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Prolog

Liam

Schwächlinge. Ausnahmslos. Sie würden es niemals so weit bringen wie ich.


Unglücklicherweise gab es nur wenige Exemplare, die ihr Talent auch nach der Ausbildung
wirklich hundertprozentig beherrschten. Ich konnte sie an einer Hand abzählen und die zwei
neuen Rekruten gehörten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht dazu. Ich würde
ihnen das Nötigste beibringen, sie würden mich reicher machen, und wenn ich mit ihnen fertig
war und sie irgendwann ziehen ließ, würde ich ihnen garantiert keine Träne nachweinen.
Außerdem schienen sie von Jahr zu Jahr jünger zu werden. Die beiden Mädchen, die ängstlich
nebeneinanderstanden und jede meiner Bewegungen mit geweiteten Rehaugen verfolgten, waren
kaum zwanzig. Es war viel zu leicht gewesen, sie zu überzeugen, mich zu begleiten. Ich hatte
noch nicht einmal den Finger am Abzug gehabt … Kaum hatten sie die Beretta gesehen, waren
sie in den Van gestiegen.
Der alte Mann stöhnte leise, während er den Raum durchquerte. Der leere Blick schien der
kleinen Blondine und dem schlaksigen Rotschopf Angst zu machen. Als er an ihnen vorbeilief,
sahen sie betroffen zu Boden.
„Seht hin, verdammt noch mal!“
Mit größter Anstrengung unterdrückte ich ein Gähnen. Nichts war mehr eine
Herausforderung. Wenn nur Sarah noch leben würde. Zu zweit waren wir unschlagbar gewesen.
Sie war meine Vorzeige-Piratin gewesen, hatte jeden Soul-Pirates-Gig genossen und nicht
einmal die Nerven verloren. Doch ohne meinen Gedankenpartner war ich zum Nichtstun
verurteilt. Zwar konnte ich Flüsterer immer noch an dem Gedankennebel erkennen, aber dieser
Splitter meiner ehemaligen Gabe stach wie ein Dorn in einer offenen Wunde. Mein anderes
besonderes Talent, das ich in Scarletts Schule vor vielen Jahren verfeinert und perfektioniert
hatte, war mit Sarahs Tod ebenfalls gestorben. Seitdem war ich auf andere angewiesen. So wie
auf die zwei Neuen, die nach wie vor auf ihre Fußspitzen starrten.
„Herrgott noch mal.“ Ich trat hinter sie und ließ meine Hände auf ihre Schultern niederfahren.
„Seht hin, habe ich gesagt.“
Ich würde schrecklich viel Zeit und noch mehr Geduld aufbringen müssen, bis das neue Paar
auch nur ansatzweise so weit sein würde, um für mich arbeiten zu können. Irgendwann jedoch
würde ich es schaffen und sie würden das tun, was ich von ihnen verlangte. Ohne mit den
getuschten Wimpern zu zucken.
„Wir passen doch auf“, flüsterte die kleine Blonde mit der großen Oberweite.
„Du musst nicht flüstern. Ich habe doch gesagt, er kann uns nicht hören“, brüllte ich ihr ins
Ohr und freute mich, dass sie zusammenfuhr.
„Entschuldigung“, raunte sie mit bebender Stimme.
„Das könntet ihr sein in ein paar Wochen.“ Ich sah sie von der Seite an. „Oder in ein paar
Monaten. Je nachdem, wie dämlich ihr euch anstellt.“
Joel und Sam hatten den alten Mann inzwischen bis zum Tresor, den der Greis im
dunkelbraunen Wohnzimmerschrank versteckt hatte, dirigiert. Das einzige Zeichen dafür, dass
sie ihm ihren Willen aufzwangen, waren die Nebelglocken, die über den beiden schwebten.
Beweis dafür, dass Mindwhisperer tätig waren, sichtbar nur für die, die ebenfalls dieses Talent
besaßen. Mit Sarahs Tod hatte ich zwar meinen Gedankenpartner verloren, konnte aber zum
Glück zumindest den Gedankennebel noch sehen. Genau so fand ich meine neuen Rekruten. Ich
durchkämmte Amerika von Osten nach Westen und von Norden nach Süden, in der Hoffnung,
diese besonderen Glocken ausfindig zu machen.
Entschieden trat ich zwischen die zwei Neulinge, die erschrocken zur Seite sprangen. Mein
Blick streifte den Spiegel über der dunkelbraunen Kommode. Das schwarze Shirt war ein wenig
zu eng, spannte deutlich über den Oberarmen und Schultern, ebenso wie die graue Jeans über
den Oberschenkeln. Nicht schlecht, alter Junge. Die Einundfünfzig sieht man dir wirklich nicht
an. Zufrieden strich ich mir eine rostrote Strähne aus der Stirn. Ich könnte glatt als Captain Flint
aus Black Sails durchgehen. Selbst der Vollbart passte. Genauso wie der berechnende Schimmer
in meinen Augen. Er verlieh meinem Gesicht das gewisse brutale Etwas. Neben der Beretta mein
zweites überzeugendes Argument, das ich bei der Rekrutierung immer wieder gern einsetzte.
Vielleicht sollte ich mir eine Augenklappe besorgen. Piratenmäßig. Wahrscheinlich brauchte ich
dann meine Waffe gar nicht mehr. Mit einem gelassenen Grinsen wandte ich mich wieder den
zwei jungen Frauen zu. Vorsichtshalber richtete ich die Pistole noch einmal auf sie. Es konnte
sicher nicht schaden, sie daran zu erinnern, wer hier das Sagen hatte.
Inzwischen öffnete der alte Mann den Tresor, griff hinein und legte einige Geldbündel auf den
Tisch daneben. Er bewegte sich langsam, stöhnte erneut. Dieses Mal ein wenig lauter. Es folgten
Ketten, Uhren und – mein Herz begann ein wenig schneller zu schlagen – viele kleine
Goldbarren. Hatte ich es doch gewusst! Gute Planung war schon immer meine Stärke gewesen.
Ich hatte den Greis in seiner viel zu großen Villa schon lange im Visier gehabt, wochenlang
seinen Tagesablauf studiert. Ich sah auf die Uhr. Kurz vor drei. In ein paar Minuten würde seine
Enkelin hier aufkreuzen, um ihm den täglichen Cappuccino vorbeizubringen. Eine halbe Stunde
später würde sie sich wieder verabschieden. Gegen sechs würde dann sein Nachbar zum
Skatspielen erscheinen.
„Packt ein. Je schneller …“
„… desto besser“, unterbrach mich Joel und fuhr sich mit der rechten Hand durch das lange
schwarze Haar. „Ich weiß. Das ist nicht unser erstes Rodeo, Boss. Sam und ich gehören zu den
Besten, solltest du das vergessen haben.“
„Schon gut.“ Ich biss die Zähne zusammen und schluckte die aufkeimende Wut hinunter. Es
stimmte, Sam und Joel gehörten zu den Begabteren meiner Truppe. Und sie brauchten
regelmäßige Streicheleinheiten. Was würde ich nur darum geben, selbst noch einmal tätig zu
werden. Stattdessen musste ich zusehen. Und organisieren. Vor allem aber abkassieren. Und das
tat ich gerne und oft. Wenn nur nicht Scarlett, diese Hexe, es immer wieder schaffen würde, neue
Gedankenpaare für sich zu gewinnen. Scarlett Dougherty. Meine gute alte Lehrerin. Ich war ihr
Lieblingsschüler gewesen, wissbegierig und eifrig. Ich lachte leise in mich hinein. Inzwischen
hatte ich sie übertrumpft, war längst ein besserer Lehrer als sie. Und ich konnte den Neulingen
etwas bieten, was sie ihren Schülern niemals geben konnte: Ruhm und Reichtum. Dass sich nicht
alle gegen die alte Frau und für mich entschieden, war mir immer noch ein Rätsel.
„Fertig, Boss.“ Joel hielt mir den grünen Rucksack unter die Nase, ohne den Blick von seinem
Opfer zu lösen.
„Gut gemacht. Scheint sich zu lohnen dieses Mal.“ Ich schenkte meinen zwei Piraten ein
anerkennendes Lächeln und drehte mich zu den Mädchen um. „Konzentriert euch bis zum
Schluss auf die Person, die ihr gerade steuert“, erklärte ich ihnen. „Er oder sie darf unter keinen
Umständen zu sich kommen, bevor ihr euch in Sicherheit gebracht habt. Passt auf, jetzt kommt
das Beste.“
Ich nickte Sam und Joel zu, die den alten Mann zum Sofa lenkten und ihm dann die Hände
auf die schmalen Schultern legten. Er sackte in sich zusammen, stöhnte laut auf, seine Glieder
erschlafften. Leblos lag er auf der Couch.
„Ist er tot?“, fragte der Rotschopf und griff erschrocken nach der Hand der Blondine.
„Natürlich nicht. Aber nun dürft ihr flüstern. Er schläft.“ Nicht zum ersten Mal heute
ermahnte ich mich, die beiden nicht allzu sehr zu verschrecken. Ich steckte die Beretta in das
Halfter und bemühte mich, meiner Stimme einen aufmunternden Klang zu verleihen. Zuckerbrot
und Peitsche …
„Er wird jetzt ein paar Minuten vor sich hin dösen, dann mit einem Brummschädel aufwachen
und sich wundern, wer den Tresor ausgeräumt hat. Er wird nicht viel verlieren, keine Sorge.
Alles versichert, nehme ich an. Win-win. Und? Was sagt ihr?“
„Das ist … viel Geld.“ Die grünen Augen unter dem kupferroten Pony begannen zu glänzen.
„Verdammt viel Geld.“
Ich lächelte zufrieden. Ich hatte sie. Mal wieder. „Willkommen bei den Soul Pirates.“
Kapitel 1
Juliet

