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W. Labov
Den Verfahren der deskriptiven Linguistik liegt eine Auffassung von Sprache
als strukturiertes Gebilde sozialer Normen zugrunde.1 Es hat sich bisher als
zweckmäßig erwiesen, diese Normen, die allen Angehörigen einer Sprachge-
meinschaft gemeinsam sind, als invariant zu betrachten. Eingehendere Unter-
suchungen des sozialen Kontexts, in dem die Sprache gebraucht wird, haben
indessen ergeben, daß viele Elemente der Sprachstruktur sich systematisch
verändern, was sowohl zeitlichen Wandel als auch außersprachliche soziale
Prozesse widerspiegelt. Die folgende Abhandlung bringt einige Ergebnisse
dieser Untersuchungen, in denen ein enger Kontakt zwischen Linguistik und
Umfrage-Methode sowie soziologischer Theorie hergestellt wird.
Als eine Form sozialen Verhaltens ist die Sprache für den Soziologen na-
turgemäß von Interesse. Die Sprache kann dem Soziologen aber speziell
dadurch dienlich sein, daß sie ein empfindlicher Indikator vieler anderer so-
zialer Prozesse ist. Der Wandel im Sprachverhalten übt als solcher keinen
mächtigen Einfluß auf soziale Entwicklungen aus; er beeinflußt auch nicht
nachdrücklich die Lebenschancen des einzelnen; im Gegenteil, die Form des
Sprachverhaltens ändert sich sehr schnell, wenn sich die soziale Stellung des
Sprechers ändert. Diese Formbarkeit der Sprache ist der Grund für ihre au-
ßerordentliche Eignung als Indikator sozialen Wandels.
Phonologische Indikatoren – gestützt auf die Elemente des Lautsystems
einer Sprache – sind in dieser Hinsicht besonders nützlich. Sie liefern ein
großes Korpus quantitativer Daten, die aus relativ kleinen Sprechproben zu
entnehmen sind; es lassen sich aus Gesprächen von nur wenigen Minuten
Dauer über ein beliebiges Thema zuverlässige Indexwerte für verschiedene Va-
riablen ableiten. Die Variationsbreite, in der diese Indikatoren gründen, ist
weithin unabhängig von der bewußten Kontrolle der Versuchspersonen. Zu-
dem zeigen phonologische Systeme von allen sprachlichen Systemen den höch
sten Grad innerer Struktur, so daß ein einziger sozialer Vorgang von korre-
lierenden Verschiebungen mehrerer phonologischer Indices begleitet sein kann.
1 Diesem Aufsatz liegt ein Referat zugrunde, das in einer Podiumsdiskussion über
Soziolinguistik auf einer Tagung der Eastern Sociological Society am 12. April
1964 in Boston gehalten wurde.
Die nachstehend angeführten Beispiele sind einer Studie über die soziale
Schichtung des Englischen in New York City entnommen, insbesondere einer
Sprachaufnahme in Lower East Side.2 Diese Arbeit basiert auf einer davor
durchgeführten Erhebung von sozialen Einstellungen der Bewohner von
Lower East Side, die im Jahre 1961 von der Mobilization for Youth durchge-
führt worden war.3 Die Ausgangsstichprobe der Population von 100000 Ein-
wohnern bestand aus 988 Erwachsenen. Unsere Stichprobe enthielt 195 die-
ser Befragten, die repräsentativ waren für etwa 33 000 Personen mit der Mut-
tersprache Englisch und die innerhalb der letzten zwei Jahre nicht den
Wohnsitz gewechselt hatten. Durch Mithilfe von Mobilization of Youth und
der New York School of Social Work standen uns sehr viele Informationen
über die sozialen Merkmale der Befragten zur Verfügung, so daß wir uns bei
der zweiten Umfrage ganz auf das Sprachverhalten konzentrieren konnten.
81 Prozent unserer Stichprobe wurden in der Untersuchung der Sprache der
Lower East Side erreicht.
