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Die Widerspiegelung sozialer Prozesse in sprachlichen Strukturen    449

W. Labov

Die Widerspiegelung sozialer Prozesse


in sprachlichen Strukturen

Den Verfahren der deskriptiven Linguistik liegt eine Auffassung von Sprache
als strukturiertes Gebilde sozialer Normen zugrunde.1 Es hat sich bisher als
zweckmäßig erwiesen, diese Normen, die allen Angehörigen einer Sprachge-
meinschaft gemeinsam sind, als invariant zu betrachten. Eingehendere Unter-
suchungen des sozialen Kontexts, in dem die Sprache gebraucht wird, ­haben
indessen ergeben, daß viele Elemente der Sprachstruktur sich systematisch
verändern, was sowohl zeitlichen Wandel als auch außersprachliche soziale
Prozesse widerspiegelt. Die folgende Abhandlung bringt einige Ergebnisse
dieser Untersuchungen, in denen ein enger Kontakt zwischen Linguistik und
Umfrage-Methode sowie soziologischer Theorie hergestellt wird.
Als eine Form sozialen Verhaltens ist die Sprache für den Soziologen na-
turgemäß von Interesse. Die Sprache kann dem Soziologen aber speziell
­dadurch dienlich sein, daß sie ein empfindlicher Indikator vieler anderer so-
zialer Prozesse ist. Der Wandel im Sprachverhalten übt als solcher keinen
mächtigen Einfluß auf soziale Entwicklungen aus; er beeinflußt auch nicht
nachdrücklich die Lebenschancen des einzelnen; im Gegenteil, die Form des
Sprachverhaltens ändert sich sehr schnell, wenn sich die soziale Stellung des
Sprechers ändert. Diese Formbarkeit der Sprache ist der Grund für ihre au-
ßerordentliche Eignung als Indikator sozialen Wandels.
Phonologische Indikatoren – gestützt auf die Elemente des Lautsystems
einer Sprache – sind in dieser Hinsicht besonders nützlich. Sie liefern ein
großes Korpus quantitativer Daten, die aus relativ kleinen Sprechproben zu
entnehmen sind; es lassen sich aus Gesprächen von nur wenigen Minuten
Dauer über ein beliebiges Thema zuverlässige Indexwerte für verschiedene Va-
riablen ableiten. Die Variationsbreite, in der diese Indikatoren gründen, ist
weithin unabhängig von der bewußten Kontrolle der Versuchspersonen. Zu-
dem zeigen phonologische Systeme von allen sprachlichen Systemen den höch­
sten Grad innerer Struktur, so daß ein einziger sozialer Vorgang von korre-
lierenden Verschiebungen mehrerer phonologischer Indices begleitet sein kann.

1 Diesem Aufsatz liegt ein Referat zugrunde, das in einer Podiumsdiskussion über
Soziolinguistik auf einer Tagung der Eastern Sociological Society am 12. April
1964 in Boston gehalten wurde.

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Die nachstehend angeführten Beispiele sind einer Studie über die soziale
Schichtung des Englischen in New York City entnommen, insbesondere einer
Sprachaufnahme in Lower East Side.2 Diese Arbeit basiert auf einer davor
durchgeführten Erhebung von sozialen Einstellungen der Bewohner von
­Lower East Side, die im Jahre 1961 von der Mobilization for Youth durchge-
führt worden war.3 Die Ausgangsstichprobe der Population von 100000 Ein-
wohnern bestand aus 988 Erwachsenen. Unsere Stichprobe enthielt 195 die-
ser Befragten, die repräsentativ waren für etwa 33 000 Personen mit der Mut-
tersprache Englisch und die innerhalb der letzten zwei Jahre nicht den
Wohnsitz gewechselt hatten. Durch Mithilfe von Mobilization of Youth und
der New York School of Social Work standen uns sehr viele Informationen
über die sozialen Merkmale der Befragten zur Verfügung, so daß wir uns bei
der zweiten Umfrage ganz auf das Sprachverhalten konzentrieren konnten.
81 Prozent unserer Stichprobe wurden in der Untersuchung der Sprache der
Lower East Side erreicht.
In New York City stellen sich einer Untersuchung von Sprachsystemen
eini­ge außergewöhnliche Schwierigkeiten entgegen. New Yorker verfügen über
eine erstaunliche Breite von stilistischen und auch sozialen Varianten, und zwar
in solchem Ausmaß, daß frühere Forscher überhaupt keine Gesetzmäßigkeit
entdecken konnten und zahlreiche Variablen dem reinen Zufall zuschrieben.4
Zur Untersuchung des sozialen Wandels war es zunächst notwendig, inner-
halb des der Sprachanalyse dienenden Interviews eine Anzahl von kontext­

