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N. d'i. . v e n t a r i o
Unger, Erich:
Politik und Metaphysik / Erich Unger. Hrsg. von Manfred
Voigts. — Würzburg : Königshausen u. Neumann, 1989
ISBN 3-88479-421-3
Erich Unger
Politik und Metaphysik
H . G . Adler
Manfred Voigts
Nachwort
Bibliographischer Anhang
P o l i t i k und M e t a p h y s i k .
3
P o l i t i k und M e t a p h y s i k .
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III.
Aber die Energien, die entstehen, so oft und wo überall die Einsicht gelingt,
daß die Katastrophe dieser Soziologie ewig sein müsse — diese Energien, die
die Luft der politischen Welt laden, werden an einem Kristallisationsgebilde
niederschlagen und sich dort binden. Dieses Gebilde einer Zusammenfassung,
der Träger solcher Kräfte und Einstellungen wird der Ausgangsort einer im Ver-
hältnis zum Einstmals u m g e k e h r t e n Entstehungsart einer unmetaphorischen, im
Reiche des Objektiven, existierenden Gesamtheit: — der psychophysischen (statt
der physopsychischen) Genesis; der naturhaft-bewußten (statt der naturhaft-
unbewußten). Der Ort eines solchen Beginns ist, im Gegensatz zu einer vom
b e s t e h e n d e n Staate abzweigenden Forschungseinrichtung eine v o r der Staaten-
„Wirklichkeit" liegende und solche erst begründende m e t a p o l i t i s c h e u n i v e r -
s i t a s : ein Indifferenzpunkt der soziologischen Realität, aus dem diese überhaupt
erst hervorgeht und ihre Kompetenz nimmt.
Aber das Problem, das diese universitas zu lösen stellt, ist u n m i t t e l b a r
kein p o l i t i s c h e s , sondern ein fundamentales; der f o r m a l e Z u s a m m e n s c h l u ß
zu seiner Lösung ist das Politische an ihr. Das erste » P o l i t i s c h e " , » P o l i t i k "
im » U r a n f a n g * ist z u n ä c h s t u n w i l l k ü r l i c h e B e g l e i t e r s c h e i n u n g einer
s i c h auf w e i t Z e n t r a l e r e s r i c h t e n d e n B e w u ß t s e i n s r e i h e .
Deren w i r k l i c h e Problematik ist identisch mit einem Ausdruck der meta-
physischen und das Soziologische ist hierbei die Hervorbringung einer die Span-
nung zur Auflösung dieser Aufgabe steigernden Atmosphäre, die aus der Aner-
kennung aller der Geltungen sich ergibt, die eine reale Gesamtheit zu konstituieren
vermögen und aus der Bearbeitung desjenigen Feldes, das um jene zentrale Frag-
würdigkeit liegt (Es gilt nicht die »Sammlung von Geistigen« zwecks poli-
t i s c h e r Betätigung — sondern eine Akkumulierung der geistigen Fähigkeit als
s o l c h e r zwecks Bezwingung der ihr an sich, eigentümlich gestellten e r k e n n t -
n i s m ä ß i g e n Aufgabe.)
Das bedeutet den Arbeitsbereich jener metapolitischen universitas durch
folgende Zielsetzungen abzugrenzen:
Es gilt vorerst die Umschaltung in der Wertung der Möglichkeit — Metaphysik:
Gerade die e n t l e g e n s t e philosophische Theoretik ist nicht um »reiner
Erkenntnis" willen da, sondern um der k o n k r e t e n Bewältigung aller Existenz-
Pathologie einschließlich der soziologischen willen — — o h n e um deswillen
» p r a k t i s c h e " »Weltweisheit" werden z u dürfen. D a s Z i e l d e r „ P h i l o s o -
phie" ist n i c h t E r k e n n t n i s , s o n d e r n Bewältigung aller
Konkretheit a b e r d i e s e s Ziel ist nur e r r e i c h b a r , wenn
sie die R i c h t u n g auf r e i n e E r k e n n t n i s innehält.
Das Richtunggebende ist die Dignität und Unaufschiebbarkeit gerade der
empirie- f e r n s t e n Untersuchung und Einstellung.