Selbst zwanzigminütiges Dauerduschen hatte nicht geholfen. Wie auch? Als ob ein wenig heißes
Wasser und Erdbeerduschgel das bedrückende Gefühl wegspülen könnten, das mir seit einer
knappen Woche die Luft zum Atmen raubte. Ich hatte gewartet, bis der Badezimmerspiegel
komplett zugedunstet war, damit ich mir nicht in die Augen sehen musste. Trauer und
Verzweiflung spürte ich auch so, ohne mir den Beweis dafür im Spiegel abholen zu müssen.
Allmorgendlich hoffte ich darauf, aus einem besonders grausamen Albtraum aufzuwachen, und
jeden Morgen wurde ich enttäuscht.
Vor sechs Tagen hatte ich Mom und Dad das letzte Mal gesehen. Ich war auf einen Sprung
zum Kaffee vorbeigekommen und viel zu kurz geblieben. Hätte ich gewusst, dass es das letzte
Mal sein sollte, dass ich in Moms Augen sehen konnte, dann hätte ich mich für immer in dem
tiefblauen Funkeln verloren. Hätte ich gewusst, dass es das letzte Mal war, dass Dad meine Hand
in seiner schwarzen Pranke verschwinden ließ, so hätte ich niemals losgelassen. Ein letztes Mal,
dass mir Ava und Addae Yeboah glücklich, Arm in Arm, gegenübergestanden hatten. Meine
Eltern. Meine unkomplizierten, fröhlichen, wunderbaren Eltern. Beweis dafür, dass Hautfarbe
und Kultur zu Nebensächlichkeiten schrumpften, wenn Liebe im Spiel war.
Ich schlüpfte in die hellblau karierte Pyjamahose, streifte mein graues I am a unicorn T-Shirt
über und verteilte dann großzügig meinen Lieblings-Leave-In-Conditioner in den schwarzen
Locken. Schließlich gab ich mir einen Ruck, öffnete die Badezimmertür und lauschte in die
Stille. Kein leises Summen kam aus Dads Büro, das er sich neben dem Schlafzimmer
eingerichtet hatte. Täglich hatte er sich dorthin zurückgezogen, um irgendwelche medizinischen
Wälzer zu studieren. Kein Topfklappern, keine Musik hallte von unten aus der Küche die Treppe
herauf. Nichts. Todesstille. Mit meinen Eltern schien auch das Haus gestorben zu sein. Übrig war
nur noch ich. Juliet Yeboah. Vollwaise. Tochter von Addae, Gastarbeiterkind ghanaischer Eltern
und Ava, in New York geboren und aufgewachsen.
Das zweistöckige ockergelbe Einfamilienhaus mit den sandfarbenen Dachziegeln in Köln-
Lindenthal war ein Haus der vielen Farben und Sprachen gewesen. In regelmäßigen Abständen
wohnten hier Gaststudenten aus Moms oder Dads Heimat. Enam aus Accra war erst vor zwei
Wochen abgereist. Fast jedes Wochenende fanden sich außerdem Freunde zum Essen ein. Mom
liebte es, die Gastgeberin zu spielen.
Mein Elternhaus. Ein Haus der Fröhlichkeit und des Lachens. Und das, obwohl Ava und
Addae Yeboah es nun wirklich nicht immer leicht gehabt hatten. Zwar war das einundzwanzigste
Jahrhundert schon längst über zehn Jahre alt, doch Toleranz und Offenheit waren allem Anschein
nach für viele Menschen Gaben, die sie noch erhalten mussten. Wenn Mom und Dad Hand in
Hand durch Kölns Innenstadt zogen, sah man ihnen hinterher. Die schmale Frau mit den
feuerroten langen Haaren neben dem kantigen schwarzen Mann erregte Aufmerksamkeit. Immer
wieder. Beziehungen zwischen Schwarz und Weiß waren eben doch eher die Ausnahme als die
Regel. Ich selbst konnte davon ein langes, zermürbendes Lied singen. Jahrelang war ich mir wie
eine Außenseiterin vorgekommen. Anfeindungen wegen meiner kaffeebraunen Haut, meinen
mandelförmigen dunkelbraunen Augen und den pechschwarzen Locken hatte ich beinah genauso
gehasst wie das Interesse an mir wegen meiner Hautfarbe. Am schlimmsten waren die
Teenagerjahre gewesen. Eine gefühlte Ewigkeit lang hatte ich mir gewünscht, nicht exotisch
auszusehen, keine lange schwarze Lockenmähne zu haben, keine mandelförmigen dunkelbraunen
Augen, keine kaffeebraune Haut. Ich wollte nicht auffallen, sondern mit der Masse verschmelzen
… und dann nicht mehr. Immerhin hatte ich die besten Vorbilder der Welt. Gehabt. Mom und
Dad hatten mir jeden Tag, jede Stunde, jede Minute vorgelebt, was es bedeutet, einzigartig zu
sein. Schließlich hatten die beiden es geschafft und es hatte Klick gemacht. Von heute auf
morgen scherte ich mich einen Dreck um die Meinungen anderer Menschen. Mein
Bekanntenkreis schrumpfte rapide. Nicht, weil sich Mitschüler und Bekannte zurückzogen,
sondern weil ich begann auszusortieren. Übrig blieben eine Handvoll Freunde.
Unsere Hautfarbe prägt uns, Juliet, ob wir wollen oder nicht. Der Lieblingsspruch meiner
Eltern. Es ist okay, dass wir verschieden aussehen, fügten sie meistens noch hinzu. Verdammt,
sie fehlten mir so sehr. Ich würgte Schluchzer samt Tränen hinunter und trat in den langen Flur.
Mit Mühe und Not hatte ich Rika davon abhalten können, vorübergehend hier einzuziehen. Seit
der Beerdigung heute Morgen war Moms beste Freundin nicht eine Sekunde von meiner Seite
gewichen. Kein Wunder eigentlich. Nachdem meine Beine mir beim Trauerkaffee einfach so den
Dienst quittieren wollten, hatte Rika die Gäste kurzerhand vor die Tür gesetzt, mich ins Auto
verfrachtet und nach Hause gefahren. In mein Elternhaus. Nicht zurück zur 5er-WG im
Severinsviertel. Heute wollte ich allein sein. Mila und ich hatten damals ein Riesenglück gehabt,
als wir uns vor knapp sechs Jahren gegen das Studentenwohnheim und für eine WG entschieden
hatten. Zwei Zimmer in der großzügigen Dachgeschosswohnung in Kölns kölschestem Veedel
waren plötzlich frei geworden und wir hatten ohne Zögern zugeschlagen. Innerhalb kürzester
Zeit waren wir fester Bestandteil der Fantastischen Fünf und wohnten mit vierundzwanzig
immer noch da. Nun hatten wir unser Studium abgeschlossen und zögerten beide, den Schritt ins
Berufsleben zu wagen. Mit dem Gedanken an meine beste Freundin meldete sich prompt der
Knoten im Bauch, der sich einfach nicht lösen wollte. Ich hätte sie schon längst anrufen sollen.
Sie war inzwischen bestimmt außer sich vor Sorge.
Mila. Wir hatten uns in der Highschool kennengelernt und auf Anhieb gut verstanden, aber
seit diesem einen Tag im neunten Schuljahr hatte ich sie besonders ins Herz geschlossen: Ich
erinnerte mich nicht mehr daran, worum es bei dem Streitgespräch zwischen mir und einem
meiner Mitschüler auf dem Schulhof ging. Aber das, was er zu mir gesagt hatte, als ihm die
Argumente ausgingen, hatte ich bis heute nicht vergessen. Geh zurück nach Afrika, du schwarze
Schlampe, und nimm deinen Vater gleich mit. Am liebsten hätte ich ihm meine schwarze Faust
ins Gesicht gerammt. Stattdessen hatte ich mich umgedreht und die Diskussion schweigend
beendet.
Niemand hatte meine Wuttränen gesehen, als ich mich kurz darauf in der Toilette
eingeschlossen hatte. Niemand außer Mila. Sie war mir gefolgt, hatte gewartet, bis ich
ausgeweint hatte und mich anschießend in den Arm genommen.
Der Blödmann ist nicht eine einzige Träne wert, Jules, hatte sie gesagt. Ich sehe dich und
weiß, dass ich nie so etwas aushalten muss wie du. Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst.
Auch ihre Worte hatte ich bis heute nicht vergessen.
Mila sah nicht zu mir hinauf und erst recht nicht auf mich herab. Irgendwie war sie immer
einfach da, ob ich wollte oder nicht. Mit ihr konnte ich lachen … und streiten. Außer unserem
Studienfach, nämlich Architektur, hatten wir allerdings herzlich wenig gemeinsam. Rein
äußerlich hätte der Unterschied nicht größer sein können. Neben meiner besten Freundin sah ich
noch zierlicher aus, als ich es ohnehin schon war. Beinah zerbrechlich. Wie Halle Berry neben
Uma Thurman, behauptete Elias aus unserer WG. Mila überragte mich mit ihren 1,80 nicht nur
um einen Kopf, sie war außerdem athletisch, blond und blauäugig. Das Letztere im wahrsten
Sinne des Wortes. Während ich Dinge zwar entschieden und selbstbewusst, jedoch mit einer
gesunden Portion Skepsis anging, schlitterte Mila unbekümmert, leichtgläubig und chaotisch
durchs Leben. Doch heute brauchte ich weder die beste Freundin der Welt noch die WGler. Nach
Moms und Dads Tod hatte ich mich hier in mein altes Zimmer zurückgezogen und das Haus
heute zum ersten Mal für die Beerdigung verlassen. Wahrscheinlich würden alle vier ohnehin
früher oder später hier vor der Haustür stehen.
Vollwaise. Wieder echote das Wort in meinem Kopf. Niemanden. Ich hatte niemanden mehr.
Rika und die Fantastischen Fünf zählten nicht und einen Freund hatte ich nicht. Natürlich hatte
ich mit vierundzwanzig schon einige Beziehungen hinter mir, doch die große Liebe war nie dabei
gewesen. Ich wollte das, was meine Eltern gehabt hatten. Nicht mehr, aber auf keinen Fall
weniger.
Vollwaise … Familie, Blutsverwandte … so etwas gab es nicht mehr für mich. Plötzlich
wünschte ich mir einen großen Bruder. Oder wenigstens eine ältere Schwester.
Großeltern? Fehlanzeige. Oma und Opa Yebo, wie ich Dads Eltern vor Jahren liebevoll
getauft hatte, waren im letzten Winter kurz hintereinander gestorben. Moms Eltern hatte ich nie
kennengelernt. Dieses Thema war eines der ganz wenigen Yeboah-Tabuthemen gewesen. Außer,
dass auch dieses Großelternpaar nicht mehr lebte, wusste ich so gut wie gar nichts über jene
Seite der Familie.
Barfuß schlich ich über den sandfarbenen, weichen Flur-Teppich. Verdammt! Schon wieder
raubte mir die Trauer den Atem. Ich presste Luft durch die Lungen und lief die Treppe hinunter.
Im Laufschritt durchquerte ich das Wohnzimmer und hastete in die Küche. Die Kopfhörer lagen
auf der Fensterbank. Ich setzte sie auf und wartete, bis sie sich mit dem Handy verbunden hatten.
Mit bebenden Händen startete ich die Playlist. Leave out all the rest von Linkin Park. Ich hatte
diesen Song in den letzten Tagen pausenlos gehört. Er passte zu meiner derzeitigen
Gemütsverfassung und irgendwie hatte ich das Gefühl, Mom und Dad so näher zu sein. Als wäre
Musik der Schlüssel zu dem Platz in meinem Herzen, an dem ich sie von nun an aufbewahren
würde. Ich drehte die Lautstärke auf und wieder sprang das Schloss auf, während Schmerz und
Verzweiflung wie gewaltige Wellen über mir zusammenschlugen. Ich musste achtgeben auf mein
Herz. War es erst einmal zerbrochen, würde ich es nicht mehr zusammensetzen können. Und wo
sollte ich dann Ava und Addae Yeboah unterbringen? Lauter. Noch lauter! Irgendwann verlor ich
den Kampf gegen die Tränen … und begann zu tanzen. Als mir der Atem ausging, waren sie
versiegt. Vorläufig.
Schniefend legte ich die Kopfhörer beiseite und trat an den Herd. Mit einem leisen Seufzer
setzte ich Wasser auf und kramte in dem Küchenschrank nach dem Irish Breakfast Tee. Moms
Lieblingssorte. Noch zwei Teebeutel, dann musste ich neuen kaufen. Mit klammen Händen
öffnete ich anschließend die Kühlschranktür und nun stahl sich doch ein Lächeln über mein
Gesicht. Lasagne, Cannelloni, eine gewaltige Tupperdose mit Tomatensoße sowie ein wuchtiges
Stück Parmesankäse. Rika liebte die mediterrane Küche und schien es sich zur Lebensaufgabe
gemacht zu haben, meinen Kühlschrank pausenlos mit italienischen Köstlichkeiten zu füllen. In
der Gefriertruhe stapelten sich außerdem unzählige Kartons Gelato. Wenn mir bloß nicht so
schlecht wäre. Auch heute würde ich mich zum Essen zwingen müssen. Ein wenig Eis vielleicht?
Ich griff nach der riesigen Dose Stracciatella, schnappte mir einen Löffel aus der Schublade und
schielte auf die Küchenuhr über dem Herd. Gleich acht Uhr. Ein weiterer langer, trauriger Abend
lag vor mir. Ich würde jetzt Tee trinken, Eis essen und irgendwann auf dem Sofa einschlafen.
Nicht vor Mitternacht, vermutlich. Dabei war ich todmüde und wünschte mir nichts sehnlicher
als ein paar Stunden schlafenden Vergessens, aber irgendwie kam man nicht zur Ruhe, wenn man
zu unglücklich und zu allein war. Vielleicht sollte ich doch Rika anrufen, oder Mila? Nein. Nicht
jetzt. Nicht heute.
Das Pfeifen des Wasserkessels riss mich aus meinen Gedanken. Ich stellte das Eis auf den
Küchentisch, goss eine Tasse Tee auf und kippte einen Schuss Milch sowie einen Löffel Zucker
gleich mit hinein. Mom würde mich augenblicklich mit einem strafenden Blick versehen. Milch
und Zucker erst, nachdem der Tee gezogen ist, Juliet. Wie gern würde ich mich jetzt
zurechtweisen lassen. Stattdessen klingelte das Handy. Mit einem Seufzer schielte ich auf das
Display und nahm das Gespräch an. Rika. Wer sonst.
„Hallo Rika … Ja … Nein, du musst nicht vorbeikommen. Ja, ich esse gerade … Eis mit Irish
Breakfast Tee.“ Ich riss ein Stück Küchenpapier von der Rolle und putzte mir die Nase.
„Natürlich habe ich geweint. Wäre ja komisch, wenn nicht … Mir geht es gut. Ja, ich rufe dich
heute Abend noch einmal an … Was? Wo? In dem Küchenschrank hinter dem Tee?“ Mein Herz
setzte einen Stolperschlag lang aus. Drei Atemzüge später hatte ich meine Stimme
wiedergefunden. So halbwegs … „Warte … ich … sehe mal nach.“
Meine Fingerspitzen kribbelten unangenehm. Das Handy landete auf dem Küchentisch,
während ich die Schultern straffte. Ein Brief von Mom? Hatte Rika wirklich gesagt, im
Küchenschrank hinter dem Tee befand sich ein Brief meiner Mutter? Ich zwang den Händen
meinen Willen auf und schob die Teedosen zur Seite. Tatsächlich. Ein schmaler weißer Umschlag
lehnte gegen die Schrankwand. Für Juliet. Moms Schrift. Ich zog ihn hervor und atmete tief
durch.
„Ja, Rika. Ich bin noch da. Wie lange … wie lange liegt er schon da? Okay … Jaja, ich rufe
dich an, wenn ich dich brauche.“ Ich beendete das Gespräch und schüttelte fassungslos den
Kopf. Der Appetit auf Eis war mir vergangen. Gründlich.
***