2 Ein vollständiger Bericht über diese Umfrage ist in meiner Dissertation an der Co-
lumbia University (1964) enthalten, mit dem Thema „The Social Stratification of
English in New York City“. Die Entwicklung phonologischer Indices und deren
Korrelation mit einem Komplex von sozialen Variablen sind Weiterführungen der
zuerst in „The Social Motivation of a Sound Change“, Word 19, (1963), S. 273–
309 entwickelten Technik. Die Arbeit behandelte den Sprachwandel auf der Insel
Martha’s Vineyard, Massachusetts.
3 Einzelheiten über Stichprobenentnahme und andere bei der Umfrage benutzte Ver-
fahren sind enthalten in „A Proposal for the Prevention and Control of Delin-
quency by Expanding Opportunities“ (New York, N.Y., Mobilization for Youth,
Inc., 214 East Second St. 1961).
4 „Bei sehr vielen New Yorkern zeigt die Aussprache eine Regel, die recht genau als
das Fehlen einer jeglichen Regelmäßigkeit bezeichnet werden könnte. Diese Spre-
cher sprechen manchmal das /r/ vor einem Konsonanten oder vor einer Pause aus,
und manchmal lassen sie es aus, in völlig wahlloser Weise ... Der Sprecher führt
beide Aussprachen die ganze Zeit im Mund; beide scheinen für ihn gleich natürlich
zu sein, und es hängt ganz vom Zufall ab, welche Aussprache ihm über die Lippen
kommt.“ A. F. Hubbell, The Pronunciation of English in New York City (New
York, Columbia University Press, 1950), S. 48.

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bezogenen Sprechstilen zu definieren und zu isolieren. Im Kontext des stan-


dardisierten Interviews ist dem Interviewten gewöhnlich kein ungezwungenes
oder spontanes Sprechen zu entlocken; die zur Überwindung dieser Schranke
entwickelten Methoden waren für den Erfolg der Untersuchung entscheidend.
Der Umstand, daß es uns tatsächlich gelang zu bestimmen, was ein ungezwun-
genes Gespräch ist, und daß es uns gelang, ein solches herzustellen, ergibt sich
aus der Übereinstimmung dieser Ergebnisse mit denen anderer Untersu-
chungen, die anonyme Beobachtungen benutzten, sowie aus der Stabilität der
gefundenen Gesetzmäßigkeiten in der stilistischen Variation.
Als ein besonderes Beispiel sei die phonologische Variable (r) in New York
City5 betrachtet. Nach der gängigen New Yorker Sprechweise wird /r/ in
Endstellung und vor Konsonanten nicht gehört. Die Wörter guard und god
sind homonym: [gɒ:d] und [gɒ:d]. Entsprechend sind auch bared und bad
­homonym: „I [bE:@d] my [a:m]; I had a [bE:@d] cut.“ Seit einigen Jahrzehnten
ist in der Sprechweise einheimischer New Yorker eine neue Form prestige­
besetzten Sprechens aufgekommen, bei der /r/ ausgesprochen wird. Der zur
Messung dieser Variablen gebrauchte phonologische Index ist einfach der
Prozentsatz der Wörter mit historischem /r/, wo dieses in Endstellung und vor
Konsonanten ausgesprochen wird. So erhalten wir, wenn ein 22jähriger
Mann aus der unteren Mittelschicht im gepflegten Gespräch 27% /r/ aus-
spricht, einen (r) Index von 27. In weniger formellem Kontext, in zwangloser
Rede, gebraucht er überhaupt kein /r/: (r) –00. Mit zunehmender Förmlich-
keit des Gesprächs erreichte er (r) –37 beim Vorlesen, (r) –60 beim Lesen von
Wörterlisten und (r) –100 beim Vorlesen von Wortpaaren, bei denen er seine
volle Aufmerksamkeit dem /r/ schenkt: guard vs. god, dock vs. dark usw. Eine
Versuchsperson aus der oberen Mittelschicht zeigt unter Umständen dieselbe
Gesetzmäßigkeit, nur mit höheren (r)-Werten, ein Sprecher aus der Arbeiter-
schicht dagegen mit sehr viel niederen Werten.
Wir wollen noch eine weitere Variable betrachten, und zwar eine, die
nicht ausschließlich für New York City gilt: die Aussprache von th in thing,
think, through, bath usw. Die Prestigeform ist überall in den Vereinigten Staa-
ten ein Frikativ- oder Reibelaut: [T]. In vielen Gegenden gebrauchen Sprecher
gelegentlich an dieser Stelle einen Verschlußlaut, ähnlich dem t: „I [t:Iŋk] so;

5 Das hier benutzte Notationssystem sieht folgendermaßen aus: (r) repräsentiert die
Variable, im Gegensatz zur phonemischen Einheit /r/ oder der phonetischen Einheit
[r]. Ein bestimmter Wert der Variablen erscheint als (r-1) oder (r-o), wogegen der
Index-Mittelwert als (r)-35 erscheint. In diesem Fall fällt (r-1) meist mit der phone-
mischen Einheit /r/ zusammen; die bekanntere Notation /r/ wird daher anstelle von
(r-1) gebraucht.