Die metapolitische universitas i s t gleicherweise selbst der Archetypus einer
realen Einheit wie auch das der Ermittelung der Bedingungen solcher gewidmete
Unternehmen:
Sofern sie das erste ist, k a n n s i e e b e n d a m i t n i c h t u m h i n , bereits
eine bestimmte universale d. i. aber völlig „politikferne" Problem-Gestalt zum
Zentrum ihrer Existenz zu machen; sofern sie das zweite ist, wird sie, auf das
„Bestehende« blickend, in diesem die M a t e r i a l i e n der realen Einheit aufzu-
suchen und so weit dieselben im Vergangenen und Gegenwärtigen den A u ß e n -
a n b l i c k solcher Einheiten darstellen, die Masse des T a t s a c h e n haften zu-
sammenzubringen haben. (Die dennoch beileibe nicht » G e s c h i c h t e « , sondern
Erzielung von Orientierungspunkten in einem h ö c h s t a k t u e l l e n , noch
kaum gegenwärtigen Bereich bedeutet)
Die Untersuchung des W e s e n s d e r r e a l e n E i n h e i t , sofern sie fak-
tisch ist, wird sich in zwei Hauptrichtungen begeben: in die eine: die der
Gewinnung der P r i n c i p i e n z u r K o n s t i t u i e r u n g einer wirklichen (d. i.
als V o l k wirklichen, nicht als Einzelnen-Begriffs-Gesamtheit existierenden) Zu-
sammengefaßtheit, welche Principien identisch sein werden mit bestimmten
psychischen Ausdrücken, die im Zentrum dieses oder jenes realen „Volkes«
gestanden haben oder stehen — und in die andere: die der Sichtung der f
materiellen, p s y c h o p h y s i o l o g i s c h e n Konsequenzen und Er-
scheinungsformen der realen Einheit Zwei sehr umfangreiche Arsenale sind zu
erschöpfen:
Was das sogenannte » K u l t u r - V o l k « angeht, so gibt es Fälle der realen
Einheit nur in der a l t e n Zeit (und nur unter dieser Perspektive wird es gelingen
zu den ebenso provozierenden wie uneinreihbaren Gegebenheiten der „mytho-
logischen Geschichte« überhaupt eine andere als die hilflos umdeutende Stellung
zu finden) — das N a t u r - V o l k existiert in dem Status der wirklichen Ge-
samtheit auch in der g e g e n w ä r t i g e n Periode oder besser: ist in dieser Zeit
vorhanden, weil eine Art „geschichtslosen" Daseins ihm eignet, die es zu einem
Volk einer „ewigen Urzeit" macht, wie es mit gutem Grunde genannt wurde.
Hier ist das p s y c h o p h y s i o l o g i s c h e Material, das auf Kosten einer realen
Volks-B i n d u n g kommt, in Sicherheit zu bringen und zu systematisieren.
Dieser Behandlung des Bestehenden: — einer Sichtung desselben zur k o n -
s t r u k t i v e n Bearbeitung — entspricht eine a b w e h r e n d e : der Zusammen-
tragung der empirisch-vorhandenen Elemente in Fällen der realen Einheit korre-
spondiert die Kritik der ungleich näheren soziologischen Gegebenheiten, die aus
unwirklichen »Gesamtheiten« bestehen, und die Zerstörung dieser Tendenzen zur
metaphorischen Einheit. Hier werden vornehmlich alle I d e o l o g i e n s ä m t -
l i c h e r P a r t e i e n zu treffen und zu destruieren sein, nicht etwa von einer
„übergeordneten" Staatsganzheit aus, die selbst nichts anderes ist als eine Partei,
sondern weil diese Ideologien ständig auf einem nur p e r i p h e r e n Prinzip
ruhen, das eben wegen dieser Peripherität niemals eine wirkliche T o t a l i t ä t
soziologischer Komplexe konstituieren kann, die allein lebendig d. i. katastrophenlos
sein kann und die nur von einem sie universal d. i. z e n t r a l beherrschenden |
Punkt aus ergriffen werden kann also nicht von einer empirischen „Staats"-
ganzheit aus (die doch nur T e i l ist), sondern von einem, logisch erfordert,
u n i v e r s a l e n Hervorbringungs-Ort aus, in dem alle denkbaren peripheren
Gesichtspunkte, alle P a r t e i - Teleologien nicht etwa »verbunden«, sondern auf-
gegangen sind. Aufgehoben aber deswegen, weil der Punkt u m f a s s e n d e r
Perspektive apriorisch v o r h e r die verschiedenen Strebungen konzentrisch ent-
hält, von denen die Parteiformulationen nachträgliche losgerissene Verselbständi-
gungen sind, aus denen nimmermehr eine Einheit »kombiniert" werden kann,
weil diese nur mechanisch ausfallen könnte. Die u m f a s s e n d e metapolitische
Einstellung nämlich enthält die antinomischen Tendenzen zwar miteinander
a u s e i n a n d e r g e s e t z t , aber i m p l i c i t e , weil ihre e x p l i c i t e Form auf etwas
a n d e r e s , nämlich auf den oben bezeichneten erkenntnismäßigen Lösungs-Aus-
druck gerichtet ist — obwohl von diesem Anderen aus nun gleichfalls explicite
ein notwendiges Verhalten derjenigen soziologischen Komplexe analysiert werden
kann, die vpn der Parteidogmatik mit Beschlag belegt werden.
