nicht einfach naturgege-
10 ben, instinktiv und kausal bedingt. Das Bemerkenswerte daran ist, dass es ein
11 freies Wohlverhalten ist, denn der Einzelne kann auch anders handeln. Aller-
12 dings gibt es nur relativ selten Einzelne, die sich diesen Regeln widersetzen und
13
zu ihrem eigenen Vorteil verschiedene Arten von Tuschungen versuchen.12
14
Hier zeigen sich sowohl die Freiheit wie auch die Moralbindung dieser Handlun-
15
gen.
16
Die Scham, die ich empfinden kann, wenn ich ganz allein bin, kçnnte man
17
selbst-bewertende Scham nennen. In ihr bewerte ich mich selbst oder meine
18
Handlung unter dem Maßstab, den die Normen der Gemeinschaft vorgeben. In
19
dieser Situation agiere ich sozusagen als Vertreter der Gemeinschaft gegenber
20
mir selbst. Es gibt aber hier auch die Mçglichkeit der Umfrbung dieses Ge-
21
fhls, wenn der Gedanke an einen wirklich beobachtenden realen Anderen hin-
22
zukommt. Es erfolgt dann eine Umfrbung der Scham in ngstliche Scham, die
23
24
12 Die Berichte ber taktische Tuschungen bei Primaten zeigen, dass es oft typische und
25
wiederkehrende Konfliktsituationen bei Tieren gibt, die in Gruppen leben. Vgl. Richard
26 Bryne, Andrew Whiten: Tactical deception of familiar individuals in baboons. In: Animal Be-
27 haviour 33 (1985). 669 – 673; dies. (Eds.): Machiavellian Intelligence. Oxford 1988; Dies.: Tacti-
28 cal deception in primates: the 1990 database. In: Primate Report 27 (1990). 1 – 101; und Som-
mer: Lob der Lge. 72 – 96.
29
Eine der zentralen Verpflichtungen z. B. bei Schimpansen besteht darin, dass gefundene
30 Nahrung immer der ganzen Gruppe zu melden ist. Wenn ein Tier jedoch in der Hierarchie
31 weit unten steht, dann fhrt dies oft zu einem Interessenkonflikt, denn die Verteilung des Es-
sens hngt von der Hierarchie ab. Das heißt, die Ranghçchsten erhalten zuerst die Gelegenheit
32
zum Fressen und die Rangniederen nur das, was brig bleibt. Erstaunlicherweise handeln aber
33 die meisten der rangniedrigen Tiere dennoch regelkonform. Sie zeigen also ein moralhnliches
34 Verhalten, bzw. sie haben ein Gewissen, das ihnen diese Handlungsweise vorschreibt. Aber
35 gelegentlich erliegen sie dennoch der Versuchung, die gefundenen Leckerbissen fr sich zu be-
halten und sie nicht çffentlich bekannt zu machen. Sie sind also dennoch frei. Werden sie bei
36 diesem Verhalten erwischt, dann werden sie sanktioniert, d. h. im einfachsten Fall verprgelt.
37 Sie bemhen sich ihrerseits, dies zu verhindern, indem sie verschieden komplexe Formen der
38 Tuschung ausfhren. Man kann eine solche Situation relativ leicht provozieren, indem man
eine verlockende Nahrung an einer Stelle des Geheges versteckt, die nur den rangniedrigen,
39 jngeren Gruppenmitgliedern zugnglich ist, z. B. in einem engen Rohr, das fr Grçßere
40 schwer zugnglich ist.
Zur Intentionalitt sozialer Gefhle 141

1 zugleich schon die zu erwartenden Sanktionen der Gemeinschaft im Blick hat.13


2 Dabei wird die Gemeinschaft zuerst als ein Akteur vorgestellt, der in der Vergan-
3 genheit gehandelt und bewertet hat. Wandelt sich die selbst-bewertende Scham
4 aber in ngstliche Scham, dann wird die Gemeinschaft in ganz anderer Weise als
5 Akteur gedacht: Sie droht nmlich jetzt, mit mir genau so zu verfahren, wie sie
6 bereits mit Anderen verfahren ist, die dasselbe getan haben. Die Anderen wer-
7 den mich beschmen, sanktionieren oder verprgeln. Hier wechselt der Modus
8 der Aktivitt der Gemeinschaft vom bloßen „Sehen“ zu einem sanktionierenden
9 Handeln, das ich befrchte und ngstlich erwarte. Und natrlich gilt dies auch
10 fr das Lob, das ich erwarte, wenn ich den Regeln entsprechend handle und dies
11 çffentlich wird. Hier suche ich die ffentlichkeit, von der ich gelobt werden
12 mçchte.
13
14 6. Der Gesichtspunkt der Primatologie – Kanzi schmt sich
15
16 Eine weitere, sehr junge Wissenschaft hat zu den Fragen nach dem Sinn der
17 Scham ebenfalls etwas beizutragen: die Primatologie. Ich beziehe mich hier auf
18 eine kurze Filmszene aus einer Dokumentation ber den bekannten sprachtrai-
19 nierten Bonobo Kanzi, der von Sue Savage-Rumbaugh in ihrem Projekt zur Er-
20 kundung der Kommunikationsmçglichkeiten von Primaten untersucht wurde.14
21
22 13 Dan Zahavi konstatiert in dieser Situation zu Recht die Beachtung eines Zukunftsas-

23 pekts, der im ursprnglichen Erleben noch nicht enthalten war (vgl. in diesem Sammelband, S.
&). In der selbst-bewertenden Scham ist ein Bewusstsein der gemeinschaftlich geteilten Nor-
24
men lebendig, die daher auch fr mich gelten. Sie richtet sich auf mich und meine Handlung,
25
die nicht regelkonform war, und ebenso auf die Gemeinschaft, die diese Normen errichtet hat,
26 und der ich mich zugehçrig fhle (daher akzeptiere ich diese Normen). In der selbst-bewerten-
27 den Scham sind alle diese Teilintentionen vorhanden und z. T. auch erfllt.
14 Der kurze Film ber Kanzi wurde bei einem Themenabend von arte zu Tierintelligenz
28
gesendet und einer BBC-Dokumentation ber „Animal minds“ entnommen. Weitere Informa-
29 tionen ber die Sprachforschungen von Sue Savage Rumbaugh finden sich unter http://kan-
30 zi.bvu.edu, ebenso wie bei zwei Videodokumentationen des japanischen staatlichen Fernse-
31 hens (NHK Documentary, Kanzi 1 und Kanzi 2).
Die Tatsache, dass Kanzi ein unter Menschen aufgewachsener Schimpanse ist, berhrt
32
eine lebhafte Methodendiskussion innerhalb der modernen Verhaltensforschung ber Prima-
33 ten: Darf man fr wahrhaft „wissenschaftliche“ Forschungen nicht nur Affen in the wild ver-
34 wenden, d. h. solche, die keinen erzieherischen Einfluss von Menschen erhalten haben? Micha-
35 el Tomasello vertritt diese Ansicht, dass nmlich nur solche Probanden zeigen, was eine
Spezies natrlicherweise „kann“ und nicht kann. Die Ergebnisse dieser Vorentscheidung sind
36 z. B., dass Primaten keine Zeichen gebrauchen kçnnen, dass sie nicht triangularisieren, dass sie
37 keine echte Imitation leisten kçnnen (mit einer Erfassung des wahren Zieles) usw. Viele Philo-
38 sophen stellt diese Auskunft zufrieden. Aber andererseits wissen wir, dass akkulturierte Affen
all das erlernen kçnnen, was den nicht-akkulturierten Affen fehlt. Dies zeigt, dass Tomasello
39 mit seiner methodischen Beschrnkung nicht mehr die Frage beantwortet, die uns eigentlich
40 interessiert. Wir wollen nmlich wissen, was Spezies berhaupt kçnnen, d. h. unter den denk-
142 Dieter Lohmar

1 Der kurze Filmausschnitt zeigt Sue Savage-Rumbaugh mit Kanzi und einer As-
2 sistentin bei einem Spaziergang durch den Wald. Sie begegnen dort einem Hund,
3 Kanzi strzt sich auf ihn, um ihn zu verprgeln, versetzt ihm auch einige Schl-
4 ge. Er wird dann aber von Savage-Rumbaugh an seiner Leine zurckgezogen.
5 Daraufhin maßregelt sie ihn streng, woraufhin er deutliche Anzeichen von
6 Scham zeigt und versichert, dass er sich in Zukunft wieder gut verhalten wird.
7 Dieses Filmdokument ist sehr erstaunlich, denn man „sieht“ deutlich, dass
8 der Bonobo Kanzi sich schmt: Er schaut weg, nach unten, vermeidet den Au-
9 genkontakt, schlgt die Augen nieder, verwendet Gesten (kratzt sich am Kopf),
10 die Unsicherheit und berlegen ausdrcken sollen. Er macht im Ganzen einen
11 schuldbewussten Eindruck, so dass wir kaum Zweifel daran haben, dass er auch
12 Schuldgefhle hat und Scham empfindet.15
13 Man kçnnte natrlich vermuten, dass wir hier der Gefahr des Anthropomor-
14 phismus erlegen sind und Eigenschaften und Verhaltensweisen, die nur Men-
15 schen haben kçnnen, auf Tiere bertragen, weil sie sich scheinbar hnlich verhal-
16
ten. Aber das Bedenken ist in diesem Fall unbegrndet, denn Kanzi kann sich
17
mit Hilfe des Lexigramms verstndlich machen und sogar knftiges Wohlverhal-
18
ten versprechen. Das Lexigramm ist eine computerbasierte Tafel, auf der sich
19
fast 200 mit abstrakten Symbolen (nicht mit Piktogrammen) versehene Tasten
20
befinden. Wenn man diese drckt, dann spricht das Lexigramm das entsprechen-
21
de englische Wort fr einen Gegenstand, eine Eigenschaft oder eine Ttigkeit
22
aus, z. B. „good“, „play“ oder „milk“. Mit Hilfe des Lexigramms drckt Kanzi
23
aus, dass er wieder rehabilitiert werden mçchte, und verspricht, in Zukunft wie-
24
der „gut“ zu sein.
25
26 bar gnstigsten Bedingungen. Und in dieser Hinsicht stellt sich heraus, dass das Meiste und
27 Wichtigste, das Tomasello als mçgliche Leistungen ausschließt, bei den so genannten akkultu-
28 rierten Affen mçglich ist. Und auch Tomasello weiß, dass akkulturierte Affen all das kçnnen,
was er der Spezies als ganzer absprechen mçchte. Diese scheinbar widersprchlichen Ergebnis-
29
se zeigen, dass Tomasellos Ziele in der Wissenschaft ganz andere sind als die Fragen, die uns
30 interessieren. Es lohnt sich daher ganz offensichtlich, in der experimentellen Primatologie und
31 der vergleichenden Psychologie auf den Effekt der Akkulturierung einzugehen und ihn mçg-
lichst auch in die Experimente miteinzubeziehen. Dies wird heute weitgehend im Namen der
32
Wissenschaftlichkeit vermieden. Aber schon der erste Blick auf die anthropologische Verfas-
33 sung des Menschen macht klar, dass wir Lebewesen sind, die in einem viel hçheren Maße ak-
34 kulturiert sind, als es Affen je werden kçnnen, denn unser soziales Lernen beginnt bereits in
35 einer sehr viel frheren Phase der Entwicklung (wegen der Frhgeburt des Menschen, dem so
genannten extrauterinen Frhjahr und der starken Neotonie), als dies bei Affen mçglich ist.
36 Die Aufdeckung der Differenzen bei den Leistungen akkulturierter Affen und solchen, die in
37 the wild aufgewachsen sind, kçnnen offensichtlich auch zum Verstndnis des Menschen beitra-
38 gen.
15 Heute weiß man auch aus experimentellen Studien, dass Schimpansen Scham empfinden
39 kçnnen, vgl. Mark A. Changizi, Zhang Qiong, Shimojo Shinsuke: Bare skin, blood and the
40 evolution of primate color vision. In: Biology Letters 2 (2006). 217 – 221.
Zur Intentionalitt sozialer Gefhle 143

1 Was wir in diesem kurzen Film sehen kçnnen, ist aber auch, in welch großem
2 Maße Kanzis Schamverhalten von seiner Trainerin Sue Savage-Rumbaugh indu-
3 ziert wird. Es handelt sich um ein geeignetes Beispiel fr den kommunikativen
4 Akt der Beschmung, d. h. der Erziehung von Kindern und auch domestizierten
5 Tieren (wie Hunden oder Pferden) mit Hilfe induzierter Schamgefhle. Besch-
6 mung ist eine relativ komplizierte hochstufige Leistung der Kommunikation
7 und zugleich ein gutes Beispiel fr komplexe, intersubjektive Konstitutionen.
8 Werfen wir einen Blick auf die einzelnen Elemente jenes Beschmungsaktes:
9 Savage-Rumbaugh schimpft verbal mit Kanzi. Das ist sinnvoll, denn er versteht
10 gesprochenes Englisch. Mit dem Lexigramm gibt sie ihm zustzlich die bewer-
11 tende Information: „Bad! Bad!“ Diese ußerung ist einerseits sprachlich, aber
12 auch symbolisch, denn die Bedeutung der abstrakten Zeichen auf dem Lexi-
13 gramm kennt Kanzi ebenfalls. Weiterhin wendet Savage-Rumbaugh zwei wichti-
14 ge Formen nicht-sprachlicher Kommunikation an, die Handlungs- und die
15 Blick-Kommunikation: Sie greift ihn an den Haaren und zieht seinen Kopf
16 leicht hin und her. Dies sieht auf den ersten Blick so aus, als sei es eine einfache
17 Sanktion, aber es ist zugleich ein Element der so genannten Handlungskommu-
18 nikation, zu der einerseits Handlungen gehçren, die der Andere nur sieht, aber
19 andererseits auch Manipulationen seines eigenen Kçrpers. Sie htte ihn z. B.
20 auch am Weggehen hindern kçnnen, wie dies oft bei Kindern notwendig ist, die
21 sich der demtigenden Situation der Kritik und Beschmung zu entziehen versu-
22 chen. Dann dreht sie seinen Kopf so, dass er sie ansehen muss, und erzwingt auf
23 diese Weise, dass auch die Blickkommunikation mçglich ist, deren wichtige und
24 eindringliche Funktion wir bereits im vorigen Kapitel bei dem durch eine Grup-
25 pe von Menschen induzierten Fremdschmen kennengelernt haben.
26 Savage-Rumbaugh zwingt also Kanzi, sie anzusehen und ihren empçrten
27
Blick in der ffentlichkeit zu ertragen.16 Der ganze Stil und die ffentlichkeit
28
der Beschmung zeugen von der Tatsache, dass Savage-Rumbaugh hier „als Ver-
29
treterin einer Gemeinschaft“ agiert und ihn beschmt, einer Gemeinschaft, die
30
sich einig ist hinsichtlich der mitgeteilten Normen.
31
Der empçrte, beschmende Blick zeigt zugleich, dass er eine „çffentliche Ent-
32
rstung“ ist und nicht nur persçnliche Wut oder Emotion. Er findet in der Ge-
33
genwart Anderer (Assistentin, Hund, Kameramann usw.) statt. Der empçrte
34
Blick betrifft zudem eine Handlung, welche die beschmende Person selbst
35
nicht geschdigt hat. Sie ist in dieser Hinsicht also unbeteiligt. Die Sanktion er-
36
folgt deshalb sachlich, mit einer teilnahmslosen „rechthaberischen“ Miene, d. h.
37
mit der ruhigen, abgemessenen Konsequenz der çffentlichen Bestrafung, die ei-
38
39 16 Man sieht auf dem Bildschirm zwar nur sie und Kanzi, aber auch ihre Assistentin ist mit

40 dabei, der Hund, der Kameramann und wahrscheinlich noch ein kleines Team weiterer Helfer.
144 Dieter Lohmar

1 gene Emotionen ausklammern soll. Mitgeteilt wird hier also keine Wut, sondern
2 Empçrung.17 In der çffentlichen Rge wird zudem gelernt, dass die Anderen
3 mich in der Beschmung gleichsam empçrt „ansehen“, wenn ich von der Grup-
4 pe durch einen ihrer Reprsentanten (und in dieser Funktion) beschmt und kri-
5 tisiert werde. Es ist dieser ganze Stil der Interaktion, die diese zu einer çffentli-
6 chen Rge durch einen Agenten der Gemeinschaft macht: „So etwas tut man
7 doch nicht!“18
8 In meinem Beitrag beabsichtigte ich zu zeigen, dass die Einbeziehung von
9 Evolutionstheorie, Primatologie, Psychologie und Sozialforschung in die phno-
10 menologische Analyse sozialer Gefhle einen guten Sinn hat. Weiterhin habe ich
11 den bedeutenden Anteil der Erkenntnis in dem Sinn der sozialen Gefhle heraus-
12 gestellt, der auch ihre Einfgung in das Denken ohne Sprache und die nicht-
13 sprachliche Kommunikation verstndlich macht. Außerdem ging es mir um die
14 Funktion des in großem Umfang nicht-sprachlichen Beschmungsaktes als eines
15 Elements nicht-sprachlicher Kommunikation, der den Inhalt gruppenspezifi-
16 scher Normen mitteilt. Denn Beschmungsakte sind fr das Verstndnis des Sin-
17 nes der Scham von zentraler Bedeutung.
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
17 Die Szene enthlt am Ende noch ein interessantes Element, das ich hier aber nicht nher
28
erlutern kann. Kanzi hat nmlich ein Ritual, das Versprechen begleitet, d. h. die Lektion ist
29
erst perfekt, wenn er Milch erhlt, die er aber nur bekommt, wenn er versprochen hat, in Zu-
30 kunft Wohlverhalten zu zeigen. Dies ist eine Art symbolischer Vertragsschluss auf die Zukunft
31 hin, der natrlich nur bei solchen Spezies einen guten Sinn hat, die Symbole fr die Zukunft
verwenden kçnnen.
32 18 Wir kçnnen uns natrlich auch fragen, ob die Methode der Beschmung auch bei anderen
33 Spezies funktioniert. Nach allem, was wir wissen, ist die Fhigkeit, Scham zu empfinden, bei
34 berwiegend solitr lebenden Spezies, wie z. B. Raubkatzen, eher fraglich. Aber bei Hunden
35 und anderen domestizierten Spezies, die schon eine lange Zeit mit Menschen zusammen leben
und die auch als Spezies selbst Kooperation zu gemeinsamen Zwecken betreiben (Jagd, Vertei-
36 digung), ist es wahrscheinlicher, dass sie Scham empfinden kçnnen. Spezies, die in Gruppen
37 leben und miteinander kooperieren, so dass hier eine gewisse Verpflichtung gegenber dem
38 Nutzen fr die Gemeinschaft vermutet werden darf, kommen hierfr aus prinzipiellen Erw-
gungen eher in Frage. Allerdings zeigen auch schon relativ einfache Lebewesen Zeichen koope-
39 rativen Verhaltens, wie z. B. stark soziale Vçgel und sogar Fische, die gemeinsame Verteidigung
40 und Hilfeleistungen betreiben.
1 Karl Mertens
2
3
4 Soziale Dimensionen der Normativitt
5
Perspektiven einer phnomenologischen Analyse handlungskonstitutiver und
6
sozialer Normen
7
8
9
10
11 Die Rede von Normen oder Normativitt im Kontext der Bezugnahme auf
12 Handlungen1 verweist auf Sollensansprche. Wenden wir uns diesen als philoso-
13 phisch Interessierte zu, dann geht es in der Regel um Geltungsfragen, genauer:
14 um das Problem der Begrndung des normativ Beanspruchten. Demgegenber
15 ist die phnomenologische Forschung, ihrem programmatischen Leitspruch ent-
16 sprechend, angehalten, die „Sachen selbst“ zu untersuchen. Ihr methodisches In-
17 teresse richtet sich auf die Analyse der phnomenalen Gegebenheit der jeweils
18 untersuchten Sache – d. h. auf die Weise, wie wir etwas ursprnglich erfahren.
19 Beschftigt man sich mit Normen in phnomenologischer Perspektive, tritt da-
20 her an die Stelle des Programms einer Rechtfertigung der Geltung prskriptiver
21 Stze die Beschreibung des Faktums einer normativen Erfahrung. Verwenden
22
Phnomenologen dabei den Begriff der Begrndung, dann geht es ihnen in der
23
Regel nicht um den argumentativen Ausweis der Berechtigung normativer Gel-
24
tungsansprche, sondern um eine Begrndung ganz anderer Art: um die analyti-
25
sche Nachzeichnung der sinnstiftenden Leistungen, die das Faktum normativer
26
Erfahrung konstituieren, oder auch um dessen genetische Rekonstruktion. Ob-
27
wohl beide Formen des Begrndens auseinanderzuhalten sind, verweisen die
28
mit ihnen verbundenen Fragen des quid iuris und quid facti wechselseitig aufein-
29
ander.
30
Auf der einen Seite erfordert die Rechtfertigung der Geltung normativer, un-
31
ser Handeln betreffender Ansprche an fundamentaler Stelle den Rekurs auf ein
32
33
Faktum: Die Rede von einem normativ Gesollten unterstellt, dass das geforder-
34
te Handeln im Unterschied zu einem Verhalten sich nicht bloß einstellt. Die
35 1 Dieser einschrnkende Zusatz ist fr die folgenden Ausfhrungen wichtig, weil die Rede
36 von Normen sowohl etymologisch als auch in alltglichen, wissenschaftlichen oder auch in
37 spezifisch philosophischen Zusammenhngen sehr unterschiedliche Bedeutungsaspekte auf-
38 weist (vgl. z. B. Klaus Steigleder: Norm. In: Petra Kolmer, Armin G. Wildfeuer [Hg.]: Neues
Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Bd. 2. Freiburg 2011. 1627 – 1638; Hasso Hof-
39 mann, Red.: Norm I. In: Joachim Ritter, Karlfried Grnder [Hg.]: Historisches Wçrterbuch
40 der Philosophie. Bd. 6. Darmstadt 1984. 906 – 910).

Phnomenologische Forschungen 2013 ·  Felix Meiner Verlag 2013 · ISSN 0342-8117


146 Karl Mertens

1 Adressaten eines Sollens werden vielmehr verstanden als Akteure, die sich prin-
2 zipiell dem Gesollten auch widersetzen kçnnen. Normative Ansprche werden
3 daher nur befolgt, insofern ihre Adressaten tun, was sie tun, weil sie den Gel-
4 tungsanspruch der jeweiligen Norm erfassen. Dieses Erfassen hat zwei Seiten:
5 Zum einen erkennen diejenigen, die einer Norm folgen, die Geltung des norma-
6 tiv Geforderten an. Dies wiederum setzt die Einsicht in die Berechtigung der
7 Gltigkeit einer Norm voraus. Sie argumentativ herzustellen, ist u. a. die Aufga-
8 be philosophischer Normenbegrndung. Um jedoch eine solche Einsicht ber-
9 haupt gewinnen zu kçnnen, bedarf es zum anderen und zunchst eines grundle-
10 genden Sinns fr die fragliche normative Dimension. Sich nach einer Norm zu
11 richten, aber auch, sie zu missachten, in Frage zu stellen, nicht zu akzeptieren
12 usw. – das vermçgen nur diejenigen, die einen Sinn fr die zur Debatte stehen-
13 den normativen Ansprche bereits mitbringen, die verstehen, was es heißt, dass
14 etwas z. B. von einer sozialen oder moralischen Norm geboten oder von einer
15 Rechtsnorm verboten ist.2 Diese Voraussetzung normativer Erfahrung ist ein
16 Faktum.3
17 Auf der anderen Seite besteht zwischen Faktum und Geltung im Falle der
18 praktischen Sphre auch die umgekehrte Beziehung. Um diese soll es im ersten
19 Teil der folgenden berlegungen gehen, in dem ich dafr argumentieren mçch-
20 te, dass das Faktum bestimmter Handlungen selbst im Kontext eines kommuni-
21 kativ-sozialen Konstitutionsprozesses normativ bestimmt ist. Normativitt ist,
22 so meine These, eine Handlungen als Handlungen inhrente Dimension. Im An-
23 schluss daran werde ich in einem zweiten Teil auf die Eigentmlichkeit spezi-
24
2 Diese Voraussetzung ist von grundlegender Bedeutung, insofern als sie die Mçglichkeit
25
erçffnet, einen wesentlichen Unterschied im Bereich des (menschlichen) Verhaltens zu verste-
26 hen, der in unterschiedlicher Terminologie markiert werden kann. So unterscheidet etwa Max
27 Weber ,Regeln‘ als „generelle Aussagen ber kausale Verknpfungen“ von ,Regeln‘ bzw. ,Nor-
28 men‘ als „generelle(n) Aussage(n) […] eines (logischen, ethischen, sthetischen) Sollens“. „Das
,Gelten‘ der Regel bedeutet im zweiten Fall einen generellen Imperativ, dessen Inhalt die
29
Norm selbst ist. Im ersten Fall bedeutet das ,Gelten‘ der Regel lediglich den ,Gltigkeits‘-An-
30 spruch der Behauptung, daß die jener entsprechenden faktischen Regelmßigkeiten in der em-
31 pirischen Wirklichkeit ,gegeben‘ oder aus dieser durch Generalisierung erschließbar seien.“
(Max Weber: R. Stammlers „berwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung
32
(1907). In: Ders.: Gesammelte Aufstze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. von Johannes Winckel-
33 mann. Tbingen 71988. 291 – 359. 322 f. In die gleiche Richtung, wenn auch begrifflich anders
34 gefasst, weist die Differenzierung zwischen einem bloß konvergenten Verhalten einerseits und
35 einem von einer Regel geforderten Verhalten, d. h. eigentlich gesollten Handlungen, anderer-
seits bei Herbert Lionel Adolphus Hart: The concept of law (1961). With a postscript edited
36 by Penelope A. Bulloch and Joseph Raz. Oxford 21994. 8 ff. Bes. 9 f.
3 Die grundlegende Bedeutung dieses Faktums fr den Anspruch des Normativen betont
37
38 z. B. Immanuel Kant in seinen Ausfhrungen zur Rolle des Sittengesetzes als eines Faktums
der Vernunft. (Vgl. Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. In: Ders.: Kants gesam-
39 melte Schriften. Hrsg. von der Kçniglich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. V.
40 Berlin 1908/13. 31.)
Soziale Dimensionen der Normativitt 147

1 fisch sozialer Normen eingehen, die Sollensansprche fr den Bereich des (be-
2 reits konstituierten) Handelns erheben und die im Kontext einer Beschftigung
3 mit sozialen Dimensionen der Normativitt eine entscheidende Bedeutung ha-
4 ben.
5
6 1. Handlungskonstitutive Normen
7
8 Normativitt ist keine dem Handeln nachgeordnete Dimension, mit der der be-
9 reits etablierte Bereich des Handelns nachtrglich als Gegenstand prskriptiver
10 Ordnungen artikuliert wird. Der Bezug auf Normen ist vielmehr fr die Bestim-
11 mung von Handlungen als Handlungen konstitutiv.4
12 Grob gesagt, machen wir einen Unterschied zwischen zwei Weisen, wie wir
13 in die Welt des Geschehens und der Ereignisse involviert sein kçnnen.5 Auf der
14 einen Seite kann uns etwas widerfahren; d. h. wir sind verstrickt in Geschehnis-
15 se, die wir nicht selbst hervorgebracht haben. Auf der anderen Seite kçnnen wir
16 in der Welt ttig sein, insofern wir ein Geschehen selbst hervorbringen und Welt-
17 zustnde verndern. Dem Geschlagenwerden steht etwa das Schlagen gegen-
18 ber. Innerhalb des Bereichs unseres Tuns bzw. Ttigseins unterscheiden wir
19 weiter zwischen einem Tun, dessen Urheber wir sind, das sich aber unserer Kon-
20 trolle entzieht, und einem Tun, das unserer Verfgbarkeit untersteht. Wer jeman-
21 den beim Fußball mit der Hand schlgt, whrend er in einer dynamischen Spiel-
22 situation nach dem Ball tritt, tut etwas anderes als derjenige, der einen Schlag
23 ausfhrt, der den Gegenspieler treffen soll. Terminologisch kçnnen wir diese
24 Differenz ansprechen, indem wir die Rede von einem Verhalten bzw. bloßen Ver-
25 halten dem Handeln oder der Handlung gegenberstellen. In diesem Zusammen-
26 hang berufen wir uns auf Konzepte wie ,Absicht‘, ,Wille‘ usw. Auf Grund sei-
27 ner Absichtlichkeit bzw. Willentlichkeit, so heißt es dann, erweist sich das
28 Handeln als ein Phnomen, das ber ein bloßes Verhalten in wesentlichen Hin-
29 sichten hinausgeht. Handeln ist demnach ein absichtliches oder gewolltes Verhal-
30 ten. Das ist geradezu ein Gemeinplatz, der in unterschiedlicher Terminologie
31 und in verschiedenen theoretischen Kontexten die analytische und die phnome-
32
33
34
35
36 4 Die im Folgenden ausgefhrten berlegungen habe ich in Grundzgen skizziert in: Karl

37 Mertens: Soziale und individuelle Aspekte produktiven und kreativen Handelns. In: Roland
38 Breeur, Ullrich Melle (Hg.): Life, subjectivity & art. Essays in honor of Rudolf Bernet. Dord-
recht 2012. 255 – 276. 260 ff.
39 5 Zu den folgenden Unterscheidungen vgl. Neil Roughley: Wanting and intending. Ele-

40 ments of a philosophy of practical mind (Dordrecht, im Erscheinen).


148 Karl Mertens

1 nologische Handlungstheorie des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts


2 durchzieht.6
3 Solche terminologischen berlegungen wirken in ihrer abstrakten Form
4 recht technisch. Schauen wir jedoch auf paradigmatische Situationen, in denen
5 wir uns konkret ber Handlungen verstndigen, dann zeigt sich, dass die skiz-
6 zierte handlungstheoretische Reflexion den wesentlichen Punkt unserer alltgli-
7 chen Rede ber Handlungen trifft. Nehmen wir das Fußballbeispiel: Hier ist
8 der skizzierte Unterschied ohne Frage spielrelevant. Whrend der unabsichtli-
9 che Schlag in der Regel zu keiner Spielunterbrechung fhrt, sprechen wir bei
10 einem beabsichtigten Schlag von einem eigenen Handlungstyp, dem Foul, das
11 heißt: von einer unfairen Spielhandlung, die je nach Situation mit Freistoß oder
12 Strafstoß und bei besonderer Schwere mit gelber oder roter Karte geahndet
13 wird. Aber auch außerhalb solcher durch Spielregeln bestimmten Kontexte ist
14 die Unterscheidung zwischen unabsichtlichem Verhalten und absichtlichem
15 Handeln von entscheidender Bedeutung. Handlungen werden als Handlungen
16 in der Regel berhaupt nur in Situationen thematisch, in denen ihre Absichtlich-
17
keit besonders betont oder auch vehement bestritten wird. Hufig entsteht dann
18
ein Streit darber, ob ein bloßes Verhalten oder ein Handeln vorliegt – und ggf.,
19
ob dies oder jenes getan wurde. Ist beispielsweise das geruschvolle Trinken des
20
Kindes ein Protest gegen die elterliche Ermahnung bei Tisch, oder ist, wie das
21
Kind behauptet, schlicht der Kakao zu heiß? Geht es also um eine absichtliche
22
Handlung, das Schlrfen, oder um eine unbeabsichtigte Reaktion auf den zu hei-
23
ßen Kakao? Und ist das furiose Klavierspiel des Pianisten nur dies, oder will
24
dieser damit gegen die laute Festgesellschaft seines Nachbarn protestieren bzw.
25
sich einfach nur einer Ttigkeit widmen, bei der ihn der nachbarschaftliche
26
Lrm nicht stçrt? Hier geht es um konkurrierende, allerdings durchaus auch mit-
27
einander kompatible Handlungsbeschreibungen.7
28
Szenen dieser Art machen uns sensibel fr Situationen, in denen wir uns ber
29
unser Tun verstndigen. Haben wir es mit einem bloßen (und insofern ggf. auch
30
entschuldbaren) Verhalten oder einem Handeln, mit dieser oder jener Handlung
31
32
zu tun? Wie auch immer wir solche Fragen entscheiden, beurteilt wird hier ein
33
Tun, das in bestimmten Hinsichten auffllig ist; es ist strittig und bedarf der Kl-
34
rung. Dabei verweisen wir auf Kontexte, in die das Tun eingeordnet und inner-
35 6 Der Rekurs auf Absichten oder deren begriffliche quivalente (wie Wille oder Wollen)
36 in der Analyse des menschlichen Handelns kann als Gemeinsamkeit zwischen so verschiede-
37 nen Positionen wie denjenigen von Pfnder, Husserl oder Reiner, Anscombe, Melden oder
38 von Wright, Davidson, Brandt, Kim oder auch Searle angesehen werden.
7 Im letzten Fall wre die Handlung mit Hilfe von Anscombes drittem Absichtstyp zu
39 analysieren. Siehe Gertrude Elizabeth Margaret Anscombe: Intention (1957). Oxford 21963.
40 § 1: Jemand spielt Klavier mit der Absicht, gegen den Lrm der Nachbarn zu protestieren o. .
Soziale Dimensionen der Normativitt 149

1 halb derer es mit anderem verglichen, herausgehoben und genauer bestimmt


2 wird. Es geht dabei nicht nur um die Frage, was getan wurde, sondern insbeson-
3 dere auch um eine Bestimmung von Verantwortlichkeiten: Ist jemand fr das,
4 was er tut, verantwortlich oder nicht? Ist ihm das in dieser oder jener Weise qua-
5 lifizierte Tun als Handlung zurechenbar oder nicht? Solche Fragen beantworten
6 wir gewçhnlich nicht fr uns allein, sondern in der Verstndigung mit anderen. –
7 Jedes Handeln verweist konstitutiv auf Zuschreibungssituationen, in denen wir
8 uns mit anderen ber das, was wir tun, verstndigen.
9 Bedingung der Mçglichkeit solcher Zuschreibungen ist dabei der Rekurs auf
10 handlungskonstitutive Normen. Ich mçchte das ein wenig erlutern: Wo gehan-
11 delt wird, da wird nicht berhaupt gehandelt, sondern etwas getan. Mag es auch
12
mitunter schwer sein zu sagen, ob berhaupt gehandelt wurde und was genau
13
die fragliche Handlung ist, sobald wir ein Tun als Handlung auszeichnen, zeich-
14
nen wir es in bestimmten Hinsichten aus oder bemhen uns zumindest, es als ein
15
so und so bestimmtes Handeln zu verstehen. Handlungen sind als Handlungen
16
spezifiziert, als ,Schlrfen‘, ,Klavierspielen‘, ,ein Lied singen‘, ,ein Buch lesen‘
17
oder ,Einparken‘. In dieser Bestimmtheit werden Handlungen gegenber dem
18
bloßen Verhalten, aber auch voneinander abgegrenzt: Wer z. B. ein Lied singt,
19
schreit nicht vor Schmerzen. Die Bestimmtheit einer Handlung ist jedoch keine
20
21
bloß deskriptive; sie ist vielmehr normativ zu verstehen, insofern eine Handlung
22
Regeln impliziert, denen Handelnde folgen mssen, wenn ihnen genau diese
23 (und keine andere) Handlung zugeschrieben wird.8
24 ber die Regeln, denen wir folgen mssen, damit eine bestimmte Handlung
25 zustande kommt, befinden wir aus prinzipiellen Grnden nicht allein. Regelfol-
26 gen ist eine çffentliche Angelegenheit.9 Der Grund dafr ist, wie Ludwig Witt-
27 genstein und spter Saul A. Kripke gezeigt haben, dass wir im Rekurs auf ein
28
8 Vgl. hierzu auch Frederick Stoutland: Why are philosophers of action so anti-social? In:
29
Lilli Alanen, Sara Heinmaa, Thomas Wallgren (Hg.): Commonality and particularity in ethi-
30 cs. Houndmills 1997. 45 – 74; dt.: Warum sind Handlungstheoretiker so antisozial? In: Bern-
31 hard Schmid, David P. Schweikard (Hg.): Kollektive Intentionalitt. Eine Debatte ber die
Grundlagen des Sozialen. Frankfurt a.M. 2009. 266 – 300. Stoutland kritisiert die kausale Theo-
32
rie des Handelns, die auf Grund ihrer wesentlich individualistischen Orientierung das soziale
33 Handeln nicht befriedigend zu erklren vermag. Darber hinaus ist die kausale Erklrung aber
34 auch fr die Analyse individuellen Handelns unangemessen. Zur Begrndung verweist Stout-
35 land auf den fr Handeln als intentionales Verhalten konstitutiven normativen Charakter.
Denn „Intentionalitt konstituiert sich […] durch die Anwendbarkeit von Normen: Verhalten
36 ist insofern intentional, als es durch Normen der Rationalitt geregelt ist, und diese sind keine
37 Kausalgesetze, sondern komplexe Prinzipien praktischer Vernunft.“ (Stoutland: Handlungs-
38 theoretiker. 288.)
9 Vgl. zum Folgenden Peter Winch: The idea of a social science and its relation to philoso-
39 phy (1958). London 2008; Ulrich Baltzer: Gemeinschaftshandeln. Ontologische Grundlagen
40 einer Ethik sozialen Handelns. Freiburg 1999. 204 ff.
150 Karl Mertens

1 nicht sozial verankertes Bewusstsein letztlich jedes Verhalten als mit einer Regel
2 bereinstimmend verstehen kçnnten. Wittgenstein schreibt: „Darum ist ,der Re-
3 gel folgen‘ eine Praxis. Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel fol-
4 gen. Und darum kann man nicht der Regel ,privatim‘ folgen, weil sonst der Re-
5 gel zu folgen glauben dasselbe wre, wie der Regel folgen.“10 Erst die soziale
6 Kommunikation ber Handlungen limitiert den Bereich des fr die Ausfhrung
7 von Handlungen eines bestimmten Typs geforderten zulssigen Regelfolgens.
8 Mehr noch: Ohne die soziale Kontrolle und ggf. Korrektur unseres Verhaltens
9 htten wir gar keinen Sinn, gar kein Bewusstsein dafr, was es heißt, eine Hand-
10 lung auszufhren. Korrekturen sind daher konstitutiv fr die Erfahrung des
11 Handlungscharakters eines Verhaltens. Denn durch die Korrektur wird ein Ver-
12 halten als Fall eines Handelns individuiert, das bestimmten normativen Anspr-
13
chen zu gengen hat.11 Handlungen kommen nur dann zustande, wenn das Ver-
14
halten bestimmten Forderungen entspricht. Im Unterschied zur bloß faktischen
15
Regelmßigkeit eines Verhaltens, die lediglich konstatiert und beschrieben wer-
16
den kann, machen Handlungskorrekturen deutlich, dass Handelnde, die etwas
17
Bestimmtes tun, Forderungen entsprechen mssen, die sie prinzipiell auch ver-
18
letzen kçnnen. Insbesondere in der Thematisierung tatschlicher oder mçgli-
19
cher Regelverletzungen wird daher der Spielraum der Handelnden zuschreibba-
20
ren Handlungen expliziert.
21
Regelverletzungen und ihre Korrekturen werden paradigmatisch in Lern-
22
und Lehrsituationen thematisch. Wer z. B. ein Lied singt, muss dafr akustisch
23
wahrnehmbare Tçne produzieren. Bloße Mundbewegungen wrden wir nicht
24
25
als einen Fall von Singen akzeptieren. Einem Kleinkind, das mit der Behaup-
26
tung, es singe, lediglich die Lippen bewegt, wrden wir vielleicht amsiert zu-
27 schauen. Sofern uns eine Erziehungsverantwortung obliegt, wrden wir darber
28 hinaus dem Kind jedoch zu verstehen geben, dass es zwar einen Snger in seinen
29 Bewegungen imitiere, nicht aber singe. Dafr msse es schon hçrbare Laute her-
30 vorbringen.
31 Schreiben wir einem Akteur ein bestimmtes Verhalten als Handeln zu, dann
32 nehmen wir mit der Verwendung intentionaler Begriffe wie ,beabsichtigt‘, ,pro-
33 vokant‘, hinterhltig‘ usw. auf etwas Bezug, das auch aus der Akteurperspektive
34 prinzipiell akzeptierbar sein muss. Das ist so, weil Handlungszuschreibungen
35 auch auf die Erfahrung von Akteuren Rcksicht nehmen mssen. So gibt es in
36 der Perspektive des Ttigen einen wesentlichen Unterschied zwischen einem Re-
37
38
10 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a.M. 1971. § 202.
11 Baltzer: Gemeinschaftshandeln. 213: „Die Korrektur verndert den Status der zu korri-
39 gierenden Handlung, denn durch die Korrektur wird die vorangegangene Handlung als Fall
40 der einzubenden Regel individuiert.“
Soziale Dimensionen der Normativitt 151

1 aktionsverhalten und einer von ihm kontrollierten Ttigkeit. Auch derjenige,


2 der sich reflexartig verhlt, erlebt sein Verhalten; die Erfahrung des Handelnden
3 ist davon jedoch in wesentlichen Hinsichten unterschieden. Handlungen sind
4 Gegenstand einer besonderen Aufmerksamkeit, die wir dem Spielraum dessen,
5 was wir kontrollieren, gestalten und ggf. auch initiieren kçnnen, zukommen las-
6 sen; auf sie beziehen sich mçgliche Deliberationen und Rationalisierungen; ih-
7 nen korrespondiert ein Bewusstsein der Akteure fr die Berechtigung von Forde-
8 rungen, wie man etwas zu tun hat, fr die Zulssigkeit von Verantwor-
9 tungsfragen oder die Unterstellung, dass jemand etwas anderes htte tun bzw.
10 die Handlung htte unterlassen kçnnen. Wo jemand, dem wir eine Handlung
11 bzw. diese oder jene Absicht zuschreiben, Widerstand oder Widerspruch ußert,
12 gibt es in der Regel schwerwiegende Grnde, die Zuschreibung noch einmal zu
13 berprfen. – Wer einem Akteur Absichten zuschreibt, unterstellt daher, dass
14 dieser Korrekturen oder Besttigungen seines Verhaltens aufnehmen oder auch
15 verweigern kann, dass er seine Aufmerksamkeit auf etwas zu richten vermag,
16 das er tun und unterlassen, so oder so gestalten kann.12 Nur deshalb kann eine
17 Handlung im zuvor bezeichneten Sinne als Regelfolgen verstanden werden und
18 Gegenstand normativer Forderungen sein.
19 Gleichwohl ist die Zuschreibung von Absichten keine Angelegenheit, ber
20 die in letzter Instanz nur die fraglichen Akteure selbst befinden kçnnen. Bei ei-
21 nem Foul im Fußball werden wir es auf der Basis der offensichtlichen Fakten
22 kaum durchgehen lassen, wenn jemand zu seiner Entschuldigung vorbringt, er
23 habe bloß den Ball spielen wollen. Das, was wir wollen und beabsichtigen, ist
24 nicht einfach nur unsere Privatsache, sondern etwas, das wir in der Kommunika-
25 tion mit anderen herausstellen. Das gilt auch fr Bereiche, bei denen (anders als
26 im gerade genannten Beispiel) ein spezifisch institutioneller Rahmen fehlt. Kin-
27
der etwa erlernen, was es heißt, diese oder jene Absicht zu haben, indem andere,
28
im Normalfall zunchst ihre Eltern, auf ihr Verhalten reagieren und ihnen eine
29
bestimmte Absicht zuschreiben. Holm Tetens gibt dafr ein Beispiel, das in der
30
Sache angemessen ist, auch wenn es vielleicht in seiner Ausfhrung etwas artifi-
31
ziell erscheint: „Ein Kind schreit. Ein Erwachsener sagt halb zu sich, halb zu
32
dem Kind und den anderen anwesenden Erwachsenen: ,Ach, hast du Hunger?
33
Du willst sicher die Flasche. Es ist schon lange her, daß du etwas getrunken
34
hast.‘ Der Erwachsene erklrt sich, den anderen und tendenziell auch dem Kind
35
das Verhalten des Kindes, indem er dem Kind Kçrpergefhle und Wnsche zu-
36
schreibt. Der Erwachsene reicht dem Kind die Flasche, aber das Kind wehrt sich
37
und schreit weiter. Der Erwachsene: ,Willst du auf den Schoß? Komm her!‘ In
38
39 12 Vgl. hierzu auch die Bestimmung des intelligenten Handelns bei Gilbert Ryle: The con-

40 cept of mind (1949). With an introduction by Daniel C. Dennett. Chicago 2000. Chapter 2.
152 Karl Mertens

1 der Frage schreibt der Erwachsene dem Kind einen Wunsch zu, der besser zum
2 tatschlichen Verhalten des Kindes passt als seine erste Vermutung.“ Und so
3 geht es noch ein wenig weiter, bis der Erwachsene weniger darauf aus ist, den
4 Wunsch des Kindes herauszubekommen, als vielmehr, ihm klarzumachen, dass
5 mit dem Beabsichtigen, Wollen und Wnschen (terminologisch bleiben wir hier
6 im Alltag etwas vage) bestimmte Konsistenzverpflichtungen verbunden sind. So
7 macht der Erwachsene dem Kind deutlich, dass es, so Tetens, nicht „wild zwi-
8 schen Wnschen hin- und herpendeln“ kann.13
9 Das Beispiel verdeutlicht, dass Absichten und die mit ihnen verbundenen
10 Handlungsbestimmungen erstens zugeschrieben werden. Außerdem mssen sie
11 zweitens minimalen Konsistenzbedingungen Genge tun. Ich kann nicht zu-
12 gleich und im selben Sinne x und nicht x beabsichtigen bzw. tun. Drittens muss
13 die Bestimmung von Absichten und Handlungen zu dem mit ihnen verknpften
14 Verhalten passen: Sagt mir jemand, dass sein Winken, das ich auf mich bezogen
15 habe, eigentlich einem Taxi galt, werde ich in Situationen, die fr solche Hand-
16 lungsumdeutungen typisch sind, meine erste Handlungsbeschreibung korrigie-
17 ren. Zeigt mir jemand jedoch einen Vogel und erklrt mir anschließend, er habe
18 mich begrßen wollen, werde ich diese Handlungsbeschreibung kaum akzeptie-
19 ren. Intentionalitts- und Verantwortungszuschreibungen stehen demnach prin-
20 zipiell auf dem Prfstand und kçnnen aus der Erste-, aber auch aus der Dritte-
21 Person-Perspektive korrigiert werden. Dabei setzt die Verstndigung ber unser
22 Tun die reflexive Fhigkeit voraus, auf ein Verhalten zurckzukommen und es
23 zum Gegenstand einer kritischen Bewertung zu machen. Kritisch bewerten lsst
24 sich ein Verhalten aber nur dann, wenn es kein in sich sinnloses, rein naturales
25 Geschehen ist, sondern noch vor seiner expliziten Bestimmung bereits, wie sich
26 im Anschluss an Merleau-Ponty ausfhren lsst, als sinnhaft strukturiert erfah-
27 ren wird.14 Viertens muss die Zuschreibung einer Absicht und der durch sie spe-
28 zifizierten Handlung bestimmten situativen Bedingungen entsprechen. Trompe-
29 te spielen wollen kann man nicht auf einer Geige, und die Absicht, Ski zu laufen,
30 passt nicht zum sommerlichen Wattenmeer. – Die Zuschreibung von Handlun-
31 gen und Absichten15 ist daher kein Akt sozialer Willkr. Die genannten Bedin-
32
33 13 Holm Tetens: Geist, Gehirn, Maschine. Stuttgart 1994. 14.
34 14 Vgl. zu dieser Verwendung des Sinnbegriffs Maurice Merleau-Ponty: Phnomnologie
35 de la perception. Paris 1945; dt.: Phnomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Franzçsischen
bers. u. eingefhrt durch eine Vorrede von Rudolf Boehm. Berlin 1966.
36 15 In den vorigen Ausfhrungen wurde zwischen der Verwendung der Begriffe ,Absicht‘

37 und ,Wille‘ nicht unterschieden. Eine weitere Differenzierung ist hier jedoch sinnvoll. So kçn-
38 nen ,Absicht‘ und ,Wille‘ etwa in folgender Weise terminologisch voneinander abgegrenzt wer-
den: Whrend die Verwendung von Begriffen des Beabsichtigens auf eine nur momentane
39 handlungsleitende Intentionalitt beschrnkt sein kann, impliziert die Rede von Wollen, Wille
40 usw. eine gewisse zeitliche Permanenz und ist mit intentionalen Anforderungen verbunden,
Soziale Dimensionen der Normativitt 153

1 gungen bestimmen ihrerseits vielmehr den normativen Rahmen eines berechtig-


2 ten Zuschreibens. Insofern werden Zuschreibungen selbst als Handlungen spezi-
3 fiziert.
4 Es ist demnach das soziale Feedback, das verbale oder auch nicht verbale An-
5 schlusshandeln,16 das sowohl den Typ einer Handlung als auch die Spezifizie-
6 rung der ihr korrespondierenden intentionalen Qualifikation bestimmt. Hand-
7 lungen und ihre intentionalen Korrelate sind Produkte einer sozialen
8 Verstndigung.17 Dementsprechend haben Stze ber Handlungen und Absich-
9 ten, wie Herbert Lionel Adolphus Hart gezeigt hat, nicht den Status deskripti-
10 ver Stze. Es handelt sich vielmehr um askriptive Stze. Mit Stzen wie „A tat x“
11 gestehen wir etwas, geben wir Verpflichtungen zu, erheben Anklagen, schreiben
12 Verantwortlichkeit zu oder fechten solche Zuschreibungen an. Die Weise, in der
13 bestimmte Handlungen die unseren sind, ist daher nach Auffassung Harts mit
14 der Weise vergleichbar, wie Eigentum das unsere ist. Zwar fllt die Verantwor-
15 tung fr Handlungen nicht wie die Zuschreibung von Eigentum unter ein positi-
16 ves Gesetz; unser Handlungskonzept teilt mit dem Konzept des Eigentums je-
17 doch den sozialen Charakter, insofern unser Verstndnis von Handlungen
18 logisch abhngig ist von sozial akzeptierten Regeln des Verhaltens.18 Im Sinne
19 der in diesem Teil erluterten askriptivistischen Auffassung zeichnen wir in so-
20 zialen Kommunikationssituationen unter Berufung auf handlungskonstitutive
21 Normen bestimmte Formen des Verhaltens als Handlungen aus.19
22
23
24 die letztlich personale Trger des Willens voraussetzen. Zu nennen ist in diesem Zusammen-
25 hang etwa der Wille, jemanden zu heiraten oder einen bestimmten Beruf zu erlernen. Auch fr
die korrekte Verwendung des so verstandenen voluntativen Vokabulars lassen sich normative
26 Ansprche explizieren.
27 16 Zum Begriff des Anschlusshandelns vgl. Baltzer: Gemeinschaftshandeln. Bes. 193 ff. Balt-

28 zer spricht von Anschlusshandlungen in einer modifizierenden Anknpfung an Luhmann


(ebd. 24, 80 ff.).
29 17 Dabei macht es einen Unterschied, ob die Handlungsverstndigung zwischen Akteuren

30 von verschiedener Handlungskompetenz (also in klassischen Lehrer-Schler-, Eltern-Kind-


31 Situationen) oder zwischen (hinsichtlich ihrer Handlungskompetenz) gleichgestellten Akteu-
ren erfolgt. Geht es im ersten Fall um die Vermittlung von bereits etablierten Handlungsregeln,
32
so zielt die Verstndigung im zweiten Fall nicht selten darauf ab, die Regeln, denen Handelnde
33 folgen bzw. zu folgen haben, genauer zu ermitteln bzw. allererst auszumachen. In beiden Hin-
34 sichten zeigt sich allerdings die wesentlich soziale Dimension der Handlungszuschreibung
35 und ihrer normativen Implikationen.
18 Herbert Lionel Adolphus Hart: The ascription of responsibility and rights. In: Procee-
36 dings of the Aristotelian Society 49 (1949). 171 – 194. 187 ff.
19 Die vorigen berlegungen stellen die Bedeutung interpersonaler Verstndigungssituatio-
37
38 nen als Bedingung fr Handlungszuschreibungen heraus. Die interpersonale Kommunikation
ist wiederum abhngig von geschichtlich-sozialen bzw. kulturellen Situationen, die Spielru-
39 me fr Mçglichkeiten interpersonaler Verstndigung ber unser Tun vorgeben. Diese kçnnen
40 ihrerseits in interkulturellen Verstndigungssituationen fraglich werden, etwa wenn ein in be-
154 Karl Mertens

1 2. Soziale Normen
2
3 Von handlungskonstitutiven Normen zu unterscheiden sind soziale Normen,
4 die die Ausfhrung bestimmter Handlungen gebieten bzw. verbieten oder sich
5 auf bestimmte Aspekte bereits konstituierter Handlungen, wie beispielsweise
6 auf den Modus eines Handlungsvollzugs, beziehen.20 Handlungskonstitutive
7 Normen betreffen das Was des Handelns, soziale Normen regeln das Wie und
8 Wann bestimmter Handlungen. Bestimmen die ersten den jeweiligen Handlungs-
9 typ, so geht es sozialen Normen um die Angemessenheit des Handelns. Dabei
10 bernehmen sie eine die gesellschaftliche Ordnung stabilisierende Funktion.
11 Die Weise, in der soziale Normen diese Funktion erfllen, grenzt sie zugleich
12 von anderen Formen der Handlungsregulierung ab. Soziale Normen zeichnen
13 sich vor allem dadurch aus, dass diejenigen, die soziale Normen verletzen, mit
14 Sanktionen zu rechnen haben. In dieser Hinsicht unterscheiden sich soziale Nor-
15 men wesentlich von reinen Konventionen oder bloßen Bruchen und Traditio-
16 nen. Im Gegensatz zu institutionellen Normen sind jedoch die Sanktionen, mit
17 denen Sozietten die bertretung sozialer Normen ahnden, nicht durch berpar-
18 teiliche Instanzen abgesichert. Insofern gibt es keine festgelegten Mechanismen,
19 mit denen die Befolgung sozialer Normen durchgesetzt werden kann. Anders
20 als moralische Normen sind soziale Normen schließlich wesentlich von spezifi-
21 schen sozialen, kulturellen und historischen Kontexten abhngig und ihrem im-
22 manenten Verstndnis nach auf Wandlung angelegt. – Die folgenden berlegun-
23 gen versuchen, diese Thesen genauer zu erlutern. Um die Ausfhrungen
24 zugleich auf eine anschaulichere Grundlage zu stellen, sollen insbesondere
25 Handlungen des Begrßens und Verabschiedens als Beispiele herangezogen wer-
26 den.21 Beginnen werde ich mit einer Skizze der handlungskonstitutiven Bedin-
27
gungen von Gruß- und Abschiedsakten, aus der sich im Weiteren ergibt, warum
28
diese Handlungen fr eine Regelung durch soziale Normen besonders sensibel
29
sind (1). Es soll dann gezeigt werden, inwiefern fr Gruß- und Abschiedshand-
30
lungen soziale Normen gelten, und welche spezifische gesellschaftliche Funkti-
31
on sozialen Normen zukommt (2). Abschließend wird der Charakter sozialer
32
33 stimmten Kulturen etabliertes Tun im interkulturellen Kontext Irritation, Befremden oder gar
34 Entsetzen hervorruft.
20 Mitunter kçnnen Modalitten eines Handelns auch handlungskonstitutiv sein. So unter-
35
scheiden sich z. B. Joggen und Walken oder Abfahrt- und Langlaufski durch bestimmte situati-
36 ve und modale Merkmale, die das jeweilige Tun spezifizieren. Die im Folgenden thematischen
37 Normen sind davon zu unterscheiden.
21 Vgl. zum Folgenden ausfhrlich Erving Goffman: Das Individuum im çffentlichen Aus-
38
tausch. Mikrostudien zur çffentlichen Ordnung (1971). Frankfurt a.M. 1974. 111 ff., sowie –
39 insbesondere zum Verabschieden – Manfred Sommer: Sammeln. Ein philosophischer Versuch.
40 Frankfurt a.M. 1999. 252 ff.
Soziale Dimensionen der Normativitt 155

1 Normen in Abgrenzung von anderen praktischen Verbindlichkeiten weiter ex-


2 pliziert (3).
3 (1) Wie fr alle Handlungen gelten auch fr Begrßen oder Verabschieden
4 handlungskonstitutive Bedingungen, d. h. Bedingungen, ohne die die entspre-
5 chenden Handlungen gar nicht ausgefhrt werden kçnnen. Als genuin soziale
6 Handlungen setzen Begrßungs- und Abschiedshandlungen notwendig soziale
7 Situationen voraus, d. h. Situationen, in denen Menschen ihr Verhalten am Ver-
8 halten anderer orientieren.22 Genauer gesagt erfordern Begrßen und Verabschie-
9 den geteilte soziale Situationen, also Situationen, in denen Menschen einander
10 begegnen und sich in ihrem Tun wechselseitig aufeinander beziehen. Begrßung
11 und Abschied schaffen fr menschliche Begegnungen einen Rahmen. Der Begr-
12 ßungsakt impliziert gegenseitige Anerkennung und bringt unter anderem, wie
13
Goffman herausstellt, Freude und Aggressionsverzicht zum Ausdruck.23 Leitet
14
die Begrßung eine soziale Interaktion ein, so wird das Miteinander mit dem
15
Abschied beendet. Dabei muss Prekres zu Wege gebracht werden. Denn das
16
Ende der Interaktion ist so herbeizufhren, dass der Abschied nicht als eine das
17
Miteinander aufkndigende Abwendung erscheint. Im Verabschieden muss da-
18
her das Kunststck vollbracht werden, das sozial Verletzende des Weggehens
19
und Sich-Trennens zugleich auszurumen – etwa durch Abschiedsverzçgerun-
20
gen, die Bitte um Entschuldigung bzw. um Erlaubnis fr den Weggang oder
21
auch das Wiedersehensversprechen.24 Eine genaue Analyse von Begrßungs-
22
und Abschiedshandlungen wird, die soziale Funktion dieser Handlungen beden-
23
24
kend, ein komplexes und kompliziertes Geflecht von konstitutiven Bedingun-
25
gen solcher Handlungen herausarbeiten. Zu unterscheiden sind dabei logisch
26 notwendige Bedingungen, wie insbesondere die Voraussetzung einer Situation
27 mitmenschlicher Begegnung und wechselseitiger Wahrnehmung, ohne die die
28 Begrßungs- und Abschiedsakte berhaupt nicht mçglich wren, von hand-
29 lungskonstitutiven normativen Forderungen, die erfllt sein mssen, damit ein
30 bestimmtes gestisches oder sprachliches Verhalten als Handlung des Begrßens
31 oder Verabschiedens individuiert wird. So ist es z. B. denkbar, dass Personen Be-
32 grßungs- und Abschiedsformeln an andere richten, denen sie begegnen, ohne
33 dass es einen zumindest minimalen Kontext sozialer Interaktion gibt, der auf
34
22 Vgl. dazu die Bestimmung des sozialen Handelns bei Max Weber: Wirtschaft und Gesell-
35
schaft. Grundriss der verstehenden Soziologie (1921/22). Tbingen 51972. 1.
36 23 Goffman: Individuum. 111 ff.
24 Vgl. dazu die intensiven Analysen bei Sommer: Sammeln. 260 ff. Sommer fasst das Pro-
37
38 blem des Abschiednehmens pointiert zusammen, wenn er schreibt: „Abschiedsrituale [sind]
vor allem dazu da […], die bevorstehende Abwendung nicht als das erscheinen zu lassen, was
39 sie im Kern doch ist: ein Verachtung bekundendes und darin tief verletzendes Verhalten.“
40 (Ebd. 262.)
156 Karl Mertens

1 diese Weise sinnvoll eingeleitet oder beendet werden soll oder auch nur erinnert
2 werden kann. Dies wre etwa dann der Fall, wenn jemand einen ihm Fremden
3 mit einer Grußformel anspricht, sich aber bei der Erwiderung durch den ande-
4 ren von diesem abwendet, oder wenn eine Person einem ihm unbekannten,
5 rasch vorbeifahrenden Radfahrer Gruß- oder Abschiedsworte zuruft, ohne dass
6 es eine sinnvolle Gelegenheit zu einem minimalen Austausch gibt. Hier wren
7 handlungskonstitutive Anforderungen fr die Ausfhrung von Handlungen des
8 Begrßens oder Verabschiedens nicht erfllt, die selbst bei einer kurzen, von Be-
9 grßung und Verabschiedung umrahmten Begegnung zwischen zwei Passanten
10 in der Einkaufsstraße, ja bei einem flchtigen, mçglicherweise sogar einseitigen
11
Gruß zwischen Bekannten bereits erfllt sind.25
12
(2) Im Rahmen des durch handlungskonstitutive Normen bestimmten Spiel-
13
raums fr Begrßungs- und Verabschiedungshandlungen wird innerhalb einer
14
Gesellschaft je nach sozialer Situation und sozialer Gruppe verschieden begrßt
15
und verabschiedet; vor allem aber unterscheiden sich die Gruß- und Abschieds-
16
formen in verschiedenen Gesellschaften und Kulturen grundlegend.26 Dabei ist
17
die Weise, in der wir einander begrßen oder verabschieden, kein Gegenstand
18
19 25 Wie wenig hierbei erforderlich ist, verdeutlichen die eindrucksvollen Analysen von Goff-
20 man, der zeigt, dass Begrßungsrituale auch dann zustande kommen kçnnen, wenn eine Ant-
21 wort unmçglich ist: „So ist zum Beispiel eine Situation denkbar, in der ein Individuum von
22 hinten an einem anderen vorbeiluft, um ein paar Freunde einzuholen, und ihm der andere ein
Hallo zuruft, wobei Ton und Geste signalisieren, daß der Rufende begriffen hat, daß eine Ant-
23 wort nicht mçglich ist. Eine andere Mçglichkeit ist, daß der Laufende selbst das Ritual mit
24 einem Winken seiner Hand und einer halben Drehung seines Oberkçrpers einleitet, durch sein
25 Weiterlaufen aber offensichtlich daran gehindert ist, die Antwort auf seinen Gruß wahrzuneh-
men.“ (Goffman: Individuum. 121.) Die von Goffman beschriebenen Flle kçnnen aber nur
26 dann als Begrßungshandlungen verstanden werden, wenn die an der jeweiligen Situation Be-
27 teiligten sich zumindest flchtig kennen. Denn im Falle einander gnzlich unbekannter Perso-
28 nen ließe sich kein Bezug auf einen interaktiven Kontext zwischen ihnen – und sei er auch nur
andeutungshaft vorhanden – herstellen. Das ausgefhrte Verhalten verlçre dann seinen Sinn als
29
Zugnglichkeitsritual, das Goffman wie folgt analysiert: „Grße bezeichnen den bergang zu
30 einem Zustand erhçhter, Abschiede den bergang zu einem Zustand verminderter Zugnglich-
31 keit. Es ist deshalb folgende sowohl Begrßungen als auch Abschiede umfassende Definition
mçglich: sie sind rituelle Kundgaben, die einen Wechsel des Zugnglichkeitsgrades markie-
32
ren.“ (Ebd. 118 f.)
33 26 Die irritierende Differenz verschiedener Arten von Begrßung beschreibt Goffman in

34 einem aufschlussreichen, B.L. Irving entnommenen, Beispiel, das ebenso die Verfangenheit in
35 der eigenen Gesellschaft wie das Wissen um die Differenz zum Ausdruck bringt: „Auf Flug-
pltzen zum Beispiel werden Mnner jener sozialen Klasse, bei der es nicht die Sitte des ,gesell-
36 schaftlichen Kusses‘ gibt, hufig unschlssig sein, ob sie eine ankommende Freundin der Fami-
37 lie kssen sollen oder nicht. Wenn sie die erste Mçglichkeit whlen, werden sie mçglicherweise
38 versuchen, die Handlung teilweise zu ironisieren oder einen betont flchtigen Kuß aus einer
grçßeren als der blichen Entfernung zu geben, wobei durch den einen Kçrperteil die Respek-
39 tierung des persçnlichen Raums gewahrt ist, whrend ein anderer Teil sie notwendigerweise
40 außer Kraft setzt.“ (Ebd. 112. Anm.)
Soziale Dimensionen der Normativitt 157

1 unserer beliebigen Wahl. Denn als Rituale der Erçffnung und Beendigung sozia-
2 ler Interaktionen betreffen sie neuralgische Punkte des sozialen Miteinanders.
3 Zum einen geht es in Akten der Begrßung und des Abschieds in je anderer Wei-
4 se um die Anerkennung der anderen als Interaktionspartner. Whrend sich dieje-
5 nigen, die sich zuflligerweise treffen oder auch geplant zusammenkommen, im
6 Gruß freinander çffnen und sich wechselseitig als Partner der mit dem Gruß
7 beginnenden Interaktion anerkennen, haben Abschiede die Funktion, die unver-
8 meidbare Beendigung einer begonnenen Interaktion so zu ermçglichen, dass die
9 in der Begrßung geleistete Anerkennung nicht mit dem Ende der Begegnung
10 wieder zurckgenommen wird; der Abschied muss daher so gestaltet werden,
11 dass die Mçglichkeit knftiger Interaktion prinzipiell gewahrt bleibt. Trotz der
12 bevorstehenden Trennung bleibt daher im Abschied der andere mçglicher Inter-
13 aktionspartner knftiger – gewisser, aber auch ungewisser, ja sogar unwahr-
14 scheinlicher – Begegnungen. Zum anderen sind Begrßungs- und Abschiedsri-
15 tuale so zu vollziehen, dass sie dabei zugleich die gesellschaftlichen Hierarchien
16 und Rollen bewahren.
17 Die wesentliche Funktion von Begrßungen und Abschieden betrifft dem-
18 nach die gesellschaftliche Ordnung in grundlegender Weise. Aus diesem Grunde
19 sind Sozietten fr Gruß und Abschied besonders sensibel. Verletzungen der An-
20 erkennung und der mit der jeweiligen gesellschaftlichen Stellung und Rolle ver-
21 bundenen sozialen Hierarchie haben eine die jeweilige Gesellschaft destabilisie-
22 rende Wirkung. Sie rhren geradezu an Tabus bestehender sozialer Ordnungen
23 und mssen von einer Gesellschaft entschieden zurckgewiesen werden. Begr-
24 ßungen bzw. Verabschiedungen haben daher in einer Gesellschaft oder gesell-
25 schaftlichen Gruppe bzw. in einem bestimmten Kontext in einer Weise zu erfol-
26 gen, durch die die soziale Ordnung nicht gefhrdet wird. Dementsprechende
27 Forderungen sind Inhalt sozialer Normen. Sie sind dabei mehr oder weniger
28 strikt. Immer gilt jedoch, dass es zwischen einer angemessenen und einer unange-
29 messenen Begrßung entscheidende Unterschiede gibt; dies gehçrt wesentlich
30 zur normativen Struktur von Begrßungshandlungen. Gleiches gilt fr das Ab-
31 schiednehmen. Werden z. B. Gruß- oder Abschiedsworte mit vollem Mund ge-
32 sprochen, handelt es sich zwar um identifizierbare Gruß- bzw. Abschiedshand-
33 lungen; insofern sie jedoch nicht die fr Begrßen und Verabschieden geforderte
34 gesellschaftliche Anerkennung leisten, verletzen sie eine soziale Norm. Und
35 mag unter Freunden oder Arbeitskollegen auch ein flchtiges „Hallo“ oder
36 „Tschss“ als Gruß- oder Abschiedsritual passen; im Kontext formal geregelter
37 sozialer Begegnungen zwischen Personen mit unterschiedlicher Rolle bzw. ge-
38 sellschaftlicher Stellung, wie zwischen Richter und Angeklagtem vor Gericht,
39 einem hochrangigen Politiker und einem einfachen Brger usw., wren solche
40 Sprechhandlungen ein Fauxpas.
158 Karl Mertens

1 Handlungen wie das Begrßen unterliegen dabei nicht nur der normativen
2 Bewertung hinsichtlich der Frage, ob sie in der angemessenen Weise, d. h. in der
3 gesellschaftlich jeweils geforderten Weise, ausgefhrt werden. Hinzu kommen
4 auch situative Erfordernisse, die bestimmen, wann eine solche Handlung zu voll-
5 ziehen ist. Anders als bei einer Handlung wie dem oben erwhnten Singen oder
6 Klavierspielen kann es hier auch ein Unterlassen geben, d. h. eine nicht erfolgen-
7 de, aber geforderte Begrßungs- oder Verabschiedungshandlung. Insbesondere
8 dieser letzte Umstand ist fr die Bestimmung des normativen Charakters, mit
9 dem wir es dabei zu tun haben, aufschlussreich. Denn offenbar sollen wir in be-
10 stimmten Situationen – in der Regel zu Beginn und am Ende einer personalen
11 Interaktion – einander begrßen und voneinander Abschied nehmen.
12 Soziale Normen sind demnach gesellschaftsstabilisierende Normen, die
13 Handlungen einer bestimmten Art erwartbar machen. Der Soziologe Heinrich
14 Popitz hat soziale Normen mit Hilfe von vier miteinander verknpften zentra-
15 len Merkmalen gekennzeichnet.27 Danach legen soziale Normen erstens ein zu-
16 knftig erwartbares Verhalten fest; dieses weist zweitens bestimmte typische Ver-
17 haltensregelmßigkeiten auf. Das erwartbare Verhalten ist darber hinaus
18 drittens als erwnschtes (oder im Falle der Abweichung als unerwnschtes) aus-
19 gezeichnet. Auf Grund dieser drei Bestimmungen ermçglicht sozial normiertes
20 Verhalten Orientierung im Kontext einer gesellschaftlichen Praxis. Es erzeugt
21 soziale Konformitt, die von Handelnden wechselseitig in Rechnung gestellt
22 werden kann.28 Soziale Normen haben demnach eine fr das soziale Handeln
23 wichtige funktionale Bedeutung, insofern sie Handelnden die Mçglichkeit ver-
24 schaffen, sich am knftigen Handeln anderer auszurichten. Soziale Normen die-
25 nen der Herstellung von Verlsslichkeit und Vertrauen in Bezug auf die gesell-
26 schaftliche Ordnung. Sie versuchen sicherzustellen, dass das erwartete und
27 erwnschte Handeln anderer auch tatschlich erfolgt. Denn nur bei einer grund-
28 stzlichen Erwartbarkeit von sozialen Interaktionen einer bestimmten Art ist
29 ein gesellschaftliches Agieren mçglich. Ohne die Erwartbarkeit bestimmter
30 Handlungen wre eine Gesellschaft, wie Popitz es formuliert, „eine schlangeste-
31 hende Gesellschaft“. Erluternd bemerkt er dazu: „Wenn niemand wagt, sich
32 auf Hypothesen zu verlassen ber das, was der andere tun wird, dann mssen
33 alle ihre Aktivitten so lange stornieren, bis der jeweilige Vordermann seinen
34
35
36
27 Heinrich Popitz: Soziale Normen. Hrsg. von Friedrich Pohlmann und Wolfgang Eß-
37
38 bach. Frankfurt a.M. 2006. 76 ff. Zu einem fnften Merkmal vgl. Anm. 35 dieses Artikels.
28 Vgl. hierzu auch Seumas Miller: Social norms. In: Ghita Holmstrçm-Hintikka, Raimo
39 Tuomela (Hg.): Contemporary action theory. Vol. 2: Social action. Dordrecht 1997. 211 – 227.
40 211.
Soziale Dimensionen der Normativitt 159

1 Part gespielt hat. Offensichtlich wre dies eine außerordentlich langsame Gesell-
2 schaft.“29
3 Der normative Charakter sozialer Normen zeigt sich jedoch vor allem im
4 vierten Merkmal, das Popitz herausarbeitet: Sozial normiertes Verhalten ist nm-
5 lich mit einem Sanktionsrisiko verbunden. Ein Abweichen von der Norm trifft
6 auf die Sanktionsbereitschaft der anderen Interaktionspartner, wobei die For-
7 men der Sanktion sehr verschieden sein kçnnen; sie reichen vom bloßen Tadel
8 bis zur massiven Bestrafung. Sanktionen sichern dabei die Verlsslichkeit des er-
9 warteten Verhaltens und verhindern die Gefhrdung der gesellschaftlichen Ord-
10 nung durch abweichendes Verhalten. Den sozialen Normen entspricht auf der
11 Seite der Handelnden ein Gefhl fr die Verpflichtung zu Handlungen einer be-
12 stimmten Art bzw. – und zumeist – fr ein Verbot von Handlungen, die mit der
13 jeweiligen sozialen Norm unvereinbar sind.30 Insbesondere dieses vierte Merk-
14 mal verdeutlicht den Handlungscharakter des in Frage stehenden Verhaltens.
15 Denn insofern ein Verhalten als gesolltes gefordert oder als nicht gesolltes sank-
16 tioniert wird, wird es als ein Akteuren zurechenbares Tun verstanden.31
17 Begrßen und Abschiednehmen mssen demnach in mehrfacher Hinsicht
18 normativen Bedingungen entsprechen: handlungskonstitutiven Normen fr die
19 sozialen Akte von Begrßung und Abschied und sozialen Normen, die sich ei-
20 nerseits auf den Modus des jeweiligen Handelns beziehen und die andererseits
21 festlegen, in welchen Situationen eine Begrßung bzw. ein Abschied zu erfolgen
22 hat. Wie die handlungskonstitutiven Regeln so werden auch die Normen, denen
23 gemß Begrßung und Abschied angemessen zu vollziehen sind, in sozialen
24 Kommunikationssituationen erlernt. So bringen in der Regel zunchst Eltern ih-
25 ren Kindern nicht nur bei, was es heißt, jemanden und einander zu begrßen
26 bzw. sich voneinander zu verabschieden, sondern auch, in welchen Situationen
27 solche Handlungen gefordert sind und wie sie den sozialen Normen entspre-
28
chend ausgefhrt werden mssen. In allen Hinsichten lassen sich Fehler ma-
29
30 29 Popitz: Soziale Normen. 77.
31 30 Vgl. zu diesem letzten Aspekt Miller: Social Norms. 211.
31 Auch wenn die Wirkweise sozialer Normen insbesondere dort erfahrbar wird, wo ein der
32
Norm zuwiderlaufendes Verhalten zurckgewiesen wird, lassen sich verlssliche Erwartungen
33 unter Handelnden auch durch positive Besttigung und Verstrkung erzeugen. In diesem Zu-
34 sammenhang hat Goffman etwa auf die Bedeutung von „Belohnungen fr exemplarische Re-
35 gelbefolgungen“ hingewiesen, also von Handlungen, die in ausgezeichneter Weise einer sozia-
len Norm entsprechen. In seiner Definition sozialer Normen spricht Goffman diesen
36 doppelten Aspekt des Sanktionsbegriffes an, wenn es heißt: „Eine soziale Norm ist eine durch
37 soziale Sanktionen abgesttzte Richtschnur des Handelns, wobei die Sanktionen entweder ne-
38 gative Sanktionen sind, die Bestrafungen fr Regelverletzungen beinhalten, oder positive, die
Belohnungen fr exemplarische Regelbefolgungen zum Inhalt haben.“ (Goffman: Individu-
39 um. 138.) Im Zusammenhang des vorliegenden Artikels wird insbesondere die Bedeutung nega-
40 tiver Sanktionen herausgestellt.
160 Karl Mertens

1 chen, die beim Erlernen des Begrßens und Verabschiedens korrigiert werden.
2 Abweichungen werden auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlicher
3 Strke sanktioniert, indem sie kritisiert, missbilligt, getadelt oder bestraft wer-
4 den. Wie tief dabei soziale Normen im sozialen Bewusstsein verankert sind,
5 zeigt sich nicht zuletzt daran, dass mehr oder weniger starke Sanktionen eines
6 Fehlverhaltens auch bereits dann erfolgen kçnnen, wenn Handelnde, die gegen
7 die entsprechenden Normen verstoßen, mit den jeweiligen Normen noch nicht
8 oder zumindest noch nicht hinreichend vertraut sind.
9 (3) In ihrer gesellschaftsstabilisierenden Funktion bernehmen soziale Nor-
10 men rational rekonstruierbare Aufgaben. Allerdings ist dies nur eine einseitige
11 Deutung sozialer Normen. Denn soziale Normen kçnnen, wie Jon Elster am
12 Beispiel der Blutrache gezeigt hat, Forderungen zum Inhalt haben, die sich mit
13 Blick auf ein individuelles, soziales oder genetisches Ziel nicht rational rekon-
14 struieren lassen.32 Soziale Normen sind insofern von bloßen Konventionen zu
15 unterscheiden, die rationale Lçsungen fr Koordinationsprobleme bieten.33 So
16 kann sich, um ein Beispiel von David Lewis aufzugreifen, in einer Soziett die
17 Konvention herausbilden, dass bei einer unerwarteten Unterbrechung eines Tele-
18 fonats der Anrufer die Initiative des Rckrufs bernimmt, der Angerufene hinge-
19 gen wartet.34 Whrend jedoch Konventionen allein unter der Perspektive gelin-
20 gender knftiger Koordination beurteilt werden, grndet der Wert sozialer
21 Normen darauf, dass sich die entsprechenden Regeln in der Vergangenheit einer
22 bestimmten Gesellschaft entwickelt haben. In dieser Hinsicht lassen sich soziale
23 Normen aber nicht nur nach rationalen oder gar zweckrationalen Kriterien be-
24 werten.35
25 Soziale Normen verdanken ihre Geltung und ihren Wert wesentlich ihrem
26 Vergangenheitsbezug. Darin hneln sie Bruchen und Traditionen. Sie unter-
27
scheiden sich jedoch von bloßen Bruchen und Traditionen ebenso wie von rei-
28
nen Konventionen dadurch, dass Handelnde, die von einer sozialen Norm ab-
29
weichen, mit unterschiedlich starken Formen von Sanktionen rechnen mssen.
30
Wer eine Konvention wie die oben erwhnte Regelung des Rckrufs verletzt
31
oder wer z. B. bei der Kombination oder Reihenfolge von Speisen gegen landes-
32
33 32 Jon Elster: Norms of revenge. In: Ethics 100 (1990). 862 – 885.
34 33 Vgl. zu dieser Auffassung von Konventionen David Lewis: Convention. A philosophical
35 study (1969). Oxford 2002; dt.: Konventionen. Eine sprachphilosophische Abhandlung. Berlin
1975.
36 34 Vgl. Lewis: Convention. 5, 11 f., 43 f.; dt.: 5, 11 f., 44 f.
35 Heinrich Popitz nennt die Tradierbarkeit als fnftes Kennzeichen sozialer Normen: „So-
37
38 ziale Normen sind tradierbar. Jede Erziehung hat das Ziel, bestimmte Normeninhalte von ei-
ner Generation auf die andere weiterzugeben. Das gelingt oft hçchst mangelhaft. Daß es aber
39 gelingen kann und wohl nie vollkommen mißlingt, ist eine Bedingung der Mçglichkeit jeder
40 Kontinuitt sozialer Lebensformen und Verhaltensmaßstbe.“ (Popitz: Soziale Normen. 73.)
Soziale Dimensionen der Normativitt 161

1 bliche Sitten verstçßt, mag belehrt und korrigiert werden. Er wird dafr jedoch
2 keine soziale Missbilligung erfahren. Auch fr Begrßung und Abschied gibt es
3 diesseits ihrer sozialen Normiertheit blichkeiten, Sitten und Traditionen, die
4 kein Gegenstand mçglicher Sanktionen sind.36 Wer hingegen einer sozialen
5 Norm nicht entspricht, wird nicht nur korrigiert und daran erinnert, wie er in
6 der richtigen Weise zu handeln hat; sein Verhalten wird vielmehr missbilligt, er
7 wird mehr oder weniger offen getadelt oder stçßt sogar auf soziale Ablehnung.
8 So werden beispielsweise Verhaltensweisen beim Essen oder Begrßen sanktio-
9 niert, in denen unverhohlen die Geringschtzung, sei es der dargereichten Spei-
10 sen und damit indirekt auch des Gastgebers, sei es der Interaktionspartner, zum
11 Ausdruck gebracht wird. – Faktisch mçgen dabei die Grenzen zwischen Kon-
12
ventionen, Bruchen und sozialen Normen fließend sein; berdies kçnnen Kon-
13
ventionen zu Bruchen und Traditionen zu sozialen Normen sowie umgekehrt
14
soziale Normen zu bloßen Sitten und blichkeiten werden. Es ist jedoch sinn-
15
voll, zwischen bloßen Bruchen und Traditionen einerseits sowie sozialen Nor-
16
men andererseits phnomenal und begrifflich genau zu differenzieren. Denn
17
zum normativen Charakter sozialer Normen gehçrt es, dass diejenigen, die ge-
18
gen sie verstoßen, mit gesellschaftlichen Sanktionen zu rechnen haben.37
19
Mit den unterschiedlichen sozialen Rollen, die Handelnde einnehmen, sind
20
verschiedene, mit sozialen Normen verknpfte Rollenerwartungen verbunden.
21
Von Ehepartnern, Eltern, Freunden, Geschftspartnern oder politischen Repr-
22
23
sentanten erwarten wir, dass sie sich ihrer Rolle entsprechend verhalten. Abwei-
24 chungen oder gar Nichterfllungen solcher Rollenerwartungen wrden gesell-
25 schaftlich missbilligt und getadelt. Da wir in der Regel viele soziale Rollen
26 einnehmen, kçnnen sich die mit diesen Rollen verbundenen sozialen Normen
27 berlappen. Dies zeigt sich etwa bei den gestuften Formen des Abschieds, die
28 wir praktizieren, wenn wir uns zunchst von einem uns kaum bekannten Gastge-
29 ber auf einem offiziellen Empfang verabschieden und anschließend, auf dem
30 Heimweg, von Freunden und engen Vertrauten, mit denen wir an dem Treffen
31
36 So kçnnen beispielsweise Unsicherheiten, wie sie in der in Anm. 26 erwhnten Begr-
32
ßungssituation skizziert werden, bei entsprechender Unkenntnis zu echten Fehlleistungen fh-
33 ren, die in der Regel korrigiert werden, ohne dass die fehlerhaft Handelnden deshalb mit Sank-
34 tionen rechnen mssen.
37 Nach Popitz ist das Sanktionsrisiko konstitutiv fr Normen und unterscheidet diese
35
etwa von bloßen Bruchen: „Die Geltung von Normen kann offenbar nicht einfach mit erwar-
36 teten Verhaltensregelmßigkeiten aller Art gleichgesetzt werden. Es gibt viele erwartete Regel-
37 mßigkeiten – z. B. den Brauch, zu bestimmter Zeit zu Mittag zu essen –, die keineswegs den
38 Charakter der Verbindlichkeit haben. Man kann es ohne weiteres auch anders machen. Von der
Geltung einer Norm wollen wir erst dann sprechen, wenn ein Abweichen von solchen erwarte-
39 ten Regelmßigkeiten Sanktionen gegen den Abweicher auslçst, etwa demonstrative Mißbilli-
40 gung, Repressalien, Diskriminierung, Strafen.“ (Popitz: Soziale Normen. 69.)
162 Karl Mertens

1 teilgenommen haben. Die Weise des Verabschiedens ist hier eine je andere; eine
2 Verwechslung der Abschiedsformen – der allzu kumpelhafte Abschied von dem
3 uns nahezu unbekannten Gastgeber ebenso wie der sehr fçrmliche Abschied
4 von einem guten Freund – wre in beiden Fllen peinlich und wrde offen oder
5 versteckt getadelt. Dort, wo sich die normativ aufgeladenen Rollenerwartungen
6 zeitlich und rumlich nicht trennen lassen, kommt es immer wieder zu Konflik-
7 ten – etwa wenn die Mutter bzw. der Vater ein heikles berufliches Telefonat
8 fhrt, das sich bei der Heimkehr der kleinen Tochter nicht unterbrechen lsst,
9 und das Kind, das mit den in solchen Situationen mçglichen und blichen For-
10 men gestischer Andeutung noch nicht vertraut ist, deutliches Missfallen ber sei-
11 ne enttuschte Erwartung auf eine angemessene elterliche Begrßung ußert.
12 Die mit solchen Situationen verbundenen Normenkonflikte sind auf Grund der
13
Pluralitt der sozialen Rollen, die Handelnde in einer Gesellschaft einnehmen,
14
nach Popitz in der Struktur sozialer Ordnungen grundstzlich angelegt.38 Sie
15
sind unvermeidbar und letztlich auch unentscheidbar, da die Gewichtung der
16
verschiedenen sozialen Normen – trotz ihrer Internalisierung und Habitualisie-
17
rung39 – bei sozialen Akteuren individuell sehr unterschiedlich ausfallen kann.
18
Was sozialen Normen in diesem Zusammenhang fehlt, ist eine Instanz, die
19
ihre Einhaltung gegenber konkurrierenden normativen Forderungen durchzu-
20
setzen vermag. Erst durch die Institutionalisierung normativer Forderungen
21
werden Normen von individuellen Gewichtungen entkoppelt und berindividu-
22
elle normative Regelungen getroffen, die von bestimmten Instanzen eingefor-
23
24
dert werden kçnnen. Im institutionellen Kontext, insbesondere im Recht, lassen
25
sich daher – anders als im Bereich sozialer Normen – normative Entscheidungen
26 treffen und erzwingen.40 So gibt es z. B. im Kontext der Organisation offizieller
27 Treffen feste Begrßungs- und Abschiedsrituale, die zugleich den zeitlichen Rah-
28 men fr bestimmte Interaktionen festlegen. Mag auch nach offizieller Beendi-
29 gung eines Treffens noch so mancher persçnliche Abschied genommen werden,
30 mit dem offiziellen Beschluss der Sitzung durch die Verabschiedung der Leiterin
31 oder des Leiters erlischt die Mçglichkeit, etwas im offiziellen Kontext zur Spra-
32 che zu bringen oder gar zu beschließen. Entsprechende Absichten mssen dann,
33 sofern es sich um ein regelmßig zusammenkommendes Gremium handelt, auf
34
35
38 Ebd. 68.
39 Ebd. 73 f.
36 40 Dafr mssen sich, um noch einmal auf Popitz zu verweisen, „Autoritten […], die die

37 Gruppençffentlichkeit reprsentieren[,] […] zu einer Zentralinstanz ausbilden, die eine angeb-


38 bare Reihe von sozialen Normen kraft alleiniger Sanktionsgewalt schtzen“ (ebd. 70). Der
Links- oder Rechtsverkehr, der oft als Beispiel fr soziale Normen genannt wird, ist auf
39 Grund seiner rechtlichen Einklagbarkeit und Durchsetzbarkeit m. E. ein Beispiel fr eine insti-
40 tutionell verankerte Norm.
Soziale Dimensionen der Normativitt 163

1 die nchste Sitzung vertagt werden. Ein Zuwiderhandeln – etwa der Versuch, im
2 Nachhinein nicht im offiziellen Rahmen Besprochenes als Teil der Sitzung (etwa
3 im Protokoll) aufzunehmen – wird hier nicht nur missbilligt, sondern im Rah-
4 men der institutionell verfgbaren Mechanismen verhindert oder aber bei beson-
5 ders gravierenden Verstçßen, die sich nicht innerhalb der Institution lçsen las-
6 sen, durch juristische Schritte geahndet.
7 Soziale Normen sind – wie alle bisher genannten sozialen Verbindlichkeiten
8 (von den Konventionen bis zu den institutionellen Normen) – auf eine bestimm-
9 te soziale, kulturelle und historische Situation bezogen. Darin unterscheiden sie
10 sich schließlich von moralischen Normen, die – zumindest gemß der Standard-
11
auffassung – eine grundstzliche Unabhngigkeit von sozialen, kulturellen und
12
historischen Kontexten implizieren. Moralische Normen erheben ihrem Selbst-
13
verstndnis nach Anspruch auf universale Geltung.41 Zum Adressatenkreis mora-
14
lischer Normen gehçren prinzipiell alle Menschen. Soziale Normen sind hinge-
15
gen wesentlich auf eine bestimmte Soziett bezogen. Sie gelten gemß ihrem
16
eigenen Anspruch nicht immer und berall, sondern nur fr eine bestimmte Ge-
17
sellschaft. Auf Grund ihrer kontextuellen Bedingungen gehçrt es zum Sinn so-
18
zialer Normen, dass sie ihren Charakter wandeln und ihre Geltung verlieren
19
20
kçnnen. – Diese Differenz spiegelt sich auch im Bewusstsein der Akteure: Han-
21
delnde, die eine Norm als moralische befolgen, tun dies, insofern sie dem Gel-
22 tungsanspruch der Norm ihre innere Zustimmung erteilen.42 Demgegenber
23 kann eine soziale Norm als soziale auch dann befolgt werden, wenn diejenigen,
24 die ihr Folge leisten, den mit ihr verbundenen Geltungsanspruch nicht innerlich
25 anerkennen. Treten ußere Normbefolgung und innere Zustimmung zuneh-
26 mend und dauerhaft auseinander, wird auch die Bereitschaft gelockert und
27 schließlich sogar ganz aufgelçst, normabweichende Handlungen entsprechend
28 zu sanktionieren. Soziale Normen verlieren dann ihre frhere soziale Wirksam-
29 keit. Popitz beschreibt die Dynamik solcher Auflçsungsprozesse wie folgt: „Ab-
30 weichungen werden – zunchst zçgernd – hingenommen, lçsen immer seltener
31 Sanktionen aus, bis sie nach einem bergangsstadium der Unsicherheit schließ-
32 lich freigegeben werden. (Anschauliche Beispiele fr diesen Prozeß der ,Freiga-
33 be‘ ehemals normativ gebundener Verhaltensformen bieten die sogenannten
34 Emanzipationsbewegungen, wie die Emanzipation der Frauen, bestimmter Sozi-
35 alschichten, Volksgruppen und Vçlker.)“43
36
41 Vgl. dazu John L. Mackie: Ethics. Inventing right and wrong. Harmondsworth 1977.
37
38 Chapter 4.
42 Natrlich kçnnen moralische Normen auch bloß ußerlich befolgt werden. In diesem
39 Falle aber wrden sie nicht als moralische Normen befolgt.
40 43 Popitz: Soziale Normen. 72.
164 Karl Mertens

1 Die zuvor entwickelten Unterscheidungen erçffnen Hinsichten, mit denen


2 wir die Regelung bestimmter Handlungsbereiche beurteilen kçnnen. Beispiele
3 des Begrßens und Verabschiedens verdeutlichen in diesem Zusammenhang,
4 dass das hier in Frage stehende Handeln oder auch Nichthandeln unterschied-
5 lich bewertet und in seinem Charakter je anders bestimmt werden kann. So erfl-
6 len die Modalitten der Begrßung und des Abschiednehmens (wie bestimmte
7 gestische und verbale Ausdrucksformen) zunchst konventionelle Aufgaben der
8 Handlungskoordination, die sich dann in kulturellen und sozialen Traditionen
9 verfestigen. Dramatische Abweichungen von solchen Formen oder das demon-
10 strative Verweigern von Begrßungs- und Abschiedsritualen machen darber
11 hinaus allerdings deutlich, dass bei solchen Handlungen mehr auf dem Spiel
12 steht. Denn Formen der Missachtung des erwarteten Handelns in Begrßungs-
13 und Abschiedssituationen sind sozial inakzeptabel und werden mehr oder weni-
14 ger deutlich zurckgewiesen. Solches Missfallen zeigt, dass Begrßung und Ab-
15 schied von sozialen Normen reguliert werden, deren wesentliche Funktion dar-
16 in besteht, eine gegebene gesellschaftliche Ordnung zu erhalten. In bestimmten
17 Kontexten sind Begrßungs- und Abschiedsrituale darber hinaus auch institu-
18 tionell geregelt und mit mçglichen bzw. unmçglichen Folgehandlungen verbun-
19 den. Gegenstand einer moralischen Bewertung kçnnen Begrßung und Ab-
20 schied schließlich werden, insofern mit ihnen die Anerkennung oder
21 Nichtanerkennung bestimmter Personen bzw. interpersonaler Beziehungen
22 zum Ausdruck gebracht wird. Dies im Einzelnen zu analysieren, ist nicht nur
23 ein Thema philosophischer Reflexion, sondern auch empirischer sozialwissen-
24 schaftlicher Forschung. Aufgabe der philosophischen Reflexion ist es, in diesem
25 Zusammenhang Gesichtspunkte fr phnomenale und begriffliche Differenzie-
26 rungen einzubringen.44
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39 44 Ingo Gnzler danke ich fr wichtige Hinweise, die mir bei der Ausarbeitung des Beitrags

40 sehr hilfreich waren.