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[smt:Iŋ] else.“ Noch häufiger ist eine Affrikate, eine Mischung aus Ver­
schluß- und Reibelaut: „I [t:TIŋk] so; [smtTIŋ] else.“ Nach dem phonolo-
gischen Index für (th) bekommt der Reibelaut „0“, die Affrikate „1“ und der
Verschlußlaut „2“; ein Index von (th)–00 würde also den ausschließlichen
Gebrauch von Frikativen anzeigen, ein Indexwert von (th)–200 ausschließ-
lich Verschlußlaute. Ein Sprecher aus der Arbeiterschicht könnte also z.B. in
ungezwungener Rede einen Indexwert von (th)–107, in gehobener Kon­
versation von –69, beim Vorlesen von – 48 aufweisen. Eine Frau aus der
Mittelschicht konnte in zwangloser Rede einen Wert von (th)–20 und in
allen mehr formellen Redeweisen –00 aufweisen.
Obwohl bei New Yorker Sprechern ein großer Spielraum hinsichtlich der
absoluten Werte dieser Variablen besteht, herrscht starke Übereinstimmung
hinsichtlich der Gesetzmäßigkeit der stilistischen Variationen. Bei nahezu
80% der Befragten zeigten sich diese Regelmäßigkeiten in einem Zusammen-
hang mit dem Status von /r/ als Prestigesymbol und – bei Verschlußlauten
und Affrikaten – mit dem von /th/ als minderwertige Form.
Diese Regelmäßigkeit der stilistischen Variation ist in erster Linie für For-
scher auf dem Gebiet der Linguistik und der linguistischen Ethnographie von
Belang. Sie ist jedenfalls mit der sozialen Schichtung in New York City eng
verflochten. Dieses stilistische pattern und das der sozialen Schichtung bilden
miteinander die in der Abb. 1 dargestellte komplexe und regelhafte Struktur.
Abb. 1 ist eine graphische Darstellung der sozialen Schichtung von (th),
abgeleitet aus dem Verhalten von 81 erwachsenen Befragten, die in New York
City aufgewachsen waren.6 Die Senkrechte gibt die durchschnittlichen (th)
Indexwerte an, die Waagerechte die vier kontextbedingten Sprechstile. Der
am stärksten informelle Stil, die ungezwungene Rede, erscheint links als A,
gehobene Konversation; das Gros der Interviews als B; der Vorlesestil ist C,
die Aussprache von Einzelworten ist D. Die Werte sind im Diagramm durch
horizontale Linien verbunden, die die Zunahme der durchschnitt­lichen In-
dex-Werte für die sozio-ökonomischen Gruppen angeben. Diese Gruppen

6 Die Hauptgruppe der Befragten, die aufgrund des linguistischen Fragebogens aus-
führlich interviewt wurden, bestand aus 122 Versuchspersonen. 41 derselben wa-
ren außerhalb der City geboren und in den entscheidenden Pubertätsjahren auch
dort aufgewachsen, hatten aber jetzt ihren Wohnsitz in New York City. Diese Teil-
nehmer ermöglichten eine wertvolle Kontrolle bei der Untersuchung von Sprach-
wandel und Sprachmustern, wie sie typisch sind für New York City. Der hohe Grad
von Regelmäßigkeit und Übereinstimmung, der bei den 81 Teilnehmern aus New
York City zu verzeichnen war, stand in krassem Gegensatz zu den Unregelmäßig-
keiten in den Reaktionen der Nicht-New-Yorker: in vielen Fällen verlief der bei
New Yorkern festgestellte Trend bei den anderen in entgegengesetzter Richtung.

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Abbildung 1:  Soziale Schichtung einer sprachlichen Variablen mit stabiler sozialer
Bedeutung: (th) in thing, through usw.

sind als Teile einer sozio-ökonomischen Zehn-Punkte-Skala definiert, die


aufgrund der Ergebnisse der ersten Umfrage von Mobilization for Youth er-
stellt wurde. Der sozio-ökonomische Index basiert auf drei gleich bewerteten
Indikatoren des Erwerbsstatus: Beruf (des Ernährers), Ausbildung (des Be-
fragten) und Einkommen (der Familie).7
Abb. 1 ist ein Beispiel für das, was man als scharfe Schichtung bezeichnen
kann. Die fünf Schichten der Bevölkerung sind zu zwei umfassenderen
Schichten mit sehr unterschiedlichem Gebrauch der Variablen gruppiert.
Abb. 2 ist ein Diagramm sozialer Schichtung, die eine etwas andere Art von

7 Die ursprüngliche Umfrage benutzte die Ausbildung des Ernährers, und nicht die
des Befragten. Man war der Ansicht, daß eine linguistische Umfrage den Bildungs-
stand des Befragten als Indikator benutzen sollte, da dieser wohl enger an das
Sprachverhalten als an andere Verhaltensformen geknüpft sein dürfte. Die Gesamt-
korrelationen von Sprachverhalten und sozio-ökonomischer Schicht wurden von
dieser Änderung nicht beeinflußt: es wurden durch die Änderung ebensoviele Ab-
weichungen von der regulären Korrelation hervorgerufen wie ausgeschaltet.