Kurz nach Mitternacht. Geisterstunde. Vier Stunden später lag der Brief immer noch ungeöffnet
vor mir. Inzwischen auf dem Wohnzimmertisch. Doch anstatt ihn zu öffnen, hatte ich mich erst
mal für Harry entschieden. Harry, Ron und Hermine waren neben meiner Playlist das zweite
todsichere Heilmittel gegen Weltschmerz aller Art. In Hogwarts vergaß ich in der Regel Trauer
und Sorgen. Ich legte das dicke Buch zur Seite, denn mittlerweile wollte es mir nicht mehr
gelingen, den Blick von dem Umschlag zu lösen. Seit einer halben Stunde stellte ich mir vor, wie
Mom ihn beschriftet hatte. Für Juliet. Trotz der Sommerhitze, die sich seit Tagen draußen und
nun auch hier im Haus breitmachte, fröstelte ich.
„Wenn ich schon nicht bei dir vorbeikommen darf, dann bleib doch wenigstens für ein paar
Tage bei mir.“ Rikas Stimme hallte in meinen Ohren. Zwei Mal noch hatte Moms Freundin
angerufen, während die WGler sich geschlagene vier Mal gemeldet hatten. Jeder einzeln. Und
ich war nicht drangegangen …
Seufzend streckte ich die Hand nach dem Brief aus. Es half ja alles nichts. Ich würde ihn
sowieso irgendwann öffnen und an Schlaf war garantiert nicht zu denken, bis ich wusste, was
Mom mir zu sagen hatte. Entschieden riss ich den Umschlag auf und wunderte mich, dass meine
Hände nicht bebten. Ich zog das Papier hervor und faltete es auseinander.