1 Karel Novotný
2
3
4 Die Genese einer Hresie
5
Epoch und Dissidenz bei Jan Patočka1
6
7
8
9
10 Was bedeutet „Hresie“ oder „Dissidenz“ in der phnomenologischen Philoso-
11 phie? Ist nicht jede Philosophie hretisch? In diesem Beitrag will ich einige Va-
12 riationen des „hretischen“ bzw. „dissidenten“ Moments im philosophischen
13 Denken Jan Patočkas vorstellen, und zwar so, wie es sich seit den 1930er Jahren
14 zu artikulieren beginnt, sowohl in Form von Verçffentlichungen in akademi-
15 schen Texten und Kontexten als auch in Form von Manuskripten, Vortragsnach-
16 schriften oder Essais, die als Antworten auf aktuelle Fragen in Zeiten politischer
17 Krisen oder persçnlicher Schwierigkeiten aus einem inneren Bedrfnis nach Er-
18 klrungen verfasst wurden. In allen diesen Kontexten kommt ein Motiv immer
19 wieder zum Ausdruck: die Freiheit, die herrhrt aus einer Art Epoch in einem
20 allgemeineren Sinne vom Ereignis des In-Distanz-Versetztseins zur gegebenen
21 Welt, welches der Mensch auf sich nimmt, um ein Verhltnis zur Welt im Gan-
22 zen, das sich auf diese Weise erçffnet, denkerisch und lebenspraktisch auszutra-
23 gen. Diese Freiheit stellt, um einen Begriff Patočkas selbst aufzugreifen, eine Be-
24 wegung der „Transzendenz“ des Geistes oder der geistigen Existenz dar, deren
25 Musterbeispiel – wirkungsgeschichtlich, aber auch systematisch gesehen – die
26 sokratische Sorge um die Seele darstellt, von der her sich sogar die Eigenart der
27 europischen Geschichte auffassen lsst, insofern diese Freiheit, diese Bewegung
28 der Transzendenz ihre eigentliche Geschichtlichkeit ausmacht.2 Ich mçchte nun
29 an einige Figuren dieser Bewegung in Patočkas Werk erinnern, um dann zum
30 Schluss anzudeuten, wie diese philosophische Idee auf die Dissidenz im spezifi-
31 schen Sinn, nmlich als Opposition oder Widerstandsbewegung gegen eine eta-
32 blierte politische Macht, Einfluss nehmen konnte.
33
34
35 1 Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Forschungsprojekts „Philosophical Investigati-
36 ons of the Body Experiences“ (GAP 401/10/1164) und wurde untersttzt durch The Ministry
37 of Education, Youth and Sports – Institutional Support for Longterm Development of Rese-
38 arch Organizations – Charles University, Faculty of Humanities 2013.
2 Jan Patočka: Platn a Evropa (1973). In: Ders.: Pče o duši (Sorge fr die Seele). Teil II.
39 Prag 1999. 149 – 355. Zur Idee der durch Sorge um die Seele gestifteten europischen Geschicht-
40 lichkeit vgl. 210 – 355, zum Verhltnis von Epoch und Sorge um die Seele 229 – 233.

Phnomenologische Forschungen 2013 ·  Felix Meiner Verlag 2013 · ISSN 0342-8117


166 Karel Novotný

1 Man mag sich bei der Lektre Patočkas darber wundern, dass sich auch in
2 Herzstcken von Texten akademischer und philosophiehistorischer Bestim-
3 mung, wie z. B. in seiner Habilitationsschrift von 1936, Natrliche Welt als philo-
4 sophisches Problem, einerseits oder in den Arbeiten zur Geschichte der Philoso-
5 phie (Platon, Sokrates, Comenius usw.) andererseits, die Idee einer befreienden
6 „Transzendenzbewegung“ des Geistes wiederfindet, die man aus dem „engagier-
7 ten“ Teil seines Werks, d. h. besonders aus seinen Essais zur Existenz, Geschich-
8 te und Politik kennt. Ich denke diesbezglich vor allem – aber nicht nur – an die
9 Ketzerischen Essais zur Philosophie der Geschichte von 1975 oder an die Vorle-
10 sungen ber Plato und Europa von 1973 sowie an frhere Essais aus den dreißi-
11 ger Jahren, die, zum Teil auch in den Bnden der Ausgewhlten Schriften oder
12 gesondert publiziert, seit etwa zwanzig Jahren in franzçsischer und deutscher
13
Sprache (unlngst auch in tschechischer Sprache) zugnglich sind.3
14
Diese beiden Diskurse weisen auf Husserl hin, den Vertreter der Philosophie
15
als strenger Wissenschaft, der jedoch zugleich auch Inspirator fr das Denken
16
der existentiellen Erneuerung war.4 Es kommt durchaus nicht selten vor, dass
17
sich beide Denkstile in einem Text verbinden. Davon zeugt beispielsweise ein
18
fr den IX. Internationalen Kongress fr Philosophie in Paris im Jahre 1937 ver-
19
fasster Vortrag. In diesem Text mit dem Titel ,Gibt es einen definitiven, letztgl-
20
tigen Kanon des philosophischen Lebens?‘ entwirft Patočka eine persçnliche Re-
21
flexion darber, was ein einzelnes Leben zu einem philosophischen Leben
22
macht. Dabei weist er mit Nachdruck auf die Umwandlung hin, durch die die
23
24
Philosophie eigentlich Philosophie wird, die Umwandlung, die den ganzen Men-
25
schen betrifft, jenseits des Bereichs der Theorien, und die deshalb dazu fhig ist,
26 seine Lebensweise neu zu gestalten. Kurz: Wir haben es hier mit einer Wende zu
27 einem „Leben in Wahrheit“ zu tun, um diese klassische Figur zu verwenden, die
28 bei Patočka ohne Zweifel auf Plato und Husserl zurckgeht, allerdings oftmals
29 ausdrcklich antiplatonisch, im Sinne des Denkens der Endlichkeit mit Nietz-
30 sche und Heidegger, modifiziert gestaltet wird.
31 In seinem Text fr den Kongress von 1937 wird auf die Frage, ob es einen
32 definitiven, letztgltigen, fest definierten Kanon des philosophischen Lebens ge-
33 ben kann, der gleichsam der Kanon des wahren Lebens wre, eine negative Ant-
34
3 Jan Patočka: Ketzerische Essais zur Philosophie der Geschichte und ergnzende Schrif-
35
ten. Hrsg. von K. Nellen und J. Němec. Stuttgart 1988. Ders.: Platn a Evropa. Ders.: Kunst
36 und Zeit. Hrsg. von K. Nellen und J. Němec. Stuttgart 1987. Ders.: Schriften zur tschechischen
37 Kultur und Geschichte. Hrsg. von K. Nellen, P. Pithart und M. Pojar. Stuttgart 1992, oder
38 Ders.: Andere Wege in die Moderne. Hrsg. von L. Hagedorn. Wrzburg 2006.
4 Der junge Patočka zitiert im Jahre 1933 einen der Kaizo-Aufstze Edmund Husserls: Die
39 Idee einer philosophischen Kultur. In: Japanisch-deutsche Zeitschrift fr Wissenschaft und
40 Technik 1 (1923). 45 – 51.
Die Genese einer Hresie 167

1 wort gegeben – mit dem Hinweis auf die wesentliche Unabschließbarkeit des
2 philosophischen Suchens. Zugleich fasst er aber in diesem kurzen Entwurf – und
3 deswegen habe ich diesen Text herangezogen – seine Idee der Freiheit zusam-
4 men, die er hier als eine Umkehr des Geistes, als geistige Konversion bezeichnet,
5 was Zeit seines Lebens fr seine eigenen Gedanken ber die Welt, die Existenz,
6 die Geschichte und Politik wesentlich und in diesem Sinne „kanonisch“ wurde
7 und blieb. Ich mçchte nun zeigen, dass diese Idee schon in ihren ersten Ausfh-
8 rungen die Zeichen der „Hresie“ oder der „sokratischen“ Dissidenz in sich
9 trgt.5
10 Was die Umwandlung des Geistes charakterisiert, die in der Philosophie als
11 deren konstitutiver Akt am Werk ist, ist eine neue Stellungnahme zu den Dingen
12 bzw. zu unserer blichen Art und Weise, die Dinge aufzufassen. Es handelt sich
13 um „eine Bewegung sowohl des Willens als auch des Denkens, die sich wesent-
14 lich – aber nie auf eine abstrakte Weise – auf das Geheimnis der Dinge konzen-
15 triert“.6 Das Wissen bleibt das wesentliche Merkmal der philosophischen Um-
16 wandlung, das sie von der religiçsen, moralischen und anderen Umwandlungen
17 unterscheidet, und zwar auf folgende Weise: „Die Konversion […] impliziert
18 ein solches Wissen, das es erlaubt, sich ber die Totalitt des Wirklichen zu erhe-
19 ben, diese zu transzendieren.“7 Nun wird dieser Begriff der Transzendenz noch
20 durch eine Bemerkung przisiert, die mir wichtig erscheint: „Die neue Position,
21 die dadurch gewonnen ist, zeigt sich ex post als durch die Evidenz gewisser Grn-
22 de rechtfertigt, die jedoch nur durch die durchzogene Konversion selbst erst ge-
23 wonnen werden konnten.“8 Daher rhrt – so meine ich – das hretische oder
24 dissidente Moment der Philosophie im authentischen Sinne, so wie sie Patočka
25 auf seinem philosophischen Denkweg zu begreifen und praktizieren versucht
26 hat. Das bedeutet, dass das, was sich selbst in der so gesehen authentischen Philo-
27 sophie abspielt, nicht eine vereinheitlichte Bewegung darstellt; die Brche sind
28
fr die Entstehung der philosophischen Stellungnahme wesentlicher als das Be-
29
30 5 Ich rekurriere hier auf meine frheren Arbeiten, besonders auf Karel Novotný: La gen-

31 se d’une hrsie. Monde, corps et histoire dans la pense de Jan Patočka. Paris 2012. 169 – 180.
Ich danke Herrn Lukas Held fr die deutsche bersetzung dieses Textstckes, das ich fr den
32
Zweck des vorliegenden Beitrags modifiziert und erweitert habe.
33 6 Jan Patočka: Existe-t-il un canon dfinitif de la vie philosophique? In: Travaux du IXe

34 Congrs international de philosophie (Congrs Descartes, Paris 1 – 6/8/1937). Bd. 10. Paris
35 1937. 186 – 189. 188. „un mouvement la fois de volont et de pense, dont l’essentiel consiste
se concentrer – mais jamais d’une manire abstraite – sur le secret des choses“.
36 7 Jan Patočka: Existe-t-il un canon. 188: „
tant plus qu’un savoir, la conversion implique

37 pourtant un savoir, mais un savoir qui n’est jamais particulier, qui permet de s’lever au-dessus
38 de la totalit du rel, de la transcender.“
8 Jan Patočka: Existe-t-il un canon. 188: „La position nouvelle qu’on acquiert ainsi appara-
39 t, aprs coup, justifie par l’vidence de certaines raisons, mais on n’a pu acqurir ces raisons
40 qu’en oprant la conversion elle-mÞme.“
168 Karel Novotný

1 kenntnis zu den Meistern, ihren Lehren und Methoden. Auch fr Patočka ist
2 also die Philosophie nicht einfach die Umsetzung einer Geistesfhigkeit unter
3 anderen; die wahre philosophische Tathandlung erfordert eine Umkehr, inso-
4 fern sie zu bersteigen hat, was schon da ist – und was wir unwiderstehlich und
5 selbstverstndlich als wahre und einheitliche Wirklichkeit vorfinden.
6
7
8 I. Die Hresien der radikalisierten Epoch – ein Exkurs in die
9 phnomenologische Metaphysik Jan Patočkas
10
11 Die „dissidente“ Dimension bei Husserl, die Patočka mit ihm teilt, besteht in
12 dem Gedanken der Epoch: die Enthaltung vom Gebrauch des Wissens von der
13 objektiven Welt und auch die „Ausschaltung“ der damit verbundenen bestimm-
14 ten Setzung des Seins der Welt als solcher. Der Philosoph kann keine neue Ein-
15 stellung zur Welt annehmen, keine kritische Entdeckung gegenber der gewçhn-
16 lichen Art und Weise machen, die Dinge wahrzunehmen, wenn es ihm nicht
17 gelingt, sich von der „natrlichen“, naiven Einstellung zu befreien oder zu dis-
18 tanzieren, die uns das Sein der Welt so, wie sie sich darstellt, glauben macht. In
19 seiner Habilitationsschrift von 1936, dem Werk, in dem er Husserl am nchsten
20 steht, stellt Patočka diesen problematischen Charakter des Seins der Welt heraus
21 durch den Verweis auf die Situation des modernen Menschen in einer verdoppel-
22 ten Welt. Um herauszufinden, was in Wahrheit ist – eine Frage, die sich etwa
23 dann stellt, wenn wir von einer Krise befallen werden, wenn wir uns der Spal-
24 tung zwischen dem subjektiven Erlebnis der Lebenswelt und den angeblichen
25 Tatsachen des objektiven Wissens bewusst werden, den natrlichen Glauben ver-
26 lieren –, haben wir die Mçglichkeit, nicht in die gewohnten oder gelufigen Ver-
27 stehensmodelle zurckzufallen, sondern ihnen gerade zu widerstehen, uns in ei-
28 ner Schwebe zu halten, die sich uns in der Krise erçffnet, wobei die Realisierung
29 dieser Mçglichkeit, dieser Freiheit einen effort von uns verlangt. Dieser Wider-
30 stand erfordert eine Geistesanstrengung: Es geht nicht nur darum, dem „konstru-
31 ierten“ Wesen der Gegenstnde, den substruierten Objektivierungen, die die ge-
32 lebte Welt „bedecken“, die Stirn zu bieten, sondern darum, uns zu distanzieren,
33 unseren Seinsglauben an das Gegebene im Allgemeinen auszuschalten. Die Welt
34 in all ihrer Komplexitt, die man in der Epoch als Akt des philosophischen
35 Blicks freilich nicht aus den Augen verliert, wird durch diesen Akt selbst zu ei-
36 nem Phnomen, das, so Husserl, als solches, in seiner Selbstgegebenheit fr eine
37 transzendentale Subjektivitt untersucht werden kann, gebunden durch ein sozu-
38 sagen „persçnliches“ Band an das Bewusstsein des die Epoch vollziehenden
39 Menschen, der dadurch allerdings entmundanisiert und insofern auch ent-
40 menschlicht wird. Als ein solcher Beobachter kann er das derart gegebene Phno-
Die Genese einer Hresie 169

1 men so deuten, dass er es auf das passive und aktive Leben dieser transzendenta-
2 len Subjektivitt „reduziert“ und „zurckfhrt“, die er in sich erlebt und daher
3 auch in den Blick nehmen kann. Patočka zçgert nicht, sich diesem Problem zu
4 stellen, die idealistischen und spekulativen Implikationen und Konsequenzen
5 der klassischen Positionen in seiner Habilitationsschrift und anderen frhen
6 Schriften kritisch aufzunehmen, um in seinen spteren eigenen Anstzen nach
7 anderen Lçsungen zu suchen. Mit der Dissidenz des aus dem Seinsglauben zu-
8 rckgezogenen Beobachters der transzendentalen Weltkonstitution wird Patoǩ-
9 ka auch in seinen spteren Werken nie abschließen kçnnen, obwohl sie fr die
10 alternativen zeitgençssischen Philosophen eine schwer hinnehmbare Operation
11 darstellte.
12 Von seinen spteren Anstzen zur Radikalisierung der Epoch ist zunchst
13
einmal das bekannt, was er auch selbst im Ausland, also vor allem in Deutsch-
14
land, çffentlich vorgetragen und publiziert hat,9 die sog. „a-subjektive“ Phno-
15
menologie, deren Entwurf er zu Beginn der 1970er Jahre auf folgende Weise for-
16
muliert: Dank der Radikalisierung der Epoch vermag die Welt als ein
17
Phnomen erscheinen, das in sich keinen Hinweis auf die Leistung irgendeines
18
Subjekts enthlt, so dass die Deutung als unphnomenologisch abgewiesen
19
wird, das Erscheinen der Welt auf die Aktivitten und Passivitten der transzen-
20
dentalen (oder gar weltlichen) Subjektivitt zurckzufhren. Es ist ein Ansatz
21
der transzendentalen Phnomenologie, der auf der Epoch ohne Reduktion (im
22
Sinne von: ohne die Rckfhrung der Gegebenheit auf die Sinngebung durch
23
24
das Bewusstsein) insistiert. Diesen negativen Schritt begreift Patočka als Radika-
25
lisierung der Husserlschen Epoch selbst. Mit dieser Hresie gegenber dem
26 Grnder der Phnomenologie steht er allerdings nicht allein, sondern ordnet
27 sich in eine herrschende Tendenz der nachklassischen Phnomenologie ein, die
28 das Erscheinen von der subjektiven bzw. intentionalen Verankerung im sinnge-
29 benden Bewusstsein zu befreien versucht.
30 Die Hresie gegenber der klassischen Phnomenologie kann man diesbezg-
31 lich im Ausgang von einem anderen Ansatz Patočkas, dessen Formulierungen
32 den Verçffentlichungen zur „a-subjektiven“ Phnomenologie am Anfang der
33 70er Jahre vorausgingen, noch besser erfassen. Dank der intensiven Forschun-
34
9 Vgl. vor allem die folgenden drei Aufstze: Jan Patočka: Der Subjektivismus der Husserl-
35
schen Phnomenologie und die Mçglichkeit einer „asubjektiven“ Phnomenologie. In: Philo-
36 sophische Perspektiven 2 (1970). 317 – 334. Ders.: Weltganzes und Menschenwelt. Bemerkun-
37 gen zu einem zeitgençssischen kosmologischen Ansatz. In: Werner Beierwaltes, Wolfgang
38 Schrader (Hg.): Weltaspekte der Philosophie. Festschrift fr R. Berlinger. Amsterdam 1972.
243 – 250. Ders.: Epoch und Reduktion. Einige Bemerkungen. In: Alexius J. Bucher, Her-
39 mann Dre, Thomas M. Seebohm (Hg.): Bewußt sein. Gerhard Funke zu eigen. Bonn 1975.
40 76 – 85.
170 Karel Novotný

1 gen Renaud Barbaras ist dieser andere, „kosmologische“ Ansatz zur Zeit sogar
2 allgemein bekannter – zumindest im franzçsischen Sprachraum.10 Die Annahme
3 einer ontogenetischen Bewegung der Welt selbst oder der Physis, die die tran-
4 szendentale Subjektivitt als Ursprung des Erscheinens ersetzt, bezeichnet ein
5 hretisches Moment dieser Philosophie, die jedoch in einer solchen Radikalitt
6 nur in Manuskripten aus den 60er Jahren zu finden ist und dort auch nur ange-
7 deutet wird. Gleichwohl gehçren die Texte zur Bewegungsproblematik aus den
8 sechziger Jahren zweifellos zur wichtigsten Phase seines Denkens, in deren Ver-
9 lauf er in einer positiven Auseinandersetzung mit der franzçsischen Phnomeno-
10 logie, vor allem mit derjenigen Merleau-Pontys, seine eigene Position gegenber
11 Husserl, Heidegger und Fink zu profilieren sucht. Die Texte zur Bewegungspro-
12 blematik stellen zugleich eine neue Fassung seiner eigenen Untersuchungen zur
13 Weltproblematik aus den 40er und 50er Jahren dar –, aber keineswegs eine bloße
14 Aufnahme oder Nachahmung damaliger Anregungen.11
15 Unter den im Ausland publizierten Texten bezieht er sich ausdrcklich auf
16 den kosmologischen Ansatz nur in dem Aufsatz ,Weltganzes und Menschen-
17 welt. Bemerkungen zu einem zeitgençssischen kosmologischen Ansatz‘, jedoch
18 ohne sich damit zu identifizieren. Ich sehe darin einen Hinweis fr die Annah-
19 me, dass auch fr ihn ein kosmologischer Ansatz eine Hresie darstellt.
20 Der Korrelation von erscheinender Menschen-Welt und ihren Subjekten wr-
21 de nach diesem Ansatz eine Bewegung zugrunde liegen, die phnomenologisch
22 als eine Weltform nachtrglich anschaulich erfassbar wre, die jeder Phnomena-
23 litt, sowohl des subjektiven als auch des objektiven Seienden, als ein Weltaprio-
24 ri vorangeht.12
25 Hretisch wre hier die Reduktion des Erscheinens als solchen auf die Bewe-
26 gung der Welt selbst bzw. auf die Bewegung als solcher. Eine Bewegung des Er-
27
scheinens ohne jegliches Substrat, das man dann phnomenologisch anhand ih-
28
res Sediments als Weltform des Erscheinens erfassen kann, wrde in einem
29
solchen Konzept letztlich auf die Physis zurckweisen, nicht aber auf die Selbst-
30
bewegung der Subjektivitt oder der Seele, die sicherlich in der Welt gewisserma-
31
ßen gegen die Dominanz und den Determinismus der Welt wirkt. Man msste
32
sich daher die Frage stellen: Welchen Platz kçnnte in einem solchen Konzept
33
noch die Sorge um die Seele einnehmen? Wrden wir, dieser Hresie des Monis-
34
mus der Bewegung der Physis das Wort sprechend, dann dem Subjektiven ge-
35
36 10 Vgl. Renaud Barbaras: Le mouvement de l’existence.
tudes sur la phnomnologie de

37 Jan Patočka. Chatou 2007. Ders.: L’ouverture du monde. Lecture de Jan Patočka. Chatou
38 2011. Ders.: Dynamique de la manifestation. Paris 2013.
11 Vgl. dazu Filip Karf k: Unendlichwerden durch die Endlichkeit. Eine Lektre der Philo-
39 sophie Jan Patočkas. Wrzburg 2008.
40 12 Vgl. dazu Patočka: Epoch und Reduktion.
Die Genese einer Hresie 171

1 recht werden? Im Vortragsmanuskript „Phnomenologie und Metaphysik der


2 Bewegung“, das dem in der Universitt Freiburg im Februar 1968 gehaltenen
3 gleichnamigen Vortrag zugrunde liegt, lesen wir dagegen ber die subjektive Be-
4 wegung des Leibes: „Sie kçnnte allerdings schçn durch das aristotelische atels
5 energeia charakterisiert werden, wenn sie nicht von der Seinsart des Subjekts,
6 eines freien oder benommenen, abhngen wrde.“13 Die Subjektivitt ist also –
7 meiner Meinung nach – fr Patočka nie auf die kosmologisch gegrndete Bewe-
8 gung reduzierbar. Das Problem des Verhltnisses der „a-subjektiven“ Hresien
9 der phnomenologischen Philosophie und Metaphysik der ontogenetischen Be-
10 wegung der Individuation des Seienden und des Erscheinens als solchem auf der
11 einen Seite und der Bewegung der Existenz in ihrer irreduziblen Subjektivitt
12 auf der anderen Seite wird durch die neuen Anstze Patočkas in den sechziger
13
und frhen siebziger Jahren nur verschrft und verlangt, wenn schon nicht eine
14
systematische Lçsung, die wir bei Patočka in der Tat nicht finden, so zumindest
15
doch eine neue Perspektive.
16
Erst die Ketzerischen Essais zur Geschichtsphilosophie, verfasst in der Mitte
17
der siebziger Jahre, legen weitere Radikalisierungen der Epoch vor, die dem an-
18
gedeuteten Problem die Stirn bieten. Der vorangehenden Position der so genann-
19
ten „a-subjektiven“ Phnomenologie zufolge muss die der husserlschen Epoch
20
eigene Freiheit gegenber der Welt noch radikalisiert werden, um an das Erschei-
21
nen der Welt selbst, ja vielleicht sogar an das Erscheinen selbst als solches in sei-
22
ner Autonomie heranzureichen. Das kme einer Radikalisierung der „Dissi-
23
denz“ des Philosophen gleich, der, die husserlsche Epoch gegenber der
24
25
gegebenen Welt in einem Sinne konsequent vollziehend, ber Husserl hinaus
26
geht. Denn bei dieser Umwandlung des Geistes, wie sie sich Patočka in seinem
27 Versuch der 1970er Jahre vorstellt, tendiert er dazu, das Subjekt als Bildungsme-
28 dium des Weltsinns aufzugeben.14 Das metaphysische Risiko dieser Hresie
29 kçnnte bei dem Phnomenologen Patočka darin bestehen, die Autonomie des
30 Erscheinens zu Gunsten einer ontologischen Bewegungs-Hypostase oder kos-
31 mologischen Welt-Hypostase zu opfern, indem und insofern diese immer als ein
32 Grund des Erscheinens gefasst wrde. Dieses Risiko scheint mir potenziell
33 durch seine geschichtsphilosophischen Reflexionen in den Ketzerischen Essais
34 entschrft zu werden. Die Hypostase eines Weltgrundes, auf die die beiden Figu-
35 ren der Grndung des Erscheinens in der Bewegung und durch die apriorische
36 Weltform des Weltgrundes hinweisen, ist ihrerseits zu dekonstruieren – ich wr-
37
13 Vgl. dazu und zum Nachweis der zitierten Stelle Karel Novotný: Jan Patočka – Kçrper,
38
Leib, Affektivitt. In: Emmanuel Alloa, Thomas Bedorf u. a. (Hg.): Leiblichkeit. Begriff, Ge-
39 schichte und Aktualitt eines Konzepts. Tbingen 2012. 81 – 99. 89.
40 14 Karf k: Unendlichwerden durch die Endlichkeit. 166.
172 Karel Novotný

1 de sagen: zu Gunsten des Ereignisses des Erscheinens selbst und gemß seiner
2 geschichtlichen Ereignishaftigkeit. Das sind zwar nicht Patočkas Begriffe, aber
3 in diesem Sinne ließe sich vielleicht seine spte „Synthese“ von Phnomenologie
4 und Geschichtsphilosophie deuten.
5 Um aber zu Patočkas eigenen Fragen zurckzukommen: Was ermçglicht und
6 erçffnet eine solch extreme Freiheit gegenber der Korrelation vom In-der-
7 Welt-Sein und der Vorgegebenheit der Welt? Wenn nicht einmal ein autonomes
8 und schaffendes Subjekt bestehen bliebe, und wenn alles zum Phnomen ohne
9 gegebenen Grund wrde, was lieferte dann Anhaltspunkte fr das praktische Le-
10 ben? Die Radikalisierung des philosophischen Akts der Distanz-bernahme
11 zum Gegebenen wird ja in der Phnomenologie gerade motiviert durch die Ab-
12 sicht, das Gegebene zu erreichen – nicht als ein durch ein philosophierendes Sub-
13 jekt Konstruiertes, sondern gerade als Gegebenes, so wie es selbst ist. Sind wir
14 nun aber nicht immer schon in das verwickelt, in das involviert, was gegeben ist?
15 Riskiert die Radikalisierung der Methode nicht, die gelebte Welt, die Lebenswelt
16 zu bergehen, uns wiederum in eine intellektualistische Abstraktion zu verstri-
17 cken, ohne eine mçgliche Rckkehr zum Konkreten? Gegen dieses Risiko hat
18 Patočka in den 60er Jahren eine Reihe genetisch-phnomenologischer Analysen
19 der (subjektiven) Leiblichkeit und Intersubjektivitt der Existenz vorgelegt, die
20 er in seinen spteren Publikationen offensichtlich lediglich zusammenfasst, da
21 sie ihm als eine mit dem neuen Husserl und der neueren Phnomenologie korre-
22 lierende, etablierte Basis diente. Seine Version ist unter dem Titel „Drei Bewe-
23 gungen der menschlichen Existenz“ bekannt. Ob sie nun komplementr oder
24 kontrr zu den „a-subjektiven“ Ausgriffen ist, mag zu dieser Zeit eine offene,
25 von ihm selbst nicht aufgegriffene Frage sein.
26
27
28
29 II. Ketzerische Essais zur Geschichtsphilosophie
30
31 Ich komme nun zurck zur Genesis einer Hresie, die sich konkreter als Hinfh-
32 rung zum letzten und eigentlich einzigen systematischen Werk Patočkas auffas-
33 sen lsst, zu den Ketzerischen Essais zur Geschichtsphilosophie. Eine solche Fra-
34 gestellung war auch dem jungen Patočka der 1930er Jahre brigens nicht fremd,
35 ganz im Gegenteil: Er sah sich mit ihr als einer der wichtigsten Herausforderun-
36 gen des philosophischen Denkens seiner Zeit konfrontiert – eine damals noch
37 immer aktuelle Art philosophischer Reflexion (Historismus-Debatte) –, der er
38 gerecht werden will. Schon sehr frh positioniert sich Patočka ausdrcklich ge-
39
40
Die Genese einer Hresie 173

1 gen den Intellektualismus15 und formuliert dabei seine Kritik in berlegungen


2 zur Geschichte und Geschichtlichkeit des Menschen und der menschlichen
3 Welt, die er in den dreißiger Jahren sowohl in literarischen als auch in philosophi-
4 schen Zeitschriften verçffentlicht hat.16
5 Hier, wie in seinen spten und letzten Texten, ist Patočka vor allem daran
6 gelegen zu zeigen, dass das Vorverstndnis, das notwendigerweise in unserem
7 Bezug zur Vergangenheit am Werk ist, d. h. das Verstndnis dessen, was die Ge-
8 schichte von anderen Realittsgebieten unterscheidet, nicht eine Theorie oder
9 ein desinteressierter Blick ist. Die Vision der geschichtlichen Zeit ist also bei Pa-
10 točka bewusst dramatisch, nmlich eine Vision der Zeit als eine durch die Folge
11 von Blte und Untergang rhythmisierte Zeit, die nicht ohne Konflikte und
12 Kmpfe zu denken ist. Von hier aus wird die zentrale Rolle des Phnomens des
13 Neuanfangs oder Erneuerung deutlich, die Patočka nach wie vor betont, so zum
14 Beispiel in einem Vortragszyklus zum ,Problem des Ursprungs und der Veror-
15 tung der Geschichte‘: „Das eigentlich geschichtliche Element war das, was die
16
Franzosen redressement nennen, es war immer ein Kampf gegen den Verfall“.17
17
Es klingt wie ein Echo des Appells, den er 1939 in dem Text ,Leben im Gleichge-
18
wicht, Leben in der Amplitude‘ formuliert hat – in einem der Texte, die Patočka
19
als einen engagierten Denker auftreten lassen, nmlich als denjenigen, der im
20
Jahr des Kriegsausbruchs und der widerstandslosen Besetzung der tschechi-
21
schen Gebiete durch Hitlers Truppen die Frage nach der „Rolle der Philosophie
22
im Leben“18 neu stellte.
23
Patočka nimmt hier entschieden Stellung gegen den philosophischen Ansatz,
24
der im Menschen ein harmonisches Wesen sieht, das „eingefriedet [ist] im Inne-
25
ren einer unvernderlichen Lebensform“19 und das von Natur aus auf einen end-
26
gltigen Zustand des Ausgleichs, quilibriums hinstrebt; und er pldiert fr die
27
Position, die diese Gelassenheit als eine „Degradierung, ein Verkennen seiner
28
29 15 Diese Kritik wurde ohne Zweifel durch franzçsische Philosophen inspiriert, darunter

30 durch Henri Bergson, den Patočka ausfhrlich in seiner Dissertation zitiert. Vgl. Jan Patočka:
31 Pojem evidence a jeho význam pro noetiku (Das Konzept der Evidenz und seine Bedeutung
fr die Erkenntnistheorie) (1931). In: Ders.: Fenomenologick spisy. Teil I. Prag 2008. 13 –
32
125.
33 16 In seinen Essais und Journalaufstzen bezieht er sich u. a. auf Pascal, Kierkegaard, Nietz-

34 sche, Dostoevski und Heidegger. Vgl. dazu etwa Jan Patočka: Ketzerische Essais zur Philoso-
35 phie der Geschichte und ergnzende Schriften; und ders.: Kunst und Zeit.
17 Jan Patočka: Problm počtku a m sta dějin – diskuse (Das Problem des Anfangs und des
36 Ortes der Geschichte – Diskussion); ders.: Pče o duši, Teil 3, Prag 2002. 297. Vorgetragen
37 zwischen Oktober 1974 und April 1975, parallel zur Redaktion der Ketzerischen Essais.
18 Jan Patočka: Leben im Gleichgewicht, Leben in der Amplitude. In: Ludger Hagedorn,
38
Hans Rainer Sepp (Hg.): Jan Patočka: Texte, Dokumente, Bibliographie. Freiburg 1999. 91 –
39 102. 91.
40 19 Patočka: Leben im Gleichgewicht. 94. bers. modifiziert von K. N.
174 Karel Novotný

1 selbst“ brandmarkt.20 Die „Philosophie der Amplitude“, so wie er sie vorstellt


2 und empfiehlt, geht von der extremen, aber wesentlichen Mçglichkeit eines „Le-
3 bens in Amplitude“ aus, welches „eine Prfung seiner selbst und einen Protest“21
4 bedeutet, wobei sich jede Zeit der Notwendigkeit bewusst ist, die Last der Welt
5 zu tragen, und diese Notwendigkeit auf sich nimmt, anstatt in knstlichen Zu-
6 kunftsvisionen und Hoffnungen zu entfliehen, die dem Alltag entgegenstnden.
7 Ein klares Wort in einer solchen historischen Situation!
8 Fr diese Philosophie der Dissidenz als Protest ist der Philosoph der Amplitu-
9 de nun „gehalten, das Beunruhigende, das Unversçhnliche, das Rtselhafte in
10 ihm gedeihen zu lassen“.22 Fr Patočka als Befrworter der Philosophen der Am-
11 plitude steht der Welt-Geist-Bezug in notwendigem Zusammenhang mit Grenz-
12 situationen. Das Licht, von dem der in der Amplitude allein zu erreichende Be-
13 zug auf das Weltganze ausgeht, wird „keineswegs intellektuell, sondern durch
14 das Leben entflammt“, und zwar durch einen „Aufprall auf den harten Felsen
15 unserer Grenzen“.23
16 Nun begegnen sich die Phnomenologie der Epoch und die existentielle Phi-
17 losophie der Geschichtlichkeit aber gerade in der Amplitude, und das Ergebnis
18 dieser Begegnung besteht in einer Phnomenologie, die nicht mehr diejenige
19 Husserls ist, sondern die bereits zu diesem Zeitpunkt am Ende der 30er Jahre die
20 Bezeichnung verdient, die Patočka ihr spter geben wird, wenn er, auf seine Ket-
21 zerischen Essais zurckblickend, von einer „existentiell orientierten Phnomeno-
22 logie“24 spricht.
23 Patočkas letztes Wort ber die Beziehung von Philosophie und dem Leben in
24 seinen geschichtlichen und politischen Dimensionen findet sich also vor allem in
25 den Ketzerischen Essais ber die Philosophie der Geschichte, dem einzigen „syste-
26 matischen“ Werk, das er in den 1970er Jahren selbst verlegt hat. Ich will mich
27 hier darauf beschrnken, ein Leitthema dieser Konzeption der Geschichtlichkeit
28 der menschlichen Existenz zu erwhnen, bevor ich mit der Figur des Dissiden-
29 ten meine berlegungen abschließen werde. Thema ist die Problemhaftigkeit
30 des gegebenen Sinnes, die laut Patočka von den Griechen entdeckt wurde – ein-
31 hergehend mit der sokratischen Sorge um die Seele.
32 Eine der Schlsselthesen der Geschichtsphilosophie Patočkas ist die des Aus-
33 gangspunkts der europischen Geschichte (gar der Geschichte berhaupt) in der
34 Suche nach einem allumfassenden Sinn, der, sonst selbst nicht thematisch, auf
35 geschichtlich variable Manier die Verfolgung des partikularen und relativen
36
37 20 Ebd. 95.
38
21 Ebd. 99.
22 Ebd.
39 23 Ebd. 100.
40 24 Patočka: Ketzerische Essais. 166.
Die Genese einer Hresie 175

1 Sinns (d. h. der partikularen und relativen Ziele) mçglich macht, so wie diese
2 Funktion in der so genannten vor-geschichtlichen Welt von den Mythen ge-
3 whrt wurde. Da die Hierarchien der relativen Sinne sich in manchen Fllen je-
4 doch als untereinander inkompatibel erweisen, besonders im Kontakt mit den
5 Fremden, und da uns – zumal heute in unserer entmythologisierten Welt – ein
6 Vertrauen in einen umgreifenden Sinn fehlt, der unser Leben zu leiten vermag,
7 kçnnen die negativen Erfahrungen einer Sinnerschtterung in eine „sokrati-
8 sche“ Suche umgewandelt werden, die die Fraglichkeit der gesamten Sinndimen-
9 sion berhaupt erst thematisch erçffnet. Die Eigenheit einer solchen Suche nach
10 dem Sinn des Ganzen, ihr eigentlich historischer Charakter liegt in ihrer wesent-
11 lichen Unabschließbarkeit. Was wir da suchen, ein Sinn des Ganzen, kann in der
12 Tat niemals gegeben werden und wird niemals gegeben sein kçnnen, ebenso wie
13
die Welt selbst in der Gegenwart oder Zukunft niemals zum Objekt einer defini-
14
tiven Erfassung werden kann. Daher rhren vielleicht auch bei Husserl die beun-
15
ruhigenden Motive der notwendigen Iteration der Epoch und der Reduktion.
16
Der Ausgangspunkt der „Sinnphnomenologie“, die Patočka in seinen letz-
17
ten Schriften vorschlgt, besteht in der angedeuteten Erfahrung des Sinnverlusts.
18
Er beginnt, als klassischer Phnomenologe, mit dem Hinweis auf die Erfahrung,
19
die einerseits zeigt, dass „die Dinge nicht Sinn fr sich selbst“, sondern „nur
20
dann einen Sinn haben, wenn jemand ,den Sinn‘ fr sie hat“.25 Fr Patočka weist
21
der dem Sinnverlust eigene Ereignischarakter – d. h. das unvorhersehbare, nicht
22
auf eine einfache Erwartung rckfhrbare, ein Moment der Diskontinuitt be-
23
greifende Ereignis – darauf hin, dass die „Sinngebung vor allem nicht Sache unse-
24
25
res Willens oder unserer Willkr“26 ist. Anders gesagt: „Sie ist nicht ,unsere Sa-
26
che‘, es liegt nicht in unserer Verfgbarkeit, dass die Dinge unter bestimmten
27 Umstnden sinnlos erscheinen, sowie umgekehrt und korrelativ dazu, dass uns,
28 wenn wir offen dafr sind, Sinn aus den Dingen anspricht. Wir sind nicht weni-
29 ger fr das Sinnvolle als fr das Sinnlose offen, und es ist dasselbe Sein, das sich
30 das eine Mal als sinnvoll und das andere Mal als sinnlos, als nichtsagend zeigt.
31 Was bedeutet das anderes als die Fraglichkeit jedes Sinnes?“27
32 Ausgehend von diesen phnomenologischen Beobachtungen schlgt Patočka
33 also vor, die historische Welt ganz allgemein durch die „Fraglichkeit oder Pro-
34 blemhaftigkeit jeden Sinngehalts“28 zu kennzeichnen. Die Erfahrung des Sinn-
35 verlusts wre infolgedessen ein Indiz fr so etwas wie den absoluten Sinn, inso-
36 fern diese Erfahrung zunchst und vor allem die des totalen Nicht-Sinns ist.
37
38
25 Ebd. 76.
26 Ebd. 77.
39 27 Ebd.
40 28 Ebd.
176 Karel Novotný

1 Falls es diese Verlusterfahrung tatschlich gibt – was der Großteil des sechsten
2 Essais ber die „Kriege des 20. Jahrhunderts und das 20. Jahrhundert als Krieg“
3 zu zeigen beabsichtigt –, dann ist sie nicht nur Bekrftigung fr die dogmatische
4 nihilistische These des definitiven Mangels an einem allumfassenden Sinn, son-
5 dern zeugt vielmehr von einer anderen Dimension abseits des partiellen und rela-
6 tiven Sinns, einer Dimension, die mit Heidegger als die des Seins bestimmt wer-
7 den kann, das „nichts Seiendes“ ist, oder mit Patočka als die Dimension einer
8 Transzendenz, von der aus er hnlich aber auch anders als Lvinas, den Men-
9 schen zu begreifen versucht.
10 Fr Patočka bleibt die Beziehung des Menschen zu dieser Dimension, die
11 sich wesentlich abgrenzen lsst von jedem partikularen, von dieser oder jener
12 Lebensttigkeit abhngigen Sinn, allerdings im Unterschied zu Heidegger an
13 eine „aktive“ Haltung gebunden: „Sinn kann nur erscheinen in einer aktiven Su-
14 che, die einem Sinnmangel entspringt, das heißt als Fluchtpunkt der Fraglich-
15 keit, als indirekte Epiphanie. Wenn wir uns nicht tuschen, dann entspricht diese
16 suchende Sinn-Findung als neuer Lebensentwurf dem Sinn der sokratischen
17 Existenz. Die stndige Erschtterung des naiven Sinnglaubens meint eine neue
18
Art von Sinn, meint die Entdeckung, dass der Sinn und die Rtselhaftigkeit des
19
Seins und des Seienden zusammenhngen.“29 Fr Patočka folgen daraus eine
20
zweifache Existenzmçglichkeit: erstens die vor-geschichtliche Existenz des Men-
21
schen, ber die er z. B. sagt: „Der Mensch der vor-geschichtlichen Epoche zieht
22
sich qua Selbstbescheidung in den akzeptierten Frieden mit dem Universum zu-
23
rck […]. Die Mçglichkeit der Erschtterung schwebt ber ihm, aber er schlgt
24
sie aus.“30 Und zu der zweiten Mçglichkeit bemerkt er etwa Folgendes: „Nicht
25
nur das individuelle Leben gelangt, wenn es die Erfahrung des Sinnverlustes
26
durchmacht und aus ihr die Mçglichkeit wie die Notwendigkeit eines vollkom-
27
men neuen Verhltnisses zwischen ihm selbst und allem brigen ableitet, zu ei-
28
ner umfassenden „Konversion“. Es scheint durchaus mçglich, dass das eigentli-
29
che Wesen der Zsur, die wir als Trennungslinie zwischen der vor-
30
geschichtlichen und der eigentlich geschichtlichen Epoche vorschlagen mçch-
31
ten, in der Erschtterung der naiven Sinngewissheit liegt, die das menschliche
32
33
Leben beherrscht – bis zu jener spezifischen Transformation, welche die fast
34
gleichzeitige – und in tiefem Sinne gleichursprngliche – Entstehung von Politik
35
und Philosophie bedeutet.“31
36 Zwei Vorstellungen von Freiheit treffen hier aufeinander: die (letztlich unver-
37 antwortliche) Freiheit des kreativen und des destruktiven Lebens einerseits und
38 29 Ebd. 80 – 81.
39 30 Ebd. 82.
40 31 Ebd. 81.
Die Genese einer Hresie 177

1 die Freiheit des Geistes andererseits, die den Mchten der Welt widersteht und
2 dem Nihilismus des Lebens widerspricht. Wenn Patočka also die philosophi-
3 schen Themen der Jugendzeit wieder aufnimmt, die Bewegung der Freiheit, die
4 sich gegen das unverantwortliche alltgliche Anonymat, gegen den Tag, auflehnt
5 und die sowohl die „geistige“ Existenz (gemß der Terminologie der 30er Jahre)
6 als auch den „geistigen Menschen“ (um den es in den Texten der 70er Jahre
7 geht32) definiert, so ist diese Idee gleichwohl umgestaltet durch ein neues Be-
8 wusstsein der historischen Situation. Patočka wird sich hier der Macht der allge-
9 genwrtigen wissenschaftlich-technischen Wirklichkeit bewusst und durch-
10 schaut genauer, in welchem Maße der Mensch durch das technische Verstndnis
11 alles Seienden bestimmt wird.
12 Und er stellt sich die – fr ihn eigentlich ketzerische – Frage: Inwiefern will
13 und vermag sich der heutige Mensch noch zu dieser sokratisch angesetzten Ge-
14 schichtlichkeit, ja zu dieser Geschichte zu bekennen? Die Ketzerischen Essais
15 stellen die Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz und ihrer Welt heraus,
16 um diese mit der gegenwrtigen Situation zu konfrontieren und in Frage zu stel-
17
len. Patočka hat schon vor den Ketzerischen Essais in der Reihe der Texte zur so
18
genannten nach-europischen Epoche der Geschichte, zu Nach-Europa am An-
19
fang der 70er Jahre Anstze zur De(kon)struktion der europischen Geschichte
20
entworfen.33 Also ist das Hretische der Ketzerischen Essais, die das spte Den-
21
ken Patočkas auf den Punkt bringen, die Infragestellung dessen, woran er sich
22
selbst als einem Kanon des philosophischen Lebens orientiert hat. Die Fraglich-
23
keit betrifft nun auch den Sinnbezug des Geistes als solchen, der im Bezug auf
24
das Ganze besteht, sie betrifft nicht nur den Sinnbezug des Lebens, der durch
25
partikulre Sinn- bzw. Zweckbezge artikuliert ist.
26
„Solches Ketzertum“, schreibt Hans Rainer Sepp, der mich auch hierbei inspi-
27
riert hat, „ist nicht damit charakterisiert, dass man ihm lediglich die Utopie eines
28
metanoein (einer Konversion) konzediert, wie es Paul Ricoeur tut. Es realisiert
29
die schwierige Position, welche zwischen den Extremen einer zu geringen und
30
einer zu großen Differenz die Balance hlt, abgerckt von dem Glauben, auf den
31
32
es sich bezieht, ohne in einem anderen Glauben angekommen zu sein. Die Positi-
33
on des Ketzers ist ein dplacement (Abweichung als wesentliche Bedingung der
34
Verantwortung, so Derrida), eine Verrckung, und darin ein Balanceakt auf den
35 32 Beispielsweise im Vortrag ,Der geistige Mensch und der Intellektuelle‘ vom April 1975
36 im in Anm. 16 erwhnten Rahmen des Vortragszyklus zum Problem des Anfangs und des Or-
37 tes der Geschichte. Jan Patočka: Problm počtku a m sta dějin – diskuse (Der geistige Mensch
38 und der Intellektuelle. In: Ludger Hagedorn, Hans Rainer Sepp [Hg.]: Jan Patočka: Texte, Do-
kumente, Bibliographie. Freiburg 1999. 103 – 123).
39 33 Vgl. dazu Karel Novotný: Europa und Nacheuropa in der philosophischen Reflexion Jan

40 Patočkas. In: Phainomena XVI, 60 – 61 (2007). 47 – 60.


178 Karel Novotný

1 Spitzen der Amplitude des Existenzvollzugs. […] nicht mehr da, nicht mehr wo-
2 anders, der Ketzer sagt einfach nein.“34
3
4
5
III. Zur Dissidenz
6
7
In seiner letzten Philosophie, die die Wirklichkeit der wiederum militrisch be-
8
setzten und „normalisierten“ Tschechoslowakei der 70er Jahre widerspiegelt,
9
sind die Freiheits- und Geistesmanifestationen, die den Mchten der Welt zu wi-
10
derstehen vermçgen, fr Patočka selten, sogar ußerst selten, jedoch nicht min-
11
der real geworden in Anbetracht der erheblichen Risiken, die sie begleiten. Ange-
12
sichts dieser Situation radikalisiert Patočka seine Idee der Freiheit. Es geht nun
13
nicht mehr nur darum, das Leben als Entgegnung auf die Alltglichkeit zu erneu-
14
ern, sondern das einfache berleben zu opfern, um die Mçglichkeit, ein mensch-
15
liches Wesen zu bleiben, die Wrde des Menschen als solchem, offenzuhalten.
16
Hier, in einem Gedanken des Opfers, so wie er im sechsten Ketzerischen Essai
17
anhand der exemplarischen Figur des geopferten Frontkmpfers radikalisiert
18
wird, geht Patočka ohne Zweifel weiter als Heidegger auf dem Gebiet der negati-
19
ven Fundierung der menschlichen Freiheit. Daher rhrt die Idee von einer radi-
20
kalen Freiheit, von der in den Ketzerischen Essais und anderen Texten dieser Zeit
21
die Rede ist: Es handelt sich hier nicht um eine Geistesfreiheit in dem Sinne, dass
22
deren letztes Ziel schließlich die contemplatio, die geistige Betrachtung, wre,
23
sondern um eine Freiheit des Menschen, der die Wahrheit seiner Situation nur
24
einsieht, indem er in ihr tatschlich handelt. Der Sinn der Freiheit liegt also nicht
25
in einer Selbstaufgabe, „sondern vielmehr in der Handlung selbst, die diese Geis-
26
teshaltung ermçglicht. Als beispielhaft erscheinen Patočka zu dieser Zeit Leute
27
wie Sakharov oder Soljenitsyne, die sich, hohe Risiken in Kauf nehmend, gegen
28
die Mchte eines gigantischen totalitren Staates und fr die Anerkennung des
29
irreduziblen Werts des Menschenwesens aussprechen“.35
30
Patočkas Philosophie, wie sie sich u. a. in den Essais ber die Geschichte und
31
die Politik darstellt, wurde von seinen Zeitgenossen und von uns, der Generati-
32
on der Schler seiner Schler, als eine Philosophie der Freiheit begriffen, die
33
zum Handeln aufruft. So lsst sich seine Wichtigkeit fr die Dissidentenbewe-
34
gung im weiten Sinne, aber auch spezifischer fr einige Dissidenten begreifen,
35
die sich aktiv dem kommunistischen Regime der Tschechoslowakei widersetzt
36
haben. Die Freiheit des Geistes, die er in den Mittelpunkt seiner Philosophie
37
stellt, scheint mir ein Moment von Dissidenz zu enthalten, insofern die radikale
38
39 34 Hans Rainer Sepp: Nachwort. In: Jan Patočka: Ketzerische Essais. 237.
40 35 Karf k: Unendlichwerden durch die Endlichkeit. 169.
Die Genese einer Hresie 179

1 Distanz-bernahme zur gegebenen Welt, deren Notwendigkeit sie herausstellt


2 und die fr Patočka den konstitutiven Akt des philosophischen Lebens bezeich-
3 net, nicht in einer kontemplativen Position „außerhalb der Welt“ mndet, son-
4 dern im Gegenteil als ein engagiertes Denken dazu fhig ist, einen direkten Ein-
5 fluss auf die Handlung auszuben und auf diese Weise das praktische Leben zu
6 gestalten. Dies leitet sich zweifelsohne auch von der Tatsache ab, dass diese Phi-
7 losophie selbst die negativsten Erfahrungen der menschlichen Existenz zu be-
8 greifen und zu integrieren weiß und so die Frage oder besser: die Fragen nach
9 ihrem Sinn neu zu stellen vermag.
10 Es gibt also bei Patočka einen letztgltigen Kanon des philosophischen Le-
11
bens, der zugleich durch das Politische geprgt ist: Patočka greift mit Hannah
12
Arendt auf den griechischen Ursprung des Politischen zurck, wobei er mehr
13
als sie die Parallele zwischen der Freiheit des Handelns und des Denkens betont:
14
„So wie sich der Mensch im politischen Handeln der Fraglichkeit aussetzt, inso-
15
fern die Ergebnisse seines Handelns fr ihn unabsehbar sind und jede von ihm
16
ergriffene Initiative sofort in fremde Hnde fllt, so setzt sich der Mensch in der
17
Philosophie der Fraglichkeit des Seins und des Sinnes alles Seienden aus.“36
18
In Patočkas Sicht kommt es zu Situationen, in denen sich der Mensch auf sich
19
selbst stellen muss, sich auf sich selbst gestellt sieht, denn er verliert mit der Ein-
20
21
sicht in die Relativitt der Sinnhorizonte seiner Welt das Gefhl der ungebroche-
22 nen Geborgenheit in einer tragbaren Ordnung. Und er ußert die berzeugung,
23 dass die Kontinuitt der europischen Geschichte gerade durch die Aufgabe ge-
24 stiftet wurde, die die griechische Polis stellte: aus Freiheit den Raum der Freiheit
25 zu schaffen. Dabei ist er sich zugleich durchaus der Kehrseite der Versuche be-
26 wusst, diese Aufgabe praktisch zu verwirklichen, in konkrete Institutionen und
27 Prozeduren umzusetzen, und damit ist er sich ausdrcklich ber die Ambiguitt
28 des Prinzips der Freiheit selbst im Klaren, die er der ganzen europischen Ge-
29 schichte im engeren Sinne zugrundelegt und die er auch ketzerisch in Frage
30 stellt.
31 So charakterisiert er explizit die Zweideutigkeit der Freiheit im ersten Ketzeri-
32 schen Essay auf folgende Weise: „Geschichte und Freiheit gehen zusammen. Es
33 geht aber nicht an, Geschichte als Fortschreiten im Bewusstsein der Freiheit zu
34 fassen. Die Entdeckung der Freiheit als Mçglichkeit bedeutet keineswegs einen
35 notwendigen Sieg der Freiheit. Das grndet im Grundphnomen der Freiheit,
36 welche daran gebunden ist, dass das Menschenwesen in Wahrheit und Verant-
37 wortung existieren kann und deshalb auf jene Durchsichtigkeit angewiesen ist,
38 welche ohne Verbergung nicht mçglich ist; und in jenem Sichentziehen ist die
39
40 36 Jan Patočka: Ketzerische Essais. 83.
180 Karel Novotný

1 Zweideutigkeit der Freiheit gegrndet, welche sich selbst entgehen, so wie die
2 ursprngliche Wahrheit sich entziehen kann – und sogar muss.“37
3 Es wird also bei Patočka meines Erachtens wie folgt appelliert: Der Mensch
4 soll seine Fhigkeit und seinen Mut, die Wahrheit ber seine eigene Situation zu
5 erlangen, herausfordern, indem er sich seiner Situation aktiv stellt, er mutet aber
6 dem Menschen kein „Leben in der Wahrheit“ zu, die er besitzen kann oder die
7 ihn besitzen kann. Die Radikalisierung der Epoch, der Kanon des philosophi-
8 schen Lebens, besteht eher in der Negativitt der Freiheit, Nein! zu sagen. Epo-
9 ch ist ein Grundakt der Philosophie fr Patočka, der mit einem Engagement in
10 der sozialen Welt, mit der Freiheit zusammenhngt, in der Welt gegen ihren Ver-
11 fall zu wirken.
12
13
14
15
16
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20
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30
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33
34
35
36
37
38
39 37 Jan Patočka: Vor-geschichtliche Betrachtungen. In: Ders.: Pče o duši. Teil III. Prag

40 2002. 527 f. (deutsche Version in eigener bersetzung von Jan Patočka).


1 Alice Pugliese
2
3
4 Subjektive und intersubjektive Genesis der Handlung
5
6
7
8
1. Einfhrung
9
10
In der aktuellen philosophischen Debatte werden die klassischen Probleme der
11
moralischen Verantwortung und der menschlichen Natur immer hufiger auf
12
die Frage nach einer menschenspezifischen „agency“ zugespitzt. Dies wird als
13
terminus technicus verwendet, um einige subjektive Ablufe der praktischen
14
Sphre als „Handlungen“ auszuzeichnen und von nicht-intentionalen Verhal-
15
tensweisen, Gesten und sonstigen Ttigkeiten zu unterscheiden. Mit Hilfe einer
16
solchen Definition werden jedoch die Fragen der moralischen Verantwortung,
17
der Besonderheit des menschlichen Verhaltens gegenber dem brigen Tierreich
18
und letztlich seiner spezifischen Natur nicht beantwortet, sondern lediglich in
19
einen dichteren Fragehorizont eingeordnet. Die berinterpretation der agency
20
als entscheidendes Kennzeichen des menschlichen Ttigseins bietet keine gene-
21
relle Lçsung, sondern stellt uns vielmehr vor weitere theoretische und morali-
22
sche Herausforderungen.
23
Obwohl eine systematische Darstellung der Handlungsproblematik weder
24
im verçffentlichten noch im unverçffentlichten Werk Husserls zu finden ist, bie-
25
tet es entwicklungsfhige Anstze, welche die Brennpunkte der aktuellen Debat-
26
27
te berhren und in manchen Hinsichten eine Alternative zu verbreiteten und
28
wohletablierten Sichtweisen darstellen.1
29
In den Ethik-Vorlesungen (1908 – 14, 1920 – 24) und in den Forschungsmanu-
30
skripten zur Struktur des Bewusstseins betrachtet Husserl das Problem der
31
Handlung im Zusammenhang mit der Struktur der Subjektivitt und ihrer prak-
32
tischen Verwirklichung. In den Manuskripten entfaltet er die Beschreibung der
33
Handlung im Rahmen einer Analyse des Denkens und des Gemts.2 Die Hand-
34
lung erweist sich dabei als ein „willentlicher Ablauf“3 im Gegensatz zu rein phy-
35 1 Vgl. die ausfhrliche und differenzierte Rekonstruktion in Sonja Rinofner-Kreidl: Moti-
36 ve, Grnde und Entscheidungen in Husserls intentionaler Handlungstheorie. In: Verena
37 Mayer, Christoph Erhard, Marisa Scherini (Hg.): Die Aktualitt Husserls. Mnchen 2011.
38 232 – 277, die deutlich zeigt, wie Husserl nicht nur eine antikausalistische Theorie vertritt, son-
dern ein umfassenderes Verstndnis der Handlungsfrage erstrebt.
39 2 Vgl. Ms. A VI 12 I/6a.

40 3 Ms. A VI 12 II/186a.

Phnomenologische Forschungen 2013 ·  Felix Meiner Verlag 2013 · ISSN 0342-8117


182 Alice Pugliese

1 sischen, natrlichen Vorgngen. Die durchgehend vertretene These lautet, dass


2 die Handlung „in ihrem ganzen Verlauf willentlich“ ist.4 Es scheint sich also um
3 ein rationalistisches Verstndnis des Phnomens zu handeln, das die praktische
4 Sphre hauptschlich im Ausgang von einer Parallele zur theoretischen Sphre
5 interpretiert.
6 Zwei Anstze konkurrieren allerdings im husserlschen Ansatz miteinander:
7 Die Handlung wird einerseits als eine konturierte Einheit beschrieben und ande-
8 rerseits in ihren verschiedenen Komponenten oder Phasen des Willens, des Im-
9 pulses, der Bewegung, der konkreten Realisierung und des Ziels ausgelegt. Hus-
10 serl sieht sich hier mit folgender grundlegenden methodologischen
11 Schwierigkeit konfrontiert: Die Anwendung einer phnomenologischen Metho-
12 de setzt die Einzelanalyse einer bestimmten Erfahrung voraus. Doch bereits bei
13 der Ermittlung eines passenden Beispiels, an dem die phnomenologische Be-
14 schreibung vorgenommen werden kçnnte, erweist es sich als sehr schwierig,
15 eine einzelne Handlung herauszukristallisieren, um ihre Komponenten und Be-
16 dingungen darzustellen. Bei der Bestimmung einer „einfachen“, isolierbaren
17 Handlung, die betrachtet werden sollte, geraten wir in eine Spirale fortschreiten-
18 der Zerlegungen, in denen sich das Objekt der Analyse schließlich auflçst. Die
19 Suche nach einer einfachen, einheitlichen und abgeschlossenen Handlung als fes-
20 te Untersuchungsbasis und als Modell fr eine mçgliche Definition derselben
21 fhrt durch fortschreitende analytische Schritte, welche die verschiedenen
22 Schichten eines Handlungskomplexes auseinandernehmen und dessen Einheit-
23 lichkeit und Abgeschlossenheit sprengen.
24 Doch nicht nur komplexe, anspruchsvolle Handlungen, die auf einen bewuss-
25 ten Entschluss zurckgehen, lassen sich in einfachere, einheitlichere Einzelhand-
26 lungen zerlegen, sondern in konsequenter Durchfhrung kann die Beschreibung
27 der elementarsten Handlung eine Vielfalt einzelner Elemente aufdecken, bis sie
28 in einer Mannigfaltigkeit von Gesten und Bewegungen verschwimmt und es so-
29 mit unmçglich wird, die daraus gewonnene Ablaufkette berhaupt noch als
30 Handlung wiederzuerkennen. Dasselbe gilt in einem gewissen Sinn fr alle For-
31 schungsobjekte, die zur Dimension des Subjekts gehçren und sich deswegen
32 prinzipiell einer objektiven und bloß sinnlichen, materiellen, physischen Be-
33 trachtung entziehen. Auch die Umgrenzung von Bewusstseinsakten, intentiona-
34 len Erlebnissen oder Gefhlen hngt vom Ausgangspunkt der Beschreibung ab
35 und bereitet deswegen erhebliche methodologische Probleme und Begrndungs-
36 schwierigkeiten.
37 Im Fall der Handlung scheinen sich diese zu verschrfen. Die offenkundig
38 mit einer Handlung verflochtene Anbindung an die ußere, physische sowie so-
39
40 4 Ms. A VI 12 II/186b.
Subjektive und intersubjektive Genesis der Handlung 183

1 ziale, politische Welt und ihre zumindest partielle Abhngigkeit von materiellen
2 und faktischen Bedingungen machen es besonders schwer, das handelnde Sub-
3 jekt als den einzigen Urheber der Handlung zu sehen, ihn als die einzig berech-
4 tigte Quelle fr die Bestimmung der Grenzen und der Struktur einer Handlung
5 zu identifizieren.
6 Der theoretische Ansatz, der vom Begriff der „agency“ ausgeht und folglich
7 die Handlung in den Rahmen einer umfassenden Subjektivittstheorie einord-
8 net, scheint zunchst in eine Sackgasse zu fhren. Der Bezug auf die Subjektivi-
9 tt erschçpft die Frage nach dem Handeln nicht, sondern vervielfltigt vielmehr
10 die Unklarheiten. Ein radikaler Verzicht auf den Begriff der Subjektivitt wrde
11 jedoch den Kern der phnomenologischen Perspektive anfechten. Mehr noch:
12 Er wrde die Handlung aus dem Bereich der fr die Person relevanten Phnome-
13 ne in das Reich der Natur zurckversetzen und damit den sozial entscheidenden
14 Fragen nach menschlicher Verantwortung und moralischer Verbindlichkeit den
15 Boden entziehen.
16
17
18 2. Handeln vs. Handlung
19
20 In den Manuskripten von 1909/10, die zu den Studien zur Struktur des Bewusst-
21 seins gehçren, erkundet Husserl unermdlich den Weg, die Handlung als einheit-
22 lichen Prozess mit seinen immanenten Bedingungen der Mçglichkeit zu erfor-
23 schen. Trotz der experimentierenden Einstellung, die die Forschungs-
24 manuskripte charakterisiert, scheint er sich hier von einem traditionellen, star-
25 ren Modell nicht freimachen zu kçnnen. Die Handlung erscheint als bloße Ver-
26 wirklichung eines impulsgebenden Entschlusses, den er wiederholt als ein „fiat“
27 bezeichnet: „es gehçrt a priori zum Wesen der Handlung, dass sie ein fiat <ei-
28 nes> unvermittelten Realisierungswillens ist, das durch solch eine spontane Rei-
29 he stetig hindurchgeht, sich dabei stetig willentlich erfllt, das ist, realisiert“.5
30 Doch selbst innerhalb dieses idealisierten Modells, das die gesamte sinnkonsti-
31 tutive und kreative Wirksamkeit dem mentalen Akt des Entschlusses zuschreibt,
32 ringt Husserl mit der Schwierigkeit, eine „schlichte“ Handlung zu identifizie-
33 ren, und kann schließlich nicht umhin zu bemerken: „Nur ideell kçnnen wir
34 Teilungen vollziehen, Stcke der Handlung ideell herausheben“.6
35 Das symptomatische Auftauchen solcher Dissonanzen stellt uns vor die Her-
36 ausforderung, die husserlschen Untersuchungen ber ihre Grenzen hinaus wei-
37
38
5 Ms. A VI 12 I/8a.
6 Gefangen in seinem starren Modell, versucht Husserl, die Schwierigkeit auf der Basis ei-
39 nes fehlenden fiat zu lçsen: Es ist „in keiner Weise selbstndige Handlung, wenn das fiat fehlt“
40 (Ms. A VI 12 II/212 a).
184 Alice Pugliese

1 terzufhren. Eine vorlufige Antwort auf das Problem der Identifikation „ei-
2 ner“ Handlung zum Zwecke ihrer Definition besteht im Zurckgehen vom
3 Handlungsbegriff auf den Begriff eines „Handelns“ als kontinuierlichen und un-
4 zerstckbaren Prozess.
5 Die Erfahrungsbeschreibung zeigt in der Tat, dass wir weder einzelne Hand-
6 lungen allein fr sich vollziehen noch eine Kette von isolierbaren Momenten
7 durchleben. Wir leben vielmehr in einem unaufhçrlichen praktischen Strom, in
8 dem aktive Verhaltensweisen und praktische Ablufe von verschiedener Natur
9 untrennbar ineinanderfließen.
10 Das Modell eines „Handlungsstroms“ bercksichtigt die dynamische und
11 vielfltige Natur dieser Problematik. Doch erhçht sich dadurch die Gefahr, die
12 Eigenart des Themas aus dem Fokus zu verlieren. Die Betonung der Prozesshaf-
13 tigkeit der Handlung, ihrer internen Mannigfaltigkeit und ihrer Prgung durch
14 unterschiedliche Bewusstseinsqualitten droht die Prgnanz der Handlung als
15 eigenes Phnomen zu verkennen und sie auf eine bloße Ttigkeit mit verschiede-
16 nen Deutungsmçglichkeiten zu reduzieren. Wenn keine ausgeprgte, eigenstn-
17 dige Handlung identifizierbar ist, lsst sich mçglicherweise die gesamte Proble-
18 matik auf einen ununterbrochenen und undifferenzierten Fluss von Ttigkeiten
19 herunterstufen, die lediglich unterschiedlich und jeweils nach Belieben beschrie-
20 ben werden kçnnen. Die Bedeutsamkeit der Handlung als eigenes und wesentli-
21 ches Gebiet der Subjektivittsforschung lsst sich jedoch nicht bersehen. Sie
22 von einer bloßen Ttigkeit zu unterscheiden, bleibt ein wesentliches Anliegen
23 der husserlschen Versuche in dieser Richtung.7 Es muss also ein heuristisches
24 Prinzip, ein Kriterium, herausgearbeitet werden, welches die Eigenart des
25 menschlichen Handelns hervorzuheben ermçglicht, ohne in die Befangenheit ei-
26 ner abstrakten und atomistischen Handlung zurckzufallen.
27
28
29
3. Eindimensionale vs. multidimensionale Auffassung des Handelns
30
31
Eine traditionelle Lçsung dieses Problems greift auf den Begriff der Zweckm-
32
ßigkeit zurck. Nach dieser Interpretation lsst sich die menschliche Handlung
33
nicht auf eine bloße Geste, auf das Ttigsein oder gar auf ein Naturereignis redu-
34
zieren. Die Handlung unterscheidet sich von solchen verwandten Phnomenen
35
36 7 Vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phnomenologie und phnomenologischen

37 Philosophie. Zweites Buch. Hrsg. von Marly Biemel. Hua IV. Den Haag 1952. § 60. 258: „Vor
38 dem Willen mit der aktiven Thesis des ,fiat‘ liegt das Tun als triebmßiges Tun, z. B. das unwill-
krliche ,ich bewege mich‘, das unwillkrliche ,ich greife‘ nach meiner Zigarre, ich begehre
39 danach und tue es ,ohne weiteres‘, was freilich nicht leicht vom Falle der Willkr im engeren
40 Sinne zu scheiden ist“.
Subjektive und intersubjektive Genesis der Handlung 185

1 dadurch, dass durch sie auf einen bestimmten Zweck abgezielt wird. Sie ist typi-
2 scherweise ,zweck-beladen‘, trgt den Zweck in sich und ist deswegen einer eige-
3 nen Form von Rationalitt unterworfen: der Zweck-Mittel-Rationalitt.
4 Christine Korsgaard hat die Entwicklung des teleologischen Handlungsbe-
5 griffs vom britischen Utilitarismus bis zu den zeitgençssischen analytischen
6 Handlungstheorien auf prgnante Weise rekonstruiert.8 Sie identifiziert den phi-
7 losophischen Kern dieses Modells in der Annahme, dass der Eigencharakter der
8 Handlung durch ihren Zweck bestimmt wird. Das Anstreben eines Ziels stellt
9 hiernach nicht nur den Hauptunterschied zwischen Handlungen und bloßen Ak-
10 ten dar, es gilt nicht nur als hermeneutisches Prinzip, als ußerer Maßstab, um
11 verschiedene Phnomene innerhalb der praktischen Dimension zu unterschei-
12 den. Die angestrebte Realisierung eines bestimmten Ziels sei vielmehr das uner-
13
lssliche Merkmal, auf dem das Wesen der Handlung beruht: „An action, then,
14
involves both an act and an end, an act done for the sake of an end“.9 Dem Ziel
15
kommt also ein unvergleichlicher Vorrang zu, nicht nur in Bezug auf das Urtei-
16
len ber die vollzogene Handlung, sondern bereits hinsichtlich deren Eigen-
17
struktur und innerer Normativitt.
18
Diesem zweckorientierten Modell stellt Korsgaard den Ansatz Aristoteles’
19
und Kants gegenber als einen solchen, der eine vielschichtige und komplexere
20
Beschreibung ermçglicht. Diese fhrt die Handlung nicht auf ein einziges aus-
21
zeichnendes Element zurck, sondern entfaltet sie im Ausgang von ihrer inter-
22
nen Pluralitt. Der Zweck, der verfolgt und meist als Grund der vollzogenen
23
Handlung genannt wird, erweist sich damit als nur ein Faktor von vielen, die bei
24
25
deren Entstehung und im Ablauf des praktischen Lebens zusammenwirken.
26
Besonders bei Aristoteles wird diese innere Dynamik im Detail ausgefhrt
27 und ihr Sinn und Wert betont. Nach der aristotelischen Deutung besteht die
28 menschliche Handlung nicht nur in dem Streben nach einem Ziel und nach des-
29 sen mehr oder weniger geglckter Realisierung. Der Erfolg und der praktische
30 Wert einer Handlung kçnnen nicht ausschließlich in Bezug auf den erstrebten
31 Zweck gemessen werden. Entscheidend ist vielmehr die bereinstimmung mit
32 dem orthos logos.10 Die richtige Form und ratio des Handelns wird im Buch VI
33 der Nikomachischen Ethik nach den Maßstben der „mesotes“ (les|tgr), der An-
34 gemessenheit und der Verhltnismßigkeit, bestimmt. Verschiedene, miteinan-
35 der zusammenhngende Koordinaten wie Zeit und Raum, Art, Objekt usw. wir-
36 ken bei der Bestimmung der inneren Natur und Struktur der Handlung, der
37
8 Vgl. Christine M. Korsgaard: Self-Constitution. Agency, identity and integrity. New
38
York 2009. 1 – 26.
39 9 Korsgaard: Self-Constitution. 11.

40 10 Aristoteles: Nikomachische Ethik II 2. 1103b.


186 Alice Pugliese

1 Bedingungen ihrer Durchfhrung und ihrer spezifischen Bedeutsamkeit mit.


2 Dieses Zusammenwirken beeinflusst wiederum die Form des Verhltnisses zwi-
3 schen Handlung und Zweck. Es geht z. B. nicht nur darum, ins Wasser zu sprin-
4 gen, um einen Ertrinkenden zu retten. Damit sich diese als eine authentisch sinn-
5 volle Handlung erweist, muss auch bercksichtigt werden, wann, wo, unter
6 welchen Bedingungen, von wem, mit welchen Mitteln usw. gehandelt wird. All
7 diese Faktoren spielen mit hinein, um die Sinnhaftigkeit menschlichen Handelns
8 zu definieren. Das Wesen der Handlung, nicht nur ihre Moralitt oder Normati-
9 vitt, hngt von einem besonderen inneren, mehr oder weniger ausgeglichenen
10 Zusammenspiel verschiedener Faktoren ab.
11 Ein solches Muster, das die zentrale Bedeutung der inneren Balance zwischen
12 subjekt-abhngigen Elementen (Absicht, Entscheidung, Ziel) und kontingenten,
13 externen Elementen (Raum, Zeit, soziale Rollen usw.) zur Geltung kommen
14
lsst, scheint auch fr eine phnomenologische Beschreibung eine geeignete her-
15
meneutische Mçglichkeit zu bieten. Es wahrt zwar die Vielschichtigkeit der sub-
16
jektiven Handlungsablufe, zwingt sie aber nicht in eine abstrakte Theorie und
17
bleibt insofern der inneren Vielfalt des Phnomens nah.
18
Um das Modell aber folgerichtig fr das phnomenologische Unternehmen
19
zu gewinnen, ist seine Vereinbarkeit mit dem Kern der phnomenologischen Me-
20
thode zu prfen. Insbesondere msste ein phnomenologisches Verstndnis der
21
Handlung die Spezifizitt der Ersten-Person-Perspektive bewahren. Das plurale
22
und horizontale Modell, das wir der aristotelischen Handlungstheorie entneh-
23
men, muss eine eindeutige Zentrierung um die Subjektivitt aufweisen, um sich
24
in den phnomenologischen Diskurs widerspruchslos einfgen zu kçnnen. Ei-
25
26
nerseits wird also eine umfassende Betrachtung der Handlung erstrebt, die diese
27
nicht ausschließlich in der Realisierung eines vorbestimmten Ziels erschçpft. An-
28 dererseits kann der phnomenologische Ansatz nicht bei einer abstrakten Ano-
29 nymitt stehenbleiben oder in eine Verobjektivierung des Handlungsbegriffs
30 mnden. In phnomenologischer Hinsicht muss vielmehr der Fluss des Han-
31 delns auf den subjektiven Pol der praktisch aktiven Person zurckgefhrt und
32 die sinnstiftende Perspektivitt, die daraus entsteht, bercksichtigt werden.
33 Whrend also die ußere Zentrierung um einen zu verwirklichenden Zweck
34 das Risiko einer Verarmung und Einschrnkung der inneren Komplexitt der
35 Handlung mit sich bringt, ermçglicht der Bezug auf die Person eine Einordnung
36 der singulren Handlung in den komplexen Kontext des personalen Lebens.
37 Handeln erweist sich damit als untrennbarer Strom von Phnomenen, der zu-
38 gleich mit den verflochtenen Strçmen der inneren Zeitlichkeit, der intentionalen
39 Akte, der Kinsthesen und der passiven Sinnleistungen fließt. Eine solche Zen-
40 trierung durch die konkrete Einheit der Person wirkt sich nicht in einer vereinfa-
Subjektive und intersubjektive Genesis der Handlung 187

1 chenden Abstraktion der Handlung aus, sondern ordnet diese in den umfassen-
2 deren Horizont des subjektiven Lebens ein.
3 Um jedoch die Gefahr einer Verformung durch ein einseitiges Modell mit Si-
4 cherheit zu vermeiden, muss eine idealisierende Deutung des Begriffs der Person
5 im Sinne eines metaphysischen Prinzips ausgeschlossen werden. Dafr ist nicht
6 nur an ihrer zentrierenden Rolle festzuhalten, sondern auch ihre konkrete Wir-
7 kung nher auszulegen.
8 Zu diesem Zweck beginnen wir mit folgender Beobachtung: Die Zentrierung
9 durch die Person funktioniert nur, indem sie immer wieder neue De-Zentrierun-
10 gen veranlasst und zulsst. Doch soll die Polarisierung des ununterbrochenen
11 Handlungsflusses um das Subjekt nicht als eine absolute und unbestrittene
12 Macht des Individuums ber die eigene praktische Dimension verstanden wer-
13 den. Die Eigenart und hermeneutische Kraft des phnomenologischen Ansatzes
14 bestehen zwar darin, die Frage nach dem „Wie“ und vor allem nach dem „Wem“
15 der Handlung zu stellen. Die Handlung als Handlung von jemandem zu sehen,
16 heißt, ihre Prgung durch eine unentbehrliche und sinnstiftende Perspektivitt
17 zur Geltung kommen zu lassen, sie insofern von Naturereignissen zu unterschei-
18 den und andere Gesetze als die Naturgesetze fr sie herauszuarbeiten.11
19 Die Struktur der Handlung ermçglicht jedoch keine schlichte absolut egologi-
20 sche Zentrierung. Indem sie immer eine Vernderung in der Welt vollbringt und
21 dadurch eine mehr oder weniger bewusste Interaktion mit Dingen und anderen
22 Lebewesen impliziert, setzt sie den Einsatz der kompletten Person als psycho-
23 physisches Subjekt und als sozialen Akteur voraus. Die geforderte Zentrierung
24 weist also nicht auf einen leeren egologischen Pol. Es wird vielmehr ein dynami-
25 scher Prozess skizziert, der auf unterschiedlichen Niveaus abluft und die Leis-
26 tung eines vielschichtigen Subjekts verlangt. Die Beschreibung einer solchen Dy-
27 namik stellt eine sehr umfangreiche Aufgabe dar. Deshalb mçchte ich im
28 Folgenden versuchen, nur drei Aspekte zu skizzieren, die jeweils auf umfassen-
29 dere Dimensionen hinweisen und weitere Untersuchungsarbeit erfordern.
30
31
32
33
34
35 11 Die phnomenologische Perspektive scheint mir insofern unvertrglich mit naturalisie-
36 renden Anstzen wie demjenigen Davidsons, der zur Erklrung der Handlung fr eine Kausal-
37 basis pldiert. Eine przise Darstellung der phnomenologischen Kritik an Davidson findet
38 sich bei Karl Mertens: Mçglichkeiten und Grenzen einer phnomenologischen Theorie des
Handelns. berlegungen zu Davidson und Husserl. In: Carlo Jerna, Hanne Jacobs, Filip Mat-
39 tens (Hg.): Philosophy, phenomenology, sciences. Essays in commemoration of Edmund Hus-
40 serl. Dordrecht 2010. 461 – 482.
188 Alice Pugliese

1 4. Kinsthesen
2
3 Die erste Schicht der Zentrierung durch die Person geht auf die Prozesse der
4 Leibkonstitution und der Kinsthesen zurck. Die ursprngliche Polarisierung
5 des Handlungsflusses vollzieht sich zunchst nicht durch reflektives Selbstbe-
6 wusstsein. Dieses stellt eine hçherstufige Leistung dar, die nur im Nachhinein
7 und meist erst dann einsetzt, wenn etwas vorfllt: ein unerwartetes Ergebnis, ein
8 Fehler oder Hindernis. Nicht einmal das Sehen, als relativ distanzierte Sinnes-
9 wahrnehmung, ist auf dieser tiefen ersten Stufe der Handlungszentrierung erfor-
10 derlich. Ich sehe nicht meine Handlung, ich empfinde, erlebe, spre, fhle mich
11 selbst – ganz – handelnd. Der ununterbrochene Fluss des Handelns erfhrt eine
12 erste passive und dennoch wesentliche Zentrierung durch das kinsthetische
13 Empfinden. Husserl ordnet dies in Erfahrung und Urteil in ein Zwischenreich
14 zwischen Wahrnehmung und Handlung ein und betont dessen unentbehrliche
15 Rolle fr einen effektiven Wahrnehmungsprozess: „Wir nennen diese Bewegun-
16 gen, die zum Wesen der Wahrnehmung gehçren und dazu dienen, den Wahrneh-
17 mungsgegenstand mçglichst allseitig zur Gegebenheit zu bringen, Kinsthesen.
18 Sie sind Auswirkungen der Tendenzen der Wahrnehmung, in gewissem Sinne
19 ,Ttigkeiten‘, obschon nicht willkrliche Handlungen.“12
20 Die Kinsthesen stellen nicht ein inneres Abtasten, eine innere Prfung der
21 aktuellen leiblichen Verfassung oder des eigenen Kçrperzustandes dar. Sie be-
22 zeichnen vielmehr eine fr die Selbstkonstitution wesentliche Synthesis zwi-
23 schen Leibempfindungen und Objektwahrnehmung. Es handelt sich um die
24 Wahrnehmung einer Bewegung, um das Fhlen einer Vernderung in der eige-
25 nen relativen Position zu den Dingen und schließlich auch das Fhlen des Ver-
26 harrens oder Sich-Vernderns der Dinge selbst: „Nun ist im Ichlichen bei dem
27 ußeren ,Handeln‘ und jedem ußeren Tun, wie <bei> dem bloß wahrnehmen-
28 den Betrachten, eine Vielschichtigkeit der Funktion (d.i. eben des Tuns). In der
29 ußeren Handlung liegt, wenn sie unmittelbar ist (gegenber den mittelbaren,
30 z. B. beruflich Kufe und Verkufe abschließen), also in der wahrnehmungsmßi-
31 gen Umwelt sich abspielt, <eine> Kontinuitt des Wahrnehmens des identi-
32 schen Wahrnehmungsobjektes in seinem unvernderten und dann vernderli-
33 chen Verharren – mit der hçheren Schicht des verndernden, schaffenden Tuns
34 der ußeren Handlung selbst.“13
35
36
37
38
12 Edmund Husserl: Erfahrung und Urteil. Hrsg. von Ludwig Landgrebe. Prag 1939. § 19.
89.
39 13 Edmund Husserl: Spte Texte ber Zeitkonstitution (1929 – 1934). Die C-Manuskripte.