In New York City stellen sich einer Untersuchung von Sprachsystemen
einige außergewöhnliche Schwierigkeiten entgegen. New Yorker verfügen über
eine erstaunliche Breite von stilistischen und auch sozialen Varianten, und zwar
in solchem Ausmaß, daß frühere Forscher überhaupt keine Gesetzmäßigkeit
entdecken konnten und zahlreiche Variablen dem reinen Zufall zuschrieben.4
Zur Untersuchung des sozialen Wandels war es zunächst notwendig, inner-
halb des der Sprachanalyse dienenden Interviews eine Anzahl von kontext
2 Ein vollständiger Bericht über diese Umfrage ist in meiner Dissertation an der Co-
lumbia University (1964) enthalten, mit dem Thema „The Social Stratification of
English in New York City“. Die Entwicklung phonologischer Indices und deren
Korrelation mit einem Komplex von sozialen Variablen sind Weiterführungen der
zuerst in „The Social Motivation of a Sound Change“, Word 19, (1963), S. 273–
309 entwickelten Technik. Die Arbeit behandelte den Sprachwandel auf der Insel
Martha’s Vineyard, Massachusetts.
3 Einzelheiten über Stichprobenentnahme und andere bei der Umfrage benutzte Ver-
fahren sind enthalten in „A Proposal for the Prevention and Control of Delin-
quency by Expanding Opportunities“ (New York, N.Y., Mobilization for Youth,
Inc., 214 East Second St. 1961).
4 „Bei sehr vielen New Yorkern zeigt die Aussprache eine Regel, die recht genau als
das Fehlen einer jeglichen Regelmäßigkeit bezeichnet werden könnte. Diese Spre-
cher sprechen manchmal das /r/ vor einem Konsonanten oder vor einer Pause aus,
und manchmal lassen sie es aus, in völlig wahlloser Weise ... Der Sprecher führt
beide Aussprachen die ganze Zeit im Mund; beide scheinen für ihn gleich natürlich
zu sein, und es hängt ganz vom Zufall ab, welche Aussprache ihm über die Lippen
kommt.“ A. F. Hubbell, The Pronunciation of English in New York City (New
York, Columbia University Press, 1950), S. 48.
5 Das hier benutzte Notationssystem sieht folgendermaßen aus: (r) repräsentiert die
Variable, im Gegensatz zur phonemischen Einheit /r/ oder der phonetischen Einheit
[r]. Ein bestimmter Wert der Variablen erscheint als (r-1) oder (r-o), wogegen der
Index-Mittelwert als (r)-35 erscheint. In diesem Fall fällt (r-1) meist mit der phone-
mischen Einheit /r/ zusammen; die bekanntere Notation /r/ wird daher anstelle von
(r-1) gebraucht.
[smt:Iŋ] else.“ Noch häufiger ist eine Affrikate, eine Mischung aus Ver
schluß- und Reibelaut: „I [t:TIŋk] so; [smtTIŋ] else.“ Nach dem phonolo-
gischen Index für (th) bekommt der Reibelaut „0“, die Affrikate „1“ und der
Verschlußlaut „2“; ein Index von (th)–00 würde also den ausschließlichen
Gebrauch von Frikativen anzeigen, ein Indexwert von (th)–200 ausschließ-
lich Verschlußlaute. Ein Sprecher aus der Arbeiterschicht könnte also z.B. in
ungezwungener Rede einen Indexwert von (th)–107, in gehobener Kon
versation von –69, beim Vorlesen von – 48 aufweisen. Eine Frau aus der
Mittelschicht konnte in zwangloser Rede einen Wert von (th)–20 und in
allen mehr formellen Redeweisen –00 aufweisen.
Obwohl bei New Yorker Sprechern ein großer Spielraum hinsichtlich der
absoluten Werte dieser Variablen besteht, herrscht starke Übereinstimmung
hinsichtlich der Gesetzmäßigkeit der stilistischen Variationen. Bei nahezu
80% der Befragten zeigten sich diese Regelmäßigkeiten in einem Zusammen-
hang mit dem Status von /r/ als Prestigesymbol und – bei Verschlußlauten
und Affrikaten – mit dem von /th/ als minderwertige Form.