Somit wird die negierende Wirksamkeit der metapolitischen universitas sein:
durch Vergleich mit der an eine E n d g ü l t i g k e i t geketteten soziologischen Rege-
lung die ihrem Wesen nach v o r l ä u f i g e Partei-Systematik zu z e r s t ö r e n : hier
muß j e d e Partei in gleicher Weise zu entlarven sein: denn keine kann an wirklich
übergeordneter Einstellung teilhaben ohne ihren Begriff aufzugeben.
Alle konkreten Versprechungen der Parteien m ü s s e n hinfällig sein, weil
Parteien ihrem Wesen nach (als »Teile" von Natur aus) nicht weit genug gehen
k ö n n e n , da die extremste Radikalität einer T e i l g r ö ß e mit Notwendigkeit —
H y p e r t r o p h i e , damit aber Gewaltsamkeit wird, o h n e diese Hypertrophie aber
jedes Ans-Ziel-gelangen unmöglich bleibt Alle Parteien müssen zu unradikal
bleiben, wollen sie nicht o f f e n b a r e Katastrophenpolitik treiben, alle sind nur vor
die Wahl eines Zuviel oder Zuwenig gestellt und ihrer Natur nach ewig davon
ausgeschlossen den organ-konstituierenden Punkt zu treffen. Dies Bewußtsein
des vollkommen hoffnungslosen und unentrinnbaren Nichts allen parteipolitischen
Aufwandes gilt es hervorzubringen und zwingend überallhin zu fundieren; es
gilt im konkreten Fall die Behauptungen einer Partei zunichte zu machen, nicht
von der Basis ihrer Gegenparteien, sondern von i h r e r e i g e n e n , a b e r g e -
s t e i g e r t e n T e n d e n z aus, die, als in einem übergeordnet Anderem — der
realen Zusammengefaßtheit und ihrer Teieologie — enthalten, auf diese andere
Ebene gebracht, sich nicht nur mit den Prinzipien der Gegenstrebung „verträgt«,
sondern sogar auch deren Intensivierung voraussetzt: wie etwa, wenn es einen
organisch-„natürliehen« „Vertreter" einer Gesamtheit gäbe, (von dem der so-
genannte „geniale Staatsmann" ein zufälliges und einseitig-ungenaues Abbild ist
und von dessen wissenschaftlicher Erfaßbarkeit hier die Rede war), der nicht
durch eine nur-politische Konstruktion dazu »gemacht« ist, — in diesem äußerste
Volksherrschaft und extremste Autokratie in eins treffen müßten.
Der notwendige Abstand jeder Partei-Programmatik, das Zurückbleiben ihrer
eigenen Forderungen hinter den Gegebenheiten, die durch die Seiten der wirk-
lichen soziologischen Ganzheit ausgedrückt werden, und in Sonderheit die
z e i t l i c h e Einstellung der parteihaften Bewegungen sind geeignet, das notwendig
Unzureichende auch bei den Mengen derer sinnfällig zu machen, die die obersten
Bedingungen weder übersehen können noch müssen; die aber durch die Evidenz
jenes Abstandes und der unausweichlichen Alternative zwischen Gewalt oder
ewiger Aufschiebung dennoch in unbegrenztem Ausmaß den Parteien abwendig
gemacht werden können.
Aber eine solcherart zersetzende Auswirkung der nietapolitischen universitas
wäre, sowohl der Entfernung von ihrem Eigentlichen Zentrum nach die ä u ß e r s t e
als auch die ihr sichtbarlich antinomischen soziologischen Gegebenheiten am
drastischsten und leichtesten treffende. Bezeichnender aber, differentialdiagnostisch
die Art und Herkunft ihrer Wirkungen — gegenüber anderswoher kommenden
Angriffen — auf das politische Außen schärfer beleuchtend, schwieriger zu sehen,
aber von größerer symptomatischer Intensität, spannungsvoller ist das Verhalten
der metapolitischen universitas zu dem relativen I n n e n jener Außenwelt, zu deren
u n m i t t e l b a r e r Geistigem: zu deren w i s s e n s c h a f t l i c h & r Erscheinung und zu
jener nach innen hin gewandten Energie, die „Kunst" heißt.