40 Hrsg. von Dieter Lohmar. Hua Mat VIII. Dordrecht 2006. 237 f.
Subjektive und intersubjektive Genesis der Handlung 189

1 In der niedrigen selbstbezogenen Funktion der Kinsthesen ist ein Verweis


2 auf den Wahrnehmungshorizont impliziert. Die Zentrierung, die hier stattfin-
3 det, bewirkt demnach zugleich eine De-Zentrierung, einen Bezug auf Anderes.
4 Hier zeigt sich, dass die Deutung des Handelns als direkte, unmittelbare und
5 eindeutige Leistung des eigenen kçrperlichen Kçnnens nicht schlechthin stand-
6 halten kann. Husserl bemerkt die wesentliche Relationsstruktur der Kinsthese
7 und betont dabei ihren Sinn als nicht rein egologische Leistung, als nicht nur
8 ichlicher Zusammenhang: „Die bestndige kinsthetisch-hyletische Koexistenz
9 hat die ,Bedeutung‘ angenommen eines kinsthetisch-hyletischen (ichlich-nich-
10 tichlich) verbundenen Weil bzw. Wenn-So.“14
11 Die Kinsthesen stiften eine konstitutive Regelmßigkeit, die als Fundament
12 unserer Wahrnehmung von der bestehenden Umwelt im Ausgang von den eige-
13 nen aktiven und passiven, bewussten und leiblichen Wirkungen fungiert. Eine
14 solche, nicht lediglich physisch-kausale Gesetzmßigkeit wirkt als doppeltes Re-
15 lationsprinzip: Einerseits entwickelt sich dadurch eine Synthese zwischen dem
16 leiblichen inneren Selbstgefhl und der Affektion durch die eigene physische
17 Kçrperlichkeit (Leib-Kçrper-Bezug). Andererseits gestaltet sich der Zusammen-
18 hang zwischen der leibkçrperlichen Stellung und der umgebenden Umwelt
19 (Leib-Umwelt-Bezug). Durch die Fundierung in der tiefgehenden Wirkung der
20 Kinsthese scheint also die praktische Sphre des Handelns weder auf der Per-
21 son als abstraktes metaphysisches Prinzip noch bloß auf der physischen Kçrper-
22 lichkeit als Vorbedingung jedes Kçnnens zu beruhen; sie grndet vielmehr in
23 der zirkulren und unerschçpflichen Dynamik zwischen Kçrper und Leib und
24 in dem stndigen konstitutiven Verweis auf die Umwelt.
25
26
27
5. Triebhafte Zentrierung
28
29
Ein zweiter Aspekt, der in der konkreten Person als Zentrierungsfaktor des Han-
30
delns seine Wirkung zeigt, besteht in den tiefen vor-egologischen Schichten des
31
Bewusstseins. Schon der Exkurs ber die Kinsthese und den Leib-Kçrper-Zu-
32
sammenhang hat uns mit der faktischen Struktur einer leiblichen Subjektivitt
33
und ihrer Rolle bei der Gestaltung des Handelns konfrontiert. Nun lassen sich
34
auch innerhalb des Bewusstseins Motivationsquellen hervorheben, die nicht rein
35
egologischer Natur sind. Sptestens seit den Studien widmet Husserl umfassen-
36
de Untersuchungen den triebhaften Tendenzen, die er als innere, und im Aufbau
37
des Bewusstseins sehr bedeutsame Komponenten interpretiert.15 Im Gegensatz
38
39 14 Husserl: C-Manuskripte. 52. Meine Hervorhebung.
40 15 Vgl. Ms. A VI 3 (1914).
190 Alice Pugliese

1 zu der verbreiteten Ansicht, die den Trieb als reines Hindernis versteht, als pas-
2 sio, die einen stetigen Widerstand gegen die freie, bewusste, theoretische und mo-
3 ralische Handlung leistet, zeigt die Phnomenologie ein steigendes Interesse fr
4 solche vor-bewussten Tendenzen; sie werden in die Struktur des Bewusstseins
5 integriert und nicht mehr ins Reich des bloß Naturellen oder Kçrperlichen ver-
6 bannt.16
7 Dennoch ordnet Husserl den Trieb in die Sphre der Passivitt ein. Dies kçnn-
8 te, in Verbindung mit dem schon erwhnten starren Modell, das die Handlung
9 als Ausfhrung eines vorangehenden Entschlusses darstellt, der als unmittelba-
10 res fiat wirkt, zur Interpretation der Handlung als aktive berwindung einer
11 ursprnglichen triebhaften Trgheit oder Unbestimmtheit fhren. Allerdings ist
12 dies nicht der Fall, weder im konkreten Ablauf der Phnomene noch in der hus-
13 serlschen Deutung. Husserl beschreibt den Trieb – im Unterschied zum Instinkt
14 – als eine innere Kraft, die keinen vorgeordneten Ablauf von Handlungen und
15 Reaktionen auslçst und kein streng vorgezeichnetes Erfllungsobjekt hat. Der
16 Trieb ist durch eine gewisse Unbestimmtheit geprgt. Dennoch fungiert er als
17 eine intentionale Tendenz. Er ist „allgemein-unbestimmt auf […] Erfllung un-
18 mittelbar gerichtet“.17 Er gehçrt also zur Pluralitt der intentionalen Tendenzen,
19 die das Ich wie folgt charakterisieren: „Ein Ich, eine Einheit des Gesamtstrahles,
20 der Gesamtintention-auf (d.i. Bewusstsein-von), Einheit des Bewusstseins nicht
21 eine einheitliche tabula rasa, ein einheitlicher Sachstrom, sondern uni-versale
22 Einheit von Intentionen, von Richtungen und Gegenrichtungen.“18
23 Die sonderbare, nicht-objektivierende Intentionalitt des Triebes fhrt nicht
24 zu seiner Wirkungslosigkeit wie eine blinde Kraft, die zwar treibt, ohne jedoch
25 eine sinnvolle Orientierung zu ermçglichen. Der Trieb stellt vielmehr eine we-
26 sentliche Quelle der Motivation dar. Obwohl die triebhaften Tendenzen nicht
27 auf ein bestimmtes Objekt gerichtet sind, sind sie intentional, da sie als motivie-
28 rende Kraft im Fluss des Bewusstseins wirken und dadurch durchgehend zu sei-
29 ner individuellen Entwicklung beitragen. Die mannigfaltigen und stets wieder-
30 kehrenden Triebe liefern die Energie – eben die Triebkraft –, die fr ein
31 effektives Handeln unentbehrlich ist. Sie stellen keine formale, sondern eine fak-
32 tische Vorbedingung des Handelns dar, indem sie die dafr notwendige Energie
33
16 Eine tiefgehende und ausfhrliche Darstellung des triebhaften Beitrags zur Konstitution
34
35 und Wahrnehmung findet sich bei Jagna Brudzińska: Depth phenomenology of the emotive
dynamic and the psychoanalytic experience. In: Dieter Lohmar, Jagna Brudzińska (Hg.): Foun-
36 ding psychoanalysis phenomenologically. Phenomenological theory of subjectivity and the
37 psychoanalytic experience. Dordrecht 2012. 23 – 52; Jagna Brudzińska: Assoziation, Imagin-
38 res, Trieb. Phnomenologische Untersuchungen zur Subjektivittsgenesis bei Husserl und
Freud. Kçln 2005. http://kups.ub.uni-koeln.de/2999.
39 17 Husserl: C-Manuskripte. 272.

40 18 Husserl: C-Manuskripte. 37 f.
Subjektive und intersubjektive Genesis der Handlung 191

1 freilassen. Diese durchfließt den ganzen Handlungsstrom und wird in den ein-
2 zelnen Handlungen artikuliert und differenziert.
3 Die Wirkung des Triebes lsst sich allerdings nicht auf eine solche unbestimm-
4 te Urenergie reduzieren wie ein Rohmaterial, das erst durch eine willentliche,
5 bewusste Handlung geformt und sinnvoll gestaltet wird. Der typische Rhyth-
6 mus der wiederkehrenden Triebe und ihrer Befriedigung prgt der Handlung
7 vielmehr eine tiefgehende Regelmßigkeit ein, die ihre Zeitstruktur zwar nicht
8 erschçpft, aber dennoch vorprgt. Es handelt sich um eine subjektive Zeitlich-
9 keit, die, tief verwurzelt in der Leiblichkeit, weltlich und konstituiert ist, jedoch
10 nicht als bloß kçrperlich, natrlich oder biologisch im Sinne der Naturwissen-
11 schaften verstanden werden darf. Obwohl die rhythmische triebhafte Zeitlich-
12 keit nicht zu einer rein transzendentalen Dimension gehçrt, bt sie eine transzen-
13 dentale Funktion aus. Der Trieb wirkt im Handeln nmlich nicht nur als
14 regulierte Energie, als bloße Triebkraft, sondern spielt eine fundamentale konsti-
15 tutive und regulierende Rolle und kann in diesem Sinne als transzendental fun-
16 gierende Tendenz gelten.19 Die Triebintentionalitt erweist sich als eine Form
17 der Gerichtetheit, die den Fluss des Handelns mit- und vorstrukturiert. Aus
18 triebhaften Quellen werden Reliefs und Relevanzen im praktischen Horizont
19 vorgezeichnet, die selbst fr die bewusst geplante Handlung von großer Wichtig-
20 keit sind.20
21 Allerdings luft dieser Prozess nicht immer harmonisch ab wie ein reibungslo-
22 ses Zusammenfließen von Motivationen aus unterschiedlichen Quellen. Sehr
23 hufig treten hier schwerwiegende psychische, existenzielle und moralische Kon-
24 flikte auf. Husserl beobachtet in den Studien einen Kampf der Neigungen zwi-
25 schen Trieb und Willen, in dem jedoch eine gewisse Gleichwertigkeit und not-
26 wendige Interaktion der beiden subjektiven Funktionen fr die Gestaltung eines
27 aktiven Lebens sichtbar wird. Auf Grund der skizzierten vielschichtigen Struk-
28 tur der Subjektivitt erweist sich die Interpretation der Handlung als bloße Aus-
29 fhrung eines vorgefassten Entschlusses abermals als unzureichend. Wir mssen
30 in der Handlung vielmehr eine Vielfalt von Motivationen erkennen, die nicht
31 vollstndig auf hochstufige Bewusstseinsleistungen des Ich zurckzufhren
32 sind. Das Handeln gestaltet sich wie ein stndiges Zurckgreifen, ein Sich-Fort-
33 gestalten durch Aneignung des bereits Vorgeformten.
34
35
36 19 Ich habe versucht, die Transzendentalitt der Triebdimension darzustellen. Vgl. Alice

37 Pugliese: Triebsphre und Urkindheit des Ich. In: Husserl Studies 25 (2009). 141 – 157.
20 Zur Rolle der triebhaften Selbstaffektion in der Artikulation von Relevanzen und Typen
38
vgl. Dieter Lohmar: Phnomenologie der schwachen Phantasie. Untersuchungen der Psycho-
39 logie, Cognitive Science, Neurologie und Phnomenologie zur Funktion der Phantasie in der
40 Wahrnehmung. Dordrecht 2008.
192 Alice Pugliese

1 Natrlich entsteht zumindest ein Teil unseres aktiven Lebens aus freiem Ent-
2 wurf, aus Projekt und Entscheidung. Dieser lebenswichtige Ausdruck der perso-
3 nalen Autonomie lsst sich jedoch nicht vom passiv fungierenden Grund des ei-
4 genen triebhaften Lebens trennen. Die Handlung erschçpft sich somit nicht in
5 einer rationalen und vollkommen durchsichtigen Planung, wie Husserl selbst an-
6 merkt: „[D]as Irrationale [ist] der teleologische Grund fr alles Rationale“.21
7
8
9 6. Die Motivation der Anderen
10
11 Bisher haben die vorangegangenen Analysen der Kinsthese und des Triebes
12 zwei „intra-subjektive“ Argumente gegen das Modell der Handlung als unmit-
13 telbarer Vollzug eines Willensaktes offengelegt. Nun scheint es mir wichtig, ei-
14 nen letzten Aspekt zu umreißen, der mit der intersubjektiven Konstitution der
15 praktischen Welt zusammenhngt. Die Intersubjektivitt stellt allerdings sehr
16 umfassende und verwickelte Fragen, die von den entwicklungspsychologischen
17 Themen der Sozialisierung bis zu den hçheren Niveaus der politischen und so-
18 zialen Institutionen reichen. Um diese Fragenkonstellation bndig darzustellen,
19 ist es hilfreich, auf ein prgnantes Beispiel zurckzugreifen.
20 Wie bereits erwhnt, ist es schwierig, aus dem Fluss des alltglichen Handelns
21 eine exemplarische Handlung zu isolieren. Vielversprechender scheinen literari-
22 sche und besonders mythologische Quellen zu sein, die herausragende menschli-
23 che Taten exemplifizieren. Die philosophische und wissenschaftliche Bedeut-
24 samkeit des Mythos fr eine Reflexion ber den Menschen ist sptestens seit den
25 Analysen von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (1923 – 27) aus-
26 fhrlich belegt.22 In den ergnzenden Untersuchungen zur Krisis vertritt auch
27 Husserl eine entsprechende Position: „Ist die berufsmßige Beschftigung mit
28 dem Mythischen und die Besinnlichkeit hinsichtlich der Eigenheit der mythi-
29 schen Mchte und ihrer eigenen Einheit und sogar Geschichtlichkeit nicht schon
30 eine objektive Rationalisierung des Mythos und der Regelung der menschlichen
31 Beziehung zu ihm und als das eine bergangsform [zur Wissenschaft]?“23 Der
32 Mythos wird somit als „hochdifferenziertes Kulturleben“24 bezeichnet, das als
33
34 21 Ms. E III 9/4b (1931).
35
22 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Den-
ken. Hamburg 2010. 2: „Sein [des Mythos] Bildgehalt umschließt und verbirgt einen rationa-
36 len Erkenntnisgehalt, den die Reflexion herauszuschlen und als seinen eigentlichen Kern auf-
37 zudecken hat.“
23 Edmund Husserl: Die Krisis der europischen Wissenschaften und die transzendentale
38
Phnomenologie. Ergnzungsband. Texte aus dem Nachlass 1934 – 37. Hrsg. von Reinhold N.
39 Smid. Hua XXIX. Dordrecht 1993. 41.
40 24 Husserl: Ergnzungsband. 16 f.
Subjektive und intersubjektive Genesis der Handlung 193

1 lebendige Tradition den Boden fr die Entstehung der Wissenschaft bietet, wh-
2 rend diese sich wiederum als zweckvolle Umbildung des Mythischen25 enthllt.
3 Die Beschreibung der mythischen Rckkehr des Odysseus nach Ithaka und sei-
4 nes performativen Handelns als Bild fr eine intersubjektive Konstitution der
5 Handlung scheint also auf keine grundstzlichen methodologischen Einwnde
6 zu stoßen. Die Figur des Odysseus zeigt darber hinaus eine schon ausgeprgte
7 philosophische Vorgeschichte als ein Symbol fr menschliche Initiative, Tchtig-
8 keit, Schlagfertigkeit und Intelligenz. Besonders in der berhmten Kritik von
9 Horkheimer und Adorno in ihrer Dialektik der Aufklrung (1942) tritt Odys-
10 seus, „der Held der Abenteuer […] als Urbild eben des brgerlichen Individu-
11
ums“26 auf. Seine List ist „das Organ des Selbst, Abenteuer zu bestehen, sich
12
wegzuwerfen, um sich zu behalten“.27 Er stellt einen Helden dar, der sein Glck
13
nicht vorwiegend einer adligen oder gar gçttlichen Abstammung verdankt (wie
14
es bei den meisten griechischen Helden der Fall ist), sondern es aus eigener
15
Handlungsbereitschaft und Fhrungsqualitt schmiedet. Insofern kann seine
16
Heldentat als prgnantes Beispiel fr eine berlegung zum Thema der Hand-
17
lung und zu ihrer konstitutiven Bedeutung in der sozialen Welt dienen.
18
Der Schlussteil des Epos (ab XVI. Gesang) ist der Wiedereroberung von
19
20
Odysseus’ Reich nach dessen Irrfahrt von Troja nach Ithaka gewidmet.28 Auch
21
dieses letzte Abenteuer mndet nicht in unmittelbare Gewalt, sondern zeigt die
22 Begabung des Helden zur Schlauheit und zu pragmatischem Denken. Er greift
23 nmlich die Usurpatoren in seinem Haus nicht direkt an, sondern stellt eine In-
24 szenierung zusammen, die sich um eine prgnant herausgebildete Handlung
25 dreht. Diese bildet einen gut geeigneten Ausgangspunkt fr die Untersuchung:
26 eine Handlung, die eine Flle von Bedeutungen in sich trgt, verwickelte Leitf-
27 den zusammenfhrt und einen neuen Horizont innerhalb der praktischen Um-
28 welt enthllt. Odysseus strandet zunchst verkleidet auf Ithaka und geht erst
29 nach einer gewissen Vorbereitung zum Angriff ber. Im Rahmen eines Wettbe-
30 werbs unter den Usurpatoren wird er als einziger seinen eigenen Bogen spannen
31 kçnnen und damit einen Pfeil durch zwçlf Stahlschilder abschießen. Erst danach
32 wird er sich gegen die Freier wenden und sie zielsicher bekmpfen.
33
34 25 Vgl. Husserl: Ergnzungsband. 11 – 13 (Anm. 1 – 2).
35
26 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklrung. Philosophische Frag-
mente. Frankfurt a.M. 2000. 62.
36 27 Horkheimer, Adorno: Dialektik. 67.
28 In seinen berlegungen zum Mythos bezeichnet Husserl gerade das Motiv des Heimat-
37
38 landes als ein sehr prgnantes und universales Thema der „ersten Auffassung der Welt“:
„Menschliches Dasein in der natrlich-vçlkischen Geschichtlichkeit, in dem Horizont Heimat
39 und Fremde, in der Heimatlichkeit das normale Dasein, der normal sich befriedigenden For-
40 men der Selbsterhaltung eines vçlkischen Daseins“ (Husserl: Ergnzungsband. 38).
194 Alice Pugliese

1 Jene Handlung setzt offenbar bestimmte leibkçrperliche Bedingungen vor-


2 aus, denn Odysseus ist der einzige, der ber die Kraft und die Tchtigkeit ver-
3 fgt, den Bogen des Kçnigs zu spannen. Damit wird deutlich, dass die Handlung
4 nicht zufllig, sondern ganz wesentlich in der kçrperlich-leiblichen Verfassung
5 des Akteurs grndet und Ausdruck seiner individuellen Fhigkeiten und Talente
6 ist.
7 ber die notwendige Anbindung an ein individuiertes und leibliches Subjekt
8 hinaus zeigt die Handlung eine offenkundige Zweckmßigkeit auf und erfllt
9 damit auch die zweite Bedingung der Mçglichkeit, die von der klassischen Hand-
10 lungstheorie gefordert wird. Odysseus strebt nach der Wiedereroberung seines
11 Reichs und der Bestrafung der Verrter. Sein Handeln verfolgt ein klares und
12 verstndliches Ziel und ist von einer allmhlich sich realisierenden Absicht gelei-
13 tet und durchdrungen.
14 Mit der soeben skizzierten Hervorhebung der kçrperlichen Vorbedingung
15 und des bewussten Ziels hinsichtlich der Handlung kçnnte die Analyse abge-
16 schlossen sein. Nach dem klassischen Muster wre nmlich damit ihr Kernbe-
17 stand enthllt. Doch lsst sich die praktische Erfahrung des Odysseus nicht al-
18 lein auf der Basis seines Ziels und seiner leiblichen Vorbedingungen erklren,
19 sondern erfolgt vielmehr in einem wesentlich intersubjektiven Zusammenhang.
20 Sie ordnet sich in eine Reihe von Wandlungen ein und fgt sich in einen sich
21 weiter ausbauenden intersubjektiven Kontext ein, der fr die Genesis und den
22 Erfolg der Handlung entscheidend ist. Deren umfassende Beschreibung stellt da-
23 her ein System von Mitmotivationen heraus, die weder nur am Rand bleiben
24 noch erst im Nachhinein hinzugefgt werden kçnnen. Die Erzhlung fhrt uns
25 vielmehr durch eine Reihe von sich steigernden Anerkennungs- und Wiederer-
26 kennungsmomenten, die zeigen, wie die am Ende sich deutlich abhebende Hand-
27 lung des Bogenspannens eine zentrale, intersubjektiv geprgte Forderung in sich
28 trgt. Jene Handlung, welche die mythologische Irrfahrt um Odysseus’ Selbstfin-
29 dung und Selbstbildung mit der vollen Entwicklung seines Selbstbewusstseins
30 abschließt, beherbergt – als wesentliche Motivation – ein strukturelles Bedrfnis
31 nach vollstndiger Anerkennung.
32 Die Schluss-Szene wird langsam vorbereitet. Die Identitt des freien, hand-
33 lungsstarken, bewussten und zielgerichteten Akteurs muss sich erst nach und
34 nach durch eine Klimax von Anerkennungsmomenten herausbilden. Zunchst
35 wird Odysseus von seinem alten, verwahrlosten Hund wiedererkannt. Dem
36 geht zwar die Begegnung mit seinem Sohn voraus, doch jene gefhlvolle Offen-
37 barung erfolgt durch die Sprache und lsst sich deswegen nicht zu den unmittel-
38 baren wiedererkennenden Erfahrungen rechnen. Odysseus muss seinem Sohn
39 von sich erzhlen, whrend er von seinem Hund und spter seiner Amme mit
40 verschiedenen Nuancen der Mittelbarkeit und Distanz wiedererkannt wird. Bei
Subjektive und intersubjektive Genesis der Handlung 195

1 dem Hund setzt die Anerkennung auf dem sehr niedrigen Niveau sinnlicher Kçr-
2 perlichkeit an. Er riecht seinen Herren, um gleich danach getrçstet zu sterben.
3 Sein Tod drfte suggerieren, dass eine so unvermittelte, tiefstufige und rein sinn-
4 liche Erfahrung zu keinem praktischen Einsatz, keiner effektiven Kooperation
5 fhren kann. Die Amme erkennt hingegen eine Narbe auf Odysseus’ Bein. Die-
6 se Anerkennung erfolgt durch Tasten, also noch auf einer leiblichen Ebene, je-
7 doch schon durch das aktive Erinnern an eine gemeinsame Vergangenheit. Auf
8 dieser Basis kann die Amme in die geplante Handlung miteinbezogen werden.
9 Diese Vorbereitungsszenen dienen dazu, die Identitt des Helden schrittwei-
10 se aufzudecken und zu sttzen, seine personale Geschichte zu enthllen und ihn
11 erneut wieder an sie zu binden. Erst danach kann sich die zentrale Handlung
12 sinnvoll entfalten. Wenn Odysseus schließlich mit dem Bogen schießt, zielt er
13 nicht nur, ja nicht primr darauf ab, seine Feinde zu besiegen. Er hat vielmehr in
14 erster Linie vor, diesen mhsamen Prozess der Anerkennung zur Vollendung zu
15 bringen. Indem er nmlich seine Handlung plant, betrachtet er die praktische
16 Situation nicht nur aus seiner eigenen Perspektive als legitimer Kçnig, sondern
17 aktiviert notwendigerweise auch den Blick der Anderen. Er vergegenwrtigt
18 sich deren Perspektive und handelt nicht nur aus sich heraus und auf sein Ziel
19 hin, sondern wird auch durch den Blickwinkel der Anderen mitbestimmt und
20 -geleitet. Er verfolgt nicht nur seine eigenen Motivationen. Aktiv sind auch Mo-
21 tivationen, die von Anderen stammen. Eine zunchst bloß mçgliche Interaktion
22 wird mit-bercksichtigt und ist mit-beabsichtigt. Intentionen der Mit-Men-
23 schen werden der Handlung einverleibt und durch einen mittelbaren Weg zur
24 Ausfhrung gebracht. Der tatkrftige Odysseus, literarisches Symbol des Self-
25 mademan, handelt in erster Linie im Angesicht der Anerkennung von Anderen,
26 ja, er muss die Mit-Verwirklichung ihrer Motivationen fordern, um seine eigene
27 Handlung nicht nur erfolgreich, sondern berhaupt sinnvoll angehen zu kçn-
28 nen.
29 Die literarische Beschreibung liefert uns hier ein deskriptives Muster, das jene
30 Erfahrungsmomente ernst nimmt, in denen Andere mit ihren Motivationen, Vor-
31 stellungen und Forderungen durch uns hindurch handeln, in denen also unsere
32 eigene Handlung die Anforderungen und Motive von Anderen zu erfllen
33 scheint, ohne uns jedoch fremd zu werden. Nicht nur die Extremflle von Mani-
34 pulation oder Entfremdung sind damit gemeint. In allen sozialen Kontexten,
35 von der Ich-Du-Interaktion bei Paaren, in der Familie, bei Eltern-Kind-Bezie-
36 hungen bis hin zu der komplexen Dynamik von Gruppen, Gesellschaften oder
37 Institutionen lsst sich die, wenn auch individuelle, Handlung in einem rein sin-
38 gulren und solipsistischen Akt nicht erschçpfen.
39
40
196 Alice Pugliese

1 7. Schluss
2
3 Die in den vorangegangenen berlegungen erfolgte phnomenologische Rekon-
4 struktion der Handlung hat gezeigt, dass das dualistische Modell, das diese auf
5 Grund einer strikten bereinstimmung zwischen einem Entschluss und einem
6 bestimmten Ziel zu erklren beansprucht, radikal in Frage gestellt werden muss.
7 Das subjektive Handeln erweist sich als Strom, der verschiedenen, aber nicht
8 alternativ zu verstehenden Motivationsquellen entspringt. Leibkçrperliche
9 Funktionen, passive und triebhafte Tendenzen des Bewusstseins sowie die Mit-
10 wirkung von Anderen durch Sozialisierungsprozesse und intersubjektive dyna-
11 mische Prozesse lassen sich nicht als bloße Hindernisse fr eine wirkungsvolle
12 Handlung betrachten. Sie bestimmen vielmehr den beweglichen inneren Hori-
13 zont des subjektiven Handelns und tragen wesentlich zu seiner Strukturierung
14 bei. Gegen die philosophische Idealisierung der Handlung als exklusive Selbst-
15 realisierung eines bewussten Subjekts erhebt die Forderung nach einer umfassen-
16 deren, phnomentreu und heuristisch differenzierten Handlungstheorie Ein-
17 spruch. Ein solcher Ansatz, der eine noch bevorstehende Aufgabe darstellt,
18 fhrt ber die Debatte der kausalen und nicht-kausalen Erklrungen hinaus und
19 zielt darauf ab, die Handlung außerhalb einer Innen-Außen-Alternative zu deu-
20 ten.
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
1 Sonja Rinofner-Kreidl
2
3
4 Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht
5
Zu Reichweite und ambivalenter Bewertung von (Selbst-)Vergebung
6
7
8 Schizophrenie Vielfaltmenschlicher Weil dieser Shylock genau in der
Selbstndigkeit Shakespeare Schizophrenie zwischen Vergebung und Rache
9
liegt – dem Spielfeld unserer Existenz.
10
11 Tobias Moretti, der in einem Interview als
12 seine Shakespeare-Wunschrolle „Shylock“ aus
dem Kaufmann von Venedig nennt und nach
13
dem Grund seiner Wahl gefragt wird (Kleine
14 Zeitung. 9. 2. 2014).
15
16
17 Zur Wrde eines Menschen gehçrt die
Einsicht, daß alle innere Selbstndigkeit
18
zerbrechlich ist, auf Sand gebaut. Diese
19 Einsicht kann ein kostbares Gefhl der
20 Solidaritt entstehen lassen.
21
Peter Bieri: Eine Art zu leben. ber die
22
Vielfalt menschlicher Wrde. Mnchen 2013.
23 86.
24
25
Es ist eine verbreitete Ansicht, dass ein Gemeinwesen, sofern dessen letzter
26
Grund nicht rationale Tauschgeschfte und (reale oder imaginre) Kontrakte,
27
sondern soziale Nahbeziehungen sind, welche aus einer geteilten Moralitt er-
28
wachsen, ohne die Fhigkeit und Bereitschaft zur Vergebung kaum stabile und
29
friedliche Formen des Zusammenlebens hervorbringen kçnnte. Ich stimme die-
30
ser Ansicht zu. Gleichwohl ist damit nicht gesagt, dass die pragmatische „Fein-
31
motorik“ unseres alltglichen moralischen Umgangs miteinander auch ein pr-
32
gnantes Wissen darber vermittelt, was denn unter Vergebung zu verstehen und
33
wie deren Reichweite und normative Kraft einzuschtzen sei. Dieser Frage sind
34
die folgenden berlegungen gewidmet. Mein Ausgangspunkt ist, was ich als
35
„Standardauffassung“ von Vergebung bezeichnen mçchte.1
36
Vergebung ist eine mçgliche Antwort auf negativ bewertete Handlungen,
37
durch die andere nicht nur in einem oberflchlichen (z. B. ihre Besitztmer tan-
38
39 1 Prsentiert und diskutiert wird diese u. a. von Jeffrie G. Murphy, Jean Hampton: Forgive-

40 ness and mercy. Cambridge 1988.

Phnomenologische Forschungen 2013 ·  Felix Meiner Verlag 2013 · ISSN 0342-8117


198 Sonja Rinofner-Kreidl

1 gierenden), sondern in einem tiefergehenden Sinn als moralische Personen ge-


2 schdigt werden. beltaten, die als vergebungsbedrftig gelten, sind keine lssli-
3 chen Vergehen. Es handelt sich typischer Weise um demtigende, die betroffene
4 Person in ihrer Selbstachtung verletzende Handlungen, die als Ausdruck physi-
5 scher, psychischer oder sozialer (institutioneller) Gewalt wahrgenommen wer-
6 den. Die auf Seiten der Opfer in derartigen Situationen unwillkrlich auftreten-
7 den, meist intensiv-negativen emotionalen Reaktionen (Abscheu, Verachtung,
8 Groll, Hass u. a.) sind spontane, unreflektierte Versuche der Selbstverteidigung
9 und Selbstbehauptung. „Vergebung“ bezeichnet, im weiteren Sinn verstanden,
10 den mçglicherweise nachfolgenden reflexiven Prozess der Auseinandersetzung
11 mit der beltat, den durch sie hervorgerufenen Schdigungen und reaktiven Ein-
12 stellungen; im engeren Sinn das positive Resultat dieses Prozesses (sofern ein
13 solches erreicht wird). Letzteres zeigt sich als ein mehr oder weniger schwer er-
14 rungenes berwinden der vormalig negativen Gefhle und Einstellungen gegen-
15 ber dem beltter, das aus der seelischen und geistigen Verarbeitung der voran-
16 gehenden negativen Erfahrung resultieren kann. In diesem Sinn ist Vergebung
17 ein Transformationsgeschehen, das primr die Selbstwahrnehmung und das
18 Selbstverstndnis des vormaligen Opfers betrifft. Im Zuge dessen wird aber
19 ebenso das Verhltnis von beltter und Opfer im Sinne einer berschreitung
20 der durch die schdigende Handlung festgelegten Rollenidentitten neu be-
21 stimmt.
22 Ein derartiger „Ausgleich“ des Verhltnisses zwischen beltter und Opfer
23 ist nach allgemeiner Auffassung an bestimmte Bedingungen gebunden, die er-
24 fllt sein mssen, wenn er moralisch akzeptabel sein soll. Diese sollen es der Tat-
25 betroffenen ermçglichen, die aufgezwungene Opferrolle zu berwinden. Verge-
26 bung setzt voraus, dass die schdigende Handlung absichtlich erfolgt ist, und
27 ndert nichts an der negativen Bewertung der Handlung als moralisch schlecht
28 oder verwerflich. Auch an der berzeugung, dass die Tat rechtlich zu ahnden
29 sei, ndert sie nichts. Denn soll Vergebung angemessen und moralisch akzepta-
30 bel (d. h. zulssig und eventuell in der gegebenen Situation angebracht, wenn
31 auch niemals im engeren Sinn als Pflicht geboten) sein, so muss sie mit der Selbst-
32 achtung der Vergebenden vertrglich sein. nderte sich jedoch die negative Ein-
33 schtzung der Tat, so hieße das, dass sich das Opfer dem bçsen Willen des bel-
34 tters unterwrfe und sich – gewissermaßen als Echo und Verdoppelung der
35 Missetat – nachtrglich selber demtigte: sich als williges oder willenloses Opfer
36 darstellte. Deshalb, so der philosophische common sense, ist Vergebung an die
37 Unterscheidung von Tter und Tat gebunden.2 Nur wenn es dem Opfer gelinge,
38
39 2 Dieser Unterscheidung zuzustimmen, lsst offen, wie das Verhltnis zwischen moralisch

40 tadelnswerter Handlung und Person bzw. Charakter im Einzelnen verstanden wird. Vgl. Geor-
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 199

1 in authentischer Weise anzuerkennen, dass der Tter nicht auf seine schlechte
2 Tat reduzierbar sei, sei Vergebung mçglich, ohne durch den Akt der Vergebung
3 die Selbstachtung des vormaligen Opfers erneut zu beschdigen oder zu verlie-
4 ren. Die Nichtreduzierbarkeit des Tters auf die Tat (sc. Handlung oder Unter-
5 lassung) bekundet sich auch in der Reue des Tters, die mehrheitlich als notwen-
6 dige Bedingung fr eine moralisch gerechtfertigte Vergebung verstanden wird.
7 Gefhle der Vergebung wie ebenso des Widerstandes gegen Vergebung und der
8 (rachschtig, neidisch etc.) verweigerten Vergebung sind ein Spiegelbild dessen,
9 dass die wechselseitige Anerkennung handelnder Subjekte von subtiler Natur
10 ist. Dieser Subtilitt zwischenmenschlicher Begegnungen kann eine bloß rechtli-
11 che Sanktionierung von Missetaten – so unbestritten deren Legitimation und Un-
12 verzichtbarkeit auch ist – nicht gerecht werden.
13 Wenn Obiges eine zutreffende und konsensfhige Beschreibung dessen ist,
14 was bei Vergebung im Spiel ist und auf dem Spiel steht, dann scheint dies zwei
15 Phnomene, die uns alltglich vertraut sind, auszuschließen: einerseits Selbstver-
16 gebung und andererseits eine Vergebung, die sich nicht auf eine Handlung rich-
17 tet, sondern auf das Sosein einer Person, aus der die fragliche Handlung ent-
18 sprungen ist bzw. berhaupt im Sinne realer Motivation mçglich war. Letzteres
19 unterminiert die fr die moralische Akzeptanz von Vergebung als unabdingbar
20 ausgewiesene Unterscheidung von Tat und Tter. Die praktische Pointe dieser
21 Unterscheidung ist: Whrend die rechtliche Ahndung („Vergeltung“) der Tat zu-
22 lssig und im Sinne der Wiederherstellung sozialer Verhltnisse angemessen ist,
23 ist dies von Rachsucht gegenber dem Tter sorgfltig zu unterscheiden, welche
24 selbst bei gravierenden beltaten mindestens moralisch fragwrdig ist und ge-
25 genwrtig in unserem Kulturraum mehrheitlich zurckgewiesen wird.3 Selbst-
26
27 ge Sher: Desert. Princeton 1987. 150 – 174; ders.: In praise of blame. Oxford 2006. Bes. 33 – 70.
28 Nur soviel ist mit der Tat/Tter-Unterscheidung antizipiert, dass der Zusammenhang nicht so
eng sein darf, dass dem Tter qua Annahme eines psychologischen Determinismus keinerlei
29
Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum seinen eigenen Handlungen gegenber eingerumt
30 wird. In diesem Fall bliebe eine Voraussetzung von Vergebung unerfllt: dass wir nur Handlun-
31 gen fr vergebungsfhig (und gegebenenfalls fr vergebungsbedrftig) halten, welche wir We-
sen zuschreiben, die im Sinne mçglicher Entwicklung und Selbstvervollkommnung eine zu-
32
mindest graduelle Freiheit mit Bezug auf ihr Handeln haben. Kleinkinder, schwer geistig
33 Beeintrchtigte und Demente betrachten wir demnach nicht als mçgliche Adressaten fr Akte
34 der Vergebung. Wie der Hinweis auf solche Mitglieder der Gemeinschaft in Erinnerung ruft,
35 darf der Zusammenhang von tadelnswerter Handlung und Charakter auch nicht so lose sein,
dass aktuell und ber die Zeit hinweg gar kein Bewusstsein der Autorschaft vorliegt, wenn
36 Vergebung in ihrem Anspruch und ihrer Bedeutung verstehbar sein soll.
3 Ohne hier darauf eingehen zu kçnnen, sei auf zwei Qualifizierungen verwiesen. Erstens
37
38 bedarf der Bezug auf „uns“ bzw. „unseren“ Kulturraum nherer Bestimmung, um nicht unge-
bhrliche Einheits- und Homogenittsillusionen zu begnstigen. Der hier grosso modo anvi-
39 sierte nordamerikanisch-europische Kulturraum enthlt durchaus geografische Regionen
40 und soziale Submilieus, in welchen die fr „unsere“ Rechts- und Moralkultur grundlegende
200 Sonja Rinofner-Kreidl

1 vergebung hebt entweder die Bedingung, dass aller Vergebung eine Fremdsch-
2 digung vorangehen msse, schlechthin auf (was ich mir selber vergebe und nur
3 ich mir vergeben kann, kann nicht das mich betreffende Handeln eines anderen
4 sein), oder sie deutet diese Anforderung zum Nachteil der Vergebenden um:
5 Selbstvergebung als Antwort auf eine Fremdschdigung steht unter dem Ver-
6 dacht einer stillschweigenden post hoc-Komplizenschaft mit dem beltter,4 ei-
7 ner imaginren (und vielleicht pathologischen) Tatwiederholung und Selbstab-
8 wertung. Selbstvergebung als Antwort auf eine Selbstschdigung dagegen zieht
9 – was ebenso fr Selbstvergebung auf Seiten des Tters gilt – den kontrren Ein-
10 wand der „cheap grace“ auf sich: Sie ist moralisch suspekt, weil mit einem star-
11 ken, wenn auch unter Umstnden unbemerkten Willen zur Schulderleichterung
12
und Selbstbesttigung zu rechnen ist. Gilt die Standardauffassung von Verge-
13
bung im oben skizzierten Sinn, so scheinen sowohl Selbstvergebung als auch Ver-
14
gebung dessen, dass jemand so ist, wie er ist (und nicht bloß etwas Bestimmtes
15
getan hat), unmçglich. Phnomene dieser Art kçnnten entweder nicht auftreten
16
oder wren, wenn es sie gbe, anders zu beschreiben und zu kategorisieren.
17
Im Folgenden will ich mich auf eines der genannten Phnomene – Selbstverge-
18
bung – beschrnken und dieses einer genaueren Analyse unterziehen. Nach eini-
19
gen kurzen Hinweisen auf das phnomenologische Interesse dieser Untersu-
20
21
chung unterscheide ich im ersten Abschnitt zwei Grundtypen von Fragen,
22
anhand derer das Thema Vergebung bearbeitet werden kann. Je nachdem, ob die
23 Frage nach Rechtfertigung oder die Frage nach Befhigung untersuchungslei-
24 tend ist, treten unterschiedliche Aspekte bei der Phnomenbeschreibung in den
25 Vordergrund. Ich argumentiere, dass allein unter dem Gesichtspunkt der Befhi-
26 gungsfrage die enge Verknpfung von Vergebung und Selbstvergebung wie auch
27 die keineswegs nur sekundre Bedeutung von Selbstvergebung (als Ersatz fr
28
Intuition der Tat/Tter-Unterscheidung unterlaufen wird. Man denke etwa an Ehrenkodizes
29
in Verbrecherkreisen oder an die Tradition der Vendetta (Blutrache). Zweitens ist auch dort,
30 wo die genannte Grundintuition eine gefestigte berzeugung und allgemeine Praxis darstellt,
31 mit einer ambivalenten Haltung zu rechnen, die in einer direkten und indirekten (empathi-
schen) affektiven Betroffenheit grndet: Auch wenn „wir“ uns (historisch u. a. von der katholi-
32
schen Glaubenslehre getragen) generell zur Tat/Tter-Unterscheidung bekennen, kçnnen wir
33 in Extremfllen Akte der Selbstjustiz zumindest emotional und psychologisch nachvollziehen
34 – wie „befremdlich“ auch immer sie von einem distanzierteren Standpunkt der Vernunft er-
35 scheinen mçgen. (Wir sind das „krumme Holz“, von dem Kant spricht. Vgl. Immanuel Kant:
Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbrgerlicher Absicht. In: Ders.: Werke. In sechs
36 Bnden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Bd. IV. Darmstadt 1983. 32 – 50. 41.)
4 Vgl. Susan Brison: Aftermath. Violence and the remaking of the self. Princeton 2002.
37
38 Ch. 1: „Survival of Sexual Violence“; Sonja Rinofner-Kreidl: Selbsttuschung und Flucht in
paternalistische Lebensformen: ber ambivalente Formen des Umgangs mit Angst. In: Dieter
39 Goltschnigg (Hg.): Angst. Lhmender Stillstand und Motor des Fortschritts. Grazer Hum-
40 boldt-Kolleg 6.–9. Juni 2011. Tbingen 2012. 102 – 105.
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 201

1 eine eventuell situationsbedingt unmçgliche Fremdvergebung) verstndlich zu


2 machen ist. Der zweite Abschnitt trgt das deskriptive und argumentative Haupt-
3 gewicht der vorliegenden Abhandlung. Hier verfolge ich im Wesentlichen drei
4 Zielsetzungen: zum einen das Konzept des Selbst, welches der Rede von „Selbst-
5 vergebung“ zugrunde liegt, nher zu bestimmen, nmlich jene Merkmale zu nen-
6 nen, die ein Selbst aufweisen muss, wenn es ihm prinzipiell mçglich sein soll, auf
7 sich selber gerichtete Akte der Vergebung zu vollziehen; zum anderen das fragli-
8 che Phnomen selber genauer zu bestimmen, indem die Rede von „Selbstverge-
9 bung“ als quivok ausgewiesen und zwei verschiedene Typen von Selbstverge-
10 bung unterschieden werden: Selbstvergebung als unselbstndiges
11 („begleitendes“) Moment in jedem „normalen“ Akt des Vergebens und Selbst-
12 vergebung als ein eigenstndiges Phnomen, d. h. als ein reflexiv ausgerichteter
13 Vergebungsprozess bzw. -akt. Schließlich werden mit Bezug auf Selbstverge-
14 bung (in smtlichen ihrer Manifestationen) folgende Thesen vorgestellt: Selbst-
15 vergebung ist primr eine (nher zu bestimmende) Selbstverpflichtung und erst
16 sekundr von gefhlshafter Natur. Die Charakterisierung der letzteren, welche
17 u. a. einen Rekurs auf den Tugendbegriff nahe legt und als Kernproblem von
18
(Selbst-)Vergebung auf das Thema des Vertrauens fhrt, erfordert wiederum, Ge-
19
fhle und Stimmungen (auf der Ebene der Handlungsintentionalitt) von einer
20
tiefer liegenden emotionalen Grundbefindlichkeit zu unterscheiden. Diese De-
21
tailbeschreibungen bergreifend, mache ich die These eines relationalen, d. h.
22
konstitutiv-sozialen Selbst geltend. Dabei reicht die „Sozialitt“ des Selbst, wie
23
ich anhand einiger Aspekte zu zeigen versuche, in smtliche Formen und Schich-
24
ten der Erfahrung bzw. Beschreibung von Vergebung und Selbstvergebung hin-
25
ein. Einen schon von anderen Autoren vorgebrachten Vorschlag aufgreifend,5
26
bringe ich im Folgenden Selbstvergebung mit der Idee eines bootstrapping in Zu-
27
sammenhang. Meine diesbezgliche These lautet: Wenn zutrifft, dass (wie zuvor
28
argumentiert) Vertrauen das Kernthema aller Arten von Vergebungsakten ist,
29
und zwar auf Grund ihrer komplexen Struktur, welche jederzeit auch Selbstver-
30
gebung einschließt, dann ist ein kollektiv vollzogenes moral bootstrapping ein
31
Grundmuster der Erfahrung von (Selbst-) Vergebung, anhand dessen wir uns ei-
32
33
nes gemeinschaftlichen Lebens versichern, ein solches einben und normativ be-
34
sttigen. Zwar behaupte ich nicht, dass bootstrapping fr ausnahmslos alle Flle
35
vergebungsbedrftiger Handlungen angemessen ist, wohl aber, dass die Erfah-
36 rung solcher kollektiv vollzogener, wechselseitiger „Selbstermchtigungen“ fr
37 das Bestehen menschlicher Gemeinschaften unverzichtbar ist. Der abschließen-
38 5 Vgl. Charles L. Griswold: Forgiveness. Cambridge 2007; Garry L. Hagberg: The self
39 rewritten. The case of self-forgiveness. In: Christel Fricke (Hg.): The ethics of forgiveness. A
40 collection of essays. New York 2011. 69 – 80.
202 Sonja Rinofner-Kreidl

1 de dritte Abschnitt veranschaulicht das zuvor Ausgefhrte, indem ein bewusst


2 unspektakulr gewhlter, alltglicher Fall einer vergebungsbedrftigen Hand-
3 lung dargestellt und der sich im Anschluss hieran entwickelnde dynamische so-
4 ziale Prozess als ein moral bootstrapping beschrieben wird.
5
6
7
1. Rechtfertigungs- und Befhigungsfragen.
8
Oder: Was wir fr das Verstndnis von (Selbst-) Vergebung gewinnen, wenn wir
9
letztere als vorrangig betrachten.
10
11
Vergebung realisiert sich in bestimmten Typen von Erlebnissen, welche meist
12
nicht auf ihren aktuellen Vollzug beschrnkt, sondern in Gestalt von prozesshaf-
13
ten Verlufen organisiert sind. Derartige Erlebniszusammenhnge zeigen in para-
14
digmatischer Form, was andernorts als „Gefhlsverflechtung“ bezeichnet wur-
15
de.6 Damit soll einerseits die Verflechtung von gefhlsbezogenen und affektiven
16
Momenten mit kognitiven und konativen Momenten in entsprechend komple-
17
xen intentionalen Erlebnisganzheiten benannt sein und andererseits die Verflech-
18
tung verschiedener Gefhle. Letzteres meint nicht nur das gleichzeitige Auftre-
19
ten unterscheidbarer Gefhlsqualitten, sondern schließt insbesondere auch
20
dynamische Verwandlungsgestalten ein, wie sie etwa beim Umschlagen von
21
Neid in Hass vorliegen.7 Diese Art der konstitutiven, intentionalen Verflech-
22
tung, wie sie eine phnomenologische Philosophie in der Nachfolge Husserls zu
23
ihrem bevorzugten Untersuchungsgebiet macht, impliziert schwierige methodo-
24
logische Fragen. Zu diesen gehçren u. a. die Ansprche, Qualifikationen und
25
Grenzen einer phnomenologischen Beschreibung, das Konzept der Fundie-
26
rung und seine Konsequenzen im Hinblick auf solche – fr philosophische und
27
wissenschaftliche Kontexte grundlegende – Schlsseldiskurse des 20. Jahrhun-
28
derts wie etwa die Debatte um die Tatsachen/Werte-Unterscheidung und die Ver-
29
suche, einen nicht-dogmatischen phnomenologischen Intuitionismus zu be-
30
grnden. Ebenso wie in anderen Untersuchungsfeldern stellt sich einer
31
phnomenologischen Theorie der Gefhle darber hinaus das Problem, wie em-
32
pirische und apriorische, wissenschaftliche und philosophische Forschung von-
33
einander abzugrenzen sind. Wie verhlt sich eine phnomenologische Intentio-
34
nalanalyse zu empirischen Untersuchungen? Wie kann erstere so angelegt
35
36 6 Vgl. Sonja Rinofner-Kreidl: Neid. Zur moralischen Relevanz einer „outlaw emotion“.

37 In: Inga Rçmer (Hg.): Affektivitt und Ethik bei Kant und in der Phnomenologie. Berlin
38 2014 (im Erscheinen).
7 Vgl. Sonja Rinofner-Kreidl: Neid und Ressentiment. Zur Phnomenologie negativer so-
39 zialer Gefhle. In: Karl Mertens, Jçrn Mller (Hg.): Die Dimension des Sozialen. Neue philo-
40 sophische Zugnge zu Fhlen, Wollen und Handeln. Berlin 2014 (im Erscheinen).
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 203

1 werden, dass eine wechselseitige Befruchtung mçglich ist – dass wissenschaftli-


2 che Forschungsergebnisse nicht ignoriert werden, ohne aber Philosophie auf ein-
3 zelwissenschaftliche Erkenntnis grnden oder gar auf sie reduzieren zu wollen?
4 Mir geht es im Folgenden nicht darum, die methodologischen Problemimplika-
5 tionen des Themas Vergebung aufzuarbeiten. Meine Zielsetzung besteht viel-
6 mehr darin, ein Stck weit die Phnomenalitt von Vergebungsakten und -pro-
7 zessen aufzuklren. Dieses Vorhaben konzentriert sich auf die Idee der
8 Selbstvergebung.
9 Abgesehen von den systematischen Herausforderungen, welche die Thema-
10 tik der Vergebung fr eine phnomenologische Theorie der Gefhle darstellt,
11 eignet ihr auch ein unbersehbares und dringliches praktisches Interesse.8 Glck
12 und Wohlbefinden nicht nur in individuellen Lebensverlufen, sondern auch
13 von Gruppen und sozialen Kollektiva verschiedener Art (Ethnien, politischen
14 Gesinnungsgemeinschaften, Nationen, Religionsgemeinschaften usw.) hngen
15 u. a. an der Fhigkeit zu und der normativen Begrndung von Vergebung. Fhig-
16
keit und Begrndung setzen logische Mçglichkeit voraus. Zumindest fr Selbst-
17
vergebung als einer speziellen Ausprgung von Vergebung wurde letztere (im
18
Sinne eines definitorischen Ausschlusses) bestritten. Bei der Rede ber „Selbst-
19
vergebung“ handle es sich um einen falschen oder nur metaphorischen Wortge-
20
brauch: Sich selber zu vergeben – hnlich wie sich selber einen Befehl zu erteilen
21
oder ein Versprechen zu geben –, sei problematisch. Darber hinaus fehlten im
22
Fall der Selbstvergebung die typischen Ressentimentgefhle gegenber dem
23
beltter.9
24
Zur Vergebung gibt es aus philosophischer Sicht, grob gesprochen, zwei Zu-
25
gnge, die ich unter die Titel „Rechtfertigung“ und „Befhigung“ setzen mçch-
26
te. Jedem dieser Zugnge entsprechen bestimmte Probleme und Forschungsfra-
27
gen. Ein Teil der Motivation, die vorliegende Abhandlung zu verfassen, ist mein
28
29
Eindruck, dass die philosophische Debatte um Vergebung einseitig von der
30
Rechtfertigungsthematik beherrscht ist, zum Teil wohl auch aus der Erwartung
31
32
33 8 Vgl. Michael E. McCullough, Kenneth I. Pargamont, Carl E. Thoresen: The psychology

34 of forgiveness. History, conceptual issues, and overview. In: Dies.: Forgiveness. Theory, rese-
35 arch and practice. New York 2000. 1 – 14. 3: „that the 20th century has been the bloodiest and
probably the most unforgiving century in human history, perhaps leading people to conclude
36 that forgiveness constituted little more than a nice sentiment.“
9 Vgl. die Darstellung dieser Einwnde und die Evaluierung des Stellenwertes von Selbst-
37
38 vergebung bei Peter Goldie: Self-forgiveness: A case study. In: Ders.: The mess inside. Narrati-
ve, emotion, and the mind. Oxford 2012. 98 – 116; ders.: Self-forgiveness and the narrative sen-
39 se of self. In: Christel Fricke (Hg.): The ethics of forgiveness. A collection of essays. New York
40 2011. 81 – 94; Griswold: Forgiveness. 122 ff.
204 Sonja Rinofner-Kreidl

1 einer „natrlichen“ Arbeitsteilung zwischen Philosophie und Psychologie.10 Ich


2 will mich im Folgenden nicht mit der Frage nach den notwendigen Bedingungen
3 eines moralisch gerechtfertigten Vergebens befassen, wie das fr einen erhebli-
4 chen Teil der philosophischen Forschungsliteratur gilt. Stattdessen konzentriere
5 ich mich auf die Frage: Was bedeuten Vergebung und Selbstvergebung fr das
6 vergebende Subjekt? Wie mssen wir das (moralische) Selbst denken, wenn es
7 ihm mçglich sein soll, die Erfahrung von Vergeben und Vergeben-werden zu ma-
8 chen? Diese Fragen sind grundlegend. Ihre Beantwortung legt berhaupt erst
9 die Reichweite der Frage nach den notwendigen Bedingungen fest.11 Anstatt her-
10 ausfinden zu wollen, unter welchen Bedingungen es (nach allgemeinem Kon-
11
12
10 Diese Intention, psychologische Fragen der Psychologie zu berlassen und sich auf das
13
Stammgebiet der Philosophie – auf Vernunft- und Begrndungsfragen – zu konzentrieren,
14 kann sich hier z. B. auf Fragen der Traumatisierung von Gewaltopfern, auf genderspezifische
15 Opferrollen oder auf die gesundheitlichen und Coping-Effekte von Vergebung berufen. Die
psychologische und psychotherapeutische Literatur zur Vergebung setzt seit den 1980er Jah-
16
ren verstrkt ein. Vgl. als pars pro toto R.C.A. Hunter: Forgiveness, retaliation and Paranoid
17 Reactions. In: Canadian Psychiatric Association Journal 23 (1978). 167 – 173; Jan O. Rowe
18 u. a.: The psychology of forgiving another. A dialogal research approach. In: Ronald S. Valle,
19 Steen Halling (Hg.): Existential-phenomenological perspectives in psychology. Exploring the
breadth of human experience. New York 1989. 233 – 244; Robert D. Enright, The Human De-
20 velopment Study Group: Counseling within the forgiveness triad: On forgiving, receiving for-
21 giveness, and self-forgiving. In: Counseling & Values 40 (1996). 107 – 126; Robert D. Enright,
22 Joanna North (Hg.): Explaining forgiveness. Madison 1998; Sharon Lamb, Jeffrie G. Murphy
(Hg.): Before forgiving. Cautionary views of forgiveness in psychotherapy. Oxford 2002. Ab-
23 gesehen davon, dass es fr das Selbstverstndnis einer normativen Ethik im Allgemeinen erhel-
24 lend ist, sich mit angrenzenden Fragen der Moral- und Sozialpsychologie zu befassen, beruhte
25 eine Problemauslagerung im vorliegenden Fall auf einem Missverstndnis: Die vorausgesetzte
Konstruktion eines (epistemischen, moralischen, sthetischen) Selbst, welches in spezielle Be-
26 grndungszusammenhnge als operativer Begriff Eingang findet, zu explizieren und nach alter-
27 nativen Konzeptionen zu fragen, ist durchaus Gegenstand einer philosophischen Analyse. Dar-
28 ber hinaus ist offenkundig, dass Probleme des Selbst Disziplinengrenzen berschreiten.
11 Auf den ersten Blick kçnnte man meinen, dass die Rechtfertigungsfrage darber hinaus
29
eine vollstndige willensmßige Verfgbarkeit des Vergebens insinuiert. Zu den eher seltenen
30 Ausnahmen in der Literatur, welche dies explizit in Abrede stellen, gehçrt Mariano Crespo,
31 der – auf den Schultern Hildebrands und anderer Phnomenologen stehend – den Geschenk-
charakter der Vergebung betont – allerdings nicht mit Bezug auf das Selbstverhltnis der Verge-
32
benden (dass es mir „geschenkt“ ist, vergeben zu kçnnen), sondern mit Bezug auf den Ande-
33 ren: dass jede erzieherische Absicht das Verzeihen utilitaristisch verzerrte, dieses vielmehr
34 „eine Art Geschenk an die Person [sei], der verziehen wird.“ (Mariano Crespo: Das Verzeihen.
35 Eine philosophische Untersuchung. Heidelberg. 2002. 97.) Ich komme auf diesen Punkt spter
zurck. Bei genauerer Betrachtung liegt einer voluntaristischen Lesart der Rechtfertigungsfra-
36 ge ein quivoker Gebrauch von „kann“ zugrunde – einerseits als normative Erlaubnis verstan-
37 den, andererseits als Willensentschluss und tatschliche Handlungsmotivation. Rechtfertigung
38 hat nur mit ersterem zu tun. Wenn mein Vergeben objektiv gerechtfertigt ist, dann kann ich
vergeben, d. h. dann ist es unter normativen Gesichtspunkten zulssig und angemessen zu ver-
39 geben. Ob ich auch vergeben kann im Sinne des Willensentschlusses, der emotionalen Bereit-
40 schaft etc., ist damit nicht prjudiziert.
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 205

1 sens) erlaubt ist zu vergeben, bzw. „Nutznießer“ von Vergebung zu sein, interes-
2 siert mich, was Vergeben ermçglicht bzw. was ihm aus der Sicht der handelnden
3 Personen Sinn verleiht. Eine kurze Erluterung dessen, was ich damit meine,
4 mag einerseits als Problemeinleitung und andererseits als Erklrung dafr die-
5 nen, weshalb es mir beim gegenwrtigen Stand der Debatte wichtig erscheint,
6 mich mit Vergebung zu befassen und das gemß einem bestimmten Problemzu-
7 griff zu tun.
8 Die Auseinandersetzung mit Selbstvergebung lenkt die Aufmerksamkeit auf
9 die Frage, wie ich mich selber verstehen bzw. wie ich sein, d. h. ber welche F-
10 higkeiten ich verfgen muss, um als Subjekt von Akten des Vergebens fungieren
11 zu kçnnen. Dagegen lenkt die Fokussierung auf die Frage nach den notwendi-
12 gen Bedingungen eines moralisch gerechtfertigten Vergebens die Aufmerksam-
13 keit in einer restriktiven Weise auf das Objekt des Vergebens, indem untersucht
14 wird, was der beltter tun msse, um Vergebung zu verdienen. In diesem Zu-
15 sammenhang wird Reue bzw. Reuebereitschaft thematisiert, welche quasi als see-
16 lisches Pendant zu den unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit geforderten
17 Reparationsleistungen begriffen wird. Wer bereut, so ließe sich die gngige Auf-
18 fassung zusammenfassen, erscheint der Vergebung immerhin wrdig, auch
19 wenn weder auf Reue allein automatisch und vorhersehbar Vergebung folge (so
20 wie auf eine hinreichende Ursachenmenge eine bestimmte Wirkung mit naturge-
21 setzlicher Notwendigkeit folge) noch Vergebung berhaupt jemals als ein Recht
22 eingefordert werden kçnne. Vielmehr handle es sich, sofern Vergebung in der
23 betreffenden Situation als zulssig und gerechtfertigt erscheine, unter dem Ge-
24 sichtspunkt singulrer Akte um supererogatorische Handlungen bzw. unter dem
25 Gesichtspunkt einer zeitbergreifenden Haltung und Handlungsbereitschaft um
26 eine Tugend. Deren angemessene Ausbung kçnne jedoch allein im Kontextbe-
27 zug und mit Blick auf die Gefhle und sonstigen (kognitiven, konativen) Fhig-
28 keiten des Akteurs beurteilt werden.12 Den Fokus auf die Handlung und ihre
29
30 12 Vgl. z. B. Nancy Potter: Is refusing to forgive a vice? In: Peggy Des Autels, Joanne

31 Waugh (Hg.): Feminists doing ethics. Lanham 2001. 135 – 150. Kritisch zu Vergebung als su-
pererogatorischem Akt, sofern dieses Konzept dazu tendiert zu unterschlagen, dass die Alter-
32
native zu nicht-verpflichtender Vergebung nicht bloß Vergebung als freiwillige „Mehrleis-
33 tung“, sondern auch schlicht die Unzulssigkeit von Vergebung im jeweiligen Kontext sein
34 kann, ußert sich z. B. Rhonda Anderson: Non-obligatory forgiveness: Supererogatory or im-
35 permissible? In: Auslegung 22 (1997). 39 – 47. Die Autorin weist im Sinne dieser Kritik insbe-
sondere darauf hin, dass Vergebungsakte sozial schdliche Folgen haben kçnnen (z. B. Entsoli-
36 darisierung in Gruppen von Missbrauchsopfern). Vgl. die treffende Diagnose Annette Baiers:
37 „so we must take care that our individual willingness to forgive does not put others in danger.
38 Overwillingness to excuse untrustworthiness, as well as undue distrust, may not merely depri-
ve me of a good, but may destroy a minisystem, a little network of mutually beneficial expecta-
39 tions. Uncomplaining or automatically forgiving long-suffering invites its own continuation.
40 Demanding one’s rights belligerently is certainly one way to destroy trust, but never standing
206 Sonja Rinofner-Kreidl

1 Rechtfertigungsbedrftigkeit zu legen, trifft unbestritten einen Teil der Phno-


2 menalitt von Vergebung. Unter dem Gesichtspunkt der Rechtfertigung scheint
3 es darber hinaus nahe liegend, Schadensart und -ausmaß bzw. die Irreversibili-
4 tt der schdigenden Handlungsfolgen (inklusive des Ausnahmefalls monstrç-
5 ser, in ihrer Gewaltttigkeit oder Folgenschwere nahezu unbegreiflich bçser
6 Handlungen) zu bercksichtigen. Dennoch scheint mir eine Einschrnkung auf
7 diesen Problemaspekt fragwrdig. Wer ihr Folge leistet, tendiert nmlich dazu,
8 das zur Disposition stehende Phnomen zu verzerren bzw. zu missdeuten. Wor-
9 in zeigt sich diese Tendenz?
10 Bedenklich ist ein exklusiv ber die Rechtfertigungsfrage erçffneter Problem-
11 zugang, sofern er mit Bezug auf Vergebung und Selbstvergebung zum einen Ex-
12 tremflle der Unverdientheit, d. h. der berechtigten Nicht-Vergebung, in den
13 Mittelpunkt rckt (pars pro toto: Hitler) und zum anderen, auf Grund des star-
14 ken Augenmerks auf die ußeren Manifestationen von Handlungen und deren
15 unmittelbarer Einbindung in soziale Transaktionen, dazu verleitet, prinzipielle
16 Vorbehalte gegenber Vergebung zu entwickeln. Letzteres grndet darin, dass in
17
der Beschrnkung auf singulre Handlungen und deren Rechtfertigung gar nicht
18
ohne Weiteres ersichtlich ist, wie selbst- und fremdtuschende, in verschiedener
19
Weise instrumentalisierende oder sonst missbruchliche Formen von Vergebung
20
von genuinen Fllen von Vergebung unterscheidbar sein kçnnten. Wird jedoch
21
eine erweiterte Zeitperspektive und das Selbst-Konzept der Akteure miteinbezo-
22
gen, stellt sich die Sachlage anders dar. Denn nun wird deutlich, dass, wer be-
23
hauptet, Formen des Scheiterns, des Missbrauchs, der Unwahrhaftigkeit von Ver-
24
gebungsakten bzw. -prozessen auszeichnen zu kçnnen, um deren
25
Entdeckbarkeit willen immer schon in Anspruch nehmen muss, dass es genuine
26
Phnomene der Vergebung gibt, deren Voraussetzungen wiederum aufzuklren
27
sind. Zu den falschen, d. h. verzerrten, missbruchlichen, unaufrichtigen Formen
28
der Vergebung gehçren alle Akte von Vergebung, die allein deshalb erfolgen, um
29
eine bestimmte soziale Gegenleistung zu erhalten. Derartige Tauschgeschfte
30
kçnnen verschiedenen Zielsetzungen folgen, die meist nicht explizit ausgewie-
31
32
sen sind und um der sozialen Wirksamkeit des fraglichen Co-Handelns willen
33
nicht explizit ausgewiesen werden kçnnen. Vergebung als soziales Tauschge-
34
schft zu „leisten“, kann bedeuten, einen ertrglichen Zustand der Kooperation
35
up for them, or not bothering to find out if they are being ignored, is an equally effective
36 destroyer of a network of trust. Unforgiving rigidity and, at the other extreme, easygoing wil-
37 lingness to keep on forgiving, are both dysfunctional weaknesses, if our goal is to maintain and
38 repair a network of beneficial trust, one composed of normally faulty human persons.“ (Annet-
te Baier: Trust. The Tanner Lectures on Human Values. Delivered at Princeton University.
39 March 6.–8.1991. http://customers.net/Trust-The-Tanner-Lectures-on-Human-Values-The-
40 University-of-Utah-pdf-e4516.html. 135 [zuletzt eingesehen: 2. 1. 2014].)
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 207

1 per Distanz wiederherzustellen, wenn auch nur im Sinne eines labilen, konflikt-
2 dmpfenden Friedens. Es kann auch bedeuten, sich den Schutz eines Mchtige-
3 ren durch Nachgeben und geflissentliches bersehen einer erlittenen Demti-
4 gung zu „erkaufen“. Akte der Vergebung kçnnen ebenso unterschwellig darauf
5 abzielen, Selbstgerechtigkeit und moralische Hybris, scheinbar autorisiert durch
6 die Opferrolle, sozial zu legitimieren, d. h. Anerkennung fr die (angebliche) mo-
7 ralische Hçherwertigkeit des Opfers gegenber dem beltter zu verschaffen.
8 In letzterem Zusammenhang kann Vergebung sogar als subtile Form der Rache
9 am beltter und als Inszenierung seiner Verachtung gewhrt werden. Verge-
10 bung kann vom sozialen Umfeld erzwungen oder sich selbst – zu wenig reflek-
11 tiert, zu berstrzt und ohne berzeugung – abgerungen werden. Sie kann halb-
12 herzig, unaufrichtig oder aus den falschen Grnden versprochen und unter der
13 irrigen Annahme einer beliebigen Herstellbarkeit und Manipulierbarkeit der in-
14 neren Bereitschaft zur Vergebung gesucht werden. Die Formen gelingender wie
15 scheiternder Vergebung sind vielfltig.13
16 In smtlichen ihrer Spielarten hat Vergebung, so die hier zugrunde gelegte
17 These, eine soziale Konstitution und Erscheinungsform. Das gilt ebenso fr
18
Selbstvergebung, deren Untersuchung sich keineswegs in einem vor Miss-
19
brauch, Manipulation und Tuschung geschtzten Bereich bewegt. Selbstverge-
20
bung zu thematisieren, fhrt, verglichen mit „normalen“ Fllen von Vergebung,
21
nicht in eine mentale Innenwelt und nicht in eine restriktive Problemsicht. Es
22
handelt sich nicht um eine Schwundstufe sozialer Erfahrung oder darum, blind-
23
lings in die Sackgasse eines reinen Subjektivismus einzubiegen, wo willkrliche
24
Setzungen ohne Anhalt in der Sache selber vorherrschen. Den Fokus auf Selbst-
25
vergebung zu legen, fhrt vielmehr zu einer strker holistischen Sicht von Verge-
26
bensprozessen. Diese schließt die implizite Sozialitt jedes moralisch adressierba-
27
ren menschlichen Subjekts ebenso ein wie jene handlungstheoretischen
28
Komplikationen, welche darin grnden, dass mit Bezug auf die Manifestation
29
einer vergebungsbedrftigen Handlung nicht allein (wiewohl primr auffllig)
30
die Handlungsfolgen, sondern ebenso die „subkutanen“ Fragen der Handlungs-
31
motivation, der Freiheitsvoraussetzung, der nicht bloß nominellen, sondern kon-
32
33
kreten (realen) Selbstbestimmungsfhigkeit eines Akteurs und der entsprechen-
34
den Zuschreibbarkeit von Verantwortung zu bedenken sind.
35
Was die Sozialitt der fraglichen Gefhle und Handlungen betrifft, ist offen-
36 kundig, dass auch unter dem Gesichtspunkt der Selbstvergebung der Umstand
37 zu bercksichtigen ist, dass Vergebung dem Vergebenden ebenso ntzt wie dem,
38 13 Einen diesbezglich reichen Materialfundus bieten nicht nur wissenschaftliche Sozialstu-
39 dien, in Gestalt von Feldforschung und Theoriearbeit, sondern ebenso z. B. die Theaterkunst
40 und die Romane der Weltliteratur.
208 Sonja Rinofner-Kreidl

1 dem vergeben wird, ohne dass aber (stillschweigend) ein enger Nutzenbegriff
2 unterstellt wrde und der Effekt eines geteilten Nutzens bloß als ein Nutzenkal-
3 kl auf Basis eines so genannten „aufgeklrten Eigeninteresses“ handlungslei-
4 tend wre. Andernfalls msste der praktische Nutzen von Vergebung – ihr Bei-
5 trag zum individuellen und kollektiven Wohlbefinden und Wohlergehen – unter
6 allen Umstnden als (Selbst-)Instrumentalisierung gedacht werden. Genuine Ver-
7 gebung und Selbstvergebung erwachsen aus der Selbstsorge von Individuen,
8 d. h. aus einem moralischen Interesse am eigenen Selbst,14 ohne dass die Erfl-
9 lung dieses Interesses jedoch vorweg als Ziel des Vergebungsprozesses bzw. -ak-
10 tes intendiert wre – und intendiert sein kçnnte. Wre dies nmlich der Fall,
11 „kollabierten“ moralisches und egoistisches Interesse: Sie wrden ununter-
12 scheidbar. Unter dieser Bedingung wren Reue und Vergebung nicht mehr als
13 eine pharisische Geste, etwa indem „der Bereuende geistig in seinem Reueakt
14 auf die Gte des jetzt bereuenden Ich hinschielt – und damit auch die Reue zu
15 einem neuen Anlaß seiner Eitelkeit und eines geheimen Ruhms vor sich selbst
16 oder gar vor Gott macht“.15 Ohne die Befhigung zu einer erweiterten (nicht-
17 egoistischen) moralischen Selbstsorge wre unverstndlich, wie ein Prozess der
18 Vergebung einsichtig und eigenmotiviert in Gang gesetzt werden kçnnte, der
19 mehr als bloß ein maskiertes Tauschgeschft zur Stabilisierung von Machtver-
20 hltnissen wre.
21
22
23
24
2. Zur Mçglichkeit und Wirklichkeit von Selbstvergebung
25
26
Selbstvergebung nicht nur im Sinne ihrer widerspruchsfreien Denkbarkeit als
27
formal mçglich, sondern als real mçglich (wirklich) zu verteidigen, schließt im
28
Wesentlichen zwei Aufgaben ein: Erstens bedarf es einer Unterscheidung ver-
29
schiedener Phnomene, die unter dem Titel „Selbstvergebung“ adressiert wer-
30
den, wie auch einer Unterscheidung entsprechender Erlebnistypen. Zweitens
31
muss die Konzeption des Selbst, welche in der Rede ber „Selbstvergebung“ vor-
32 14 Je nachdem, wie eng oder weit das zugrunde liegende Konzept des Selbst angelegt ist, ist
33 die Selbstsorge mehr oder weniger weit von der Sorge um Andere entfernt bzw. umgekehrt
34 mehr oder weniger inklusiv. Gemß einer buddhistischen Denkweise etwa geht Selbstsorge
35 weit ber die Grenzen individueller Existenz hinaus. Der Grund fr eine allgemeine Vergebens-
bereitschaft ist hier ein global erweitertes Mitleiden mit anderen menschlichen und nicht-
36 menschlichen Kreaturen. Dies schließt ausdrcklich auch Mitleid mit belttern ein – unge-
37 achtet der Zurckweisung ihrer moralisch verwerflichen Taten. Vgl. Paul Ekman (Hg.): Emo-
38 tional awareness. Overcoming the obstacles to psychological balance and compassion. A con-
versation between The Dalai Lama and Paul Ekman. New York 2008. 100 – 107. 139 – 225.
39 15 Max Scheler: Reue und Wiedergeburt. In: Ders.: Vom Ewigen im Menschen. Bern 41954.

40 27 – 59. 50.
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 209

1 ausgesetzt ist, explizit gemacht und erlutert werden. Ich wende mich vorerst
2 der zweiten Aufgabe zu.
3 Selbstvergebung ist nur dann begrifflich konsistent einzufhren und im Zu-
4 sammenhang menschlicher Erfahrung verstndlich, wenn eine Konzeption des
5 Selbst zugrunde gelegt wird, fr die Folgendes gilt:
6 a) Das Selbst ist eine Vorstellung bzw., in normativer Interpretation, ein Ideal,
7 das nicht jenseits des sozialen Kontextes entsteht und nicht jenseits (unabhn-
8 gig) von ihm erfahrbar und explizierbar ist. Konstitution des Selbst und Konsti-
9 tution der Sozialitt sind in verschiedener und unauflçsbarer Weise miteinander
10 verflochten.16 Weder ein absolutes epistemisches Privileg der Fremderkenntnis
11 noch ein absolutes epistemisches Privileg der Selbsterkenntnis sind unter der
12 Voraussetzung eines solchen relationalen Selbst-Konzeptes zu verteidigen: We-
13 der kçnnen wir mit Bezug auf berzeugungen, Gefhle, Handlungen u. dgl. der
14 Maxime folgen „nichts ist innen, alles ist außen“ noch der entgegengesetzten Ma-
15 xime „alles ist innen, nichts ist außen“. Nach letzterer Auffassung kennte nur ich
16 allein meine berzeugungen, Gefhle und Handlungen; nur ich wsste, was ich
17 fhle, wer ich bin etc. Anstelle dieser Extrempositionen ist gemß dem obigen
18 Verstndnis von Selbst eine relative, in weitestem Umfang fallible und korrigier-
19 bare Selbsterkenntnis zu setzen, die unter normalen Umstnden verlsslich und
20 nicht auf Fremderkenntnis reduzibel ist, weil sich in diesem Fall die Differenz
21 von ego und alter ego, jedenfalls unter epistemischen Gesichtspunkten, aufhç-
22 be.17
23 b) Ein Selbst ist keine homogene und statische Einheit, sondern in der Zeit
24 vernderbar. Es ist im Hinblick auf seine Identitt irritierbar, oft auch simultan
25 von konfligierenden berzeugungen, Haltungen etc. geprgt. Das Selbst stellt
26 zwar eine Einheit dar, es handelt sich jedoch weder im Sinne der Konsistenz um
27 eine vollstndig rationale Einheit noch um eine vollkommen stabile Einheit. Ein
28 Selbst (wie wir es kennen) ist vielmehr eine mehr oder weniger labile und frag-
29 mentierte Einheit.18 Nur unter dieser Bedingung kann das eigene vergangene
30
16 Das bedeutet z. B., dass selbst solche Phnomene wie Selbsttuschung eine relevante so-
31
ziale Dimension haben. Vgl. Sonja Rinofner-Kreidl: Selbsttuschungen. Zur Sozialitt pseu-
32
do-reflexiver Handlungen. In: Christian Brnner u. a. (Hg.): Mensch – Gruppe – Gesellschaft.
33 Von bunten Wiesen und deren Grtnerinnen bzw. Grtnern. FS fr Manfred Prisching zum
34 60. Geburtstag. Wien 2010. 281 – 298; dies.: Selbsttuschung und Flucht.
17 „The capacity for the fragmented self to ,appear to oneself distinctly‘ is less than perfect,
35
but it is demonstrable, especially in examples of self-condemnation for harming others.“ (Kath-
36 ryn Norlock: Forgiveness from a feminist perspective. Lanham 2009. 145.)
18 Ein sich teilweise der rationalen Vereinheitlichung (z. B. im Sinne konstanter Prferen-
37
38 zen) entziehendes und in diesem Sinn fragmentiertes Selbst ist nicht mit einem geteilten Selbst
(partitioned self) zu verwechseln. Lge im strengen Sinn ein geteiltes Selbst vor, so wre der
39 Bewusstseinszusammenhang aufgehoben, so dass auch von einer Selbstvergebung nicht mehr
40 gesprochen werden kçnnte.
210 Sonja Rinofner-Kreidl

1 Selbst im Hinblick auf das, was es getan und unterlassen, gefhlt, gewollt, ge-
2 dacht und bezweckt hat, in einem nicht-pathologischen Sinn als „fremd“ erfah-
3 ren werden. Selbstvergebung ist eine mçgliche Art und Weise, auf solche Ent-
4 fremdungserfahrungen zu reagieren. Sie ist mit dem Anspruch verbunden, aus
5 dem Stand einer mehr oder weniger stark empfundenen Distanz zu sich selber
6 eine (wiederum prekre) narrative Einheit des Selbst zu erlangen und bis auf
7 Weiteres fr gltig zu erachten. Das Verhltnis zum eigenen Selbst kann jedoch
8 nur dann als Variante eines Verhltnisses zu einem anderen – und entsprechend
9 Selbstvergebung nur dann als strukturanalog zu Fremdvergebung – verstanden
10 werden, wenn mir mein eigenes vergangenes Handeln als fremd (oder „befremd-
11 lich“) erscheinen kann: so als ob ich nicht (mehr) die wre, die so gehandelt hat
12 bzw. handeln konnte. Mit Blick auf die bloße Form des hier implizierten Selbst-
13 verhltnisses kçnnen wir mithin sagen: „Selbstvergebung“ bezeichnet die pro-
14 zessual zu vermittelnde Wiedererlangung einer (relativen) Einheit mit sich sel-
15 ber – was einen vorgngigen Zwiespalt, eine Uneinigkeit mit sich voraussetzt.
16 Diese re-stabilisierende Funktion von Selbstvergebung erweist sich als analog
17 zur Funktion der Fremdvergebung, welche darin liegt, in gewissen Milieus und
18 auf einem gewissen Niveau kooperationsfhige soziale Einheiten wiederherzu-
19 stellen, welche vordem zerbrochen oder stark geschwcht waren.
20 Fassen wir zusammen: Selbstvergebung kann sich nur auf Basis einer Konzep-
21 tion des Selbst, welche, erstens, dessen relationalen Charakter, d. h. den intrinsi-
22 schen Zusammenhang von Personalitt und Sozialitt, anerkennt, als ein (wie-
23 der)erkennbares Phnomen abheben. Selbstvergebung ist nur dann mçglich,
24 wenn wir, zweitens, nicht von einem maximal vereinheitlichten (und in diesem
25 Sinn „starken“) Selbst ausgehen, sondern dessen relativ instabilen, partiell dis-
26 kontinuierlichen, fragmentierten Charakter anerkennen.19 Was bedeuten die so-
27 ziale Konstitution und dynamische Identitt des Selbst im Hinblick auf die mçg-
28
lichen Erscheinungsformen von Vergebung? Aus a) und b) resultiert eine
29
30 19 Vgl. Norlock: Forgiveness. 137 ff. Ich werde hier nicht zu Gunsten dieser beiden Annah-

31 men argumentieren. Vgl. Sonja Rinofner-Kreidl: Scham und Autonomie. In: Phnomenologi-
sche Forschungen 2013. 163 – 191; dies.: Selbst-Objektivation, Selbst-Entfremdung, Selbst-Be-
32
stimmung. Zur phnomenologischen Konzeption von Subjektivitt. In: Dies.: Mediane
33 Phnomenologie. Subjektivitt im Spannungsfeld von Naturalitt und Kulturalitt. Wrzburg
34 2003. 108 – 124. Mir geht es im Folgenden allein darum zu klren, was sich mit Bezug auf
35 Selbstvergebung deskriptiv und argumentativ ausfhren lsst, wenn man diese Annahmen,
d. h. den oben skizzierten Theorierahmen, zugrunde legt. Dass eine anschauungsbasierte ph-
36 nomenologische Analyse berhaupt eine relative Theorieabhngigkeit von Phnomenbeschrei-
37 bungen anerkennen kann (und muss) – anstatt sich einem naiven und dogmatischen Intuitionis-
38 mus zu verschreiben –, ist die Obiges umgreifende Meta-These, deren Gltigkeit ich im
Folgenden ebenfalls unterstelle. Vgl. Sonja Rinofner-Kreidl: Phenomenological intuitionism
39 and its psychiatric impact. In: Thomas Fuchs, Thiemo Breyer, Christoph Mundt (Hg.): Karl
40 Jaspers’ philosophy and psychopathology. New York 2014. 33 – 60.
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 211

1 uneindeutige Verteilung und Zuschreibung von Verantwortung und moralischer


2 Schuld mit Bezug auf konkrete Handlungen: In einer sozialen Realitt, die dem
3 obigen Konzept des Selbst entspricht, ist mit „gray agents“ und „morally gray
4 choices“ zu rechnen.20 Auch wenn es hufig und gerade bei den verheerendsten
5 gewaltttigen Eingriffen in fremde Selbstbestimmung zutrifft, dass Opfer- und
6 Tterrollen scharf unterschieden sind, ist es fr eine relevante Anzahl von min-
7 der schweren Fllen von Schuld und Vergebung anders. Das obige Konzept des
8 Selbst lsst Spielraum fr verschiedene Formen der Ko-Autorenschaft von
9 Handlungen, die nicht nur in einem ußerlichen Sinn in einem sozialen Raum
10 stattfinden (z. B. zufllig nebeneinander ein Stck des Weges zur gleichen Zeit
11 zurcklegen), sondern von intrinsisch sozialer Natur sind (z. B. zusammen spa-
12 zieren gehen; miteinander musizieren).
13 Nach Obigem ist Selbstvergebung nur dann mçglich, wenn das betreffende
14 Selbst imstande ist, sich selber quasi als einen anderen zu erfahren.21 Im Folgen-
15 den wird sich zeigen, dass die Mçglichkeit und Wirklichkeit von Selbstverge-
16 bung, umgekehrt, auch daran hngt, sich in andere versetzen und deren Perspek-
17 tive einnehmen zu kçnnen, und dies primr nicht im Sinne einer intellektuell-
18 kognitiven Operation, sondern in Gestalt von Empathie, emotionaler Responsi-
19 vitt, moralischer Wahrnehmung bzw. moralischer Vorstellungskraft (moral
20 imagination). Die eben genannten Fhigkeiten mssen in irgendeinem Ausmaß
21 verfgbar sein, wenn das mçglich sein soll, was in der Tradition der modernen
22 Phnomenologie als „Reziprozitt der Perspektiven“ bezeichnet wurde. Ich
23 kann das Handeln der anderen nur dann verstehen, „wenn ich mich als einen
24 imaginiere, der analog handelt, wie wenn ich in der gleichen Situation wre und
25 auf die gleichen Weil-Motive mich bezçge, oder wenn ich von den gleichen Um-
26 zu-Motiven mich leiten ließe.“22 Unter dem Titel „Reziprozitt der Perspekti-
27 ven“ fasst Alfred Schtz die basale Leistung der Intersubjektivierung in Alltags-
28 kontexten, die nicht zu verwechseln ist mit der in bestimmten theoretischen
29 Kontexten erfolgenden Setzung eines methodischen Ideals der (absoluten) Un-
30 parteilichkeit. Damit ist eine grundlegende Einsicht erreicht: Es gibt schon auf
31 der Ebene des unreflektierten Erfahrungsvollzugs als Bedingung seines Gelin-
32 gens, nmlich der wechselseitigen Verstndigung zwischen den beteiligten Ak-
33 teuren, eine Annherung an eine relative Unparteilichkeit im Sinne der Rezipro-
34 zitt der Perspektiven. Diese wre auch dann als praktisch wirksam
35 anzuerkennen, wenn sich herausstellte, dass das theoretisch-methodische Ideal
36
37 20 Vgl. Norlock: Forgiveness. 143 – 145.
38
21 Vgl. Rinofner-Kreidl: Selbst-Objektivation.
22 Alfred Schtz: Die soziale Welt und die Theorie der sozialen Handlung. In: Ders.: Ge-
39 sammelte Aufstze II: Studien zur soziologischen Theorie. Hrsg. von Arvid Brodersen. Den
40 Haag 1972. 3 – 21. 15.
212 Sonja Rinofner-Kreidl

1 der Unparteilichkeit unhaltbar wre. Mit anderen Worten: Die der sozialen Er-
2 fahrung inhrente Tendenz auf Objektivierung ist von spezifisch wissenschaftli-
3 chen, theoretischen Objektivittsbegriffen und -idealen zu unterscheiden.
4 Wie kçnnen wir uns nun auf Basis des oben skizzierten relationalen Kon-
5 zepts des Selbst dem Problem der Vergebung und Selbstvergebung annhern?
6 Der Aspekt der Selbstvergebung ist zwar ein Sonderfall insofern, als Vergebung
7 in den meisten alltglichen Bezugnahmen als ein Geschehen verstanden wird,
8 das mehrere Personen involviert, welche als Subjekt und Objekt von Akten des
9 Vergebens auftreten. Dennoch ist Vergebung prinzipiell von Selbstvergebung
10 nicht zu trennen, weil moralische Subjekte sowohl aus dem Verhltnis zu ande-
11 ren als auch aus dem Verhltnis zu sich leben. Aus einem solchen Verhltnis zu
12 leben, bedeutet nicht zwingend, es kognitiv „im Griff zu haben“: es (jederzeit)
13 reflexiv und reprsentational zugnglich und verfgbar zu haben. In menschli-
14 chen Angelegenheiten ist allgemein davon auszugehen, dass intrapersonelle
15 (Konflikt-)Verhltnisse nicht unabhngig von interpersonellen (Konflikt-)Ver-
16 hltnissen entstehen und auch nicht unabhngig von solchen verstanden werden
17 kçnnen. Aus psychologischer Sicht kann man dem Rechnung tragen, indem Ver-
18 gebung als ein psychosoziales Konstrukt eingefhrt wird.23 Aus phnomenologi-
19 scher Sicht versuchen wir, der Verflechtung von Individuellem und Sozialem aus
20 der Erste-Person-Perspektive bewusster Erfahrungen gerecht zu werden, indem
21 wir entsprechende Komplexitten auf Seiten der Intentionalitt der betreffen-
22 den Erfahrungen aufweisen.24
23
24 23 „[I]t is the forgiver (specifically, in his or her thoughts, feelings, motivations, or behavi-