Diese Regelmäßigkeit der stilistischen Variation ist in erster Linie für For-
scher auf dem Gebiet der Linguistik und der linguistischen Ethnographie von
Belang. Sie ist jedenfalls mit der sozialen Schichtung in New York City eng
verflochten. Dieses stilistische pattern und das der sozialen Schichtung bilden
miteinander die in der Abb. 1 dargestellte komplexe und regelhafte Struktur.
Abb. 1 ist eine graphische Darstellung der sozialen Schichtung von (th),
abgeleitet aus dem Verhalten von 81 erwachsenen Befragten, die in New York
City aufgewachsen waren.6 Die Senkrechte gibt die durchschnittlichen (th)
Indexwerte an, die Waagerechte die vier kontextbedingten Sprechstile. Der
am stärksten informelle Stil, die ungezwungene Rede, erscheint links als A,
gehobene Konversation; das Gros der Interviews als B; der Vorlesestil ist C,
die Aussprache von Einzelworten ist D. Die Werte sind im Diagramm durch
horizontale Linien verbunden, die die Zunahme der durchschnittlichen In-
dex-Werte für die sozio-ökonomischen Gruppen angeben. Diese Gruppen
6 Die Hauptgruppe der Befragten, die aufgrund des linguistischen Fragebogens aus-
führlich interviewt wurden, bestand aus 122 Versuchspersonen. 41 derselben wa-
ren außerhalb der City geboren und in den entscheidenden Pubertätsjahren auch
dort aufgewachsen, hatten aber jetzt ihren Wohnsitz in New York City. Diese Teil-
nehmer ermöglichten eine wertvolle Kontrolle bei der Untersuchung von Sprach-
wandel und Sprachmustern, wie sie typisch sind für New York City. Der hohe Grad
von Regelmäßigkeit und Übereinstimmung, der bei den 81 Teilnehmern aus New
York City zu verzeichnen war, stand in krassem Gegensatz zu den Unregelmäßig-
keiten in den Reaktionen der Nicht-New-Yorker: in vielen Fällen verlief der bei
New Yorkern festgestellte Trend bei den anderen in entgegengesetzter Richtung.
Abbildung 1: Soziale Schichtung einer sprachlichen Variablen mit stabiler sozialer
Bedeutung: (th) in thing, through usw.
7 Die ursprüngliche Umfrage benutzte die Ausbildung des Ernährers, und nicht die
des Befragten. Man war der Ansicht, daß eine linguistische Umfrage den Bildungs-
stand des Befragten als Indikator benutzen sollte, da dieser wohl enger an das
Sprachverhalten als an andere Verhaltensformen geknüpft sein dürfte. Die Gesamt-
korrelationen von Sprachverhalten und sozio-ökonomischer Schicht wurden von
dieser Änderung nicht beeinflußt: es wurden durch die Änderung ebensoviele Ab-
weichungen von der regulären Korrelation hervorgerufen wie ausgeschaltet.
Schichtung aufweist. Die Senkrechte ist der phonologische Index für (r), wo-
bei 100 einen konsequent r-aussprechenden Dialekt bedeutete, und oo einen
konsequent r-freien Dialekt. Die Waagerechte enthält fünf stilistische Kon-
texte, die sich von ungezwungener Rede bei A, über sorgfältige Rede bei B,
Vorlese-Stil bei C, Einzelwörter bei D bis zu D′ erstreckt, wo Wörterpaare
vorgelesen wurden, deren ausschließliche Aufmerksamkeit dem /r/ galt: guard
vs. god, dock vs. dark. Diese Verteilung ist ein Beispiel für das, was als Fein-
schichtung bezeichnet werden kann: eine große Zahl von Unterteilungen des
sozio-ökonomischen Kontinuums, wobei die Schichtung auf jedem stilisti
schen Niveau beibehalten ist. Weitere Untersuchungen des /r/, die in New
York City durchgeführt wurden, stützen die folgende allgemeine Hypothese
über die Feinschichtung von (r): Jede Gruppe von New Yorkern, die in einer
hierarchischen Skala nach nicht-sprachlichen Merkmalen eingeordnet ist,
wird hinsichtlich ihres unterschiedlichen Gebrauchs von (r) denselben Rang-
platz erhalten.