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Abbildung 2:  Soziale Schichtung einer sprachlichen Variable im Sprachwandel: (r) in


guard, car, beer, beard, board etc.

Schichtung aufweist. Die Senkrechte ist der phonologische Index für (r), wo-
bei 100 einen konsequent r-aussprechenden Dialekt bedeutete, und oo einen
konsequent r-freien Dialekt. Die Waagerechte enthält fünf stilistische Kon-
texte, die sich von ungezwungener Rede bei A, über sorgfältige Rede bei B,
Vorlese-Stil bei C, Einzelwörter bei D bis zu D′ erstreckt, wo Wörterpaare
vorgelesen wurden, deren ausschließliche Aufmerksamkeit dem /r/ galt: ­guard
vs. god, dock vs. dark. Diese Verteilung ist ein Beispiel für das, was als Fein-
schichtung bezeichnet werden kann: eine große Zahl von Unterteilungen des
sozio-ökonomischen Kontinuums, wobei die Schichtung auf jedem stilisti­
schen Niveau beibehalten ist. Weitere Untersuchungen des /r/, die in New
York City durchgeführt wurden, stützen die folgende allgemeine Hypothese
über die Feinschichtung von (r): Jede Gruppe von New Yorkern, die in einer
hierarchischen Skala nach nicht-sprachlichen Merkmalen eingeordnet ist,
wird hinsichtlich ihres unterschiedlichen Gebrauchs von (r) denselben Rang-
platz erhalten.
Der Status von /r/ als Prestigeträger wird durch die allgemeine Aufwärts-
richtung aller Horizontallinien in der Richtung von den informellen zu den
formellen Kontexten ausgewiesen. Auf dem Niveau der ungezwungenen, all-
täglichen Rede zeigte nur die Gruppe 9 (obere Mittelschicht) eine signifi-
kante Häufigkeit in der r-Aussprache. Aber in formelleren Stilen steigt der

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Betrag der r-Aussprache bei den anderen Gruppen rasch an. Insbesondere
die untere Mittelschicht zeigt einen äußerst raschen Anstieg, der in den zwei
formellsten Stilen sogar die obere Mittelschicht übertrifft. Dieses Kreuzen
scheint auf den ersten Blick eine Abweichung von der in Abb. 1 dargestellten
regelhaften Kurve zu sein. Es handelt sich um ein Bild, das in anderen gra-
phischen Darstellungen auch erscheint: ein ganz ähnliches Kreuzen der un-
teren Mittelschicht erscheint bei zwei anderen phonologischen Indices – of-
fensichtlich bei all jenen linguistischen Variablen, die an einem sprachlichen
Wandel unter sozialem Druck teilnehmen. Andererseits sind die sozialen und
stilistischen Regelhaftigkeiten für (th) mindestens 75 Jahre lang stabil geblie-
ben und lassen keine Anzeichen für ein derartiges Kreuzen erkennen. Daher
muß das hyperkorrekte Verhalten der unteren Mittelschicht als derzeitiger
Indikator eines im Fortgang befindlichen Sprachwandels angesehen werden.
Der lineare Charakter der Zehn-Punkte-Skala für den sozio-ökono-
mischen Status wird durch den Umstand bestätigt, daß sie für viele Sprach­
variablen, grammatischer wie auch phonologischer Art, eine regelhafte
Schichtung ergibt. Die Sprachvariablen wurden mit den sozialen Indikatoren
des Produktionsstatus der Versuchspersonen – Beruf, Ausbildung und Ein-
kommen – korreliert, und es erwies sich, daß kein einzelner Indikator so eng
mit dem Sprachverhalten korreliert wie die Kombination aus allen dreien.
Allerdings gibt ein Index, der Beruf und Ausbildung unter Nichtbeachtung
des Einkommens kombiniert, eine regelhaftere Schichtung für die (th) Va­
riable. Was die Ausbildung anbelangt, so besteht bei dieser Variablen ein
scharfer Bruch im Sprechverhalten: nämlich nach Abschluß des ersten High-
School-Jahres. Hinsichtlich des Berufs bestehen deutliche Unterschiede zwi-
schen Arbeitern, Angestellten und Akademikern. Kombiniert man diese bei-
den Indikatoren, so ergeben sich vier Klassen, die die Bevölkerung in annä-
hernd gleichgroße Gruppen teilen und für den (th) Gebrauch regelhafte
Schichtung aufweisen. Diese Klassifikation scheint der sozio-ökonomischen
Skala für die Analyse von Variablen wie (th), die in relativ frühem Alter er-
worbene Sprachgewohnheiten reflektieren, überlegen zu sein. Der kombi-
nierte sozio-ökonomische Index, der das Einkommen berücksichtigt, zeigt
dagegen tatsächlich eine regelhaftere Schichtung für Variablen wie (r). Da /r/
ein erst vor kurzem in die Sprache von New York City eingeführtes Prestige-
symbol ist, scheint es folgerichtig – und fast vorhersagbar –, daß es eng mit
einer sozio-ökonomischen Skala korreliert, die das derzeitige Einkommen
berücksichtigt und so den gegenwärtigen sozialen Status der Versuchsperson
genau repräsentiert.
Abb. 3 zeigt die Verteilung von (r) nach Altersstufen, eine Verteilung im
scheinbaren Zeitablauf, die ein tatsächliches plötzliches Ansteigen der sozia­