Aus dem Wesen der metapolitischen universitas folgt für das Faktum „Wissen-
schaft" zuerst, daß es eine F r e i h e i t des G e i s t e s genauer eine solche des
F o r s c h e u s im geltenden Verstände nicht geben kann, und wenn auch diese Frei-
heit nicht von außen eingeschränkt werden kann, so ist doch der Geist selbst
eine verbietende und gewährende Instanz und ein prinzipielles Gewähren aller
Geistesbetätigungen liegt dann nicht in seiner Natur, wenn in dieser ein Ge-
richtetsein und eine teleologische Struktur angesetzt ist. Es stünde danach nicht
frei, beliebige Antriebe der Untersuchung, auch wenn ihnen noch so exakt Folge
geleistet werden könnte, und auch wenn sie unter die Kategorie einer bestehenden
Disziplin fielen, unter der Idee der »Wissenschaft" zu begreifen. Zu der bisher
einzigen Bedingung der Wissenschaftlichkeit, nämlich der M e t h o d e des Vor-
gehens, tritt »vielmehr noch die einer von e i n e m o b e r s t e n P r o b l e m - A u s -
d r u c k u n u n t e r b r o c h e n fortlaufend l e g i t i m i e r b a r e n F r a g e s t e l l u n g . Es
hätte die denkbar i n t e n s i v s t e V e r k ü r z u n g des gesamten Wissenschafts-
Bereichs stattzufinden, der zu einer e i n z i g e n Gerichtetheit und Übersehbarkeit
zusammenzuziehen wäre, indem der Abstand, ja der Bruch zwischen der Be-
tätigung auf einem konkreten Erfahrungsfelde und der von diesem abgewandten
Einstellung durch die a k t u e l l s t e , in keinem Moment aussetzende Kommunikation
— indem diese Diskrepanz als Hemmungsmoment einer einzigen Lebendigkeits-
größe so ausgeschaltet wird. Der Riß entstand, indem aller wißbare Inhalt in
das Erfahrungsreservoir und seine Erkenntnis glitt, der „Philosophie" aber kaum
mehr als die F o r m des Wissensmöglichen übrig blieb. Das ist der gegenwärtige
Status. Ist indessen, wie oben gesehen wurde, die o b e r s t e P r o b l e m a t i k
e i n e s o l c h e , daß ihr t r o t z ihres t r a n s z e n d e n t a l l o g i s c h e n C h a r a k t e r s
g e w i s s e Inhalte mit N o t w e n d i g k e i t e i g e n t ü m l i c h v o r b e h a l t e n b l e i b e n ,
so wird der ständig momentane Zusammenhang mit der Erfahrungs-Durch-
forschung bestehen und zugleich eine Architektonik der Fragestellungen, die die
absolute Einheit aller Wissenschaftsbewegung sicherstellt. Die Scheidung in
Materie, als Objekt der Erfahrungswissenschaften und in das (von allem Empi-
rischen möglichst) »reine« Bewußtsein, als Objekt der Philosophie, ergibt mit
Notwendigkeit einesteils die völlige Unverwertbarkeit der „Philosophie" für die
Erfahrung, ^anderenteils ihre absolute Bewegungslosigkeit in bezug auf ihre eigene
Aufgabe. Diese Scheidung involviert Unfruchtbarkeit Gelingt es aber, eine
prinzipielle- und exakte Scheidung in „fremde" und „eigene« Materialität auf-
zuweisen, davon die erste der Naturwissenschaft zu überweisen ist, die zweite
rein durch das Bewußtsein zur Darstellung zu bringen und dem Denken als
solchen zuzuerteilen ist, so enthält die Philosophie nicht nur die für die Auf-
hellung der an sie zu richtenden Forderungen notwendigen Inhalte, sondern
auch einen Angriffspunkt für die E r f a h r u n g — ein Gelingen also, das uner-
läßliche methodologische Bedingungen für eine konkrete Wesentlichkeit und
Weiterbewegungs-Fähigkeit der Philosophie ist.