25 ors) who changes. In this sense, forgiveness is a psychological construct. However, forgiveness
has a dual character; it is interpersonal as well as intrapersonal. Forgiveness occurs in response
26 to an interpersonal violation, and the individual who forgives necessarily forgives in relation to
27 someone else. Thus, even while being a psychological phenomenon, forgiveness is interperso-
28 nal in the same sense that many other psychological constructs are interpersonal in nature
(e. g., trust, prejudice, empathy): Each construct has other people as its point of reference. Alt-
29
hough someone might be said to possess trust, prejudice, or empathy, each of these constructs
30 attempts to describe dimensions of persons that are inescapably social in nature. Both the intra-
31 personal and social aspects of forgiveness are ,real‘; thus, to intrapersonally and interpersonally
conceptualize forgiveness is an eminently reasonable thing to do. Perhaps it is most comprehen-
32
sive to think of forgiveness as a psychosocial construct.“ (McCullough, Pargament, Thoresen:
33 Forgiveness. 9) Ob gemß dem vorliegenden theoretischen Rahmen Selbstvergebung aus- oder
34 eingeschlossen ist, hngt davon ab, wie eng oder weit, wçrtlich oder metaphorisch man „neces-
35 sarily forgives in relation to someone else“ versteht (s. dazu das Folgende im Text).
24 Auf Basis der phnomenologischen Methode ist demnach auch ein kritischer Blick auf
36 narrative Konzeptionen des Selbst zu werfen: „Narratives are reflective selections and orga-
37 nizations of a life. In this sense the narrative captures less than an individual’s life, for not all of
38 a life as pre-reflectively lived can be fitted into a narrative, which best suits goal-directed ac-
tion. […] narratives, by virtue of their selectivity, impose more unity than life itself has manife-
39 sted. […] The narrative account is inadequate to identify the structures and conditions that
40 make possible our emotions, including those that irrupt our ongoing narratives and are subse-
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 213

1 Wenn die obige Bestimmung des Verhltnisses von Vergebung und Selbstver-
2 gebung zutrifft, dann ist davon auszugehen, dass Selbstvergebung (sc. dass ich
3 mir vergebe, einen anderen oder mich selbst verletzt oder geschdigt zu haben) –
4 ihre Mçglichkeit (Denkbarkeit) vorausgesetzt – moralisch nicht fragwrdiger
5 bzw. im Hinblick auf eine moralische Bewertung nicht negativer oder ambiva-
6 lenter zu beurteilen ist, als das auch fr Fremdvergebung gilt (sc. dass ich einem
7 anderen vergebe, mich verletzt oder geschdigt zu haben). Strker noch: Wenn
8 zutrifft, dass im komplexen Phnomen der Vergebung interpersonelle und intra-
9 personelle Momente nicht zufllig, sondern auf Grund des Wesens der fragli-
10 chen Erlebnistypen vereinigt sind, dann ist es ungerechtfertigt, Selbstvergebung
11 vorweg auf Grund eines definitorischen „fiat“ aus dem Untersuchungsfeld aus-
12 schließen zu wollen. Vielmehr ist anzunehmen, dass auch Selbstvergebung intra-
13
personelle und interpersonelle Momente in sich birgt,25 und dass die Untersu-
14
chung von Selbstvergebung zu einem differenzierteren Verstndnis von
15
Vergebung beitragen kann – und auf diese Weise auch zum Verstndnis der Bin-
16
dungsfaktoren in menschlichen Gemeinschaften berhaupt. Die Struktur von
17
Selbstvergebung zu untersuchen, bedeutet, bestimmte Aspekte von Vergebungs-
18
prozessen hervorzuheben, welche fr alle Flle von Vergebung relevant sind.
19
Meine diesbezglichen Thesen lauten wie folgt (I-III):
20
(I) Jede Vergebung schließt in einem nicht-thematischen und basalen Sinn
21
Selbstvergebung insofern ein, als ich selbst dann, wenn ich einem anderen verge-
22
be, ein bestimmtes Verhltnis zu mir selber einnehme.26 In dieser beilufigen
23
24
(nicht-thematischen) wie auch in jeder anderen Spielart und Manifestation von
25
Selbstvergebung stellt diese primr eine Selbst-Verpflichtung dar, nmlich eine
26
27
28
quently captured in new narratives. Narratives fall short of clarifying the emotional experience
29
as lived, and in particular, they fall short of differentiating the cognitively penetrable from the
30 cognitively impenetrable as lived.“ (John Drummond: ,Cognitive Impenetrability‘ and the
31 complex intentionality of the emotions. In: Journal of Consciousness Studies 11 (2004). 109 –
126. 119.)
32 25 Vgl. z. B. Norlock: Forgiveness. 153: „Being valued and affirmed by others make sense as
33 a part of self-forgiveness.“
26 Der hier gemeinte Zusammenhang ist unabhngig von der vçllig anders gelagerten ber-
34
35 legung, ob nicht ein Einschlussverhltnis im Sinne einer kausalen Abfolge oder einer notwendi-
gen Bedingung vorliegen msse derart, dass Vergebung durch andere vorangehen msse, wenn
36 Selbstvergebung moralisch gerechtfertigt sein solle, bzw. dass Selbstvergebung nur dann ohne
37 diesen „Vorlauf“ auskomme, wenn Vergebung durch die relevanten anderen, z. B. aufgrund
38 von deren Ableben, nicht mehr mçglich sei. Diese Sichtweise, welche Selbstvergebung zu ei-
nem bloß ußeren Annex oder Surrogat fr Vergebung erklrt, beruht vielmehr darauf, dass
39 das zugrunde liegende (nicht-relationale, nicht-dynamische und nicht-dialektische) Konzept
40 des Selbst unanalysiert bleibt.
214 Sonja Rinofner-Kreidl

1 Verpflichtung auf mein zuknftiges Selbst27 bzw. die Gestaltbarkeit meiner Zu-
2 kunft auf Basis dessen, dass ich Vertrauen in mein zuknftiges Selbst setze.28 Die-
3 ses Vertrauen zielt nicht auf ein abstraktes Subjekt-sein als solches, sondern dar-
4 auf, dass ich von anderen als ein moralisch respektables Selbst anerkannt und
5 folglich eines sein werde, das Selbstrespekt wird haben kçnnen. Wenn wir
6 „Selbstvergebung“ in diesem Sinn verstehen, dann handelt es sich um einen As-
7 pekt – oder besser: um eine Tiefendimension – jedes mçglichen Aktes einer au-
8 thentischen (aufrichtigen) Vergebung: Vergebung ohne ein zugrunde liegendes
9 Votum zu Gunsten von Vertrauen und Selbstrespekt ist unmçglich. Allein aus
10 einem zukunftsgerichteten Vertrauen wird jenes „Seinlassen“ vergangener Ver-
11 letzungen mçglich, das hufig als ein Charakteristikum von Vergebung (auf Sei-
12 ten der Vergebenden) genannt und zu Recht sowohl von einem Vergessen wie
13 auch von einem Verzeihen der vergangenen beltat unterschieden wird.29 Auch
14 die einem anderen gewhrte Vergebung („Fremdvergebung“, „other-forgive-
15 ness“) teilt den oben genannten Verpflichtungscharakter und investiert Vertrau-
16 en. Sie ist Verpflichtung darauf, den anderen als ein moralisches Subjekt anzuer-
17 kennen: ihn als ein solches trotz seiner Missetat rehabilitiert zu sehen. Darin
18 bekundet sich der Wille, den anderen nicht auf seine Tat zu reduzieren. Indem
19 die Vergebung den anderen somit fr sein zuknftiges Handeln „freigibt“, ihn
20 nicht als von seinen bçsen Taten determiniert denkt, stellt der auf ihn gerichtete
21 Vergebungsakt einen Vertrauensvorschuss dar, der sich darauf bezieht, wie ich
22 dem anderen zutraue, in Zukunft zu handeln.30
23 Die Tiefendimension von Vergebung, in der es um das Verhltnis des verge-
24 benden Selbst (wie auch des Selbst, dem vergeben wird) zu sich selber geht, ist
25 zugleich jene in unserem Alltagshandeln verborgene Ebene der Interpersonali-
26
27 27 Vgl. Norlock: Forgiveness. 151: „Given my adherence to the ontology of the fragmented

28 self, I see forgiveness as a commitment to the ultimate long-term relationship: the set of relati-
onships between one’s past, current, and future selves.“ Vgl. Goldie: The Mess Inside.
29 28 Dem entspricht die Vermutung, dass Vergebenkçnnen ein Resilienzfaktor ist, was auf der

30 Ebene eines rationalen Diskurses ber Bedingungen des Vergebens nicht greifbar wird. Vgl.
31 z. B. Beverly Flanigan: Forgiving the Unforgivable. Overcoming the bitter legacy of intimate
wounds. New York 1992. 144 – 146. 160 – 163, 188.
32 29 McCullough, Pargament, Thoresen: Forgiveness. 8: „It appears that most theorists and
33 researchers now agree with Enright and Coyle (1998) that forgiveness should be differentiated
34 from ,pardoning‘ (which is a legal term), ,condoning‘ (which implies a justification of the of-
35 fense), ,excusing‘ (which implies that the offender had a good reason for committing the of-
fense), ,forgetting‘ (which implies that the memory of the offense has simply decayed or slip-
36 ped out of conscious awareness), and ,denying‘ (which implies simply an unwillingness to
37 perceive the harmful injuries that one has incurred). Most also seem to agree that forgiveness is
38 distinct from ,reconciliation‘ (which implies the restoration of a relationship).“
30 In der Literatur findet sich das in Vergebungsprozessen enthaltene Vertrauensthema gele-
39 gentlich auch unter anderen Bezeichnungen, z. B. als „Glaubenskredit“ (Crespo: Das Verzei-
40 hen. 115) ausgewiesen.
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 215

1 tt, die den letzten „Grund“ unseres moralischen Lebens ausmacht: dass wir
2 wechselseitig voneinander im Sinne der Anerkennung abhngig sind und nur ver-
3 trauensvoll vergeben kçnnen, wenn wir einander berhaupt vergeben kçnnen.
4 In diesem Zusammenhang ist es plausibel, Vergebung mit dem Persçnlichkeits-
5 merkmal der Hingabefhigkeit zu assoziieren.31 Was hier im glcklichen Fall des
6 Gelingens gelebt wird, ist, sich „ohne Argwohn“, ohne innere Vorbehalte und
7 prima facie unbekmmert um die Mçglichkeit von Missbrauch und Enttu-
8 schung, dem Anderen zu berlassen. Erst auf dieser basalen affektiven Ebene
9 wird nachvollziehbar, weshalb Vergebung als ein Neubeginn, als Erneuerung
10 oder Wiedergewinnung von Lebensenergie, Lebensfreude und Zukunftsoffen-
11 heit beschrieben wird. Analoges gilt fr die Reue als Bestandteil von Prozessen
12 der Vergebung. Symptomatisch ist diesbezglich Max Schelers Hinweis darauf,
13 „wie der Reueakt […] ganze Vçlker, ja Kulturkreise generationenlang durch-
14 rauscht; wie er die verstockten und verhrteten Herzen çffnet und lebensweich
15 macht“.32 Vertrauen und Hingabefhigkeit kçnnen als Meta-Befhigungen oder
16 Meta-Tugenden insofern verstanden werden, als sie nicht nur gelegentlich im
17 Entscheidungs- und Handlungskontext problematisiert werden und selber Be-
18 standteil derartiger Vollzge sind, sondern auch in Zeiten der Unthematizitt
19 prsent sind (sei es, weil sie blockiert sind oder weil sie fraglos gelebt werden).
20 Derartige Meta-Tugenden sind den konkret handlungsbezogenen und hand-
21 lungsleitenden Tugenden wie z. B. Tapferkeit und Gerechtigkeit insofern berge-
22 ordnet, als sie positive Grundhaltungen und Bereitschaften einer Person darstel-
23 len, welche deren Handeln und Leben indirekt und unthematisch stark
24 beeinflussen, in bestimmte Richtungen lenken und im Zuge dessen den Erwerb
25 und die Ausbung anderer emotionaler und kognitiver Fhigkeiten unterstt-
26 zen und motivieren.
27 Als „deep level“-Qualitten stehen Vertrauen und Hingabefhigkeit fr eine
28 (individuell variable) emotionale Grundverfassung von Personen.33 Diese ist
29
30 31 Vgl. Josef Rattner, Gerhard Danzer: Persçnlichkeit braucht Tugenden. Positive Eigen-

31 schaften fr eine moderne Welt. Berlin 2011. 86 ff. Die Autoren nehmen diesbezglich auch
einen Zusammenhang mit Großzgigkeit und Generositt (Freigebigkeit, Großmut, Großher-
32
zigkeit) an und weisen auf die „Ich-Erweiterung“ hin, „die meistens auf Akte der Hingabe
33 erfolgt.“ (Ebd. 88.)
32 Scheler: Reue und Wiedergeburt. 52. Nach Scheler ist Reue eine Form der „Selbsthei-
34
35 lung“ der Seele, eine Wiedergewinnung ihrer verlorenen Krfte (ebd. 33), die „sittliche Verjn-
gung“ bewirke (ebd. 35 f.). Schelers gedanklich anspruchsvolle Auseinandersetzung mit Reue-
36 gefhlen beruht auf einer bestimmten Konzeption der Erinnerung und der Geschichtlichkeit
37 personalen Lebens. Diese liegt z. B. der (von Seiten der Psychoanalyse und -therapie gut best-
38 tigten) These zugrunde: „Nicht die bereute Schuld, sondern nur die unbereute hat auf die Zu-
kunft des Lebens […] determinierende und bindende Gewalt.“ (Ebd. 36.)
39 33 Auch wenn eine philosophische Untersuchung deren autobiografische Genese und psy-

40 chotherapeutische oder sonstige Gestaltbarkeit nicht thematisiert, muss dies nicht bedeuten,
216 Sonja Rinofner-Kreidl

1 nicht mit konkreten, thematisch fokussierten und mit bestimmten intentionalen


2 Erlebnissen assoziierten Gefhlen zu verwechseln. Zwar hngt der individuelle
3 Umgang mit Vergebung als einem wiederkehrenden Grundthema menschlichen
4 Lebens „zuletzt“ (sc. auf der tiefsten Ebene der Hingabe an eine vorgefundene
5 Welt und Wirklichkeit) von einer affektiven und emotionalen Grundbefindlich-
6 keit ab. Diese ist jedoch von oberflchennahen, strker anlassbezogen auftreten-
7 den und meist gegenstndlich ausgerichteten Gefhlen zu unterscheiden. Das
8 primre Merkmal von (Selbst-)Vergebung – dass es sich um eine meist still-
9 schweigend eingegangene Selbstverpflichtung oder Selbstbindung handelt –
10 kann zwar allein aus einer bestimmten emotionalen Grundbefindlichkeit vollzo-
11 gen werden, ist aber nicht im herkçmmlichen Sinn gefhlshaft.
12 (II) Vor dem Hintergrund der obigen Unterscheidung zwischen emotionaler
13 Grundbefindlichkeit und konkreter Gefhlsmannigfaltigkeit im menschlichen
14 Bewusstsein mçchte ich die These vertreten, dass Vergebung und Selbstverge-
15 bung erst sekundr gefhlshafter Natur sind. Soweit es um den Gefhlscharak-
16 ter geht, steht „Vergebung“, insbesondere auch in ihrer prozessualen Anbah-
17 nung, fr eine Mehrzahl verschiedener, z. T. kontrrer, entweder sukzessive
18 oder simultan auftretender und einander berlagernder Gefhle. Bestandteil der-
19 artiger Gefhlsverflechtungen sind in typischen Fllen: Groll, Ressentiment,
20 Angst, Zorn, Abscheu, Widerwillen, Empçrung, Rache, Verzweiflung, Irritati-
21 on, Erstarkung, wieder aufkeimende Lebensfreude, Zutrauen, Hoffnung. Es
22 gibt nicht das Gefhl der Vergebung – sofern Vergebung ein Prozess ist, der
23 nicht nur auf heterogene Arten von Verletzung und Schdigung antwortet,34 son-
24
25
dass sie derartige Interessen ignoriert. Ein Augenmerk auf diese zu legen, empfiehlt sich, um
26 nicht unangemessenen Idealisierungen zu unterliegen. Auch wenn die Phnomenologie nicht
27 auf singulre Instantiierungen von spezifischen Bewusstseinsgestalten, z. B. bestimmten Gefh-
28 len, abzielt, sondern auf jene intentionalen Strukturen, welche notwendigerweise vorliegen
mssen, wenn diese instantiiert sind (wo, wann und in wessen Bewusstsein auch immer dies
29
der Fall sein mag), so wre es doch unangebracht, ohne Weiteres davon auszugehen, dass die
30 fraglichen Bewusstseinsformationen jederzeit und universal verfgbar (herstellbar) wren.
31 Zwar ndert dies nichts am Erkenntnisanspruch eidetischer Urteile, gleichwohl ist es fr die
interdisziplinre Verortung und Selbstbescheidung philosophischer Analysen wichtig, sich der
32
im Untersuchungsfeld enthaltenen Kontingenzen bewusst zu sein. Dass das manifeste Gefhls-
33 leben von Menschen (nicht nur im kindlichen Entwicklungsstadium) durchlssig ist im Hin-
34 blick auf die tiefer liegende Schicht der emotionalen Grundbefindlichkeit, liegt z. B. der Annah-
35 me zugrunde, dass individuelles Bewusstsein zu beliebigen Zeitpunkten bei weitem nicht das
gesamte Gefhlsspektrum ausschçpft, vielmehr einseitige Habitualisierungen u. dgl. zeigt.
36 34 Mit Bezug auf konkrete Gestalten von Gefhlsverflechtungen und Gefhlsdominanzen

37 sind nicht nur verschiedene Flle von Vergebung zu unterscheiden (z. B. die Vergebung, zu der
38 sich die Eltern eines Kindes, das bei einem fahrlssig verursachten Verkehrsunfall getçtet wur-
de, nach langem inneren Kampf durchringen, im Unterschied zum Prozess der Vergebung, den
39 ein Ehemann durchlaufen mag, dessen Frau ihm eine heimliche Liebesaffre gesteht). Ebenso
40 ist davon auszugehen, dass sich paradigmatische Flle von Nicht-Vergebung (z. B. ethnisch mo-
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 217

1 dern darber hinaus verschiedene Phasen umfasst, die in einer bestimmten Ver-
2 laufsordnung aufeinander folgen.35 Insofern dieser Prozess ein bestimmtes Telos
3 hat, kçnnte das am Ende vorherrschende Gefhl (sofern es sich einstellt!) als
4 „das“ Gefhl der Vergebung angesprochen werden. Dieses lsst sich annhe-
5 rungsweise als eine Mischung aus Erleichterung, Entlastung, Stolz, Zuversicht
6 und Freude beschreiben.
7 Auch wenn diese Gefhle rein phnomenale Aspekte aufweisen, die im Sinne
8 der Strkung und des „Selbstgenusses“ der Akteurin beachtenswert sind, ist der
9 komplexe Gefhlszustand nicht notwendig einer, der im Hinblick auf die einzel-
10 nen beteiligten Gefhle und Gefhlsmomente eindeutig bestimmbar und exakt
11 zeitlich datierbar sein msste. Ebenso wie ein Zustand des Vergebens, im fragli-
12 chen Moment durchaus unerwartet, plçtzlich „aufgehen“ kann, kann er sich
13 auch durch eine allmhlich anwachsende, zunehmend strker und deutlicher be-
14 merkbar werdende Gefhlslage ankndigen. Es ist darber hinaus kein Zufall,
15 dass gerade mit Bezug auf Prozesse der Vergebung, die nicht durch eine be-
16 stimmte und einheitliche, reine Empfindungs- und Gefhlsqualitt charakteri-
17 siert werden kçnnen, vielmehr typische Abfolgen verschiedener Gefhle oder
18 Gefhlsamalgame einschließen, der andernorts deutliche Unterschied zwischen
19 Gefhl und Stimmung verschwimmen kann.36 Vergebung zu erreichen, kann
20 auch bedeuten, sich in einer Stimmung wiederzufinden, die zwar nach manchen
21 Momenten bestimmbar sein mag und jedenfalls im Ganzen eine bestimmte posi-
22 tive Erlebnisqualitt hat, dennoch aber die gegenstndliche Ausrichtung be-
23 stimmter Gefhle nicht oder nur andeutungsweise aufweist. Dies kann insbeson-
24 dere verlaufsbedingt der Fall sein: Ein zuvor momentan und prgnant
25 eintretendes Gefhl der Vergebung kann sich im weiteren Verlauf in eine lnger
26 anhaltende erhebende Gefhlsstimmung (sic!) verschleifen. (Ein derart verwan-
27 deltes Vergebungsgefhl ist gleichwohl nicht mit der oben erwhnten emotiona-
28
len Grundbefindlichkeit zu verwechseln.) Die Art und Weise, wie sich die Ge-
29
30 tivierte Massenmorde; finanzieller Ruin durch Freundesbetrug) im Hinblick auf die Art und
31 Intensitt der beteiligten Gefhle unterscheiden.
35 Flanigan z. B. markiert sechs Phasen, die sie wie folgt unterscheidet: 1. Naming the Inju-
32
ry, 2. Claiming the Injury, 3. Blaming the Injurer, 4. Balancing the Scales, 5. Choosing to For-
33 give, 6. The Emergence of a New Self (Flanigan: Forgiving. 69 – 170).
36 Auch insofern sind individuelle Prozesse der Vergebung Teil einer sozialen Praxis, als sie
34
35 von einem in bestimmten Sozietten vorherrschenden oder zumindest deutlich sprbaren,
wenn auch begrifflich und sprachlich schwer fassbaren „Klima“ der (Nicht-)Vergebung beein-
36 flusst sind, das eine kollektive Stimmung zum Ausdruck bringt. Es ist anzunehmen, dass sich
37 eine entsprechende Disponiertheit Einzelner vor allem in Auseinandersetzung mit ihrem sozia-
38 len Primrkontext herausbildet. Man denke z. B. an das Leben als buddhistischer Mçnch in
einem tibetischen Kloster, verglichen mit dem Aufwachsen in einer politisch engagierten
39 irisch-katholischen Familie in Dublin oder in einer israelischen Siedlerfamilie, die seit Genera-
40 tionen in den israelisch-arabischen Gebietsstreit involviert ist.
218 Sonja Rinofner-Kreidl

1 fhlsempfindungen und -verlufe im Einzelfall gestalten – strker kontinuier-


2 lich oder diskontinuierlich, strker stimmungshaft oder punktuell auftretend,
3 eher akut gefhlsintensiv oder wie ein „steady glow“ usw. –, hngt darber hin-
4 aus mit einem anderen speziellen Umstand zusammen, der in der Erlebnisper-
5 spektive als bedeutsam erfahren wird. Betroffene berichten sowohl, dass sie sich
6 ihr Vergeben-Kçnnen erarbeiten, es gewissermaßen als eine „Leistung“ erbrin-
7 gen mussten, als auch, dass eine sich zu einem bestimmten Zeitpunkt unvermu-
8 tet einstellende Bereitschaft und Fhigkeit zur Vergebung als Geschenk empfun-
9 den wurde. Selbst wenn wir in Rechnung stellen, dass sich hier persçnliche
10 Charakterdispositionen bemerkbar machen, ist es keineswegs der Fall, dass die-
11 se Beschreibungen miteinander unvertrglich sein mssten. Was auf Grund in-
12 tensiver, momentan stark beeindruckender Gefhle als quasi passiv empfangen
13
erlebt wird, kann retrospektiv durchaus als lange erstrebtes und vorbereitetes
14
Ergebnis eines Reflexionsprozesses entdeckt werden. Dass Vergebung in einem
15
bestimmten Augenblick unvermutet „hervorspringt“ und das Vergeben-Kçn-
16
nen dankbar als ein sich spontan vollziehender Gestaltwandel des Bildes der eige-
17
nen Vergangenheit, womçglich des eigenen Lebens insgesamt, erfahren wird,37
18
schließt nicht aus, dass dem eine lngere kognitive und emotionale Auseinander-
19
setzung mit den betreffenden Handlungen vorangegangen ist und vorangehen
20
musste, um letztendlich Vergebung mçglich zu machen. Entsprechend variiert
21
die Charakterisierung der Vergebung entweder als Leistung, d. h. als Arbeit an
22
sich bzw. an den eigenen reactive attitudes,38 oder als Geschenk, das sich der
23
24
natrlichen und erworbenen Persçnlichkeitsausstattung verdankt.
25
Whrend sich diese Beschreibung auf der Ebene der auch fr den Akteur sel-
26 ber zugnglichen Handlungsintentionalitt bewegt, ist auf einer anderen, nicht
27 ohne Weiteres zugnglichen, existentiell tiefer liegenden Ebene die Perspektiven-
28 differenz von Leistung und Geschenk nicht mehr nachvollziehbar bzw. aufrecht-
29 zuerhalten: Ob ich berhaupt („konstitutionell“) ein Mensch bin, der imstande
30 ist, sich anderen vertrauensvoll zu berlassen, im Bewusstsein der sozialen Ab-
31 hngigkeit und Vulnerabilitt des eigenen Seins; ob ich offen dafr bin, mein
32 Selbst als ein Geschenk „aus den Hnden“ der anderen zu empfangen, oder
33 mich dagegen verwehre, weil ich es als einen bergriff in das empfinde, was ich
34
37 Vgl. den berhrenden Bericht des amerikanischen Psychologen Ekman (Paul Ekman:
35
Emotional awareness. New York 2008. 133 – 136) ber den lange schwelenden, immer wieder
36 unterbrochenen und in manchen Lebensphasen eher unbewusst unternommenen Versuch, sei-
37 nem Vater zu vergeben. Als dies nach manchen Verstrickungen plçtzlich gelingt, ist er ber-
38 rascht und berwltigt davon, wie das Vergebenkçnnen das eigene Leben rckwrts neu er-
schließt.
39 38 Vgl. P.F. Strawson: Freedom and resentment. In: Ders.: Freedom and resentment and

40 other essays. London 2008.


Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 219

1 meine, aus eigener Kraft und Kreativitt, gewissermaßen verdienstvoll gewor-


2 den zu sein – entzieht sich womçglich meinem Zugriff. Jedenfalls gibt es keine
3 Gewhr dafr, dass auf dieser Ebene die Differenz von Leistung und Geschenk
4 kognitiv einzuholen und zu bewltigen wre, oder eine Antwort auf die Frage
5 zu finden wre, woher mir am Ende der Mut kommt, trotz einer intensiv erleb-
6 ten Schdigung meiner Person nicht mit Rckzug, Resignation, Rache oder hn-
7 lichen Abwehr- und Distanzreaktionen zu „kontern“. Auch wenn es dem vor-
8 herrschenden philosophischen Umgang entspricht, das Thema der Vergebung
9 hauptschlich auf der Ebene der Handlungsintentionalitt zu verankern und die
10 sich auf dieser Ebene einstellenden Komplikationen zu verfolgen, ist zu beach-
11 ten, dass Vergebung eine existenzielle Dimension hat, die jedenfalls fr eine ph-
12 nomenologische Schichtenanalyse menschlicher Erfahrung mit zum Untersu-
13 chungsfeld gehçrt und mit dem Voranstehenden angedeutet wurde. Hier wie
14 andernorts gilt: Was uns existentiell bindet und ausmacht, ist aufs engste mit un-
15 serem emotionalen Leben verknpft und verschafft sich (zumindest) in diesem
16 verlsslich Ausdruck.
17 Ich gehe davon aus, dass die Vermittlung und der Transfer zwischen den ver-
18 schiedenen Tiefenschichten der Erfahrung in Prozessen bzw. Akten der Verge-
19 bung wesentlich eine Angelegenheit unseres Gefhlslebens ist. Dem kommt im
20 vorliegenden Fall entgegen, dass Vergebungsgefhle als komplex verflochtene
21 Gefhle sehr deutlich die Dynamik von Gefhlen in doppelter Hinsicht zeigen:
22 Sie haben einerseits das Potential, in den Akteuren, die die entsprechenden Ge-
23 fhle erleben, Vernderungen zu bewirken, und sie sind andererseits selber ver-
24 wandlungsfhig. Vergebungsgefhle sind aktiv transformatorisch, indem sie un-
25 sere Haltung gegenber anderen, gegenber Situationen, eventuell gegenber
26 dem Leben insgesamt verndern. Sie beeinflussen unsere Charakterentwick-
27 lung, unsere Denk- und Handlungsweise. Gleichwohl unterliegen die in Verge-
28 bungsprozessen involvierten Gefhle selber im Zeitablauf gewissen Modifizie-
29 rungen auf Grund von vernderten Einstellungen und Sichtweisen, so dass von
30 einer Wechselwirkung zwischen emotionalen und kognitiven Momenten auszu-
31 gehen ist. Insbesondere unter dem Gesichtspunkt, dass die Gefhle und Gefhls-
32 komplexionen, die mit Bezug auf Vergebung in Betracht kommen, mehrheitlich
33 eng mit der Handlungsrealitt und deren wechselnder subjektiver Interpretation
34 verknpft sind, mithin als (relativ) handlungswirksame, nicht dominant kontem-
35 plative Gefhle auftreten, stellt sich die Frage, ob wir fr die Gefhle, die wir
36 haben – und infolge dessen fr das, was unsere Gefhle aus uns machen –, verant-
37 wortlich sind.
38 (III) Auf der Ebene der Handlungsintentionalitt bezeichnet „Selbstverge-
39 bung“ zwei verschiedene Phnomene. Es handelt sich um reflexiv gerichtete
40 Akte bzw. Prozesse, deren Anlass a) eine von mir begangene und als moralisch
220 Sonja Rinofner-Kreidl

1 unzulssig oder verwerflich verstandene Schdigung anderer oder b) eine selbst-


2 verschuldete und als moralisch unzulssig oder verwerflich verstandene Selbst-
3 schdigung ist. Gemß a) ist Selbstvergebung ein Aspekt, d. h. ein unselbstndi-
4 ges Moment im Ganzen „normaler“ Prozesse der Fremdvergebung, in deren
5 Verlauf ein anderer mir ein vergangenes Fehlverhalten vergibt. Gemß b) ist
6 Selbstvergebung ein eigenstndiges Phnomen, das zwar nur in Analogie zur
7 Fremdvergebung verstehbar ist, gleichwohl aber von dieser unterschieden ist.
8 Ein Beispiel fr b) wre, dass ich mich lange Zeit als in meinem Selbstwert da-
9 durch beschdigt erlebe, dass ich in einer bestimmten Lebensphase permanent
10 „unter meinen Mçglichkeiten“ geblieben bin, Entwicklungs- und Reifechancen,
11 Bewhrungsproben meiner Gesinnung u. dgl. nicht ergriffen, diese vielmehr –
12 untersttzt durch mein beschtzendes Umfeld, aber durchaus im vollen Be-
13 wusstsein der selbstschdigenden Wirkung dieses Ausweichverhaltens – umgan-
14 gen habe. In einem solchen Fall ist Selbstvergebung eine Antwort auf moralische
15 Verfehlungen im Sinne der Nichterfllung von (starken) Idealen der Selbstver-
16 vollkommnung.
17 Wenn a) und b) zu Recht unterschieden werden, so bedeutet dies auch, dass
18 die Tatsache, dass eine andere Person moralisch geschdigt wurde, nicht ohne
19 Weiteres als eine notwendige Bedingung fr Selbstvergebung zu verstehen ist.
20 Die Forderung zurckzuweisen, dass Selbstvergebung nur dann real und legitim
21 (gerechtfertigt) sein kçnne, wenn sie an Fremdvergebung im Sinne entweder ei-
22 ner notwendigen Voraussetzung oder als Surrogat derselben geknpft sei,
23 schließt nicht aus, dass solche Formen von Selbstvergebung gelegentlich vor-
24 kommen mçgen. Vergebung kann in der Tat die Nicht-Vergebung durch andere,
25 die aus verschiedenen Grnden verweigert wird oder nicht gewhrt werden
26 kann, ersetzen. Sie kann durchaus als zweitbeste Option (z. B. auf Grund des
27 Ablebens des Geschdigten) realisiert werden. Derartige Flle einzurumen,
28 schließt jedoch nicht aus, sich mit Blick auf die obige Differenzierung der Phno-
29 mene der pauschalen These zu widersetzen, dass Selbstvergebung in jedem Fall
30 einer Fremdvergebung konzeptionell untergeordnet oder zeitlich nachgeordnet
31 sein msste.
32 Mit Bezug auf die Unterscheidung selbstndiger und unselbstndiger Formen
33 von Selbstvergebung ist nicht die oben skizzierte Differenz von Verpflichtungs-
34 moment und Gefhlsqualitt relevant, sondern die Ebene des deskriptiven Zu-
35 griffs auf das Phnomen: Abgesehen davon, dass allen Manifestationen von Ver-
36 gebung ein stillschweigendes Bekenntnis zu Vertrauen und Selbstrespekt
37 zugrunde liegt, unterscheiden sich Akte der Vergebung auf einer hçherstufigen
38 Ebene, auf der es um die konkrete intentionale Handlungsstruktur geht, darin,
39 dass sie entweder (primr) auf andere oder (primr) auf einen selber gerichtet
40 sind. Nur mit Bezug auf die zuletzt genannte Ebene hat der Einwand, dass
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 221

1 Selbstvergebung ja nicht mehr sei, als eine billige Art und Weise sich selber Abso-
2 lution zu erteilen („cheap grace“), potentiell einen Anhalt in der Sache selber.
3 Der oben angesprochene Tugendcharakter von Vergebung muss die Ebene des
4 konkreten Handelns einschließen, auf der der Umgang mit Gefhlen modelliert
5 wird. (Tugenden, die sich allermeist nicht bzw. niemals manifestieren, werden
6 nicht als Tugenden anerkannt und sind als solche nicht erkennbar.) Tugendhaf-
7 tigkeit kommt aus der erlebten Verklammerung dessen ins Spiel, was ich als ver-
8 schiedene Ebenen (oder „Dimensionen“) von Akten bzw. Prozessen der Verge-
9 bung unterschieden habe. Tugendhaftigkeit zeigt sich insbesondere darin, wie
10 die „Grund“-Themen des Vertrauens und Selbstrespekts in die sichtbare Dimen-
11 sion des Handelns in einer kontextsensitiven Weise eingebracht werden. Sind die
12 ußeren Umstnde und sozialen Rahmenbedingungen des Handelns derart, dass
13 sie Vertrauen und Selbstrespekt verunmçglichen oder fr andere Zwecke in
14 Dienst nehmen, welche das Selbst korrumpieren, indem sie Misstrauen und
15 Selbstverachtung nhren, dann kann Vergebung – auch wenn sie unter den gege-
16 benen Bedingungen als eine soziale Praxis nahe liegend erscheint oder gar gefor-
17 dert wird – nicht „aus freien Stcken“ (autonom) und authentisch zum Aus-
18 druck gebracht werden.39 Wenn zutrifft, wofr ich oben argumentiert habe, dass
19 Vertrauen und Selbstrespekt die Kernthemen sind, die in Prozessen der Verge-
20 bung ausdrcklich oder unausdrcklich „bearbeitet“ werden, und wenn ber-
21 dies zutrifft, dass die Frage nach Befhigungen auf die reale, von Individuum zu
22 Individuum variierende Kçnnerschaft im Umgang mit Vergebungsanforderun-
23 gen in konkreten Situationen hinfhrt, deren Gestaltung in erheblichem Maße
24 das individuelle Wollen berschreitet, dann muss es Spielraum fr eine ambiva-
25 lente Bewertung von Vergebung in wechselnden sozialen Realitten geben. Es
26 ist zu erwarten, dass diese Bewertung in graduellen Abstufungen verluft, je
27 nachdem, ob der vorliegende Kontext Vertrauen und Selbstrespekt auf Seiten
28 der Vergebenden strkt und fçrdert oder aber erschwert und konterkariert. In
29 letzterem Fall kann sich Vergebungsbereitschaft bzw. Vergebung, so sie zu Las-
30 ten der Chance auf Selbstrespekt geht und das Vertrauen der Vergebenden aus-
31 hçhlt, sogar als Laster erscheinen:40 „to seek restoration at all cost – even at the
32 cost of one’s very human dignity – can hardly be a virtue. And, in intimate relati-
33
39 Der sinnliche Ausdruck kann in Wort und Tat erfolgen. Vgl. die Analyse der sprachlichen
34
35 ußerungen von Vergebungsakten in Glen Pettigrove: The forgiveness we speak: The illocu-
tionary force of forgiving. In: The Southern Journal of Philosophy XLII (2004). 371 – 392.
36 40 Eine kontextgebunden schwankende moralische Beurteilung von Vergebung entspricht

37 nicht der in unserem Kulturkreis vorherrschenden katholischen Morallehre. Sie muss gegen
38 deren prgenden Einfluss erarbeitet werden. Dem steht freilich von religiçser – und keines-
wegs nur katholischer – Seite der Anspruch entgegen, dass sich das Problem der Vergebung
39 von der hçheren Warte einer gçttlichen Liebe fr alles Kreatrliche eben anders darstelle als
40 aus den „Niederungen“ unseres irrenden und getriebenen Menschenlebens.
222 Sonja Rinofner-Kreidl

1 onships, it can hardly be true love and friendship either“41. Eine derart ambiva-
2 lente Bewertung von Vergebung geht mit dem Anspruch einer differenzierten
3 sozialen Wahrnehmung einher.42 Auch wenn moralische Wahrnehmung und so-
4 ziale Wahrnehmung nicht ohne Weiteres begrifflich gleichgesetzt werden kçn-
5 nen, sind sie in unserer Erfahrungsrealitt doch jederzeit nur in enger wechselsei-
6 tiger Verschrnkung zur Kenntnis zu nehmen und auszuben.
7 Gerade das, was mit Bezug auf Selbstvergebung suspekt erscheint und oft als
8 Grund der Zurckweisung dieses Phnomens angefhrt wird – dass Selbstverge-
9 bung keine objektive Beurteilungsinstanz kennt, d. h. keine, die unabhngig von
10 eben jenem Selbst wre, das hier als Subjekt und Objekt des Vergebens auftritt –,
11 erweist sich in gewissem Sinn als „Substanz“ alltglicher Vergebungsakte. Selbst
12 dann, wenn angemessene Reue und Besserungsabsicht vorliegen und die Scha-
13
densfolgen nach Mçglichkeit kompensiert werden, ist damit keine den Akt des
14
Vergebens prinzipiell transzendierende Gewhr dafr gegeben, dass das zuknf-
15
tige Handeln das vorangegangene Vergeben als berechtigt erweisen und bestti-
16
gen wird. Was bedeutet es also, dem Anderen (oder sich selber) in einem Akt der
17
(Selbst)Vergebung einen Vertrauensvorschuss zu geben? Indem ich einen sol-
18
chen Akt vollziehe, bekunde ich, dass ich mich darauf verlasse, dass der, dem ich
19
vergebe, nicht nur Objekt, sondern zugleich auch Subjekt jener Gemeinschaft
20
bzw. jener Verpflichtung auf Gemeinschaft ist, die in jedem mçglichen Akt des
21
Vergebens immer schon vorausgesetzt ist. Dass vergemeinschaftete Subjekte ein-
22
ander durch freiwillige und freie wechselseitige Anerkennung Beurteilungsin-
23
24
stanzen sind, heißt freilich nicht, dass eine im starken Sinn objektive, d. h.
25
schlechthin akteursunabhngige Beurteilungsinstanz zur Verfgung stnde.
26 Gleichwohl bedeutet es, dass wir uns niemals nur auf uns selber verlassen, auch
27 dann nicht, wenn wir um Selbstvergebung ringen und eben darin als soziale Sub-
28 jekte agieren.
29 Was ich im Folgenden unter der – nicht mit selbiger sprachlicher Prgnanz ins
30 Deutsche bertragbaren – Bezeichnung „moral bootstrapping“ erlutern werde,
31 betrifft einerseits die unhintergehbare Verschrnkung von Individuum und So-
32 ziett in allen Fragen des praktischen Lebens (wozu am Ende auch die Gestal-
33 tung der normativen Kritik unseres Denkens gehçrt). Es betrifft andererseits
34
41 Jeffrie G. Murphy: Forgiveness and resentment. In: Ders., Jean Hampton: Forgiveness
35
and mercy. Cambridge 1988. 14 – 34. H 17.
36 42 Vgl. die folgende Einschtzung, die sich freilich nicht auf die obige Unterscheidung einer

37 Tiefen- und Oberflchendimension von Akten des Vergebens sttzt: „It is plausible to believe
38 that forgiveness is a virtue, but attitudes towards forgiveness may change when we examine
how teachings on forgiveness play themselves out vis--vis power relations. When the parties
39 most often called on to forgive are the oppressed, what looks like a virtue may turn out to be
40 more of a vice.“ (Potter: Is refusing. 135.)
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 223

1 den zuletzt unaufhebbar „subjektiven“ Grund jeder Form von menschlicher Pra-
2 xis – auch wenn die fragliche Subjektivitt gerade nicht eine nur-subjektive ist:
3 eine, die nur einem Individuum zugehçrig wre. Der subjektive Grund jeder
4 Form von Praxis ist in seinem Ursprung nicht rational – im Sinne eines explizier-
5 baren und rechtfertigbaren kognitiven Zustandes.43 Er kann ebenso als Praxis
6 „am Grunde“ jeder Form von Subjektsein (oder: Subjektivitt) beschrieben wer-
7 den.44 Fr den vorliegenden Zusammenhang heißt das: Was letztendlich (Selbst-)
8 Vergebung ermçglicht – was uns dazu befhigt, anderen und uns selber zu verge-
9 ben –, ist als ein moral bootstrapping zu verstehen, wenn nmlich zutrifft, dass
10 der Kern des hier zur Disposition stehenden Phnomens Vertrauen ist. Vertrau-
11 en kann nur nach dem operativen Muster eines bootstrapping gewhrt werden.45
12 Es kann anders nicht gelebt werden: nur so oder gar nicht. Was individuelle
13 Selbstvervollkommnung und ein Gemeinschaftsleben ermçglicht, ist zuletzt –
14 ber alle rationalen Grnde und Absicherungen hinaus – unsere Fhigkeit und
15 unser Wille, uns gemeinsam auf ein bootstrapping einzulassen. Sich darauf einlas-
16 sen, heißt, sich „ohne Weiteres“ darauf zu verlassen. Mit Bezug auf den nicht-
17 rationalen Grund eines moralischen bootstrapping luft die Frage nach Rechtfer-
18 tigung ins Leere. Denn der Vorgang, um den es sich hier handelt, kann nicht
19 vorweg als gerechtfertigt oder nicht gerechtfertigt ausgewiesen werden. Viel-
20 mehr ist er so verfasst, dass er sich erst im Vollzug der fraglichen Praxis als ge-
21 rechtfertigt erweisen wird bzw. die Bedingungen seiner Rechtfertigbarkeit ber-
22 haupt erst durch diesen Vollzug selber hervorgebracht werden.46 Dass Analoges
23
24
43 Was nicht rational ist, ist nicht eo ipso irrational – letzteres vielmehr nur dann, wenn das
25
nicht rationale Verhalten einem in der betreffenden Situation ebenso verfgbaren rationalen
26 Grund vorgezogen wrde.
27 44 Zu den mçglichen Konzeptualisierungen des hier Gemeinten gehçrt (jedenfalls nach mei-

28 ner Lesart), was Kevin Mulligan „compter sur nos certitudes primitives“ nennt (Kevin Mulli-
gan: Wittgenstein et la philosophie austro-allemande. Paris 2012. 181 – 222). Vgl. Danile
29
Moyal-Sharrock: Unravelling certainty. In: Dies., William H. Brenner (Hg.): Readings of Witt-
30 genstein’s On Certainty. Houndmills 2007. 76 – 99.
45 Vgl. „Man kann es [Vertrauen, SR] sich erst verdienen, wenn man schon davon zehrt.“
31
(Martin Seel: 111 Tugenden, 111 Laster. Eine philosophische Revue. Frankfurt a.M. 2011. 189.)
32 46 Im vorliegenden Zusammenhang kann ich nicht auf die Frage eingehen, ob bootstrapping
33 in praktischen und theoretischen Kontexten verschieden zu beurteilen ist bzw. worin sich boot-
34 strapping als praktischer Grund (Ermçglichung, Befhigung) und bootstrapping als epistemi-
35 sche Zirkularitt unterscheiden. Nur soviel sei hier angedeutet: Das Besondere eines prak-
tisch-moralischen bootstrapping liegt darin, dass sich die Frage nach „Begrndung“ hier nicht
36 auf kognitive Gehalte beschrnkt, sondern das Verhltnis zwischen dem Handelnden und ei-
37 nem erst noch zu realisierenden Zustand einschließt. Soll es mçglich sein, den fraglichen Zielzu-
38 stand zu erreichen, muss ich ihn bereits im ersten Schritt seiner Verwirklichung antizipieren.
Und dies ist nicht so zu verstehen, als wrde ich, um einen Begrndungsprozess in Gang zu
39 setzen, an dessen Anfang so tun, als ob dieser gerechtfertigt wre, um ihn erst nachtrglich
40 „objektiv“ (sc. ohne Rekurs auf den Handlungsvollzug des Akteurs) zu begrnden. Vielmehr
224 Sonja Rinofner-Kreidl

1 mit Bezug auf Vergebung zu konstatieren ist, ist ein starkes Argument zu Guns-
2 ten der Anerkennung von Selbstvergebung wie auch zu Gunsten der These einer
3 intentionalen Verflechtung von Akten der Vergebung und Selbstvergebung.
4 In beispielhafter Weise hat Max Scheler das hier Gemeinte in seiner Analyse
5 der Reue zum Ausdruck gebracht – ohne freilich die Bezeichnung „bootstrap-
6 ping“ zu verwenden und ohne das Problem in der obigen Weise einzufhren.
7 Was ist der Kern des Problems gemß Schelers Darstellung? Erst indem ich
8 Reue zeige, gelange ich in jene Distanz zu meiner vormaligen Tat, die es mir
9 ermçglicht, aufrichtig zu bereuen. Reue ist ein berwltigtwerden von der Ein-
10 sicht in die Schlechtigkeit des eigenen Tuns, ohne dass dem aber eine von diesem
11 Gefhl unabhngige kognitive Beurteilung vorangegangen wre. „Dies […] ist
12 das Eigentmliche des Reueaktes, daß im selben Akte, der schmerzvoll verwirft,
13 auch die Schlechtigkeit unseres Ich und unserer Tat uns erst voll zur Einsicht
14 kommt; und daß im selben Akte, der nur von dem ,freieren‘ Standort des neuen
15 Lebensniveaus aus rational verstndlich scheint, dieser freiere Standort selbst er-
16 klommen wird. So ist der Reueaktus in gewissem Sinne frher als sein Ausgangs-
17 punkt und als sein Zielpunkt, frher als sein Terminus a quo und sein Terminus
18 ad quem. Erst im Reueakt geht uns darum die volle evidente Erkenntnis jenes
19 Gekonnthabens eines Besseren auf. Aber diese Erkenntnis schafft nichts; sie ist
20 Erkenntnis, Durchdringung der damaligen Benebelung durch die Triebe. Sie
21 schafft nicht, sie zeigt nur an.“47
22 Mit Blick auf die im vorliegenden Kontext erçrterte Frage der Selbstverge-
23 bung und die oben skizzierte relationale Konzeption des Selbst sollte uns insbe-
24 sondere die Frage interessieren, inwiefern die Realitt der fraglichen Phnome-
25 ne, zumindest in einem gewissen Spektrum von Fllen, davon abhngt, moral
26 bootstrapping als eine interpersonale Praxis anzuerkennen.
27
28
29
30
31
32
33 ist die oben beschriebene „Selbstermchtigung“ die einzige Art und Weise, wie wir praktisch
34 anfangen kçnnen, und durch eine objektive Begrndung nicht einzuholen.
47 Scheler: Reue und Wiedergeburt. 41. Vgl. „Derart scheint nun die Reue nicht mehr jene
35
Niveauerhçhung des sittlichen Seins schon vorauszusetzen, die sie doch erst herbeifhren soll.
36 Es ist also ein und derselbe dynamische Aktus, durch den sowohl das Aufklimmen des Ich auf
37 die ihm mçgliche Hçhe seines idealen Wesens erfolgt, wie das steigende Untersichsehen, die
38 Verwerfung und Ausstoßung des alten Ich. Wie wir im selben Aktus des Steigens auf einen
Berg die Spitze sich uns nhern und das Tal unter unseren Fßen versinken sehen und beide
39 Bilder durch diesen Aktus bedingt erleben, so klimmt die Person in der Reue zugleich empor
40 und sieht die ltere Ich-Konstitution unter sich.“ (Ebd. 42.)
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 225

1 3. Moral Bootstrapping als Gemeinschaftsleistung? Zur Sozialitt und


2 intentionalen Verflechtung von Vergebung und Selbstvergebung.
3
4 Wenn wir uns fr den Nachweis der Wirklichkeit kollektiver Formen von moral
5 bootstrapping interessieren, kçnnen wir im ersten Schritt von der sozialphiloso-
6 phischen Frage nach den Grenzen der rationalen Begrndbarkeit von Sozialitt
7 oder Intersubjektivitt ausgehen. Im Zuge dessen zeichnet sich ein Befund ab,
8 der fr unsere nachfolgenden berlegungen von zentraler Bedeutung ist: Wie
9 ntzlich immer z. B. vertragstheoretische Modelle sein mçgen, um bestimmte
10 Aspekte sozialer Lebensformen und bestimmte (z. B. Gerechtigkeits-)Probleme
11 im Sinne einer wissenschaftlichen Bearbeitung in den Griff zu bekommen,48 so
12 ist doch nicht anzunehmen, dass der letzte Grund, auf dem unser Bekenntnis zu
13 einer sozial-kooperativen Lebensform ruht, von rationaler Natur ist. In diese
14 Richtung weist etwa Annette Baiers These, dass zwischenmenschliche Koopera-
15 tion letztlich auf einem durch keinerlei rationale Begrndungen einholbaren
16 oder kompensierbaren Vertrauensvorschuss beruhe, der durch den Handlungs-
17 vollzug fortlaufend im Sinne einer self-fulfilling prophecy besttigt und ausge-
18 weitet werde. Als paradigmatisch fr das Gemeinte erweist sich der Hand-
19 schlag:49 „The handshake is offered between more or less equals ignorant of the
20 details of each others’ motivation; the bow or the curtsy (which also momenta-
21 rily disempowers the potentially aggressive torso, or the striking knee) between
22 unequals who are equally ignorant on this score. The handshake (and to a lesser
23 degree these other deferential self-disempowering gestures) is a mini-case, but a
24 significant one, of our exercise of an ability to change conditions in ways that
25 make limited trust a bit less limited, and to do so without great insight into moti-
26 ves. It is also a case of the use of trust to let trust grow, the use of a natural social
27 practice to build up more contrived social practices.“50
28 Werfen wir zum Vergleich einen Blick auf theoretische Zusammenhnge. Aus
29 der Debatte ber den erkenntnistheoretischen Fundamentalismus ist das Pro-
30 blem gelufig, dass der Anspruch auf Begrndung entweder in einen unendli-
31 chen Regress, in einen vitiçsen Zirkel oder in einen willkrlichen (dogmati-
32 schen) Begrndungsabbruch fhrt. In dieser Optionalitt stehend und
33
34 48 Vgl. John Rawls: A theory of justice. Oxford 1971.
35
49 Baiers Argumentation schließt, wie aus dem folgenden Zitat ersichtlich, eine Erçrterung
des Umstandes ein, dass – trotz einer in weitem Umfang gegebenen „inscrutability of motives“
36 (vgl. Baier: Trust. 154 ff.) – starke epistemische Anforderungen an die wechselseitige Antizipa-
37 tion von Handlungsmotiven zu stellen wren, wenn Gemeinschaftsbildung letztlich auf einem
38 rationalen Kalkl beruhte. Im gegenwrtigen Zusammenhang kçnnen wir diesen Aspekt bei-
seite lassen, wiewohl er natrlich im Hinblick auf verschiedene Formen des Missbrauchs von
39 Vergebung relevant ist.
40 50 Baier: Trust. 170.
226 Sonja Rinofner-Kreidl

1 angesichts der drohenden Feststellung einer letztendlichen Unbegrndetheit al-


2 ler unserer Erkenntnisansprche, erscheint es einzig attraktiv, dem mit „Begrn-
3 dungsabbruch“ betitelten Ausweg eine alternative Deutung im Sinne des Rekur-
4 ses auf eine gemeinsame Praxis zu geben. Auf eben diese Option kann,
5 insbesondere mit Blick auf die von Baier angesprochenen praktischen Hand-
6 lungskontexte, der Ausdruck „bootstrapping“ bezogen werden. Auch wenn die
7 Organisation sozialer Kooperation in bestimmten Teilbereichen des Lebens und
8 auf einer bestimmten Abstraktionsstufe mit Hilfe eines expliziten Regelwerks
9 erfolgen kann, erreichen wir doch unvermeidlich den Punkt, an dem die wechsel-
10 seitige Einhaltung von Regeln nicht wiederum durch eine Regel kontrolliert und
11 abgesichert werden kann, sondern allein vom Vertrauen getragen ist, dass sich
12 alle Beteiligten entsprechend verhalten werden. Sofern noch der Versuch unter-
13 nommen wird, Regeln dafr zu etablieren, dass bzw. unter welchen Bedingun-
14 gen wir einander vertrauen kçnnen, kann von „Vertrauen“ eigentlich nicht ge-
15 sprochen werden. Einander zu vertrauen bzw. einander letztlich nur vertrauen
16 zu kçnnen, erfolgt auf Risiko. „Vertrauen“ heißt, sich der jederzeit mçglichen
17 Verletzung durch andere auszusetzen in der Zuversicht, dass der Andere auf eine
18 Ausbung seiner diesbezglichen Macht verzichten wird – und zwar nicht bloß
19 aus Angst vor entsprechenden Revancheakten. In diesem Fall wre das vorliegen-
20 de Verhalten eben durch die Unterstellung eines rationalen Eigeninteresses auf
21 Seiten aller Beteiligten begrndet.
22 Analog zu Baiers Rekurs auf „the use of trust to let trust grow“ lsst sich fr
23 den vorliegenden Problemzusammenhang die kollektive Realitt von moral
24 bootstrapping als „use of forgiveness to let forgiveness grow“ fassen. Worauf
25 bezieht sich in diesem Fall das Eingestndnis von Grenzen der Begrndbarkeit?
26 Es bezieht sich darauf, dass in einem weiten Feld von Alltagsphnomenen des
27
Vergebens die (Nicht-)Gewhrung von Vergebung nicht mit Hilfe der Frage
28
nach der faktischen Erfllung notwendiger Bedingungen geregelt ist und so
29
auch nicht geregelt und verstndlich gemacht werden kann. Insofern ist die The-
30
se, dass es bei realen Vergebungsakten und -prozessen, zumindest bei einem ge-
31
wissen Anteil von Fllen, primr um die Wiedererlangung von Vertrauen und
32
Selbstrespekt im Sinne eines kollektiven moral bootstrapping gehe, auch als Ant-
33
wort auf die gelegentlich vorgebrachte Kritik zu verstehen, dass es problema-
34
tisch sei, mit Bezug auf den Umgang mit reaktiven Gefhlen und Einstellungen
35
der Tendenz eines „overintellectualizing“ und „overmoralizing“ nachzugeben.51
36
Dieser These zuzustimmen, verpflichtet nicht darauf, moral bootstrapping in al-
37
len Fllen von vergebungsbedrftigen Schdigungen fr die angemessene Reakti-
38
39 51 Kritisch gegenber dieser Tendenz ußert sich z. B. Strawson: Freedom and resent-

40 ment. 24 f.
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 227

1 on zu halten. Einzusehen, dass es an einem bestimmten Punkt alternativlos ist,


2 sich zum Vertrauen zu „ermutigen“, ist nicht gleichbedeutend damit, menschli-
3 ches Zusammenleben nach allen Aspekten und Erscheinungsformen und auf al-
4 len relevanten Ebenen naiv vertrauensselig fhren zu wollen.
5 In diesem Zusammenhang ist es ntzlich, eine Unterscheidung aufzugreifen,
6 die sich in der rezenten Literatur findet: „forgiveness with a lowercase ,f‘“ und
7 „forgiveness with capital ,F‘“. In letzterem Fall handelt es sich um ein Gesche-
8 hen, das in seiner Bedeutung und Tragweite den Rahmen des Alltglichen
9 sprengt. „To what extent is forgiveness an extraordinary event, a less-than-com-
10 monplace process that involves a fundamental metamorphosis in living? Theo-
11 rists have generally defined forgiveness as a profound life change. To put it ano-
12 ther way, they describe a forgiveness with a capital ,F‘. According to Pargament
13 (1997), for example, forgiveness is a process of recreation, a transformational
14 method of coping, often religious in nature, that involves a basic shift in destina-
15 tions and pathways in living.“52
16 Im Unterschied zu einem solchen tiefgreifenden berzeugungswechsel („vio-
17 lations of basic beliefs, fundamental changes in assumptive worlds, large-scale
18 changes in understandings and actions, motivational transformations“53), dem
19 entsprechende Erschtterungen vorangehen, ist „forgiveness with a lowercase
20 ,f‘“ Untersuchungsgegenstand in entwicklungs- und sozialpsychologischen Stu-
21 dien, die sich mit Akteuren befassen, „who transgress, apologize, confess, re-
22 pent, and forgive in the course of daily experience”.54 Es ist anzunehmen, dass
23 bootstrapping in den vergleichsweise unspektakulren Alltagsfllen von Verge-
24 bung („forgiveness with a lowercase ,f‘“) wirksam und angemessen ist. Dies soll-
25 te jedenfalls dann gelten, wenn die vorliegende Unterscheidung nicht nur die
26 Bedeutung und Reichweite eines erwnschten Vergebungsaktes fr den, dem
27 vergeben wird, adressiert, sondern auch die Schwere der Verfehlung sowie Art
28 und Nachhaltigkeit der Folgen auf Seiten der schdigenden Handlung berck-
29 sichtigt. Kollektives bootstrapping, so meine These, ist imstande, einzelne, auch
30 wiederkehrende Zuwiderhandlungen bzw. Verweigerungen dieser gemeinsa-
31 men Praxis zu kompensieren, sofern die vergebungsbedrftigen Handlungen
32 nicht derart unverhltnismßig bçsartig („monstrçs“) sind, dass sie die Betroffe-
33 nen in ihrem Selbst- und Weltverhltnis grundlegend schdigen – so dass diese
34 mit Bezug auf ihr eigenes Handeln nicht nur Zuversicht und Spontaneitt, son-
35 dern auch jegliche Souvernitt einbßen. Einen anderen so tiefgehend zu verlet-
36
52 Kenneth I. Pargamont, Michael E. McCullough, Carl E. Thoresen: The frontier of for-
37
38 giveness. Seven directions for psychological study and practice. In: Dies. (Hg.): Forgive-
ness. 299 – 319. 303.
39 53 Ebd.

40 54 Ebd. 304.
228 Sonja Rinofner-Kreidl

1 zen, dass ihm sein selbstverstndliches In-der-Welt-sein genommen wird, ist


2 eine Infragestellung seines Subjekt-seins und eine existenzielle Bedrohung. Boot-
3 strapping mit Bezug auf eine gemeinsame Praxis der Vergebung scheitert, wenn
4 das Opfer in diesem Sinn akut seiner Handlungsfhigkeit beraubt ist – wie eben-
5 so, wenn der beltter auf Grund der Ungeheuerlichkeit seiner Handlung nicht
6 mehr als Mitglied der moralischen Gemeinschaft anerkannt wird. Zu den diesbe-
7 zglich zu gewrtigenden Folgen gehçrte allerdings auch, dass in solchen Fllen
8 nicht nur eine stillschweigende Wiederaufnahme qua Vertrauensvorschuss schei-
9 tert, sondern ebenso ein rationaler Umgang mit Bestrafung: Was kçnnte eine
10 gerechte, Verhltnismßigkeit von Tat und Strafe wahrende Bestrafung fr Hit-
11 ler gewesen sein, wenn er berlebt htte? Wre es nicht konsequent, den belt-
12 ter in solchen Fllen berhaupt nicht mehr als „strafwrdige“ moralische Per-
13
son anzuerkennen? Ist das aber nicht eine gefhrliche Gratwanderung, die leicht
14
dazu fhren kçnnte, monstrçse Gewalttaten smtlich als pathologisch zu klassi-
15
fizieren – und die Tter damit jeglicher Verantwortung zu entheben? Ist das
16
aber nicht in der Tat eine Grauzone, in der wir bestndig leben?
17
Mit Bezug auf Extremflle moralisch monstrçsen Handelns gibt es keinen ge-
18
meinsamen Boden fr die praktische Bewltigung reaktiver Gefhle und Einstel-
19
lungen im Sinne eines moral bootstrapping.55 Es wre hçchst problematisch, Ver-
20
gebung mit Blick auf derartige Flle einzufhren bzw. zu konzeptualisieren.56
21
Zwar vermutlich nicht die berwiegende Mehrheit, wohl aber ein erheblicher
22
Anteil vergebungsbedrftiger Handlungen drfte einem kollektiven bootstrap-
23
24
ping zugnglich sein, ohne dass dies (auf Grund des eben dadurch verstrkten
25
Leidens der Opfer) als prinzipiell problematisch angesehen werden msste und
26 ohne dass es dafr eine lebbare Alternative gbe – eben weil die fraglichen Flle
27 sich als „regelresistent“ erweisen: Ob, wann und wie einem anderen (und einem
28 selbst) vergeben und der beltter rehabilitiert werden soll, kann in vielen Fl-
29 len nicht als Resultat einer Regelanwendung ermittelt werden. So ist etwa mit
30 Bezug auf die Forderung nach Reue nicht zu erwarten, dass eine endliche An-
31 zahl von Regeln formuliert werden kçnnte, welche festlegte, zu welchem (sptes-
32 ten) Zeitpunkt, in welchen ußerungsformen, mit welcher Explizitheit und
33 Nachdrcklichkeit, in welchem gegebenenfalls einzuhaltenden Intervall der Wie-
34
55 Eine sich hieran anschließende Frage ist: Kann selbst mit Bezug auf Extremflle eines
35
„unmenschlich“ grausamen, moralisch monstrçsen Handelns fr die Rechtfertigung von Verge-
36 bung argumentiert werden? Welchen Standpunkt msste man einnehmen, um dies fr mçglich
37 zu halten?
56 Vgl. die eingangs angestellten berlegungen zu den hier involvierten methodologischen
38
Problemen. Zu diesen gehçrt auch, welche Flle von Vergebung als paradigmatisch ausgewie-
39 sen werden, auf welche Typen von Fllen die (relativ theorieabhngige) Beschreibung einge-
40 schrnkt oder hauptschlich fokussiert wird.
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 229

1 derholung des Reuebekenntnisses etc. Reue vorliegen msste, um in konkreten


2 Fllen Vergebung zu legitimieren. In einer erheblichen Breite alltglicher Flle
3 von Vergebung (in denen es nicht um die willentliche und wissentliche Auslç-
4 schung von Millionen Menschenleben, um Folter, Vergewaltigung, Terrorakte
5 u. dgl. geht) bewegen wir uns in einer Grauzone, in der wir hufig am Ende –
6 nach allem Erwgen von Bedingungen und allem Aufrechnen von Schuld und
7 Shne – auf ein kollektives moral bootstrapping angewiesen sind, um „miteinan-
8 der weitermachen zu kçnnen“: nicht als animalische Gegner, die sich nur mit
9 physischer Gewalt, aber auch nicht als rationale Egoisten, die sich nur ber Ei-
10 gennutzstrategien und Vertrge zur Sicherung des wechselseitigen Eigeninteres-
11 ses in Schach halten kçnnen; nicht bloß im Sinne eines Risikokalkls, sondern
12 als Ausdruck wechselseitigen Respekts vor der Fehlbarkeit der menschlichen
13 Natur.
14 Teil des vorliegenden Problems ist freilich zu sehen, ab wann das „Grau“ in
15 „Schwarz“ bergeht: was alltgliche Flle vergebungsbedrftiger Handlungen
16 von Fllen extremer Grausamkeit, Demtigung und Lebenszerstçrung unter-
17 scheidet. Da die diesbezgliche Unterscheidungsgenauigkeit und Toleranz offen-
18 kundig kulturrelativ ist, ist zu erwarten, dass allen Versuchen einer universalen
19 vernnftigen Bestimmung der Grenze zwischen verschiedenen Typen von Fl-
20 len praktisch starker Widerstand entgegengebracht werden wird. Dennoch ist
21 die Vorstellung, dass die diesbezgliche Auffassung lediglich der jeweils – ver-
22 mutlich in hohem Maße aus Grnden ungleicher Machtverteilung – vorherr-
23 schenden kulturellen Praxis berlassen bleiben soll, schwer ertrglich.57 Auch
24 wenn es auf Grund der Verankerung in divergierenden weltanschaulichen Hin-
25 tergrnden als schwierig erscheint, ist es doch notwendig, die Begrenztheit par-
26 ochialer Deutungen (gemß dem eigenen Herkommen und Glauben) wie auch
27 der normativen Leitvorstellungen des eigenen Kulturkreises in den Blick zu be-
28
kommen. Wir sind nicht nur gefordert, die Idee der Vergebung in einer interkul-
29
30 57 Zur Vermeidung eines post-kolonialen Eurozentrismus ist zwar die Neigung, in Gefh-

31 len der moralischen berlegenheit zu schwelgen, unbedingt hintanzustellen. Dennoch scheint


ein „clash of cultures“ allein im Hinblick darauf, was als moralisch unzulssige, gravierend
32
schdigende und insofern prinzipiell vergebungsbedrftige Handlung gilt, unvermeidlich.
33 Denken wir z. B. an die Praxis der Genitalverstmmelung oder an strategische Massenverge-
34 waltigungen im Zusammenhang von Brgerkriegskmpfen. Aus Sicht unseres Kulturkreises
35 stellte es sich als blanker Zynismus dar, in solchen Fllen von „Vergebung“ mittels kollektivem
moral bootstrapping zu sprechen. Von den Opfern derartiger Handlungen zu erwarten, sie
36 kçnnten im Sinne einer geteilten Lebenspraxis mit den Ttern „weitermachen“, ohne strkste
37 negative „reactive attitudes“ zu zeigen, bedeutete nichts anderes, als die Leiden der Opfer zu
38 ignorieren und sie eben dadurch noch zu verstrken. Vergewaltigte Frauen z. B. durch sozialen
Konsens der „Obhut“ ihres Vergewaltigers zu unterstellen, indem etwa eine Heirat mit diesen
39 arrangiert wird, ist nichts anderes als eine Fortsetzung der Vergewaltigung mit anderen Mit-
40 teln.
230 Sonja Rinofner-Kreidl

1 turellen Diskussion in ihrer begrifflichen Substanz und normativen Kraft zu fas-


2 sen, sondern darber hinaus, die wertende Einstellung zu derselben, welche
3 auch bereits der Unterscheidung „normaler“ und „extremer“ Flle zugrunde
4 liegt, in diese Debatte hineinzuziehen. Diesbezglich sind, hnlich wie im Fall
5 der theoretischen Diskussion und praktischen Umsetzung universaler Men-
6 schenrechte, Dissens und Konflikt absehbar. (Auf der Meta-Ebene dieser Debat-
7 te ist ein bootstrapping insofern geltend zu machen, als wir mangels Alternativen
8 und prima facie – bis auf Widerruf, bis zum Nachweis des Nichtzutreffens –
9 annehmen, dass Dissens und Konflikt rational aufklrbar sind.)
10 Die obigen berlegungen legen eine wichtige Einschrnkung nahe: Wenn mo-
11 ral bootstrapping einen Beitrag zum Verstndnis von Vergebung und Selbstverge-
12 bung leisten kçnnen soll, dann ist Sorgfalt im Hinblick darauf geboten, welche
13 Flle als Anwendungsflle ausgewiesen werden. Zu den Fragen, die mich im Zu-
14 sammenhang des im Folgenden ausgefhrten Anwendungsfalles beschftigt ha-
15 ben, gehçren solche, die die Reichweite, Erfolgsaussichten und feinkçrnige Be-
16 schreibung eines konkreten moral bootstrapping betreffen, aber ebenso solche,
17
die die nhere Bestimmung der Fhigkeiten und Ressourcen der handelnden Per-
18
sonen betreffen, welche hier im Spiel sind. Inwiefern sind etwa die Schwere des
19
Vergehens und dessen vermutete lngerfristige Wirkungen relevante Faktoren
20
mit Bezug auf die Markierung normativ relevanter Aspekte der Situation? Wel-
21
che Rolle spielt die Art und Weise der emotionalen und sozialen Verbundenheit
22
der Handelnden, deren gemeinsame Lebensform, einschließlich spezifischer Ab-
23
hngigkeitsverhltnisse, als ein unbewusst wirksames Konfliktbewltigungspo-
24
tential in dieser Situation (und vielen anderen)? „Gemeinsame Lebensform“
25
meint dabei nicht nur faktisch vorliegende Gewohnheiten, Sitten und Lebensab-
26
lufe, sondern auch die positive Wertschtzung und den (unbewussten, unartiku-
27
lierten) Willen zu dieser Gemeinschaftlichkeit, welche Schutz, Entwicklungs-
28
mçglichkeiten und Lebensfreude bietet. Vor diesem Hintergrund will ich nun
29
anhand eines absichtlich niederschwellig gewhlten, alltglichen58 Beispiels zei-
30
gen, was es bedeutet, Vergebung und Selbstvergebung als Erfolg (oder „Leis-
31
32
tung“) eines kollektiven moral bootstrapping zu verstehen.
33
Nehmen wir an, ein ansonsten frsorglicher und liebevoller Vater schlgt sein
34
Kind in einem Moment der Rage mit der Hand ins Gesicht. Das Kind ist zutiefst
35 58 Es versteht sich, dass „alltglich“ hier rein deskriptiv, nicht normativ (tendenziell exkulpa-
36 torisch im Sinne der so genannten „normativen Kraft des Faktischen“) und allein aus dem Ver-
37 gleich mit paradigmatischen Extremfllen (z. B. Folter, Terror) zu verstehen ist. Das Anwen-
38 dungsbeispiel eignet sich gut, manche Aspekte von Vergebungsprozessen deutlich
herauszuarbeiten, z. B. die Gefhlsverflechtung und die soziale Interaktion. In anderer Hin-
39 sicht ist es untypisch, etwa mit Bezug darauf, dass exemplarische Flle von (Selbst-)Vergebung
40 lnger andauernde Prozesse der berlegung und der inneren Konflikte voraussetzen.
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 231

1 erschrocken. Es leidet in dieser Situation weniger an seiner (geringfgigen) phy-


2 sischen Verletzung als vielmehr an seiner maßlosen Enttuschung und Verstç-
3 rung darber, dass sich der bewunderte und geliebte Vater zu diesem bergriff
4 hat hinreißen lassen. Das Kind, das – so wollen wir annehmen – in einem frhpu-
5 bertren Alter ist, in dem es bereits ein deutliches Gefhl fr seine kçrperliche
6 und seelische Integritt ausgebildet hat, ist nicht nur verngstigt und verunsi-
7 chert. Es reagiert auch spontan zornig und trotzig, weil es sich ungerecht behan-
8 delt fhlt. Der Vater, der selber erschrocken ber seine Unbeherrschtheit und
9 deren Folgen ist, versucht, das Geschehen zu bagatellisieren. Er versucht das
10 umso nachdrcklicher und aggressiver, je strker das Kind und die Mutter, die
11 beim Aufschrei des Kindes herbeigeeilt ist, ihren Widerstand gegen ein solches
12 Herunterspielen des Vorfalls zum Ausdruck bringen. Die Mutter agiert im Bann
13 eines bermchtigen Schutzinstinktes. Sie sprt, in welchem aufgelçsten Zu-
14 stand sich das Kind befindet, und empfindet dessen seelische Verletzung stark.
15 Sie ist aufgebracht und entschlossen, das Geschehen nicht auf sich beruhen zu
16 lassen. Sie fordert den Vater auf, sich beim Kind zu entschuldigen, um diesem
17 gegenber deutlich zu machen, dass er selber sein Verhalten nicht gutheiße, es
18 vielmehr durch seine Bitte, das Kind mçge ihm diesen Ausbruch verzeihen, aus
19 der Welt schaffen und das gegenseitige Verhltnis „bereinigen“ wolle. Der Vater
20 reagiert ablehnend, ja aufbrausend und herrisch. Er fhlt sich bei einem gravie-
21 renden Fehlverhalten ertappt, gemaßregelt und darin nicht nur in seiner Ehre
22 und Autoritt gekrnkt, sondern vor allem auch in seiner Vaterliebe missachtet:
23 als wrde ihm dieses Gefhl, das er als Teil seines Lebens und seiner Person ver-
24 steht, mit einem Mal aberkannt. Instinktiv reagiert er mit Angriff, um seine
25 Scham zu maskieren. Die Mutter gehe die Sache gar nichts an, sie habe sich nicht
26 einzumischen und den Mund zu halten. Das sei allein eine Angelegenheit zwi-
27 schen Vater und Kind. Diese harsche Reaktion steigert die Empçrung und das
28 emotionale Engagement der Mutter betrchtlich. Blitzartig weitet sich fr sie die
29 Tragweite des Geschehens ins Unabsehbare aus – als tte sich jh ein Abgrund
30 auf, in den Vater, Mutter und Kind abzustrzen drohten. Fragen tauchen auf,
31 unaufgefordert, aber bedrngend: Ist nicht das gemeinsame Leben in seinen
32 Grundfesten erschttert, wenn die ungerechtfertigte Verletzung des Kindes
33 sichtlich bloß aus Eitelkeit und verletztem Stolz als rechtmßige Machtaus-
34 bung ausgegeben wird? Tritt hier nicht eine Unfhigkeit zutage, die eigenen
35 Bedrfnisse und Gefhle um der Gerechtigkeit und um der Liebe zum eigenen
36 Kind willen hintanzustellen? Mit diesen Fragen, die unausgesprochen bleiben,
37 aber wie eine drckende Stimmung im Raum liegen, wandelt sich die Haltung
38 der Mutter vom ersten Erschrecken und Erstarren in eine offen kmpferische
39 Gesinnung, die nun von tiefem Groll erfllt ist. Sie ist selber berrascht von der
40 Heftigkeit der aus ihr hervorbrechenden negativen Gefhle gegenber ihrem
232 Sonja Rinofner-Kreidl

1 Mann. Gleichzeitig formt sich in ihr – eher im Sinne einer kçrperlichen Bereit-
2 schaft und Konzentration als in Gestalt eines fertigen Gedankens – die Gewiss-
3 heit, dass sie, wenn diese Situation kein gutes Ende nimmt, ein fortan getrennt
4 zu fhrendes Leben in Kauf nehmen wird. Im selben Atemzug berfallen sie die
5 Trauer und der Schmerz, die daraus entstnden, und die sie auch stellvertretend
6 fr ihr Kind, pro futuro und quasi imaginr, empfindet. Die Mutter weist die
7 Forderung, sich als Nichtbetroffene zurckzuziehen, vehement zurck und
8 macht klar, dass sie ihr Kind in dieser Situation um jeden Preis untersttzen und
9 verteidigen werde; dass sie sehr wohl betroffen sei, sofern das Kind betroffen
10 sei. Dennoch fhlt sie sich innerlich hin und her gerissen. Sie weiß, was fr ihr
11 Kind auf dem Spiel steht: ob es fortan seinem Vater so wie bisher vorbehaltlos
12 wird vertrauen kçnnen. Dasselbe gilt fr ihr eigenes emotionales Verhltnis zu
13 ihrem Mann, das nun „bis zum Zerreißen gespannt“ ist. Die Mutter ist entschlos-
14 sen, eine wirksame Schutzmacht darzustellen. Zugleich sprt sie deutlich die Ge-
15 fahr einer Gefhlsbersteigerung und bermoralisierung, welche sowohl Schau-
16 platz einer selbstgerecht demonstrierten moralischen berlegenheit sein kçnnte
17 („mir kçnnte eine solche Entgleisung niemals, unter keinen denkbaren Umstn-
18 den, passieren“) als auch ein effektives Hindernis, das der Versçhnung von Vater
19 und Kind im Wege steht. Eben diese Versçhnung – daran zweifelt die Mutter
20 nicht – wre fr die weitere Entwicklung und fr die Lebensressourcen des Kin-
21 des positiv und unbedingt wnschenswert wie ebenso fr den Vater, der einen
22 Verlust seines Kindes nicht verdient htte. Trotz ihrer Aufgebrachtheit und ihres
23 reaktiven Zorns empfindet sie Anflge von Mitleid mit ihrem Mann.
24 Die Situation droht zu eskalieren. Das Kind steht schluchzend zwischen den
25 Eltern. Es nimmt deren starke Emotionen und Kampfesdrohungen mit wachsen-
26 der Angst wahr. Es ist zerrissen zwischen dem Wunsch, es mçge doch alles wie-
27 der gut sein, und dem Aufbegehren gegenber dem Vater, von dem es sich zum
28 ersten Mal zurckgestoßen und verlassen fhlt. Das Kind fhlt sich bergangen
29 und als zuflliges Opfer des misslaunigen Vaters, der sich offenbar in seiner Zei-
30 tungslektre durch die wiederholten und beharrlichen Nachfragen des Kindes,
31 wann er denn nun, wie versprochen, mit ihm Fußballspielen gehen wolle, ge-
32 stçrt gefhlt hatte – bis er dann die Nerven verlor. Die Demtigung des Geschla-
33 genwerdens ist fr das Kind so nur der geballte, „harte“ Ausdruck einer schon
34 lnger von ihm bemerkten Geistesabwesenheit und Unaufmerksamkeit des Va-
35 ters ihm gegenber. Es fhlt sich vernachlssigt und zurckgesetzt. Kaum je-
36 mals hat der Vater Zeit, ihm zuzuhçren, wenn es ihm von seinen letzten Erfol-
37 gen in seinem Lieblings-Computerspiel erzhlen will. Der Schlag ins Gesicht,
38 der das Kind in seine Schranken weisen und „zur Rson bringen“ sollte, ist eine
39 Zurckweisung, deren Echo ber die momentane Situation hinaus in das Leben
40 des Kindes hineinwirkt. Es ist verzweifelt, weil der Vater doch der ist, mit dem
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 233

1 es sich messen, ihn bertrumpfen und beeindrucken will. Das Kind sucht im
2 Vater einen Maßstab fr seine Geschicklichkeit und Kçrperkraft. Noch nie hat
3 sich diese Kraft gegen es selber gewandt. Nun steht das Kind wie vor einer Tr
4 in eine fremde Welt, voller Angst und Schrecken, und in der Sorge, dass sich
5 diese nicht mehr schließen lassen werde.
6 Am Hçhepunkt der sich steigernden Krfte und Anspannungen kippt die
7 Stimmung. Der erste Impuls dazu kommt vom Vater, der irritiert ist von dem
8 verzweifelten Weinen des Kindes und von der offenkundig unverstellten Ge-
9 fhlsaufwallung der Mutter, die ihre Arme um das Kind gelegt hat und es zu
10 trçsten versucht. Die Betroffenheit von dem, was er getan und in Gang gesetzt
11 hat, lçst nun beim Vater ein starkes Reuegefhl aus, das wie eine heiße Welle
12 ber ihn hinweg geht. Dass er seinem Kind Angst eingejagt und es, als es sich
13 gegen den bergriff zur Wehr setzen wollte, grimmig zurechtgewiesen und ein-
14 geschchtert hat, erfllt ihn mit tiefer Scham, die er im ersten Schreck hinter
15 einem betont selbstbewussten und barschen Verhalten zu verbergen gesucht hat-
16 te. Insgeheim sprt der Vater aber, dass dieses Verhalten brchig ist und seine
17 Scham „hindurchscheint“. Und er ahnt mit zunehmender Unruhe, dass ihm die
18 Situation aus den Hnden zu gleiten droht, dass die Bedeutung dieses Vorfalls,
19 der ihn selber in seinem Bild von sich als Vater erschttert, fr das Kind und fr
20 die Mutter bedrohlich anwachsen wird, wenn es ihm nicht gelingt, dem Ganzen
21 rasch eine andere Wendung zu geben. Der Vater nhert sich dem Kind, umarmt
22 es und beginnt, sich ihm zu erklren und sich bei ihm zu entschuldigen. Das
23 Kind ist erleichtert, sofort versçhnungsbereit und froh, dass es seinen Vater wie-
24 der in vertrauter Weise bei sich hat. Sehr zur berraschung des Vaters steigert
25 diese offenherzige Bereitschaft zur Wiedergutmachung, die das Kind, unter Tr-
26 nen strahlend, unaufgefordert an den Tag legt, kurzfristig noch seine Reue- und
27 Schamgefhle.59 Die Mutter fhlt, dass sich der Vater den Schritt, um Verzei-
28 hung zu bitten, hart abringen musste. Sie sieht, wie er von widerstrebenden Ge-
29 fhlen (Stolz und Scham, Liebe und Eitelkeit) hin- und hergerissen ist, und dass
30 er ihre Untersttzung braucht, um mit sich und der Situation ins Reine zu kom-
31 men.60 Sie gibt ihm diese Untersttzung, indem sie dem Vater fr seine Hinwen-
32 dung zum Kind Raum lsst und ihm damit signalisiert, dass sie ihm zutraut, die
33
59 Ein mçglicher alternativer Verlauf stellte eine Variante dessen dar, was Schelers obige Ana-
34
35 lyse der Reue in den Raum stellt: dass u. U. berhaupt erst das Auftreten von Reuegefhlen
einem Handelnden die Einsicht in die Tragweite und Bedeutung seines eigenes Tun erçffnet,
36 die Reue mithin das, worauf sie antwortet, in gewissem Sinn selber erst hervorbringt.
60 Anders als dies die oben aufgenommenen berlegungen Baiers nahelegen, ist moral boot-
37
38 strapping fr Situationen wie die hier geschilderte nicht geeignet, als Ersatz fr motivationales
Verstehen zu fungieren. Vielmehr ist das „intuitive“ Erfassen der ambivalenten Motivationsla-
39 ge der anderen ein wesentlicher Faktor auf dem Weg zu einem gelingenden kollektiven boot-
40 strapping.
234 Sonja Rinofner-Kreidl

1 Wogen zu gltten. Sie berlsst die beiden fr einige Momente sich selber und
2 tritt erst wieder hinzu, nachdem sich Vater und Kind ausgesprochen und ihrer
3 Zuneigung versichert haben. Die Mutter bemht sich, Ruhe auszustrahlen, trçs-
4 tet ihren Mann und spricht dem Kind gegenber aus, wie stolz sie sei, dass der
5 Vater um Verzeihung gebeten und das Kind die Entschuldigung angenommen
6 habe.
7 Die obige Szene ist der Grauzone unseres Lebensalltags entnommen, in der
8 die bergnge zwischen Verzeihen und Vergeben ebenso durchlssig werden
9 wie die zwischen Vergebung und Selbstvergebung. Im vorliegenden Fall ist deut-
10 lich, dass moral bootstrapping bedeutet, aus einer gemeinsam – wenn auch aus
11 verschiedenen Perspektiven – erlebten und „erlittenen“ Situation heraus einen
12 deeskalierenden Umgang mit schwierigen und ambivalenten Gefhlen zu fin-
13 den und sich darin, Schritt fr Schritt, im Vollzug des Erlebens und Tuns, mit
14 den anderen zu akkordieren, indem deren Reaktionen in jedem Moment „mit
15 allen Sinnen“ aufgenommen und in eigene „Antworten“ umgesetzt werden. Ge-
16 lingt diese Akkordierung, so hat sie mehr mit Resonanz als mit Replik zu tun,
17 mehr mit dem gemeinsamen Stimmen von Instrumenten als mit besseren Argu-
18 menten. Darin erfolgreich zu sein, schließt den oben erwhnten Vertrauensvor-
19 schuss ein: Trotz des geschilderten Vorfalls wird das weitere Leben, so es ge-
20 meinsam gefhrt wird, nicht unter dem Vorzeichen unausgesetzt erwarteter
21 Vertrauensbrche stehen. Es ist vielmehr so gesichert und offen wie zuvor. Es ist
22 sogar anzunehmen, dass sich das wechselseitige Vertrauen vertieft hat – schließt
23 es nun doch die Erfahrung ein, Vertrauensbrche gemeinsam bewltigen zu kçn-
24 nen. So hat sich das wechselseitige Vertrauen um eine konkrete Zuversicht berei-
25 chert; es ist strker geworden. Das beschriebene kollektive moral bootstrapping
26 ist, wie Annette Baier sagt, „a case of the use of trust to let trust grow“. Auch
27 wenn dies im Falle des Gelingens „leicht“ aussehen mag, ist es nichts, das leicht-
28 hin erfolgte oder durch Beschlsse und Stellungnahmen einzelner Akteure zu
29 bewirken wre. Wenn sich ein solches moral bootstrapping durch gemeinsames
30 Handeln einstellt, dann als ein mittlerer Weg zwischen den Extremen von cheap
31 grace („letting oneself/the other off the moral hook in an easy way“) und Rach-
32 sucht: Beide Extreme sind in Reichweite und ber die Gefhle der Beteiligten
33 als eine Mçglichkeit prsent. In vielen alltglichen Situationen stellt moral boot-
34 strapping hohe Ansprche an unsere Wahrnehmungsfhigkeit, unser Gespr fr
35 Situationen und menschliche Zustnde, an unseren Umgang mit eigenen und
36 fremden affektiven Beanspruchungen, Gefhlen, Dispositionen, Tugenden und
37 Lastern, an unsere Kritikfhigkeit und Lernbereitschaft.
38
39
40
Zwischen „cheap grace“ und Rachsucht 235

1 Auch wenn wir Vergebung zu Recht unter die Bedingung der Wertschtzung
2 und der Autonomie(fçrderung) der Opfer von absichtlich61 schdigenden Hand-
3 lungen stellen, kçnnen wir nicht umhin, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Op-
4 fer nicht nur mit einem „urtmlichen“ Willen zur Gemeinschaftlichkeit – der im
5 vorliegenden Fall ein stark affektiv gegrndeter ist – agieren, sondern auch in
6 Abhngigkeitsverhltnissen zu ihrem sozialen Umfeld (einschließlich u. U. der
7 beltter) stehen. Dies sollte sich in der Beschreibung von Vergebungsakten
8 bzw. -prozessen ebenso niederschlagen wie in der theoretischen Konzeption
9 von Vergebung, weil unsere Theorie der Vergebung andernfalls die tatschlich
10 gelebte Praxis des Vergebens verzerrte und bestenfalls selektiv trfe. Unter den
11 genannten Umstnden ist offenkundig, dass moral bootstrapping als ein zentra-
12
ler und positiver Faktor in Vergebungsprozessen zu bercksichtigen ist, wie sie
13
in alltglichen Zusammenhngen vorkommen. Diese Form einer „unbegrnde-
14
ten“ moralischen Selbstaufwertung ist nicht nur fr den Spezialfall der Selbstver-
15
gebung als eines selbstndigen Aktes grundlegend. Sie liegt ebenso einer Viel-
16
zahl von alltglichen Akten der Fremdvergebung als ein meist unreflektierter
17
Tribut an die Sozialitt des menschlichen Lebens zugrunde. Dennoch sind hier
18
zwei Kautelen zu beachten. Erstens: Die grundlegende Bedeutung von moral
19
bootstrapping festzustellen, ist nicht als ein Votum zu Gunsten einer Denkbe-
20
quemlichkeit zu verstehen. Vielmehr ist der Tendenz entgegenzutreten, diesen
21
elementaren Sachverhalt mit andersgearteten Intentionen und Handlungen zu
22
23
vermengen, etwa mit einer unter dem Deckmantel der „Vergebung“ erfolgenden
24 autoritr bzw. sozial erzwungenen Komplizenschaft des Opfers mit dem Tter.
25 Zweitens wre es falsch, moral bootstrapping pauschal als moralisch unbedenk-
26 lich zu betrachten. Vielmehr sind die Umstnde der schdigenden Handlungen
27 und deren soziale Hintergrnde sehr genau zu beachten. Auf bootstrapping als
28 Bestandteil unserer sozialen und moralischen Wirklichkeit hinzuweisen, heißt
29 nicht, dessen Wirksamkeit und normative Kraft undifferenziert, ohne Rcksicht
30 auf Handlungstypen und -kontexte, zu unterstellen.
31
61 Mit Bezug auf den obigen Anwendungsfall ist die Absichtlichkeit der Handlung freilich
32
erluterungsbedrftig. Denn der Vater wird unter den gegebenen Umstnden darauf bestehen,
33 dass die schdigende Handlung weder geplant noch Ausdruck einer entsprechenden Dispositi-
34 on zu Gewaltausbrchen gewesen sei, sondern eine bloß „okkasionell“ auftretende impulsive
35 Zornreaktion, ein momentaner Kontrollverlust, den er selber retrospektiv nicht gutheißen kçn-
ne. Die Handlung war somit zwar absichtlich im Sinn einer in der betreffenden Situation aktu-
36 ell vorliegenden Intention. Die Handlung ist nicht unbewusst und nicht ohne Zutun des Han-
37 delnden erfolgt, der – wie er sich im Nachhinein eingestehen muss – durchaus ein „Veto“ htte
38 einlegen kçnnen. Sie ist aber nicht im engeren Sinn beabsichtigt gewesen: Im Falle einer (kon-
trafaktisch angenommenen) reflexiven Rckfrage htte der Handelnde die Handlung nicht be-
39 sttigt. Insofern kann mit Recht gesagt werden, dass die Handlung keine feste (belastbare) Ab-
40 sicht bzw. Gesinnung des Akteurs zum Ausdruck bringt.
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1 Inga Rçmer
2
3
4 Worin grndet ethische Verbindlichkeit?
5
Zur Alternative von diskursethischer und phnomenologischer
6
Begrndungsstrategie.
7
8
9
10
11 Die Tradition der Frankfurter Schule, ihrer Nachfolger und Randpersonen ist so
12 etwas wie eine Erzrivalin der Phnomenologie. Im politischen Klima der Nach-
13 kriegszeit konnte lange Zeit hindurch von einer nchternen sachlichen Auseinan-
14 dersetzung kaum die Rede sein. Erst langsam weicht diese Frontstellung nicht
15 nur im Ausland, sondern auch in Deutschland auf. Damit aber werden immer
16 mehr Anknpfungspunkte fr eine fruchtbare Debatte sichtbar. Einer dieser
17 mçglichen Anknpfungspunkte betrifft die Frage nach dem Grund ethischer
18 Verbindlichkeit. In Bezug auf diese Frage stehen sich heute insbesondere die von
19 Apel und Habermas entwickelte Diskursethik und die phnomenologische Alt-
20 erittsethik, so wie sie von Levinas und seinen Nachfolgern ausgearbeitet wur-
21 de, gegenber. Es ist jedoch noch keineswegs ausgemacht, ob und inwiefern die-
22
se beiden Anstze sich ausschließen oder ergnzen kçnnten.
23
Einiges scheint derzeit fr die Mçglichkeit eines komplementren oder gar
24
integrativen Verhltnisses zu sprechen. So formuliert Bernhard Waldenfels, des-
25
sen responsive Ethik wesentlich von Levinas beeinflusst ist, dass sein Ansatz an-
26
dere Spielarten der Ethik, darunter die Diskursethik, nicht ersetzen kçnne, son-
27
dern vielmehr andere Akzente setze, die das Diesseits der Kommunikation
28
betrfen.1 In der Frankfurter Tradition verfolgt Axel Honneth das Anliegen, die
29
Habermas’sche Diskursethik durch eine durch den frhen Hegel inspirierte viel-
30
schichtige Anerkennungstheorie zu ergnzen, und sieht den systematischen Ort
31
phnomenologisch inspirierter Alterittsethiken auf der von ihm behaupteten
32
33
34
1 „Dementsprechend unterscheiden wir zwischen Ziel- oder Werteethik, Gesetzesmoral,
35
Diskursethik und utilitrer Ethik. Prominente Namen, die sich mit diesen Anstzen verbin-
36 den, sind Aristoteles, Immanuel Kant, Jrgen Habermas und John Stuart Mill. Eine responsive
37 Ethik, wie ich sie im Sinne habe, kann die anderen Spielarten nicht ersetzen, aber sie setzt ande-
38 re Akzente und verlagert die Gewichte.“ Die responsive Ethik „reicht […] tiefer als eine kom-
munikative Ethik oder eine Vernunftmoral“. Vgl. Bernhard Waldenfels: Responsive Ethik zwi-
39 schen Antwort und Verantwortung. In: Deutsche Zeitschrift fr Philosophie 58 (2010). 71 – 81.
40 71, 72.