Meine liebe Juliet,

solltest du diesen Brief in den Händen halten, so ist das passiert, wovor ich immer Angst gehabt
habe: Wir sind viel zu früh von dir gegangen. Der Gedanke daran, dass du von nun an allein
zurechtkommen musst, bricht mir das Herz. Seit Tagen habe ich ein komisches Gefühl, eine
Ahnung, dass etwas passieren wird. Deshalb habe ich mich entschieden, das aufzuschreiben,
was ich dir längst hätte erzählen sollen. Das, wovor ich mich seit über vierundzwanzig Jahren
drücke. Ich werde Rika bitten, dir zu sagen, wo ich dieses Schreiben verstecken werde. Wenn du
wüsstest, wie schwer es mir fällt, dir mein Geheimnis zu verraten.
Juliet, meine einzige wunderbare, herzensgute, hübsche Tochter, du hast immer
angenommen, dass meine Eltern nicht mehr leben. Wir haben nicht oft über sie gesprochen, und
immer wenn das Gespräch darauf zu kommen drohte, habe ich so schnell wie möglich das
Thema gewechselt. Inzwischen bin ich Meisterin der kleinen und großen Notlügen.
Also gut … jetzt oder nie! Jules, du bist nicht allein. Du hast noch einen Verwandten.
Genauer gesagt einen Großvater. Und, nein … deine Großmutter lebt tatsächlich nicht mehr.
Sophia ist bei meiner Geburt gestorben. William, mein Vater, wohnt in Sundown Falls, einem
winzigen Nest in Michigan, knappe fünf Stunden nördlich von Detroit. Dort bin ich geboren und
aufgewachsen. Noch eine Notlüge. Ich habe auch nicht in New York studiert, sondern bin zu
einem Community College in der Nähe meines Geburtsortes gegangen und habe dort den
Abschluss als Kleinunternehmerin gemacht. Mein Traum war es, in Falls einen kleinen
Buchladen zu eröffnen. Als ich deinen Dad getroffen habe, war ich gerade fertig mit meinem
Studium und hatte vor, in Williams Hardware Store zu arbeiten, bis ich das Startkapital für
meinen eigenen Laden zusammengespart hatte. Stattdessen habe ich dann in Deutschland USA-
Reiseführer geschrieben. Aber das weißt du ja.
Dein Vater war während seiner Semesterferien als Backpacker unterwegs, ist quer durch
Amerika gereist. Er war eigentlich auf der Durchreise, wollte einen kurzen Zwischenstopp in
Sundown Falls einlegen. Ein bisschen durchatmen, bevor er seinen Rucksack-Trip fortsetzte.
Geblieben ist er sechs Wochen, so lange, bis er nach Deutschland zurückmusste. Und ich bin
mitgegangen.
Aber zurück zu William, der den Namen Vater letztlich nicht verdient hat. Er hat unsere
Beziehung nicht gewollt … weil Addae schwarz ist. Jules, dein Großvater ist ein Rassist, ein
intoleranter Dickschädel. Außerdem ist er ein Eigenbrötler und Besserwisser. Drei Wochen nach
Addaes Ankunft in Sundown Falls habe ich ihm gebeichtet, dass wir uns verliebt haben. Und von
dem Moment an hat er uns das Leben so schwer wie möglich gemacht. Ich war zweiundzwanzig,
volljährig und zwei Jahre jünger als du jetzt, als ich deinen Dad kennen und lieben gelernt habe.
Dein Großvater konnte mir also nicht verbieten, dass wir uns trafen, aber er hat geredet. Und
geredet. Und geredet. Er meinte, dass ein Verhältnis mit einem Schwarzen nichts als Unglück
bringt und er das nicht unterstützen wird. Ach, das ist alles schon so lange her … (Woher ich
weiß, wann du diesen Brief liest? Des Rätsels Lösung ist ganz einfach. Ich habe mir fest
vorgenommen, dir noch in dieser Woche reinen Wein einzuschenken, doch ich wollte
sichergehen, dass dieses Geheimnis nicht mit mir ins Grab wandert. Und wenn du den Brief jetzt
in den Händen hältst, ist es wahrscheinlich, dass ich inzwischen genau dort bin.)

Ich biss die Zähne zusammen, bis mein Kiefer schmerzte. Mom hatte mich mit ihrem schwarzen
Humor schon immer schocken können. Heute war es nicht anders. In dieser Woche … Mein
Blick jagte zum Datum am Briefanfang. 17. Juli 2016. Mom hatte den Brief exakt vor sechs
Tagen geschrieben. Der Tag, an dem ich meine Eltern das letzte Mal gesehen hatte. Keine
vierundzwanzig Stunden später sollten sie bei regennasser Fahrbahn ins Rutschen geraten und
das Auto um den verhängnisvollen Baum wickeln. Ich hatte Dad im Krankenhaus beim Sterben
zugesehen. Von Mom konnte ich mich nicht einmal mehr verabschieden. Verdammt, mir war
kotzschlecht.

„Streich ihn aus deinem Leben. Schwarz und Weiß geht nicht, Ava. Du wirst es schwer haben.
Sehr schwer.“ Das waren seine letzten Worte an mich. Ich habe noch am gleichen Tag meinen
Geburtsort verlassen. Sechsundzwanzig Jahre ist das jetzt her … Ich wusste, dein Vater war der
Mann, den ich nie wieder loslassen würde. Und so ist mir der Abschied von Michigan nicht
einmal besonders schwergefallen. William hat mich irgendwann ausfindig gemacht und mir
einen Brief geschickt. Kein Entschuldigungsschreiben. Nein. Ich würde einen riesigen Fehler
begehen, war seine Nachricht an mich. Ich habe den Brief verbrannt und alle nachfolgenden
ungeöffnet in den Müll geworfen. Fünf Jahre später hat er aufgegeben.
Mit einer Sache sollte dein Großvater allerdings recht behalten. Es war schwer, aber wem
sage ich das. Intoleranz und Rassismus hast ja auch du am eigenen Leibe erfahren müssen. Und
doch habe ich meine Entscheidung, Addae nach Deutschland zu folgen, nicht einen Tag, nicht
eine Minute, nicht eine Sekunde bereut. Dein Vater hatte eine Stelle im Klinikum in Aussicht und
mir war es piepegal, wo das war. Ich wäre ihm bis ans Ende der Welt gefolgt. Wir haben uns
genügt. Wir brauchten keine Zustimmung und auch keine Ablehnung. Uns war egal, was andere
zu unserer Beziehung zu sagen hatten. Aber es war nicht immer einfach, das stimmt.
Wie dem auch sei … du bist also die Einzige von uns, die die doppelte Staatsbürgerschaft hat.
Vielleicht war es Schicksal, vielleicht sollte es so sein, dass du ganze acht Wochen zu früh zur
Welt gekommen bist. Dabei hatten wir unseren Florida-Urlaub so gründlich geplant, uns extra
vorher das Okay vom Gynäkologen geholt. Es sollte ein letzter Besuch in meiner alten Heimat
sein, bevor wir eine Familie wurden. Wir haben deinen Großvater während dieser Reise
übrigens nicht besucht, falls du das wissen möchtest. Er weiß also weder von deiner Existenz,
noch dass auch du Amerikanerin bist.

Ich schloss für einen Moment die Augen, um Moms Stimme in mir nachhallen zu lassen. Mit
jedem Wort, das ich las, hörte ich sie. Hell und fröhlich und unbeschwert. So wie immer.
Ja, ich war Amerikanerin und außerdem zweisprachig aufgewachsen. Mit Dad hatte ich
meistens Deutsch, dafür mit Mom Englisch gesprochen. Deshalb wunderte es mich nicht, dass
auch der Brief in der Sprache, in der sie sich am wohlsten und sichersten fühlte, geschrieben war.

Zurück zu meinem Geständnis. Ich finde, du solltest die Möglichkeit haben, selbst zu
entscheiden, ob du William treffen möchtest oder nicht. Dein Dad und ich hatten vor Kurzem
beschlossen, ihn aufzusuchen … damit ich ihm endlich all das an den Kopf werfen kann, was
sich im Laufe der Zeit so angestaut hat, aber vor allem, um ihn Lügen zu strafen. Ja, es war
nicht immer leicht, aber Schwarz und Weiß geht eben doch. Du bist der lebende Beweis.
Was du mit dieser Information anfängst, liegt nun einzig und allein bei dir. Dein Großvater
ist inzwischen 79 Jahre alt und wohnt immer noch in meinem Geburtshaus. Ja, ich habe ein
bisschen nachgeforscht. War nicht besonders schwierig … Auch seinen Hardware Store gibt es
noch. Das wundert mich nicht. Seine Arbeit war ihm immer wichtiger als alles andere. Hier ist
seine Adresse:

William Baker
75 Walton Drive
Sundown Falls, Michigan

Ach, meine liebste Jules. Es tut mir so leid, dass du mich jetzt nicht anschimpfen kannst. Dich
allein zu wissen, macht mich unendlich traurig. Ich werde dich heute Abend anrufen und dir
sagen, wie lieb ich dich habe.