Aber bei dieser Konzentration, die die Weite und chaotische Verlaufenheit
wieder zu einem bestimmt gerichteten U m r i ß zurückzuholen hätte, würden nicht
wenige wissenschaftliche Unternehmungen fallen. Zahllose Fragen und die von
ihnen motivierten Bearbeitungen, die sich nicht in diesen Nexus einer bestimmten
Struktur eingliedern lassen, hätten zu pausieren und, wenn ihnen eine Legitimierung
durch das oberste Telos überhaupt nicht zukommt, aufzuhören. Das heißt: Das
„Entbehrliche" irgendwelchen Wissens ist oft behauptet worden. Aber diese Be-
hauptung ist im Falle des mangelnden Kriteriums sinnlos, am sinnlosesten aber,
wenn die empirische „Praxis« das Entscheidungsinstrument abgeben sollte. Die
hier bezeichnete Aufgabe aber wäre, auf jede Weise darzutun und im eigenen
Geltungsbereich verbindlich zu erfüllen; nämlich alle „wissenschaftliche« Bewegung,
die über den U m r i ß der auf einem angebbaren Zweck konzentrierten Wissen-
s c h a f t s g e s t a l t u n g — der das Kennzeichen ist — hinausragt, abzuschneiden und
zu verursachen, daß diese Hypertrophien bildenden Kräfte durch Unterbindung
sich in ihrem Anteil an der Konstituierung des e i g e n t l i c h e n teleologischen
Organons entbinden müssen.
Aber diese zu einem Teil auflösende Wirkung der metapolitischen universitas
ist das Anzeichen einer neu auftretenden prinzipiellen Möglichkeit; es ist nämlich
hier dem Gedanken an eine überall denkbare Handhabe Raum zu geben, die
V e r w a n d l u n g eines mit unreduzierbaren Entartungen affizierten Erscheinungs-
zusammenhanges zu erzwingen: es gilt nämlich das .Mittel des E l i m i n i e r e n s
rein als s o l c h e s einmal in Rechnung zu stellen: es ist a priori zu erwarten, daß
eine — wo auch immer angesetzte — umfassende Zurückdrängung und Unter-
drückung an und für sich notwendig eine aus dem Grunde kommende Ver-
änderung heraufbringt und also diese durch jene bedingt ist Dennoch gilt es der
schweren Mißdeutung auszuweichen, als ob so „Negation um der Negation willen«
gefordert würde. Evidentermaßen kann allerdings — da die pathologischen Ge-
gebenheiten in einem solchen verneinten Erfahrungskomplex ohnehin unter der
Perspektive ihrer Aufhebbarkeit resultatlas gewertet werden - nur eine. Untere
bindung von solchen Äußerungsformen jenes Komplexes in Frage stehen, die im
Vorhinein zu den v ö l l i g l e g i t i m i e r t e n g e h ö r e n . Zweifellos nämlich ist gerade
die Konzentration der angreifenden Strebungen auf die als K r a n k h e i t s h e r d e
erkannten soziologischen Gebilde, welche eine p o s i t i v e Wertung der übrigen
impliciert, Ursacheder unablässigen Sterilität dieses Vorgehens — diese Beschränkung,
die ersetzt werden muß durch eine bei weitem umfänglicher ausgreifende Bearg-
wöhnung gerade der »gesundesten" und erstrebtesten Gegenden geistiger Wirksamkeit
Denn: wenn die ewige Unlösbarkeit der katastrophalen Phänomene nicht
schicksalmäßig „in der Natur der Sache« liegen, sondern einen Grund haben soll,
so muß realiter allerdings ein unterirdischer Zusammenhang, ein sonst verborgener
Ausdruck g l e i c h l a u f e n d e r Tendenz der ständig unheilvollen und der immer von
aller „Schuld" freien Gebiete menschlichen Agierens zu Tage kommen.
Die Idee ist also diese:
Einer an unheilbaren Mißbildungen erkrankten Erfahrungs-Gesamtheit gegen-
über erweist sich der Angriff auf die als entartet e r k e n n b a r e n Komplexe ständig
als fruchtlos, während einer Zeitdauer, die rein als solche ein maßloses Mißver-
hältnis und eine Fehlerquelle bedeutet (Denn die Welt hat nicht für Alles „ewig«
„Zeit".) Es gilt sich also darauf zu besinnen, daß es ein Mittel der Umwandlung
jener Gesamtheit auf jeden Fall gibt: die Unterdrückung von Energien schlecht-
hin, rein als solche. Diese ist gleichsam a priori gegeben.
Davon fortschreitend wird die Überlegung überhaupt erst darauf geführt,
völlig gerechtfertigte, ja geförderte Phänomene unter der Perspektive ihrer Negierung
zu sehen, um auf diese Weise, heuristisch, zu der Auffindung einer bis dahin ver-
borgenen Identität gewisser konkreter „schuldloser«, ja höchstgewerteter Daseins-
äußerungen mit jenen schuldverstrickten gebracht zu werden.