Phnomenologische Forschungen 2013 ·  Felix Meiner Verlag 2013 · ISSN 0342-8117


238 Inga Rçmer

1 untersten Anerkennungsstufe der asymmetrischen Frsorge.2 Rainer Forst ver-


2 steht den Levinas’schen Gedanken eines asymmetrischen Anspruches des Ande-
3 ren als eine erste Stufe, die dann in einer allgemeinen Pflicht zur Rechtfertigung
4 aufgehoben werde.3 Wenngleich Thomas Bedorf in seiner Habilitationsschrift
5 im Rahmen des politischen Denkens im Ausgang von einer Phnomenologie der
6 Alteritt den Begriff der „verkennenden Anerkennung“ kritisch gegen Honneth
7 ins Feld fhrt,4 vertieft die jngere Generation im Rahmen der Frage nach einer
8 Ethik eher die Integrationsversuche, und dies von beiden Seiten her. So hat eine
9 Schlerin von Rainer Forst und Axel Honneth, Eva Buddeberg, eine Doktorar-
10 beit vorgelegt, in der sie das auch von Honneth gesuchte Diesseits der Kommu-
11
nikation in Levinas’ Verantwortungsbegriff finden will.5 Sophie Loidolt wieder-
12
um entwickelt in ihrer Dissertation Anstze zu einer phnomenologischen
13
Theorie des rechtlichen Denkens, wobei sie in einer Auseinandersetzung mit
14
Apel die dessen Ansatz ergnzende These vertritt, dass das argumentierende
15
Ausweisen von Normen durch einen vorgngigen Anspruch begrndet ist.6 Vie-
16
les scheint darauf hinzudeuten, dass eine unberwindbare Kluft zwischen dis-
17
kursethischer und phnomenologischer Auffassung ethischer Verbindlichkeit
18
ebenso wenig besteht wie der von Dan Zahavi zurckgewiesene Abgrund zwi-
19
20
schen einer vermeintlich solipsistischen Phnomenologie und den sprachpragma-
21
tischen Anstzen berhaupt.7
22 Diesen zahlreichen Hinweisen auf eine mçgliche Integration zum Trotz
23 mçchte ich im Folgenden jedoch die These vertreten, dass sich die Strategien der
24 Begrndung ethischer Verbindlichkeit in Diskursethik und phnomenologi-
25
2 Honneth bezieht sich in erster Linie auf Levinas und Derrida. Vgl. Axel Honneth: Das
26 Andere der Gerechtigkeit. Habermas und die Herausforderung der poststrukturalistischen
27 Ethik. In: Ders.: Das Andere der Gerechtigkeit. Aufstze zur praktischen Philosophie. Frank-
28 furt am Main 2000. 133 – 170. 170.
3 „In dem Anspruch, den er [d.i. der Andere, I.R.] an mich stellt und auf den ich zu antwor-
29
ten habe, liegt zunchst eine Asymmetrie, die aber (wiederum im Unterschied zu Lvinas) in
30 dem Bewusstsein der allgemeinen Pflicht zur bzw. des Rechts auf reziproke Rechtfertigung
31 moralisch aufgehoben wird.“ Rainer Forst: Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer kon-
struktivistischen Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main 2007. 95. Den Hinweis auf
32
diese Textstelle verdanke ich Thomas Bedorf. Vgl. dazu Thomas Bedorf: Verkennende Aner-
33 kennung. Frankfurt am Main 2010. 140 f., Anm. 7.
4 Vgl. Thomas Bedorf: Verkennende Anerkennung.
34
5 Vgl. Eva Buddeberg: Verantwortung im Diskurs. Grundlinien einer rekonstruktiv-herme-
35
neutischen Konzeption moralischer Verantwortung im Anschluss an Hans Jonas, Karl-Otto
36 Apel und Emmanuel Lvinas. Berlin 2011.
6 Vgl. Sophie Loidolt: Apel: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft als Faktum
37
38 der Vernunft. In: Dies.: Anspruch und Rechtfertigung. Eine Theorie des rechtlichen Denkens
im Anschluss an die Phnomenologie Edmund Husserls. Dordrecht 2009. 263 – 307.
39 7 Vgl. Dan Zahavi: Husserl und die transzendentale Intersubjektivitt – eine Antwort auf

40 die sprachpragmatische Kritik. Dordrecht 1996.


Worin grndet ethische Verbindlichkeit? 239

1 scher Alterittsethik doch grundlegend voneinander unterscheiden und die bei-


2 den Anstze deshalb nicht ohne Weiteres integriert werden kçnnen. Beim Aus-
3 weis dieses Unterschiedes werde ich mich auf Kant beziehen: Ich mçchte zei-
4 gen, dass die Diskursethik mit einer Argumentationsfigur arbeitet, die Kant im
5 dritten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten verwendet, wh-
6 rend sich die phnomenologische Alterittsethik auf eine wesentlich davon ab-
7 weichende Argumentationsfigur aus der Kritik der praktischen Vernunft sttzt.
8 Ein erster Teil skizziert die Grundstruktur der beiden Argumentationsfiguren
9 bei Kant und erlutert, weshalb sie genuine Alternativen sind. Ein zweiter Teil
10 zeigt, inwiefern Diskursethik und Alterittsethik sie jeweils aufgreifen, und argu-
11 mentiert dafr, dass dem phnomenologischen Rckgriff auf den reifen Kant
12 der zweiten Kritik letztlich doch eine grçßere berzeugungskraft zukommt.
13 Ein Schlusswort fasst das Ergebnis zusammen.
14
15
16
1. Die Deduktion des kategorischen Imperativs und das Faktum der Vernunft
17
18
Das Verstndnis von Kants Argumentationsgang im dritten Abschnitt der
19
Grundlegung bereitet derart große Schwierigkeiten, dass in der Kant-Forschung
20
noch nicht einmal Einigkeit darber besteht, was Kant hier eigentlich zu zeigen
21
beansprucht, geschweige denn wie. Weil hier nicht der Ort ist, auf jene Schwie-
22
rigkeiten einzugehen, werde ich mich damit begngen, direkt zu skizzieren, was
23
mir die berzeugendste Lesart derjenigen Passage zu sein scheint, die im hiesi-
24
gen Kontext bedeutsam ist: Kant deduziert in jenem dritten Abschnitt der
25
Schrift von 1785 aus dem Bewusstsein, einen Willen zu haben, die Freiheit und
26
aus der Freiheit das moralische Gesetz. Was fr unseren Zusammenhang ent-
27
scheidend ist, ist der Umstand, dass Kant hier mit dem Argument eines performa-
28
tiven Widerspruchs arbeitet, auch wenn er diesen Ausdruck selbstredend nicht
29
verwendet. In der zweiten Sektion des dritten Abschnitts behauptet er, „daß wir
30
jedem vernnftigen Wesen, das einen Willen hat, nothwendig auch die Idee der
31
Freiheit leihen mssen, unter der es allein handle.“8 Die Begrndung liefert Kant
32
durch ein Argument, dem er offenbar fr die theoretische und die praktische
33
Vernunft analoge Geltung zuschreibt: So wie die theoretische Vernunft sich in
34
einen performativen Widerspruch verwickle, wenn sie sich als determiniert beur-
35
teile, so verwickle sich auch der Wille als reine praktische Vernunft in einen per-
36
formativen Widerspruch, wenn er sich als determiniert verstnde. Mit anderen
37
Worten, sobald wir aus der Perspektive der Ersten Person Singular beanspru-
38
39 8 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. AA IV. Berlin 1968. 385 – 463.
40 448.
240 Inga Rçmer

1 chen, einen Willen zu haben und diesen in unserem Handeln zu gebrauchen,


2 mssen wir diesem unserem Willen Freiheit zuschreiben, weil wir uns anderen-
3 falls in einen performativen Widerspruch verstricken. Weil aber laut Kant „[e]in
4 jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, […]
5 eben darum in praktischer Rcksicht, wirklich frei [ist], […] gelten fr dasselbe
6 alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind“, ergo das Sit-
7 tengesetz.9 Ich mçchte die Aufmerksamkeit hier nur auf einen einzigen Aspekt
8 lenken: Nach diesem Argumentationsgang hat das Sittengesetz deshalb fr mich
9 Verbindlichkeit, weil ich selbst beanspruche, einen Willen zu haben, der mein
10 Handeln leitet, und ich diesen Anspruch nicht kohrent aufrechterhalten kann,
11 wenn ich diesem meinem Willen nicht Freiheit unter sittlichen Gesetzen zu-
12 schreibe. Mit anderen Worten: Um mir nicht selbst zu widersprechen, muss ich
13 die sittliche Verbindlichkeit anerkennen.
14 In der Kritik der praktischen Vernunft findet sich hingegen eine andere Argu-
15 mentationsfigur, mithilfe derer Kant die Geltung des Sittengesetzes zu begrn-
16 den sucht: die Lehre vom Faktum der Vernunft. Das Bewusstsein des Sittenge-
17 setzes, so heißt es hier, sei „ein Factum der Vernunft“, das „sich fr sich selbst
18 uns aufdringt“ und sich keineswegs „z. B. aus dem Bewußtsein der Freiheit […]
19 herausvernnfteln“ lsst.10 Nicht mehr wird durch das Argument des performa-
20 tiven Selbstwiderspruchs die Geltung des Sittengesetzes begrndet, sondern die
21 Geltung des Sittengesetzes hat ihren Grund nun in der Gegebenheit eines fr
22 mich unabweisbaren sittlichen Anspruchs, der mich meine Freiheit allererst ent-
23 decken lsst. Wie aber versteht Kant diesen unleugbaren sittlichen Anspruch?
24 Die Gegebenheit des sittlichen Anspruchs versteht Kant nicht im Sinne einer
25 unergrndlichen Faktizitt, sondern als die Wirkung einer Tat, in der die reine
26 Vernunft das Begehrungsvermçgen bestimmt und derart praktisch wird. Kants
27
terminologische Verwendung des Faktumsbegriffs deutet darauf hin, dass er un-
28
ter dem Faktum der Vernunft zwei Seiten einer Sache versteht: einerseits die
29
Handlung der das Begehrungsvermçgen bestimmenden Vernunft und anderer-
30
seits die Wirkung eben dieser Handlung der Vernunft, die sich in Gestalt des
31
allein unmittelbar zugnglichen Gesetzesanspruchs manifestiert. Jene ttige Be-
32
stimmung des Begehrungsvermçgens durch reine Vernunft fasst Kant jedoch
33
nicht als eine willkrliche Tat auf, die die Vernunft vollziehen kann oder auch
34
nicht; vielmehr ist es treffender, diese Tat der Vernunft als eine Art energeia ei-
35
ner sich im Menschen entfaltenden Vernunftttigkeit zu begreifen. So wie Aristo-
36
teles die energeia als das Prinzip des ttigen Werdens in einem Wesen versteht,
37
betrachtet Kant die Vernunft als eine sich im Menschen realisierende Ttigkeit
38
39 9 Ebd.
40 10 Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. AA V. Berlin 1968. 1 – 163. 31.
Worin grndet ethische Verbindlichkeit? 241

1 der Willensbestimmung; d. h. hnlich wie sich ein Pflanzenkeim zu einer wach-


2 senden Pflanze entfaltet, entfaltet sich das Vernunftvermçgen im Menschen zu
3 einer den Willen permanent ttig bestimmenden reinen Vernunft. Damit aber
4 lsst sich der kantische Gedanke wie folgt resmieren: Eine unwillkrlich ttige
5 Vernunft bestimmt im Menschen sein Begehrungsvermçgen und bringt derart
6 das Bewusstsein eines unabweisbaren sittlichen Anspruchs hervor. Bei Kant
7 selbst findet sich in dieser Erluterung des sittlichen Anspruchs als Resultat ei-
8 ner sich im Menschen entfaltenden ttigen Vernunft jedoch gleichsam das Rest-
9 moment einer aristotelischen Metaphysik: Fr Kant gibt es reine praktische Ver-
10 nunft, die sich in jedem menschlichen Individuum fungierend entfaltet und den
11 unleugbaren Anspruch des Sittengesetzes hervorbringt – wie die Verankerung
12 der Vernunft im Menschen jedoch verstndlich gemacht werden kann und wes-
13 halb der Einzelne sich mit dieser, seinem individuellen Glckseligkeitsstreben
14 fremden Vernunft identifiziert, bleibt bei Kant offen.
15
16
17
18 2. Der performative Selbstwiderspruch und der Anspruch des Anderen
19
20 Es sei nun zunchst gezeigt, inwiefern davon gesprochen werden kann, dass die
21 diskursethische Begrndung ethischer Verbindlichkeit an die Argumentationsfi-
22 gur der Grundlegungsschrift anknpft und welche Schwierigkeit sich damit ver-
23 bindet. Dabei gehe ich zuerst auf Apel, dann kurz auf Habermas ein, um deut-
24 lich zu machen, dass ihre Anstze trotz des wesentlichen Unterschiedes in
25 Bezug auf die Frage einer mçglichen Letztbegrndung beide mit derselben Argu-
26 mentationsfigur aus der Grundlegung arbeiten.
27 In der Grndungsschrift zur Diskursethik von 1973 strebt Apel eine „sinnkri-
28 tische Transformation der Transzendentalphilosophie“ an, „die von dem apriori-
29 schen Faktum der Argumentation als einem nicht zu hintergehenden quasi-kar-
30 tesischen Ansatzpunkt ausgeht.“11 Weil Apel meint, dass ich immer schon
31 denke, sobald ich existiere, meine Gedanken aber immer schon als potenzielle
32 Argumente innerhalb eines intersubjektiven Diskurses auffassen muss, wenn sie
33 sinnvoll gedacht werden kçnnen sollen, kann er von einem apriorischen Faktum
34 der Argumentation als einem unhintergehbaren, quasi-kartesischen Ansatz-
35 punkt sprechen. Das diskursethische Grundprinzip gewinnt er in einer transzen-
36 dentalen Reflexion auf die Bedingungen der Mçglichkeit und Gltigkeit dieser
37
11 Karl-Otto Apel: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der
38
Ethik. Zum Problem einer rationalen Begrndung der Ethik im Zeitalter der Wissenschaft. In:
39 Ders.: Transformation der Philosophie. Band 2: Das Apriori der Kommunikationsgemein-
40 schaft. Frankfurt am Main 61999. 358 – 435. 411.
242 Inga Rçmer

1 immer schon fungierenden Argumentation. Es ist die in der Argumentation im-


2 plizierte moralische Grundnorm und lautet bei Apel, „daß alle Bedrfnisse von
3 Menschen – als virtuelle Ansprche – zum Anliegen der Kommunikationsge-
4 meinschaft zu machen sind, die sich auf dem Wege der Argumentation mit den
5 Bedrfnissen aller brigen in Einklang bringen lassen.“12 Es geht mir an dieser
6 Stelle weder um die Frage, ob sich dieses Prinzip wirklich als eine Mçglichkeits-
7 bedingung der Argumentation ausweisen lsst, noch um die Frage, ob das carte-
8 sische cogito angemessen als Denken und das Denken angemessen als Argumen-
9 tieren verstanden werden kann, sondern allein um das Argumenta-
10 tionsverfahren, das Apel verwendet. Dieses hat folgende Struktur: Ich kann jene
11 moralische Grundnorm, die ein Implikat der Argumentation selbst ist, nicht ar-
12 gumentativ bestreiten, ohne mich in einen performativen Widerspruch zu verwi-
13 ckeln. Das aber ist die Argumentationsfigur, die Kant im dritten Abschnitt der
14 Grundlegung verwendet: Ich kann die das Sittengesetz implizierende Freiheit
15 des Willens, die ihrerseits ein Implikat des Anspruchs, einen Willen zu haben,
16 ist, nicht bestreiten, ohne mich in einen performativen Widerspruch zu verwi-
17 ckeln. So wie bei Kant der Determinismus und die Nichtgltigkeit des Sittenge-
18 setzes von einem vernnftigen Wesen mit einem Willen nicht kohrent behaup-
19 tet werden kçnnen, kann bei Apel die moralische Grundnorm von einem
20 denkend argumentierenden Wesen nicht kohrent bestritten werden.
21 Nun kçnnte man meinen, dass aber Apel doch an Kants Lehre vom Faktum
22 der Vernunft anknpft, wenn er vom apriorischen Faktum der Argumentation
23 spricht. Das ist aber meines Erachtens nicht eigentlich der Fall. Apels Anknp-
24 fungspunkt liegt weniger in Kants zweiter Kritik als bei Fichte, von dem seiner-
25 seits gesagt werden kann, dass er eher an die bei der Freiheit und dem Willen
26 ihren Ausgang nehmende Argumentationsfigur der Grundlegung als an Kants
27 Faktum eines sittlichen Anspruchs anschließt. Das Faktum der Argumentation
28 ist zwar wie das kantische Faktum der Vernunft ein Faktum a priori, aber es ist
29 strukturanalog mit dem Faktum eines fungierenden Anspruchs, einen Willen zu
30 haben, und nicht mit dem Faktum eines gegebenen sittlichen Anspruchs.13 Apel
31
32
33 12 Ebd. 425.
34 13 In der Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre 1796 (Berlin
35 1971) hat Fichte zwar den Gedanken einer fr endliche Subjekte nçtigen Aufforderung zur
Selbstttigkeit formuliert. Zum einen bleibt es jedoch eine offene Frage, ob Fichte mit diesem
36 Schritt tatschlich den „monologischen Rahmen seiner Wissenschaftslehre“ hin zu einer „inter-
37 subjektivistischen Konzeption“ verlassen hat, weil es nicht sicher ist, ob die empirische Auffor-
38 derung eines endlichen Subjekts von ihm nicht letztlich doch auf ein allgemeines, transzenden-
tales Subjekt zurckgefhrt wird (vgl. Axel Honneth: Die transzendentale Notwendigkeit von
39 Intersubjektivitt [Zweiter Lehrsatz: § 3]. In: Jean-Christophe Merle [Hg.]: Johann Gottlieb
40 Fichte: Grundlage des Naturrechts. Berlin 2001. 63 – 80. 79); zum anderen, und das ist aus al-
Worin grndet ethische Verbindlichkeit? 243

1 kritisiert denn Kant auch ganz ausdrcklich dafr, dass dieser mit der „Lehre
2 vom ,Faktum der Vernunft‘ […] seine zunchst“, nmlich in der Grundlegung,
3 „vorgesehene Letztbegrndung der Gltigkeit des Sittengesetzes eher abbricht
4 als zu Ende fhrt“,14 wohingegen Fichte den Apel’schen „Weg einer ,rekonstruk-
5 tionistischen‘ Transzendentalphilosophie“ direkt vorbereitet habe, indem er
6 „das ,Faktum der Vernunft‘ durch einsichtigen Mit- und Nachvollzug nach und
7 nach in seiner bloßen Faktizitt auflçsen“ wollte.15
8 Habermas hat bekanntlich Apels Letztbegrndungsanspruch zurckgewie-
9 sen und verzichtet damit auf die Rede von einem apriorischen Faktum der Argu-
10 mentation. Ihm zufolge kann ein solches apriorisches Faktum nicht behauptet
11 werden, weil wir a priori nicht die Mçglichkeit ausschließen kçnnen, dass sich
12 unsere Praxis doch einmal ndert. Die Apel’sche These, dass es zur Argumentati-
13 on und ihren Voraussetzungen keine Alternative gibt, ist nach Habermas auf den
14 schwcheren „Status einer Annahme“ zu reduzieren, die „wie eine Gesetzeshy-
15 pothese an Fllen berprft werden“ muss.16 Solange wir jedoch die Praxis des
16 Denkens und Argumentierens haben, die wir haben, lsst sich jeder einzelne, der
17 Diskursethik argumentierend entgegentretende Skeptiker durch das Argument
18 des performativen Widerspruchs widerlegen. Der Skeptiker kann der Gltigkeit
19 der diskursethischen Grundnorm und dem performativen Widerspruch allen-
20 falls noch dadurch entgehen, dass er sich in den Wahnsinn flchtet.
21 Keineswegs nun mçchte ich mich unter das Heer der armen Skeptiker bege-
22 ben, deren Gegenschlag der Diskursethiker mit einer Art Aikido-Technik ab-
23 wendet, wenn er die argumentative Kraft des Gegners dazu nutzt, diesen nieder-
24 zustrecken. Es geht mir vielmehr um die Hypothese, dass es dem
25 diskursethischen Argument trotz all seiner Scharfsinnigkeit letztlich selbst nicht
26 gelingt, das zu begrnden, was es begrnden will. Der Grund dafr ist meines
27 Erachtens, dass es nicht die richtige Art von Argument ist, um moralische Ver-
28 bindlichkeit zu begrnden. Was ist der Grund fr diese Hypothese? Der Ur-
29 sprung moralischer Verbindlichkeit liegt fr den Diskursethiker in einer Nçti-
30 gung zur Kohrenz: Wenn ich nicht inkohrent sein will, muss ich in meinem
31 Argumentieren jener Nçtigung zur Kohrenz Folge leisten und der moralischen
32 Grundnorm entsprechend handeln. Ist aber die Nçtigung zur Kohrenz und der
33
34 terittsphnomenologischer Sicht bedeutsam, unterscheidet sich in jedem Falle eine Aufforde-
35 rung zur Selbstttigkeit von dem Levinas’schen Aufruf zur Verantwortung fr den Anderen.
14 Karl-Otto Apel: First things first. Der Begriff primordialer Mit-Verantwortung. Zur Be-
36 grndung einer planetaren Makroethik. In: Matthias Kettner (Hg.): Angewandte Ethik als Po-
37 litikum. Frankfurt am Main 2000. 21 – 50. 31.
15 Karl-Otto Apel: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der
38
Ethik. 420, 419.
39 16 Jrgen Habermas: Diskursethik – Notizen zu einem Begrndungsprogramm. In: Ders.:

40 Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt am Main 1983. 53 – 126. 107.


244 Inga Rçmer

1 ihr entsprechende Wille zur Kohrenz mit sich selbst das richtige Motiv fr Mo-
2 ralitt? Wenn mich jemand fragt ,Weshalb hast Du dieser Person geholfen?‘ und
3 ich in letzter Instanz antworten muss ,Weil ich anderenfalls einen performativen
4 Widerspruch begangen htte‘, so scheint dies nicht diejenige Antwort zu sein,
5 die uns dazu bewegen wrde, von einem moralisch guten Handeln zu sprechen.
6 Vielmehr scheint jene Antwort in die Richtung eines moralischen Eigendnkels
7 zu weisen, innerhalb dessen ich nur deshalb hilfsbereit bin, weil ich mit mir
8 selbst im Reinen sein will und nicht zu einem unvernnftigen Etwas degenerie-
9 ren mçchte. Zwar ist fr den Diskursethiker die Ermittlung der konkreten Nor-
10 men durch den realen intersubjektiven Diskurs von entscheidender Bedeutung;
11 diese Nçtigung zum realen intersubjektiven Diskurs hat ihren Grund jedoch in
12 der Nçtigung zur Selbstkohrenz und dem dieser Nçtigung entsprechenden
13 Streben nach Vermeidung des performativen Selbstwiderspruchs. Mit anderen
14 Worten, ich muss mich auf die anderen Diskurspartner und ihre Argumente
15 ernsthaft einlassen, wenn ich mir nicht selbst widersprechen will.
16 Wenden wir uns nun der Frage zu, wie die phnomenologische Alteritts-
17 ethik Verbindlichkeit zu begrnden sucht und inwiefern sie dabei an Kants Argu-
18 mentationsfigur aus der zweiten Kritik anknpft. Fr den spten Levinas ist Sub-
19 jektivitt ursprnglich nicht eine denkende und damit quasi argumentierende
20 Subjektivitt, sondern eine Subjektivitt im Akkusativ, die in ihrem Denken und
21 Fhlen immer schon auf einen Anspruch des Anderen antwortet. Es ist inner-
22 halb der Phnomenologie eine umstrittene Frage, welche Art von Verbindlich-
23 keit mit diesem Anspruch des Anderen einhergeht. Meines Erachtens liegt je-
24 doch bereits im Anspruch des Anderen selbst eine ethische Verbindlichkeit vor,
25 weil der Anspruch durch die spezifische, mit ihm einhergehende Bindung des
26 Begehrens eine praktische Rationalitt jenseits der Aneignungsbeziehungen stif-
27
tet. Im ethischen Widerstand des ersten Wortes ,Du wirst nicht tçten!‘ bekundet
28
sich laut Levinas eine praktische „an-archische Vernunft“,17 die dazu verbindet,
29
die Dimension des aneignenden Genießens zu berschreiten und auf den vom
30
Anderen her aufkommenden Sinn einzugehen. Der Anspruch des Anderen ist
31
damit weder ein bloßes factum brutum, noch spricht er bereits im Namen einer
32
Ordnung; er ist aber auch keine bloße Motivation dazu, ethische Verbindlich-
33
keit durch einen Freiheitsakt allererst zu stiften. Der Anspruch des Anderen ist
34
vielmehr das von sich aus aufkommende Stiftungsmoment einer anarchisch-prak-
35
tischen Rationalitt, die ber die Aneignungs- und Instrumentalisierungsbezie-
36
hung hinausweist und durch eine spezifische Bindung des Begehrens erstmals
37
ethische Verbindlichkeit hervorbringt. Diese Verbindlichkeit des Anspruchs er-
38
39 17 Emmanuel Levinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. bers. von Thomas

40 Wiemer. Freiburg 21998. 361 (frz.: 212).


Worin grndet ethische Verbindlichkeit? 245

1 streckt sich dabei jedoch nicht schon auf seinen konkreten Inhalt, sondern sie ist
2 allein eine ethische Verbindlichkeit dazu, auf den Anspruch selbst einzugehen
3 und ihn nicht fr meine Zwecke zu instrumentalisieren. Ausdrcklich formu-
4 liert Levinas in diesem Sinne: „Die Rede verpflichtet zum Eingehen auf die
5 Rede (Discours qui oblige  entrer dans le discours).“18 Was im Bereich dieser an-
6 archischen Vernunft, diesseits von Prinzipien und universal gltigen Grnden,
7 jedoch ein vernnftiges Eingehen auf den Anspruch des Anderen bedeuten
8 kann, verlangt nach einer gesonderten Erçrterung, der ich mich im hiesigen Zu-
9 sammenhang nicht eigens widmen kann.
10 An dieser Stelle entscheidend jedoch ist, dass die jener primordialen ethischen
11 Verbindlichkeit zum Eingehen auf die Rede entspringende Verantwortung kei-
12 neswegs jene laut Apel nicht widerspruchsfrei bestreitbare „primordiale Mit-Ver-
13 antwortung“ fr die „Aufdeckung bzw. Identifizierung und [die] anzustrebende
14 […] Lçsung aller moralisch relevanten Probleme der Lebenswelt im argumenta-
15 tiven Diskurs“ ist.19 Die alterittsethische Verantwortung ist keine universale,
16 widerspruchsfrei nicht bestreitbare Norm, sondern sie ist vielmehr die aus der
17 Erste-Person-Perspektive unleugbare Erfahrung, in meinem innersten Selbst
18 zum vernnftigen Eingehen auf den Anspruch des Anderen verbunden zu sein.
19 Die fr die Diskursethik allein relevante Dimension der Normen hat hinge-
20 gen aus Levinas’ Perspektive ihren Ursprung darin, dass mich im Gesicht des
21 Anderen auch immer schon der Dritte mit anspricht. Weil ich mich ethisch dazu
22 verbunden finde, nicht nur auf den Anspruch des Anderen, sondern auch auf die
23 Ansprche der Anderen des Anderen einzugehen, drngt sich mir die Frage
24 nach gerechten Maßstben auf. Whrend es aus Levinas’ Sicht bereits beim An-
25 spruch des Anderen unmçglich ist, eine den Anspruch restlos befriedigende Ant-
26 wort tatschlich zu finden, bleiben die anhand von Maßstben des „Vergleich[s]
27 der Unvergleichlichen“20 gefundenen Antworten erst recht unzureichend. So er-
28 forderlich und auch allein gerecht es ist, derartige Vergleichsmaßstbe angesichts
29 der Pluralitt der Anderen zu finden, kommt dem jeweils einzelnen Anderen
30 jedoch der Primat zu: „Meine Beziehung mit dem Anderen, dem Nchsten, gibt
31 meinen Beziehungen mit allen Anderen ihren Sinn.“21
32 Es mag nun den Anschein haben, als kreuzten sich Diskursethik und Alteri-
33 ttsethik auf der Ebene des Dritten. Dieser Eindruck trgt jedoch meines Erach-
34 tens, weil die moralische Verbindlichkeit der Diskursethik von der in der Dimen-
35 sion des Dritten aufkommenden Verbindlichkeit insofern radikal verschieden
36
18 Emmanuel Levinas: Totalitt und Unendlichkeit. Versuch ber die Exterioritt. bers.
37
38 von Wolfgang Nikolaus Krewani. Freiburg 42008. 289 (frz.: 175). Einfgung des Orig. I.R.
19 Karl-Otto Apel: First things first. 37.
39 20 Emmanuel Levinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. 344 (frz.: 201).

40 21 Ebd. 346 (frz.: 202).


246 Inga Rçmer

1 bleibt, als die Verbindlichkeit der Normen, die ich angesichts des Dritten finde,
2 der von den Anderen ausgehenden Nçtigung zum Eingehen auf die Rede ent-
3 springt, whrend die moralische Verbindlichkeit der diskursethischen Normen
4 aus der Nçtigung zur Vermeidung des Selbstwiderspruchs hervorgeht.
5 Mit der alterittsethischen Argumentationsfigur deutet sich eine Nhe zu
6 Kants Lehre vom Faktum der Vernunft an. In jener Lehre beansprucht Kant ge-
7 zeigt zu haben, dass es reine praktische Vernunft gibt. Der einzige Beleg dafr,
8 dass es sie wirklich gibt, ist fr Kant der an das Subjekt ergehende sittliche An-
9 spruch. Die Wirklichkeit der reinen praktischen Vernunft wird nicht aus etwas
10 anderem abgeleitet, sondern manifestiert sich von sich aus im sittlichen An-
11 spruch selbst. Dies aber ist dem Levinas’schen Gedanken analog: Der immer
12 schon an mich ergangene Anspruch des Anderen hat in mir eine praktisch an-
13 archische Vernunft gestiftet, mit der ethische Verbindlichkeit erstmals auf-
14
kommt. Die an-archische Vernunft, die in letzter Instanz den spannungsvollen
15
Beziehungen zum Anderen und zum Dritten den Sinn verleiht, wird von Levi-
16
nas als eine solche verstanden, die es genau und nur deshalb gibt, weil ich mich
17
durch die Ansprche zum nichtinstrumentalisierenden Eingehen auf sie verbun-
18
den erfahre.
19
Whrend Kant allerdings die Wirklichkeit der reinen praktischen Vernunft
20
noch hnlich einer sich im Menschen einfach entfaltenden energeia versteht,
21
grndet die Wirklichkeit jener an-archischen Vernunft Levinas zufolge darin,
22
dass mich der Andere und der Dritte immer schon angesprochen, zur Ver-ant-
23
wortung gerufen und mein Begehren derart gebunden haben. Damit wird bei
24
Levinas erlutert, was bei Kant im Dunkeln beziehungsweise schlicht vorausge-
25
26
setzt blieb, nmlich wie jene nicht instrumentelle praktische Vernunft in uns auf-
27
kommt und weshalb wir uns mit ihr zu identifizieren vermçgen.
28 Obgleich Levinas in seinem Sptwerk auch ganz ausdrcklich an Kants Ge-
29 danken einer reinen praktischen Vernunft anknpft, indem er sie als ein ,Jenseits
30 des Seins‘ und einen Vorlufer seiner eigenen Konzeption versteht, ist er in ei-
31 nem bestimmten Punkt pessimistischer als Kant: Whrend Kant die Wirklich-
32 keit reiner praktischer Vernunft im Menschen gleichsam fr ein anthropologi-
33 sches Faktum hlt, leben wir laut Levinas in einer nachnietzscheanischen
34 Epoche, in der die Wirklichkeit jener Dimension ethischer Verbindlichkeit so
35 sehr schillert, dass sie zuweilen aus der Erfahrung zu verschwinden droht. Sollte
36 sie aber tatschlich verschwinden und wir nicht mehr jenen ethischen Wider-
37 stand erfahren, der uns daran hindert, die Anderen guten Gewissens fr unsere
38 Zwecke zu instrumentalisieren, dann kann sie Levinas zufolge aus keiner theore-
39 tischen Vernunft abgeleitet, kann sie uns durch kein Argument der Welt ande-
40 monstriert werden.
Worin grndet ethische Verbindlichkeit? 247

1 3. Schluss: moralischer Eigendnkel und ethisches Begehren des Anderen


2
3 Selbstverstndlich gbe es viel mehr zum Verhltnis von Diskursethik und ph-
4 nomenologischer Alterittsethik und erst recht zu jeder der beiden einzelnen Po-
5 sitionen und ihren vielfltigen Ausgestaltungen zu sagen. In den voranstehenden
6 Ausfhrungen ging es ausschließlich darum, auf den grundlegenden Unter-
7 schied zwischen den Argumentationsfiguren zur Begrndung ethischer Verbind-
8 lichkeit hinzuweisen sowie aufzuzeigen, inwiefern diese Argumentationsfigu-
9 ren einerseits auf Kants Grundlegung und andererseits auf Kants zweite Kritik
10 zurckgefhrt werden kçnnen. Das sachliche Ergebnis ließe sich in folgenden
11 zwei Gedanken zusammenfassen: Erstens, die diskursethische Begrndungsstra-
12 tegie ber den performativen Selbstwiderspruch scheint ein Moment des morali-
13 schen Eigendnkels zu implizieren, der ihr starkes Argument zur Begrndung
14 moralischer Verbindlichkeit zweifelhaft erscheinen lsst. Zweitens, die phnome-
15 nologische Alterittsethik hat zwar mit dem Hinweis auf den Anspruch des An-
16 deren, aus dem ethische Verbindlichkeit entspringt, ein scheinbar schwcheres
17 Argument und kommt auch zu vageren Ergebnissen, vermag jedoch im das Be-
18 gehren bindenden Anspruch des Anderen und des Dritten eine genuin ethische
19 Grunderfahrung der Stiftung praktischer Rationalitt auszumachen, aufgrund
20 derer es so etwas wie nicht instrumentelle praktische Vernunft berhaupt erst
21 gibt.
22 Gleichsam ein Metaergebnis dieser beiden Resultate aber scheint zu sein, dass
23 in der philosophischen Untersuchung ethischer Verbindlichkeit die Auffindung
24 und Auslegung ethischer Grunderfahrungen mindestens ebenso wichtig ist wie
25 die Konzeption von Argumenten, weil eine berpriorisierung der Argumente
26 Gefahr laufen kann, das anvisierte Phnomen vielleicht doch nicht ganz ange-
27 messen in den Blick zu bekommen. Oder, anders gesagt: Manchmal kçnnen Ph-
28 nomenauslegungen selbst die besseren Argumente sein.
29
30
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40
1 Tetsuya Sakakibara
2
3
4 Die Intentionalitt der Pflegehandlung1
5
6
7
8
1. Einleitung
9
10
In amerikanischen und europischen, besonders englischsprachigen Lndern
11
sind phnomenologische Begrndungen und Auslegungen der Krankenpflege
12
(Nursing Care) seit den 80er Jahren mehrmals unternommen worden. Auch in
13
14
Japan sind „phnomenologische Zugnge“ (phenomenological approaches) zur
15 Erforschung und Praxis der Krankenpflege seit den 90er Jahren populr gewor-
16 den. Unter diesen ist The Primacy of Caring von Patricia Benner und Judith
17 Wrubel2 als eine der ausgezeichnetsten systematischen Theorien, die sich auf
18 Phnomenologie grnden, zu betrachten. Nach Benner und Wrubel ist „caring“
19 eine „fundamentale Seinsweise“ des Menschen, in der Dinge, Ereignisse und Per-
20 sonen uns „etwas angehen“ (matter to) und wir dadurch in sie und in die Welt
21 „hineingezogen“ oder „involviert“ (involved in) werden.3 Indem sie noch vier
22 Momente hinzufgen – nmlich „embodied intelligence“, „background mea-
23 ning“, „situation“ und „temporality“ –, illustrieren Benner und Wrubel ihr ph-
24 nomenologisches Menschenbild, und auf dieser Grundlage erlutern sie, was
25 Krankenpflege ist und was sie sein soll.4
26 Meiner Meinung nach ist es grundstzlich sinnvoll, in der alltglichen Nur-
27 singpraxis, besonders in der Pflege eines chronischen Patienten, von Benner und
28 Wrubels phnomenologischem Menschenbild auszugehen. Andererseits denke
29
30 1 Dieser Beitrag ist eine revidierte und erweiterte Version meines englischen Artikels ,The

31 Intentionality of Caring‘. In: Alessandro Salice (Hg.): Intentionality. Historical and systema-
tic perspectives. Mnchen 2012. 369 – 394. Bei dieser Gelegenheit mçchte ich Herrn Professor
32
Dr. Dieter Lohmar und der Deutschen Gesellschaft fr phnomenologische Forschung sehr
33 herzlich danken fr die Einladung zu der Tagung ber „Soziale Erfahrung“. Herrn Dr. Dirk
34 Fonfara danke ich auch sehr herzlich fr die sprachlichen Korrekturen dieses Textes.
2 Patricia Benner, Judith Wrubel: The primacy of caring. Stress and coping in health and
35
illness. Menlo Park 1989 (= PC).
36 3 Vgl. PC, 1, 42, 47 – 48.
4 Zu Benners und Wrubels phnomenologischem Menschenbild und ihrer phnomenologi-
37
38 schen Theorie der Krankenpflege vgl. Tetsuya Sakakibara: The experience of illness and the
phenomenology of caring. In: Ronshu (Philosophical Studies) 25 (2007). 13 – 33; Tetsuya Sa-
39 kakibara: Phenomenological research of nursing and its method. In: Schutzian Research 4
40 (2012). 133 – 150.

Phnomenologische Forschungen 2013 ·  Felix Meiner Verlag 2013 · ISSN 0342-8117


250 Tetsuya Sakakibara

1 ich aber auch, dass diese fnf Momente – insbesondere „caring“ als ein Invol-
2 viertsein in Dinge, Ereignisse und Personen, die uns etwas angehen und uns am
3 Herzen liegen – nicht gengen, um einige Aspekte der Aktivitten bei der Kran-
4 kenpflege zu begreifen.5 Indem die Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger in
5 die Situation involviert sind, beabsichtigen sie, sich aktiv mit den Patienten oder
6 ihren Familien zu befassen und sie gut zu pflegen.
7 In dieser Untersuchung mçchte ich auf Husserls Begriff der „Intentionali-
8 tt“, besonders auf seine Analyse der Intentionalitt des Wollens und Handelns,
9 eingehen, um diesen fehlenden Aspekt zu ergnzen. Denn „caring“ oder Pflege
10 kann im Allgemeinen als eine „Handlung“ oder eine Reihe von „Handlungen“
11 betrachtet werden, die einen besseren Zustand einer Person erreichen „will“,
12 oder als ein „Handlungswille“, der auf den besseren Zustand einer Person ab-
13 zielt. Die Nursingpraxis ist in der Tat eine Pflegehandlung oder eine Reihe von
14 Pflegehandlungen, die einen besseren Zustand des Patienten realisieren will.6
15 Man kçnnte sich nun fragen, ob die oben erwhnte Skizzierung der Nursing-
16 praxis als ein Handlungswollen zu einem besseren Zustand zu optimistisch oder
17 sogar idealisiert ist, da in den realen Nursingpraxen durchaus negative Vor-
18 kommnisse zu finden sind. Wegen der berforderung und berlastung durch
19 den beruflichen Alltag fhlen sich nicht wenige Krankenpflegerinnen und Kran-
20 kenpfleger manchmal zur Pflege lediglich verpflichtet. Gelegentliche Widerstn-
21 de oder Gewaltttigkeiten der Patienten kçnnten bei ihnen sogar zu rger und
22 Unlust bei der Pflege fhren usw. In diesem Beitrag will ich mich aber auf eine
23 intentionale Analyse derjenigen Pflegehandlung konzentrieren, die erfolgt oder
24 erfolgen soll, wenn die Krankenpflegerin oder der Krankenpfleger einen besse-
25 ren Zustand des Patienten realisieren will.
26
27
28
5 Diesen Punkt habe ich kurz diskutiert in: Sakakibara: Phenomenological research. 142.
29 6 Vgl. Milton Mayeroff: On caring. New York 1971 (= OC). Mayeroff erklrt, dass das
30 „general pattern of caring“ ein „helping the other grow“ ist (OC, 2). „In helping the other
31 grow […] I allow the direction of the other’s growth to guide what I do“ (OC, 9). Wenn auch
die Zukunft „weitgehend unvorhersehbar (largely unforeseeable)“ ist (OC, 10), versuche ich,
32
die „Richtung des Wachstums des Anderen“, also die Richtung zu einem besseren Zustand des
33 Anderen, zu sehen und, „geleitet von der Richtung“, den Anderen zu pflegen (OC, 12). In der
34 Krankenpflege kçnnen wir auch von einem Wachstum des Patienten in verschiedenem Sinne
35 sprechen: z. B. Kurieren oder Besserung der Krankheit, Erleichterung der Leiden; oder, wenn
auch eine vçllige Heilung nicht mehr erwartet werden kann, ein Sich-Abfinden mit der Krank-
36 heit oder eine positive Neu-Interpretation der eigenen Lebenssituation. In der Nursingpraxis
37 versuchen die Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger, eine Richtung des Wachstums des
38 Patienten, eine Richtung zu seinem besseren Zustand in den genannten Weisen zu antizipieren;
und wenn auch die Zukunft weitgehend unvorhersehbar ist, wollen sie, von der „Richtung“
39 geleitet, den Patienten pflegen (vgl. OC, 42). Das kçnnte wohl ein wesentliches Charakteristi-
40 kum der Krankenpflege sein.
Die Intentionalitt der Pflegehandlung 251

1 Ziel dieses Beitrags ist es also, die Struktur der Intentionalitt einer zu realisie-
2 renden Pflegehandlung anhand der Phnomenologie Husserls aufzuklren und
3 somit zur Entwicklung einer phnomenologischen Theorie der Krankenpflege
4 beizutragen.
5 Im Folgenden werde ich zuerst die phnomenologischen Analysen des Wol-
6 lens und Handelns, die Husserl in seinen Vorlesungen vom Sommersemester
7 1914 ber Grundfragen zur Ethik und Wertlehre entwickelt hat, zusammenfas-
8 sen und dann auf seine berlegungen zur Beziehung von Intentionalitt und Mo-
9 tivation in den Ideen II eingehen. Obwohl Husserl hierbei eigentlich nicht auf
10 das Phnomen der Pflegehandlung den Fokus legt, werde ich seine Analysen
11 Schritt fr Schritt auf die Pflege anwenden und versuchen, einige Strukturmo-
12 mente der Intentionalitt der Pflegehandlung herauszuarbeiten.
13
14
15
16 2. Intentionalitt des Wollens und Handelns
17
18 Zuerst skizziere ich Husserls Analyse zur Intentionalitt des Wollens und Han-
19 delns:7 Hier unterscheidet Husserl zunchst das „Wollen im Sinne eines handeln-
20 den Wollens“ vom „Wollen im Sinne des Sich-zu-etwas-Entschließens“.8 Er
21 weist dann als Gemeinsames beider Wollens-Arten darauf hin, dass der „Wille“
22 „nicht auf Vergangenes, sondern auf Knftiges“ gehen kann9 und nichts anderes
23 als „Wirklichmachung“ ist in dem Sinne, dass etwas von dem Willen verwirk-
24 licht wird.10 Husserl schreibt weiter: „Das Bewusstsein sagt gewissermaßen
25 nicht: ,Es wird sein, und demgemß will ich es‘; sondern: ,Weil ich es will, wird
26 es sein.‘“11 Aber ist es dann nicht erforderlich, dass man sich zu diesem „es“, das
27 gewollt wird, im Voraus entschlossen hat oder es zumindest, wenn auch in vager
28 Weise, antizipiert hat? Sonst kçnnte man nicht sagen: „Weil ich es will, wird es
29 sein.“ Da dieses „es“ noch nicht verwirklicht ist, kann es zwar nicht klar und
30 deutlich vorgestellt oder erfasst werden; um verwirklicht zu werden, muss „es“
31 aber in jedem Fall antizipiert worden sein, und dieses antizipierte „es“ kann erst
32 gewollt werden. Auch in der Nursingpraxis mssen die Krankenpflegerinnen
33 und Krankenpfleger im Voraus einen besseren Zustand des Patienten, wenn
34 auch in vager Weise, antizipieren, und erst danach kçnnen sie diesen Zustand
35 verwirklichen wollen.
36
37 7 Vgl. Hua XXVIII, 102 – 112.
38
8 Ebd. 103.
9 Ebd. 106.
39 10 Ebd. 107.
40 11 Ebd.
252 Tetsuya Sakakibara

1 Es ist ein „handelndes Wollen“12 oder ein „Handlungswollen“,13 welches das


2 antizipierte „es“ verwirklichen will. Wie beschreibt aber Husserl dieses handeln-
3 de Wollen? „[I]st das Wollen ein Handlungswollen, so ist in jeder Phase, in der
4 die Realisierung vollzogen ist (also das Realwerden den Modus des Jetzt-Real-
5 seins hat), dieses Jetzt-Reale charakterisiert als originr geschaffen, als ge-
6 macht.“14 Ein antizipierter Zustand, der verwirklicht werden soll, wird in einem
7 Handlungswollen „originr geschaffen“ und „gemacht“. Die Wahrnehmungser-
8 scheinung hat dabei den „Charakter einer aus dem Wollen heraus geborenen“.
9 „Whrend eine sonstige Wahrnehmung den Charakter einer Passivitt hat, in
10 der wir etwas, was eben da ist, hinnehmen, einem Daseienden uns zuwenden,
11 hat die hier auftretende Wahrnehmung, diejenige aller aktuellen Handlungspha-
12
sen, den Charakter einer aus der schçpferischen Subjektivitt entquollenen.“15
13
Diese Wahrnehmung im Handlungswollen nimmt das wahr, was das Wollen
14
selbst originr schafft, und auch den schaffenden Prozess als solchen. Husserl
15
bemerkt, dass dies „die unvergleichliche Eigentmlichkeit der Willenssetzung
16
als schaffender Setzung“16 ist.17 Die Nursingpraxis ist auch eine schçpferische
17
Handlung oder eine Reihe von schçpferischen Handlungen, die einen besseren
18
Zustand des Patienten, wenn auch in vager Weise, antizipiert und diesen Zu-
19
stand im Handlungswollen schaffen und verwirklichen will. Die Wahrnehmung
20
21
in diesem Handlungswollen ist ebenfalls eine „schçpferische“, welche, da sie ei-
22
nen besseren Patientenzustand will, den verwirklichenden Prozess der Hand-
23 lung Schritt fr Schritt wahrnimmt.
24 Die Intentionalitt des handelnden Wollens, welches Husserl auch „Hand-
25 lungswille“ oder „ausfhrender Wille“ nennt, hat also eine eigentmliche Kreati-
26 vitt in dem Sinne, dass es etwas in Richtung auf die Zukunft schafft. Dies ist
27 von großer Bedeutung als die Eigentmlichkeit der Intentionalitt des Wollens
28 und Handelns im Vergleich zur Intentionalitt der bloßen Wahrnehmung oder
29 des Wertens. Mit der Terminologie von Intention und Erfllung beschreibt Hus-
30 serl diesen Charakter der Intentionalitt des Wollens auf folgende Weise: „Der
31 auf die Zukunft gerichtete Wille ist, in gewissem Sinn gesprochen, schçpferische
32
33 12 Ebd. 103.
34 13 Ebd. 107.
14 Ebd.
35 15 Ebd.
36 16 Ebd. 107.
17 Es ist zu beachten, dass derjenige statische Zusammenhang zwischen der fundierenden
37
38 Wahrnehmung und dem fundierten Wollen, der in Ideen I herausgearbeitet ist, in der Vorle-
sung vom SS 1914 neu interpretiert wird als ein genetischer Zusammenhang zwischen den bei-
39 den Akten, die sich miteinander verflechten und schçpferisch entwickeln. Vgl. dazu Sakakiba-
40 ra: The intentionality of caring. 375.
Die Intentionalitt der Pflegehandlung 253

1 Intention, und diese ,erfllt‘ sich in der ausfhrenden Handlung.“18 Die Intenti-
2 on in der Nursingpraxis ist auch eine „schçpferische Intention“ des Willens, der
3 auf einen besseren Patientenzustand gerichtet ist und ihn verwirklichen will. Es
4 ist eine solche Intention, die in einer Pflegehandlung oder einer Reihe von Pflege-
5 handlungen erfllt wird.
6 Husserl beschreibt diesen Zusammenhang von Intention und Erfllung auch
7 in zeitlicher Hinsicht: „Seine [= des erfllenden Handlungswillens] erste Phase
8 ist sogleich aktuell schçpferisch; das in ihm als jetzt seiend Gegebene und per-
9 zeptiv Konstituierte tritt auf als aus dem fiat heraus geworden, als Geschaffenes.
10 In diesem Zeitpunkt aber ist in eins bewußt ein Zukunftshorizont des noch zu
11 Realisierenden. […] Die Willensthese geht nicht nur auf das Jetzt mit seinem
12 schçpferischen Anfang, sondern auf die weitere Zeitstrecke und ihren Gehalt.
13 […] Nun geht aber das Jetzt in ein immer neues Jetzt ber, stetig verwandelt sich
14 die vorgesetzte schçpferische Zukunft in die schçpferische Gegenwart und wird
15 also zu wirklich Geschaffenem. Das soeben Geschaffene erhlt den Charakter
16 der schçpferischen Vergangenheit, whrend andererseits der Zukunftshorizont
17 weiter fortbesteht.“19
18 Wenn man jede aktuelle Phase des handelnden Wollens betrachtet, wird also
19 deutlich, dass der „jeweilige Jetztpunkt mit seiner aktuellen Jetzt-Leistung“ ei-
20 nen „doppelte[n] Horizont“ des „schçpferische[n] Vergangene[n]“ und des
21 „Schçpferische[n] der Zukunft“ hat. Der „Anfangspunkt mit dem ersten und ge-
22 wissermaßen den schçpferischen Uranstoß verleihenden fiat“ und der „End-
23 punkt mit dem Charakter ,Es ist vollbracht‘“ gehçren sogar auch zu dem doppel-
24 ten Horizont. „Whrend des Prozesses entquillt bestndig Wollen aus Wollen,
25 was dann in die Reproduktionen bergeht, so daß berhaupt in den Willenskon-
26 tinuitten, die zu jedem Zeitpunkt gehçren, die Wollensmomente nicht neben-
27 einander liegen, sondern in kontinuierlichen Relationen des Auseinander-Her-
28 vorquellens stehen.“20 Aus der Wahrnehmung des wirklich Geschaffenen
29 entquillt ein Wille zu einer noch zu realisierenden Zukunft, und aus diesem Wil-
30 len folgt andererseits der Wille, auf die schçpferische Gegenwart und Vergangen-
31 heit zu reflektieren. Dieser Hin- und Rckblick gibt dem Vergangenen einen
32 Sinn, und aus dem Vergangenen entquillt ein Wille zur Zukunft. Husserl
33 schreibt berdies: „In jedem Jetzt geht die Willensrichtung und das schçpferi-
34 sche ,Es werde!‘ durch die Kontinuitt der Willensmomente hindurch; mit je-
35
36
37
38 18 Hua XXVIII, 109.
39 19 Ebd. 110.
40 20 Ebd. 110 f.
254 Tetsuya Sakakibara

1 dem neuen aktuellen Schçpfungspunkt erfllt sich eine vorgngige, auf seinen
2 Gehalt gerichtete Willensintention.“21
3 Ein aktueller Wille in jedem Jetzt kçnnte zwar nach der aktuellen Wahrneh-
4 mung des bisher Realisierten modifiziert oder erneuert werden. Da aber die
5 „Willensrichtung“ auf den zuknftig zu realisierenden Zustand durch die „Kon-
6 tinuitt der Willensmomente“ hindurchgeht, kann die gesamte Einheit des han-
7 delnden Wollens bewahrt werden, und in jedem Jetztpunkt erfllt sich eine „vor-
8 gngige […] Willensintention“. „[J]eder Wille richtet sich auf die Sachen,
9 schçpferisch erfllt auf die jeweilige Jetztphase des Vorgangs und ,intendierend‘
10 auf den ganzen Rest des Vorgangs als zu realisierenden.“22
11 Es ist aber zu beachten, dass das bisher gewollte Ziel der Willensrichtung („Es
12 werde!“) auch im realisierenden Prozess der wollenden Handlung erneuert wer-
13 den kçnnen muss, wenn der Wille oder das handelnde Wollen wirklich „schçpfe-
14 risch“ sein soll. In der Nursingpraxis kann es bisweilen vorkommen, dass das zu
15 realisierende Ziel im Prozess der Pflegehandlung je nach Besserung oder Ver-
16 schlechterung des Patientenzustandes modifiziert oder erneuert wird.23 Die
17 „Willensrichtung“, die durch die „Kontinuitt der Willensmomente“ hindurch-
18 geht, darf also nicht von Anfang bis Ende statisch fixiert sein, was aber aus dem
19 obigen Zitat nicht deutlich hervorgeht. Die Willensrichtung muss vielmehr eine
20 offene und dynamische sein, die dem jeweiligen (bisher realisierten) Zustand ge-
21 mß modifiziert oder erneuert werden kann. Auch der „Endpunkt mit dem Cha-
22 rakter ,Es ist vollbracht‘“ muss in einem solchen offenen und dynamischen Pro-
23 zess bewusst werden.
24 Unsere bisherigen Betrachtungen kçnnen jetzt in folgender Weise zusammen-
25 gefasst werden: Wenn das Wollen eines zuknftigen Zustandes entsteht und zu
26 fungieren beginnt, ist der zu erzielende Zustand bereits (zumindest in vager Wei-
27 se) antizipiert. Bei dem Prozess des handelnden Wollens gehçrt nicht nur ein
28 aktueller Handlungsakt, sondern auch ein doppelter Horizont der Vergangen-
29 heit und Zukunft zu jedem Zeitpunkt. Hierbei wird eine noch zu realisierende
30 Zukunft gewollt auf Grund eines Bewusstseins von der geschaffenen und erfll-
31 ten Vergangenheit. Das handelnde Wollen richtet sich auf eine antizipierte und
32 zu erzielende Sache und auf das brige „noch zu Realisierende“, den schaffen-
33
34 21 Ebd. 111.
35
22 Ebd.
23 Ein zu verwirklichendes Ziel kann in naturwissenschaftlich-medizinischer und in natr-
36 lich-lebensweltlicher Einstellung auf andere Weise antizipiert werden. Deswegen ereignet sich
37 leider bisweilen die Tragçdie, dass eine Behandlung oder eine Pflege, die unter dem medizini-
38 schen Gesichtspunkt im Hinblick auf eine antizipierte Besserung des Patientenzustandes er-
folgt, z. B. eine Chemotherapie bei Krebs, gerade den Patienten sehr qult und ihm fr den
39 Rest seines Lebens ein ruhiges Dasein raubt. Im Prozess der Pflegehandlung muss also die Anti-
40 zipation des zu verwirklichenden Zieles selbst eventuell erneuert werden.
Die Intentionalitt der Pflegehandlung 255

1 den Prozess und das Geschaffene jeweils wahrnehmend. Weil die Willensrich-
2 tung in dem ganzen Prozess beibehalten wird, ist die gesamte Einheit des han-
3 delnden Wollens bewahrt, wenn auch der aktuelle Wille je nach Wahrnehmung
4 des bisher Realisierten manchmal modifiziert oder erneuert werden muss. Ein
5 Wille, gerichtet auf Zuknftiges, entquillt kontinuierlich aus der Wahrnehmung
6 des geschaffenen Vergangenen, und dieser Wille zu dem noch zu realisierenden
7 Zustand verleiht dem schon Geschaffenen und Realisierten einen bestimmten
8 Sinn. Und dieser Prozess, in dem sogar das Ziel des noch zu Schaffenden eventu-
9 ell erneuert werden kann, gelangt zu dem „Endpunkt“ mit dem Bewusstsein „Es
10 ist vollbracht. “ 24
11 Auch in der Nursingpraxis ist ein besserer Zustand des Patienten, der in der
12 Zukunft realisiert werden soll, zumindest in vager Weise antizipiert, wenn das
13 Wollen zu einer Pflegehandlung geweckt wird. Im ganzen Prozess der Pflege-
14 handlung bleibt die „Willensrichtung“ zu einem antizipierten besseren Patien-
15 tenzustand bewahrt,25 obwohl der jeweilige aktuelle Wille, je nach Wahrneh-
16 mung des Patientenzustandes und des bisher in der Pflege Realisierten,
17 manchmal modifiziert oder erneuert werden muss. Aus der Wahrnehmung des
18 schon Realisierten entquillt ein Wille im Hinblick auf alles brige des „noch zu
19 Realisierenden“. Und dieser Wille zu einem zuknftigen besseren Patientenzu-
20 stand verleiht dem realisierten Zustand des Patienten einen Sinn. berdies kann
21 im Rahmen dieses Prozesses die Antizipation des zu verwirklichenden Zieles
22 selbst eventuell nach jeweiliger Wahrnehmung des Patientenzustandes erneuert
23 werden.26 Auf diese Weise erfolgt die Pflegehandlung bis zum Endpunkt in dem
24 Bewusstsein, dass der antizipierte und noch zu realisierende Patientenzustand
25 nun „vollbracht“ ist.27
26
27 24 Zu diesem Punkt schreibt Mayeroff: „I act with certain expectations, undergo or suffer

28 the results of my actions, and then link up these two phases and see whether what I expected
was in fact achieved, […] I see what my actions amount to, whether I have helped or not, and,
29
in the light of the results, maintain or modify my behavior so that I can better help the other.“
30 (OC, 22.)
25 In der Nursingpraxis ist diese im ganzen Prozess bewahrte „Willensrichtung“ nichts ande-
31
res als das „langfristige Ziel“ des Heilens und Pflegens des Patienten, und sie fundiert und
32
ermçglicht eine Intentionalitt des Wollens der einzelnen medizinischen Behandlungen und
33 Pflegehandlungen. berdies muss, da die Nursingpraxis eine Zusammenarbeit mit rzten und
34 anderen Krankenpflegerinnen und Krankenpflegern ist, die Willensrichtung intersubjektiv be-
35 wahrt und beibehalten werden. Vgl. dazu Abschnitt 5 sowie ebenso Yumi Nishimura, Tetsuya
Sakakibara: Kango-Jissen no Kozo – Husserl no Shikosei-Gainen tono Taiwa (Die Struktur
36 der Nursingpraxis – ein Dialog mit Husserls Begriff der Intentionalitt) (im Erscheinen).
26 Vgl. Anm. 23.
37
27 Diese Struktur der Intentionalitt der Pflegehandlung gilt besonders fr die kçrperliche
38
Krankenpflege (body nursing) in der Krankenhausstation. Ich habe aber neulich von Frau Misa-
39 to Nishio erfahren, die sich mit einer phnomenologischen Forschung ber die psychiatrische
40 Tagespflege (psychiatric day-caring) beschftigt, dass im Arbeitsfeld der psychiatrischen Tages-
256 Tetsuya Sakakibara

1 Unsere bisherigen Betrachtungen haben aber noch nicht hinreichend geklrt,


2 wie der „Wille“ oder das „Wollen“ entsteht, und was eine Antizipation der Zu-
3 kunft motiviert, auf die man abzielt. Im nchsten Teil werde ich auf Husserls
4 phnomenologische Analyse der Motivation in den Ideen II eingehen und erlu-
5 tern, wie die Intentionalitt des Wollens und Handelns einsetzt.
6
7
8
3. Was motiviert das Wollen und Handeln?
9
10
Nach Husserl sind wir alltglich im „cogito“ auf „Dinge und Menschen“ unse-
11
rer „Umwelt“ bezogen.28 Das ist eine „intentionale Beziehung“29 zwischen dem
12
„setzenden Ich“ und dem „als Realitt Gesetzten“,30 nicht etwa eine bloß „real-
13
kausale Beziehung“ zwischen dem „Ich-Mensch“ und den Naturdingen.31 Das
14
„Objekt“ ist kein bloßes Naturding, sondern erscheint sinnhaft gemß der inten-
15
tionalen Beziehung. Es ist vermçge der „erfahrenen Eigenschaften“ und nicht
16
vermçge der „physikalischen“, dass das Objekt mich „reizt“. „Erfahrene Objek-
17
te der Umwelt“ „,wecken‘ ein Interesse“ in mir und „vermçge dieses Interesses
18
eine Tendenz der Zuwendung“.32 So beziehe ich mich intentional auf die Objek-
19
te.
20
Wenn ein Objekt mich zum Beispiel „zum Essen“ „reizt“ und ich nach ihm
21
greife, um es zu essen, ist das Objekt kein bloßes Naturobjekt, sondern mit
22
„Wertbeschaffenheiten“ „erfahren“ und „als Wertobjekt apperzipiert“.33 Ein
23
weiteres Beispiel: „Die schlechte Zimmerluft (die ich als solche erfahre) reizt
24
mich, das Fenster zu çffnen.“34 Wenn ein Objekt also sinnhaft mit Wertbeschaf-
25
fenheiten erscheint und als solches von mir erfahren ist, bt es auf mich „Beschf-
26
tigungsreize“. Ich werde auf diese Weise „motiviert zur Zuwendung, zur aufmer-
27
kenden“, und als „wollendes Subjekt“ beziehe ich mich auf das Objekt.35
28
Husserl beschreibt diesen Motivationszusammenhang wie folgt: „Das Subjekt
29
30 pflege eine andere Intentionalitt der Pflegehandlung zu finden ist, nach welcher man einen
31 knftig besseren Zustand des Patienten weder antizipiert noch intendiert, sondern den jetzigen
Patientenzustand akzeptiert und bei dem Patienten anwesend sein will. Diese Intentionalitt
32
richtet sich also nicht auf Knftiges und setzt sich kein Ziel in der Zukunft. Sie will vielmehr in
33 die Vergangenheit zurckblicken und einen Sinn oder eine sinnhafte Richtung im Prozess von
34 der Vergangenheit zur Gegenwart offenlegen.
28 Vgl. Hua IV, 215.
35 29 Ebd.
36 30 Ebd. 216.
31 Ebd. 215.
37
32 Ebd. 216.
38 33 Ebd. 216 f.
39 34 Ebd. 217; Hervorhebung vom Verfasser.

40 35 Ebd.
Die Intentionalitt der Pflegehandlung 257

1 ist Subjekt eines Leidens oder eines Ttigseins, passives oder aktives in Bezie-
2 hung auf die noematisch ihm vorliegenden Objekte, und korrelativ haben wir
3 von den Objekten ausgehende ,Wirkungen‘ auf das Subjekt. Das Objekt ,drngt
4 sich dem Subjekt auf‘, bt auf es Reize (theoretische, sthetische, praktische Rei-
5 ze), es will gleichsam Objekt der Zuwendung sein, klopft an die Pforte des Be-
6 wußtseins in einem spezifischen Sinne (nmlich dem des Zuwendens), es zieht
7 an, das Subjekt wird herangezogen, bis schließlich das Objekt Aufgemerktes ist.
8 Oder es zieht praktisch an, es will gleichsam ergriffen sein, es ladet zum Genusse
9 ein usw.“36
10 Der erste Anlass ist also eine vom Objekt ausgehende Wirkung auf das Sub-
11 jekt. Das Objekt geht mich etwas an, „drngt sich“ mir „auf“, „bt auf“ mich
12 „Reize“. Das ist gerade das, was Benner und Wrubel als „matter to“ bezeichnet
13 haben. Das Subjekt als Subjekt eines Leidens wird vom Objekt passiv affiziert
14 und erfhrt „Reize“ von ihm. Die Pflegeforschung lehrt uns aber, dass das Ob-
15 jekt, welches dem Subjekt am Herzen liegt und auf es Reize bt, manchmal noch
16 nicht noematisch artikuliert oder expliziert ist,37 obwohl Husserl hier nur von
17 den „noematisch ihm vorliegenden Objekte[n]“ spricht. Der Anfang ist jeden-
18 falls ein Am-Herzen-Liegen in dem Sinne, dass irgendein Objekt das Subjekt
19 etwas angeht. Das Subjekt wird somit „herangezogen“ und motiviert, sich ihm
20 zuzuwenden. Dann kann erst das Subjekt als „wollendes Subjekt“ „aktiv darauf
21 reagieren, zu einem Tun bergehen“,38 was jedoch Benner und Wrubel nicht hin-
22 reichend geklrt haben. Dieses „Tun“ ist, nach Husserl, ein „ich tue“, das in der
23 Vermçglichkeit des „ich kann“ gegrndet ist,39 und es „hat ein Ziel“ und zielt auf
24 dessen Verwirklichung.40
25 In der Nursingpraxis ist dies auch der Fall: Der Anfang der Pflegehandlung
26 besteht immer darin, dass ein Patient die Krankenpflegerin oder den Kranken-
27 pfleger etwas angeht und sich ihr bzw. ihm aufdrngt. Ihr bzw. ihm erscheint
28 der Patient mit einem (eventuell dringlichen) Anliegen, und diese sinnhafte, aber
29 manchmal nicht ausreichend artikulierte Erscheinung des Patienten bt Reize
30 auf die Krankenpflegerin bzw. den Krankenpfleger. Sie bzw. er wird affiziert
31 von dem Patienten, und der entsprechende aktive Wille zur Pflegehandlung
32 wird geweckt. Die Praxis der Krankenpflegerin oder des Krankenpflegers ist
33 eine Handlung oder eine Reihe von Handlungen des „ich tue“, das von den je-
34 weiligen fachlichen Kenntnissen, Fhigkeiten und bisherigen Erfahrungen unter-
35 sttzt wird, die ihre bzw. seine Vermçglichkeit des „ich kann“ konstituieren.
36
37 36 Ebd. 219 f.
38
37 Vgl. Anm. 49.
38 Hua IV, 217.
39 39 Ebd. 216.
40 40 Ebd. 217.
258 Tetsuya Sakakibara

1 Diese Pflegehandlung oder die Reihe von Pflegehandlungen hat ein „Ziel“, nm-
2 lich einen besseren Zustand des Patienten, und dieses Ziel, das schon bei dem
3 Ttigwerden des Willens zur Pflege auf Grund der Vermçglichkeit der Kranken-
4 pflegerin oder des Krankenpflegers, wenn auch in vager Weise, antizipiert ist
5 und im ganzen Prozess bewahrt bleiben soll, soll in der Nursingpraxis schritt-
6 weise verwirklicht werden.41
7 Auf Grund unserer Betrachtung im vorangegangenen Abschnitt kçnnen wir
8 Folgendes festhalten: In diesem Prozess der Pflegehandlung als wollendem Han-
9 deln kann der aktuelle Wille, je nach Wahrnehmung des Patientenzustandes und
10 des bisher in der Pflege Realisierten, manchmal modifiziert oder erneuert wer-
11 den. Aus der Wahrnehmung des schon Realisierten entquillt ein Wille hinsicht-
12 lich des brigen „noch zu Realisierenden“. Und dieser Wille zu einem zuknfti-
13 gen besseren Patientenzustand verleiht dem realisierten Zustand des Patienten
14 einen bestimmten Sinn. berdies kann bei diesem Prozess die Antizipation des
15 zu verwirklichenden Zieles selbst eventuell je nach Wahrnehmung des Patienten-
16 zustandes erneuert werden.42 Auf diese Weise erfolgt die Pflegehandlung bis
17 zum Endpunkt in dem Bewusstsein, dass der antizipierte und zu realisierende
18 Patientenzustand „vollbracht“ ist.
19
20
21
22
4. Was heißt das: Verstehen des Anderen und des Patienten?
23
24
Auf Grund der husserlschen phnomenologischen Analysen des Wollens, Han-
25
delns und der Motivation haben wir bisher die Struktur der Intentionalitt der
26
Nursingpraxis, besonders der Krankenpflegehandlung schrittweise aufgeklrt.
27
Die Pflege kann aber gar keine Pflege sein ohne ein Verstehen der gepflegten
28
Person. Grundstzlich kçnnen wir einen Anderen nie vçllig verstehen, da wir
29
keinen direkten Zugang zu dessen Bewusstsein haben. Das bedeutet aber nicht,
30
dass das Verstehen der gepflegten Person nicht relevant wre. Was heißt denn
31
das, Verstehen des Anderen, besonders der gepflegten Person? In der zweiten
32
Hlfte des Paragraphen 56 der Ideen II erlutert Husserl die Beziehung zwi-
33
schen der Motivation und dem Verstehen des Anderen. Dies werde ich nun auf
34
die Nursingpraxis anwenden. ber die „Apperzeption ,Mensch‘“ schreibt Hus-
35 41 Es ist deutlich, dass nun Benners und Wrubels Begriff des „caring“ – eine fundamentale
36 Seinsweise des Menschen, in der Dinge, Ereignisse und Personen uns „etwas angehen“ und wir
37 dadurch in sie und in die Welt „involviert“ werden – als diejenige Intentionalitt phnomenolo-
38 gisch aufgeklrt ist, in der das Subjekt von einer sinnhaften Erscheinung des (noematischen)
Gegenstandes passiv affiziert wird, motiviert ist und dann als wollendes auf das antizipierte
39 Ziel hin aktiv handeln will.
40 42 Vgl. auch Anm. 23.
Die Intentionalitt der Pflegehandlung 259

1 serl zunchst Folgendes: „Wir wissen schon aus der Selbsterfahrung, daß eine
2 doppelte mçgliche Auffassung darin impliziert ist: die als Naturobjekt und die
3 als Person. Das gilt auch fr die Betrachtung anderer Subjekte. Gemeinsam ist
4 beiderseits die Gegebenheit des Nebenmenschen durch Komprehension, aber
5 diese fungiert hier und dort verschieden. Einmal ist das Komprehendierte Na-
6 tur, das andere Mal Geist; einmal ist fremdes Ich, Erlebnis, Bewußtsein introjek-
7 tiv gesetzt, aufgebaut auf die Grundauffassung und Setzung materieller Natur,
8 aufgefaßt als von ihr funktionell Abhngiges, ihr Anhngendes. Das andere Mal
9 ist das Ich als Person, als ,schlechthin‘ gesetzt und damit gesetzt als Subjekt sei-
10 ner personalen und dinglichen Umgebung, als durch Verstndnis und Einver-
11 stndnis auf andere Persçnlichkeiten bezogen, als Genosse eines sozialen Zusam-
12 menhangs, dem eine einheitliche soziale Umwelt entspricht.“43
13 Hieraus schließt Husserl, dass das Verstehen des Anderen nichts anderes ist
14
als das Verstehen derjenigen „Motivationen“, die die betreffende Person als „Per-
15
son“ hat.44 In der Nursingpraxis entspricht der Auffassung des Menschen als Na-
16
turobjekt die medizinische Betrachtung des Patienten als „kranker“ (diseased)
17
Menschenleib. In der Tat sehen die rzte den Patienten grundstzlich als Men-
18
schenleib, der ein funktionelles Aggregat der Organe ist.45 Der Patient ist aber
19
als „Person“, als „Subjekt seiner personalen und dinglichen Umgebung“, durch
20
die Umgebung motiviert und erfhrt seine „Krankheit“ (disease) sinnhaft als
21
„Leiden“ (illness).46 Das Verstehen des Patienten ist nichts anderes als ein Verste-
22
hen seiner „Motivationen“ oder seines Motivationszusammenhangs.
23
Selbstverstndlich ist der medizinische Gesichtspunkt unentbehrlich fr die
24
Krankenpflege. Pflege kann gar keine Krankenpflege sein ohne ihn. Aber im Un-
25
26
terschied zu den rzten, die ihren Blick hauptschlich auf die Organe des Patien-
27
ten richten und versuchen, die Krankheit (disease) als deren Dysfunktion zu be-
28
handeln, wollen die Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger sowohl die
29 Krankheit des Patienten als auch seine Erfahrung der Leiden verstehen. Sie ver-
30 stehen den Patienten als vollstndige Person, die durch ihre personalen und ding-
31 lichen Umgebungen motiviert ist und die Krankheit als ein sinnhaftes Leiden
32 erfhrt, und versuchen, ihn zu umsorgen. Es ist nmlich eine Eigentmlichkeit
33 der Krankenpflege, dass sie nicht auf ein bloßes Kurieren reduziert werden
34
35 43 Hua IV, 228 f.
36 44 Vgl. ebd. 228.
45 Vgl. S. Kay Toombs: The meaning of illness. A phenomenological account of the diffe-
37
38 rent perspectives of physician and patient. Dordrecht 1993.
46 Zum Unterschied zwischen „disease“ und „illness“ vgl. Arthur Kleinman: The illness
39 narratives. Suffering, healing, and the human condition. New York 1988. 3 ff.; vgl. auch PC,
40 xii, 8 – 9.
260 Tetsuya Sakakibara

1 kann.47 Jetzt ist es klar, dass sowohl die „naturalistische Einstellung“ der medizi-
2 nischen Auffassung des Patienten als „Naturobjekt“ als auch die „personalisti-
3 sche Einstellung“ der Auffassung des Patienten als „Person“ fr die Kranken-
4 pflege notwendig sind, und dass die Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger
5 je nach Bedarf die beiden Einstellungen abwechseln sollten. Die personalistische
6 Einstellung der Auffassung des Patienten als Person und das Verstehen seiner
7 Motivationen sind jedoch fr die Krankenpflege wesentlich und unentbehrlich.
8 Wenn man versucht, einen Anderen als Person und seine Erlebnisse und Moti-
9 vationen zu verstehen, ist die verbale Kommunikation nicht das einzige Mittel.
10 Es kçnnte ja einen Patienten geben, der nicht mehr sprechen kann und wegen
11 der Schmerzen nur das Gesicht verzieht. Husserl schreibt dazu: „Ich hçre den
12 Anderen sprechen, sehe sein Mienenspiel, lege ihm die und die Bewußtseinser-
13
lebnisse und Akte ein und lasse mich dadurch so und so bestimmen. Das Mienen-
14
spiel ist gesehenes Mienenspiel und ist unmittelbar Sinnestrger fr das Bewußt-
15
sein des Anderen, darunter z. B. fr seinen Willen, der in der Einfhlung
16
charakterisiert ist als wirklicher Wille dieser Person und als an mich durch seine
17
Mitteilung adressierter Wille. Dieser so charakterisierte Wille nun, bzw. das ein-
18
fhlende und dabei in der Weise der Einfhlung setzende Bewußtsein von die-
19
sem Willen, motiviert mich in meinem Gegenwillen, in meinem Mich-unterwer-
20
fen etc. Von einer Kausalbeziehung […] ist keine Rede und ebensowenig von
21
irgendwelchen anderen psychophysischen Beziehungen. Die Mienen des Ande-
22
ren bestimmen mich (schon das ist eine Art der Motivation), an sie einen Sinn im
23
Bewußtsein des Anderen zu knpfen. Und die Miene ist eben die gesehene Mie-
24
25
ne, die ich sehend ebensowenig in kausale Beziehungen zu meinem Sehen, mei-
26
nen Empfindungen, Erscheinungen etc. bringe wie bei irgendwelchem schlich-
27 ten sinnlichen Wahrnehmen sonst.“48
28 Hier spricht Husserl von dem Fall, dass ich den Anderen sprechen hçre. Der
29 Kontext aber zeigt, dass es ebenso gilt fr den Fall: „Ich hçre den Anderen nicht
30 sprechen.“ Wenn auch der „Andere“ nicht spricht oder sogar nicht mehr spre-
31 chen kann, ist sein „Mienenspiel“ noch unmittelbar „Sinnestrger“ fr sein „Be-
32 wußtsein“, z. B. fr „seinen Willen“. Der Wille des Anderen, der „als an mich
33 durch seine Mitteilung adressierter Wille“ erfahren ist, affiziert mich und „moti-
34 viert mich in meinem Gegenwillen, in meinem Mich-unterwerfen“. berdies ist
35 das Mienenspiel „gesehenes Mienenspiel“, das ich auf verschiedene Weise erfasse
36 gemß meinen bisherigen Erfahrungen und meinen Vermçglichkeiten des „ich
37
47 Benner und Wrubel behaupten: „Nurses are in the unique position of being able to under-
38
stand both the disease experience and the meanings that the patient brings to that experience.“
39 (PC, 62.)
40 48 Hua IV, 235.
Die Intentionalitt der Pflegehandlung 261

1 kann“. In der Nursingpraxis wird die Intention einer Pflegehandlung geweckt


2 von einem „Sinn“ oder „Willen“, der „unmittelbar“ aus Mienenspielen oder an-
3 deren Ausdrcken des Patienten hervorgeht. Die Ausdrcke des Patienten beste-
4 hen nicht nur im Mienenspiel, sondern auch im Ton in der Stimme, dem Atmen,
5 Gebrden, Verhalten usw. Die Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger wr-
6 den aber diese Ausdrcke des Patienten je nach ihren medizinischen Kenntnis-
7 sen und bisherigen Erfahrungen und Fhigkeiten der Krankenpflege auf ver-
8 schiedene Weise deuten, eine Expertin oder ein Anfnger sie vielleicht ganz
9 unterschiedlich auffassen. Wie im dritten Abschnitt diskutiert, liegt der Anfang
10 immer darin, dass der Patient die Krankenpflegerin oder den Krankenpfleger
11 etwas angeht. Ihr bzw. ihm erscheint der Patient mit einem (eventuell dringli-
12 chen) Anliegen, und diese sinnhafte Erscheinung des Patienten bt Reize und
13 motiviert sie bzw. ihn zur Pflege. Sie oder er wird zum Patienten „herangezo-
14 gen“, und dann wird ein aktiver Wille zur Pflegehandlung geweckt. Nun haben
15 die obigen berlegungen gezeigt, dass der Patient gerade in seinen verschiede-
16 nen Ausdrcken sinnhaft der Krankenpflegerin oder dem Krankenpfleger er-
17 scheint.49 Obwohl diese Ausdrcke nun gemß den jeweiligen medizinischen
18 Kenntnissen, bisherigen Erfahrungen und Fhigkeiten auf verschiedene Weise
19 gedeutet werden, ist es doch der so unmittelbar entnommene Sinn oder Wille
20 des Patienten, der die Krankenpflegerin oder den Krankenpfleger affiziert und
21 zur Pflegehandlung motiviert. Hierbei hat sie bzw. er das „Ziel“ eines besseren
22 Patientenzustandes, wenn auch in vager Weise, im Vorblick, und diese Antizipa-
23 tion wird durch die entsprechende Vermçglichkeit des „ich kann“, d. h. durch
24 die in ihren bzw. seinen bisherigen Handlungen erworbenen Kenntnisse und F-
25 higkeiten zustande gebracht.50 Auf diese Weise wird der Wille zu einem antizi-
26 pierten zuknftigen Patientenzustand in der Pflegehandlung oder einer Reihe
27 von Pflegehandlungen schrittweise verwirklicht.
28
29
30
31
32
33
49 Der dem Mienenspiel oder anderen Ausdrcken des Patienten entnommene Sinn erfolgt
34
35 aber nicht immer in Form des Noema, das explizit als „X(a, b, c …)“ artikuliert werden kann
(vgl. Hua III/2, 514). Es kann vielmehr auch solche Flle geben, in denen ein vorprdikativer
36 Sinn, der weder artikuliert noch expliziert, doch sehr dringlich ist, den Ausdrcken des Patien-
37 ten entnommen wird und dieser Sinn die Krankenpflegerin oder den Krankenpfleger moti-
38 viert, augenblicklich zu handeln. Zu einem Beispiel, in dem ein Patient, der unter der Tropfen-
injektion litt, „plçtzlich tobte“ und die Krankenpflegerinnen ihn „augenblicklich
39 niederdrckten“, vgl. Nishimura, Sakakibara: Kango-jissen no Kozo.
40 50 Vgl. auch Anm. 23.
262 Tetsuya Sakakibara