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Abbildung 3:  Entwicklung der sozialen Schichtung von (r) in ungezwungener Rede
(im scheinbaren Zeitablauf)

len Schichtung von (r) in der Alltagsrede anzeigt. Der Gebrauch in der oberen
Mittelschicht wird durch die horizontale gestrichelte Linie angegeben. Der
Gebrauch anderer Schichten – 0–1: Unterschicht ; 2–5: Arbeiter; 6 –8 untere
Mittelschicht – wird für jede Altersstufe durch eine Anzahl vertikaler Striche
angegeben. Für die zwei höchsten Altersstufen bestehen nur geringe Anzei-
chen für eine soziale Bedeutung von /r/. Es liegt aber von den 40jährigen an
abwärts eine völlig verschiedene Situation vor; hier wirkt /r/ als Prestigeträ-
ger für den Gebrauch allein in der oberen Mittelschicht. Dieser unvermittelte
Wechsel des Status von /r/ scheint mit dem Zweiten Weltkrieg zusammenge-
fallen zu sein.
Bis jetzt haben wir nur einen Aspekt der sozialen Schichtung behan-
delt: die Differenzierung des beobachtbaren Verhaltens. In den neueren
Studien über New York City ist auch der komplementäre Aspekt der so­
zialen Schichtung untersucht worden: die soziale Bewertung. Es wurde
ein subjektiver ­ Reaktionstest entwickelt, um unbewußte soziale Reak­
tionen auf die Lautwerte individueller phonologischer Variablen zu isolie-
ren. In diesen Tests schätzte die Versuchsperson anhand einer Anzahl kur-
zer Auszüge aus der Rede anderer New Yorker auf einer Skala deren
­Berufsposition ein. Kreuzvergleiche ermöglichen es, die unbewußten sub-
jektiven Reaktionen der Befragten auf einzelne phonologische Variablen
zu isolieren.
Abb. 4 gibt den Prozentsatz von Versuchspersonen an, deren Reaktion mit
dem Status von /r/ als Prestigeträger übereinstimmen. Wir sehen, daß alle

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Abbildung 4:  Entwicklung der sozialen Bewertung von (r) in zwei subjektiven Reak-
tionstests

Versuchspersonen zwischen 18 und 39 Jahren in der positiven Bewertung


von /r/ übereinstimmen, trotz der Tatsache, daß die große Mehrheit dieser
Versuchspersonen in ihrer Alltagsrede keinerlei /r/ gebraucht (Abb. 3). Somit
wird die starke Streuung von (r) in der beobachtbaren Lautbildung von ein-
heitlicher subjektiver Bewertung der sozialen Bedeutung dieser Erscheinung
begleitet. Andererseits zeigen die über 40 Jahre alten Versuchspersonen, die
keine Unterschiede in ihrem Gebrauch von (r) aufweisen, ein sehr gemischtes
Bild der sozialen Bewertung von /r/.
Dieses Ergebnis ist typisch für viele andere empirische Befunde, durch die
die Auffassung bestätigt wird, daß New York City eine einzige Sprechge-
meinschaft bildet, die, durch eine einheitliche Bewertung sprachlicher Merk-
male zusammengefaßt, zugleich aber durch zunehmende Schichtung im
­beobachtbaren Sprachverhalten eine Streuung erhält.
Die besondere Rolle der unteren Mittelschicht beim Sprachwandel ist hier
nur durch ein Beispiel, das Kreuzen in Abb. 2, illustriert worden. Wenn
Abb. 3 zur Darstellung zunehmend formeller Stile umgeschrieben wird, so
sieht man, daß auf jeder Altersstufe die untere Mittelschicht die stärkste Ten-
denz zur Einführung der r-Aussprache aufweist und dabei in den formellsten
Stilen die oberene Mittelschicht weit übertrifft. Es liegt viel Beweismaterial