Der Status von /r/ als Prestigeträger wird durch die allgemeine Aufwärts-
richtung aller Horizontallinien in der Richtung von den informellen zu den
formellen Kontexten ausgewiesen. Auf dem Niveau der ungezwungenen, all-
täglichen Rede zeigte nur die Gruppe 9 (obere Mittelschicht) eine signifi-
kante Häufigkeit in der r-Aussprache. Aber in formelleren Stilen steigt der
Betrag der r-Aussprache bei den anderen Gruppen rasch an. Insbesondere
die untere Mittelschicht zeigt einen äußerst raschen Anstieg, der in den zwei
formellsten Stilen sogar die obere Mittelschicht übertrifft. Dieses Kreuzen
scheint auf den ersten Blick eine Abweichung von der in Abb. 1 dargestellten
regelhaften Kurve zu sein. Es handelt sich um ein Bild, das in anderen gra-
phischen Darstellungen auch erscheint: ein ganz ähnliches Kreuzen der un-
teren Mittelschicht erscheint bei zwei anderen phonologischen Indices – of-
fensichtlich bei all jenen linguistischen Variablen, die an einem sprachlichen
Wandel unter sozialem Druck teilnehmen. Andererseits sind die sozialen und
stilistischen Regelhaftigkeiten für (th) mindestens 75 Jahre lang stabil geblie-
ben und lassen keine Anzeichen für ein derartiges Kreuzen erkennen. Daher
muß das hyperkorrekte Verhalten der unteren Mittelschicht als derzeitiger
Indikator eines im Fortgang befindlichen Sprachwandels angesehen werden.
Der lineare Charakter der Zehn-Punkte-Skala für den sozio-ökono-
mischen Status wird durch den Umstand bestätigt, daß sie für viele Sprach
variablen, grammatischer wie auch phonologischer Art, eine regelhafte
Schichtung ergibt. Die Sprachvariablen wurden mit den sozialen Indikatoren
des Produktionsstatus der Versuchspersonen – Beruf, Ausbildung und Ein-
kommen – korreliert, und es erwies sich, daß kein einzelner Indikator so eng
mit dem Sprachverhalten korreliert wie die Kombination aus allen dreien.
Allerdings gibt ein Index, der Beruf und Ausbildung unter Nichtbeachtung
des Einkommens kombiniert, eine regelhaftere Schichtung für die (th) Va
riable. Was die Ausbildung anbelangt, so besteht bei dieser Variablen ein
scharfer Bruch im Sprechverhalten: nämlich nach Abschluß des ersten High-
School-Jahres. Hinsichtlich des Berufs bestehen deutliche Unterschiede zwi-
schen Arbeitern, Angestellten und Akademikern. Kombiniert man diese bei-
den Indikatoren, so ergeben sich vier Klassen, die die Bevölkerung in annä-
hernd gleichgroße Gruppen teilen und für den (th) Gebrauch regelhafte
Schichtung aufweisen. Diese Klassifikation scheint der sozio-ökonomischen
Skala für die Analyse von Variablen wie (th), die in relativ frühem Alter er-
worbene Sprachgewohnheiten reflektieren, überlegen zu sein. Der kombi-
nierte sozio-ökonomische Index, der das Einkommen berücksichtigt, zeigt
dagegen tatsächlich eine regelhaftere Schichtung für Variablen wie (r). Da /r/
ein erst vor kurzem in die Sprache von New York City eingeführtes Prestige-
symbol ist, scheint es folgerichtig – und fast vorhersagbar –, daß es eng mit
einer sozio-ökonomischen Skala korreliert, die das derzeitige Einkommen
berücksichtigt und so den gegenwärtigen sozialen Status der Versuchsperson
genau repräsentiert.