1 5. Intentionalitt der „Alle“


2
3 Wenn die Patienten den Krankenpflegerinnen und Krankenpflegern gemß ih-
4 ren Erfahrungen, Kenntnissen und Fhigkeiten auf verschiedene Weise erschei-
5 nen und sie ganz unterschiedlich zu einer Pflegehandlung motivieren, wie ist es
6 dann aber mçglich fr sie, zusammenzuarbeiten? Denn Pflegehandlung im
7 Krankenhaus ist zumeist eine Zusammenarbeit mit rzten und anderen Kran-
8 kenpflegerinnen und Krankenpflegern. Wie kann das „Ziel“ eines besseren Pati-
9 entenzustandes mit anderen Kolleginnen und Kollegen gemeinsam antizipiert
10 und beibehalten werden?
11 Hierzu mçchte ich zunchst nicht direkt auf Husserls Texte eingehen, son-
12 dern von den Sachen selbst her denken und deshalb die Ergebnisse der Forschun-
13 gen einer japanischen ausgezeichneten Nursing-Wissenschaftlerin, Yumi Nis-
14 himura, ber die Struktur der Nursingpraxis darlegen.51 Nishimura fhrt ein
15 Interview mit sechs erfahrenen Krankenpflegerinnen und gibt in ihrer Analyse
16 die Rede einer Krankenpflegerin „D“ wieder, die etwa 10 Jahre lang im Kranken-
17 haus gearbeitet, dann sechs Jahre die Arbeit unterbrochen hat und anschließend
18 wieder zu derselben Arbeitsstelle im Krankenhaus zurckgekehrt ist:
19 D: „Am Anfang [des Wiedereintritts] […] konnte ich gar nicht die Patienten
20 verstehen, da ich 6 Jahre gar kein ,Denken im Handeln‘ gemacht hatte. Jede In-
21 formation [ber die Patienten] gelangte zu mir in zerstreuter Weise, und ich
22 konnte sie gar nicht integrieren. […] Jedoch wurde ich aufgefordert, die Rolle
23 einer Fhrerin [eines Krankenpflegeteams] zu bernehmen, und ich musste es
24 akzeptieren. […] Dann, etwa nach zwei oder drei Monaten, ist der Augenblick
25 gekommen, in dem sich alle Informationen ineinander fgten: ein Augenblick
26 ,Jetzt geht es!‘ Wahrscheinlich war das ein solcher Augenblick, den ich einmal
27 [noch vor der sechsjhrigen Arbeitsunterbrechung] als Fhrerin erfahren hatte:
28 ein Augenblick, in dem ich beim Eintritt ins Krankenzimmer alles berblicken
29 konnte, welches mich veranlasste zu fhlen, dass Fhrerin zu sein eine schçne
30 Rolle ist.“
31 Nishimura referiert anschließend die Rede, die die Krankenpflegerin „D“ ge-
32 halten hat, nachdem Nishimura ihr entgegnet hatte, dass eine solche „Rckkehr
33 des Gefhls“ des „Alles-wieder-berblicken-Kçnnens“ sehr interessant sei.
34 D: „Ja, stimmt. Es war wirklich ein Gefhl! Der Augenblick, in dem ich mich
35 berzeugt habe, dass es endlich gut gegangen ist, war ein Moment, in dem ich, in
36 ein Krankenzimmer eintretend, hinsichtlich eines Patienten gefhlt habe: Der
37 ist merkwrdig! Es wre wohl ein natrliches und notwendiges Gefhl, das alle
38 htten[, wenn sie den Patienten shen]. Da war ich aber zum ersten Mal in dieses
39
40 51 Vgl. Nishimura, Sakakibara: Kango-jissen no Kozo.
Die Intentionalitt der Pflegehandlung 263

1 Krankenzimmer eingetreten, und ein Patient ist [vielleicht nach einer Operati-
2 on] ins Krankenzimmer zurckgekommen, und ich habe gefhlt, dass dieser Pa-
3 tient irgendwie merkwrdig ist [obwohl ich den Patienten zum ersten Mal gese-
4 hen habe]. So habe ich [eine Kollegin, die bisher den betreffenden Patienten
5 gepflegt hat,] gefragt: ,Findest Du nicht jenen Patienten merkwrdig?‘ Ihre Ant-
6 wort lautete: ,Doch. Stimmt. Er sieht ganz normal aus, ist aber super-merkwr-
7 dig!‘ Sie hat dann so und so erklrt. Aha, er ist doch merkwrdig! Als ich so
8 gedacht habe, habe ich mich ganz davon berzeugt, dass mein Gefhl vollstn-
9 dig zurckgekehrt ist.“
10 Diese Reden von D analysiert Nishimura auf folgende Weise: „Was hier zu
11 beachten ist, ist die Tatsache, wie sich die Krankenpflegerin D davon berzeugt
12 hat, dass es ihr endlich gut gegangen ist, d. h. dass ihr Gefhl, das sie vor der
13 sechsjhrigen Arbeitsunterbrechung hatte, zurckgekehrt ist. Als D in das Zim-
14 mer eines Patienten, den sie bis dahin nicht gepflegt hatte, eintrat, hat sie so-
15 gleich gefhlt, dass der Patient merkwrdig ist. D charakterisiert dieses Gefhl
16 als ,wohl ein natrliches und notwendiges Gefhl, das alle htten‘, und D hat
17 eine mit ihr arbeitende Krankenpflegerin befragt, und ihr eigenes Gefhl wurde
18 von dieser besttigt. Dadurch, dass D dabei wirklich so gefhlt hat wie alle, hat
19 sich D davon berzeugen lassen, dass es ihr endlich gut gegangen ist. ,Ein natrli-
20 ches und notwendiges Gefhl, das alle htten‘, hat D auch gefhlt – das wurde
21 hier von D in dem Sinne erfahren, dass ein Gefhl der Expertin zurckgekehrt
22 ist. Aus diesen Analysen kann man wohl entnehmen, dass D und auch die ande-
23 ren Krankenpflegerinnen in ihrer Krankenpflege ihre Ansicht oder Perspektive
24 ber die Patientenzustnde jeweils mit der Ansicht der ,Alle‘ verglichen und,
25 indem sie sich ihre jeweiligen Differenzen klargemacht haben, ihre eigene, doch
26 mit den anderen bereinstimmende Ansicht konstituiert haben.“
27 Auf Grund dieser Analysen Nishimuras kçnnen wir jetzt Folgendes festhal-
28 ten: Die erfahrenen Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger beobachten den
29 Patientenzustand zwar aus ihrer eigenen Perspektive, sorgen sich aber immer
30 darum, wie die anderen Kolleginnen und Kollegen denselben Zustand sehen
31 oder fhlen, und eignen sich damit schon die Ansicht der „Alle“ an. Die erfahre-
32 nen Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger wissen also, dass die Ansicht der
33 „Alle“ schon in ihrer eigenen Perspektive impliziert ist. Natrlich kçnnen An-
34 fnger die jeweilige Lage nicht so einschtzen wie Erfahrene. Aber auch sie mss-
35 ten wissen oder zumindest fhlen, dass sie eine solche Ansicht der „Alle“ noch
36 nicht haben, und mssten daher jeweils in Erfahrung bringen, wie die Erfahre-
37 nen den Zustand sehen, um mit ihnen gut zusammenzuarbeiten. In diesem Sinne
38 kann man wohl sagen, dass eine Ansicht der „Alle“ auch in der Perspektive einer
39 gerade erst anfangenden Krankenpflegerin, wenn auch nur in antizipierter Wei-
40 se, impliziert ist.
264 Tetsuya Sakakibara

1 Nun kehren wir zu Husserls Text zurck, den wir jetzt, so hoffe ich, leichter
2 verstehen kçnnen: „Wie das Einzelsubjekt seine Umwelt mit offenen Horizon-
3 ten hat, so hat eine kommunizierende Subjektvielheit eine gemeinsame Umwelt
4 als die ,ihre‘. Jeder einzelne hat seine Sinnlichkeit, seine Apperzeptionen und
5 bleibenden Einheiten; die kommunizierende Vielheit hat gewissermaßen auch
6 eine Sinnlichkeit, eine bleibende Apperzeption und als Korrelat eine Welt mit
7 einem Unbestimmtheitshorizont. Ich sehe, ich hçre, ich erfahre nicht nur mit
8 meinen Sinnen, sondern auch mit denen des Anderen, und der Andere erfhrt
9 nicht nur mit seinen, sondern auch mit meinen Sinnen; […] Und das ist nicht
10 bloß eine objektive Rede, sondern eine Bewusstseinstatsache, fr mich und fr
11 jeden Anderen, etwas, was fr mich bestndig wirksam ist in meinem Verhalten,
12 schon in dem [Verhalten] in der Sphre meiner Passivitt, meiner Affektion und
13 bloßen Rezeption. Wir richten uns alle danach in unserem sinnlichen Leben, wir
14 richten uns nach ,unseren‘ […] Erfahrungen.“52
15 Diese Beschreibung Husserls kçnnen wir jetzt mit der Nursingpraxis der mit-
16 einander kooperierenden Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger in Bezie-
17 hung setzen: Eine kommunizierende und miteinander zusammenarbeitende Sub-
18 jektvielheit der Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger hat im Krankenhaus
19 eine gemeinsame Arbeitswelt als die „ihre“. Jedes Mitglied dieser Subjektviel-
20 heit hat seine Sinnlichkeit, seine Apperzeptionen und bleibenden Einheiten und
21 Fhigkeiten; aber die kommunizierende und miteinander zusammenarbeitende
22 Vielheit der Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger hat auch eine Sinnlich-
23 keit, eine bleibende Apperzeption und als Korrelat eine Arbeitswelt mit einem
24 Unbestimmtheitshorizont. Ich sehe, ich hçre, ich erfahre nicht nur mit meinen
25 Sinnen, sondern auch mit denen der Kolleginnen und Kollegen. Diese Intentio-
26 nalitt fungiert nicht nur in der Sphre der Aktivitt, sondern schon in der der
27 Passivitt. Auf diese Weise richten sich die miteinander zusammenarbeitenden
28 Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger jeweils nach „unserer“ Ansicht der
29 „Alle“ und kçnnen gemeinsam das unverndert gebliebene „Ziel“ eines besseren
30 Patientenzustandes antizipieren, beibehalten oder, falls erforderlich, erneuern.
31 Aber wie konstituiert sich eine gemeinsame Sinnlichkeit, eine bleibende Ap-
32 perzeption und „unsere“ Ansicht der „Alle“ in concreto? Das hat Husserl im
33 oben zitierten Text nicht hinreichend geklrt. Wir hatten aber zuvor auf Grund
34 der Arbeit Nishimuras Folgendes diskutiert: Die Krankenpflegerinnen beobach-
35 ten den Patientenzustand zwar aus ihrer eigenen Perspektive, sorgen sich aber
36 immer darum, wie ihre Kolleginnen denselben Zustand sehen, und dadurch eig-
37 nen sie sich allmhlich, und zwar teils sogar passiv, die Ansicht der „Alle“ an. In
38 ihrer Nursingpraxis vergleichen sie ihre eigene Perspektive jeweils mit der so
39
40 52 Hua XIV, 197.
Die Intentionalitt der Pflegehandlung 265

1 konstituierten Ansicht der „Alle“ und, indem sie sich ihre jeweiligen Differen-
2 zen klarmachen, konstituieren und erneuern sie ihre eigene, doch gemeinsame
3 Ansicht. Es scheint mir, dass diese Genesis der Intentionalitt nicht nur fr die
4 Nursingpraxis, sondern mutatis mutandis auch fr eine andere soziale Kommu-
5 nikation oder Erfahrung der Subjektvielheit gelten kann.
6
7
8 6. Schluss
9
10 Der Ausgangspunkt dieser berlegungen bestand darin, die Aufmerksamkeit
11 zu lenken auf Benners und Wrubels Begriff des „caring“ als „fundamentale
12 Seinsweise“ des Menschen, in der Dinge, Ereignisse und Personen uns „etwas
13 angehen“ und wir dadurch in sie und in die Welt „involviert“ werden. Der erste
14 Anlass zur Pflegehandlung ist zwar immer, dass uns jemand „etwas angeht“,
15 aber wir haben, auf Husserls Analysen des Wollens, des Handelns und der Moti-
16 vation referierend, einige sich daran anschließende Aspekte der Aktivitt bei
17 Pflegehandlungen aufgeklrt, die Benner und Wrubel nicht hinreichend offenge-
18 legt haben.
19 Offensichtlich ist die Tragweite des Begriffs der „Pflege“ sehr groß. Selbst im
20 Bereich der Nursingpraxis wird Pflege sehr verschieden ausgebt, je nachdem,
21 ob die Krankheit des Patienten chronisch oder akut ist, und je nachdem, ob sie
22 noch behandelbar ist oder nicht. Dieser Beitrag konnte nur einige Momente der
23 intentionalen Struktur der Krankenpflegehandlung offenlegen, nmlich der ge-
24 wnschten und zu realisierenden Pflegehandlung, und zwar auf der Grundlage
25 der phnomenologischen Analyse Husserls. In einer spteren Untersuchung
26 werde ich noch auf die Analyse der Intentionalitt bei einer ganz bestimmten
27 Pflegehandlung eingehen, genauer gesagt, auf die Pflege eines Dialysepatienten.
28 Das kçnnte vielleicht dazu fhren, weitere Aspekte der Intentionalitt des Wol-
29 lens und Handelns, die Husserl nicht hinreichend erklrt hat, zu entdecken.
30 Dann wird eine Phnomenologie der Pflege von den Sachen selbst her neu entwi-
31 ckelt werden, und das wird uns dazu motivieren, die bestehende Phnomenolo-
32 gie zu modifizieren. Ich hoffe, dass dies zu einer Weiterentwicklung der Phno-
33 menologie selbst fhren kann.
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1 Daniel Schmicking
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3
4 Zur Phnomenologie interpersonellen Handelns und Bewusstseins
5
Eine exemplarische Analyse der Improvisation im Jazz1
6
7
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9
10 I. Einleitung
11
12 Die Neurowissenschaft hat das Musizieren als ein Fenster auf komplexe integra-
13 tive Hirnprozesse entdeckt. Sowohl das intrapersonale motorische Planen und
14 Handeln der Musiker als auch ihre sensomotorische, nonverbale Koordination
15 bzw. Kommunikation untereinander bilden aufschlussreiche Modelle des Han-
16 delns und Interagierens berhaupt. Inzwischen sind erste Experimente zur Er-
17 forschung der beteiligten Hirnareale und der unterliegenden neuralen Codes
18 durchgefhrt worden.2 Es gibt aber bislang kaum Gerte und Verfahren, die zur
19 Untersuchung mehrerer in komplexen Situationen miteinander interagierender
20 Personen geeignet sind. Auch nach eigener Einschtzung der Experimentatoren
21
sind die Ergebnisse aus diesen Experimenten noch mit der gebotenen Vorsicht
22
zu interpretieren.3 Trotzdem scheint sich hier eine der wichtigsten zuknftigen
23
Entwicklungen hin zu interzerebralen Versuchsanordnungen und Theorien an-
24
zukndigen.4 Die erfolgreiche Beantwortung vieler offener Fragen wird vor al-
25
lem abhngig sein von der Entwicklung angemessener Verfahren: der geeigneten
26
Technologie, çkologisch valider Designs und der Instrumente zur statistischen
27
Auswertung.
28
29 1 Fr die zahlreichen wertvollen Hinweise und Anregungen zu diesem Beitrag danke ich

30 herzlich Angelika Hagen (Wien), Andreas Schreiber (Linz/Wien) und Klaus Sellge (Kçln). Lei-
31 der kann ich in diesem Rahmen nicht alle Anmerkungen angemessen bercksichtigen. Fr anre-
gende Gesprche danke ich ferner Han-An Liu und Oliver Schwarz (beide Kçln). Fr wertvol-
32
le redaktionelle Hinweise danke ich Dirk Fonfara, Dieter Lohmar und Klaus Sellge.
33 2 Besonders interessant, da in relativ realistischen Situationen interagierende Musiker unter-

34 sucht wurden, sind Ulman Lindenberger u. a.: Brains swinging in concert. Cortical phase syn-
35 chronization while playing guitar. In: BMC Neuroscience 10 (2009). Article 22.; Johanna Sn-
ger u. a.: Intra- and interbrain synchronization and network properties when playing guitar in
36 duets. In: Frontiers in Human Neuroscience 6 (2012). Article 321.
3 Vgl. Snger u. a.: Intra- and interbrain synchronization. 13.
37
4 Riitta Hari, Miiamaaria V. Kujala: Brain basis of human social interaction: From con-
38
cepts to brain imaging. In: Physiological Reviews 89 (2009). 453 – 479. Vgl. auch Uri Hasson
39 u. a.: Brain-to-brain coupling: a mechanism for creating and sharing a social world. In: Trends
40 in Cognitive Sciences 16 (2012). 114 – 121.

Phnomenologische Forschungen 2013 ·  Felix Meiner Verlag 2013 · ISSN 0342-8117


268 Daniel Schmicking

1 Die in den Experimenten zur interpersonellen Handlungskoordination unter-


2 suchten Phnomene bestehen primr in der Synchronisation zerebraler wie fein-
3 motorischer Aktivitten. Dabei bilden sich auch ber die Grenzen der individu-
4 ellen Organismen bzw. Gehirne hinaus Systemeigenschaften, die neuronale
5 Korrelate von Momenten gesteigerter Koordination bilden. Musikalische Empa-
6 thie findet jedoch – zumindest bei gelungenem Zusammenspiel – nicht nur wh-
7 rend solcher Momente statt, die besondere Koordination erfordern und in de-
8 nen es klare Rollenverteilungen gibt, sondern whrend des gesamten Stcks.
9 Lngere Passagen, die zudem alle Aspekte des Zusammenspiels bercksichtigen
10 wrden, etwa auch beim Improvisieren, kçnnen zumindest vorerst noch nicht
11 mit den Mitteln der Neurowissenschaft untersucht werden. Ein wichtiger Bei-
12 trag zum Verstndnis des gemeinsamen Musizierens kann jedoch auch von ganz
13 anderer Seite geleistet werden: aus der Erfahrung der Musiker selbst. Aus ihrer
14 Perspektive sollten zunchst diejenigen Phnomene erfasst und beschrieben wer-
15
den, die fr diese Formen sozialer Interaktion wesentlich sind, und die sich dann
16
eventuell (zuknftiger) experimenteller Erforschung als Explikanda anbieten.
17
Hierbei kann die Phnomenologie eine entscheidende Rolle spielen, und daher
18
soll der vorliegende Text zur Deskription des gemeinsamen Musizierens beitra-
19
gen.
20
Bereits 1951 hatte Alfred Schtz in einem noch heute weit ber die Fachgren-
21
zen hinaus rezipierten Aufsatz5 das gemeinsame Musizieren als paradigmati-
22
schen Fall analysiert, um Aufschluss ber die mutual tuning-in relationship zu
23
erhalten, die seiner Auffassung nach allen Formen der Kommunikation zugrun-
24
de liegt. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist, anknpfend an Schtz, zu-
25
nchst die Typen intentionaler Akte zu erfassen, die im Wesentlichen das gemein-
26
27
same Musizieren in einer Face-to-Face-Situation ermçglichen (II), um dann
28
detaillierter dasjenige Phnomen zu analysieren, das in Form eines partiellen Ver-
29
schmelzens individueller Erlebnisstrçme die enge Interaktion im gemeinsamen
30 Improvisieren charakterisiert (III). Dabei wird sich dieses Verschmelzen nicht
31 als ein monolithisches, kategoriales Phnomen, sondern als graduelle, durch
32 mehrere Momente charakterisierbare Dimension des interpersonellen Erlebens
33 bzw. musikalischen Handelns erweisen. Um die zugrunde liegenden Deskriptio-
34 nen zu begrenzen, berschaubar und nachvollziehbar zu machen, konzentriert
35 sich die vorliegende Studie auf den Jazz, vornehmlich seinen Mainstream, in
36 dem improvisatorisches Interagieren dominiert. Hierzu werden eigene Deskrip-
37
38 5 Alfred Schtz: Making music together. A study in social relationship. In: Ders.: Collec-
39 ted papers. Vol. II. Studies in social theory. Hrsg. von Arvid Brodersen. Den Haag 1964. 159 –
40 178. Der Aufsatz erschien zuerst in: Social Research 18 (1951). 67 – 97.
Zur Phnomenologie interpersonellen Handelns und Bewusstseins 269

1 tionen durch empirische Arbeiten ergnzt.6 Abschließend soll ansatzweise die


2 Frage beantwortet werden, warum im Alltag ein solches Verschmelzen tendenzi-
3 ell wenig wahrgenommen wird, und warum es fr eine adquate Theorie der
4 Intersubjektivitt von Bedeutung ist (IV).
5
6
7
8 II. Schtz’ mutual tuning-in relationship
9
10 Dem Kern der schtzschen Analyse des gemeinsamen Musizierens liegt als Mo-
11 dell die westliche, so genannte Klassische Musik zugrunde: Die Folge der einzel-
12 nen Klangereignisse des Werks wird hier durch eine Partitur vorgegeben. Diese
13 existiert als Noema des Komponisten, aber sie wird auch als ein solches Noema
14 durch den beholder konstituiert (bei Schtz: Spieler, Hçrer und Partitur-Leser).
15 Der beholder erzeugt im Nachvollziehen der polythetischen sinnkonstituieren-
16 den Serie des inneren Zeiterlebens des Komponisten eine Quasi-Gleichzeitig-
17 keit mit Letzterem.7 Die Auffhrenden vermitteln zwischen dem Komponisten
18 und den Hçrern. Sie nehmen damit teil am Bewusstseinsstrom nicht nur des
19 Komponisten, sondern auch der Hçrer. Musiker und Hçrer sind aufeinander
20 eingestimmt (tuned-in), sie leben im selben Fluss musikalischer Ereignisse. –
21 Dies gilt vor allem fr Hçrer, die letztlich den musikalischen Sinn des Werks
22 ebenso zu adquater Evidenz bringen wie die Auffhrenden; Flle, in denen ein
23 Publikum irritiert oder provoziert wird mittels Durchstreichung seiner hori-
24 zontmßigen Erwartungen, sind damit allerdings weniger gut zu erfassen, eben-
25 so Flle, in denen die Syntax des Gehçrten unbekannt ist.8
26 Schtz unterscheidet drei Zeitformen beim gemeinsamen Musizieren: die in-
27 nere, die ußere und eine gemeinsame, die abgeleitet ist aus der lebendigen Ge-
28 genwart, die von den Interagierenden geteilt wird. Whrend Schtz die Akte der
29 Hçrer als eine innere Aktivitt betrachtet, fgen sich die Handlungen der Auf-
30 fhrenden in die ußere Welt ein, und damit in die verrumlichte ußere Zeit.9
31
6 Vikariierende Erfahrung, wie sie die vorliegende Untersuchung nutzt, haben bereits klas-
32
sische Phnomenologen als wichtige Quelle zur Ergnzung und Korrektur der eigenen Analy-
33 se angefhrt. Vgl. etwa Herbert Spiegelberg: Doing phenomenology. Essays on and in pheno-
34 menology. Den Haag 1975. 35 – 53.
7 Vgl. Schtz: Making music. 173. Diese Annahme ist stark idealisierend, indem sie voraus-
35
setzt, dass es bereits fr den Komponisten genau eine verbindliche Realisation der Partitur
36 geben muss, die zudem der beholder (im Horizont seines Kontextwissens) der Partitur entneh-
37 men kçnnen muss. Diese Punkte werden hier nicht diskutiert, da sie in hermeneutische Fragen
38 und solche der Ontologie des Werks und der Werktreue fhren.
8 Ich danke besonders Angelika Hagen und Andreas Schreiber, die mich auf diesen Punkt
39 aufmerksam gemacht haben.
40 9 Schtz: Making music. 175.
270 Daniel Schmicking

1 Die Handlungen eines Musikers sind also nicht nur durch die Gedanken des
2 Komponisten und seine Beziehung zu den Zuhçrern orientiert, sondern ebenso
3 durch seine Wahrnehmung der Mitmusiker. Er muss seinen Part interpretieren,
4 aber ebenso die Interpretation der Partitur durch seine Mitspieler antizipieren
5 und deren Antizipationen seiner eigenen musikalischen Gesten bercksichtigen:
6 „He [the performer, D.S.] has not only to interpret his own part […], but he
7 has also to anticipate the other player’s interpretation of his – the Other’s – part
8 and, even more, the Other’s anticipations of his own execution. […]. Both share
9 not only the inner dure in which the content of the music played actualizes
10 itself; each, simultaneously, shares in vivid present the Other’s stream of cons-
11 ciousness in immediacy.“10
12 Ermçglicht werde dieses unmittelbare Teilnehmen am Bewusstseinsstrom
13 des Anderen durch die echte Face-to-Face-Beziehung der miteinander Musizie-
14 renden. Gesichts- und Kçrperausdruck, alle Bewegungen werden aufgefasst als
15 Indikationen der weiteren musikalischen Gesten bzw. ihrer Intentionen.
16 Nach Schtz liegt also dem gemeinsamen Musizieren eine komplexe Ver-
17 schrnkung von Zeitformen zugrunde: 1. Mein subjektives Erleben verbindet
18 sich in Quasi-Gleichzeitigkeit mit dem Sinn der Partitur, der in innerer Zeit gege-
19 ben ist. Parallel geschieht das auch zwischen allen Mitmusizierenden und Hç-
20 rern. 2. Mein Erleben koppelt sich mit den Gesten bzw. Klngen meiner Mitmu-
21 sizierenden in der ußeren Zeit, in der wir alle unsere Gesten bzw. Klnge
22 wahrnehmen und koordinieren. 3. Darber hinaus kommt es zu einer Form par-
23 tiellen Verschmelzens: Ich erlebe unmittelbar die musikalischen Intentionen der
24 Anderen, nicht bloß ihre physikalischen Bewegungen in der ußeren Zeit. In le-
25 bendiger Gegenwart teile ich die Bewusstseinsstrçme der Anderen und umge-
26 kehrt.
27 Hinsichtlich der fundierenden sozialen Beziehung und der zeitlichen Dimen-
28 sionen des Musizierens sieht Schtz keinen prinzipiellen Unterschied zwischen
29 der Klassischen Musik, einer Jazzimprovisation oder Liedern, die Laien am La-
30 gerfeuer oder im Gottesdienst singen. Diese Generalisierung ist nicht unproble-
31 matisch. Schtz’ Annahmen auf der Basis komponierter Klassischer Musik tref-
32 fen so z. B. nicht auf freie Improvisation zu. Die Abwesenheit von Partituren
33 oder zumindest von den Beteiligten vorbekannten und verwendeten harmoni-
34 schen und rhythmischen Mustern verndert sowohl die Interaktion zwischen
35 den Musizierenden als auch das Tuning-in mit dem Publikum. Die Ausfhrun-
36 gen Schtz’ treffen aber weitgehend auf Improvisation im Mainstream-Jazz zu.
37 Auch dies ist ein Grund, warum die nachfolgenden Analysen auf diesen Aus-
38 schnitt begrenzt sind.
39
40 10 Ebd. 176.
Zur Phnomenologie interpersonellen Handelns und Bewusstseins 271

1 Auch aus eigener Kenntnis des Musikmachens hat Schtz bereits wesentliche
2 Strukturen und Details des Interagierens beim gemeinsamen Musizieren erfasst.
3 Was meines Erachtens jedoch noch nicht hinreichend klar wird, ist die Konstitu-
4 tion dessen, was Schtz, mehr andeutend, als eine gemeinsame Zeitform charak-
5 terisiert, und was aus der Perspektive der Musizierenden als eine besondere
6 Form der Empathie beschrieben werden kann. Anknpfend an Schtz, wird da-
7 her die folgende Deskription versuchen, zu einem etwas detaillierteren Verstnd-
8 nis gerade der Teilhabe am Bewusstseinsstrom des Anderen beizutragen.
9
10
11
12
III. Zur Deskription des gemeinsamen Improvisierens im Jazz
13
14
Zunchst gebe ich einen berblick ber die beteiligten intentionalen Leistungen
15
beim gemeinsamen Musizieren berhaupt. Das Ergebnis dieser Analyse, wie
16
auch der folgenden, wird anhand einer Reihe abstraktiv gesonderter Momente
17
prsentiert. Der gesamte deskriptive Kontext dazu kann hier unmçglich erçrtert
18
werden. Als Belege dienen letztlich viele Einzelerfahrungen, vikariierend auch
19
die Anderer. Wie hufig in phnomenologischer Feldforschung, wird ein Ergeb-
20
nis prsentiert, das sich zwar knapp darlegen lsst, das aber letztlich nur durch
21
umfngliche deskriptive Details zu rechtfertigen wre. Dies darf allerdings nicht
22
darber hinwegtuschen, dass es sich um den Kern dieser Untersuchung han-
23
delt, der das argumentative Hauptgewicht trgt.
24
Bei den folgenden acht Punkten handelt es sich um weit gefasste Gruppen
25
von Akten, die beim gemeinsamen Musizieren auftreten bzw. dieses erst ermçg-
26
lichen. Jede dieser Gruppen kçnnte feinkçrniger weiter beschrieben und analy-
27
siert werden.
28
1) Auditive Wahrnehmungen der Klnge bzw. Gesten11 der Anderen, auch
29
von vokalen Gesten, soweit sie fr das musikalische Handeln relevant sind, 2)
30
visuelle Wahrnehmungen der Gesten der Anderen und darber hinaus ihrer Be-
31
wegungen, sofern sie fr das musikalische Handeln bedeutsam sind, 3) musikali-
32
sche Empathie, d. h. Einfhlen in die Gesten der Anderen, gegenseitige Antizipa-
33
tionen der musikalischen Intentionen, partielles Verschmelzen, was Schtz als
34
ein unmittelbares Teilnehmen am Bewusstseinsstrom des Anderen bezeichnet,
35 11 Der Begriff der musikalischen Geste wird hier so verwendet, dass er alle (pr-)intentiona-
36 len und motorischen Teilakte umfasst, die dafr notwendig sind, ein Motiv oder einen einzel-
37 nen Klang mit musikalisch-gegenstndlichem Sinn zu erzeugen. Der durch den leiblich-moto-
38 rischen Teil erzeugte Klang ist abstraktes Moment der Geste, in dem sich die gesamte Gestalt
der Bewegung in feinsten Nuancen ausdrckt. Vgl. dazu auch Daniel Schmicking: Warum ein
39 Klang mehr ist als man hçrt. […]. In: Ingo Gnzler, Karl Mertens (Hg.): Wahrnehmen, Fh-
40 len, Handeln: Phnomenologie im Wettstreit der Methoden. Mnster 2013. 73 – 90.
272 Daniel Schmicking

1 4) Planung und Kontrolle der eigenen Gesten (hierzu wirken motorische Inten-
2 tionalitt, Kinsthesen und Propriozeption zusammen), 5) auditive Wahrneh-
3 mung der eigenen Klnge (als weiteres Feedback fr 4), 6) Ko-Konstitution des
4 Musikstcks,12 7) im Falle einer Auffhrung mit Publikum die Wahrnehmung
5 und Interaktion mit dem diesem13 und 8) Wahrnehmung der akustischen Verhlt-
6 nisse und Anpassen der eigenen Gesten an diese Bedingungen mittels des auditi-
7 ven Feedbacks.14
8 Wie eingangs angedeutet, ist das, was hier unter (3) als Empathie, Antizipie-
9 ren und Verschmelzen gefasst wird, nicht ein Zustand, der eindimensional oder
10 monolithisch ist und sich automatisch mit dem gemeinsamen Musizieren ein-
11 stellt. Es handelt sich um ein komplexes graduelles Phnomen, das vielen Bedin-
12 gungen unterliegt, z. B. der Bereitschaft der Beteiligten, sich gegenber den An-
13 deren ,zu çffnen‘. (Diese Metapher wird im Laufe der folgenden Deskription
14 noch expliziert.) Hinzu kommt die hinreichende Beherrschung des Instruments
15 und der musikalischen Strukturen durch die Musizierenden, die sonst ihre Auf-
16 merksamkeit berwiegend auf die Gestalt des Stcks richten mssen, anstatt
17 sich auf das interaktive Geschehen einzulassen.
18 Wie oben gezeigt, hat bereits Schtz’ Analyse herausgearbeitet: Ich treffe als
19 Musiker nicht nur kontinuierlich Entscheidungen ber meine eigenen Gesten,
20 sondern muss auch die Gesten bzw. Entscheidungen der Anderen antizipieren,
21 wie auch ihre Protentionen und Antizipationen meiner Gesten bzw. Entschei-
22 dungen. Gerade diese Reziprozitt mag Nichtmusikern berraschend oder als
23
24 12 Hierbei handelt es sich um den Titel weiterer erforderlicher Analysen, die auch von den

25 Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung abhngig sein werden. In erster Annherung


kann man sagen, dass sich die Akte der Ko-Konstitution global mehr auf die Struktur des ge-
26 samten Stckes richten und primr kategorialer Art sind, whrend die unter 3) genannten bzw.
27 im Folgenden weiter analysierten Akte strker lokal auf die Interaktion mit den Mitmusizieren-
28 den gerichtet sind und berwiegend der Passivitt und Rezeptivitt angehçren.
13 Das Interagieren mit dem Publikum bildet eine weite Thematik eigenen Rechts, die hier
29
nicht verfolgt werden kann. Angedeutet sei zumindest: Zum einen gibt es das, was man Scheler
30 folgend „Gefhlsansteckung“ nennen kann, die in beiden Richtungen zwischen Musikern und
31 Publikum, im positiven wie im negativen Sinn erfolgt. Hierunter fallen teils aktive, teils prnoe-
tische Akte der Wahrnehmung, emotionaler Reaktion und der meist nonverbalen Interaktion,
32
beispielsweise Verunsicherung der Musiker durch desinteressiertes Verhalten des Publikums
33 oder ihre Motivierung durch dessen Begeisterung, je nach Musikkultur auch das Einbeziehen
34 des Publikums, z. B. durch gemeinsames Singen, Call-Response etc. Fr bestimmte Stile oder
35 Kulturen scheint es nicht bertrieben zu sagen, dass das Publikum an der Ko-Konstitution des
Gesamtnoemas (der Auffhrung) beteiligt ist, indem es z. B. durch Zurufe Entscheidungen be-
36 wirkt (z. B. Soli zu spielen oder zu verlngern etc.). Zur Rolle des Publikums im Jazz vgl. Paul
37 F. Berliner: Thinking in jazz. The infinite art of improvisation. Chicago 1994. Kap. 16.
14 Das Sich-einstellen auf die Situation schließt viel mehr als die akustischen Gegebenheiten
38
ein: Man bercksichtigt ebenfalls die Art des Raums (çffentlich, privat), seine Atmosphre,
39 Farben, Temperatur, Luftfeuchtigkeit, den Anlass usw. (Dank an Angelika Hagen und Andre-
40 as Schreiber fr diesen Hinweis.)
Zur Phnomenologie interpersonellen Handelns und Bewusstseins 273

1 starke Behauptung erscheinen. Daher soll in den folgenden Analysen besonde-


2 res Gewicht darauf gelegt werden, dieses gegenseitige und iterierte Antizipieren
3 aus der Praxis der Jazzimprovisation her evident zu machen. Denn gerade das
4 (gelingende) Antizipieren ist im Jazz ein wesentliches konstitutives Element so-
5 wohl des musikalischen Geschehens als auch des ,Verschmelzens‘ der Musizie-
6 renden. Im Folgenden wird nun das Sich-çffnen und Verschmelzen in einer ge-
7 meinsamen Gegenwart fr den Jazz nher untersucht.
8
9
10
1. Face-to-Face-Beziehung und Interaktion in Echtzeit, gemeinsame
11
Aufmerksamkeit und sensomotorische Synchronisation (SMS) bzw. Groove.
12
13
Eine wichtige Bedingung des Verschmelzens besteht darin, dass es sich bei dieser
14
Form der Interaktion immer um eine Face-to-Face-Beziehung und eine Interak-
15
tion handelt, die ausschließlich in Echtzeit stattfindet. Dies ist jedoch noch kein
16
distinktives Merkmal des gemeinsamen Musizierens.
17
Die gemeinsame Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand kollektiven, synchro-
18
nisierten Handelns bildet auch kein Spezifikum des Musizierens, aber muss na-
19
trlich gewhrleistet sein. Es wird an den nchsten Punkten deutlich werden,
20
warum die Aufmerksamkeit in der Jazzimprovisation eine besondere Struktur
21
und Intensitt hat. Sie ist nicht nur perzeptiv, sondern realisiert sich ebenso im
22
gemeinsamen Handeln.15 Bemerkenswert ist auch, dass gemeinsame Aufmerk-
23
samkeit im Musizieren ber lange Zeitspannen mit annhernd gleicher Intensi-
24
tt bestehen kann; man denke an mehrstndige Auftritte. Ein wichtiger Faktor
25
beim Aufbau und Aufrechterhalten solcher ausgedehnter Aufmerksamkeit ist
26
das affektive Relief der Musik.
27
Sensomotorische Synchronisation (SMS) bezeichnet ein referentielles Verhal-
28
ten, bei dem eine motorische Handlung mit einem vorhersehbaren Ereignis zeit-
29
lich koordiniert wird. Typischerweise sind Ereignis und Verhalten hierbei peri-
30
odisch.16 SMS ist in den Formen des Jazz, die hier zugrunde liegen, in der Regel
31
auf einen gemeinsamen Puls, d. h. ein gemeinsames Tempo und eine Taktart
32
(oder auch mehrere wechselnde) zentriert, was eine Grundlage fr den spezifi-
33
schen groove oder besser das grooving bildet. Hinter letzterem Begriff steht eine
34
Reihe miteinander verwandter Bedeutungen.17 Fr die vorliegende Untersu-
35
36 15 Dank an Klaus Sellge, der mir half, diesen Punkt klarer zu erkennen.
37 16 Vgl. Bruno Repp: Sensorimotor synchronization: A review of the tapping literature. In:
38 Psychonomic Bulletin & Review 12 (2005). 969 – 992. 969.
17 Fr eine Reihe von Versuchen, groove zu definieren, vgl. den Artikel: Groove (music).
39 In: Berkleejazz Wiki. http://community.berkleejazz.org/wiki/index.php/Groove_%28mu-
40 sic%29 (Zugriff 04. 11. 2013).
274 Daniel Schmicking

1 chung ist entscheidend, dass gerade Musiker damit Qualitten verbinden, die
2 ber strukturelle Eigenschaften (exakte rhythmische Synchronisation aller Betei-
3 ligten, harmonischer und klangfarblicher Zusammenklang) hinausgehen und
4 subjektive Eigenschaften wie Intensitt oder swing und letztlich das enge, har-
5 monische Zusammenspiel, die Kohsion der Spieler betreffen. „Grooving“ be-
6 zeichnet also auch einen emotionalen und interpersonellen Aspekt, der nicht er-
7 zwungen werden kann, der sich einstellt oder nicht, der graduell ist und in seiner
8 hçchsten Form durchaus nicht immer erreicht wird.18
9 Im Rahmen ihrer enaktivistischen Theorie der Intersubjektivitt weisen
10 Fuchs und De Jaegher darauf hin, dass Koordination nicht notwendig eine per-
11 fekte Synchronisation verlangt. „Perfect synchronization would lead to an undif-
12 ferentiated, homogenous feeling state.“19 Tatschlich kann aber gemeinsames
13 Musizieren zu einem solchen interpersonellen Erleben eines homogenen, ge-
14 meinsamen Handelns und begleitenden Gefhls fhren. Man denke etwa an ein
15 Ensemble, das einen hypnotischen Rhythmus ber lngere Zeit spielt, in dem
16 alle Mitspieler tranceartig ,aufgehen‘. Aus eigener Erfahrung wrde ich solche
17 Situationen so beschreiben: Wenn das grooving erreicht ist, gibt es Phasen, in
18 denen der sense of agency deutlich zurcktritt.20 Es ist dann nicht entscheidend,
19 dass ich gerade dies spiele, sondern dass dies ein Element des Ganzen ist, das sich
20 in jeder Hinsicht harmonisch zum Ganzen verhlt. Man kçnnte auch sagen: Es
21 stellt sich das Gefhl ein, dass der groove bernimmt. Dies besttigt den Ein-
22 druck des verminderten sense of agency. Hufig ist mit diesen Phasen auch ein
23 besonders transparentes Hçren verbunden. Alle Stimmen sind klar, gegenwrtig
24 und gleichberechtigt.
25
26
27 2. Harmonisches Ineinandergreifen der (Teil-)Handlungen
28
29 Miteinander Musizierende intendieren und erleben ein harmonisches Ineinand-
30 ergreifen all ihrer Teilhandlungen. Die musikalischen Gesten bzw. Handlungen
31 ergnzen und besttigen sich gegenseitig in einer Weise, die idealerweise ein l-
32 ckenloses Ineinandergreifen des Denkens und Tuns erzeugt, das nur in wenigen
33
34 18 Vgl. Monson: Saying something. Jazz improvisation and interaction. Chicago 1996. 66 –
35 69.
19 Thomas Fuchs, Hanne de Jaegher: Enactive intersubjectivity: Participatory sense-ma-
36 king and mutual incorporation. In: Phenomenology and the Cognitive Sciences 8 (2009). 465 –
37 486. 471.
20 Alf Gabrielsson, Siv Lindstrçm Wik (Strong experiences related to music: a descriptive
38
system. In: Musicae Scientiae 7 [2003]. 157 – 217. 175 f., 181) fhren „loss of control“ und Out-
39 of-body-Erfahrungen (typischerweise von Musikern, nicht Hçrern) unter den Merkmalen in-
40 tensiver Erfahrungen von Musik an.
Zur Phnomenologie interpersonellen Handelns und Bewusstseins 275

1 Typen kooperativen Handelns annhernd erreichbar ist. Der Saxophonist Lee


2 Konitz drckt dieses kollektive Ziel so aus: „The goal is always to relate as fully
3 as possible to every sound that everyone is making.“21 Im Folgenden wird an
4 einigen Details gezeigt, wie die Handlungen eines Jazzensembles ineinandergrei-
5 fen und in welcher Weise dabei ein gegenseitiges Antizipieren zum Tragen
6 kommt.
7 Zunchst ist festzuhalten, dass Jazzmusiker ihr Zusammenspiel hufig als
8 eine Form der Konversation empfinden. Dies geht aus unzhligen Aussagen her-
9 vor. Dazu gehçrt, dass diese Form nonverbaler Konversation als ein gemeinsa-
10 mes Sinn-Machen erlebt wird, wie der Schlagzeuger Ralph Peterson Jr. hervor-
11 hebt: „a lot of times when you get into a musical conversation one person in the
12 group will state an idea or the beginning of an idea and another person will comp-
13 lete the idea or their interpretation of the same idea, how they hear it. So the
14 conversation happens in fragments and comes from different parts, different voi-
15 ces.“22
16 hnlich bemerkt der Pianist Tommy Flanagan: „You want to achieve that
17 kind of communication when you play. When you do, your playing seems to be
18 making sense. It’s like a conversation.“23
19 Ohne die Metapher der Konversation hier berbeanspruchen zu wollen,
20 kann man dann feststellen, dass „etwas zu sagen“ hier bedeutet, nicht fr sich zu
21 spielen, sondern sich einzulassen auf das, was die Mitmusiker „sagen“, darauf zu
22 reagieren und ihnen Ideen anzubieten, auf die sie reagieren kçnnen. Die Interde-
23 pendenz der Ensemblemitglieder gewhrleistet, dass jedes Individuum sich auf
24 die Prsenz und Aktivitten der Mitmusiker einstellt.24 Diese Form der Interak-
25 tion ist so zentral, dass Musiker sogar im solitren ben Reaktionen der Ande-
26 ren imaginieren.25 Dies ist deutlich verschieden vom Spielen, bei dem es kaum
27 ein Imaginieren zustzlich zu dem gibt, was gespielt und gehçrt wird. Das Anti-
28 zipieren, von dem hier die Rede ist, entspricht hufig vielmehr einem Protendie-
29 ren.
30 Was Merleau-Ponty ber sprachliche Gesten sagt,26 kann auf die Weise ber-
31 tragen werden, wie Musiker synchrone Modulationen mittels musikalischer Ges-
32 ten erzeugen. Leicht lsst sich diese reziproke Modulation illustrieren, die die
33
34 21 Berliner: Thinking in jazz. 362.
35
22 Monson: Saying something. 78. Hervorhebung im Original.
23 Berliner: Thinking in jazz. 369. Obwohl „making sense“ hier eher mit ,sinnvoll sein‘ zu
36 bersetzen ist, lasse ich diese Verwendung mit der terminologischen Bildung des ,(joint) sense-
37 making‘ enaktivistischer Theorien, wie die Theorie von Fuchs und de Jaegher, zusammenfal-
38 len, was inhaltlich gerechtfertigt ist.
24 Vgl. Monson: Saying something. 90.
39 25 Vgl. Berliner: Thinking in jazz. 360.

40 26 Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Phnomnologie de la perception. Paris 1945. 214.


276 Daniel Schmicking

1 Interaktion im Jazz-Ensemble sptestens seit dem Bebop charakterisiert. Wichti-


2 ge Formen, mit denen die Musiker aufeinander reagieren und einen Prozess ge-
3 meinsamen Sinn-schaffens in Gang setzen und halten, sind die folgenden:
4 In der fr den Jazz typischen Rhythmusgruppe27 besteht eine grundlegende
5 Weise gegenseitiger Antizipation und Modulation in den Reaktionen des Bassis-
6 ten, Pianisten und Schlagzeugers auf die Phrasen des Solisten: Sie kçnnen etwa
7 Letztere imitierend aufgreifen, variieren oder kommentieren, indem sie entspre-
8 chende Elemente oder Phrasen in die Phrasenpausen des Solisten einflechten.
9 Sowohl der Solist als auch die begleitenden Musiker antizipieren dieses Gesche-
10 hen: der Solist, indem er bewusst Pausen schafft, die von Reaktionen bzw. inter-
11
jections (Monson) der Mitmusiker gefllt werden, die Rhythmusgruppe, indem
12
sie diese Erwartungen des Solisten ihrerseits antizipiert und mit entsprechenden
13
Phrasen und Motiven auf den Solisten reagiert. Auf hnliche Weise verdichten
14
die gemeinsam Musizierenden das musikalische Geschehen zu einer Klimax, bei
15
der sich musikalische Mittel ergnzen, z. B. indem sich die rhythmischen Muster
16
reiben durch Polyrhythmik oder Out of time-Spiel. Entscheidend ist, dass Solis-
17
ten eine solche Klimax nicht allein erzeugen (und beenden) kçnnen, sondern ein
18
dazu notwendiges Zusammenwirken antizipieren, wenn sie die entsprechenden
19
20
Phrasen spielen. Auch hierbei mssen also wieder die Antizipationen der Mitmu-
21
siker antizipiert werden, da diese sonst berrascht werden und evtl. nicht ad-
22 quat reagieren kçnnen.
23 Fast sprichwçrtlich ist die fundamentale Rolle, die das Zusammenspiel von
24 Bass und Schlagzeug einnimmt. Eine besonders enge Synchronisation erfordert
25 die walking bass-Linie und der typische Beat des Ride-Beckens. Der Bassist
26 Chuck Israels erklrt hierzu: „You play every beat in complete rhythmic unison
27 with the drummer […]. If it’s working, it brings you very close. It’s a kind of
28 emotional empathy that you develop very quickly. The relationship is very inti-
29 mate.“28 Bemerkenswert hieran ist, dass Israels von einer Art emotionaler Empa-
30 thie spricht, er besttigt die schtzsche Einsicht des mutual tuning-in aus der
31 Perspektive der praktizierenden Musiker. Aber das enge Verhltnis geht ber die
32 eher konstanten Elemente von Ride-Rhythmus und walking bass weit hinaus.
33 So kommt es in der Regel zu einem Geben und Nehmen zwischen dem Spiel
34 dieser beiden Instrumente. Erzeugt der Schlagzeuger rhythmische Muster, die
35 den Puls verschleiern, wird der Bass bevorzugt bei einem regulren Puls bleiben;
36
27 Der Einfachheit halber soll hier die klassische Besetzung mit Klavier, Bass und Schlag-
37
38 zeug betrachtet werden. Was dazu gesagt wird, gilt mutatis mutandis ebenso fr Gitarre, die
zustzlich oder anstelle des Klaviers eingesetzt wird, wie auch fr einen zustzlichen Perkussio-
39 nisten oder Vibraphonisten.
40 28 Berliner: Thinking in jazz. 349 f.
Zur Phnomenologie interpersonellen Handelns und Bewusstseins 277

1 drckt umgekehrt der Schlagzeuger den Puls sehr klar aus, gibt dies dem Bassis-
2 ten Gelegenheit, rhythmisch spannungsreiche Figuren zu spielen.
3 Ebenfalls auf sublime Weise mssen sich Bassist und Pianist harmonisch auf-
4 einander einstellen: Auf Grund psychoakustischer Prinzipien hat der tiefste Ton
5 eine wichtige Bedeutung dafr, wie eine Harmonie empfunden wird. Dadurch
6 kann der Bassist, der (hufig) akustisch dominante tiefe Tçne spielt, eine domi-
7 nierende Rolle einnehmen, indem er die Akkorde bzw. harmonischen Bewegun-
8 gen des Pianisten ,einfrbt‘ und beeinflusst. Folgt ein Bassist nicht den Harmoni-
9 en des Pianisten, wird sich Letzterer in der Wahl seiner Akkorde darauf
10 einstellen. Umgekehrt haben Pianisten auch Erwartungen bezglich der Art, in
11 der Bassisten harmonisch auf sie reagieren, etwa auf Akkordsubstitutionen und
12 -variationen, die der Pianist spielt, ohne dass sie in Komposition oder Arrange-
13 ment verwendet werden. Zwischen Schlagzeuger und Pianist entsteht typischer-
14 weise eine rhythmische Koordination, indem sie mit ihren Figuren aufeinander
15 reagieren. Besonders dienen dem Schlagzeuger hierzu Begleitfiguren, die er auf
16 den Trommeln spielt, whrend er den Beat auf dem Becken hlt.29 Auf diese Wei-
17 se sind sozusagen einzelne Teile des Schlagzeugers mit unterschiedlichen Mitmu-
18 sikern koordiniert: das Becken-Spiel, an dessen Beat sich die gesamte Band orien-
19 tiert, besonders mit dem Bassisten, die ,freie‘ Hand und der rechte Fuß mit dem
20 Pianisten und/oder dem Solisten.
21 Durch fills, das sind Interjektionen des Schlagzeugers, wobei dieser hufig
22 den kontinuierlichen Ride-Rhythmus auf dem Becken unterbricht, beteiligt sich
23 der Schlagzeuger am melodischen Geschehen, markiert bergnge und kann
24 das musikalische Geschehen entscheidend intensivieren. Typischerweise fhrt
25 ein fill auf einen Zielpunkt, z. B. den ersten Schwerpunkt eines spteren Taktes.30
26 Der Weg dorthin, der ber mehrere Takte fhren kann, lsst die Mitmusiker den
27
Zielpunkt antizipieren. Ihre Erwartung wird ihrerseits vom Schlagzeuger antizi-
28
piert, der die Anderen mittels seines fills ,mitnehmen‘ will, d. h. eine Reaktion
29
erwartet, die Reaktionen der Anderen nicht dem Zufall berlassen will.
30
Auf einen zentralen interaktiven Aspekt des Schlagzeugspiels sei hier noch
31
hingewiesen, der Außenstehende vielleicht zunchst berrascht: Entgegen dem
32
Stereotyp vom Schlagzeug als einem lauten und typisch mnnlichen Instrument
33
verstehen (nicht nur) Jazz-Schlagzeuger ihre Rolle durchaus als weiblich (wobei
34
hier ebenfalls ein stereotypes lteres Rollenbild zugrunde liegt): Der Schlagzeu-
35
ger sollte idealerweise die unterschiedlichen Gemtslagen, Stimmungen und
36
Emotionen der anderen Mitmusiker mit seinem Spiel ausgleichen, abfangen,
37
kompensieren, so wie eine Mutter die verschiedenen Stimmungen und Emotio-
38
39 29 Vgl. hierzu Monson: Saying something. 31 f., 49, 58 f.
40 30 Ebd. 59 f.
278 Daniel Schmicking

1 nen ihrer Kinder, die alle gleichzeitig nach Hause kommen und auf sie einreden.
2 Dieser Vergleich stammt von dem Schlagzeuger Kenny Clarke.31 Ohne dieses
3 Genderstereotyp drckt dies der Drummer Billy Higgins wie folgt aus: „It’s so-
4 mething about reading everybody individually […] you have a slot in your mind
5 for other people. So the drums are supposed to be that kind of instrument where
6 you can make everything fit, and that’s the whole challenge of it all“.32
7 Diese Beispiele fr Interaktion bzw. reziproke Modulation der Musiker im
8 Jazz sollten einige der sublimen Formen deutlich machen, die musikalische Ges-
9 ten und Empathie hier annehmen.33 Die Reichweite gelingenden gegenseitigen
10 Antizipierens hngt sicher nicht nur von der Meisterschaft der Instrumentalis-
11
ten ab, sondern auch wesentlich von der Vertrautheit mit dem individuellen Stil
12
der Mitmusiker.34 Natrlich ist fr die Entwicklung eines solchen einfhlenden
13
Hçrens35 auch erforderlich, ein umfangreiches Repertoire und zahlreiche Mus-
14
ter implizit zu beherrschen. Aber mit der Kenntnis von Mustern allein ist diese
15
Form von einfhlendem und antizipierendem Hçren nicht zu erklren, denn im
16
tatschlichen Improvisieren gibt es zu viele individuelle Entscheidungen, die
17
nicht einem vorbekannten Muster folgen, oder dessen individuelle Realisierung
18
gerade nicht durch allgemeine, vorbekannte Merkmale abgedeckt ist.
19
20
Darber hinaus darf ferner nicht bersehen werden, dass ebenso Spannung
21
innerhalb der Rhythmusgruppe wie auch zwischen dieser und dem Solisten er-
22 zeugt werden muss, als ein konstitutiver Teil des Gesamtgeschehens, etwa durch
23 rhythmische und harmonische Reibungen und berlagerungen. Diese Vorgnge
24 kçnnen nicht einfach durch maximale Synchronisierung erklrt werden, son-
25 dern erfolgen viel eher in Form der eben skizzierten komplementierenden, kom-
26 mentierenden Interaktionen. Dazu ist auch erforderlich, ausreichend Vertrauen
27 zu haben, um etwa gegen den Beat zu spielen. Wenn die Anderen dies zur selben
28 Zeit in gleichem Maße tun, droht der Beat verloren zu gehen. Auch hier ist ein
29 Antizipieren und momentanes ,Aushandeln‘ und Ausgleichen nçtig.36
30
31 31 Vgl. ebd. 64 f.
32 Ebd. 63.
32 33 Monson legt im 5. Kapitel ihrer Studie (Saying something. Bes. 137 – 185) eine detaillierte
33 Analyse u. a. anhand einer Transkription von 154 Takten eines Jazzquartetts vor. Interessierte
34 Leser finden dort zahlreiche Beispiele fr die hier nur schematisch erklrten Formen der Inter-
35 aktion und fr das, was Monson intensification nennt. Eine Besonderheit dieses Beispiels sind
auch zwei Fehler, die auf kooperative Weise von den Mitmusikern ausgeglichen werden. Zu
36 den Herausforderungen von Fehlern fr das gemeinsame Spiel vgl. auch Berliner: Thinking in
37 jazz. 379 – 383.
34 Vgl. hierzu auch Berliner: Thinking in jazz. 356 f., 364 – 368.
38 35 Auch Monson spricht bezeichnenderweise von dem developed and empathetic sense of
39 listening. Vgl. Monson: Saying something. 50.
40 36 Vgl. die Aussage des Bassisten Ron Carter bei Monson: Saying something. 175.
Zur Phnomenologie interpersonellen Handelns und Bewusstseins 279

1 Neben der Voraussetzung der Vorbekanntheit (sowohl der musikalischen For-


2 men und Stilmittel als auch der individuellen Spielweisen der Mitspieler) liegt
3 diesen Deskriptionen der idealisierte Fall des harmonischen, sozusagen perfek-
4 ten Zusammenspiels zugrunde. Diese Idealisierung bildet bereits eine Einschrn-
5 kung der Reichweite von Schtz’ Ansatz, der vom fehlerfreien harmonischen
6 Musizieren ausgeht. Probleme werden in seiner Skizze nicht bercksichtigt. Wie
7 wirken sich aber Fehler (z. B. falsches Tempo, falscher Affekt eines Motivs oder
8 einer ganzen Stimme, unsaubere Ausfhrung) oder einfach nur unangemessenes,
9 unausgewogenes, unengagiertes Spielen auf die Interaktion aus? Um diese Frage
10 andeutungsweise zu beantworten, greife ich auf den Ansatz von De Jaegher und
11 Di Paolo zurck, genauer: auf das, was sie „partizipatorisches Sinnmachen“ nen-
12 nen. Das traditionelle Axiom, dass uns andere nicht transparent seien, wird auch
13 von den beiden in Frage gestellt.37 Die Transparenz, die wir an anderen erleben,
14 ist allerdings begrenzt durch deren nicht aufhebbare Autonomie als echte sozia-
15 le Interaktionspartner. Koordinieren wir unsere individuellen Intentionen und
16 unsere Interaktion, dann kçnnen wir gegenseitig spren, wie wir gemeinsam ge-
17 schickt durch die Interaktion navigieren. Man denke an das gemeinsame Tragen
18 eines Sofas eine Treppe hinunter. Je genauer beide Beteiligten ihre Bewegungen
19 synchronisieren und intensittsmßig angleichen, desto mehr ,verschwindet‘ der
20 Andere, wird transparent. Wir erfahren also eine Transparenz des Anderen in
21 dem Maße des Gelingens unseres Interagierens. Kommt es zu einer Stçrung, ge-
22 rt das koordinierte Interagieren aus dem Takt, aus dem Gleichgewicht, dann
23 wird der Andere opak. Wollen wir, dass eine gemeinsame Handlung gelingt,
24 mssen wir im Falle einer Stçrung unsere Handlungen anpassen, um den Ande-
25 ren wieder transparenter zu erfahren, und um vom Anderen wieder erfahren zu
26 werden. Sein Sinnmachen moduliert (unerwarteterweise) mein eigenes. Derart
27 verstandenes Interagieren beinhaltet also eine gegenseitige Modulation.38 Diese
28 Art der gegenseitigen Modulation vermag diejenigen Handlungen und Erlebnis-
29 se des gemeinsamen Musikmachens besser zu erklren, die durch schlechtes,
30 nicht harmonisches oder fehlerhaftes Spielen und das Reagieren darauf bedingt
31 sind.
32
33
34
35
36
37
37 Hanne De Jaegher, Ezequiel Di Paolo: Participatory sense-making: An enactive appro-
38
ach to social cognition. In: Phenomenology and the Cognitive Sciences 6 (2007). 485 – 507.
39 503 f.
40 38 Vgl. De Jaegher, Di Paolo: Participatory sense-making. 504.
280 Daniel Schmicking

1 3. Synchrone emotionale Modulierung durch das affektive Relief der Musik


2
3 Die hufig starke emotionale Wirkung, die Musik auf die meisten Menschen aus-
4 bt, ist eine unbestreitbare Tatsache. Wenn auch noch nicht geklrt ist, wie diese
5 Wirkungen im Einzelnen zustande kommen, von welchen biologischen, biogra-
6 phischen, kulturellen und situativen Faktoren sie abhngig sind, so vereint audi-
7 tives Erleben nicht zuletzt auf Grund der engen emotionalen Synchronisation
8 der Beteiligten.
9 Ein auditiver Gegenstand erscheint hauptschlich in zeitlicher Abschattung,
10 die fr alle Wahrnehmenden mehr oder weniger die gleiche ist. Als deren Folge
11 erleben die Hçrer (bzw. Musiker) das in der Regel feingliedrige emotionale Reli-
12 ef der Musik in Synchronisation. In Anbetracht der Art und Weise, wie die Mu-
13 sik den sichtbaren Raum „unterminiere“, bemerkt Merleau-Ponty: „ces audi-
14 teurs […], qui prennent l’air de juges et changent des mots ou de sourires […],
15 sont comme un quipage secou  la surface d’une tempÞte.“39 Dies gilt natrlich
16 nicht nur fr Zuhçrer, sondern umso mehr fr die Auffhrenden. Sie durchlau-
17 fen das affektive Profil der Musik nicht nur gleichzeitig, sondern erzeugen es
18 sogar gemeinsam. Gewissermaßen sind sie selbst der Sturm, der das Boot scht-
19 telt, in dem sie auch sitzen. In dem Maße, in dem Musiker ihr Zusammenspiel
20 mittels einer Art emotionaler Empathie erleben, erleben sie damit auch die Mi-
21 kro-Emotionen, die mit jeder einzelnen musikalischen Geste ihrer Mitmusiker
22 verbunden sind.
23
24
25 4. Hçrbarkeit des Geistes-in-Aktion
26
27 Einige Autorinnen und Autoren sprechen von der Sichtbarkeit des Geistes-in-
28 Aktion bzw. der Intention-in-Aktion.40 Diese triftige Auffassung ist zu ergn-
29 zen durch die Einsicht, dass der Geist bzw. dessen Intentionalitt ebenso hçrbar
30 ist, im vorliegenden Fall in den musikalischen Gesten, in denen sich, so wie auch
31 in der Mimik, der Sprechstimme oder Gestik und den Bewegungen des gesam-
32 ten Leibes, unmittelbar Emotionen und Intentionen ausdrcken. (Der Geist ist
33 nicht unhçrbar wie eine res cogitans, die ,rein‘ ist und unabhngig vom Klang als
34 einer res extensa.) Ohne dass hier Schlussfolgerungen, theoretische berlegun-
35 gen oder explizite Reprsentationen der musikalischen Intentionen des Anderen
36 notwendig sind, werden die Intentionen-in-Aktion unmittelbar wahrgenom-
37 men als Teile des gemeinsamen Handelns. Nur in Ausnahmen imaginiere ich tat-
38 39 Merlau-Ponty: Phnomnologie. 260.
39 40 Fuchs, De Jaegher: Enactive intersubjectivity. 465 – 486; Joel Krueger: Seeing mind in ac-
40 tion. In: Phenomenology and the Cognitive Sciences 11 (2012). 149 – 173.
Zur Phnomenologie interpersonellen Handelns und Bewusstseins 281

1 schlich, was Mitmusiker ausfhren, etwa whrend einer Probe oder des solit-
2 ren Arrangierens. Dies widerspricht dem Verstndnis von Empathie und Menta-
3 lisieren als einer Form der Imagination (der Simulationstheorien); hnlich selten
4 drften Akte des theoretischen Verstehens von Intentionen der Anderen sein
5 (als Indiz dafr, dass die Theorie-Theorien auch nicht die Default-Haltung im
6 gemeinsamen Musizieren beschreiben). Allerdings werden Dirigenten, Big-
7 band-Leiter und Arrangeure hufiger auf solche expliziten Formen des Mentali-
8 sierens zurckgreifen: Sie kçnnen zwar nicht alle Instrumente selbst spielen, ha-
9 ben aber ein theoretisches Wissen ber die Instrumente und ihre mçglichen
10 Spielweisen, was sie dann auch einsetzen, um etwa empathisch ihren Musikern
11 Partien ,auf den Leib zu schneidern‘.
12 Dies sind also, in einer ersten deskriptiven Annherung, wesentliche Momen-
13 te, die gemeinsames Improvisieren im Mainstream-Jazz fundieren: eine Face-to-
14 Face-Beziehung in Echtzeit, ausgedehnte gemeinsame Aufmerksamkeit, SMS
15 bzw. Grooving, harmonisch-komplementres Ineinandergreifen der individuel-
16 len Handlungen, synchrone Emotionalitt und Hçrbarkeit des Geistes. Diese
17 Momente ermçglichen die besondere Form musikalischer Empathie und fhren,
18 wie gezeigt, zu einem interpersonellen Bewusstsein, das als Sich-çffnen und par-
19 tielles Verschmelzen zu charakterisieren ist. Was an dem hier verwendeten Aus-
20 druck „Verschmelzen“ eventuell irritiert, ist der cartesische Nachhall von Termi-
21 ni wie „Bewusstsein“ bzw. „Fremdbewusstsein“, die traditionell Innerliches,
22 Verborgenes, Unbeobachtbares bezeichnen. Setzt man aber voraus, und nimmt
23 man ernst, dass das Mentale vielmehr eine ffnung zur Welt und den Anderen
24 bildet, dass es sich mit anderen solchen ffnungen in Situationen berkreuzt
25 oder trifft, dann verliert die Redeweise vom „Verschmelzen“ hoffentlich ihren
26 befremdlichen Beiklang.
27 Eine Deskription wie die hier vorgestellte ist per se phnomenologisch wie
28 psychologisch erhellend. Eingangs ist schon auf die heuristische Funktion des
29 Verstndnisses der Koordination und Interaktion beim Musizieren fr experi-
30 mentelle Forschungen hingewiesen worden. Abschließend soll aber gefragt wer-
31 den, welche Implikationen diese deskriptiven Ergebnisse fr das phnomenolo-
32 gische Verstndnis von sozialer Erfahrung haben.
33
34
35 IV. Die Illusion des inneren Denkens
36
37 Ein interessanter nchster Schritt bestnde darin, hnliche Formen des Ver-
38 schmelzens in verschiedenen Typen menschlicher Kooperation bzw. sozialer Er-
39 fahrung aufzusuchen und phnomenologisch zu analysieren. hnliches ge-
40 schieht bereits im Rahmen interdisziplinrer Forschungen, bei denen
282 Daniel Schmicking

1 Entwicklungs- und Musikpsychologie, Linguistik, Psycho- und Musiktherapie


2 und Neurowissenschaften zusammenarbeiten und deren Gegenstand bezeich-
3 nenderweise „kommunikative Musikalitt“ genannt wird. Die verbale wie non-
4 verbale menschliche Kommunikation und das Musizieren teilen besonders im
5 Hinblick auf die Dimension des Timings eine berraschend große Menge charak-
6 teristischer Muster, die mit Empathie und emotionaler Synchronisierung einher-
7 gehen. Wir nehmen zwar – cartesisch formuliert – die ußeren Bewegungen der
8 Anderen wahr, aber ihre wie unsere Bewegungen erfolgen in Rhythmen, die glei-
9 chermaßen unserem inneren und ußeren Erleben gemeinsam sind.41 Hiermit ist
10 eine Dimension gegeben, die uns unmittelbar, durch unser Offen-sein und Han-
11 deln in der gemeinsamen Welt, miteinander verbindet. Musikhçren, und noch
12 intensiver das gemeinsame Musikmachen sind – hnlich der Sprache als zwischen-
13 leiblich verbindender Geste – ein Mittel, das uns am Bewusstsein des Anderen in
14 lebendiger gemeinsamer Gegenwart teilhaben lsst. Die Phnomenologie sollte
15 daher in den Debatten um die Formen und Voraussetzungen sozialer Erfahrung
16 diese Offenheit zum Anderen und zur Welt deskriptiv weiter erkunden und an
17 bestimmten Typen von Interaktion plausibel machen, wie hier am Musizieren
18 aufgezeigt.
19 Bereits das temporre interpersonelle Koordinieren von Bewegungen, das
20 nicht einmal intendiert sein muss, fhrt zu hçherer Affiliation.42 Aber auch
21 Teamsportarten oder Arbeitsvorgnge, wie das gemeinsame Tragen einer Last,
22 sind von Formen interpersonellen Bewusstseins begleitet, vor allem aber Episo-
23 den intensiver Kommunikation und Wahrnehmung Anderer, besonders solche,
24 die als ein Eintauchen in Andere oder Verschmelzen mit ihnen erlebt werden.
25 Warum scheint uns aber diese genuine Interpersonalitt hufig zu entgehen?43
26 Ein wichtiger Grund liegt sicher darin, dass wir berwiegend verbal mit Ande-
27 ren interagieren, und dies in weitgehend institutionalisierten, typisierten Situatio-
28 nen. Dies hat zur Folge, dass sehr viele formelhafte, habitualisierte sprachliche
29 Formen verwendet werden. Diese verleiten uns, bei ihnen stehen zu bleiben, uns
30 nicht auf die kommunikativen Gesten bzw. Intentionen des Anderen zu richten.
31 Analoges kann natrlich auch im Rahmen des Musizierens geschehen. Merleau-
32 Ponty erklrt zum Zusammenhang von leiblicher Expression und Sprache, dass
33
41 Vgl. Stephen Malloch, Colwyn Trevarthen: Musicality. Communicating the vitality and
34
35 interests of life. In: Dies. (Hg.): Communicative musicality. Oxford 2009. 1 – 11. 8.
42 In einfachen Tapping-Experimenten stellten Hove und Risen fest, dass bereits die Syn-
36 chronisation eigener Bewegungen mit denen einer anderen Person (mittels eines unabhngigen
37 Stimulus) zu erhçhter Sympathie fhrte, die fr diese Person empfunden wurde. Vgl. Michael
38 J. Hove, Jane L. Risen: It’s all in the timing: interpersonal synchrony increases affiliation. In:
Social Cognition 27 (2009). 949 – 961.
39 43 Ich spreche hier vorsichtshalber nur von der westlichen Kultur, vor dem Hintergrund der

40 letzten ca. vierhundert Jahre.


Zur Phnomenologie interpersonellen Handelns und Bewusstseins 283

1 wir uns durch die bereits konstituierten und zuvor ausgedrckten Gedanken,
2 die wir still erinnern, der Illusion eines inneren Denkens und Lebens hingeben.44
3 Ich mçchte dieses Argument um eine Beobachtung ergnzen, die Merleau-
4 Ponty nicht erwhnt und die die Art betrifft, wie wir uns an die bereits artikulier-
5 ten Gedanken erinnern: Wenn wir still berlegen oder lesen, tun wir dies mittels
6 einer inneren Stimme. Eine wichtige Wurzel der Illusion eines Innenlebens des
7 Denkens, und damit des Verschlossen-seins bzw. der Unhçrbarkeit des Geistes,
8 ist daher sicher auch die Tatsache, dass wir bei allem Nachdenken wie auch beim
9 stillen Lesen eine Quasi-Stimme erleben, die den Anderen tatschlich nicht zu-
10 gnglich ist. Diese innere Stimme kçnnte als wichtiges Indiz fr einen privaten,
11 inneren, verborgenen Geist interpretiert worden sein, als sich die Auffassung
12 vom inneren, privaten Mentalen ausbildete bzw. verfestigte.
13 Unsere ,inneren‘ sprachlichen Akte sind aber letztlich ein Sprechen, ein stiller
14 Dialog, der abhngig ist von der interkorporalen Genese seiner vorkonstituier-
15 ten Ausdrcke. Außerdem ist dieses ,innere Sprechen‘ nur ein Teil unseres Erle-
16 bens und unseres gesamten Zur-Welt-Seins bzw. jedes konkreten In-einer-Situa-
17 tion-Seins. Wir drfen nicht bersehen, dass wir, abgesehen von Schlaf und
18 hnlichen Zustnden, stets geçffnet sind zu der Welt und den Anderen. Merleau-
19 Ponty zufolge besteht zwischen meinem Leib und dem des Anderen eine innere
20 Relation, die den Anderen als die Vollendung (achvement) des Systems erschei-
21 nen lsst.45 Erst Widerstnde und Stçrungen beim gemeinsamen Handeln und
22 Sinn-Schaffen und die theoretische Reflexion heben oder reißen uns aus diesem
23 System intermittierend heraus, lassen die Transparenz der Anderen opak wer-
24 den, machen den eben noch in berlappung unmittelbar erlebten Geist zum
25 ,Fremdpsychischen‘. Unsere Intentionen und unser Erleben sind aber den Ande-
26 ren immer partiell zugnglich. Menschen sind zwar keine offenen Bcher, die
27 man von der ersten bis zur letzten Seite lesen kann, aber stets ein Stck weit
28 geçffnet bzw. lesbar. Das Mentale ist nicht ausschließlich Inneres, Privates, Un-
29 hçrbares. Es hat zwar eine innere Dimension, aber ebenso eine ußere, d. h. eine
30 Seite oder vielmehr ffnung, die den Anderen stets zugewandt ist, und die
31 streng genommen erst mit dem Tod verschwindet.
32
33
34
35
36
37
38
39 44 Vgl. Merleau-Ponty: Phnomnologie. 213.
40 45 Vgl. ebd. 405.
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
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15
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28
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30
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32
33
34
35
36
37
38
39
40
1 Lszl Tengelyi
2
3
4 Singularitt und Responsivitt
5
6
7
8
„Es gibt keine mir und den anderen gemeinsame Selbstheit“ – behauptet Emma-
9
nuel Levinas.1 Trifft diese Feststellung zu, so ist die Selbstheit des Selbst jeweils
10
einzig, einmalig und deshalb unersetzbar und unwiederholbar. Mit „Singulari-
11
tt“ ist hier und im Folgenden die so verstandene Einzigkeit des Selbst gemeint.
12
13
Es wre irrefhrend, „Singularitt“ als „Jemeinigkeit“ zu bersetzen, weil sich
14
diese von Martin Heidegger geprgte Bezeichnung nach einer ausdrcklichen
15 Behauptung des Autors in Sein und Zeit mit einem „existenzialen ,Solipsismus‘“
16 verbindet.2 Es soll hier aber im Anschluss an Levinas gerade die Grundthese be-
17 dacht werden, der zufolge die Singularitt des Selbst untrennbar von der Respon-
18 sivitt ist, wobei unter „Responsivitt“ die Unausweichlichkeit des Antwortens
19 auf fremde Ansprche verstanden wird. Diese Grundthese ist im Titel „Singula-
20 ritt und Responsivitt“ angedeutet. Levinas drckt sie in der ihm eigentmli-
21 chen Sprache auf eine besonders plastische Weise aus: „[…] mein
22 Ich-und-kein-Anderer-sein lçst sich auf in Stellvertretung; und aufgrund dieser
23 Stellvertretung bin ich nicht ,ein Anderer‘ oder ,ein Anderes‘, sondern ich. Das
24 Selbst im Sein ist genau das ,sich nicht entziehen kçnnen‘ angesichts einer Vorla-
25 dung, die auf keinerlei Allgemeinheit abzielt.“3
26 Im Sinne der hier erçrterten Singularittsidee hat die Einzigkeit oder Einma-
27 ligkeit des Selbst nichts mit dem Kult einer oft ostentativ zur Schau gestellten
28 Besonderheit oder Originalitt der individuellen Persçnlichkeit zu tun. Nicht,
29 als ob man auf die individuelle Persçnlichkeit keinen Wert legen sollte oder
30 kçnnte. Aber in den folgenden berlegungen soll uns ein solcher Wert ebenso-
31 wenig beschftigen wie andere Werte. Denn der Terminus „Singularitt“, so wie
32 wir ihn im Ausgang von der phnomenologischen Intersubjektivittstheorie
33 und der Levinas’schen Alterittsphilosophie verstehen kçnnen, ist ein subjektivi-
34 ttstheoretischer Ausdruck, der sich nur auf den grundlegenden Unterschied
35 zwischen dem einen Subjekt und dem anderen, nicht aber auf einzelne Unter-
36
1 Emmanuel Levinas: Autrement qu’Þtre ou au-del de l’essence. dition „Livre de po-
37
38 che“. Dordrecht 1990. 201. Dt.: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. bers. von
Thomas Wiemer. Freiburg 1992. 282.
39 2 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tbingen 1979. § 40. 188.

40 3 Levinas: Autrement qu’Þtre ou au-del de l’essence. 201. Dt.: 282.

Phnomenologische Forschungen 2013 · Felix Meiner Verlag 2013 · ISSN 0342-8117


286 Lszl Tengelyi

1 schiede zwischen dem einen Individuum und dem anderen bezieht. Das Indivi-
2 duum ist bereits in seiner Eigenschaft als Subjekt Trger von Singularitt, ganz
3 abgesehen davon, ob es als Individuum originell genug ist, um sich in seiner Per-
4 sçnlichkeit von anderen Individuen wesenhaft zu unterscheiden.
5 Nach der Grundthese, die wir erwgen, prfen und deuten wollen, sind nicht
6 individuelle Charakterzge des Einzelnen, sondern intersubjektive Verhltnisbe-
7 stimmungen des jeweiligen Subjekts fr die Singularitt des Selbst verantwort-
8 lich. Diese intersubjektiven Verhltnisbestimmungen erwachsen jedoch nicht
9 aus Beziehungen, die man unmittelbar als „soziale“ oder auch nur als „interper-
10 sonale“ beschreiben kçnnte. Sie verweisen vielmehr, um einen Terminus zu ge-
11 brauchen, der von Maurice Merleau-Ponty stammt, auf eine „wilde Region“, die
12 den interpersonalen und den sozialen Beziehungen in gewissem Sinne vorgeord-
13 net ist.4 In dieser wilden Region findet die Eigentmlichkeit, die wir im Gefolge
14 von Bernhard Waldenfels „Responsivitt“ oder, auf Deutsch, „Antwortlich-
15 keit“ nennen, ihren Herkunftsort.
16 Damit sind die Hauptschritte einer Analyse vorgezeichnet, der wir nun den
17 Zusammenhang von Singularitt und Responsivitt unterziehen wollen. Zu-
18 nchst soll der Gedanke, dass „Singularitt“ ein subjektivittstheoretischer Be-
19 griff ist, deutlicher gefasst werden. Zweitens wollen wir den Herkunftsort der
20 Responsivitt in der wilden Region bestimmen, so wie sie den interpersonalen
21 und den sozialen Beziehungen bereits zugrunde liegt. Auf Grund dieser berle-
22 gungen kçnnen wir dann drittens versuchen, den Zusammenhang zwischen Re-
23 sponsivitt und Singularitt nher zu bestimmen.
24
25
26
1. „Singularitt“ als subjektivittstheoretischer Begriff
27
28
Der Phnomenologie kommt das Verdienst zu, von jeher einen Unterschied zwi-
29
schen dem einen Subjekt und dem anderen gemacht zu haben. Auch vor der Ph-
30
nomenologie wurde dem Subjekt in der westlichen Denktradition ein großes Ge-
31
wicht zugeschrieben, und zwar nicht erst in der gesamten neuzeitlichen
32
Philosophie, sondern – wie Richard Sorabji in seinem Buch ber das Selbst5 be-
33
sonders deutlich zeigte – weitgehend auch schon in der Philosophie der Antike.
34
Immer wurde aber das eine Subjekt genau so wie das andere aufgefasst. Entwe-
35
36 4 Maurice Merleau-Ponty: De Mauss  Claude L
vi-Strauss. In: Ders.: loge de la philoso-

37 phie et autres essais. Paris 1960. 123 – 142. 135. Dt.: Von Mauss zu Claude Levi-Strauss. In:
38 Alexandre M
traux, Bernhard Waldenfels (Hg.): Leibhaftige Vernunft. Spuren von Merleau-
Pontys Denken. Mnchen 1986. 13 – 28. 21.
39 5 Richard Sorabji: Self. Ancient and modern insights about individuality, life, and death.