Ich schluckte. Genau das hatte Mom gemacht. Ich hatte gefragt, was der Grund für diese
Liebeserklärung sei, doch außer einem leisen Seufzer keine Antwort bekommen. Ich hatte genau
gespürt, dass ihr etwas auf dem Herzen lag. Hätte ich bloß nachgehakt oder wäre noch einmal zu
Hause vorbeigefahren … und nun war es zu spät.
Ich würde dich jetzt so gerne in die Arme nehmen. Ich gönne dir deine WG von ganzem Herzen,
aber manchmal wünsche ich mir die kleine Juliet zurück. Die mit den schwarzen, krausen
Haaren, mit dem energischen Kinn, mit den warmen Augen. Wir haben das so gut hinbekommen
mit dir, meine Tochter. Du bist eine wunderbar selbstbewusste, fröhliche, hübsche junge Frau
geworden, die weiß, was sie will. Ich hoffe, wir haben dir genug Stärke und Optimismus
mitgegeben, dass du auch diese schwere Zeit überstehst. Jules, bitte lass dir von Rika helfen,
wenn du nicht mehr weiter weißt oder von mir aus auch von deiner WG-Clique. Ich mag sie alle
ausnahmslos. Mila besonders, das weißt du ja. Doch so wie ich dich kenne, willst du mit diesem
Schicksalsschlag allein fertigwerden. Vergiss nicht … Familie ist mehr als Blut. Familie ist dort,
wo man sich zu Hause fühlt. Du bist nicht allein. Wir, dein Dad und ich, werden immer und
überall bei dir sein. Ich liebe dich.

Deine Mom

So, jetzt brauchte ich etwas Stärkeres als Tee. Rika hatte mir vorsorglich eine Flasche Chianti
auf die Anrichte neben dem Küchenherd gestellt. Nun wusste ich auch warum. Ich erhob mich
schwerfällig und stakste steif in die Küche. Mein Körper schrie nach Schlaf, doch mein Kopf
war noch lange nicht so weit. Ich füllte ein Weinglas randvoll und nippte vorsichtig daran. Ob
Rika wusste, was in dem Brief stand? Wie auf Kommando klingelte das Handy. Rika. Schon
wieder. Um halb eins. Ich nahm das Gespräch an, stellte es auf Lautsprecher, weil meine Hände
nun doch zitterten, und holte tief Luft.
„Hallo Rika. Ein bisschen spät würde ich sagen.“
„Hi Jules. Und?“
„Falls du wissen willst, ob ich den Brief gelesen habe, ja. Gerade eben.“
„Oh … Alles okay? Möchtest du, dass ich vorbeikomme?“
Trotz der Wut auf Mom, die gerade in mir hochkroch, musste ich lächeln. „Nein. Ich muss
das jetzt erst einmal verdauen. Ich nehme an, du weißt, was Mom mir geschrieben hat?“
„Hm … Ähm … Ja. Ava hat mir alles vor knapp zwei Wochen erzählt. Sie wollte es dir selbst
… persönlich beichten. Jules … sie hatte tagelang ein komisches Gefühl. Als ob sie geahnt hätte,
dass etwas passieren würde.“
„Ein Grund mehr, nicht zu warten.“ So. Nun bebte meine Stimme. Nicht vor Trauer, sondern
vor Zorn.
„Das hat Ava auch gesagt. Sie hat den Brief als … Übung angesehen. Am nächsten Tag
wollte sie mit dir reden …“ Sie hielt inne. „Bist du sicher, dass ich nicht vorbeikommen soll?“
„Ja“, bellte ich in Richtung Telefon und griff nach dem Weinglas. „Entschuldige Rika, du
kannst nichts dafür. Nimm es mir nicht übel, aber ich möchte jetzt gerne auflegen.“
„Aber bitte melde dich, wenn du nicht mehr weiter weißt.“
„Spätestens morgen früh rufe ich an. Versprochen. Oder du kommst zum Kaffee vorbei.“
Ich trank einen gewaltigen Schluck Wein und würgte die Verzweiflung hinunter, die nun mit
aller Macht Tränen produzieren wollte. Ich würde jetzt nicht weinen. Ansonsten stand Rika in
fünf Minuten vor der Tür. Ob ich wollte oder nicht.
„Also gut. Gute Nacht, Jules. Bis morgen.“
Stille. Ich legte das Handy auf den Küchentisch und kämpfte ohne Erfolg gegen Traurigkeit
und Wut. Warum hatten sie mir nicht längst die Wahrheit erzählt? Ich hatte einen Großvater.
Einen, der Dad nicht mochte. Und mich dann wohl auch nicht. Mom kam gar nicht aus New
York, sondern aus Michigan, wo sie eigentlich einen Buchladen eröffnen wollte. Und
Reiseführer schrieb sie, weil sie Dad nach Köln gefolgt war. Immerhin schien Dads Lebenslauf
halbwegs zu stimmen. Er wollte schon immer Chirurg werden und arbeitete seit Ewigkeiten hier
im Krankenhaus. Trotzdem … so viele Lügen. Es fühlte sich so an, als hätte ich meine Eltern
gerade ein zweites Mal verloren.
Kapitel 2
Finn