Abb. 3 zeigt die Verteilung von (r) nach Altersstufen, eine Verteilung im
scheinbaren Zeitablauf, die ein tatsächliches plötzliches Ansteigen der sozia
Abbildung 3: Entwicklung der sozialen Schichtung von (r) in ungezwungener Rede
(im scheinbaren Zeitablauf)
len Schichtung von (r) in der Alltagsrede anzeigt. Der Gebrauch in der oberen
Mittelschicht wird durch die horizontale gestrichelte Linie angegeben. Der
Gebrauch anderer Schichten – 0–1: Unterschicht ; 2–5: Arbeiter; 6 –8 untere
Mittelschicht – wird für jede Altersstufe durch eine Anzahl vertikaler Striche
angegeben. Für die zwei höchsten Altersstufen bestehen nur geringe Anzei-
chen für eine soziale Bedeutung von /r/. Es liegt aber von den 40jährigen an
abwärts eine völlig verschiedene Situation vor; hier wirkt /r/ als Prestigeträ-
ger für den Gebrauch allein in der oberen Mittelschicht. Dieser unvermittelte
Wechsel des Status von /r/ scheint mit dem Zweiten Weltkrieg zusammenge-
fallen zu sein.
Bis jetzt haben wir nur einen Aspekt der sozialen Schichtung behan-
delt: die Differenzierung des beobachtbaren Verhaltens. In den neueren
Studien über New York City ist auch der komplementäre Aspekt der so
zialen Schichtung untersucht worden: die soziale Bewertung. Es wurde
ein subjektiver Reaktionstest entwickelt, um unbewußte soziale Reak
tionen auf die Lautwerte individueller phonologischer Variablen zu isolie-
ren. In diesen Tests schätzte die Versuchsperson anhand einer Anzahl kur-
zer Auszüge aus der Rede anderer New Yorker auf einer Skala deren
Berufsposition ein. Kreuzvergleiche ermöglichen es, die unbewußten sub-
jektiven Reaktionen der Befragten auf einzelne phonologische Variablen
zu isolieren.
Abb. 4 gibt den Prozentsatz von Versuchspersonen an, deren Reaktion mit
dem Status von /r/ als Prestigeträger übereinstimmen. Wir sehen, daß alle
Abbildung 4: Entwicklung der sozialen Bewertung von (r) in zwei subjektiven Reak-
tionstests
dafür vor, daß Sprecher der unteren Mittelschicht die stärkste Tendenz zu
sprachlicher Verunsicherung zeigen und deshalb in mittleren Jahren dazu
neigen, die von den jüngsten Angehörigen der obersten Schicht gebrauchten
Prestigeformen anzunehmen. Diese sprachliche Unsicherheit offenbart sich
in dem sehr breiten Band stilistischer Variationen im Gebrauch von Spre-
chern der unteren Mittelschicht; durch ihr starkes Schwanken innerhalb
eines bestimmten stilistischen Kontexts, durch ihr bewußtes Streben nach
Korrektheit und durch ihre stark ablehnende Einstellung gegenüber ihren an
gestammten Sprechmustern.
Ein weiteres Maß für sprachliche Unsicherheit ergab sich aus einem hier-
von unabhängigen Ansatz, der vom lexikalischen Verhalten ausging. Den
Versuchspersonen wurden 18 Wörter mit Aussprachevarianten vorgelegt,
die sich signifikant auf die einzelnen Sozialgruppen verteilten: vase, aunt,
escalator usw. Jedes Wort wurde in zwei verschiedenen Aussprachen angebo-
ten, z.B. [veIz – vAIz], [aent – A’nt], [EskeleIt@ – EskjuleIt@]. Die Teilnehmer
wurden aufgefordert, die ihrer Meinung nach korrekte Form zu bestimmen.
Sodann wurden sie gefragt, welche Form sie selber gewöhnlich gebrauchen.
Die Gesamtzahl der Fälle, in denen die beiden Entscheidungen verschieden
ausfielen, wurde als Index für sprachliche Unsicherheit genommen. In dieser
Messung zeigte die untere Mittelschicht den bei weitem höchsten Grad an
sprachlicher Unsicherheit.