40 Oxford 2006.
Singularitt und Responsivitt 287

1 der betrachtete man dieses einfçrmige, eingestaltige, uniformisierte Subjekt von


2 außen her als Person, oder man erfasste es von innen her als ein Selbst, das sich
3 auf sich selbst besinnen und sich mit sich selbst identifizieren kann. Den grundle-
4 genden Unterschied zwischen dem Subjekt und dem Mitsubjekt, dem Selbst und
5 dem Anderen, erkannte man jedoch nicht. Der Wortgebrauch der traditionellen
6 Philosophie kennt zwar sowohl den Singular als auch den Plural des Wortes
7 „Subjekt“, aber den Dual von Subjekt und Mitsubjekt, von Selbst und Anderem
8 fhrt erst die Phnomenologie in die Sprache der Philosophie ein.
9 Wichtiger ist es aber noch, dass bereits Edmund Husserl zur Einsicht gelangt,
10 das eine Subjekt sei vom anderen „abgrundtief geschieden“,6 und zwar nicht,
11 weil die sie trennende Kluft nicht bereits in der unmittelbaren Wahrnehmung
12 berbrckt werden kçnnte, sondern weil das eine Subjekt niemals das andere
13 sein kann. Selbst wenn es dem Mitsubjekt in allen Einzelheiten hnlich oder so-
14 gar gleich sein sollte, bleibt es vom Mitsubjekt ein fr alle Mal unterschieden. So
15 sehr ein Dritter es mit anderen vergleichen kann, bewahrt es in seinem eigenen
16 Verhalten zu seinen Mitsubjekten seine Unvergleichlichkeit. Das liegt daran,
17
dass es nun einmal das Subjekt – und deshalb gerade nicht das Mitsubjekt – ist.
18
Daher ist Subjektsein, genauso brigens wie Mitsubjektsein, eine positionale Be-
19
stimmung, die nicht mit inhaltlich bestimmten Charaktereigenschaften zusam-
20
menhngt, sondern nur einen Ort in dem bezeichnet, was man mit Levinas den
21
„intersubjektiven Raum“7 nennen kann.
22
Nicht jeder Phnomenologe schreibt freilich dem Unterschied zwischen dem
23
Selbst und dem Anderen eine grundlegende Bedeutung zu. Heidegger geht zum
24
Beispiel von einer immer schon „geteilten Wahrheit“ – im Sinne einer dem Da-
25
sein von vornherein zugnglichen Offenbarkeit der Welt – aus, die er in man-
26
chen seiner Texte, so etwa in seiner Freiburger Vorlesung aus dem Wintersemes-
27
ter 1928/29, zugleich als ein ursprngliches „Miteinandersein“ auffasst. Auf
28
Grund dieser Auffassung kann er behaupten: „Damit gegenseitiges Sicherfassen
29
berhaupt und als solches mçglich sei, muß zuvor ein Miteinandersein mçglich
30
sein.“8 Durch seine Idee einer „Verflechtung“ des jeweiligen Ich mit den Ande-
31
32
ren in der „Zwischenleiblichkeit“ verschreibt sich aber auch Merleau-Ponty der
33
Annahme einer ursprnglichen Gemeinsamkeit, die alle Einzelsubjekte von
34
vornherein miteinander verbindet. Man kann gewiss starke Argumente fr diese
35 6 Edmund Husserl: Zur Phnomenologie der Intersubjektivitt. Dritter Teil: 1929 – 1935.
36 Hua XV. 339: „Die Zeit meines strçmenden Lebens und die meines Nachbarn ist also abgrund-
37 tief geschieden, und selbst dieses Wort sagt noch in seiner Bildlichkeit zu wenig.“
7 Emmanuel Levinas: Totalit
et Infini. dition „Livre de poche“. Dordrecht 1994. 324.
38
Dt.: Totalitt und Unendlichkeit. bers. von Wolfgang Nikolaus Krewani. Freiburg 1987. 420.
39 8 Martin Heidegger: Einfhrung in die Philosophie. Freiburger Vorlesung. Wintersemester

40 1928/1929. Hrsg. von Otto Saame und Ina Saame-Speidel. GA 27. Frankfurt a.M. 1976. 87.
288 Lszl Tengelyi

1 Denkanstze anfhren: Sie sind ernstzunehmende Versuche, die Gefahr des So-
2 lipsismus – auch des rein methodologischen Solipsismus – zu bannen. Mir
3 scheint jedoch, dass eine durch die Phnomenologie zum ersten Mal erschlosse-
4 ne und ihr eigentmliche Fragedimension in ihnen nicht hinreichend offen gehal-
5 ten bleibt. Dagegen bewegen sich die Betrachtungen von Husserl, Sartre und Le-
6 vinas ber das Verhltnis von Subjekt und Mitsubjekt, Selbst und Anderem
7 vornehmlich in dieser Fragedimension. An sie knpfen dann auf je verschiedene
8 Weise in Frankreich Jean-Luc Marion und Jean-Louis Chr
tien, in Deutschland
9 Bernhard Waldenfels und seine Nachfolger an.
10 Vom Levinas’schen Alterittsdenken empfngt auch Paul Ricœurs Besinnung
11 auf das Selbst „als einen Anderen“9 entscheidende Anregungen. Doch geht die
12 Theorie einer „narrativen Identitt“, so wie sie von Ricœur im Anschluss an Wil-
13 helm Dilthey, Hannah Arendt, Wilhelm Schapp und Alasdair MacIntyre entwi-
14 ckelt wird, im Ganzen in eine andere Richtung als die Levinas’sche Alteritts-
15
ethik. Auch diese Theorie leitet die Singularitt des Selbst keineswegs etwa aus
16
den jeweiligen Charaktereigenschaften des Einzelnen ab. Sie entdeckt sie viel-
17
mehr in der Einheit einer Lebensgeschichte, die sie zugleich als eine erzhlbare –
18
und zum Teil jeweils schon erzhlte – Geschichte auffasst. Allerdings setzt sich
19
Ricœur jeder konstruktivistischen Auffassung von der narrativen Identitt entge-
20
gen. Er fasst das erzhlte Selbst nicht einfach als das Ergebnis der Erzhlung auf.
21
Nach ihm kann das Selbst vielmehr nur deshalb durch Erzhlung von Geschich-
22
ten aus dem je eigenen Leben erfasst werden, weil es bereits vorhanden und auch
23
in sich selbst zugnglich ist. Gewiss hat die Narration dabei mehr als eben nur
24
die Aufgabe, das fertig Vorgefundene abzubilden. Ricœur verspricht sich von
25
der Erzhlung geradezu eine Neugestaltung (refiguration) von Zeitlichkeit und
26
27
Selbstgefhl. Aber er meint damit keineswegs eine beliebige Umwandlung des
28
Gegebenen, sondern er gesteht der neugestaltenden Erzhlung die Leistung zu,
29
das Selbst in der ihm eigentmlichen Einzigkeit und Einmaligkeit greifbar zu
30 machen. Deshalb formuliert er seine Theorie des hermeneutischen Zirkels von
31 Prfiguration, Konfiguration und Refiguration als eine Theorie (dreifacher) Mi-
32 mesis, damit einen Begriff aufgreifend, der in der europischen Tradition der Phi-
33 losophie von alters her einen Anspruch auf Wirklichkeitserfassung ausdrckte.
34 Wie konstituiert sich jedoch das Selbst, dessen Wirklichkeit narrativ erfasst
35 wird, in der prnarrativen Sphre? Sicherlich hat John Locke recht, wenn er die
36 Beteiligung eines – keineswegs notwendig reflexiv verfassten – Selbstbewusst-
37
38 9 Vgl. Paul Ricœur: Soi-mÞme comme un autre. Paris 1990. Dt.: Das Selbst als ein Anderer.
39 bers. von Jean Greisch in Zusammenarbeit mit Thomas Bedorf und Brigitte Schaaff. Mn-
40 chen 1996.
Singularitt und Responsivitt 289

1 seins an diesem Vorgang hervorhebt.10 Thomas Reid gab eine allzu voreilige und
2 irrefhrende Deutung von diesem Grundansatz, als er den Locke’schen Gedan-
3 ken des Selbstbewusstseins im Sinne einer Selbstkonstitution durch das Gedcht-
4 nis auslegte. Denn darin lag bereits eine Reduktion des bewusstseinsmßig Erleb-
5 ten und Erfahrenen auf das rein kognitiv verstandene Vermçgen der
6 Erinnerung.11 Nur deshalb konnte der Begrnder des Britischen Empirismus lan-
7 ge Zeit hindurch zugleich als der Urheber derjenigen Auffassung von der perso-
8 nalen Identitt betrachtet werden, die man gewçhnlich als psychological con-
9 tinuity theory bezeichnet. Freilich ging von Locke auch ein weiterer Anstoß zu
10 dieser Auffassung aus. Er trat ja in verschiedenen Gedankenexperimenten fr
11 die Idee einer grundstzlichen Trennbarkeit des Selbstbewusstseins von seinem
12 leiblichen Trger ein. Dagegen ist es heute eine beinahe einhellige Meinung, dass
13 die Leiblichkeit durchaus konstitutiv fr die personale Identitt ist. Schließlich
14 ist man in unseren Tagen auch davon berzeugt, dass die Selbstheit – mit einem
15 Ausdruck, der aus der literarischen Autobiographieforschung stammt – eine „re-
16 lationale“ Bestimmung des Selbst ist, worunter man in diesem Zusammenhang
17 eine intersubjektive Verhltnisbestimmung versteht.12
18 Es drfte damit feststehen, dass Bewusstheit, Leiblichkeit und Relationalitt
19 oder Intersubjektivitt als drei unerlssliche Bedingungen fr die Selbstheit des
20 Selbst zu gelten haben. Nach der Grundthese, die wir bedenken, sind sie jedoch
21 weder je einzeln noch in ihrer Gesamtheit hinreichend fr die Singularitt des
22 Selbst, die sich vielmehr immer erst in einem ganz und gar eigentmlichen Ver-
23 hltnis zu dem Anderen – oder den Anderen – manifestiert, nmlich in dem Ver-
24 hltnis, das wir als „responsives“ bezeichnen kçnnen.
25 Worin unterscheidet sich jedoch dieses Verhltnis von anderen intersubjekti-
26 ven Relationen? Diese Frage leitet uns zum zweiten Teil unserer Betrachtungen
27 ber.
28
29
30
31
32
33 10 John Locke: An essay concerning human understanding. Kap. XXVII, Abschnitt 19:

34 „This may show us wherein personal identity consists: not in the identity of a substance, but,
35 as I have said, in the identity of consciousness […].“ Siehe den englischen Originaltext zusam-
men mit der franzçsischen bersetzung von tienne Balibar in: John Locke: Identit
et diff
r-
36 ence. L’invention de la conscience. Vorgestellt, bersetzt und hrsg. von tienne Balibar. Paris
37 1998. 166 f.
11 Marya Schechtman: The constitution of selves. Ithaca 1996. 108.
38 12 John Paul Eakin: How our lives become stories. Ithaca 1999. 43. Eakin verweist auch
39 darauf, dass der Terminus „relational identity“ ursprnglich aus der feministischen Autobio-
40 graphieforschung stammt (47 f.).
290 Lszl Tengelyi

1 2. Responsivitt als intersubjektive Grundeigentmlichkeit des Selbst


2
3 Der Gedanke der Responsivitt geht letztlich auf Heidegger zurck, der aus-
4 drcklich behauptet: „Jedes gesprochene Wort ist schon Antwort.“13 Zum Sinn
5 dieser Behauptung gehçrt bei ihm weiterhin die Beobachtung, dass nicht jede
6 Antwort „Antwort auf eine Frage“ ist,14 sondern dass es im Antworten eigent-
7 lich immer darum geht, einem „Anspruch“ zu entsprechen. Heidegger meint
8 freilich einen Anspruch – oder auch „Zuspruch“ – des Seins. Anschlussfhig fr
9 Levinas und seine Anhnger wird dieser Gedanke vor allem deshalb, weil er ei-
10 nen Bruch mit der vorherrschenden Subjektvorstellung der neuzeitlichen Philo-
11 sophie zum Ausdruck bringt. Wer sich von vornherein mit einem Anspruch kon-
12 frontiert sieht, der an ihn ergeht, ohne dass er in der Lage ist, dieses
13 „Anspruchsereignis“ unter seine Kontrolle zu bringen, der kann sich schwerlich
14 als ein selbstgengsames und selbstmchtiges Ich verstehen. Es kann ja durchaus
15
vorkommen, dass er sich wider Willen – malgr lui – als Angesprochener vorfin-
16
det. Die Selbstbesinnung des Ich, die in der neuzeitlichen Tradition oft zum Aus-
17
gangspunkt des Philosophierens genommen wird, erweist sich daher als von ei-
18
nem Anspruchsereignis getragen, das dem gerade zu sich selbst findenden Ich
19
immer schon widerfahren ist. Der ursprngliche Kasus, in dem sich das Subjekt
20
ausspricht, ist folglich nicht der Nominativ, sondern, wie Levinas meint, der Ak-
21
kusativ oder, wie Marion sagt, der Dativ.
22
Wie wird jedoch ein Anspruchsereignis, das dem Selbst immer schon wider-
23
fahren ist, gleichwohl fr dieses Selbst fassbar? Um dieser Schwierigkeit beizu-
24
kommen, lsst sich Levinas auf Untersuchungen ein, die sich, um mit Husserl zu
25
reden, auf die „passive Sphre“ der Subjektivitt beziehen. Er prgt eine Leitfor-
26
27
mel zu seinen Untersuchungen, indem er behauptet, dass „der Anruf (appel) in
28
der Antwort verstehbar wird“.15 Chr
tien und Marion greifen diese Leitformel
29 auf.16 Sie stellen zugleich klar, dass die Antwort, in der das Anspruchsereignis
30 fassbar wird, keine ausdrcklich als solche gemeinte Antwort zu sein braucht,
31 sondern in der Regel eben nur eine spontane Reaktion, eine unmittelbare Erwi-
32 derung ohne eigens formulierte Entgegnung ist. Zur Bezeichnung dieser unmit-
33 telbaren Erwiderung verwenden sie den Ausdruck rpons, der sich vom Wort
34
35 13 Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herr-
36 mann. GA 12. Frankfurt a.M. 1985. 260.
14 Martin Heidegger: Feldweg-Gesprche (1944/45). Hrsg. von Ingeborg Schßler. GA 77.
37
38 Frankfurt a.M. 1995. 22.
15 Levinas: Autrement qu’Þtre ou au-del de l’essence. 234. Dt.: 327.
39 16 Jean-Louis Chr
tien: L’appel et la r
ponse. Paris 1992. 42. Weiterhin: Jean-Luc Marion:

40 tant donn
. Paris 1997. 397.
Singularitt und Responsivitt 291

1 rponse leicht unterscheidet.17 Es kommt aber weniger auf diese terminologische


2 Distinktion an als auf die grundstzliche Auseinanderhaltung der passiven Sph-
3 re und des aktiven Bewusstseinslebens. Im Rckgang vom aktiven Bewusstseins-
4 leben auf die passive Sphre der Subjektivitt zeigt aber bereits Levinas, wie das
5 leiblich bestimmte Selbst infolge seiner Berhrbarkeit und Verwundbarkeit im-
6 mer schon von fremden Ansprchen angegangen und betroffen ist.
7 Mit Recht zieht Waldenfels daraus den Schluss, dass sich das Selbst von vorn-
8 herein in einem „Anspruchsfeld“ vorfindet, das durch einen „Widerstreit simulta-
9 ner Ansprche“ charakterisiert ist.18 Es handelt sich um Ansprche, die das je-
10 weilige Selbst – mit den Worten von Levinas – „vor jeder bernahme, vor jeder
11 bejahten oder abgelehnten Verpflichtung (engagement)“ betreffen.19 Ebendes-
12 halb darf man dieses Anspruchsfeld, von dem das jeweilige Selbst von vornher-
13
ein umgeben ist, nicht mit einer rechtlich und moralisch bestimmten Ordnung –
14
einer Ordnung der Gerechtigkeit – verwechseln, an der es als Trger von genau
15
bestimmten Verpflichtungen beteiligt wre. Mit Merleau-Ponty kann man hier
16
eher von einer „wilden Region“ sprechen. Levinas selbst verwendet dafr den
17
Ausdruck „Diesseits der Kultur (en-dec de la civilisation)“.20 Dieser Bestim-
18
mung liegt ein „anarchisches“ Modell im Sinne einer „An-archie des Guten“21
19
zugrunde: Eine gewisse Gerechtigkeitsordnung ist zwar immer schon vorhan-
20
den, aber durch eine Begegnung mit dem Anderen wird sie nicht selten in Frage
21
gestellt und in ihrer Gltigkeit sogar suspendiert, weil sie dem an das jeweilige
22
Selbst ergehenden Anspruch nicht vollkommen gerecht wird.
23
24
Ohne die Mçglichkeit einer spontanen „Epoch
“ dieser Art wren wohl auch
25
interpersonale Beziehungen wie Freundschaft und Liebe kaum mçglich. Aber
26 man darf das Anspruchsfeld, von dem das jeweilige Selbst von vornherein umge-
27 ben ist, keineswegs als ein Feld derartiger Beziehungen betrachten. Denn
28 Freundschaft oder Liebe setzen persçnliche Freiheit und persçnlichen Einsatz
29 voraus. Fremde Ansprche tauchen dagegen in der Sphre der Leiblichkeit, der
30 Passivitt und der Sinnlichkeit ohne alle Beteiligung persçnlicher Freiheit und
31 ohne jeglichen persçnlichen Einsatz des jeweiligen Selbst auf.
32 Soziale Verhltnisse, wie etwa das zwischen Studierenden und Dozierenden
33 oder das zwischen Kollegen in einem akademischen Institut, setzen nicht einmal
34
17 Marion: tant donn
. 397 f.; Chr
tien: R
pondre. Figures de la r
ponse et de la responsa-
35
bilit
. Paris 1992. 37. (Im Titelausdruck des zweiten der sechs Vortragstexte, die im letzteren
36 Band vereinigt sind, wird das Wort in seinem ursprnglichen Sinne verwendet, bedeutet also
37 „Responsorium“ oder „Wechselgesang“.)
18 Bernhard Waldenfels: Antwortregister. Frankfurt a.M. 1994. 355 f.
38 19 Levinas: Autrement qu’Þtre ou au-del de l’essence. 138. Dt.: 194.
39 20 Ebd. 224. Anm. 2. Dt.: 314. Anm. 7.

40 21 Ebd. 120. Dt.: 170.


292 Lszl Tengelyi

1 nur die persçnliche Freiheit und einen persçnlichen Einsatz, sondern auch die
2 Person als Trger genau umgrenzter Verpflichtungen und einer ihnen angemesse-
3 nen Verantwortung voraus. Mit „Person“ ist von vornherein das Subjekt des
4 Rechts und einer dem Recht nachgebildeten, legalistisch konzipierten Moral ge-
5 meint. Es handelt sich dabei, wie John Locke treffend sagt, um einen „forensi-
6 schen Terminus“,22 der das Selbst gleichsam aus der Perspektive eines Gerichts
7 sichtbar werden lsst. Dagegen gehçrt die Responsivitt in eine Sphre intersub-
8 jektiver Beziehungen, in der der Andere dem Selbst nicht als Person, nicht als
9 Subjekt von Recht und Moral, sondern einfach als Quelle fremder Ansprche
10 gegenbersteht.
11
In dieser wilden Region macht sich ein Antwortzwang geltend. Das jeweilige
12
Selbst findet sich vor die Notwendigkeit gestellt, auf fremde Ansprche zu ant-
13
worten. Mit einer ethischen Verbindlichkeit darf man diese Notwendigkeit na-
14
trlich nicht verwechseln. Das Antworten auf fremde Ansprche ist deshalb un-
15
ausweichlich, weil im Anspruchsfeld keine Antwort auch eine Antwort ist. Man
16
muss also antworten, weil man nicht nicht antworten kann. Wohl zu Recht be-
17
hauptet zwar Waldenfels: „Das ,Man muß antworten‘ oder ,Man kann nicht
18
nicht antworten‘ bezeichnet genau den Punkt, wo ethische Forderungen ent-
19
20
springen, wo etwas ist, was zu sein hat.“23 Aber der Antwortzwang selbst beruht
21
auf keiner ethischen Forderung. Die Verantwortung, die Levinas aus dem Ant-
22 wortzwang ableitet, ist, wie ebenfalls Waldenfels feststellt, nichts mehr als eine
23 responsabilit sauvage (also eine „wilde“ Verantwortung).24 Sie bleibt daher auch
24 nur ein Phnomen der wilden Region „diesseits“ der Kultur – en-deÅ de la civi-
25 lisation –, dem lediglich insofern eine ethische Bedeutung zukommt, als es eine
26 „Nicht-Indifferenz gegenber dem Anderen“25 ausdrckt, in der Levinas die in
27 sich selbst nicht-ethische Grundlage aller Ethik entdeckt.
28 Der Weg, der vom Antwortzwang zur ethischen Verbindlichkeit fhrt, kann
29 ohne ein ausfhrlicheres Eingehen auf das, was bei Levinas „endliche Freiheit“
30 heißt, nicht angemessen nachgezeichnet werden. Diese Untersuchungsrichtung
31 schlagen wir hier nicht ein.26 Uns interessiert die Unausweichlichkeit des Ant-
32 wortens auf fremde Ansprche eher nur deshalb, weil sie einen Einblick in die
33
22 John Locke: An essay concerning human understanding. Kap. XXVII. Abschnitt 26. In:
34
35 Locke: Identit
et diff
rence. L’invention de la conscience. 176 f.
23 Waldenfels: Antwortregister. 358.
36 24 Bernhard Waldenfels: Singularitt im Plural. In: Ders.: Deutsch–Franzçsische Gedanken-

37 gnge. Frankfurt a.M. 1995. 302 – 321. 320.


25 Levinas: Autrement qu’Þtre ou au-del de l’essence. 82. Dt.: 117 und çfters.
38 26 Siehe Laszlo Tengelyi: Die Rolle der persçnlichen Freiheit in der Antwort auf fremde
39 Ansprche (erscheint demnchst in: Inga Rçmer [Hg.]: Affektivitt und Ethik bei Kant und in
40 der Phnomenologie. Berlin 2014).
Singularitt und Responsivitt 293

1 intersubjektive Grundeigentmlichkeit des Selbst gewhrt, die wir „Responsivi-


2 tt“ nennen.
3 Als Redeverhalten ist das Antworten ohne Sprache offenbar nicht mçglich.
4 Gleichwohl ergibt sich nach Levinas die Responsivitt als intersubjektive Grund-
5 eigentmlichkeit des Selbst keineswegs einfach aus der Natur der Sprache.
6 Nicht einmal aus der durchaus neuartigen Unterscheidung zwischen Sagen und
7 Gesagtem lsst sie sich ableiten. Die Wurzeln der Responsivitt reichen vielmehr
8 tief in die Sinnlichkeit und die Leiblichkeit des Selbst hinab. Denn es gibt keine
9 Responsivitt ohne Berhrbarkeit, Angnglichkeit und Verletzlichkeit. Anderer-
10 seits liegt aber im Antwortverhalten ein deutlicher berschuss gegenber einer
11 bloßen Empfnglichkeit fr ein Widerfahrnis, das sich erst in der Antwort als
12 Anspruchsereignis enthllt.
13
Deshalb entsteht die Frage, in welchem Rahmen wir von der Responsivitt als
14
einer intersubjektiven Grundeigentmlichkeit des Selbst sachgemß Rechen-
15
schaft ablegen kçnnen, wenn weder eine Ethik der Alteritt noch eine sprach-
16
theoretisch angelegte Erçrterung von Sagen und Gesagtem noch auch eine bloße
17
Phnomenologie der Passivitt – fr sich allein oder auch jeweils in Verbindung
18
mit den beiden anderen Untersuchungsrichtungen – dazu geeignet ist, einen sol-
19
chen Rahmen abzugeben. Weiterfhrend ist hier die Beobachtung, dass die Re-
20
sponsivitt nicht mit den Charaktereigenschaften der einzelnen Individuen, son-
21
dern nur mit dem grundlegenden Unterschied zwischen dem Subjekt und dem
22
Mitsubjekt, dem Selbst und dem Anderen in Verbindung steht. Ist Husserl der
23
Erste, der die Bedeutung dieser Urdifferenz erkennt, so kommt Levinas das Ver-
24
25
dienst zu, die Differenz als Nicht-Indifferenz begriffen und damit die Ethik auf
26
eine neue Grundlage versetzt zu haben. Man sollte darin jedoch keineswegs so
27 etwas wie eine ethische Wende der Phnomenologie sehen. Nicht ohne Grund
28 hat Levinas seine Ethik immer wieder zugleich als „Erste Philosophie“ und als
29 „Metaphysik“ bezeichnet. Tatschlich liegt in dem Gedanken der Nicht-Indiffe-
30 renz und der durch die Nicht-Indifferenz bedingten Unausweichlichkeit des
31 Antwortens auf fremde Ansprche ein Zug, der nicht unmittelbar zur Neugrn-
32 dung der Ethik gehçrt. Denkt man an den Versuch des spten Husserl, das Inein-
33 ander von Subjekt und Mitsubjekt als eine metaphysische Urtatsache27 – ja, als
34 „die ,metaphysische‘ Urtatsache“ par excellence28 – zu begreifen, so kann man in
35 der Responsivitt so etwas wie eine nhere Bestimmung dieser metaphysischen
36 Urtatsache erblicken.
37
27 Siehe Husserl: Zur Phnomenologie der Intersubjektivitt. Dritter Teil: 1929 – 1935. Hua
38
XV. 386 (Text Nr. 22).
39 28 Husserl: Zur Phnomenologie der Intersubjektivitt. Dritter Teil: 1929 – 1935. Hua

40 XV. 366 (Text Nr. 21).


294 Lszl Tengelyi

1 Ist diese Deutung zutreffend, so finden wir den gesuchten Rahmen, in dem
2 wir von der Responsivitt als einer intersubjektiven Grundeigentmlichkeit des
3 Selbst sachgemß Rechenschaft ablegen kçnnen, in subjektivittstheoretischen
4 berlegungen, die zu einer – allerdings nicht traditionellen, sondern rein phno-
5 menologischen – Metaphysik gehçren. In diesem Rahmen kçnnen wir auch den
6 Zusammenhang zwischen Singularitt und Responsivitt zum Gegenstand unse-
7 rer berlegungen machen.
8
9
10 3. Der Zusammenhang zwischen Singularitt und Responsivitt
11
12 Es wre irrefhrend zu behaupten, dass die Singularitt des Selbst durch das Ant-
13 worten auf fremde Ansprche erzeugt wird. Denn nach unseren vorigen Betrach-
14 tungen ist „Singularitt“ ein subjektivittstheoretischer Begriff, der in der Urdif-
15 ferenz zwischen dem Subjekt und dem Mitsubjekt oder dem Selbst und dem
16 Anderen verankert ist. Anders gesagt ist die Einzigkeit oder Einmaligkeit des
17 Selbst eine „metaphysische Urtatsache“ im Sinne des spten Husserl. Man kann
18 jedoch sehr wohl behaupten, dass sich die Singularitt des Selbst im Antworten
19 auf fremde Ansprche bekundet und verfestigt. Die Responsivitt macht also
20 die Singularitt des Selbst zwar nicht erst berhaupt mçglich, aber sie macht sie
21 fr das Selbst erst berhaupt erfahrbar.
22 Demnach ist der Zusammenhang zwischen Singularitt und Responsivitt ein
23 deutlicher Erfahrungszusammenhang. Damit ist er zugleich ein ureigenes The-
24 ma phnomenologischer Untersuchungen.
25 An die Spitze ihn betreffender oder ihm gewidmeter Untersuchungen kann
26 wohl eine negative Einsicht gestellt werden: Unter den Bedingungen eines „exis-
27 tenzialen ,Solipsismus‘“ wird die Einzigkeit und Einmaligkeit des Selbst nicht
28 voll erfahrbar. Gewiss ist etwa der Tod durch „Jemeinigkeit“ charakterisiert.
29 Zweifelsohne ist im Tod jedermann unersetzbar: Keiner kann anstelle eines ande-
30 ren sterben. Wird aber diese Unersetzbarkeit in der Vereinzelung der Angst vor
31 dem Tod voll und ganz erfahren? Das ist deshalb fragwrdig, weil Geburt und
32 Tod eher die Grenzen des Erlebbaren und Erfahrbaren andeuten, als dass sie
33 selbst erlebt und erfahren werden kçnnten. Zum Erlebbaren und Erfahrbaren
34 gehçrt allem Anschein nach nur das „Vorlaufen“ in den Tod, das aber von der
35 Einzigkeit und Einmaligkeit des Selbst fr sich allein keineswegs notwendig ein
36 angemessenes Zeugnis ablegt. Auch nach Heidegger selbst bleibt es ja auf eine
37 „existenzielle Bezeugung“ angewiesen, die ihm der Ruf des Gewissens liefern
38 soll. Wie steht es aber mit diesem Ruf ? So wie er in Sein und Zeit beschrieben
39 wird, ist er eine „formale Anzeige“, in der sich die Einzigkeit und Einmaligkeit
40 des Selbst zumindest kundgibt, nur dass er, wie Heidegger betont, im „Modus
Singularitt und Responsivitt 295

1 des Schweigens“ redet. Als Ausdruck einer wahrhaften Erfahrung der Singulari-
2 tt kann er deshalb meiner Meinung nach nicht gelten. Er ist ein Anzeichen, aber
3 kein Ausdruck der Singularitt; als bloßes Indiz verrt er nicht, worin sie be-
4 steht.
5 Anders verhlt es sich dort, wo das Selbst ausdrcklich Rede und Antwort zu
6 stehen hat. Die Singularitt des Selbst ist in Wahrheit gar kein immanenter
7 Grundzug einer vereinzelten Existenz. Sie ist vielmehr eine „diakritisch“ zu be-
8 greifende Folgeerscheinung des Unterschieds vom Anderen. Daher ist es eigent-
9 lich nicht berraschend, dass sie notwendig nur in intersubjektiven Verhltnisbe-
10 stimmungen ihren Ausdruck finden kann. Sie wird in der einmaligen Gestaltung
11 von Beziehungen manifest, die dem Selbst einen unverwechselbaren Ort im „in-
12 tersubjektiven Raum“ als in einem es immer schon umgebenden Anspruchsfeld
13 bestimmen. Dem Selbst geben die ihm widerfahrenden Anspruchsereignisse in
14 diesem Anspruchsfeld zu antworten. Indem es sich vor die Aufgabe gestellt
15 sieht, ein antwortendes Verhalten im Umgang mit dem Widerstreit simultaner
16 Ansprche zu entwickeln, macht es nicht nur mit den ihm widerfahrenden An-
17 spruchsereignissen eine Erfahrung, sondern es kann zugleich seine Einzigkeit
18 und Einmaligkeit miterfahren.
19 Darin liegt bereits die Einsicht, dass die Singularitt des Selbst niemals fr sich
20 selbst erfahren, sondern immer nur miterfahren werden kann. Allerdings best-
21 tigt diese Einsicht nicht etwa die von Hegel bis zu Hannah Arendt immer wie-
22 der vertretene These, die das Selbst mit der Reihe seiner Taten gleichsetzt. Das
23 Antworten auf fremde Ansprche erschçpft sich in Wahrheit nicht in den ab-
24 sichtlichen Handlungen, die immer schon aus dem aktiven Bewusstseinsleben
25 des jeweiligen Selbst erwachsen. Oft verbleiben Gemtsregungen, Wnsche
26 und Phantasievorstellungen in der passiven Sphre, ohne dass sie in den tatsch-
27 lich vollzogenen Taten zum Zuge kommen kçnnten. Sie bilden eine Innerlich-
28 keit, eine Interioritt im Selbst, die ihm eine eigene Tiefe gibt. Niemand kann
29 sagen, wer einer – oder eine – ist, ohne diese Innerlichkeit mit anzudeuten. Das
30 kçnnte nur dann anders sein, wenn ein lckenloses Ausdrucksverhltnis zwi-
31 schen dem Inneren und dem ußeren angesetzt werden kçnnte. Weit entfernt
32 jedoch, das Selbst in den Kerker eines existenzialen Solipsismus einzusperren,
33 bildet diese Innerlichkeit gleichsam eine Vorratskammer im Selbst, von der sich
34 seine Fhigkeit, ein antwortendes Verhalten im Umgang mit fremden Anspr-
35 chen zu entwickeln, nhren kann. Ohne diese Vorratskammer wre das Selbst
36
37
38
39
40
296 Lszl Tengelyi

1 vielleicht gar nicht im Stande, sich von der Ereignisfolge seiner Handlungen los-
2 zumachen, um unvorhersehbar Neues in Wort und Tat zu prgen.29
3 Allerdings liegt ein Paradox in der Behauptung, dass die Einzigkeit in der ein-
4 maligen Gestaltung von Beziehungen Ausdruck findet, die dem Selbst einen un-
5 verwechselbaren Ort im intersubjektiven Raum bestimmen. Denn im intersub-
6 jektiven Raum ist kein Ort, sei er noch so unverwechselbar mit anderen Orten,
7 einem Einzigen vorbehalten. Gleichwohl drckt dieses Paradox einen echten
8 Grundzug der Erfahrung aus, die man mit der je eigenen Einzigkeit und Einma-
9 ligkeit macht. Mit dem Ausdruck „Singularitt des Selbst“ ist nicht etwa eine –
10 mehr oder weniger immer unbestimmt bleibende – Abweichung von einer Be-
11 stimmtheit gemeint, sondern vielmehr eine in sich selbst fest umrissene Be-
12 stimmtheit, die jedoch nur eine einzige Realisierungsinstanz hat. Johannes Duns
13 Scotus war wohl der Erste in der Tradition abendlndischer Logik und Metaphy-
14 sik, der die Mçglichkeit einer derartigen Bestimmtheit deutlich erkannte. Des-
15 halb verwarf er das thomistische Individuationsprinzip, nmlich den Stoff als
16
materia signata („bezeichnete Materie“), das heißt als jeweils schon rumlich
17
und zeitlich, qualitativ und quantitativ und auch in jeder anderen Hinsicht kon-
18
kret bestimmte Materie,30 um das Prinzip der Individuation vielmehr als eine in
19
sich selbst fest umrissene Formbestimmtheit mit einer einzigen Realisierungsin-
20
stanz zu begreifen. Er fhrte diese Formbestimmtheit allerdings nicht auf eine
21
der jeweiligen Artbestimmtheit zustzlich hinzukommende Form zurck, son-
22
dern erfasste sie als die einzigartige und einmalige Verwirklichungsweise der all-
23
gemeinen Form, mithin als die „letzte Realitt der Form (realitas ultima for-
24
mae)“,31 der er – einer von Aristoteles stammenden und in der Scholastik
25
26 29 Siehe vom Vf.: Betrachtungen ber die Handlungsfreiheit und die Selbstheit des Handeln-

27 den. In: Markus Pfeifer, Smail Rapic (Hg.): Das Selbst und sein Anderes. Festschrift fr Klaus
28 Erich Kaehler. Freiburg 2009. 245 – 258.
30 Thomas von Aquin: De ente et essentia. Kap. 2, Z. 72 – 75. In: Ders.: De ente et essentia –
29
Das Seiende und das Wesen. Lateinisch–deutsche zweisprachige Ausgabe. Hrsg., bers. und
30 kommentiert von Hans Leo Beeretz. Stuttgart 21987. 14 f.
31 Johannes Duns Scotus: Ordinatio II. dist. 3. pars 1. q. 6. art. 180 (Opera omnia. Hrsg. von
31
Carolus Balić. Civitas Vaticana 1950. Bd. VII. 479). Vgl. Duns Scot: Le principe d’individua-
32
tion. Lateinisch–franzçsische zweisprachige Ausgabe. Hrsg., bers. und kommentiert von G
-
33 rard Sondag. Paris 2005. 200 f. In der von G
rard Sondag verfassten Einleitung zu diesem Band
34 heißt es von der „letzten Realitt der Form“: „Sie ist das, was jede Form, insofern sie gemein-
35 sam ist, in letzter Instanz bestimmt (Elle est ce par quoi toute forme, en tant que commune, est
dtermine en dernire instance)“ (61). Auf hnliche Weise sagt tienne Gilson von der „letz-
36 ten Realitt der Form“, dass sie sich der Artbestimmtheit, der „Washeit“ (quiddit), „als eine
37 innere Bestimmung (dtermination intrinsque)“ hinzufgt, um ihr die Einzigkeit (singularit)
38 zu verleihen. (tienne Gilson: Jean Duns Scot. Introductions  ses positions fondamentales.
Paris 1952. 464. Dt.: Johannes Duns Scotus: Einfhrung in die Grundgedanken seiner Lehre.
39 bers. von Werner Detloff. Dsseldorf 1959. 480.) In diesem Sinne kann hier von einer in sich
40 selbst fest umrissenen Formbestimmtheit die Rede sein.
Singularitt und Responsivitt 297

1 allgemein akzeptierten Sichtweise gemß – zugleich das Vermçgen zuschrieb, als


2 Formursache die einzigartige und einmalige Verwirklichungsweise des Stoffes
3 und des aus Form und Stoff zusammengesetzten Ganzen ebenfalls zu bestim-
4 men. So konnte er von ihr behaupten, sie sei „die letzte Realitt des Seienden,
5 das Stoff ist oder das Form ist oder das Zusammengesetztes ist (ultima realitas
6 entis quod est materia vel quod est forma vel quod est compositum)“.32 In der von
7 Duns Scotus begrndeten Tradition wurde diese letzte Form-, Stoff- und Zusam-
8 mengesetztes-Bestimmtheit mit einer einzigen Realisierungsinstanz terminolo-
9 gisch als die „Diesheit“ (haecitas oder haecceitas) bezeichnet.33
10 Auf diese Weise wurde am Anfang des 14. Jahrhunderts eine Auffassung von
11 der Individualitt umrissen, die ihr nicht allein ein großes Gewicht, sondern
12 auch eine volle Eigenstndigkeit verlieh, ohne sie – wie der etwas spter aufkom-
13 mende Nominalismus – einer uferlosen Atomisierungstendenz auszuliefern.
14 Man kann durchaus behaupten, dass die Singularitt des Selbst eine „Diesheit“
15 im Sinne der scotistischen haecitas oder haecceitas ist.
16 Es sei hier zugleich die berzeugung angedeutet, dass die Einzigkeit des
17 Selbst nicht notwendig in den Geltungsbereich des aristotelischen Verdikts indi-
18 viduum ineffabile fllt. Unaussprechlich ist das Unbestimmt-Unbegrenzte des
19 Stoffprinzips, auf das, wie soeben erwhnt, eine sich von Aristoteles herleitende
20 und von Thomas von Aquin ohne Vorbehalt bernommene Tradition die Einzig-
21 keit des Einzeldinges zurckzufhren suchte. Unaussprechlich ist auch das ato-
22 misierte Einzelne, in dessen Namen der Nominalismus schon die bloße Frage
23 nach einem Individuationsprinzip verwirft. Als eine „Diesheit“ im Sinne der sco-
24 tistischen haecitas oder haecceitas ist die Singularitt des Selbst dagegen grund-
25 stzlich nicht unaussprechlich. Denn so gesehen ist sie eine in sich selbst fest
26 umrissene Formbestimmtheit, wenn auch nur mit einer einzigen Realisierungsin-
27 stanz.
28 Damit ist allerdings noch nicht gesagt, wie sie sprachlich ausgedrckt werden
29 kann. Sie lsst ja nach Duns Scotus keine Definition, keinen Beweis und in die-
30 sem Sinne keine aristotelisch konzipierte Wissenschaft zu.34 Gleichwohl kann
31 von ihr behauptet werden, dass sie, wie tienne Gilson es unter Berufung auf
32 den Metaphysik-Kommentar des Duns Scotus betont, „die Intelligibilitt ver-
33 mehrt“, dass sie also die Verstehbarkeit des Einzelnen letztlich doch erhçht.35
34
35
36 32 Duns Scotus: Ordinatio II. dist. 3. pars 1. q. 6. art. 188. In: Duns Scot: Le principe d’indi-

37 viduation. 206 f.
33 Ludger Honnefelder: Johannes Duns Scotus. Mnchen 2005. 106.
38 34 tienne Gilson: Jean Duns Scot. Introductions  ses positions fondamentales. 466. Dt.:
39 483.
40 35 Ebd. 476. Dt.: 494.
298 Lszl Tengelyi

1 Die Schwierigkeit ergibt sich, wie wir es nunmehr unabhngig von Duns Sco-
2 tus sagen kçnnen, keineswegs etwa daraus, dass die Verwendung allgemeiner Ter-
3 mini die sprachliche Erfassung des Einzigen, Unikalen oder Singulren von vorn-
4 herein ausschlçsse. Dabei handelt es sich um ein bloßes Vorurteil, das bereits
5 durch die Unizittstheoreme der Mathematik und anderer Wissenschaften gehç-
6 rig widerlegt ist. Neben den Eigennamen enthlt die Sprache auch allgemeinbe-
7 griffliche Ausdrcke, die geeignet sind, unikale Objekte wie zum Beispiel die
8 kleinste oberste Schranke aller Folgen innerhalb des offenen Intervalls zwischen
9 0 und 1 auf der Zahlengerade genau zu bezeichnen. Bertrand Russell hat diese
10 eindeutig bestimmten Beschreibungen im Englischen bekanntlich definite de-
11 scriptions genannt. Die Schwierigkeit ergibt sich eher nur daraus, dass allgemein-
12 begriffliche Ausdrcke dieser Art zwar sehr wohl unikale Charaktereigenschaf-
13 ten des Selbst, nicht aber seine positional bestimmte Singularitt erfassen
14 kçnnen.
15 Daher ist der Anspruch der Theorie narrativer Selbstkonstitution, die Erzh-
16 lung als den einzig angemessenen sprachlichen Ausdruck der Selbstheit in ihrer
17 Singularitt geltend zu machen, durchaus ernst zu nehmen. Besonders beden-
18 kenswert ist dieser Anspruch dann, wenn die Erzhlung als sprachlicher Aus-
19 druck der Erfahrung aufgefasst wird, die das Selbst mit seiner Einzigkeit und
20 Einmaligkeit macht. Denn im Gegensatz zu dieser Einzigkeit und Einmaligkeit,
21 die ihrer kategorialen Bewandtnis nach kein Geschehnis und keine Begebenheit
22 ist, hat die Erfahrung, die das Selbst mit seiner Einzigkeit und Einmaligkeit
23 macht, sehr wohl als eine Ereignisfolge zu gelten, die als solche zum Gegenstand
24 erzhlter Geschichten gemacht werden kann.
25 Allerdings lsst sich ein scheinbar wohlbegrndeter Einwand gegen diese Auf-
26 fassung von der Erzhlung als einem Ausdruck der Erfahrung mit der Einzigkeit
27 und Einmaligkeit des Selbst geltend machen. Offenbar kann kein Selbst mit sei-
28 ner Einzigkeit und Einmaligkeit eine Erfahrung machen, ohne die ihm widerfah-
29 renden Anspruchsereignisse ebenfalls zu erfahren. Aber diese Anspruchsereig-
30 nisse sind dem unmittelbaren Erleben niemals voll zugnglich. Sie werden zum
31 Teil immer nur in der Antwort erfahrbar, die das Selbst auf sie gibt. Levinas hat
32 sie gerade deshalb durch die Eigentmlichkeit der Diachronie gekennzeichnet
33 und ihnen auf Grund dieser Eigentmlichkeit die Erzhlbarkeit abgesprochen.
34 Seine Einsicht in die diachronische Grundverfassung der Anspruchsereignisse
35 leitete ihn dazu hin, der Theorie der narrativen Identitt, und sei es in der verfei-
36 nerten Fassung, die ihr Paul Ricœur angedeihen ließ, seine Zustimmung zu ver-
37 weigern.
38 Gewiss hat dieses Gegenargument sein Gewicht. Gleichwohl ist es kein ent-
39 scheidender Einwand. Denn er setzt voraus, dass die Erzhlung nur das Erzhl-
40 bare zum Gegenstand machen kann und an seine Grenze stçßt, wo das Nicht-Er-
Singularitt und Responsivitt 299

1 zhlbare beginnt. Soviel ist daran selbstverstndlich auch richtig, dass die Erzh-
2 lung das Nicht-Erzhlbare tatschlich nicht im wçrtlichen Sinne erzhlen kann.
3 Ein Blick auf die literarische Narrationskunst kann jedoch zeigen, dass es der
4 Erzhlung sehr wohl gegeben ist, auf indirekte Weise auch das Nicht-Erzhlbare
5 zu ihrem Gegenstand zu machen.
6 Man denke nur an Marcel Proust. Der Protagonist des Romanzyklus Auf der
7 Suche nach der verlorenen Zeit erzhlt nicht allein die Begebenheiten in der vor-
8 nehmen Gesellschaft der Familie Guermantes und in der weniger vornehmen
9 Gesellschaft des Ehepaars Verdurin oder auch die Geschichte seiner aufeinander
10 folgenden Liebesempfindungen zu Gilberte Swann, zu Oriane von Guermantes
11 und zu Albertine Simonet. Seine Erzhlung macht zugleich seine „Berufung“
12 zum Knstlertum, zur Schriftstellerexistenz, sprbar, obgleich Kunst und Litera-
13 tur in seinem Dasein nach seinem eigenen, vielleicht zu peremptorischen, aber
14 im Wesentlichen doch zutreffenden Urteil „keine Rolle gespielt hatte[n]“.36
15 Wenn er die Beschreibung seines Lebens doch unter dem Titel „Eine Berufung“
16 zusammenfassen kann, so nicht deshalb, weil diese Berufung in ihr im wçrtli-
17 chen Sinne erzhlt wrde, sondern nur deshalb, weil „dieses Leben, die Erinne-
18 rungen an seine Kmmernisse und Freuden, eine Reserve hnlich dem Eiweiß-
19 vorrat bildeten, der im Keim der Pflanzen ruht, damit dieser daraus seine
20 Nahrung schçpft, um sich in Samen zu einer Zeit umzuwandeln, in welcher der
21 Embryo einer Pflanze sich entwickelt, ohne dass man noch etwas davon ahnt
22 […]“.37 Setzt der Protagonist hinzu: „So stand mein Leben mit dem in Verbin-
23 dung, was seine Reifung endlich herbeifhren wrde“,38 so verrt er, worum es
24 ihm auf den mehr als viertausend Seiten seiner Erzhlung geht: Es kommt ihm
25 eigentlich nur darauf an, etwas Nicht-Erzhlbares zum Gegenstand der Erzh-
26 lung zu machen. Wiedergefunden wird damit nicht sosehr eine einmal erlebte
27 und erfasste, seitdem aber verloren gegangene Zeit, sondern vielmehr eine Ver-
28 gangenheit, die wegen ihrer diachronischen Grundverfassung niemals gegenwr-
29 tig sein, daher aber auch nicht vergehen konnte, sondern vielmehr der unvergng-
30 liche Nhrboden eines einmaligen Knstlertums und einer einzigartigen
31 Schriftstellerexistenz geblieben ist.
32
33
34
35
36
37
36 Marcel Proust: Le Temps retrouv
. Collection folio. Paris 1989. 206. Dt.: Auf der Suche
38
nach der verlorenen Zeit. 3 Bde. bers. von Eva Rechel-Mertens. Frankfurt a.M. 2000. 3990.
39 37 Ebd. 206. Dt.: 3990.

40 38 Ebd.
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1 Maren Wehrle
2
3
4 Konstitution des Sozialen oder soziale Konstitution?
5
Gemeinschaftshabitualitt als Voraussetzung und Grenze sozialer Erfahrung.
6
7
8
9
10 1. Einleitung: Das „Ineinander der Konstitution“
11
12 Konstitution steht in Husserls Phnomenologie fr die Einsicht, dass Sein und
13 Sinn ohne Bezug auf ein erkennendes und wahrnehmendes Bewusstsein nicht
14 denkbar ist. Wirklichkeit kann daher nur im Bewusstsein erscheinen, Welt ist
15 uns nur zugnglich, wenn sie in irgendeiner Form Teil unserer Erfahrung ist
16 oder werden kann. Um einen solchen Zugang, d. h. eine kohrente Erfahrung zu
17 ermçglichen, bedarf es nach Husserl synthetischer Leistungen des Bewusstseins.
18 Hiermit sind jedoch nicht nur kategoriale Formungen gemeint, wie etwa bei
19 Kant, sondern spezifische passive und aktive Synthesen, die den Sinn und die
20 Seinsgeltung von Welt, Gegenstnden und anderen Subjekten konstituieren.
21 Konstitution wird definiert als sinngebende und Seinsgltigkeit verleihende Leis-
22 tung der Subjektivitt. Phnomenologie als Konstitutionsanalyse versteht sich
23 demnach als Auslegung dieses Sinnes, den die Welt bereits „fr uns alle vor je-
24 dem Philosophieren hat“.1 Sie versucht, die konstitutiven Stufen der einheitsstif-
25 tenden und objektivierenden Prozesse retrospektiv aufzuklren, die dem ,ferti-
26 gen‘ Sinn vorangehen mssen. Seine eigentliche Bedeutung erhlt der Begriff der
27 Konstitution insofern in der genetischen Phnomenologie: Hier werden nicht
28 mehr nur einzelne intentionale Aktformen (aktive Synthesen) im Hinblick auf
29 ihre statische Fundierung in anderen, objektivierenden, Akten untersucht. Der
30 Fokus liegt nun auf den passiven Synthesen und Sinnbildungen, die jede weitere
31 intentionale Aktivitt genetisch fundieren und damit ermçglichen.2 Die geneti-
32 sche Konstitutionsanalyse beschftigt sich dabei mit der Gewordenheit sowohl
33 der Gegenstnde als auch der Subjektivitt selbst, den Strukturen und Aufbau-
34 formen ihrer eigenen zeitlichen und passiven Genesis. Im Gegensatz zu einer
35 aktfokussierten Beschreibung bleibt hier das Subjekt selbst nicht unberhrt von
36
1 Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vortrge. Hrsg. von Stephan
37
38 Strasser. Hua I. Den Haag 1950. 177.
2 Vgl. Edmund Husserl: Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und For-
39 schungsmanuskripten (1918 – 1926). Hrsg. von Margot Fleischer. Hua XI. Den Haag 1966.
40 112.

Phnomenologische Forschungen 2013 ·  Felix Meiner Verlag 2013 · ISSN 0342-8117


302 Maren Wehrle

1 seinen Konstitutionsleistungen, d. h. seinen Erfahrungen. Noematisch betrach-


2 tet, fhrt dies zu Sedimentierungen und, darauf aufbauend, zu bleibendem gegen-
3 stndlichen Sinn. Noetisch entpuppt sich das transzendentale Subjekt als „Sub-
4 strat von Habitualitten“3, die sich im konkreten leiblichen Subjekt als
5 kinsthetische Fhigkeiten, Bewegungsmuster, typische Wahrnehmungsprofile
6 oder als personale Eigenschaften und Einstellungen ausdrcken.
7 Konstitution ist fr Edmund Husserl aber von Beginn an intersubjektive Kon-
8 stitution und muss eine solche sein, da sonst die Objektivitt und Zugnglichkeit
9 der Welt fr ,jedermann‘ nicht gewhrleistet wre, wie er vor allem in den Carte-
10 sianischen Meditationen betont.4 In transzendentaler Hinsicht lsst sich daher
11 von einem intersubjektiven Apriori sprechen: Alle Subjekte stehen in „universa-
12 le[r] Koexistenz“. Diesem „Miteinander des Seins“ entspricht eine Konstitution,
13 die weder einem einzelnen transzendentalen Subjekt noch einer Gruppe von
14 Subjekten exklusiv zugesprochen werden kann, vielmehr herrscht auf transzen-
15 dentaler Ebene ein „Ineinander der Konstitution[en]“.5 Konkrete Sozialitt be-
16 stimmt Husserl hingegen als „personal verbundene Gemeinschaft“6 oder „Mit-
17 teilungsgemeinschaft“,7 die in sozialen Akten der Einfhlung und
18 Kommunikation begrndet ist. Zwischen Anrede und Antwort, Urteil und An-
19 erkennung, Streit und Einigung, findet hier eine Vergemeinschaftung auf der per-
20 sonalen (ausdrcklichen) Ebene von „Ich-Akt und Ich-Akt“8 statt. Der Wunsch,
21 die Mitteilung, die ich hier an den Anderen richte, reicht dabei regelrecht inten-
22 tional in den Anderen hinein. Dies gilt in gleichem Maße fr die Habitualitten
23 der einzelnen Personen: In sozialen Verbindungen, wie einer Familie oder einem
24 Verein, reicht die Habitualitt „eines jeden in die jedes anderen hinein“.9 Jede
25 Vielheit hat so ihre „verbundene Habitualitt“,10 die auf vereinigten kommunika-
26 tiven Akten beruht. Das „Streben nach intersubjektiver Einstimmigkeit“11 inner-
27 halb dieser Akte fhrt dabei auf noematischer Seite zu bleibenden sozialen, kul-
28 turellen oder wissenschaftlichen Erwerben, die fr alle verfgbar sind und auf
29 die sich immer wieder zurckgreifen lsst. Eine soziale Gemeinschaft wird so
30
31
32
33 3 Husserl: Cartesianische Meditationen. 102.
34 4 Ebd. 123.
5 Edmund Husserl: Zur Phnomenologie der Intersubjektivitt. Texte aus dem Nachlass.
35
Dritter Teil 1929 – 1935. Hrsg. von Iso Kern. Hua XV. Den Haag 1973. 371.
36 6 Ebd. 472.
7 Ebd. 475.
37
8 Ebd. 477.
38 9 Ebd. 479.
39 10 Ebd.

40 11 Ebd. 477.
Konstitution des Sozialen oder soziale Konstitution? 303

1 von Husserl analog zur Einzelperson als eine „Personalitt hçherer Ordnung“12
2 angesehen.
3 Doch lsst sich neben dieser ausdrcklichen (personalen) Ebene der sozialen
4 Handlung bei Husserl auch eine Beschreibung weniger expliziter sozialer Erfah-
5 rung finden? Msste ein solches ausdrckliches „habituelles Wir“13 nicht seine
6 Entsprechung oder gar Fundierung in der Ebene der leiblichen Erfahrung fin-
7 den? Wenn jede Konstitution, d. h. jeder weltliche Sinn, bereits auf Intersubjekti-
8 vitt zurckweist und jede Welterfahrung immer schon eine Gemeinschaftser-
9 fahrung ist, dann muss sich dies auch in den passiven Schichten der Erfahrung
10 niederschlagen und dort aufzeigen lassen.
11 Der folgende Beitrag mçchte eine solche implizite Ebene sozialer Erfahrung,
12 eine passive Konstitution des Sozialen aufzeigen: Als Ausgangspunkt der berle-
13 gungen soll dabei das Konzept einer Gemeinschaftshabitualitt dienen. Diesen
14 Begriff verwendet Husserl nur ein einziges Mal im zweiten Teil der Intersubjek-
15 tivittsbnde, um die Verflechtung zwischen Einzelsubjekt und Gemeinschaft
16 offenzulegen. Trotzdem kçnnte der Begriff der Gemeinschaftshabitualitt in ei-
17 ner genetisch erweiterten Form den Kern einer vorprdikativen Ebene sozialer
18 Erfahrung bilden, die alle hçheren kommunikativen sozialen Akte fundiert. Im
19 Folgenden wird der Versuch gemacht zu erlutern, wie sich das oben zitierte
20 „Ineinander der Konstitution“ auf einer solchen passiv-leiblichen, d. h. nicht aus-
21 drcklichen Ebene konkreter Subjektivitt manifestieren kçnnte. Dabei wird zu-
22 nchst auf den Begriff der Habitualitt bei Husserl nher eingegangen. Hierbei
23 wird zwischen verschiedenen Stufen der Habitualitt unterschieden, namentlich
24 passiver, leiblicher und personaler Habitualitt. Ausgehend davon und in Analo-
25 gie dazu wird versucht zu klren, was Husserl unter Gemeinschaftshabitualitt
26 verstanden haben kçnnte. ber Husserl hinausgehend soll dieses Konzept gene-
27
tisch erweitert werden, um eine Ebene passiver sozialer Konstitution freizule-
28
gen. Der Fokus wird hierbei besonders auf unterschiedliche Formen leiblicher
29
Gemeinschaftshabitualitt gelegt. Im abschließenden Punkt sollen die phno-
30
menologischen Ergebnisse in einen umfassenderen Kontext gesetzt werden, der
31
es erlaubt, diese mit postmodernen Genealogien und sozialkonstruktivistischen
32
Anstzen ins Gesprch zu bringen.
33
In diesem Sinne ließe sich eine (aktive) Konstitution des Sozialen, ausgehend
34
von leiblichen Subjekten her, wie folgt denken: Gemeinsame Ttigkeiten und
35
Erlebnisse fhren hier zu gemeinsamen leiblichen Habitualitten, die als positi-
36
ves Fundament fr hçhere soziale Akte fungieren. Dies wird als explizite Soziali-
37
tt bezeichnet. Zugleich kçnnte man aber von einer passiv-diskursiven oder so-
38
39 12 Ebd. 479.
40 13 Ebd.
304 Maren Wehrle

1 zialen Konstruktion des Subjekts sprechen. berpersonale Traditionen und


2 Normen schreiben sich hier durch Konditionierungen oder Disziplinierungen
3 des Leibes (gewaltsam) in die subjektive Erfahrung ein. Hier wird Sozialitt
4 nicht durch Subjekte konstituiert, sondern bestehende soziale Normen werden
5 verleiblicht bzw. inkorporiert. Dies soll als implizite Sozialitt bezeichnet wer-
6 den. Genau wie in Husserls Theorie der Fremderfahrung spielt also hier die Leib-
7 lichkeit eine zentrale Rolle. Leibliche Gemeinschaftshabitualitt fundiert und
8 vermittelt einerseits „in der faktischen Welt die Verstndigung der Geister“,14 an-
9 dererseits stellt sie aber auch in Form von habituellen ,Scheuklappen‘ die Grenze
10 von sozialer Erfahrung und Empathie dar.
11
12
13 2. Genetische Stufen der Habitualitt
14
15 Wie oben schon angemerkt, steht im Zentrum von Husserls genetischer Phno-
16 menologie die Einsicht, dass jede Erfahrung oder Konstitution des Subjekts Spu-
17 ren hinterlsst, und zwar nicht nur in Form von gegenstndlichem Sinn, sondern
18 gerade auch als Vernderungen im erfahrenden Subjekt selbst. Diese bleibenden
19 Vernderungen, die durch und mit der Erfahrung entstehen, nennt Husserl Habi-
20 tualitten. Mit dem Konzept der Habitualitt thematisiert Husserl den persona-
21 len Charakter des Subjekts, der sich in bleibenden berzeugungen, Einstellun-
22 gen sowie expliziten und impliziten Erwerben ausdrckt. Dieser bleibende Stil
23 des Erfahrungssubjekts ist dasjenige, was dem Subjekt aus Akten des Urteilens,
24 Entscheidens und Wertens bleibt; wie etwa die erstmalige Entscheidung fr eine
25 politische Richtung eine berzeugung schafft, die ber diesen Akt hinausgeht:
26 „[S]o vergeht dieser flchtige Akt, aber nunmehr bin ich und bleibend das so
27 und so entschiedene Ich, ich bin der betreffenden berzeugung.“15 Habitualitt
28 muss aber nicht auf nachhaltige Effekte von expliziten Verstandes- und Willens-
29 akten beschrnkt werden, sondern kann in einem umfassenderen Sinn als etwas
30 verstanden werden, das in wiederholten Interaktionen des konkreten Subjekts
31 mit der Umwelt und anderen Subjekte entsteht oder bereits biologisch-generativ
32 im Subjekt bzw. Organismus angelegt ist.16 Hierzu wrden dann sowohl Dispo-
33
14 Edmund Husserl: Zur Phnomenologie der Intersubjektivitt. Texte aus dem Nachlass.
34
35 Erster Teil 1905 – 1920. Hrsg. von Iso Kern. Hua XIII. Den Haag 1973. 230.
15 Husserl: Cartesianische Meditationen. 101.
36 16 Anstze fr ein solches erweitertes Konzept der Habitualitt lassen sich auch bei Husserl

37 selbst finden. Er unterscheidet diesbezglich zwischen einer primren Passivitt von Disposi-
38 tionen und Trieben und der sekundren Passivitt einer Habitualitt, die auf vorangehende
aktive (explizite) Willensentschlsse zurckgeht. Weiterhin betont er, dass das psychophysi-
39 sche Subjekt ein Subjekt der (praktischen) Vermçgen oder des Kçnnens ist, dessen positive
40 Potenzialitt „immerfort in Bereitschaft“ ist. (Edmund Husserl: Zur Phnomenologie der In-
Konstitution des Sozialen oder soziale Konstitution? 305

1 sitionen, Triebe, praktische Vermçgen als auch Interessen, Einstellungen und


2 berzeugungen zhlen. Darber hinaus lassen sich Interessen und berzeugun-
3 gen wie praktische Vermçgen des Subjekts nicht auf eine rein solipsistische Ent-
4 stehung und Bedeutung reduzieren, wie am Beispiel der Gemeinschaftshabituali-
5 tt deutlich werden wird. Habitualitt ist insofern ein Konzept, das eine große
6 Bandbreite aufweist, da es sich sowohl individuell als auch sozial, sowohl leib-
7 lich bzw. kçrperlich als auch kulturell verstehen lsst.17
8 Im Folgenden werden nun drei genetische Stufen unterscheiden, in denen Ha-
9 bitualisierungsprozesse auftreten kçnnen: auf der Ebene der passiven Synthesen
10 (Assoziation), der leiblichen Erfahrung, und der Ebene ausdrcklicher Entschei-
11 dungen und expliziter berzeugungen.
12 Auf passiver Ebene kann man von Habitualisierungsprozessen sprechen, da
13 sich hier durch wiederholte individuelle Erfahrungen ebenfalls so etwas wie ein
14 bleibender Erfahrungsstil generiert. Dieser bestimmt die individuelle und zu-
15 gleich typische Art und Weise, wie ein Subjekt bestimmte hnliche Sinneseindr-
16 cke und Erlebnisse in spezifischer Weise zusammen wahrnimmt. Auf der Basis
17 vorangegangener Erfahrung wird hier bereits festgelegt, was das Subjekt im Sin-
18 ne der Prinzipien von hnlichkeit und Kontrast jeweils zuknftig affiziert bzw.
19 berhaupt affizieren kann: Dasjenige, was uns affizieren oder ,wecken‘ soll,
20 muss sich zunchst im Wahrnehmungsfeld fr uns abheben. Dies erfolgt nach
21 Husserl auf Grund der Prinzipien von hnlichkeit und Kontrast. Sinnliches
22 kann uns insofern nur affizieren, als es sich hnlich oder aber kontrastiv in Rela-
23 tion zum gegenstndlichen oder zeitlichen Wahrnehmungshorizont des Sub-
24 jekts verhlt, d. h. zum aktuell aufgefassten Hintergrund (der rote Fleck auf wei-
25 ßem Hintergrund)18 oder aber zu dem, was das Subjekt zeitlich zuvor
26 wahrgenommen hat, seiner ,Wahrnehmungsgeschichte‘. Auf passiver Ebene be-
27 steht diese Wahrnehmungsgeschichte aus automatischen Niederschlgen und Se-
28
dimentierungen der Erfahrung, die in der Folge zu einem bestimmten Stil von
29
30 tersubjektivitt. Texte aus dem Nachlass. Zweiter Teil 1921 – 1928. Hrsg. von Iso Kern. Hua
31 XIV. Den Haag 1973. 253. 255). Maurice Merleau-Ponty beschreibt im Anschluss daran die
leibliche Ebene der Habitualitt anhand seiner Auslegung des psychologischen Konzepts des
32
„Kçrperschemas“ (schma corporel). Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Die Phnomenologie der
33 Wahrnehmung. bers. von Rudolf Boehm. Berlin 1966. 123; Shaun Gallagher: How the body
34 shapes the mind. Oxford 2005. 17 f. Autoren, die kognitionswissenschaftliche (embodied cog-
35 nition), neurowissenschaftliche oder biologische Anstze integrieren, benutzen das Konzept
der Habitualitt ebenfalls in dem oben angegebenen, umfassenderen Sinn. Vgl. Evan Thomp-
36 son: Mind in life. Biology, phenomenology and the sciences of the mind. Cambridge 2007.
37 28 f.; Shaun Gallagher: Lived body and environment. In: Research in Phenomenology 16
38 (2004). 139 – 170.
17 Vgl. Dermot Moran: Edmund Husserl’s phenomenology of habituality and habitus. In:
39 Journal of the British Society for Phenomenology 42 (2011). 53 – 77.
40 18 Vgl. Husserl: Analysen zur passiven Synthesis. Hua XI. 139 f.
306 Maren Wehrle

1 Assoziation und Antizipation fhren. Da jedes konkrete Subjekt unterschiedli-


2 che Erfahrungen macht, die wiederum ganz spezifische Spuren hinterlassen,
3 lsst sich auf dieser Ebene bereits von einer passiven, aber dennoch individuellen
4 Einstellung oder Justierung des Subjekts sprechen, die als Fundierung fr alle
5 hçheren Formen der Habitualitt gelten kann. Eine solche passive (Vor-)Form
6 von Habitualitt msste man mit Husserls Begrifflichkeit als eine primre Passi-
7 vitt bezeichnen oder aber im Anschluss an Merleau-Ponty als eine Vergangen-
8 heit, „die niemals [explizite] Gegenwart war“,19 unsere Gegenwart aber dennoch
9 oder gerade deshalb stets subliminal beeinflusst.
10 Als darauf aufbauende zweite Stufe ließe sich eine leibliche Form der Habitua-
11 litt annehmen. Praktische leibliche Erwerbe und Vermçgen oder sogenannte
12 (coping) skills20 stellen insofern die Grundlage fr jede aktuelle Aktivitt des Lei-
13 bes dar. Habitualitt reprsentiert hier das individuell-leibliche Ich-Kann, das
14 Kçnnen einer Person. Dieser habituelle Leib, wie man jenes mit Merleau-Ponty
15 nennen kçnnte, macht es dem aktuell agierenden Leib erst mçglich, sich in der
16 Welt zu orientieren, und sorgt damit fr eine Kontinuitt der Erfahrung.21 Dabei
17 bleibt der habituelle Leib, mit seinen spezifischen Reaktionsweisen, Bewegungs-
18 ablufen und Wegesystemen – sowie biologischen Grundlagen und Prozessen –
19 fr das personale Subjekt weitgehend anonym, d. h. nicht thematisch. Neben die-
20 sen operativ und anonym wirkenden Vermçgen und Fhigkeiten fungiert leibli-
21 che Habitualitt auch als implizites Gedchtnis aller inkorporierten Erlebnisse.22
22 Hier schreiben sich nicht nur Fhigkeiten und Bewegungsmuster ein, sondern
23 auch angenehme und schmerzhafte Erlebnisse, die bei hnlichen Umstnden au-
24 tomatisch aktualisiert werden. Leibliche Habitualitt kann insofern sowohl pri-
25 mr passiv entstehen als auch durch explizites Lernen von Bewegungen ,aktiv‘
26 erworben werden.
27 Habitualitt im eigentlichen Sinne wird bei Husserl als aktive bernahme ei-
28 ner berzeugung auf personaler, d. h. thematischer Ebene verstanden. In diesem
29 Sinne wird Habitualitt als eine rein sekundre Passivitt definiert: Das heißt,
30 sie wird zunchst aktiv erworben und wirkt hernach passiv auf den weiteren
31 Gang der Erfahrung. Personale Akte der Stellungnahme oder Wertung werden
32 so zu bleibenden berzeugungen des Subjekts, wie etwa die erstmalige Entschei-
33
34 19 Merleau-Ponty: Die Phnomenologie der Wahrnehmung. 283.
35
20 Vgl. Hubert L. Dreyfus: Intelligence without representation: Merleau-Ponty’s critique
of mental representation. In: Phenomenology and the Cognitive Sciences 1 (2002). 367 – 383;
36 Elizabeth Ennen: Phenomenological coping skills and the striatal memory system. In: Pheno-
37 menology and the Cognitive Sciences 2 (2003). 299 – 325.
21 Merleau-Ponty: Die Phnomenologie der Wahrnehmung. 107 f.
38 22 Vgl. Thomas Fuchs: Das Gedchtnis des Leibes. In: Phnomenologische Forschungen
39 N.F. 5 (2000). 71 – 89; Michela Summa: Das Leibgedchtnis. Ein Beitrag der Phnomenologie
40 Husserls. In: Husserl Studies 27 (2011). 173 – 196.
Konstitution des Sozialen oder soziale Konstitution? 307

1 dung fr einen bestimmten Beruf oder eine religiçse Lebensweise, die zuknftig
2 die gesamte Erfahrung auch in passiver, d. h. impliziter, Weise prgt. Die Wir-
3 kung personaler Habitualitten kann dabei im Gegensatz zu den rein passiven
4 Erwerben vom Subjekt – zumindest teilweise – kontrolliert werden: So kann
5 eine Gesinnung oder Lebensweise bewusst aufgegeben werden, und in der Folge
6 verndern sich auch die damit verbundenen Verhaltensweisen und Einstellun-
7 gen.
8 Alle Ebenen zusammen bilden das, was man eine Person mitsamt ihrem per-
9 sçnlichen Erfahrungsstil nennen kann. Dieser typische Erfahrungsstil bildet
10 dann in Verbindung mit aktuellen Bedrfnissen oder Handlungszielen den Maß-
11 stab fr die Selektionskriterien, die bestimmen, was wir innerhalb eines aufge-
12 fassten Wahrnehmungsfeldes bemerken, bzw. was jeweils im Fokus oder Hinter-
13 grund der Wahrnehmung erscheint. Man kçnnte dahingehend argumentieren,
14 dass der selektive Wahrnehmungsstil von Subjekten nicht nur Einfluss darauf
15 hat, wie wir etwas wahrnehmen und erfahren, sondern auch darauf, was wir zu
16 einem gegebenen Zeitpunkt berhaupt bemerken und erfahren kçnnen. Die
17 Funktion einer solchen selektiven Erfahrung, die habituell fundiert ist, ermçg-
18 licht dabei auf der einen Seite eine stabile und kohrente Erfahrung der Umwelt
19 fr das Subjekt und auf der anderen Seite eine relative Stabilitt des Subjekts, der
20 Person selbst, „ein stehendes und bleibendes personales Ich“.23 Letzteres ist be-
21 sonders in Bezug auf hçherstufige intersubjektive Handlungen und Kommuni-
22 kation von entscheidender Bedeutung, da solche sozialen Interaktionen auf rela-
23 tiv ,stabile‘ Personen mit identifizierbaren und antizipierbaren Einstellungen
24 und Positionen angewiesen sind. Auf der anderen Seite fungiert der habituelle
25 Erfahrungsstil als Beschrnkung dessen, was Subjekte oder Gruppen ,objektiv‘24
26
27 23 Husserl: Cartesianische Meditationen. 101.
28
24 Objektiv heißt, von einem objektiven Standpunkt, einer Dritten-Person-Perspektive, aus
betrachtet, wie sie zum Beispiel bei psychologischen Experimenten zur Aufmerksamkeit vor-
29
liegt. Hier wird den Probanden ein Bild, eine Szene etc. gezeigt und geprft, was jeweils davon
30 bemerkt wurde. In Experimenten zum Phnomen der Inattentional Blindness wird die Diskre-
31 panz zwischen Prsentiertem und Gesehenem besonders deutlich: Hier werden die Probanden
in eine bestimmte Aufgabe involviert, z. B. die Psse zu zhlen, die in einem Film ein Basket-
32
ballteam jeweils spielt. Ein im Film plçtzlich auftauchender Gorilla (bzw. als Gorilla verkleide-
33 ter Mensch) wird dabei in den allermeisten Fllen nicht bemerkt, obwohl er sich in der Mitte
34 des Blickfeldes befindet. Das, was Probanden jeweils explizit bemerken, hngt demnach nicht
35 vom visuell bestimmbaren Fokus ab, sondern von den individuellen Selektionskriterien der
Subjekte, die hier durch die aktuelle Handlung oder Aufgabe bestimmt sind: Ein Gorilla ist in
36 diesem Fall nicht relevant, besonders, wenn dieser kein weißes T-Shirt trgt wie die visuell zu
37 verfolgende Basketballgruppe. Vgl. Daniel J. Simon, Christopher F. Chabris: Gorillas in our
38 midst: Sustained inattentional blindness for dynamic events. In: Perception 28 (1999). 1059 –
1074; Steven B. Most, Brian J. Scholl, Erin R. Clifford, Daniel J. Simons: What you see is what
39 you set: Sustained inattentional blindness and the capture of awareness. In: Psychological Re-
40 view 112 (2005). 217 – 242.
308 Maren Wehrle

1 sehen, bemerken oder fr wichtig halten. In diesem Sinne lsst sich auch von
2 habituellen Scheuklappen sprechen.
3
4
5
6
3. Gemeinschaftshabitualitt
7
8
Der Ursprung der Personalitt, wie sie im Konzept der Habitualitt zur Sprache
9
kommt, liegt nach Husserls eigener Aussage im Sozialen.25 Dies impliziert fr
10
Husserl zunchst immer die konkrete Begegnung zweier Subjekte oder der Ver-
11
such der Einfhlung in ein anderes Subjekt, auf deren Fundierung weitere sozia-
12
le Akte aufbauen. Komplementr oder kontrastiv zu dem expliziten Akt der Ein-
13
fhlung in Mitsubjekte thematisiert Husserl auch die (ungewollte)
14
Fremdeinwirkung derselben Mitsubjekte auf mein eigenes Seelenleben. Fremde
15
Gedanken, Gefhle und Befehle dringen in diesem Sinne in die eigene Seele
16
ein.26 Diesen „Zumutungen“ kann das Subjekt dann entweder passiv nachgeben
17
oder sich diese „selbstttig aneignen“27 und zu eigenen Stellungnahmen machen.
18
Neben konkreten Einzelsubjekten, die sich einfhlend gegenbertreten oder
19
sich gegenseitig intentional beeinflussen, gibt es fr Husserl aber noch eine allge-
20
meine Ebene der Fremdeinwirkungen, eine „unbestimmte […] Allgemeinheit
21
auftretende[r] Zumutungen“, die in Gestalt von Sitten, Bruchen oder eines geis-
22
tigen Milieus auftritt und schlicht als Tradition oder Konvention bezeichnet wer-
23
den kann.28 Diese berpersonale Ebene der Tradition kçnnte man als eine allge-
24
meine und primr passive Form von Gemeinschaftshabitualitt verstehen. Die
25
Personalitt beruht in diesem Sinne nicht nur auf konkreten und explizit einfh-
26
lenden, nachverstehenden oder sozialen Akten, sondern der Ursprung der Perso-
27
nalitt im Sozialen, wie Husserl es ausdrckt, zeigt sich hier in einem tieferen,
28
d. h. passiven Sinn. Sozialitt beginnt hier nicht erst dort, wo ein Subjekt aktiv in
29
eine Sozialitt oder Gemeinschaft eintritt. Vielmehr wird deutlich, dass sich sei-
30
ne Erfahrung immer schon innerhalb einer solchen Sozialitt abspielt. Der habi-
31
tuell ausgebildete Erfahrungsstil ist also nicht nur individuell, sondern Teil einer
32
Tradition, das Subjekt ist ein „Kind seiner Zeit“ und „Erbe“ einer Kultur.29 Ha-
33
bitualitt ist insofern nicht nur einzelsubjektiv bestimmt, sondern beinhaltet
34
auch berpersonale Faktoren, wie etwa kulturelle Normen. Das Subjekt wird in
35 25 Husserl: Zur Phnomenologie der Intersubjektivitt. Zweiter Teil. 175.
36 26 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phnomenologie und phnomenologischen Phi-
37 losophie. Zweites Buch. Phnomenologische Untersuchungen zur Konstitution. Hrsg. von
38 Marly Biemel. Hua IV. Den Haag 1952. 268.
27 Ebd. 269.
39 28 Ebd.

40 29 Husserl: Zur Phnomenologie der Intersubjektivitt. Zweiter Teil. 223.


Konstitution des Sozialen oder soziale Konstitution? 309

1 eine spezifische Tradition hineingeboren, die seine personale Erfahrung und vor
2 allem seine Leiblichkeit von Beginn an prgt, und die dem Subjekt durch wieder-
3 holte Interaktionen mit seiner Umwelt sozusagen in ,Fleisch und Blut‘ bergeht.
4 Hier zeigt sich in gleicherweise wie bei der Habitualitt der Einzelperson die
5 zentrale Rolle der Leiblichkeit. Leibliche Habitualitt beruht demzufolge nicht
6 nur auf subjektiven Handlungen und Bewegungen, sondern hat immer schon
7 berpersonale, soziale und kulturelle Wurzeln. Bewegungen, kçrperliche Reak-
8 tionen sowie Gefhle bilden sich innerhalb von Institutionen wie Familie, Schu-
9 le oder Militr aus. Diese kulturell spezifischen Bewegungsmuster und Sitten
10 schreiben sich durch Wiederholung regelrecht in den Leib ein und bestimmen,
11 wie wir uns in bestimmten Umgebungen und Situationen bewegen, unmittelbar
12 kçrperlich reagieren oder sogar, wie wir fhlen. In hnlicher, aber radikalerer
13 Weise hat Michel Foucault dies in berwachen und Strafen als Disziplinierung
14 von Kçrpern beschrieben, am Beispiel von vorgegebenen Sitz- und Stehhaltun-
15 gen in Schule und Fabrik sowie automatisierter Mançver im Militr.30 Durch
16 wiederholte Zwangsmaßnahmen werden Kçrper moralisch gezchtigt oder aber
17 çkonomisch nutzbar gemacht: Die Einschreibung von Macht und Normen setzt
18
direkt am Kçrper und damit in der Erfahrung der Subjekte an: „Es handelt sich
19
nicht mehr um Zeichen, sondern um bungen: Stundenplne, Zeiteinteilungen,
20
vorgeschriebene Bewegungen, regelmßige Ttigkeiten, einsame Meditation, ge-
21
meinsame Arbeit, Schweigen, Aufmerksamkeit, Respekt, gute Gewohnhei-
22
ten.“31 Diese bungen werden im Kontext bestimmter Institutionen und meist
23
zusammen mit anderen Subjekten ausgefhrt. Hier entsteht zwar keine Habitua-
24
litt durch eine gemeinsame (freiwillige) Ttigkeit im eigentlichen Sinne, wohl
25
aber entstehen Gruppen von Kçrpern, d. h. Subjekten, die dieselben leiblichen
26
Habitualitten ausbilden (einen hnlichen Bewegungs- und Reaktionsstil auf-
27
weisen).
28
Gemeinschaftshabitualitt im Sinne einer solchen berpersonalen-kulturellen
29
Habitualitt hat nach den im zweiten Abschnitt vorgenommenen Differenzie-
30
rungen als primre Passivitt zu gelten. Dies wrde aber nicht nur fr die oben
31
erwhnten institutionellen Zwangsmaßnahmen, sondern auch fr gewçhnliche
32
33
Entwicklungs- und Lernprozesse bei Kindern gelten, in denen etwa Bewe-
34
gungs- und Erfahrungsmuster und Gefhlsreaktionen von den Bezugspersonen
35
passiv bernommen, d. h. imitiert werden. In beiden Fllen ist das so primr pas-
36 siv habitualisierte Verhalten fr das Subjekt nicht in seiner ,Gewordenheit‘ er-
37 kennbar und wird als ,normal‘ empfunden. Davon unterschiedene Bewegungs-
38 30 Michel Foucault: berwachen und Strafen. Die Geburt des Gefngnisses. bers. von
39 Walter Seitter. Frankfurt a.M. 1994. 173 ff.
40 31 Ebd. 167.
310 Maren Wehrle

1 muster, Gewohnheiten oder Reaktionen von Personen mit einer anderen institu-
2 tionellen, kulturellen oder sozialen Prgung werden insofern als Abweichung
3 von dieser Normalitt erfahren.32
4 Doch neben solch einer primren Passivitt, die man auch als soziale Konstitu-
5 tion oder gar Konstruktion bezeichnen kann, lsst sich phnomenologisch von
6 Gemeinschaftshabitualitt auch in einem ,positiven‘ oder aktiveren Sinne reden,
7 als Konstitution des Sozialen: Fr Husserl bedeutet Gemeinschaftshabitualitt
8 im Sinne einer Tradition in erster Linie eine konstitutive Leistung von Subjek-
9 ten. Das Subjekt ist hier nicht nur Teil einer Tradition, sondern jeder seiner
10 Akte, jede berzeugung hat nicht nur eine individuelle Fortgeltung, sondern
11 schafft nach Husserl eine Tradition. Durch die Verflechtung des Einzel-Ich in
12 die Gemeinschaft kommt es so nicht nur zu personalen Habitualitten, sondern
13 zur Konstitution einer Gemeinschaftshabitualitt, einer gemeinsamen Traditi-
14 on.
15 Genetisch erweitert und auf die Ebene der Leiblichkeit bertragen, hieße
16 dies, dass sich durch kçrperliche Ttigkeiten mit Anderen gemeinsame Habitua-
17 litten generieren kçnnen. Durch gemeinsam verrichtete Handlungen oder ge-
18 meinsam erlebte Situationen kçnnen sich gemeinsame Interessen und Ziele bil-
19 den, die ber die der einzelnen Subjekte hinausgehen. Dies ist etwa bei Kindern
20 zu beobachten, wenn zwei anfangs allein spielende Kinder plçtzlich anfangen,
21 zusammen zu spielen, etwa versuchen, ein Objekt gemeinsam zu bewegen. Bei-
22 spiele fr eine solche passive leibliche Gemeinschaftshandlung sind bei Erwach-
23 senen nur schwer zu finden, da hier immer schon die kognitiv hçherstufige Wir-
24 Intentionalitt mitspielt, d. h. explizite Interessen und Ziele der Beteiligten die
25 Handlungen im Voraus bestimmen. Mçgliche Beispiele kçnnten hierbei aber ge-
26 meinsam ausgefhrte Teamsportarten wie Fuß- oder Basketball sein sowie ge-
27
meinsames Tanzen oder Musizieren, insbesondere wenn es sich um Improvisa-
28
tionen handelt.33 Husserl beschreibt in diesem Kontext eine Art leibliches
29
Ineinander der Konstitution: In gemeinsamen Ttigkeiten sind die Subjekte
30
wechselseitig aufeinander bezogen, das Tun des einen geht in das Tun des Ande-
31
ren mit ein, und die Subjekte durchdringen sich auf verbindende Weise.34 Eine
32
auf Dauer gemeinsam verrichtete kçrperliche Ttigkeit, wie etwa eine Sportart
33
oder ein Spiel, fhrt auf diese Weise noch in strkerem Maße als hnliche Erfah-
34
rungen oder dasselbe Umfeld auf berpersonaler Ebene zu einem gemeinsamen
35
36 32 Zu einer ausfhrlicheren Darstellung und Diskussion des Normalittsbegriffs bei Hus-

37 serl siehe Maren Wehrle: Die Normativitt der Erfahrung. berlegungen zur Beziehung von
38 Normalitt und Aufmerksamkeit bei E. Husserl. In: Husserl Studies 26 (2010). 167 – 187.
33 Vgl. hierzu etwa den Beitrag von Daniel Schmicking ber gemeinsames Musizieren in
39 diesem Band.
40 34 Husserl: Zur Phnomenologie der Intersubjektivitt. Zweiter Teil. 179.
Konstitution des Sozialen oder soziale Konstitution? 311

1 Bewegungs- und Erfahrungsstil, der die entsprechenden Antizipationen, Erwar-


2 tungshaltungen und Wahrnehmungsvorlieben generiert. Ein noch aussagekrfti-
3 gerer Indikator fr die mçgliche Ausbildung einer gemeinsamen, d. h. einer leib-
4 lich-persçnlich verbindenden Habitualitt kçnnte die von Merleau-Ponty
5 erstmals beschriebene Zwischenleiblichkeit (intercorporit)35 oder eine so ge-
6 nannte Enactive Intersubjectivity36 sein.
7 Fr eine solche vorprdikative Form leiblicher Verstndigung lassen sich
8 auch auf empirischer Ebene Hinweise finden: Durch so genannte Spiegelneuro-
9 nen, die als biologische Grundlage fr Empathie angesehen werden, sind eigene
10 Bewegungen und die Bewegungen anderer Menschen direkt ,neuronal verbun-
11 den‘.37 Darber hinaus deuten aktuelle Studien darauf hin, dass die Rolle der leib-
12 lichen Habitualitt hier ebenfalls zentral sein kçnnte: Wie wir wahrnehmen,
13 und was wir jeweils bemerken, hngt etwa davon ab, wie bekannt oder unbe-
14 kannt fr uns bestimmte Bewegungsmuster und Erscheinungen sind. Was wir
15 jeweils innerhalb einer dynamischen (Tanz-)Szene bemerken kçnnen, wird da-
16 von bestimmt, wie gut wir die gezeigten Bewegungsablufe selbst beherrschen.
17 Experten zeigen hier ein differenzierteres Aufmerksamkeitsprofil, d. h. sie erken-
18 nen rumliche Vernderungen und zeitliche Verschiebungen besser als Amateu-
19 re oder Nicht-Tnzer. In einem entsprechenden Experiment, in dem Balletttn-
20 zer und Capoeiratnzer jeweils Tanzvideos des eigenen und des anderen
21 Tanzstils zu sehen bekamen, ließen sich dieselben Tendenzen feststellen. Die
22 Wahrnehmung des eigenen Tanzstils war nicht nur differenzierter, und es konn-
23
24
25
26
27 35 Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Keime der Vernunft. Vorlesungen an der Sorbonne 1949 –

28 1952. Hrsg. von Bernhard Waldenfels. Mnchen 1994. 194; Maurice Merleau-Ponty: Das
Auge und der Geist. Philosophische Essays. Hamburg 2003. 256; sowie Bernhard Waldenfels:
29
Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phnomenologie des Leibes. Hrsg. von Regula Giuliani.
30 Frankfurt a.M. 2000. 287 ff.; Thomas Fuchs: Non-verbale Kommunikation: Phnomenologi-
31 sche, entwicklungspsychologische und therapeutische Aspekte. In: Zeitschrift fr klinische
Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie 51 (2003). 333 – 345.
32 36 Thomas Fuchs, Hanne de Jaegher: Enactive intersubjectivity: Participatory sense-ma-
33 king and mutual intercorporation. In: Phenomenology and the Cognitive Sciences 8 (2009).
34 465 – 486.
37 Darin sehen Kognitionswissenschaftler und Phnomenologen ein physiologisches Indiz
35
fr die neuronale Verankerung sozial-kognitiver Leistungen. Mittlerweile scheint das Interesse
36 an Spiegelneuronen aus vorwiegend methodologischen Grnden jedoch abgenommen zu ha-
37 ben. Vgl. Giacomo Rizzolatti, Leonardo Fogassi, Vittorio Gallese: Neurophysiological mecha-
38 nisms underlying the understanding and imitation of action. In: Nature Reviews Neuroscience
2 (2001). 661 – 670; Simone Schtz-Bosbach, Wolfgang Prinz: Perceptual resonance: Action-
39 induced modulation of perception. In: Trends in Cognitive Science 11 (2007). 349 – 355; Shaun
40 Gallagher, Dan Zahavi: The phenomenological mind. London. New York 2008. 181 f.
312 Maren Wehrle

1 ten anschließend mehr Details wiedergeben werden, sondern dieser wurde auch
2 in den meisten Fllen positiver bewertet.38
3 Welche Auswirkung kçrperliche Fhigkeiten und Habitualitten auf die
4 Wahrnehmung und vor allem auf die Antizipation von Bewegungen haben, zei-
5 gen auch Studien, die den Einfluss der von motorischen Fertigkeiten (skills) auf
6 die Art und Weise untersuchen, wie und was wir im weiteren Wahrnehmungsver-
7 lauf antizipieren. Verschiedene Wahrnehmungen werden hier automatisch mit
8 den entsprechenden gelernten Bewegungen verknpft und gezeigte Bewegun-
9 gen antizipatorisch vervollstndigt.39 Dies zeigt z. B. eine Studie, in der Amateu-
10 re, Experten und Profibasketballer angeben sollen, wie eine gezeigte Spielsituati-
11 on ausgehen wird. Whrend Amateure weitgehend falsche Antizipationen
12
machen, liegen Experten fast immer richtig. Interessant hierbei ist, dass Profis
13
dazu neigen, sich zu sehr auf ihre Erfahrung zu verlassen, und sofort den Spiel-
14
verlauf antizipieren, ohne auf die tatschlich prsentierten Informationen zu ach-
15
ten. Neue Spielausschnitte werden insofern als bereits bekannt interpretiert. Was
16
zu einem bestimmten Zeitpunkt sensuell gegeben ist oder nur antizipiert, kann
17
dabei nicht mehr unterschieden werden.40 Weiterhin gibt es Hinweise, dass pro-
18
fessionelle Basketballspieler motorische Reaktionen der anderen Spieler regel-
19
recht an deren Kçrpern ,kinematisch ablesen‘ kçnnen, noch bevor der andere die
20
21
Bewegung ausfhrt.41
22
Im Sinne einer Gemeinschaftshabitualitt kçnnte ein solcher Antizipations-
23 stil auch fr eine ganzes Team von Basketball- oder Fußballspielern gelten. Die-
24 se wre dann keine „kommunikative Vielheit“, wie Husserl es nennt, sondern
25 eine „ttige Vielheit“, die als solche ihre Sinnlichkeit und ihre Apperzeptionen
26 hat, analog zum Einzelsubjekt. Husserls Beobachtung, dass wir „nicht nur mit
27 unseren eigenen Sinnen erfahren, sondern auch mit denen des Anderen“, lsst
28
38 Beatriz Calvo-Merino, Julie Grzes, Daniel E. Glaser, Richard E. Passingham, Patrick
29
Haggard: Seeing or doing? Influence of visual and motor familiarity in action observation. In:
30 Current Biology 16 (2006). 1905 – 1910; Beatriz Calvo-Merino, Daniel E. Glaser, Julie Grzes,
31 Richard E. Passingham, Patrick Haggard: Action observation and acquired motor skills: An
fMRI study with expert dancers. In: Cerebral Cortex 15 (2005). 1243 – 1249; Beatriz Calvo-
32
Merino, Shantel Ehrenberg, Delia Leung, Patrick Haggard: Experts see it all: Configural effe-
33 cts in action observation. In: Psychological Research 74 (2010). 400 – 406.
39 Dies ist z. B. bei Personen der Fall, die regelmßig Texte abtippen: Buchstaben werden
34
35 hier automatisch mit den entsprechenden Bewegungen verknpft. Vgl. Martina Rieger: Auto-
matic keypress activation in skilled typing. In: Journal of Experimental Psychology: Human
36 Perception and Performance 30 (2004). 555 – 565.
40 Andr Didierjean, Evelyne Marmche: Anticipatory representation of visual basketball
37
38 scenes by novice and experts players. In: Visual Cognition 12 (2005). 265 – 283.
41 Salvatore M. Aglioti, Paola Cesari, Michela Romani, Cosimo Urgesi: Action anticipation
39 and motor resonance in elite basketball players. In: Nature Neuroscience 11 (2008). 1109 –
40 1116.
Konstitution des Sozialen oder soziale Konstitution? 313

1 sich insofern besttigen, als es eine psychophysische Verbindung der Erfahrung


2 von eigenen und fremden Wahrnehmungen und Bewegungen zu geben scheint.
3 Zugleich wird hier jedoch die Beschrnkung dieser gemeinschaftlichen Perspek-
4 tivitt deutlich, in dem wir nur – oder zumeist – mit den Sinnen derjenigen Ande-
5 ren erfahren, die uns hnlich sind bzw. gewisse Erfahrungen und Fhigkeiten
6 mit uns teilen: Die bevorzugten hnlichkeiten kçnnen dann entweder einen la-
7 tenten Status haben, im Sinne einer gemeinsamen (berpersonalen) Tradition,
8 oder patenten Status im Sinne gemeinsam ausgebter Ttigkeiten und Erlebnis-
9 se.
10 Gemeinschaftshabitualitt als Tradition im Sinne einer primren Passivitt be-
11 steht dabei vor dem Eintritt in konkrete Gemeinschaften und den Aktivitten in
12 ihnen. Bereits auf dieser Ebene generiert sich ein „traditioneller Stil“,42 das heißt,
13 typische Bewegungsmuster, Verhaltensreaktionen und Gewohnheiten, die zu ei-
14 nem hnlichen Wahrnehmungsstil fhren. Aber diese Traditionen, Sitten und
15 Bruche brauchen gemeinschaftliche Ttigkeiten und Handlungen, um sich ma-
16 terialisieren und damit auch stabilisieren zu kçnnen. Dies bringt aber zugleich
17 eine Vernderung der Traditionen und Konventionen mit sich, da jede performa-
18 tive Wiederholung eine zumindest minimale Sinnverschiebung und damit die
19 Mçglichkeit ihrer eigenen „konstitutiven Instabilitt“ mit sich bringt.43
20 Konkrete Gemeinschaftshabitualitt, im phnomenologischen Sinne einer se-
21 kundren Passivitt, entsteht dagegen in und durch Gemeinschaft, also durch
22 gemeinsame Erfahrung und bildet damit den positiven Boden fr ein intersubjek-
23 tives Verstndnis und gemeinsame soziale Handlungen. Mitglieder derselben Ge-
24 meinschaft haben insofern dieselbe Heimwelt, die sich aus gemeinsamen Zielen,
25 Interessen, einer gemeinsamen Geschichte und Tradition zusammensetzt. Zu-
26 gleich besteht dieser sozio-kulturelle Horizont aber auch aus hnlichen oder gar
27 gemeinsam erworbenen leiblichen Erfahrungen und Habitualitten, aus denen
28 sich ein typischer Wahrnehmungsstil ableitet. Wenn man in der Lage ist, einen
29 solchen persçnlichen Stil richtig zu apperzipieren, wird das Verhalten anderer
30 erwartbar und verstehbar. Leibliche Gemeinschaftshabitualitt macht ein sol-
31 ches Verstndnis in einem vorprdikativen Sinne mçglich und kann in dieser
32
33
34
35
42 Husserl: Zur Phnomenologie der Intersubjektivitt. Zweiter Teil. 225.
43 Judith Butler beschreibt eine solche Sedimentierung oder Materialisierung von Normen
36 anhand des biologischen Geschlechts. Sie betont dabei, dass sich in der performativen Wieder-
37 holung notwendig „Brche und feine Risse“ auftun, die der Norm entgehen, ber diese hinaus-
38 schießen oder von ihr nicht vollstndig definiert werden kçnnen. Diese „konstitutiven Instabi-
litten“ liegen im Wesen des Wiederholungsprozesses selbst und erlauben dessen De-
39 Konstitution. Vgl. Judith Butler: Kçrper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Ge-
40 schlechts. ber. von Karin Wçrdemann. Frankfurt a.M. 1997. 32 f.
314 Maren Wehrle