„Bis morgen, Martha.“ Ich öffnete die Praxistür und blinzelte skeptisch. Da sollte ich raus?
Regen peitschte mir ins Gesicht, hinter den Ahornbäumen auf der anderen Straßenseite zuckte
ein Blitz, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donner. Obwohl es erst kurz nach sieben war,
hatten dunkle Gewitterwolken den Tag plötzlich zur Nacht gemacht. Das Licht in der Praxis
ergoss sich durch die Tür auf den Parkplatz, der mittlerweile einem kleinen See glich.
„Besonders Daisy gefällt mir gar nicht“, brüllte ich gegen den Gewitterlärm an und trat einen
Schritt zurück. „Sollte …“
„… Daisy oder ein anderer deiner vierbeinigen Lieblinge ein Problem haben, melde ich mich
sofort. Weiß ich doch, Doc Junior. Und wenn ich dich nicht an die Strippe bekomme, dann funke
ich Doc Senior an. So wie immer.“
Der Wind fegte Regen in den Empfangsbereich und mir eine hellbraune Haarsträhne ins
Gesicht. Unschlüssig drehte ich mich um, strich mir die Haare aus den Augen und schob die Tür
wieder zu. „Weiß ich doch, dass du das weißt, Martha. Was würden wir nur ohne dich
anfangen.“
Die rüstige Mittfünfzigerin mit den kurzen grauen Haaren war seit einer gefühlten Ewigkeit
die gute Seele der Praxis. Jahrelang hatte sie am Empfang die Zweibeiner versorgt, Termine
vergeben, Schriftkram erledigt und die Vierbeiner großzügig mit Leckerlis bedacht. Als ihr
Mann vor knapp zehn Jahren gestorben war, hatte sie sich für den Nachtdienst entschieden.
Mittwochs bis sonntags pünktlich um halb sieben abends war sie zur Stelle, warf einen Blick
über die Krankenakten der Tiere, die in der Praxis übernachten mussten, begrüßte jeden
Patienten persönlich und machte es sich für den Rest der Nacht auf dem Sofa in dem winzigen
Raum hinter den Behandlungszimmern mit einem Buch gemütlich. Den Tagesjob hatte sie an
Jenny abgegeben, eine ihrer zwei Töchter, die zwei restlichen Nächte übernahm Josie, ihre
andere Tochter.
Auch wenn nächtliche Beobachtung der Tiere nicht die Regel war, hatte Dad von Anfang an
darauf bestanden. Lieber weniger verdienen, als einen Patienten verlieren, war seine Devise und
ich stimmte ihm voll und ganz zu. Die besondere Pflege, die den Vierbeinern hier zuteilwurde,
hatte sich rasend schnell herumgesprochen. Über Langeweile konnte sich Dad weiß Gott nicht
beschweren. Und gerade das bereitete mir seit einiger Zeit Kopfzerbrechen. Insgeheim zählte er
bestimmt die Tage, bis ich endlich in der Lage war, die Praxis allein weiterzuführen. Doch noch
war es nicht so weit. Zwar war ich seit ein paar Wochen ganz offiziell Doc Morris Junior, aber
mit sechsundzwanzig eben noch ein blutjunger und recht unerfahrener Veterinär. Wie sehr hatte
ich den Tag herbeigesehnt, an dem ich nicht mehr zwischen dem College in Lansing und meinem
Geburtsort hin- und herpendeln musste. Dad war inzwischen über sechzig, und obwohl er noch
immer wie eine rüstige Eiche wirkte, der kein Sturm etwas anhaben konnte, war mir doch nicht
entgangen, dass die Momente, in denen er sich müde die Augen rieb, zunahmen. Nicht zum
ersten Mal nahm ich mir vor, ihn darauf anzusprechen, einen weiteren Arzt einzustellen.
Vielleicht würde er sich dann ein wenig zurücklehnen können.
„Ausnahmsweise bitte nur mich anrufen, Martha. Mein Vater ist …“
„… mit deiner Mutter zur Nachuntersuchung. Ich weiß.“
„Ich weiß, dass du das weißt“, erklärte ich leise. Aus Gewohnheit. Genau so verliefen die
Gespräche zwischen mir und Martha. Schon immer. Ich begann einen Satz, sie vollendete ihn.
Oder umgekehrt.
Der bittere Geschmack im Mund, der sich bei dem Gedanken an Moms Krankheit spontan
einstellte, ließ mich schlucken. Brustkrebs. Die Diagnose wurde vor über einem Jahr gestellt.
Danach Chemotherapie, Mastektomie und heute … Nachuntersuchung. Ich hatte Angst vor dem
Ergebnis. Eine Scheißangst. Dad auch. Die Einzige, die nicht einmal ihr zuversichtliches Lächeln
verloren hatte, war Mom. Niemandem wünschte ich mehr gesund zu sein als meiner Mutter.
Eigentlich hatte ich gehofft, bereits am Nachmittag den erlösenden Anruf zu erhalten. Doch bis
jetzt herrschte Funkstille. So, nun war mir schlecht. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Ich
würgte die Übelkeit hinunter, als ich den vertrauten, warmen Druck am Unterschenkel spürte.
„Bailey, altes Mädchen. Wollen wir nach Hause?“ Die schwarze Labradorhündin mit den
dunkelbraunen treuen Augen zog ihre raue Zunge über meinen Handrücken. Meine vierbeinige
Freundin hatte sich wohl am meisten darüber gefreut, dass ich endlich den Weg zurück ins
heimische Nest gefunden hatte. Im Studentenwohnheim waren Tiere verboten und ich war
sicher, sie hatte mich ebenso vermisst wie ich sie. Wochenende und Semesterferien waren
eindeutig immer zu kurz gewesen. Morgens begleitete sie mich in die Praxis und wartete mehr
oder weniger geduldig, bis irgendjemand sie zum Spazierengehen abholte. Lange dauerte es nie,
bis der erste Bailey-Freund aufkreuzte und meine Hündin in Empfang nahm. Drei- bis viermal
mindestens am Tag lief sie mit einem ihrer vielen Bekannten die Main Street rauf und runter.
War Martha die gute Seele der Praxis, so war Bailey die von Sundown Falls. Außerdem konnte
sie Gedanken lesen. So wie jetzt. Sie schien genau zu wissen, dass ich gerade eine Extraportion
Bailey-Liebe brauchte.
„Mach dir keine Sorgen, Junior. Es wird schon alles gut gehen. Sagst du mir Bescheid, wenn
…“ Martha hielt inne und griff nach meiner Hand. „Sag mir Bescheid, Finn. Bitte.“
„Natürlich, Martha. Sofort.“ Ich öffnete die Tür ein zweites Mal, trat nach draußen und
hastete zusammen mit Bailey über den kleinen Parkplatz vor dem taubenblauen Einfamilienhaus,
das Dad vor knapp dreißig Jahren zur Praxis umfunktioniert hatte. Die wenigen Schritte reichten,
um uns beide komplett durchzuweichen. Gut. Der Regen tat gut. Er wusch die Tränen weg, die
plötzlich liefen. Mein dunkelblauer Pick-up stand in der hintersten Ecke, direkt an der
Schotterstraße, schließlich sollten die vierbeinigen Patienten es so nah wie möglich zum Haus
haben. Ich öffnete die Autotür, ließ Bailey den Vortritt und rutschte, nass wie ich war, neben sie
auf die abgewetzte Lederbank.
Das Handy klingelte kurz nachdem ich die Tür extralaut hinter mir zugeknallt hatte …
zeitgleich mit dem nächsten Donner. Später erinnerte ich mich daran, dass mein Finger zitterte,
als ich das Gespräch entgegennahm und ihn auf das Lautsprechersymbol zwang. Meine Hände
bebten sonst nie. Niemals. Bailey drückte sich auf meinen Schoß und lehnte den schwarzen Kopf
gegen meine Brust.
„Gesund, Finn. Ich bin gesund.“ Moms Stimme. Warm, herzlich und zuversichtlich wie
immer. „Finn? Bist du da? Hörst du mich?“
So sehr ich mich anstrengte, es wollte mir einfach nicht gelingen zu antworten. Meine Stimme
hatte sich kurzerhand aus dem Staub gemacht. Erschrocken schlug ich mir die Hand vor den
Mund, als sich ein befreiender Schluchzer selbstständig machte.
„Finn! Hast du gehört?“ Dads lauter Bass.
„Ja. Gott sei Dank.“ Mehr schaffte ich nicht.
„Wir bringen Sekt und Pizza mit. Bei dir. In einer Stunde.“
„Okay.“
„Heul ruhig, mein Junge.“ Moms Stimme. Dieses Mal ein wenig wacklig. „Habe ich auch
gemacht. Und dann haben wir getanzt. Vor der Klinik.“
Ein leises Klicken. Sie hatte aufgelegt. Ich holte tief Luft, öffnete die Autotür und sprang
hinaus in den Regen. Glück, Freude, Dankbarkeit. Ich wusste nicht genau, was ich zuerst
empfand, doch wenn ich mich nicht sofort bewegte, würde mich diese Gefühlslawine erschlagen.
Ich riss die Arme hoch und begann die Freude hinauszuschreien. Regentanz. Den Göttern
danken. Nun hielt es auch meine Hündin nicht mehr auf dem Sitz. Mit einem Satz war sie bei mir
und stimmte bellend in den Tanz mit ein.
Ich spürte es, als sich zu diesem Hochgefühl unendliche Erleichterung gesellte. Mom war
gesund! Etwas öffnete sich, durchströmte mich, erreichte jede Zelle, jede Faser meines Körpers.
Und dann hörte ich, wie Glas brach, gefolgt von einem wütenden Aufstöhnen.
„Verdammt, Mom! Warum hast du mir das nicht früher verraten!“ Die Stimme klang
verzweifelt und war voller Zorn. Und es war nicht meine, sondern die einer … jungen Frau?
Wieder zerbrach etwas. Erschrocken sah ich mich um. Niemand. Hier war niemand. Nur der
Sturm tobte noch.
„Ich hätte gern mit dir darüber gesprochen.“ Etwas leiser. Unendliche Traurigkeit schwang
nun in ihren Worten mit.
„Hallo? Ist hier jemand?“, fragte ich vorsichtig.
Stille.
„Hallo?“, versuchte ich es erneut. Dieses Mal ein wenig lauter. „Alles in Ordnung?“ Bailey
legte den Kopf schief und sah mich fragend an. Im Gegensatz zu mir schien meine Hündin kein
bisschen alarmiert zu sein. Sie hatte anscheinend genug gefeiert und kletterte zurück auf ihren
Platz auf der Sitzbank im Pick-up. Merkwürdig. Bailey reagierte sonst immer auf fremde
Stimmen. Nicht mit Bellen oder Knurren, sondern mit Schwanzwedeln. Doch nun saß sie
gelangweilt im Auto und wartete offenbar darauf, dass ich ihr folgte.
„Wer ist da?“ Da war sie wieder. „Bleib, wo du bist!“
Ich drehte den Kopf von links nach rechts, suchte die Straße hinter dem Parkplatz ebenso wie
Bäume und Unterholz ab. Nichts. Da war niemand. Hatte ich mir das gerade eingebildet? Nein,
die Stimme war genauso echt wie die Wut und die Trauer, die in ihr lagen … und die
dazugehörige Person würde ich hier niemals finden. Diese plötzliche Gewissheit ließ mich
erstarren. Ein Geist? Nein. Wut und Verzweiflung gehörten zu einer Frau aus Fleisch und Blut,
die sich irgendwo, nur nicht hier in der Nähe befand. Ich war mir ganz sicher.
„Hier gibt es nichts zu klauen. Und ich bin bewaffnet. Mit einem Küchenmesser. Wo zum
Teufel hast du dich versteckt?“, schimpfte sie lautstark.
Das würde ihr kaum etwas nützen. Sie war genauso wenig in meiner Nähe wie ich in ihrer.
Gegen meinen Willen musste ich grinsen.
„Ich stehe mitten auf dem Parkplatz.“ Langsam wurde mir die Sache zu bunt. Triefend nass
stieg ich zurück ins Auto, setzte mich neben eine ebenso nasse Bailey und schloss entschieden
die Tür. Vielleicht verstummte sie jetzt.
Keine neuen Fragen. Kein neuer Wutausbruch. Schweigen. Gut!
„Die Polizei ist in wenigen Minuten hier.“ Nein, sie war immer noch da. Hatte sie Angst? Vor
mir? Was für ein Blödsinn! Ich wollte nichts von ihr … und von der Stimme auch nicht.
„Welcher Parkplatz?“, fragte sie nach einer weiteren Pause.
„Der Parkplatz vor der Praxis …“ Ein Donner verschluckte den Rest des Satzes.
„War das ein Donner? Verdammt, wo bist du?“
„Auf dem Parkplatz vor der Tierarztpraxis, das sagte ich doch schon. Und du?“
„Wo ist die Praxis?“
„In Sundown Falls natürlich!“ Langsam reichte es mir. „Toller Trick … Nun sag schon, wie
machst du das?“
„Ich bin … in Köln. Die Polizei ist da.“

„Finn!“ Jemand trommelte energisch gegen die Autotür. „Junior?“


Vor Schreck oder vielleicht aus Reflex landete meine Hand auf dem Lenkrad, die Hupe
übertönte den Regen, der laut auf die Fensterscheibe prasselte.
Martha sprang erschrocken zurück, Bailey begann aus Leibeskräften zu bellen und Köln war
verstummt. Köln, Deutschland? Wir hatten uns zwar auf Englisch unterhalten, aber einen
deutschen Akzent hatte ich herausgehört. Köln hatte sie gesagt … nicht Cologne. Mit Zeige- und
Mittelfinger massierte ich meine pochenden Schläfen.
„Bailey! Schluss! Es ist alles in Ordnung.“ Meine Hündin stellte den Bellalarm ein und spitzte
die Ohren, während Martha, die inzwischen das Auto umrundet hatte, erbost die Tür auf der
Beifahrerseite aufriss.
„Finn! Was zum Teufel geht hier vor? Erst sehe ich deinen Regentanz, dann redest du wild
gestikulierend mit einem unsichtbaren Schatten. War hier jemand? Und warum bist du immer
noch nicht weg?“ Sie schob Bailey in die Mitte und rutschte auf die Sitzbank.
„Ich … ähm … ich habe Selbstgespräche geführt.“
Martha und Bailey legten unisono den Kopf schief. Die beiden glaubten mir kein Wort.
„Das war doch ein Freudentanz eben, oder?“, fragte sie leise.
„Ja“, antwortete ich und lächelte. „Mom ist in Ordnung. Alles ist gut. Sie ist gesund.“
„Das sind ja wunderbare Neuigkeiten, Junior! Und warum bist du dann nicht längst zu Hause
und feierst mit Doc Senior und deiner Mutter?“
„Ich wollte gerade los. Wirklich“, sagte ich lachend.
„Selbstgespräche … Soso …“ Sie schnalzte mit der Zunge, kletterte mit einem breiten
Grinsen von der Sitzbank und lief durch den Regen zur Praxis zurück.
Kapitel 3
Juliet