Die soziale Schichtung und ihre Auswirkungen sind nur ein Typus so
zialer Prozesse, die sich in sprachlichen Strukturen widerspiegeln. Die In-
teraktion ethnischer Gruppen in New York City – Juden, Italiener, Neger,
Puertorikaner – spiegelt sich ebenfalls in diesen und anderen sprachlichen
Variablen wider. Bei einigen Variablen nahmen die Schwarzen von New
York City an der gleichen sozialen und stilistischen Variation teil wie die
weißen New Yorker. Bei anderen Variablen besteht eine strikte Trennung
zwischen Weißen und Schwarzen, worin sich der für die Stadt charakte
ristische Prozeß der sozialen Segregation widerspiegelt. Es gibt zum Beispiel
ein phonologisches Charakteristikum der südstaatlichen Aussprache, das
die Vokale /i/ und /e/ vor Nasalen ineinander übergehen läßt: pin und pen,
since und sense sind hier Homonyme: „I asked for a straight (pIn) and he
gave me a writing (pIn).“ In New York City hat diese phonologische Er-
scheinung sich über die ganze schwarze Bevölkerung ausgebreitet, so daß
jüngere schwarze Sprecher diese Verschmelzung regelmäßig vornehmen,
gleichgültig, ob sie in ihrer Rede noch andere Merkmale der Südstaaten
zeigen oder nicht. Dieses sprachliche Merkmal wirkt damit als absoluter
Trennfaktor für die Gruppe der Schwarzen, indem es die sozialen Vorgänge
widerspiegelt, die diese rassische Gruppe als eine Einheit kennzeichnen.
8 Die meisten New Yorker unterscheiden den Vokal von can in ,,tin can“ von dem
can in ,,I can“. Keiner der befragten Puertorikaner gebrauchte diese phonemische
Unterscheidung durchgehend.
1. Sprachliche Indices liefern ein großes Korpus quantitativer Daten, die den
Einfluß vieler unabhängiger Variablen reflektieren. Es dürfte nicht un-
möglich sein, daß die auf Band aufgenommenen Daten dieser Art von
Soziologen, die nicht in erster Linie Linguisten sind, gesammelt und ana-
lysiert werden. Wenn einmal die soziale Signifikanz einer bestimmten
Sprachvariante, etwa mittels der oben angegebenen Methoden, festgestellt
ist, kann diese Variable dann als Index zur Messung anderer Formen des
Sozialverhaltens dienen: soziale Aufstiegsaspiration, soziale Mobilität und
Verunsicherung, Wechsel der sozialen Schichtung und Segregation.
2. Viele der Grundbegriffe der Soziologie treten in den Ergebnissen der Un-
tersuchungen sprachlicher Variationen anschaulich hervor. Die Sprachge-
meinschaft wird nicht so sehr durch eine ausdrückliche Übereinstimmung
im Gebrauch von Sprachelementen abgegrenzt als durch Teilnahme an
einem System gemeinsamer Normen; diese sind in sichtbaren Formen
wertenden Verhaltens und anhand der Gleichförmigkeit abstrakter Varia
tionsmuster, die hinsichtlich bestimmter Ebenen des Sprachgebrauchs in-
variant sind, der Beobachtung zugänglich. In ähnlicher Weise ist es mög-
lich, durch Beobachtung des Sprachverhaltens die Struktur der sozialen
Schichtung in einer bestimmten Gemeinde detailliert zu untersuchen. Es
zeigt sich, daß es einige sprachliche Variablen gibt, die mit einer abstrak-
ten Messung der sozialen Position korrelieren, einer Messung, die sich aus
einer Kombination mehrerer ungleichartiger Indikatoren herleitet, wo
aber keine einzelne, weniger abstrakte Messung gleich gute Korrelationen
ergibt.
3. Überdenkt man die Auffassung von Sprache als Form sozialen Verhaltens
genau, so zeigt sich deutlich, daß jeder theoretische Fortschritt in der Ana-
lyse der Mechanismen der Sprachentwicklung unmittelbar zur allgemei-
nen Theorie der sozialen Entwicklung beiträgt. In dieser Hinsicht ist es für
Linguisten notwendig, ihre Methoden der Strukturanalyse zu verfeinern