1 Hinsicht als Fundierung fr hçhere Stufen sozialer Handlungen und Kommuni-
2 kation gelten.
3 Zugleich wird aber auch die Einfhlung in Subjekte und soziale Handlungen
4 mit Subjekten erschwert, die nicht dieselben Normen und Erfahrungen teilen
5 und einer anderen Tradition, Gemeinschaft oder Kultur angehçren: Kontrastiv
6 zur so genannten Heimwelt44 konstituiert sich nach Husserl auch eine Fremd-
7 welt.45 Die gleichen Prozesse und Mechanismen, die so zu Kontinuitt und Iden-
8 titt der einen sozialen Gemeinschaft beitragen, kçnnen also auch zu Normie-
9 rung und Ausschluss einer anderen sozialen Gruppe fhren. Das gemeinsame
10 Umfeld, die gemeinsame Tradition, fungiert hier als eine soziale Konstitution,
11 die jede weitere Erfahrung leitet. Gemeinschaftshabitualitt als implizite Ebene
12 sozialer Erfahrung hat insofern nicht nur eine ermçglichende, sondern auch eine
13 beschrnkende Funktion.
14
15
16
17 4. Soziale Konstitution und Konstitution des Sozialen
18
19 Phnomenologisch gesehen ist Konstitution ein positiver und notwendiger Vor-
20 gang, eine „Leistung“ des Subjekts oder der Subjekte. In den passiven Schichten
21 der Erfahrung vollzieht sich diese Sinnbildung jedoch automatisch bzw. opera-
22 tiv: Sich wiederholende Vorgnge und Ttigkeiten fhren zu Kontinuitt und
23 bleibenden personalen Fhigkeiten und Eigenschaften. Getragen wird diese
24 Kontinuitt formal durch die Struktur des Zeitbewusstseins und inhaltlich
25 durch die passive Synthesis der Assoziation, die Gegebenes nach Kontrast und
26 hnlichkeit selektiert und integriert. Merleau-Ponty knpft hier an, verschiebt
27 aber die Bedeutung der Konstitution, weg von einer transzendentalen Leistung
28 hin zu einer Sinnbildung, die sich zwischen dem leiblichen Subjekt und seiner
29 Interaktion mit der Welt vollzieht. Konstitution im phnomenologischen Sinne
30 ist insofern die Bedingung fr eine kohrente (d. h. temporal und inhaltlich struk-
31 turierte) Wahrnehmung und einen gelungenen Weltbezug. Sie bildet damit zu-
32 gleich die Voraussetzung fr die Ausbildung und Stabilisierung eines personalen
33 Ich. Die Konstitution wird dabei nicht vom Subjekt allein geleistet, sondern ist
34 von Beginn an eine intersubjektive Sinnbildung. Einheitlichkeit und Objektivi-
35 tt kann insbesondere auf der Ebene kultureller Erwerbe nur durch die stndige
36 Abstimmung und Verifizierung durch Mitsubjekte zustande gebracht werden.
37
44 Vgl. Edmund Husserl: Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer
38
Konstitution. Texte aus dem Nachlass (1916 – 1937). Hrsg. von Rochus Sowa. Hua
39 XXXIX. 155.
40 45 Vgl. ebd. 168.
Konstitution des Sozialen oder soziale Konstitution? 315

1 Husserl spricht in diesem Sinne von Gemeinschaftsleistungen. Fr ihn steht die
2 explizite bereinkunft und Kommunikation der Subjekte im Vordergrund, die
3 passiv-genetische Fundierung einer solchen Wir-Intentionalitt wird hingegen
4 kaum thematisiert. Es hat sich allerdings gezeigt, dass eine gemeinsame Heim-
5 welt und gemeinsame Habitualitten die Voraussetzungen von Kommunikation
6 und bereinkunft jeglicher Art sind, selbst wenn es sich nur um eine geteilte
7 Sprache handelt.
8 Sozialitt kann nicht nur auf explizite gemeinsame Ttigkeiten, wie etwa
9 Handlungen oder Kommunikation, zurckgefhrt werden, sondern muss be-
10 reits vor jeglicher expliziter Aktivitt einzelner oder mehrerer Subjekte in impli-
11 ziter Weise vorhanden sein. Die Kultur, die Geschichte oder das jeweilige sozia-
12 le Milieu, in das ein konkretes Subjekt hineingeboren wird, prgen in diesem
13 Sinne seine spezifischen Gewohnheiten, Umgangsformen, Normen und Werte.
14 Dies geschieht von Geburt an durch Interaktion mit den Eltern, dem nheren
15 Umfeld, und durch den Einfluss eines umfassenderen Weltbildes, das ber Medi-
16 en vermittelt wird. Durch wiederholende Einbung werden so die bestehenden
17 Normen vom heranwachsenden Subjekt inkorporiert, erlernt, passiv bernom-
18 men und spter auch aktiv besttigt oder abgelehnt.
19 Aus einer anderen Perspektive kann das Konzept der Konstitution deshalb
20 auch anders verstanden werden: nicht so sehr als eine vermeintlich aktive Leis-
21 tung von Subjekten, also als eine Konstitution des Sozialen, sondern als eine so-
22 ziale Konstitution, indem das Soziale selbst es ist – in Form von gewaltsam und
23 anonym wirkenden Normen, Machtkonstellationen und Diskursen –, welches
24 das Subjekt (oder unseren Sinn von Subjekt) konstituiert. Hier bestimmt, wie
25 etwa bei Judith Butler, die geltende Werte- und Normenmatrix, was als Subjekt
26 bzw. Person gelten kann, und in welcher Weise es konstituiert, d. h. materiali-
27 siert wird. Butler spricht hier, genau wie Husserl, von einer Sedimentierung
28 oder Materialisierung, nur dass es sich hierbei nicht um eine Sinnsedimentierung
29 als positives Resultat einer konstitutiven Leistung des Subjekts handelt, sondern
30 die Normen selbst sich durch wiederholte Benennung materialisieren: Das Sub-
31 jekt muss in seiner Geschlechtsidentitt stets aufs Neue benannt werden und die-
32 se Anrufung selbst wiederholen.46
33 Besonders radikal ist das Prinzip der Wiederholung im Falle der von Foucault
34 beschriebenen kçrperlichen Disziplinierung, die durch institutionalisierte Tech-
35 niken und bungen, z. B. in Schulen, Fabriken und im Militr, vollzogen wird.
36 Kann in der diskursiven Konstitution noch ein subversives Element festgemacht
37 werden, da sich in den Wiederholungen der jeweilige Sinn bestndig verschiebt,
38 so ist dies bei der kçrperlichen Einschreibung von Diskursen schon schwieriger.
39
40 46 Judith Butler: Kçrper von Gewicht. 35 f.
316 Maren Wehrle

1 Eine Vernderung von kçrperlichen Verhaltensweisen und Gewohnheiten, etwa


2 die Art, wie wir gelernt haben zu sitzen oder zu gehen, kann nur schwer wieder
3 rckgngig gemacht werden. Dies gelingt nur in einer expliziten ,Gegenkonditio-
4 nierung‘, in der andere Bewegungsmuster mhsam eingebt werden. Soziale
5 Konstitution aus Sicht postmoderner und identittskritischer Anstze steht dem-
6 nach fr Gewalt, Macht, Normierung und Exklusion von Minderheiten. Die Ge-
7 fahr der Konstitution liegt nach ihrer Einsicht darin, dass sie ihre geschichtli-
8 chen, d. h. zeitlich relativen Produkte als objektiv, universal gltig und natrlich
9 ausgibt. Konstitution erscheint als eine aktive Handlung, einmaliger Akt und
10 verschleiert oder verbirgt damit die „Konventionen, deren Wiederholung sie
11 ist“.47 Hier wird Konstitution also als eine wiederholte Praxis verstanden, in der
12 sich bereits vorhandener Sinn (Normen) materialisiert und dabei regelrecht in
13 die Kçrper einschreibt.
14 Ein Blick auf postmoderne Anstze kann helfen zu zeigen, wie berindividu-
15 elle Wertesysteme von Beginn an alle Bereiche der Erfahrung beeinflussen: Sie
16 bestimmen dasjenige, was wir bemerken und wahrnehmen, fhlen, wollen und
17 denken. bergreifende soziale und kulturelle Normen sind in dieser Hinsicht
18 bereits immer schon Teil unserer Gemeinschaftshabitualitt und damit auch Teil
19 unseres operativen Leibseins. Soziale Normen und Konventionen sind somit
20 zwar meist nicht explizit greifbar oder erfahrbar, aber dafr immer schon Teil
21 unserer Erfahrung und machen deren sozialen Charakter aus. Diese implizite
22 Basis teilen wir mit den Menschen, die hnliche Erfahrungen gemacht haben,
23 d. h. ein hnliches reales oder mediales Umfeld haben. Aus diesem Grund sind
24 uns hnliche Dinge wichtig oder unwichtig, kçnnen wir uns verstehen und mit-
25 einander bereinkommen oder gemeinsam handeln. Hierdurch begreifen wir
26 auch erst gewisse Ereignisse und Entwicklungen als etwas, das uns gemeinsam
27 angeht. Erst auf der Ebene einer solchen expliziten Sozialitt haben wir die
28 Wahl, zwischen einer rein passiven bernahme oder einer selbstttigen Aneig-
29 nung (oder Ablehnung) von kulturellen oder politischen berzeugungen. Hier
30 kann sich dann so etwas wie eine berpersçnliche Identitt herausbilden, z. B.
31 die einer Nation oder Generation. Wie aber in den vorangegangenen Ausfhrun-
32 gen deutlich wurde, ist es fraglich, inwiefern „Fremdeinflsse“ wie Traditionen,
33 Sitten und Normen fr uns personal berhaupt zugnglich sind: Denn eine akti-
34 ve Stellungnahme in Form einer Entscheidung fr oder gegen eine Norm ist nur
35 dann mçglich, sofern uns diese auch thematisch ist.
36 Dieselben Prozesse und Mechanismen, die zu Kontinuitt, Sozialitt und
37 Identitt einer Kultur gehçren, kçnnen also zugleich zu Normierung und Aus-
38 schließung fhren. Die implizite Sozialitt, der traditionelle Stil determiniert
39
40 47 Ebd. 36.
Konstitution des Sozialen oder soziale Konstitution? 317

1 hierbei, welche Personen, Ereignisse, Subjekte und Kçrper fr uns in einer gewis-
2 sen Zeit „von Gewicht“48 sind und welche nicht. Gewisse, nicht in diese kultu-
3 rell ausgerichteten Raster fallenden Erfahrungen und Subjekte werden entweder
4 nicht gesehen und gehçrt oder gar gewaltsam ausgeschlossen. Die implizite So-
5 zialitt aktualisiert und stabilisiert so bestndig bestimmte Normensysteme,
6 ohne dass uns diese Vorgnge transparent werden. Sozialitt lsst sich in diesem
7 Sinne in hnlicher Weise charakterisieren, wie Foucault einst die Funktion des
8 Diskurses beschrieben hat: Einerseits hat sie eine ermçglichende Funktion (in
9 Form von Zusammengehçrigkeit, Verbundenheit und Verstndnis), andererseits
10 eine beschrnkende Funktion (Ausschluss des ,Fremden‘).
11 Es scheint, dass das eine ohne das andere nicht zu haben ist.
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40 48 Vgl. hierzu den Titel von Butlers Monographie: Kçrper von Gewicht.
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1 Dan Zahavi
2
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4 Scham als soziales Gefhl1
5
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8
In vielen Standardinterpretationen ist Scham eine Emotion, die das Selbst in sei-
9
ner Ganzheit betrifft und einbezieht. In der Scham ist das Selbst von einer globa-
10
len Entwertung betroffen, es fhlt sich fehlerhaft, anstçßig, verdammt. Ich
11
mçchte im Folgenden die Frage stellen und diskutieren: Was sagt uns die Tatsa-
12
che, dass wir Scham empfinden, ber die Natur des Selbst? Bezeugt Scham das
13
Vorhandensein eines Selbstkonzepts, eines missglckten Selbstideals und das
14
Vermçgen zu einer kritischen Selbsteinschtzung, oder weist sie nicht vielmehr,
15
wie einige vorgeschlagen haben, darauf hin, dass das Selbst in Teilen sozial kon-
16
struiert ist?2 Sollte Scham in erster Linie als selbstbewusste Emotion verstanden
17
werden oder ist sie eher eine ausgeprgt soziale Emotion?
18
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21
1. Scham und Selbstbewusstsein
22
23
Die Emotionsforschung hat viel Zeit darauf verwandt zu untersuchen, was
24
Ekman die „grundlegenden Sechs“ (basic six) genannt hat: Freude, Furcht, Trau-
25
er, berraschung, rger und Ekel.3 Angeblich zeigen sich diese Emotionen be-
26
reits frh in der menschlichen Entwicklung, sie haben eine biologische Basis,
27
einen charakteristischen Gesichtsausdruck und sind kulturell universal. Es ist al-
28
lerdings recht offensichtlich, dass diese grundlegenden oder primren Emotio-
29
nen keineswegs den Reichtum unseres emotionalen Lebens erschçpfen. Denken
30
Sie nur an komplexere Gefhle wie Verlegenheit, Neid, Scham, Schuldgefhl,
31
Stolz, Eifersucht, Reue oder Dankbarkeit. Ein Verfahren, die verschiedenen
32
Emotionen zu klassifizieren, besteht nach Michael Lewis darin, mit einer Unter-
33
scheidung zwischen selbstbewussten und nicht selbstbewussten Emotionen zu
34
arbeiten. Whrend die primren Emotionen kein Selbstbewusstsein einschlie-
35
36 1 Eine frhere und lngere Fassung dieses Artikels wurde ursprnglich in englischer Spra-

37 che verçffentlicht. Vgl. Dan Zahavi: Self, consciousness, and shame. In: Ders. (Hg.): The Ox-
38 ford handbook of contemporary phenomenology. Oxford 2012. 304 – 323.
2 Cheshire Calhoun: An apology for moral shame. In: Journal of Political Philosophy 12
39 (2004). 127 – 146. 145.
40 3 Paul Ekman: Emotions revealed. Understanding faces and feelings. London 2003.

Phnomenologische Forschungen 2013 ·  Felix Meiner Verlag 2013 · ISSN 0342-8117


320 Dan Zahavi

1 ßen, tun dies die komplexeren Emotionen.4 Tatschlich gehen nach Lewis die
2 letzteren mit aufwendigen kognitiven Prozessen einher, sie alle kommen durch
3 Selbstreflexion zustande und erfordern ein Selbstkonzept. Daher sei es eine ent-
4 wicklungsmßige Voraussetzung fr das Erleben solcher Emotionen, dass das
5 Kind ber ein Selbstkonzept oder eine Selbstreprsentation verfge, was nach
6 Lewis erst ab einem Alter von etwa achtzehn Monaten eintreten kann.
7 Lewis unterscheidet ferner zwei Gruppen selbstbewusster Emotionen. Beide
8 Gruppen beinhalten Selbst-Exponierung und objektives Selbstbewusstsein, d. h.
9 Selbstreflexion. Whrend jedoch die erste mit einer nicht-bewertenden Exponie-
10 rung einhergeht, beinhaltet die zweite sowohl Selbstexponierung als auch Bewer-
11 tung. Die erste Gruppe zeigt sich mit etwa 18 Monaten und enthlt Emotionen
12 wie Verlegenheit und Neid. Die zweite Gruppe zeigt sich mit etwa 36 Monaten.
13
Sie enthlt Scham und Schuldgefhl und erfordert das Vermçgen, sich Normen,
14
Regeln und Ziele anzueignen und sie zu verinnerlichen, und das eigene Verhal-
15
ten mit solchen Standards zu bewerten und zu vergleichen.5
16
Am Ende definiert Lewis Scham als eine intensive negative Emotion, die aus-
17
gelçst wird, wenn wir ein Versagen in Bezug auf eine Norm erfahren, uns verant-
18
wortlich dafr fhlen und glauben, dass unser Scheitern ein beschdigtes Selbst
19
widerspiegle. Whrend Lewis den Aspekt des çffentlichen Versagens als relevant
20
fr Verlegenheit ansieht, leugnet er dessen Relevanz, wenn es um Emotionen
21
wie Scham, Schuldgefhl oder Stolz geht.6
22
Ein ganz anderer Zugang zur Scham findet sich im Werk von Rom Harr.
23
24
Kurz gefasst argumentiert Harr, dass Scham auftritt, wenn ich begreife: Ande-
25
re haben bemerkt, dass mein Handeln moralisch verwerflich war. Verlegenheit
26 hingegen entstehe dann, wenn ich begreife: Andere haben bemerkt, dass meine
27 Handlung die Konvention oder die Anstandsregeln verletzt hat.7
28 Ich finde beide Vorschlge problematisch. Auch wenn wir ohne Weiteres zu-
29 stimmen, dass Verlegenheit weniger niederschmetternd und schmerzlich ist als
30 Scham, dass sie mehr zu tun hat mit peinlicher sozialer Bloßstellung (wegen ei-
31 nes offenen Hosenknopfs, einem lautstarken Magengerusch, unangemessener
32 Kleidung etc.) als mit der Verletzung wichtiger persçnlicher Werte, sind Harrs
33 Definitionen und seine saubere Distinktion unbefriedigend. Er legt nicht nur zu
34
4 Michael Lewis: Self-conscious emotional development. In: Jessica L. Tracy, Richard W.
35
Robins, June Price Tangney (Hg.): The Self-conscious emotions: Theory and research. New
36 York 2007. 134 – 149. 136.
5 Lewis: Self-conscious emotional development. 135.
37
6 Michael Lewis: Shame and stigma. In: Paul Gilbert, Bernice Andrews (Hg.): Shame: In-
38
terpersonal behavior, psychopathology, and culture. New York 1998. 126 – 140. 127.
39 7 Rom Harr: Embarrassment. A conceptual analysis. In: W. Ray Crozier (Hg.): Shyness

40 and embarrassment. Perspectives from social psychology. Cambridge 1990. 181 – 204.
Scham als soziales Gefhl 321

1 viel Wert auf die Anwesenheit eines konkreten Publikums – als ob man sich
2 nicht auch ganz allein schmen kçnnte, oder als ob man sich nur schme, weil
3 man erwischt worden ist –, auch seine scharfe Unterscheidung von Moralver-
4 stoß und Konventionsbruch ist fragwrdig. Auch wenn man sich fr morali-
5 sches Fehlverhalten schmen kann, so kann man sich gewiss auch fr Dinge sch-
6 men, die nichts mit Ethik zu tun haben. Ja, Scham braucht nicht einmal durch
7 etwas verursacht zu werden, das man willentlich tut. Man kann sich wegen einer
8 kçrperlichen Behinderung schmen oder wegen seiner Herkunft oder Hautfar-
9 be. Statt also Scham und Verlegenheit an die Verletzung moralischer Werte bzw.
10 sozialer Konventionen zu binden (ein Versuch, der auch an der Tatsache vorbei-
11 geht, dass ein und dasselbe Ereignis von verschiedenen Leuten als beschmend
12 oder als peinlich empfunden werden kann), denke ich, dass ein plausibleres Ab-
13 grenzungskriterium ein solches wre, das zwar Scham, nicht jedoch Verlegen-
14 heit an eine umfassende Minderung des Selbstwertgefhls oder des Selbstre-
15 spekts bindet.
16 Was Lewis betrifft, habe ich einige Probleme mit seinem allgemeinen Ver-
17 stndnis von Bewusstsein und Selbstbewusstsein, das in meinen Augen auf einer
18 strittigen reprsentationalen Bewusstseinstheorie hçherer Ordnung beruht,8
19 aber mein Hauptbedenken hier betrifft Lewis’ Herunterspielen der sozialen Di-
20 mension von Scham. Betrachten wir noch einmal den englischen Titel seines
21 Buchs: Shame: The exposed Self. Den Untertitel erlutert Lewis so: „Der Unter-
22 titel dieses Buches lautet Das bloßgestellte Selbst. Was ist ein bloßgestelltes
23 Selbst, und vor wem ist es bloßgestellt? Das Selbst ist vor sich selber bloßge-
24 stellt, das heißt: Wir sind in der Lage, uns selbst zu sehen. Ein Selbst mit dem
25 Vermçgen der Selbstreflexion ist spezifisch fr den Menschen.“9
26 Lewis definiert also die fragliche Exponiertheit als eine, bei der man sich
27 selbst gegenber exponiert ist. Wenn er also vom bloßgestellten, exponierten
28 Selbst spricht, bezieht er sich auf unser Vermçgen zur Selbstreflexion. Verglei-
29 chen wir das dagegen mit einer Bemerkung von Darwin: „Es ist nicht der simple
30 Akt, auf unsere eigene Erscheinung zu reflektieren, sondern der Gedanke, was
31 Andere von uns denken, der uns errçten lsst“.10 Ein Problem mit einer Scham-
32 definition wie der von Lewis, die sich einzig auf die eigene negative Selbstein-
33 schtzung des Individuums konzentriert, liegt darin, dass es schwierig wird,
34 Scham von anderen negativen Selbstevaluierungen wie Selbst-Enttuschung
35 oder Selbstkritik abzusetzen. Ein weiteres Problem mit diesem Hervorheben un-
36
8 Dan Zahavi: Shame and the exposed self. In: Jonathan Webber (Hg.): Reading Sartre: On
37
38 phenomenology and existentialism. London 2010. 211 – 226.
9 Michael Lewis: Shame: The exposed self. New York 1992. 36.
39 10 Charles Darwin: The expression of the emotions in man and animals. Cambridge 2009.

40 325.
322 Dan Zahavi

1 serer Sichtbarkeit fr uns selbst besteht darin, dass es auf diese Weise wohl nicht
2 gelingt, jenen zweifellos sozialen Formen der Scham gerecht zu werden, die
3 durch eine Herabminderung und Entwertung unserer çffentlichen Erscheinung
4 und sozialen Selbstidentitt ausgelçst werden, durch das Bloßlegen einer Un-
5 stimmigkeit zwischen dem, der wir zu sein beanspruchen, und dem, wie wir von
6 Anderen wahrgenommen werden. Kurzum, wir brauchen einen Begriff von
7 Scham, der auch erklren kann, warum wir persçnliche Schwchen, die wir in
8 der Privatsphre als unerhebliche Mngel verstehen und tolerieren, als besch-
9 mend empfinden, sobald sie çffentlich exponiert werden.
10 Doch scheinen meine Kritiken an Lewis und an Harr in entgegengesetzte
11 Richtungen zu weisen. Ich tadle Harr, weil er die Notwendigkeit eines konkre-
12 ten Publikums bertreibt, und Lewis, weil er die Bedeutung der Sozialitt herun-
13 terspielt. Wie passen diese Kritiken zusammen? Lassen Sie uns weitergehen und
14 einige alternative Sichtweisen der Scham betrachten, die sich in der Phnomeno-
15 logie finden.
16
17
18 2. Varianten der Scham
19
20 Im dritten Teil von Das Sein und das Nichts behauptet Sartre, Scham sei, statt
21 einer bloßen selbstreflexiven Emotion, vielmehr eine Emotion, die unsere Rela-
22 tionalitt offenbare, unser Sein-fr-Andere.
23 Nach Sartre ist Scham eine Form intentionalen Bewusstseins. Sie ist eine be-
24 schmende Apprehension von etwas, und dieses Etwas bin ich selber. Ich sch-
25 me mich fr das, was ich bin, und insoweit bringt Scham auch ein Selbstverhlt-
26 nis zum Ausdruck. Wie Sartre freilich betont, ist Scham nicht in erster Linie und
27 ursprnglich ein Reflexionsphnomen. Ich kann auf meine Mngel reflektieren
28 und mich als Resultat schmen, aber ich kann auch Scham empfinden, bevor ich
29 berhaupt reflektiere. Scham ist, wie er es ausdrckt, „ein unmittelbarer Schau-
30 der, der mich von Kopf bis Fuß durchluft ohne jede diskursive Vorberei-
31 tung“.11 Tatschlich – und noch bezeichnender – ist Scham in ihrer Urform nicht
32 ein Gefhl, das ich einfach nach eigenem Belieben durch Reflexion hervorrufen
33 kçnnte, vielmehr ist Scham die Scham ber sich selbst vor dem Anderen.12 Sie
34 setzt die Einmischung des Anderen voraus, nicht allein, weil der Andere derjeni-
35 ge ist, vor dem ich mich schme, sondern auch und mehr noch, weil der Andere
36 derjenige ist, der das konstituiert, worber ich mich schme. Das heißt: Das
37 Selbst, dessen ich mich schme, meine çffentliche persona, wenn Sie so wollen,
38 11 Jean-Paul Sartre: Being and nothingness. An essay in phenomenological ontology.
39 bers. von Hazel E. Barnes. London 2003. 246.
40 12 Ebd. 246, 312.
Scham als soziales Gefhl 323

1 existierte noch gar nicht vor meiner Begegnung mit dem Anderen. Es wird
2 durch diese Begegnung erst herbeigefhrt. Auch wenn Scham also eine Selbstre-
3 flexion zum Ausdruck bringt, haben wir es nach Sartre zu tun mit einer wesent-
4 lich vermittelten Form der Selbstbeziehung, wobei der Andere der Mittler zwi-
5 schen mir und mir selbst ist. Sartre wrde demnach bestreiten, dass Scham
6 entweder eine selbstbewusste oder eine soziale Emotion sei. Nach ihm ist sie
7 beides.
8 Sich zu schmen bedeutet – und sei es noch so vorbergehend –, die Bewer-
9 tung des Anderen zu akzeptieren; sich zu identifizieren mit dem Objekt, das der
10 Andere anschaut und beurteilt. Wenn ich beschmt bin, nehme ich die Bewer-
11 tung des Anderen hin und erkenne sie an. Ich bin so, wie der Andere mich sieht,
12 und ich bin nichts weiter als das.13 Der Blick des Anderen bertrgt auf mich
13 eine Wahrheit, ber die ich keine Kontrolle habe und gegen die ich – in diesem
14 Augenblick – machtlos bin. Sartres zentrale Behauptung ist daher, dass es, damit
15 Scham eintreten kann, eine Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen
16 geben muss, in der das Selbst die Bewertung des Anderen wichtig nimmt. Zu-
17
dem macht es nach Sartre keinen Unterschied, ob die Bewertung des Anderen
18
positiv oder negativ ausfllt, da allein schon die Verobjektivierung Scham be-
19
wirkt.
20
Mag Sartres Scham-Analyse auch die bekannteste phnomenologische Dar-
21
stellung sein, so ist seine Analyse weder die erste noch die eingehendste in der
22
Phnomenologie. 1933 verçffentlichte Erwin Straus einen kurzen, aber eindrck-
23
lichen Aufsatz mit dem Titel „Die Scham als historiologisches Problem“ im
24
Schweizer Archiv fr Neurologie und Psychiatrie,14 und bereits zwanzig Jahre
25
frher schrieb Max Scheler einen langen Essay „ber Scham und Schamgefhl“.
26
Ein Grund, sich Straus und Scheler nher anzusehen, besteht darin, dass sie bei-
27
de die sartresche Analyse sowohl ergnzen als auch herausfordern. Zudem hat in
28
den letzten Jahren Schelers Ansatz eine Art Revival erfahren und wurde in neue-
29
ren Bchern positiv bewertet, zum Beispiel von Nussbaum15 oder Deonna, Ro-
30
dogno und Teroni.16
31
32
Straus und Scheler haben gemeinsam, dass sie die Notwendigkeit betonen, ver-
33
schiedene Typen von Scham zu unterscheiden. Sie argumentieren beide gegen
34
die Auffassung, Scham sei per se eine negative und repressive Emotion, die wir
35 13 Ebd. 246, 287.
36 14 Erwin W. Straus: Die Scham als historiologisches Problem. In: Schweizer Archiv fr
37 Neurologie und Psychiatrie 31 (1933). 339 – 343.
15 Martha C. Nussbaum: Hiding from humanity: Disgust, shame and the law. Princeton
38
2004. 174.
39 16 Julien A. Deonna, Raffaele Rodogno, Fabrice Teroni: In defense of shame. New York

40 2011. 151.
324 Dan Zahavi

1 aus unserem Leben zu entfernen trachten sollten,17 und sie wrden daher Tang-
2 ney und Dearings jngster Beschreibung widersprechen, nach der Scham „ein
3 extrem schmerzvolles und hssliches Gefhl [ist], das eine negative Auswirkung
4 auf zwischenmenschliches Verhalten hat“.18 Was Straus betrifft, so unterscheidet
5 er zwischen einer schtzenden Form der Scham, welche Sensitivitt fr und Re-
6 spekt vor den Grenzen des Intimen einbindet, und einer verbergenden Form,
7 der es mehr um die Aufrechterhaltung des Sozialprestiges geht. Um zu veran-
8 schaulichen, was Straus im Sinn haben kçnnte, wenn er von der bewahrenden
9 Form von Scham spricht, stellen Sie sich eine Situation vor, in der Sie sich sch-
10 men, weil intime Details aus Ihrem Leben çffentlich enthllt worden sind. Sie
11 kçnnten sich selbst dann schmen, wenn das Publikum nicht kritisch reagiert,
12 einfach als Ergebnis der Bloßstellung selbst. Bollnow spricht dasselbe Phno-
13 men an und verbindet Scham mit dem Bedrfnis, den privatesten und intimsten
14 Kern unserer selbst vor der Verletzung zu schtzen, die durch çffentliche Besich-
15 tigung entstehen kçnnte.19
16 Scheler wiederum hlt die Empfindsamkeit fr und die Fhigkeit zur Scham
17 fr ethisch wertvoll und bindet sie an das Auftreten eines Gewissens – es sei, wie
18 er betont, kein Zufall, dass die Genesis das Schmen explizit auf das Wissen um
19 Gut und Bçse beziehe.20 Tatschlich mssen wir, wenn wir uns einer Sache sch-
20 men, nach Scheler die Schamreaktion im Licht einer normativen Verbindlichkeit
21 sehen, die bereits vor der Situation existierte, deren wir uns schmen.21 Das
22 Schamgefhl entstehe gerade wegen des Widerspruchs zwischen den Werten, die
23 man befrwortet, und der tatschlichen Situation. So kçnnte Scham-Angst, also
24 die Furcht vor beschmenden Situationen, durchaus als Hterin der Wrde be-
25 trachtet werden. Sie lsst uns auf der Hut sein vor wrdelosem Betragen, das uns
26 (und andere) in beschmende Situationen brchte. Wie Platon bereits in den Ge-
27
setzen betont, ist Scham etwas, das den Menschen davon abhlt, Unehrenhaftes
28
zu tun.22 Tatschlich legt schon der Begriff der Schamlosigkeit nahe, dass der
29
Besitz eines Gesprs fr Scham einen moralischen Wert darstellt. Statt also
30
grundstzlich krftezehrend zu wirken, kçnnte Scham, kurz gesagt, auch eine
31
konstruktive Rolle in der moralischen Entwicklung spielen.
32
33 17 Vgl. Carl D. Schneider: A mature sense of shame. In: Donald L. Nathanson (Hg.): The

34 many faces of shame. New York 1987. 194 – 213.


18 June Price Tangney, Ronda L. Dearing: shame and guilt. New York 2002. 3.
35 19 Otto Friedrich Bollnow: Die Ehrfurcht – Wesen und Wandel der Tugenden. Bd. II. Wrz-
36 burg 2009. 67, 91.
20 Max Scheler: ber Scham und Schamgefhl (1913). In: Ders.: Schriften aus dem Nach-
37
38 lass. Bd. I: Zur Ethik und Erkenntnislehre. Hrsg. von Maria Scheler. Bern 1957. 67 – 154. 142.
21 Scheler: ber Scham. 100.
39 22 Plato: Laws. In: Edith Hamilton, Huntington Cairns (Hg.): The collected dialogues of

40 Plato. Princeton 1961. 647a.


Scham als soziales Gefhl 325

1 Scheler wre mit der Idee einverstanden, dass Scham eine wesentlich das
2 Selbst involvierende Emotion sei, aber er weist explizit die Behauptung zurck,
3 Scham sei eine grundstzlich soziale Emotion, die zwangslufig Andere involvie-
4 re. Scheler argumentiert eher dafr, dass es eine selbstgesteuerte Form von
5 Scham gebe, genauso fundamental wie die Scham, die man in der Gegenwart von
6 Anderen empfinden kann, und dass die zentrale Eigenschaft von Scham darin
7 bestehe, dass sie auf die Kollision oder den Widerspruch unserer hçheren geisti-
8 gen Werte mit unserer animalischen Natur und ihren leiblichen Bedrfnissen hin-
9 weise.23 Darum behauptet Scheler auch, Scham sei eine eindeutig menschliche
10 Emotion, wie sie weder Gott noch Tiere haben kçnnten. Sie ist in seiner Sicht
11 eine fundamentale menschliche Emotion; eine Emotion, welche die conditio hu-
12 mana prgt.24
13
14
3. Andere im Sinn
15
16
An diesem Punkt mssen wir uns klarer darber werden, welche Rolle die Ande-
17
ren spielen. Zu behaupten, Scham entstehe nur in Situationen, wo ein diskreditie-
18
rendes Faktum ber einen selbst vor Anderen enthllt wird, ist nicht berzeu-
19
gend. Gewiss kann man auch Scham empfinden, wenn man ganz allein ist; sie
20
bedarf keines konkreten Beobachters oder Publikums. Man kann sich sogar
21
dann einer Angelegenheit schmen, wenn man sicher ist, dass sie fr immer ge-
22
heim bleiben wird. Aber besagt das, der Bezug auf Andere sei unwesentlich, und
23
eine Interpretation von Scham kçnne auf die soziale Dimension verzichten? Las-
24
sen Sie uns einige mutmaßliche Flle nicht-sozialer Scham betrachten.
25
1. Sie haben eine angeborene Gesichtsentstellung und schmen sich, wenn Sie
26
in den Spiegel schauen.
27
2. Sie haben etwas getan, von dem Sie glauben, dass es nicht getan werden
28
sollte (oder etwas nicht getan, von dem Sie glauben, dass es getan werden sollte).
29
In einer solchen Situation kçnnten Sie sich durchaus hinterher schmen. Viel-
30
leicht fhlen Sie sich schuldig wegen der fraglichen Tat, es kçnnte aber eben
31
auch sein, dass Sie sich schmen, einfach die Art von Person zu sein, die so etwas
32
tun (oder unterlassen) konnte.
33
3. Sie schmen sich fr den, der Sie geworden sind, verglichen mit dem, der
34
Sie einmal waren, d. h., Sie schmen sich, weil Sie Ihren Fhigkeiten nicht ge-
35
recht werden, weil Sie ihr Potenzial verraten haben.
36
4. Sie haben den festen Entschluss gefasst, nie wieder Alkohol anzurhren.
37
Aber in einem schwachen Moment geben Sie Ihrem Drang nach und beginnen
38
39 23 Scheler: ber Scham. 68, 78.
40 24 Ebd. 67, 91.
326 Dan Zahavi

1 eine Sauferei, die Sie am Ende bewusstlos zurcklsst. Wenn Sie aus der Benebe-
2 lung wieder emporkommen, schmen Sie sich wegen Ihres Mangels an Selbstbe-
3 herrschung, ihrer Kapitulation vor dem, was Sie fr niedere Instinkte halten.
4 5. Sie sind zusammen mit einer Gruppe Gleichgestellter. Diese beginnen eine
5 politische Diskussion, und schnell bildet sich ein rassistischer Konsens, mit dem
6 Sie entschieden nicht einverstanden sind. Doch hindert Sie Ihre Angst vor
7 Scham, Ihre abweichende Meinung zu ußern, damit Sie nicht verlacht oder aus-
8 gegrenzt werden. Im Nachhinein freilich, allein mit sich, sind Sie tief beschmt
9 ber Ihre feige Haltung.
10 Gewiss zeigen diese Beispiele, dass Schamgefhl nicht die Anwesenheit eines
11 konkreten Beobachters erfordert. Doch wie steht es mit einem vorgestellten An-
12 deren? In vielen Fllen, wo das Scham erfahrende Subjekt allein und nicht in der
13 Gegenwart von Anderen ist, wird er oder sie die Perspektive der Anderen verin-
14 nerlicht haben, er oder sie wird Andere im Sinn haben, others in mind, um einen
15 Ausdruck von Philippe Rochat zu verwenden.25 Die unverkennbare Gefhlstç-
16 nung der Schamerfahrung enthlt hufig die berzeugung, dass Andere nicht so
17 gehandelt htten oder gewesen wren. An einer Aufgabe zu scheitern, die nie-
18 mand sonst bewltigen kçnnte, und von der auch niemand erwartet, dass Sie sie
19 bewltigen, wird weniger wahrscheinlich in einer Erfahrung von Scham enden.
20 Der imaginierte Andere wird daher nicht nur als ein kritischer Beobachter fun-
21 gieren, sondern auch als Punkt des Kontrasts oder Vergleichs. Betrachten Sie als
22 typischen Fall das erste Beispiel. Auch wenn die entstellte Person, die sich
23 schmt, wenn sie in den Spiegel schaut, allein ist, so denke ich, es wre eine natr-
24 liche Deutung, das Schamgefhl habe damit zu tun, dass die Person die Entstel-
25 lung als Stigma erfhrt, als etwas, das sie oder ihn von der Normalitt aus-
26 schließt.
27 Allerdings finden sich Einwnde gegen diese Beweisfhrung in verschiede-
28 nen neueren Publikationen von Deonna und Teroni: Deonna und Teroni behar-
29 ren darauf, dass wir sorgfltiger die verschiedenen Definitionen dessen auseinan-
30 derhalten sollten, was eine soziale Emotion ausmacht. Besteht die Behauptung
31 darin, dass 1) das Objekt der Scham spezifisch sozial ist – sei es entweder jemand
32 anderes oder unser eigener sozialer Status –, oder darin, dass 2) die Werte, die in
33 die Scham eingebunden sind, durch den Kontakt mit Anderen erworben wer-
34 den, dass 3) Scham stets erfordert, eine Außenperspektive auf uns selber einzu-
35 nehmen oder 4), dass Scham immer in einem sozialen Kontext stattfindet? Deon-
36 na und Teroni weisen alle diese Vorschlge grundstzlich zurck. Es ist in ihren
37 Augen recht unplausibel zu behaupten, es gebe stets reale oder vorgestellte Zu-
38 schauer, wenn wir uns schmen; auch trifft es ihrer Ansicht nach nicht zu, dass
39
40 25 Philippe Rochat: Others in mind: Social origins of self-consciousness. Cambridge 2009.
Scham als soziales Gefhl 327

1 Scham immer mit einer vermeintlichen Gefhrdung unseres sozialen Status ver-
2 bunden sei.26 Auch wenn das durchaus der Fall sein kann, wenn es zu dem
3 kommt, was sie als „oberflchliche Scham“ bezeichnen, ist das, was sie „tiefe“
4 Scham nennen, etwas, das wir als Resultat persçnlichen Versagens empfinden,
5 ganz ungeachtet der Bewertung durch Andere, zum Beispiel, wenn wir auf un-
6 ser eigenes moralisch widriges Verhalten reflektieren.27 Deonna und Teroni ru-
7 men als Nchstes ein, dass die bei Scham involvierten Werte zwar sozial erwor-
8 ben sein mçgen, aber sie argumentieren dafr, dass dies kaum hinreiche, um die
9 Behauptung zu rechtfertigen, Scham sei eine wesentlich soziale Emotion, zumal
10 die Aneignung von Werten, die bei anderen nicht-sozialen Emotionen eine Rolle
11 spielen, gleichermaßen sozial sei.28 Schließlich greifen Deonna und Teroni noch
12 den Aspekt des Perspektivenwechsels auf. Es sei, wie sie schreiben, unmçglich,
13 sich fr etwas zu schmen, in das man vollstndig eingetaucht ist. In diesem Sinn
14 beinhaltet Scham in der Tat die kritische Perspektive eines Begutachters. Aber
15 sie bestreiten, dass der Begutachter ein Anderer zu sein habe, oder dass der Per-
16 spektivenwechsel durch Andere motiviert werden msse. Vielmehr sei, und hier
17 kommen sie Lewis’ Ansicht nahe, der Perspektivenwechsel nur eine Frage der
18 Verschiebung vom unreflektierten Tter zum reflektierten Bewerter.29
19 Was ist dann ihr positiver Vorschlag? Ihrer Ansicht nach involviert Scham
20 eine negative bewertende Haltung zu sich selbst. Sie ist motiviert durch die Be-
21 wusstheit eines Konflikts zwischen einem Wert, auf den man verpflichtet ist,
22 und einem (Un-)Wert, exemplifiziert durch das, weswegen man sich schmt.30
23 Im engeren Sinne schlagen sie die folgende Definition von Scham vor: „Scham
24 ist das Bewusstsein des Subjekts, dass die Art, wie es ist oder handelt, so sehr in
25 Konflikt steht mit den Werten, die es umzusetzen sucht, dass es hierdurch an-
26 scheinend ausgerechnet dafr disqualifiziert wird, sich fr diesen Wert zu enga-
27 gieren, d. h. es empfindet sich als unfhig, ihn auch nur auf einer minimalen Ebe-
28 ne zu exemplifizieren.“31
29 Wie sollen wir nun diese verschiedenen Einwnde und nicht-sozialen Defini-
30 tionen von Scham bewerten? Deonna und Teroni sind sehr darauf bedacht, mit
31 einer Definition von Scham aufzuwarten, die alle eventuellen Flle abdeckt. Das
32 ist in gewissem Maß natrlich ein vollkommen respektables Unterfangen, doch
33
26 Julien A. Deonna, Fabrice Teroni: Is shame a social emotion? In: Anita Konzelman-Ziv,
34
35 Keith Lehrer, Hans Bernhard Schmid (Hg.): Self evaluation. Affective and social grounds of
intentionality. Dordrecht 2011. 193 – 212.; dies.: The self of shame. In: Mikko Salmela, Verena
36 E. Mayer (Hg.): Emotions, ethics, and authenticity. Amsterdam 2009. 33 – 50. 39.
27 Deonna, Teroni: Is shame a social emotion? 201.
37
28 Ebd. 195.
38 29 Ebd. 203.
39 30 Ebd. 206.

40 31 Deonna, Teroni: The self of shame. 46.


328 Dan Zahavi

1 luft eine solche Orientierung auch Gefahr, uns ein zu undifferenziertes Bild der
2 Emotion zu prsentieren. Sie kçnnte uns eine Definition anbieten, die uns fr
3 wichtige Unterscheidungen blind macht. Ich glaube nicht, dass jemand bestrei-
4 ten wrde, Scham sei ein facettenreiches Phnomen, aber wie wir bereits gese-
5 hen haben, wrden einige weiter gehen und auf der Notwendigkeit einer Unter-
6 scheidung zwischen verschiedenen irreduziblen Formen der Scham bestehen –
7 wie Scham aus Schande oder Scham aus Taktgefhl, verbergende oder schtzen-
8 de, moralische und nicht moralische Scham oder Leibesscham und Seelenscham,
9 um nur einige der verfgbaren Kandidaten anzufhren.32
10 In Anbetracht dieser Lage mçchte ich von der gewagten, aber wohl auch allzu
11
ambitionierten Aufgabe Abstand nehmen, eine fest umrissene Definition von
12
Scham zu liefern; eine, die ihre notwendigen und hinreichenden Eigenschaften
13
festschriebe. Daher mçchte ich auch nicht versuchen, die Existenz von nicht-
14
sozialen Typen der Scham zu widerlegen; stattdessen behaupte ich lediglich,
15
dass es andere, wohl eher prototypische Formen der Scham gibt, die mit Hilfe
16
nicht-sozialer Bestimmungen nicht adquat verstanden werden kçnnen, und
17
dass der Versuch, eine nicht-soziale Definition von Scham aufzustellen, zwangs-
18
lufig etwas ganz Wesentliches verfehlt. Betrachten Sie fr den Anfang – und im
19
20
Folgenden werde ich mich hauptschlich auf Scham aus Schande konzentrieren
21
– diese fnf Beispiele:
22 1. Beim Verfassen Ihres neuesten Artikels machen Sie ausgedehnten Ge-
23 brauch von Passagen aus einem Essay eines wenig bekannten und unlngst ver-
24 storbenen Gelehrten. Nachdem Ihr Artikel publiziert worden ist, nehmen Sie an
25 einer çffentlichen Tagung teil, wo Sie plçtzlich des Plagiats bezichtigt werden.
26 Sie bestreiten das mit Nachdruck, aber der Anklger – Ihr Erzfeind aus dem In-
27 stitut – schafft unwiderlegbare Beweise herbei.
28 2. Sie werden von Ihren Altersgenossen verspottet, als Sie auf einer High-
29 School-Party in altmodischen Klamotten erscheinen.
30 3. Sie bewerben sich um eine Stelle und haben Ihren Freunden erzhlt, dass
31 Sie sicher seien, sie zu bekommen. Doch nach dem Bewerbungsgesprch, und in
32 Anwesenheit Ihrer Freunde, werden Sie durch das Bewerbungsgremium infor-
33 miert, dass Sie fr den Job einfach nicht qualifiziert sind.
34 4. Sie haben einen Krach mit Ihrer ungezogenen fnfjhrigen Tochter; schließ-
35 lich verlieren Sie die Geduld und langen ihr eine. Sie fhlen sich auf der Stelle
36
32 Siehe z. B. David P. Ausubel: Relationships between shame and guilt in the socializing
37
38 process. In: Psychological Review 62 (1955). 382; Bollnow: Ehrfurcht. 55 – 57; Richard H.
Smith, J. Matthew Webster, W. Gerrod Parrott, Heidi L. Eyre: The role of public exposure in
39 moral and nonmoral shame and guilt. In: Journal of Personality and Social Psychology 83
40 (2002). 138 – 159. 157.
Scham als soziales Gefhl 329

1 schuldig, doch dann bemerken Sie auf einmal, dass die Leiterin des Kindergar-
2 tens die ganze Szene beobachtet hat.
3 5. Sie haben eine neue romantische Beziehung begonnen. Nach einer Weile, in
4 einem intimen Moment, offenbaren Sie Ihre sexuellen Prferenzen. Ihre Enthl-
5 lung trifft auf den entgeisterten Blick Ihres Partners.
6 Wenn wir diese fnf Beispiele erwgen, wie plausibel ist es dann zu behaup-
7 ten, dass Andere fr die fragliche Emotion ganz akzidentell seien, und dass ge-
8 nau dieselbe Schamerfahrung auch im nicht-çffentlichen Rahmen htte eintre-
9 ten kçnnen? Ich halte einen solchen Vorschlag fr keineswegs einleuchtend.
10 Noch einmal, ich bestreite nicht, dass wir ber uns selbst zu Gericht sitzen und
11 als Ergebnis Scham empfinden kçnnen, doch ich denke, dass diese Art reuiger
12 selbstreflexiver Scham mit ihrem begleitenden Gefhl der Selbst-Enttuschung,
13 des Selbstelends oder gar Selbsthasses eine etwas andere intentionale Struktur
14 und Phnomenalitt hat als das Schamgefhl, das man in der Gegenwart Ande-
15 rer erleben kann. Im letzteren Fall gibt es ein gesteigertes Empfinden von Expo-
16 niertheit und Verletzlichkeit und den begleitenden Wunsch, sich zu verstecken
17 und zu verschwinden, unsichtbar zu werden, im Boden zu versinken. Auch
18
kommt es zu einer typischen Verengung des Fokus. Sie kçnnen sich nicht sorg-
19
sam den Details Ihrer Umgebung widmen, whrend Sie dieser Art vom Scham
20
unterworfen sind. Vielmehr tritt die Welt zurck, und das Selbst steht preisgege-
21
ben da. Wir stehen im Rampenlicht, ob wir wollen oder nicht. Auch die Art, wie
22
sich Scham im ußeren Verhalten manifestiert – zusammengesackte Haltung, ge-
23
senkter Kopf und Blickvermeidung –, unterstreicht die Zentripetalitt der Emo-
24
tion.
25
Diese Art von Scham durchbricht auch den normalen Fluss der Zeit. Wh-
26
rend die bereuende, selbstreflexive Scham rckwrts schaut und vergangenheits-
27
orientiert ist, whrend die Angst vor Scham – die in jedem Fall eher eine Disposi-
28
tion als ein sich ereignendes Gefhl sein mag – weitgehend antizipatorisch und
29
zukunftsorientiert ist, lsst sich die interpersonale Schamerfahrung, auf die ich
30
gerade mein Augenmerk richte, vielleicht am besten als „erstarrtes Jetzt“ („fro-
31
zen now“) charakterisieren.33 Die Zukunft ist verloren und das Subjekt auf den
32
33
gegenwrtigen Moment fixiert. Wie Sartre schreibt, erfahre ich mich in der
34
Scham als gefangen in der Faktizitt, als unheilbar der, der ich bin (anstatt als
35
jemanden mit Zukunftsperspektiven), als wehrlos angestrahlt von einem absolu-
36 ten Licht (ohne schtzende Intimsphre).34 In seiner Analyse der verschiedenen
37 ontologischen Dimensionen des Leibes fhrt Sartre fort, dass der Blick des Ande-
38 33 Vgl. Gunnar Karlsson, Lennart Gustav Sjçberg: The experiences of guilt and shame. A
39 phenomenological–psychological study. In: Human Studies 32 (2009). 335 – 355. 353.
40 34 Sartre: Being and nothingness. 286, 312.
330 Dan Zahavi

1 ren meine Kontrolle der Situation unterbreche.35 Statt einfach leiblich zu existie-
2 ren, statt einfach in meinen diversen Vorhaben aufzugehen und vertrauensvoll
3 mit der Umgebung zu interagieren, werde ich mir schmerzlich der Faktizitt
4 und der Prsenz meines Leibes bewusst. Ich werde mir bewusst, dass mein Kçr-
5 per etwas ist, auf das sich die Perspektiven der Anderen auswirken. Darum
6 spricht Sartre vom Leib als etwas, das mir auf allen Seiten entflieht, und als ein
7 fortwhrendes „Außen“ meines allerintimsten „Innen“.36 Whrend das Schuld-
8 gefhl hauptschlich auf die negativen Folgen fr Andere fixiert ist und den
9 Wunsch enthlt, die Tat ungeschehen zu machen, vielleicht auch zu wiedergut-
10 machenden Handlungen motiviert, lsst das akute interpersonale Schamgefhl
11 keinen Raum fr die Erkundung knftiger Erlçsungsmçglichkeiten.
12
13
14
4. berlegungen zur Entwicklung
15
16
In seiner Analyse beleuchtet Sartre die Wirkung des Blicks. Dessen Natur frei-
17
lich kann enorm variieren. Wie Straus aufzeigt, ist der Blick des Voyeurs so ver-
18
schieden von dem Blick, den Liebende tauschen, wie das rztliche Betasten vom
19
zrtlichen Streicheln.37 Sartres Analyse kann somit als einigermaßen einseitig kri-
20
tisiert werden. Wichtiger ist noch, dass Scham nicht nur durch den Blick der An-
21
deren ausgelçst werden kann, sondern auch durch ihr absichtliches bersehen
22
meiner Person. In seiner faszinierenden Studie Unsichtbarkeit diskutiert Honn-
23
eth verschiedene Akte absichtlicher Nichtwahrnehmung von der „harmlosen
24
Unaufmerksamkeit dessen, der einen Bekannten auf einer Party zu grßen ver-
25
gisst, ber die selbstvergessene Ignoranz des Hausherrn gegenber der Putzfrau,
26
die er wegen ihrer sozialen Bedeutungslosigkeit bersieht, bis hin zum demon-
27
strativen ,Hindurchsehen‘, das vom betroffenen Schwarzen nur als ein Zeichen
28
der Demtigung verstanden werden kann.“38
29
Honneth weist auf Forschungen zur frhen Kindheit hin, die nahelegen, dass
30
es eine Reihe von Ausdrcken Erwachsener gibt (etwa das liebevolle Lcheln,
31
die ausgestreckte Hand, das wohlwollende Zunicken), die das Kind wissen las-
32
sen, dass es der Empfnger von Aufmerksamkeit und Zuwendung ist, und argu-
33
mentiert dann, dass das Kind, indem es solche Ausdrcke rezipiert, sozial sicht-
34
bar werde. Dagegen bedeutet absichtliches Nichtwahrnehmen, also eine Person
35
36 35 Ebd. 289.
37 36 Ebd. 375.
37 Erwin W. Straus: Phenomenological psychology. The selected papers of Erwin W.
38
Straus. New York 1966. 219.
39 38 Axel Honneth: Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivitt. Frankfurt

40 a.M. 2003. 12.


Scham als soziales Gefhl 331

1 sozial unsichtbar zu machen, dieser Person die Anerkennung zu verweigern.39


2 Dass wir uns schmen kçnnen, weil wir von Anderen bersehen und ignoriert
3 werden, deutet darauf hin, dass eine signifikante Relation zwischen Scham und
4 dem Bedrfnis nach und dem wahrgenommenen Fehlen solcher Anerkennung
5 besteht. In neueren psychoanalytischen Theorien ist vorgeschlagen worden,
6 dass Scham eine Reaktion auf das Fehlen anerkennender Reziprozitt sei.40
7 Trifft dies zu, dann wrde es die Scham im innersten Kern unseres zwischen-
8 menschlichen Lebens lokalisieren. Whrend Verlegenheit normalerweise ein Ge-
9 fhl von ungewollter und unwillkommener Aufmerksamkeit involviert, hat
10 Scham mehr zu tun mit dem Verlust sozialer Anerkennung als solcher. Whrend
11 die Wut oder Entrstung Anderer zu Schuldgefhlen Anlass geben kçnnen, wer-
12 den Verachtung und Zurckweisung durch Andere eher Scham verursachen –
13 zumindest, solange wir die betreffenden Personen respektieren und uns umge-
14 kehrt ihren Respekt wnschen.
15 Lassen Sie mich auf die Frage nach dem entwicklungsmßigen Einsetzen der
16 Scham zurckkommen. Wie wir gesehen haben, vertritt Lewis die Auffassung,
17
dass Scham erst gegen Ende des dritten Lebensjahres aufkomme. Damit Scham
18
entstehen kann, msse das Kind ein Selbstkonzept und objektives Selbstbewusst-
19
sein besitzen. Zudem msse es das Vermçgen haben, Normen, Regeln und Ziele
20
zu erkennen, anzunehmen und zu verinnerlichen und sein Verhalten im Ange-
21
sicht solcher Normen zu bewerten und zu vergleichen.41 Scheler dagegen wrde
22
behaupten, dass Scham, in frhen Formen, von Geburt an vorhanden sei,42 und
23
hnliche Auffassungen lassen sich in vielen psychoanalytischen Darstellungen
24
finden.43 Fr unsere jetzigen Zwecke ist es nicht von hçchster Wichtigkeit, ge-
25
nau zu bestimmen, wie frh Scham einsetzt; interessanter ist eher die Frage, in-
26
wiefern Scham den Besitz eines Selbstkonzepts und ein Vermçgen reflektiven
27
Selbstbewusstseins voraussetzt oder vielmehr Einfhlung und eine erhçhte Sen-
28
sitivitt der Perspektive des Anderen gegenber.
29
Lewis bestreitet nicht nur, dass das Letztere gilt, sondern er behauptet auch,
30
eine solche Sensitivitt sei ihrerseits abhngig vom Besitz eines Selbstkonzepts.
31
32
Tatschlich bestreitet Lewis explizit Frhformen von Fremdwahrnehmung, ein-
33
geschlossen Einfhlung und Mitfhlen, da sie alle seines Erachtens dasjenige vor-
34
aussetzen, was dem Kind angeblich fehle, nmlich eine (konzeptuelle) Selbst-
35 39 Honneth: Unsichtbarkeit.
36 40 Pentti Ikonen, Eero Rechardt: The origin of shame and its vicissitudes. In: The Scandina-
37 vian Psychoanalytic Review 16 (1993). 100 – 124. 100.
41 Lewis: Self-conscious emotional development. 135.
38 42 Scheler: ber Scham. 107.
39 43 Francis J. Broucek: Shame and the self. New York 1991; Donald L. Nathanson: Shame

40 and pride: Affect, sex and the birth of self. New York 1994.
332 Dan Zahavi

1 und-Fremd-Unterscheidung.44 Es sollte nicht berraschen, dass Lewis nicht der


2 einzige ist, der fr eine solche Abhngigkeit argumentiert. Auch Doris Bischof-
3 Kçhler hat in ihrer Arbeit versucht, Scham, Einfhlung und den Besitz eines
4 Selbstkonzepts miteinander zu verbinden. Was ist ihr Argument? Bischof-Kçh-
5 ler folgt der Konvention, indem sie die Auffassung vertritt, dass sich Einfhlung
6 von Gefhlsansteckung durch ihre Bewahrung der Selbst-und-Fremd-Abgren-
7 zung unterscheide. Auch wenn Einfhlung in ihrer Interpretation erfordert,
8 dass der Einfhlende die Emotion des Anderen stellvertretend teile (wodurch
9 sich Einfhlung vom eher unbeteiligten kognitiven Einnehmen einer Perspekti-
10 ve unterscheidet), bewahrt diese Emotion stets ihre Qualitt des Zum-Anderen-
11 Gehçrens, sie ist fremdzentriert.45 Insofern eine solche Selbst-und-Fremd-Unter-
12 scheidung eine der Voraussetzungen fr Einfhlung darstellt, muss diese nach
13 Bischof-Kçhler auch den Besitz eines Selbstkonzepts voraussetzen, denn ein In-
14 dividuum kann sich nur kraft eines solchen Selbstkonzepts als getrennt und un-
15 terschieden von Anderen wahrnehmen. Was genau versteht Bischof-Kçhler un-
16 ter Selbstkonzept? Fr sie bezieht sich ein Selbstkonzept auf das konzeptuelle
17 Wissen, das wir von uns selber als Objekt haben, oder, um es genauer zu fassen:
18 Ein Selbstkonzept zu besitzen, heißt, das Vermçgen zur Selbstobjektivierung zu
19 haben und die eigene ußere Erscheinung, die eigene Exterioritt, als (Teil von)
20 sich selber zu begreifen.46 Vor einer solchen Selbstobjektivierung wird das Kind
21 sicherlich subjektive Erfahrungen haben, aber ihm wird die Fhigkeit mangeln,
22 psychologisch zwischen Selbst und Anderem zu unterscheiden; es wird sich der
23 Anderen nicht als unterschiedene und separate Subjekte der Erfahrung bewusst
24 werden kçnnen und daher in der Gefhlsansteckung festsitzen.47 Nach Bischof-
25 Kçhlers Darstellung erfordert Einfhlung folglich eine spezielle Art objektivie-
26 render Selbst-Erkennung. Das gilt auch fr die Scham, die als emotionale Reakti-
27
on auf eine solche Selbst-Objektivierung gesehen werden msse.48
28
Diese Thesen sind natrlich nicht unangefochten geblieben. Im Dissens mit
29
Lewis’ Interpretation unserer emotionalen Erfahrungen haben ihn z. B. Draghi-
30
Lorenz und Kollegen dafr kritisiert, dass er sich leichthndig ber Beweise hin-
31
wegsetze, die das Vorhandensein von komplexeren Emotionen, darunter Eifer-
32
33 44 Michael Lewis: Social development in infancy and early childhood. In: Joy Doniger

34 Osofsky (Hg.): Handbook of infant development. New York 21987. 419 – 493. 431.
45 Doris Bischof-Kçhler: Empathy and self-recognition in phylogenetic and ontogenetic
35
perspective. In: Emotion Review 4 (2012). 40 – 48. 41.
36 46 Doris Bischof-Kçhler: The development of empathy in infants. In: Michael E. Lamb,

37 Heidi Keller (Hg.): Infant development: Perspectives from German speaking countries. Hills-
38 dale 1991. 245 – 273. 245.
47 Bischof-Kçhler: Development of empathy. 254, 260.
39 48 Doris Bischof-Kçhler: Spiegelbild und Empathie. Die Anfnge der sozialen Kognition.

40 Bern 1989. 165.


Scham als soziales Gefhl 333

1 sucht und Schchternheit, schon whrend des ersten Lebensjahres nahelegen.


2 Nach ihrer Ansicht beruht diese Abweisung weniger auf soliden empirischen
3 Befunden denn auf apriorischen Annahmen ber das spte Auftreten sowohl
4 von Selbsterfahrung als auch von Intersubjektivitt.49 Damit soll offenkundig
5 nicht die Realitt von entwicklungsmßigem Wandel und Reifung geleugnet wer-
6 den. ltere Kinder haben ein reicheres und differenzierteres Erfahrungsleben als
7 Kleinkinder. Der Punkt ist einfach anzuerkennen, dass es in der Entwicklung
8 Vorlufer zu diesen komplexeren Erfahrungen gibt. Das frhe Auftreten solcher
9 Emotionen wie ngstlichkeit, Verlegenheit und Schchternheit deutet darauf
10 hin, dass das Kind ein Gefhl fr sich selbst als Objekt der Bewertung durch
11 Andere hat, und dass ihm diese Bewertung etwas ausmacht.50
12 Falls Kinder, wie Vasudevi Reddy betont hat, erst gegen Ende des ersten Le-
13
bensjahres damit anfingen, die Beachtung durch Andere wahrzunehmen, war-
14
um kçnnen sie dann wesentlich frher mit Anderen in komplexe Face-to-Face-
15
Interaktionen treten, nmlich im Alter von zwei bis drei Monaten? Wenn dies
16
nicht die Wahrnehmung involvierte, dass die andere Person sich mit ihnen be-
17
fasst, was kçnnte es sonst bedeuten?51 Nach Reddy werden sich Kleinkinder ur-
18
sprnglich und zum ersten Mal der Aufmerksamkeit Anderer bewusst, wenn sie
19
auf sie selbst gerichtet ist – sie hlt das fr die gewaltigste Erfahrung von Auf-
20
merksamkeit, die jeder von uns jemals haben wird –, und sie fhrt aus, dass
21
Kleinkinder die Aufmerksamkeit Anderer erst spter bemerken, wenn sie auf
22
andere Dinge in der Welt gerichtet ist, seien es frontale Ziele, Gegenstnde in der
23
24
Hand, entfernte oder sogar abwesende Ziele (zum Beispiel Objekte, die hinter
25
dem Rcken des Kleinkindes platziert sind).52 Nach ihrer Auffassung zeigen
26 Kleinkinder bereits um den zweiten bis vierten Monat herum ein wachsendes
27 Bewusstsein fr die Aufmerksamkeit Anderer. Sie reagieren auf die Beachtung
28 durch Andere mit Interesse, Vergngen oder Missbehagen, sie machen auf sich
29 aufmerksam, indem sie ußerungen von sich geben, und scheinen von Men-
30 schen zu erwarten, dass sie aktiv mit ihnen zusammenarbeiten, um die Face-to-
31 Face-Interaktion aufrechtzuerhalten und zu regulieren, wie es zum Beispiel im
32 Experiment mit dem reglosen Gesicht (still-face experiment) dokumentiert wor-
33 den ist. Bei diesem Experiment geht ein Erwachsener zunchst mit dem Klein-
34
49 Riccardo Draghi-Lorenz, Vasudevi Reddy, Alan Costall: Rethinking the development of
35
„nonbasic“ emotions. A critical review of existing theories. In: Developmental Review 21
36 (2001). 263 – 304.
50 Michael Tomasello: The cultural origins of human cognition. Cambridge 2001. 90; R.
37
38 Peter Hobson: The cradle of thought. London 2002. 82; Vasudevi Reddy: How infants know
minds. Cambridge 2008. 126 – 127. 137, 143.
39 51 Reddy: Infants. 91.

40 52 Reddy: Infants. 92, 98.


334 Dan Zahavi

1 kind eine ganz normale Face-to-Face-Interaktion ein. Das wird abgelçst durch
2 eine Phase, in welcher der Erwachsene teilnahmslos wird und einen unbewegten
3 Ausdruck einnimmt (das reglose Gesicht). Diese starre Periode wird dann in der
4 Regel abgelçst durch eine weitere Phase normaler Face-to-Face-Interaktion.
5 Selbst im Alter von zwei Monaten zeigen Kleinkinder eine stabile Reaktion auf
6 das unbewegte Gesicht: Sie sind empfnglich fr solche Stçrungen sozialer Inter-
7 aktionen und versuchen, ihren sozialen Partner wieder zu reaktivieren, indem
8 sie lcheln, Laute von sich geben und gestikulieren. Wenn das aber fehlschlgt,
9 zeigen Sie Blickkontaktvermeidung und Kummer.53 Die generelle Interpretation
10 solcher Befunde ist nicht nur, dass etwas im Blick des Anderen vom Kind als so
11 bedeutsam empfunden werden muss, dass es starke emotionale Reaktionen
12 weckt, sondern auch, dass Kinder Erwartungen haben, auf welche Weise Face-
13 to-Face-Interaktionen ablaufen, und wie die angemessenen interaktiven Antwor-
14 ten der sozialen Partner beschaffen sein sollten.54
15 Statt also anzunehmen, die so genannten komplexeren Emotionen setzten ein
16 Selbstkonzept voraus und involvierten reflexive Selbstbewertung, statt die be-
17 treffenden Emotionen berhaupt selbstbewusste Emotionen zu nennen, ist es
18 vielleicht am Ende besser, sie als selbst-und-fremd-bewusste Emotionen zu be-
19 zeichnen, da sie uns ein relationales Sein bewusst machen und das Selbst-in-Rela-
20 tion-zum-Anderen betreffen.55 In ihrer frhesten Entwicklungsform sind es
21 Emotionen, welche die exponierte und interpersonale Natur des Selbst offenba-
22 ren, reguliert durch die Sichtbarkeit des Selbst als Objekt der Aufmerksamkeit
23 des Anderen. Das ist offenkundig ein ganz anderes, aber meiner Ansicht nach
24 weit angemesseneres Verstndnis dessen, worauf die exponierte Natur des Selbst
25 hinausluft, als die Erklrung, die Lewis anbietet.
26
27
28
29
5. Fazit
30
31
Lassen Sie mich schließen, indem ich auf die Frage zurckkomme, mit der ich
32
begonnen hatte: Was sagt uns die Tatsache, dass wir uns schmen kçnnen, ber
33
die Natur des Selbst? Welche Art von Selbst wird von Scham affiziert? Scham
34
bezeugt unsere Exponiertheit, unsere Verletzbarkeit und Sichtbarkeit, und sie ist
35 53 Edward Tronick, Heideliese Als, Lauren Adamson, Susan Wise, T. Berry Brazelton: Inf-
36 ants response to entrapment between contradictory messages in face-to-face interaction. In:
37 Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 17 (1978). 1 – 13.
54 Philippe Rochat, Tricia Striano: Social-cognitive development in the first year. In: Philip-
38
pe Rochat (Hg.): Early social cognition. Understanding others in the first months of life. Hills-
39 dale 1999. 3 – 34.
40 55 Reddy: Infants. 145.
Scham als soziales Gefhl 335

1 wesentlich verbunden mit solchen Aspekten wie Verbergung und Aufdeckung,


2 Sozialitt und Entfremdung, Trennung und Interdependenz, Unterscheidung
3 und Verbundenheit. Im Gegensatz zu denen, die behaupten, „kennzeichnend fr
4 Scham ist das Vorhandensein einer spezifischen Art von intrapersonaler Bewer-
5 tung, eine evaluative Perspektive, die das Subjekt zu sich selbst einnimmt“,56
6 glaube ich nicht, dass sich die akute Erfahrung von Scham erfassen lsst, wenn
7 man sich einfach nur darauf konzentriert, dass das Subjekt der Scham auf sich
8 selbst zurckgeworfen ist. Wie Seidler betont – und ich halte das fr eine wesent-
9 liche Einsicht: „Das Schamsubjekt ist ,ganz bei sich‘ und gleichzeitig ,außer
10 sich‘“.57 Das, denke ich, ist auch Sartres grundlegende Idee. Allgemeiner gespro-
11 chen: Sartre bedient sich der Scham, um eine existenzielle Entfremdung mit an-
12 zusprechen. Ich wrde dem zustimmen – zumindest, wenn man es so versteht,
13
dass es auf einen entscheidenden Perspektivenwechsel auf das Selbst hinausluft.
14
In manchen Fllen ist die entfremdende Gewalt ein anderes Subjekt, und Sartres
15
Beschreibung unseres prreflexiven Schamgefhls bei der Konfrontation mit
16
dem bewertenden Blick des Anderen ist ein Beispiel dafr. In anderen Fllen
17
tritt das Schamgefhl ein, wenn wir ber uns selbst zu Gericht sitzen. Aber auch
18
in diesem Fall gibt es eine Art von Exponiertheit und Selbstentfremdung, eine
19
Art Selbstbeobachtung und Selbstdistanzierung. Anders gesagt: In der Gesell-
20
schaft von Anderen kann die Erfahrung von Scham deswegen prreflexiv auftre-
21
ten, weil die Fremdperspektive ko-prsent ist. Beim Alleinsein wird die Schamer-
22
fahrung eine eher reflexive Form annehmen, da hier die Fremdperspektive
23
durch eine Form von reflexiver Selbstdistanzierung geleistet werden muss.
24
25
Ich wrde folglich dabei bleiben, dass Scham ein signifikantes und irreduzi-
26
bles Element der „Alteritt“ enthlt. Das ist in solchen Fllen offensichtlich, bei
27 denen die Schamerfahrung als eine Reaktion auf die Bewertung durch Andere
28 erfolgt, doch selbst vergangenheitsorientierte selbstreflexive Scham und zu-
29 kunftsorientierte Scham-Angst enthalten diesen Aspekt. Das ist nicht nur des-
30 halb so, weil hier Selbstdistanzierung und eine Doppelung der Perspektiven im
31 Spiel sind, sondern auch, weil Andere die Entwicklung und Ausformung unse-
32 rer eigenen Standards beeinflussen. Insofern kçnnen die bewertenden Perspekti-
33 ven von Anderen eine Rolle in der Struktur der Emotion spielen, selbst wenn sie
34 faktisch nicht prsent oder explizit imaginiert sind.58 berdies, selbst wenn man
35 dafr argumentieren kçnnte, dass die Art von Scham, die wir fhlen, wenn wir
36 unsere eigenen Standards verfehlen, in keiner direkten Weise sozial vermittelt ist
37
38
56 Deonna, Rodogno, Teroni: In defense of shame. 135.
57 Gnter H. Seidler: Der Blick des Anderen. Eine Analyse der Scham. Stuttgart 2001. 25 f.
39 58 Hilge Landweer: Scham und Macht. Phnomenologische Untersuchungen zur Sozialitt

40 eines Gefhls. Tbingen 1999. 57, 67.


336 Dan Zahavi

1 (es ist keineswegs so, dass wir uns nur schmen, weil wir das Gesicht verlieren,
2 oder dass die Bewertungen Anderer stets an dem beteiligt wren, was uns be-
3 schmt), so bleibt immer noch die Frage nach dem Verhltnis von intrapersona-
4 ler und interpersonaler Scham. Ich habe nicht nur die Behauptung zurckgewie-
5 sen, dass letztere auf die erste reduziert oder auf deren Grundlage erklrt werden
6 kçnne, sondern ich stimme auch mit jenen Philosophen und Entwicklungspsy-
7 chologen berein, die behaupten, dass intrapersonale Scham im Anschluss an in-
8 terpersonale Scham entsteht (und durch sie bedingt ist). Es ist mein Wahrneh-
9 men der Aufmerksamkeit des Anderen und meine nachfolgende
10 Verinnerlichung dieser fremden Perspektive, die es mir am Ende erlauben, gen-
11 gend Selbstdistanz zu gewinnen, um eine kritische Selbstbewertung zu ermçgli-
12 chen.
13 Ein nahe liegender Weg, die Gltigkeit dieser These weiter zu erkunden,
14 wre, sich Scham bei Individuen mit Autismus anzusehen. Angesichts ihrer so-
15 zialen Beeintrchtigungen, ihrem Mangel an Sorge, wie sie auf Andere wirken,
16 ihren Schwierigkeiten, sich selbst als Subjekte im Kopf der Anderen zu begrei-
17 fen, ließe sich erwarten, dass ihnen eine normale Erfahrung von Scham fehlen
18 msste. Leider wurde dieses Thema bislang nur sehr wenig systematisch er-
19 forscht. In einer Studie von 2006 haben Hobson und seine Mitarbeiter aber die
20 Eltern von kleinen Kindern befragt, ob die Kinder Scham zeigten. Nach ihren
21 Befunden ließ keines der autistischen Kinder eindeutig Scham erkennen, im Un-
22 terschied zur Mehrheit der Kinder in der Kontrollgruppe.59
23 Viel mehr msste ber Scham gesagt werden. Ein adquateres Verstndnis die-
24 ses komplexen Phnomens erforderte auch eine eingehende Analyse etwa ihres
25 entwicklungsmßigen Verlaufs (wie frh tritt sie auf, inwieweit hnelt kindliche
26 Scham – wenn sie existiert – der Scham des Erwachsenen, welche Rolle spielt sie
27
in der Adoleszenz etc.?) und ihrer kulturellen Besonderheiten (inwieweit unter-
28
scheiden sich schamauslçsende Situationen, die Schamerfahrung selbst und die
29
zur Verfgung stehenden Strategien zu ihrer Bewltigung von Kultur zu Kul-
30
tur?). Aber das sind keine Themen, die ich an dieser Stelle weiterverfolgen kçnn-
31
te. Lassen Sie mich zum Schluss nur feststellen: Ich glaube, die vorangegangene
32
Diskussion hat gezeigt, dass es fraglich ist, ob die Selbstrelation, die wir in der
33
Scham vorfinden, so in sich geschlossen und innengerichtet ist, wie Lewis sowie
34
Deonna und Teroni behaupten. Ich denke, dass prototypische Formen der
35
Scham lebhafte Beispiele fr fremdvermittelte Formen der Selbsterfahrung bie-
36
ten. Genauer gesagt, ich glaube, dass Scham – und andere Formen von „selbst-
37
und-fremd-bewussten Emotionen“ (self-other-conscious emotions), um Reddys
38
39 59 R. Peter Hobson, Gayathri Chidambi, Anthony Lee, Jessica Meyer: Foundations for

40 self-awareness. An exploration through autism. Boston 2006.


Scham als soziales Gefhl 337

1 einsichtsvollen Ausdruck zu gebrauchen60 – uns etwas Wichtiges darber lehren


2 kçnnen, wie unsere Erfahrung und Verinnerlichung der Haltung des Anderen
3 uns gegenber zur Entwicklung und Konstitution des Selbst beitragen.
4
5 bersetzung aus dem Englischen: Klaus Sellge
6
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1 Autorenverzeichnis
2
3 Ralf Becker ist Gastprofessor fr Philosophie an der Universitt Ulm. Seine Ar-
4 beitsbereiche sind Philosophische Anthropologie, Erkenntnistheorie, Phnome-
5 nologie, Kulturphilosophie und Wissenschaftsphilosophie. Bcher: Sinn und
6 Zeitlichkeit (Wrzburg 2003), Der menschliche Standpunkt (Frankfurt a.M.
7 2011).
8
9 Thomas Bedorf ist Professor fr Praktische Philosophie an der FernUniversitt
10 Hagen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sozialphilosophie, Politische Philo-
11 sophie, Phnomenologie und die franzçsische Philosophie der Gegenwart. B-
12 cher: Dimensionen des Dritten. Sozialphilosophische Modelle zwischen Ethi-
13 schem und Politischem (Mnchen 2003), Verkennende Anerkennung. ber
14 Identitt und Politik (Berlin 2010), Andere. Eine Einfhrung in die Sozialphilo-
15 sophie (Bielefeld 2011). Herausgaben: Die Franzçsische Philosophie im 20. Jahr-
16 hundert. Ein Autorenhandbuch (Darmstadt 2009), Das Politische und die Poli-
17 tik (Berlin 2010), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualitt eines Konzepts
18 (Tbingen 2012), Die deutsche Philosophie im 20. Jahrhundert. Ein Autoren-
19 handbuch (Darmstadt 2012).
20
21 Jagna Brudzińska ist ttig als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Husserl-Ar-
22 chiv der Universitt zu Kçln und am Philosophischen Seminar der Bergischen
23 Universitt Wuppertal sowie als Assistant Professor am Institut fr Philosophie
24 und Soziologie der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau. For-
25 schungsbereiche: phnomenologische Subjektivitts- und Erfahrungstheorie,
26 Phnomenologie des Sozialen, interdisziplinre Anwendungen der Phnomeno-
27 logie, insbesondere die Verbindung zur Psychoanalyse. Buch: Assoziation, Ima-
28 ginres, Trieb. Phnomenologische Untersuchungen zur Subjektivittsgenesis
29 bei Husserl und Freud (Diss. Kçln 2010), Artikel: Depth Phenomenology of the
30 emotive dynamic and the psychoanalytic experience. In: Founding psychoanaly-
31 sis phenomenologically (hg. D. Lohmar / J. Brudzinska, Dordrecht 2011) sowie
32 weitere Artikel zu den genannten Schwerpunkten.
33
34 Marco Cavallaro promoviert im Rahmen einer Cotutela zwischen der Katholi-
35 schen Universitt Leuven und der Universitt zu Kçln ber den Begriff des Ha-
36 bitus und der Habitualitten in der transzendentalphnomenologischen Philoso-
37 phie Husserls. Seine Arbeitsbereiche sind die Phnomenologie, insbesondere
38 Husserl, Deutscher Idealismus und franzçsische Philosophie.
39
40

Phnomenologische Forschungen 2013 ·  Felix Meiner Verlag 2013 · ISSN 0342-8117


340 Autorenverzeichnis

1 Dr. Christian Ferencz-Flatz ist Forscher am Institut fr Philosophie Alexandru


2 Dragomir / Rumnische Gesellschaft fr Phnomenologie und hat mehrere Auf-
3 stze in Fachzeitschriften wie Husserl Studies, Studia Phaenomenologica, Phno-
4 menologische Forschungen, Tijdschrift voor Filosofie u. a. verçffentlicht. Bcher:
5 Das Gewçhnliche und das Ungewçhnliche im Alltag. Die Phnomenologie der
6 Situation und die Kritik des Wertbegriffs bei Martin Heidegger (Bukarest 2009,
7 in rumnischer Sprache), Anstze zu einer Phnomenologie der Vergangenheit
8 (in rumnischer Sprache; in Vorbereitung). Zudem bersetzte er einige Werke
9 Heideggers und Husserls ins Rumnische.
10
11 Shinji Hamauzu ist Professor fr Ethik und Klinische Philosophie an der Univer-
12 sitt Osaka/ Japan. Seine Arbeitsbereiche sind Phnomenologie, insbesondere
13 Husserl, Intersubjektivittstheorie, Anthropologie des Caring und Ethik der
14
Krankenpflege. Buch: Husserls Phnomenologie der Intersubjektivitt (Sōbun-
15
sha 1995, in japanischer Sprache). Herausgaben: Einleitung zur Anthropologie
16
des Caring (Chisen Shokan 2005, in japanischer Sprache), Nursing Ethics (Maru-
17
zen 2012, in japanischer Sprache). Zudem bersetzte er Husserls Cartesianische
18
Meditationen (2001) und die Husserliana-Bnde XIII-XV zur Phnomenologie
19
der Intersubjektivitt (2012/2013) ins Japanische. Ferner zahlreiche Artikel zu
20
Fragen der Phnomenologie.
21
22
Dieter Lohmar ist Professor fr Philosophie an der Universitt zu Kçln. Seine
23
Arbeitsbereiche sind Phnomenologie, insbesondere Husserl, Erkenntnistheo-
24
rie, Transzendentalphilosophie, Empirismus und Anthropologie. Bcher: Ph-
25
26
nomenologie der Mathematik (Dordrecht 1989), Erfahrung und kategoriales
27
Denken (Dordrecht 1998), Edmund Husserls Formale und transzendentale Lo-
28 gik (Darmstadt 2000), Phnomenologie der schwachen Phantasie (Dordrecht
29 2008), Denken ohne Sprache (im Erscheinen) sowie zahlreiche Artikel zur Ph-
30 nomenologie.
31
32 Karl Mertens ist Professor fr Philosophie (Schwerpunkt Praktische Philoso-
33 phie) an der Universitt Wrzburg. Seine Arbeitsbereiche sind Handlungstheo-
34 rie, Sozialphilosophie, Ethik, Erkenntnistheorie, Philosophie des Geistes und
35 Phnomenologie. Buch: Zwischen Letztbegrndung und Skepsis. Kritische Un-
36 tersuchungen zum Selbstverstndnis der transzendentalen Phnomenologie Ed-
37 mund Husserls (Freiburg/Mnchen 1996); Herausgabe (zusammen mit Ingo
38 Gnzler): Wahrnehmen, Fhlen, Handeln. Phnomenologie im Wettstreit der
39 Methoden (Paderborn 2013) sowie zahlreiche Aufstze und Artikel zu den oben
40 genannten Forschungsgebieten.
Autorenverzeichnis 341

1 Karel Novotný ist Associate Professor und Co-Direktor des Mitteleuropi-


2 schen Instituts fr Philosophie und Koordinator des Erasmus Mundus Master
3 EuroPhilosophie-Programms der Karls-Universitt Prag, wo er auch an der Fa-
4 kultt fr die Geisteswissenschaften lehrt und forscht, ebenso am Philosophi-
5 schen Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik.
6 Seine Arbeitsbereiche liegen in der deutschen und franzçsischen Phnomenolo-
7 gie, Erkenntnistheorie, Transzendentalphilosophie und Anthropologie. Bcher:
8 La gense d’une hrsie. Monde, corps et histoire dans la pense de Jan Patočka
9 (Paris 2012), Neue Konzepte der Phnomenalitt. Essais zur Subjektivitt und
10 Leiblichkeit des Erscheinens (Wrzburg 2012) sowie zahlreiche Artikel zur Ph-
11 nomenologie.
12
13 Dr. Alice Pugliese ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl fr Moral-
14 philosophie an der Universitt von Palermo. Ihre Forschungsthemen sind geneti-
15 sche Phnomenologie, Husserl, Intersubjektivitt, Ethik und Anthropologie. B-
16 cher: La dimensione dell’intersoggettivit. Fenomenologia dell’estraneo nella
17 filosofia di Edmund Husserl (Mailand 2004), Unicit e relazione. Intersoggetti-
18 vit, genesi e io puro in Husserl (Mailand 2009). Artikel: Triebsphre und Ur-
19 kindheit des Ich. In: Husserl Studies 25/2 (2009). 141 – 157, sowie weitere Verçf-
20 fentlichungen zur Phnomenologie.
21
22 Sonja Rinofner-Kreidl ist Professorin am Institut fr Philosophie an der Karl-
23 Franzens Universitt Graz und European Editor der Husserl Studies. For-
24 schungsschwerpunkte: Phnomenologie, Handlungs- und Werttheorie, (Meta-)
25 Ethik, Angewandte Ethik (Medizinethik) und Philosophie des Geistes. Bcher:
26 Edmund Husserl. Zeitlichkeit und Intentionalitt (Freiburg/Mnchen 2000),
27 Mediane Phnomenologie. Subjektivitt im Spannungsfeld von Naturalitt und
28 Kulturphilosophie (Wrzburg 2003) und zahlreiche Artikel zu den genannten
29 Schwerpunkten.
30
31 Dr. Inga Rçmer ist Akademische Rtin auf Zeit am Philosophischen Seminar
32 der Bergischen Universitt Wuppertal. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen
33 historisch in der Phnomenologie, der Hermeneutik und Kant sowie systema-
34 tisch in der Philosophie der Zeit, der Philosophie der Subjektivitt und Intersub-
35 jektivitt sowie der Ethik. Buch: Das Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und
36 Ricœur (Dordrecht u. a. 2010). Herausgaben: Subjektivitt und Intersubjektivi-
37 tt in der Phnomenologie (Wrzburg 2011), (Mithg.) Investigating Subjecti-
38 vity. Classical and New Perspectives (Leiden 2012), (Mithg.) Person: Anthropo-
39 logische, phnomenologische und analytische Perspektiven (Mnster 2013)
40 sowie zahlreiche Artikel zu den oben genannten Forschungsthemen.
342 Autorenverzeichnis

1 Tetsuya Sakakibara ist Professor fr Philosophie an der Universitt Tokio. Seine
2 Arbeitsbereiche liegen in der Phnomenologie, der Existenzialphilosophie und
3 der Philosophie des Caring. Buch: Die Genesis der Phnomenologie Husserls.
4 Eine Untersuchung ber die Entstehung und Entwicklung ihrer Methode (To-
5 kio 2009, in japanischer Sprache). Artikel: Das Problem des Ich und der Ur-
6 sprung der genetischen Phnomenologie bei Husserl. In: Husserl Studies 14
7 (1997). 21 – 39, sowie zahlreiche weitere Artikel zu Husserls Phnomenologie
8 und Caring.
9
10 Dr. Daniel Schmicking ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Studium Generale
11 der Johannes Gutenberg-Universitt Mainz. Seine Arbeitsbereiche liegen in der
12 Phnomenologie, insbesondere der auditiven Erfahrung und des Musizierens,
13 auch in Verbindung mit den Kognitionswissenschaften, und Schopenhauer.
14 Buch: Hçren und Klang. Wrzburg 2003; Herausgabe (zusammen mit S. Gallag-
15 her): Handbook of Phenomenology and Cognitive Science. Dordrecht 2010, so-
16 wie weitere Artikel berwiegend zur Phnomenologie und zu Schopenhauer.
17
18 L szl
Tengelyi ist Professor am Philosophischen Seminar der Bergischen Uni-
19 versitt Wuppertal und Vorsitzender des dortigen Instituts fr phnomenologi-
20 sche Forschung. Bcher: Der Zwitterbegriff Lebensgeschichte (Mnchen 1998),
21 L’exprience retrouve (Paris 2006), Erfahrung und Ausdruck. Phnomenologie
22 im Umbruch bei Husserl und seinen Nachfolgern (Dordrecht 2007), (zusam-
23 men mit Hans-Dieter Gondek) Neue Phnomenologie in Frankreich (Frankfurt
24 a.M. 2011), sowie die soeben erschienene Aufsatzsammlung L’experience de la
25 singularit. Essais philosophiques II (Paris 2014).
26
27 Dr. Maren Wehrle ist Assistentin am Husserl Archiv des Philosophischen Insti-
28 tuts der Katholischen Universitt Leuven. Ihre Arbeitsbereiche sind Phnome-
29 nologie, insbesondere Husserl und Merleau-Ponty, kognitive Psychologie und
30 historische Anthropologie. Buch: Horizonte der Aufmerksamkeit (Mnchen
31 2013). Artikel: Medium und Grenze: der Leib als Kategorie der Intersubjektivi-
32 tt. In: T. Breyer (Hg.): Grenzen der Empathie. Paderborn 2013. 217 – 238; Die
33 Normativitt der Erfahrung. In: Husserl Studies 26 (2010). 167 – 187, sowie wei-
34 tere Artikel zu den oben erwhnten Forschungsbereichen.
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36 Dan Zahavi ist Professor fr Philosophie und Direktor des Zentrums fr Subjek-
37 tivittsforschung an der Universitt Kopenhagen. Arbeitsschwerpunkte: Phno-
38 menologie und Kognitionswissenschaft, Selbstheit, Selbstbewusstsein und Inter-
39 subjektivitt. Bcher: Husserl’s Phenomenology (Stanford 2003), Subjectivity
40 and Selfhood (Cambridge MA 2005) und (zusammen mit Shaun Gallagher) The
Autorenverzeichnis 343

1 Phenomenological Mind: An Introduction to Philosophy of Mind and Cogniti-


2 ve Science (London 2008).
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