Ich spürte es, als die Traurigkeit zur Verzweiflung wurde, nur um Sekunden später rasender Wut
Platz zu machen. Wilder, tobender Zorn raste durch mein Herz, als sich etwas öffnete, mich
durchströmte, jede Zelle, jede Faser meines Körpers erreichte. Das Glas flog wie von selbst
gegen die Wand, zerbarst in tausend Scherben, während der rote Saft über den Boden spritzte.
„Verdammt, Mom!“, schrie ich meinen Frust heraus. „Warum hast du mir das nicht früher
verraten!“ Schon riss ich das nächste Glas aus dem Küchenschrank. Es an die Wand zu
schmettern hatte etwas Befreiendes. In der Ferne tobte ein Gewitter. Ein Großvater? Irgendwo in
Michigan? Wie oft waren wir zusammen in Amerika gewesen. Ich kannte den Grand Canyon,
die Freiheitsstatue, war die Magnificent Mile in Chicago auf und ab gelaufen, hatte in Miami am
Strand gelegen. Nur in Michigan war ich nie gewesen.
„Ich hätte gern mit dir darüber gesprochen.“ Inzwischen war ich außer mir vor Trauer und
Wut. Wütend auf das gottverdammte Schicksal, auf meinen rassistischen Großvater, vor allem
aber auf meine Eltern. Auf meine Mutter. Die Erkenntnis erschreckte mich ebenso wie die
plötzliche Gewissheit, dass ich nicht mehr allein war.
„Hallo? Ist hier jemand?“, hörte ich eine fremde Stimme. Männlich. Besorgt.
„Hallo?“, rief er erneut. Dieses Mal ein wenig lauter. „Alles in Ordnung?“
„Wer ist da? Bleib, wo du bist!“ Einbrecher! Ich jagte zur Küchentür, umrundete Scherben
und Weinpfützen, knallte die Tür zu und drehte den Schlüssel im Schloss. „Hier gibt es nichts zu
klauen. Und ich bin bewaffnet. Mit einem Küchenmesser“, fügte ich entschieden hinzu,
verzweifelt bemüht, meiner Stimme einen festen Klang zu geben. Ich riss das größte Messer aus
dem Messerblock, während ich Tür und Fenster im Auge behielt. Nerven behalten, Yeboah,
ermahnte ich mich. „Wo zum Teufel hast du dich versteckt?“
„Ich stehe mitten auf dem Parkplatz.“
Er sprach englisch. Mit einem starken amerikanischen Akzent. So wie Mom. Was wollte eine
amerikanische Stimme von mir? Mein Herz, das sich gerade beruhigt hatte, begann erneut zu
galoppieren. Mein Puls raste, als ich zurück zum Küchentisch hastete und nach dem Handy griff.
„Die Polizei ist in wenigen Minuten hier.“ Verdammt, wo steckte er? Die Stimme klang ganz
nah. Warum ich statt 110 Milas Nummer wählte, wusste ich nicht. Vermutlich war das der
Moment, in dem ich ahnte, dass kein Polizist der Welt hier einen Einbrecher finden würde.
Meine Freundin antwortete nach dem ersten Klingelton.
„Mila“, flüsterte ich ins Telefon. „Ich habe eine Stimme gehört. Aber ich glaube, hier ist
niemand. Wirklich nicht … Ich … nein, hier ist niemand“, wiederholte ich ein wenig lauter.
„Aber die Stimme war da.“ Ich hielt inne. Plötzlich wusste ich es ganz genau. Hier gab es keine
Einbrecher, keine Kidnapper oder Raubmörder und doch spürte ich seine Nähe. Oder besser, die
Nähe seiner Stimme. Ich steckte das Messer zurück in den Block. „Ich … komm einfach vorbei.
Nein, du musst keine Polizei anrufen. Versprich mir, Mila, keine Cops.“ Die würden mich
augenblicklich in die Klapsmühle einweisen. „Okay … ich bleibe am Telefon.“
Ein Donner ließ mich zusammenfahren. Er … die Stimme … befand sich auf einem
Parkplatz, erinnerte ich mich. Irgendwo, wo es gerade donnerte.
„Welcher Parkplatz?“, fragte ich vorsichtig. Vielleicht antwortete er ja …
„Der Parkplatz vor der Praxis …“ Ein weiteres Grollen verschluckte den Rest des Satzes. Ein
Gewitter hatte ich vorhin schon gehört. Ich wagte einen flüchtigen Blick durchs Küchenfenster.
Nichts. Kein Regen. Kein Sturm. Nichts als dunkle, finstere Nacht, erhellt nur von den
Straßenlaternen vor dem Haus.
„War das ein Donner? Verdammt, wo bist du?“, zischte ich.
„Auf dem Parkplatz vor der Tierarztpraxis, das sagte ich doch schon. Und du?“
„Wo ist die Praxis?“
„In Sundown Falls natürlich! Toller Trick … Nun sag schon, wie machst du das?“
„Ich bin … in Köln.“
Sundown Falls? Das konnte kein Zufall sein. Ich hatte von dem Ort gerade das erste Mal …
gelesen. Die Wände drehten sich um mich, während meine Beine heute ein zweites Mal
nachgaben. Ich ließ mich auf den nächstbesten Küchenstuhl sinken. Wenn Mila Gas gab, war sie
in spätestens zehn Minuten hier.
„Die Polizei ist da“, log ich und schluckte. Vermutlich zweifelte Mila inzwischen an meinem
Verstand. Denn auch das wusste ich jetzt ganz genau. Diese Stimme hörte nur ich und sonst
niemand.
Ich lehnte mich zurück. Langsam ließ das Schwindelgefühl nach. Mit wackligen Beinen stand
ich auf, lief mit dem Handy am Ohr zur Küchentür und öffnete sie.
„Ich bin fast da. Rekordzeit“, vernahm ich Mila triumphierend aus dem Telefon. „Drei, zwei,
eins.“ Vor dem Haus ertönte ein lautes, lang anhaltendes Hupen. Gott sei Dank. Wie hatte ich
nur annehmen können, dass ich das allein schaffen würde? Die Tränen flossen schon wieder.
Dieses Mal sturzbachartig. Ich sprintete durch den Flur, riss die Haustür auf und ließ mich von
Mila auffangen. Ohne ein Wort zu sprechen, drückte sie die Tür mit dem Fuß zu und schob mich
behutsam durchs Wohnzimmer, auf die Couch, plumpste neben mich … und wartete. Als die
Heulkrämpfe einem leisen Schluchzen gewichen waren, stand sie auf und verschwand in der
Küche, nur um mir Sekunden später ein Wasserglas in die Hand zu drücken.
„Trink. Langsam. Und dann sag mir bitte, warum du dich nicht viel eher hast trösten lassen.
Seit sechs Tagen behalte ich mein Telefon wie ein Luchs im Auge, aus Sorge, deinen Anruf zu
verpassen. Fünf Mal, Jules, fünf Mal habe ich hier vor der Tür gestanden und geklingelt.“
„Du warst das?“, schniefte ich und leerte das Glas in wenigen Zügen.
„Hey, langsam habe ich gesagt!“
„Ich wollte allein sein … habe niemandem aufgemacht. Sorry“, fügte ich kleinlaut hinzu.
„Aber jetzt … jetzt bin ich froh, dass du da bist.“
Mila rutschte an meine Seite. „Sag mal, was ist denn in der Küche passiert? Das sieht nicht
gerade … ähm … nach einem Unfall aus. Hast du Gläser gegen die Wand geschmissen? Volle
Gläser?“
Ihr bohrender Blick traf mich.
„Ja“, gab ich zu und versuchte es mit einem zerknirschten Gesicht.
„Wutphase. Gut“, murmelte Mila. „… auf das verdammte Schicksal?“
„Auch.“
„Du musst nichts erzählen, Jules. Wir können auch da weitermachen, wo du offenbar vor
Kurzem aufgehört hast.“ Mila kramte in den Tiefen ihrer Jeanslatzhose, beförderte ein blassrotes
Haargummi zutage und zog ihre blonde Haarpracht durch das Gummi. Schließlich lehnte sie sich
zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Gläser gegen die Wand schmeißen?“ Nun hatte sie es geschafft. Das erste Mal seit einer
gefühlten Ewigkeit verspürte ich den Drang zu grinsen. Und gab nach.
„Na also. Geht doch. Das war fast ein Lächeln. Also, ich meinte eher Wein trinken.“ Mila
nickte zufrieden und zupfte an ihrem lachsfarbenen T-Shirt, bevor sie aufstand, in der Küche
verschwand und kurz darauf mit zwei gefüllten Weingläsern zurückkam. „Puh, ist das warm hier
drin. Sag mal, Süße, lüftest du eigentlich nicht? Wir hatten heute über dreißig Grad … im
Schatten … da sollte man nachts so viel an halbwegs kalter Luft reinlassen wie möglich.“
Sie stellte die Gläser auf den Tisch, hüpfte zum Fenster und riss es auf. Als ein Luftzug mein