Nun aber genügt dieses, obzwar von einer ratio geführte, aber dennoch
vornehmlich, zur Willens-Bestimmung vorangehend notwendige Prinzip allein
weder zu der Auffindung des angedeuteten nicht offen liegenden Zusammenhanges
noch zu der konkret durchzusetzenden Zurückdrängung völlig anerkannter und
nicht nur anerkannter Erscheinungen. Was vorerst die Sichtbarmachung jenes
Konnexes zwischen dem intensivst beanstandeten Gebiet: — dem der soziologischen
Problematik — und irgendwelchem anderen noch unbekannten bisher gültigen
Tätigkeits-Feld des Geistes antrifft, so ist klar, daß es eines Dritten bedarf: eines
tertium comparationis, eines Berührungs-Zentrums, an dem gemessen, solcherlei
Zusammenhänge überhaupt erst evident werden können. Dieses Dritte aber ist
die wissenschaftlich transzendentale Einstellung. Deren Antithetik mit der em-
pirisch-soziologischen Pathologie ist hier auseinander gelegt worden. Hätte diese
Einstellung n o c h m i t e i n e r a n d e r e n feindlichen Einwirkung zu rechnen, so
wäre diese als eine mit dem befehdeten soziologischen Status v e r b u n d e n e , ihn
auf irgend eine Weise stützende Instanz zu werten.
Es gibt nun einen Komplex von Bezeugungen, die den Argwohn auf sich
lenken, im Effekt jener von Grund aus anhebenden Orientierungstendenz e n t -
g e g e n z u a r b e i t e n , indem sie die Intensität eines r e a l e n , zu entscheidenden
Hervorbringungen in der soziologischen Welt (und damit nicht nur in dieser)
fähigen, metaphysischen Ansatzes dauernd ablösen.
Der Verdacht: Ursache davon zu sein, daß es nie zu einer metaphysischen
Spannung kommt — die in ihren Konsequenzen unabsehbare Anschuldigung,
diese hervorbringende Spannung i m m e r w i e d e r d u r c h ein E r s e t z e n i h r e r
a b z u s p a n n e n , trifft alle Kunst in b e i n a h e s ä m t l i c h e n w e i t e n Be-
reichen ihrer Erscheinungsformen.
Hier ist nun die an die anderen Unternehmungen der metapolitischen uni-
versitas anschließende Aufgabe von allesbedingendem Gewicht: zu entscheiden
über die Möglichkeit einer maßlos zerstörerischen Gewalt, die unablässig das Ent-
stehen einer realen metaphysischen Konzentration auflöst, indem sie ihre eigenen,
j e n e r ä h n l i c h e n Wirkungen unterschiebt — durch umfängliche Untersuchungen
wäre die Gewißheit zu schaffen über das Bestehen einer Macht, die die Ansamm-
lung jener empiriegründenden Intensität durch ihre eigenen „kleinen" trans-
empirischen Entladungen ableitet oder verteilt und „unschädlich" macht, damit
aber der katastrophalen Außensphäre von ihrem gefährlichsten Gegner hilft — —
es wäre strikt zu entscheiden, ob Kunst nicht so eine tiefe Gemeinsamkeit mit
jenem Außen bilde und dessen ebenbürtiges „Innen" abgebe.
DieseVielheits-Problematikistaberzugleichinnerstes
T h e m a und A u f l ö s u n g s - P u n k t a l l e r F r a g w ü r d i g k e i t , die
p o l i t i s c h h e i ß e n kann. Und indem jenes Problem die der Erkenntnis
als solcher zugehörige, eigenste, nicht von außen ihr „aufgegebene" Angelegenheit
ist, ist die solcherart d e t e r m i n i e r t e Erkenntnis zugleich die n e u t r a l e
d. i. nicht von außen „bestimmte", nur den eigenen Motiven folgende ist
das keineswegs als „politische Philosophie" zu begreifende Erkennen ü b e r h a u p t ,
dennoch das D e n k e n d e r P o l i t i k .
Das Ziel der Gesamtheit ist das gleiche wie das des Einzelnen; das der
„Politik" — auch der materiellsten — das gleiche wie das des Einzeldaseins: und
nur durch beider Verknüpfung zugänglich: eine Verknüpfung, die für das Vielheits-
Ganze die Lösung der materialen, für den Einzelnen die Lösung der theoretischen
und personalen Problematik ergibt; und für beide die Erfaßbarkeit und Handhabung
einer bis dahin transzendenten Sachlage.
2. Veröffentlichung:
Zu den geistigen Verlusten der zwölf unheilvollen Jahre gehört das Vergessen eines
der tiefsinnigsten Philosophen, die unser Jahrhundert hervorgebracht: Erich Unger.