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dafür vor, daß Sprecher der unteren Mittelschicht die stärkste Tendenz zu
sprachlicher Verunsicherung zeigen und deshalb in mittleren Jahren dazu
neigen, die von den jüngsten Angehörigen der obersten Schicht gebrauchten
Prestigeformen anzunehmen. Diese sprachliche Unsicherheit offenbart sich
in dem sehr breiten Band stilistischer Variationen im Gebrauch von Spre-
chern der unteren Mittelschicht; durch ihr starkes Schwanken innerhalb
­eines bestimmten stilistischen Kontexts, durch ihr bewußtes Streben nach
Korrektheit und durch ihre stark ablehnende Einstellung gegenüber ihren an­
gestammten Sprechmustern.
Ein weiteres Maß für sprachliche Unsicherheit ergab sich aus einem hier-
von unabhängigen Ansatz, der vom lexikalischen Verhalten ausging. Den
Versuchspersonen wurden 18 Wörter mit Aussprachevarianten vorgelegt,
die sich signifikant auf die einzelnen Sozialgruppen verteilten: vase, aunt,
escalator usw. Jedes Wort wurde in zwei verschiedenen Aussprachen angebo-
ten, z.B. [veIz – vAIz], [aent – A’nt], [EskeleIt@ – EskjuleIt@]. Die Teilnehmer
wurden aufgefordert, die ihrer Meinung nach korrekte Form zu bestimmen.
Sodann wurden sie gefragt, welche Form sie selber gewöhnlich gebrauchen.
Die Gesamtzahl der Fälle, in denen die beiden Entscheidungen verschieden
ausfielen, wurde als Index für sprachliche Unsicherheit genommen. In dieser
Messung zeigte die untere Mittelschicht den bei weitem höchsten Grad an
sprachlicher Unsicherheit.
Die soziale Schichtung und ihre Auswirkungen sind nur ein Typus so­
zialer Prozesse, die sich in sprachlichen Strukturen widerspiegeln. Die In-
teraktion ethnischer Gruppen in New York City – Juden, Italiener, Neger,
Puertorikaner – spiegelt sich ebenfalls in diesen und anderen sprachlichen
Variablen wider. Bei einigen Variablen nahmen die Schwarzen von New
York City an der gleichen sozialen und stilistischen Variation teil wie die
weißen New Yorker. Bei anderen Variablen besteht eine strikte Trennung
zwischen Weißen und Schwarzen, worin sich der für die Stadt charakte­
ristische Prozeß der sozialen Segregation widerspiegelt. Es gibt zum Beispiel
ein phonologisches Charakteristikum der südstaatlichen Aussprache, das
die Vokale /i/ und /e/ vor Nasalen ineinander übergehen läßt: pin und pen,
since und sense sind hier Homonyme: „I asked for a straight (pIn) and he
gave me a writing (pIn).“ In New York City hat diese phonologische Er-
scheinung sich über die ganze schwarze Bevölkerung ausgebreitet, so daß
jüngere schwarze Sprecher diese Verschmelzung regelmäßig vornehmen,
gleichgültig, ob sie in ihrer Rede noch andere Merkmale der Südstaaten
zeigen oder nicht. Dieses sprachliche Merkmal wirkt damit als absoluter
Trennfaktor für die Gruppe der Schwarzen, indem es die sozialen Vorgänge
widerspiegelt, die diese rassische Gruppe als eine Einheit kennzeichnen.

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Für die Gruppen der Puertorikaner lassen sich ähnliche kennzeichnende