Gesicht streifte, atmete ich auf. Mila hatte recht. Ich hatte seit einer knappen Woche das Haus
nicht verlassen - bis auf heute Morgen, als mich Rika zur Beerdigung abgeholt hatte – und so
ziemlich alles vernachlässigt. Lüften und mich eingeschlossen.
„Tut gut, nicht? Lust auf einen Spaziergang?“
Nun musste ich lächeln. „Nein, Wein trinken ist besser heute Nacht.“ Ich nippte demonstrativ
an dem Weinglas. „Die frische Luft tut gut, aber hier im Haus …“
„… fühlst du dich gerade sicherer?“, unterbrach Mila mich, während ich verhalten nickte.
„Das kann ich verstehen“, fuhr sie fort, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Sie sind noch hier,
richtig?“
Ich schluckte und deutete ein weiteres Kopfnicken an. Genau das war es. Ich fand sie in
jedem Zimmer, in jeder Ecke … überall und hatte Angst, sie zu verlieren, wenn ich zu lange
fortblieb. „Aber ich bin froh, dass du hier bist“, wiederholte ich und meinte es so.
„Stimmen also … Und du bist sicher, wir sollten nicht doch besser die Polizei rufen?“ Mila
ließ den Blick durch das Zimmer gleiten. Von der dunkelbraunen Ledercouch, über den
Nussbaumtisch, auf dem zwei Weingläser neben meinem leeren Wasserglas standen, über die
vollen Bücherregale an jeder Wand, bis er auf den sonnengelben Vorhängen neben dem großen
Fenster hängen blieb.
„Hier ist niemand, Mila. Und es war eine Stimme. Ich schwöre, ich habe mich mit ihm
unterhalten. Und nein, ich bin nicht verrückt. Er ist in Michigan. Es sei denn, es gibt mehrere
Sundown Falls in den Staaten“, fügte ich nachdenklich hinzu.
„Mit ihm …? Hat er auch einen Namen?“
„Du glaubst mir nicht.“ Enttäuscht senkte ich den Blick.
„Ich glaube dir alles, Jules. Ich glaube dir, dass du momentan kein Licht am Ende des Tunnels
siehst, dass du traurig und wütend bist. Dass du Angst hast. Aber ich weiß auch, dass du hart im
Nehmen bist und auch diesen Schicksalsschlag verkraften wirst. Außerdem bin ich ziemlich
sicher, dass du nicht verrückt bist. Also ja, ich glaube dir, dass du … ähm … mit dem
unsichtbaren Namenlosen gequatscht hast.“
Ganz überzeugt schien sie dennoch nicht zu sein, denn plötzlich sprang sie auf, umrundete
den Couchtisch und hielt auf die Vorhänge zu, nur um sie mit einem Ruck zur Seite zu reißen.
„Vorsichtshalber.“ Grinsend zuckte sie mit den Schultern und setzte sich erneut neben mich.
„Aus Michigan sagst du?“
„Aus Sundown Falls. Falls es dasselbe ist, wo mein Großvater wohnt.“
„Dein Großvater?“, hakte Mila nach. „Ich dachte …“ Sie hielt inne und warf mir einen
fragenden Blick zu.
„Ach Mila, es ist alles ganz furchtbar kompliziert auf einmal. Meine Mutter hat mir einen
Brief hinterlassen.“ Ich beugte mich vor, griff nach dem Papier auf dem Tisch und reichte es
Mila. „Hier, lies. Ich habe einen Großvater. Einen, der noch lebt. William Baker. Und er wohnt
in Sundown Falls“, wiederholte ich. „Und da wohnt auch … der … die Stimme. Und ja, ich war
stinksauer auf das verfluchte Schicksal … und auf Mom. Als wäre das nicht alles schlimm
genug, quatscht mich dann auch noch dieser Typ an.“
Alles deine Schuld, fuhr es mir durch den Kopf.
Was ist meine Schuld?
Ich konnte es nicht verhindern, dass mein Blick zu den Vorhängen jagte. Verdammt! Er
konnte nicht nur mit mir sprechen, er konnte auch meine Gedanken … hören? Dass er nicht
sprach, konnte ich glatt heraushören. Es war die gleiche Stimme und doch klang sie anders.
Leiser? Dünner? Ein Flüstern? Keine Ahnung …
Dass ich Mila jetzt erklären muss, was hier vor sich geht, setzte ich das Gedankengespräch
fort. Du … du in Sundown Falls … du liest meine Gedanken!
Stimmt, Köln. Ich weiß auch nicht, wie wir das machen, aber ich höre dich klar und deutlich.
Mila? Ist das der Name der Polizistin?
Ich habe die Cops doch nicht gerufen. Stattdessen ist Mila hier, meine beste Freundin. Das
hast du nicht mitbekommen? Mila denkt, du versteckst dich hinter den Vorhängen.
Eine Weile herrschte Stille. Ein schallendes Lachen folgte.
„Das ist nicht witzig!“, entfuhr es mir.
„Ist es doch, Köln. Sie wird mich nicht finden“, setzte er unser Gespräch fort – nun wieder
laut und ohne Gedankenflüstern.
„Das weiß ich auch. Autsch!“
Mila hatte mir kräftig in den Arm gekniffen und sah mich leicht verärgert von der Seite an,
den Brief in der Hand. „Was weißt du?“
Ich presste die Augen zusammen in der Hoffnung, dass ich jetzt gleich – sofort – aus einem
furchtbar komplizierten Albtraum aufwachen würde. Vorsichtig blinzelte ich unter einem halb
geöffnetem Lid. Nein, kein Traum. Mila saß immer noch neben mir und trommelte inzwischen
ungeduldig mit den Fingern auf die Couch.
„Juliet? Nun sag schon. Ich hatte gerade den Brief durch, als du angefangen hast,
Selbstgespräche zu führen. Oder ist er … die Stimme wieder da?“ Mila legte Moms Schreiben
auf den Tisch und spitzte die Lippen.
Ich trank einen weiteren Schluck Wein und lehnte mich an Milas Schultern. Mein Leben war
ein Trümmerfeld. Erneut verspürte ich den Drang, etwas an die Wand zu schmeißen. Verdammt,
ich hatte mich wirklich nicht unter Kontrolle. Aber wen wunderte das schon. Wie zum Teufel
sollte man die Beherrschung behalten, wenn man verzweifelt, traurig und wütend war. Auf
einmal. Und man plötzlich einen Großvater hatte … und sich jemand ungefragt in seine
Gedanken schlich.
Alles in Ordnung, Köln?
Du meine Güte. Kaum dachte ich an den Typ in der Stadt, in der auch mein neuer
geheimnisvoller einziger Verwandter lebte, mischte er sich auch schon wieder ein.
Ist Sundown Falls in Michigan …? Meine Gedanken gerieten ins Stocken. Ich wusste noch
nicht einmal seinen Namen.
Finn, half er freundlich aus. Ja, natürlich. Ein hübsches, kleines Nest im nordwestlichen
Zipfel …
„Jules“, versuchte es Mila erneut. Dieses Mal ohne Kneifen. „Soll ich gehen? Oder die
anderen holen? Rika vielleicht?“
Nun sah sie richtig besorgt aus. Kein Wunder, ich hatte sie vermutlich geistesabwesend
angestarrt, als ich mit … Finn gesprochen … geflüstert hatte.
„Er heißt Finn. Und du kannst ihn nicht hören, richtig?“
„Nein. Nur dich.“
„Wir … ähm … können uns auch … verständigen, ohne zu sprechen. In Gedanken. Auf
Englisch.“
„Aha.“
„Ach Mila. Gott sei Dank bist du es, die bei mir ist. Alle anderen hätten spätestens jetzt die
Polizei oder einen Krankenwagen gerufen. Oder mich davon überzeugt, mich selbst …
einzuweisen. Ich schwöre, Finn ist echt. Und weit weg.“
Ob er alles mithören würde, was ich gerade dachte? Oder sagte?
Ob ich was mithören kann, Köln?
Das geht dich nichts an … Finn.
Entschuldige. Sucht Mila immer noch hinter den Vorhängen?
Echt jetzt? Man konnte seinen Gedanken sogar ein Grinsen entnehmen. Ich bemühte mich
wirklich sehr, nicht laut loszuschreien, doch ein empörtes Schnauben konnte ich mir nicht
verkneifen.
Nein, natürlich nicht. Warum zum Teufel kann ich dich hören? Es gefiel mir gar nicht, dass
plötzlich nichts mehr … privat zu sein schien.
Keine Ahnung, Köln.
„Hey, Jules! Ich rede mit dir.“ Die Besorgnis in Milas Blick war Ungeduld gewichen.
Kein Wunder, wenn sich Finn mit der zugegebenermaßen netten, warmen … sexy Stimme
immer wieder einmischte und mich ablenkte.

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