Seine nicht sehr zahlreichen Werke sind bis auf das im Buchhandel noch erhältliche
grundlegende Buch „Wirklichkeit, Mythos, Erkenntnis" (Oldenbourg, München
1930) und den zwei Essays vereinigenden Band „The Imagination of Reason" (Die
Imagination der Vernunft" — Routhledge & Kegan Paul, London 1952) schwer zu-
gänglich, längst vergriffen oder zu einem bedauerlich großen Teil durch die Ungunst
der Umstände nie gedruckt worden. Diese Ungunst, 1933 hereingebrochen, wurde
auch seit 1945 nicht überwunden, wozu, außer den schwierigen Verhältnissen der er-
sten Nachkriegszeit, Ungers langjährige Krankheit und sein vorzeitiger Tod beige-
tragen haben.
Dies ist umso mehr zu beklagen, als Unger heute dazu berufen wäre, den philoso-
phisch Interessierten, aber auch Theologen, Erforschern von Religion und Mythos
wie allen, die um eine einheitliche, doch umfassende Anschauung vom Menschen
und seiner Welt bemüht sind, ein Helfer und Lehrer zu sein. Ein Lehrer, wie er es für
viele war, die das Gück seines persönlichen Umganges, seiner einprägsamen, scharf-
sinnigen, dabei des Humors nicht entratenden Unterweisung genossen. In unge-
wöhnlichem Maße war ihm die Gabe beschieden, nicht nur sein eigenes Denken,
sondern auch die Meinungen anderer, die Lehrgebäude der großen Philosophen, al-
ler Zeiten und Richtungen so durchsichtig und objektiv vorzutragen, als handelte es
sich um seine eigenen Anschauungen, mochte er selbst zu ihnen in entschiedenem
Gegensatz stehen. Diese Kraft, fremde Auffassungen gerecht zu vertreten, ohne sein
persönliches Urteil zu trüben, lenkte Unger auf eine Bahn, die ihm, ohne die Un-
gunst der Epoche, längst eine Geltung gesichert hätte, während sie jetzt erst mühsam
durch Herausgabe und Erschließung seiner wichtigsten Schriften neu zu gewinnen
bleibt. Als die böse Zeit hereinbrach, arbeitete Unger an einer Darstellung der
Hauptströmungen in der jüngsten Philosophie. Der angesehene Verlag, der ihn dazu
beauftragt hatte, löste wegen der nationalsozialistischen Gesetzgebung den Vertrag,
das Werk wurde nicht fortgeführt; der erwünschte Weg eines Präzeptors der Philoso-
phie war versperrt.
Erich Unger wurde am 25. Oktober 1887 in Berlin geboren, im gleichen Jahre
wie Georg Heym, mit dem er gut bekannt war, ein Jahr nach Gottfried Benn, der in
einem seiner letzten Bücher ihn gepriesen hat. So gehörte Unger generationsmäßig
zu den sogenannten „Expressionisten", mit denen er in seinen Anfängen, kaum
aber später, einiges gemeinsam hat. Nach dem Besuch eines Berliner humanistischen
Gymnasiums studierte er in Berlin, München und Erlangen Philosophie. In Erlan-
gen promovierte er unter Professor Hensel. Schon vor 1914 publizierte er in Zeit-
schriften wie im „Sturm", in der „Aktion" und in der „Zukunft". Später schrieb er
gelegentlich für die Zeitschriften „Der Morgen", „Der Jude" und für die „Vossische
Zeitung". Unger geriet in den Bannkreis der Lehren Oskar Goldbergs, wie sie dieser
im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts in seiner Pentateuch-Exegese entwickelt und
1925 als „Die Wirklichkeit der Hebräer" herausgegeben hat. Die Deutungsweise
Goldbergs, so anregend wie umstritten, hat ihren besonderen Sinn darin, daß sie den
biblischen Text, vom Rationalismus wie von moderner religiöser Demutshaltung
oder mystischer Spekulation gleich entfernt, als Hinweis auf eine mythische Realität
auffaßt, die zwar gegenwärtig — für das aktuelle menschliche Bewußtsein — nicht re-
al ist, aber aus dem Text des Pentateuchs erschlossen werden kann. Goldbergs Be-
trachtungsweise des Mythos, der zumindest eine Realität war, wie sie einem mythi-
schen und vorrationalen (deswegen freilich keineswegs un-vernünftigen) Bewußtsein
entsprach, das die Fülle des Existenten in einer Einheit, also nicht in der Spaltung
verschiedener moderner Tätigkeitsgebiete menschlichen Trachtens wie Religion,
Mystik, Philosophie, Wissenschaft und Kunst begriff, wurde zum Ausgangspunkt
für Ungers Philosophie. Er vertrag eine Gesamtanschauung vom Menschen, der das
Existierende unter vielerlei Zeichen, aber als eine Einheit begreifen kann, zumindest
als Einheit in der Wurzel und im Ziele aller Erkenntnis.