phonologische Merkmale finden.8
Die Segregation von Schwarzen und Weißen tritt auch in anderen Aspekten
des Sprachverhaltens, die ganz außerhalb des phonologischen Systems liegen,
zutage. Unsere Untersuchung der Sprechweise von New York City umfaßt eine
Anzahl semantischer Studien: eine der ergiebigsten befaßt sich mit den seman-
tischen Strukturen, die den Ausdruck common sense betreffen. Dieser Aus-
druck liegt im Zentrum eines der Bereiche, die für die geistige Betätigung der
meisten Amerikaner am wichtigsten sind. Es ist ein häufig gebrauchter und mit
beträchtlichem Affekt geladener Ausdruck; über seine Bedeutung wird oft de-
battiert; Fragen über common sense rufen bei den meisten unserer Versuchs-
personen erhebliche geistige Anstrengungen wach. Der Ausdruck common
sense wird von Schwarzen gebraucht; sie gebrauchen aber auch einen gleich-
bedeutenden Ausdruck, der bei keinem weißen Sprecher in dessen angestamm-
ten Vokabular vorkommt. Dieser Ausdruck ist mother-wit oder mother-with
[mD@wIT]. Für einige wenige weiße Sprecher gilt mother-wit als altertüm-
licher, gelehrter Ausdruck, aber für Schwarze ist es ein von den älteren Famili-
enmitgliedern häufig gebrauchter, angestammter Ausdruck, der einen ganzen
Komplex von Gefühlen und Vorstellungen umfaßt, der für sie von großer Be-
deutung ist. Doch haben Schwarze keine Ahnung davon, daß Weiße das Wort
mother-wit nicht gebrauchen, und die Weißen haben keinen Schimmer davon,
daß Schwarze das Wort gebrauchen. Man muß einmal dieses völlige Fehlen
von Kommunikation auf einem wichtigen Gebiet geistiger Betätigung in Kon-
trast zu der Art stellen, wie Slang­ausdrücke der Negermusiker von der weißen
Bevölkerung als Ganzes glatt und richtig übernommen werden.
Der Prozeß der sozialen Segregation entspringt Ursachen und Mechanis-
men, die schon im einzelnen untersucht worden sind. Der gegenläufige Vor-
gang der sozialen Integration tritt weniger in Erscheinung, und auf der Ebene
der Sprachstrukturen ist es keineswegs klar, wie er sich abspielt. Betrachten
wir die semantische Stuktur von common sense. Analysiert man die seman-
tischen Komponenten des Ausdrucks, seine Stellung in einer hierarchischen
Taxonomie und seine Beziehung zu verwandten Ausdrücken eines seman-
tischen Paradigmas, so erkennt man große Unterschiede in den von verschie-
denen Sprechern gebrauchten semantischen Strukturen.
Diese Verschiedenheit läßt sich am besten veranschaulichen, indem man
zwei Typen von Reaktionen auf unsere Frage über den common sense mit­

8 Die meisten New Yorker unterscheiden den Vokal von can in ,,tin can“ von dem
can in ,,I can“. Keiner der befragten Puertorikaner gebrauchte diese phonemische
Unterscheidung durchgehend.

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einander konfrontiert; es sind Reaktionen, die gewöhnlich in zwei in sich


konsistente Gruppen zerfallen. Der Teilnehmer A etwa hält common sense
einfach für „vernünftiges Reden“. Wenn er den kognitiven Inhalt einer Äuße-
rung versteht, so ist das für ihn common sense. Teilnehmer B hält common
sense für die höchste Form vernunftgemäßer Betätigung; es ist für ihn die
Anwendung von Wissen zur Lösung der schwierigsten Probleme. Haben die
meisten Menschen common sense? A sagt ja, B sagt nein. Wer hat viel com-
mon sense? B glaubt, daß Ärzte, Juristen, Professoren am meisten hätten. A
meint, bei ungebildeten, einfachen Leuten finde man eher common sense,
und er nennt sofort ein paar hochgebildete Leute, denen jede Spur von com-
mon sense fehlt. Wenn ich sage: „Zwei und zwei macht vier“, ist das ein
Beispiel von common sense? A sagt ja, B sagt nein. Kann man sagen, jemand
sei intelligent, habe aber doch keinen common sense? A sagt nein, weil Intel-
ligenz das gleiche sei wie common sense. B sagt ja, common sense sei etwas
anderes als Intelligenz. A glaubt, wenn man jemand als gescheit bezeichnen
könne, so habe er auch common sense. B sieht keinen Zusammenhang zwi-
schen Gescheitheit und common sense. Kann man weise sein, ohne common
sense zu haben? A sagt ja, B sagt nein.
Die extremen Unterschiede zwischen Typ A und dem Typ B, die von der
sozialen Schichtung nicht unabhängig sind, legen es nahe, die Möglichkeit
semantischer Integration zu bezweifeln. Kann man von Individuen, die völlig
entgegengesetzte semantische Strukturen für common sense haben, sagen, sie
verstünden einander? Kann der Ausdruck common sense zur Kommunika-
tion von Bedeutung zwischen diesen Sprechern dienen? Manche Autoren (be-
sonders die Anhänger der Allgemeinen Semantik) sind der Auffassung, daß
Sprecher mit Englisch als Muttersprache einander gewöhnlich nicht verste-
hen, daß derartig gegensätzliche Strukturen unvermeidlich zu Mißverständ-
nissen führen. Die bisherigen Ergebnisse unserer Untersuchungen führen
mich zu dem gegenteiligen Schluß. Die Menschen verstehen einander eben
doch: die semantische Integration scheint durch ein zentrales System von
Äquivalenz- und Attributionsbeziehungen zu erfolgen, über das bei allen
Englisch-Sprechenden Übereinkunft besteht. Mit nur wenigen Ausnahmen
sind alle Sprecher darin einig, daß common sense unter den Oberbegriff Ur-
teilsfähigkeit fällt: common sense ist „scharfes Urteil“. Eine ähnlich hohe
Übereinstimmung findet sich in der Beifügung von practical oder every-day
zu common sense. Wir haben zwar kein Einzelwort für die Eigenschaft „nicht
aus Büchern gelernt“, doch gibt es einen sehr hohen Grad von Über­
einstimmung bezüglich dieser Bedeutung von common sense.
Wenn semantische Integration stattfindet, so muß sie in einem sozialen
Prozeß erfolgen, in dem extreme Varianten im Verlauf von Gruppeninterak-

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tion zu Gunsten zentraler oder Kernwerte unterdrückt werden. Die fortlau-


fenden Untersuchungen dieser semantischen Muster sollen Licht in die Frage
bringen, ob ein derartiger Mechanismus existiert und wie er abläuft.
In dieser Darstellung sind eine Anzahl von Aspekten des Sprachverhaltens
aufgezeigt worden, in denen Sprachstrukturen als Widerspiegelungen sozi-
aler Prozesse erscheinen. Insgesamt gesehen zeigt sich ein breites Band von
Möglichkeiten, die Interaktion soziologischer und linguistischer Untersu-
chungen nutzbringend zu gestalten. Der Nutzen einer derartigen Interaktion
läßt sich in drei Punkten zusammenfassen, die in der Reihenfolge zuneh-
mender Allgemeingültigkeit angeordnet sind:

1. Sprachliche Indices liefern ein großes Korpus quantitativer Daten, die den
Einfluß vieler unabhängiger Variablen reflektieren. Es dürfte nicht un-
möglich sein, daß die auf Band aufgenommenen Daten dieser Art von
Soziologen, die nicht in erster Linie Linguisten sind, gesammelt und ana-
lysiert werden. Wenn einmal die soziale Signifikanz einer bestimmten
Sprachvariante, etwa mittels der oben angegebenen Methoden, festgestellt
ist, kann diese Variable dann als Index zur Messung anderer Formen des
Sozialverhaltens dienen: soziale Aufstiegsaspiration, soziale Mobilität und
Verunsicherung, Wechsel der sozialen Schichtung und Segregation.
2. Viele der Grundbegriffe der Soziologie treten in den Ergebnissen der Un-
tersuchungen sprachlicher Variationen anschaulich hervor. Die Sprachge-
meinschaft wird nicht so sehr durch eine ausdrückliche Übereinstimmung
im Gebrauch von Sprachelementen abgegrenzt als durch Teilnahme an
einem System gemeinsamer Normen; diese sind in sichtbaren Formen
wertenden Verhaltens und anhand der Gleichförmigkeit abstrakter Varia­
tionsmuster, die hinsichtlich bestimmter Ebenen des Sprachgebrauchs in-
variant sind, der Beobachtung zugänglich. In ähnlicher Weise ist es mög-
lich, durch Beobachtung des Sprachverhaltens die Struktur der sozialen
Schichtung in einer bestimmten Gemeinde detailliert zu untersuchen. Es
zeigt sich, daß es einige sprachliche Variablen gibt, die mit einer abstrak-
ten Messung der sozialen Position korrelieren, einer Messung, die sich aus
einer Kombination mehrerer ungleichartiger Indikatoren herleitet, wo
aber keine einzelne, weniger abstrakte Messung gleich gute Korrelationen
ergibt.
3. Überdenkt man die Auffassung von Sprache als Form sozialen Verhaltens
genau, so zeigt sich deutlich, daß jeder theoretische Fortschritt in der Ana-
lyse der Mechanismen der Sprachentwicklung unmittelbar zur allgemei-
nen Theorie der sozialen Entwicklung beiträgt. In dieser Hinsicht ist es für
Linguisten notwendig, ihre Methoden der Strukturanalyse zu verfeinern

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und auf den Sprachgebrauch in komplexen städtischen Gesellschaften


auszudehnen. Zu diesem Zweck können sich die Linguisten der Metho-
den der Umfragetechnik bedienen; und was noch wichtiger ist: viele theo-
retische Ansätze der Linguistik können im Licht allgemeinerer Konzepte
des sozialen Handelns, wie sie von anderen Sozialwissenschaften ent­
wickelt worden sind, neu interpretiert werden. Der vorliegende Bericht ist
als ein Beitrag zur Erreichung dieses allgemeineren Ziels gedacht. Es ist zu
hoffen, daß die wichtigsten Leistungen der Linguistik, die vielen Soziolo-
gen früher als fremd und unbedeutend vorgekommen sein mögen, sich
schließlich als Niederschlag von Aktivitäten entpuppen, die den gleichen
Kurs verfolgen wie die heutige Soziologie, und einen wertvollen Beitrag
zum Verständnis der sozialen Struktur und des sozialen Wandels leisten
können.

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