Damit hatte sich Unger vom idealistisch-materialistischen Antagonismus fast al-
ler abendländischen Philosophie gelöst und sich vom Denken nach erstarrten Schul-
richtungen befreit. Hatte Schelling im Alter die Geschichte des Weltgeistes in einer
Philosophie des Mythos und der Offenbarung nachgezeichnet, so hat Unger den
Mythos als realen Kontrast unserer unmythischen Realität verstanden und es unter-
nommen, aus beider Vergleich und Unterscheidung zu philosophieren. Er hat des-
halb keine Philosophie des Mythos geliefert, sondern mit Hilfe der Erkenntnis des
Mythos als Wirklichkeit philosophiert. Der Mythos wurde nicht als Dichtung be-
griffen, nicht als Vorstufe der Religion, Theologie, Philosophie und Wissenschaft,
auch nicht als psychologisches Glaubensphänomen, ebenso nicht als mystischer
Schluß emotioneller Gleichsetzungen des Ichs und der Universalien, nicht einmal als
Magie und noch viel weniger als okkulte vorzeitliche und in die Gegenwart ragende
prärationale Übung, sondern als eine sinnliche Teilnahme an übersinnlichen Offen-
barungen, wie sie in altbiblischen, doch auch in anderen urtümlichen Zeugnissen ge-
schildert und heute gewöhnlich Wunder genannt werden. Diesen Wundern wohnt
nach Goldberg und Unger ein objektiver Charakter inne; sie sind wirklich gesche-
hen, sie sind nicht als Allegorie, als Symbol, als dichterische Zutat zu bewerten, sie
stellen aber auch bestimmt kein nur psychologisches Phänomen dar. Nein, sie sind
essentiell gegründet, sie haben einen ontologischen Gehalt. Es ist Ungers bleibendes
Verdienst, diese Anschauung vom Mythos in die logische Philosophie, in die Be-
griffssprache des modernen Denkens eingeführt zu haben. Das ist zuerst 1925 in dem
eigenartigen Buch „Gegen die Dichtung" geschehen. In späteren Jahren ist Unger
von diesem, seinem am kunstvollsten gestalteten Werk, teilweise in Dialogen, wohl
nicht gedanklich, aber formal etwas abgerückt, da er die radikale Schärfe des nicht
nur äußerlich mit Piatos dichtungsfeindlichem Standpunkt berührenden Denkens so
nicht aufrechterhielt. Allerdings war die Dichtung eine Gefahr, sobald sie andere
Leistungen des menschlichen Geistes, usurpieren oder verdrängen wollte, wenn sie
etwa die letzten Ziele der Menschheit zu vertreten vorgab, die politisch wie theolo-
gisch, religiös wie wissenschaftlich verstanden, nicht auf dem Wege der Kunst und
namentlich nicht der Dichtung zu gewinnen waren, obwohl und gerade weil poeto-
logische Momente der alten mythischen (nicht mythologischen) Dokumente im
Mißbegriff dazu verleiten konnten, die ersten und letzten Dinge nur im ästhetischen
Bilde, doch nicht in der gesamten realen Existenz zu verwirklichen. Sollte die onto-
logische Würde des Mythos unangetastet hergestellt werden, dann war die Dichtung
als ihr Ersatz und mögliches Zerrbild zu verneinen.
So sollte Ungers Philosophie eine praktische Philosophie werden. Praktisch ist
hier nicht so zu begreifen, daß nun unmittelbar das Praktische auch schon durch-
führbar wäre und die Rezepte sich dafür angeben ließen. Zu dieser Praxis, so er-
wünscht sie ist, fehlen die konkreten Voraussetzungen — das heißt: dem wider-
spricht der aktuelle Zustand der Welt. Praktisch kann hier nur meinen, daß dem
Umkreis der mythischen als realhistorischen Betrachtungsweise in das moderne
Denken als praktische Möglichkeit einbezogen wird, daß demnach unsere Auffas-
sungen vom Sein und von den empirischen Zugängen zum Erlebnis dieses Seins be-
reichert werden und sich nicht vor Einsichten versperren, die man gemeinhin — in
statischen Dogmen befangen — als unpraktisch, unverbindlich, als psychologische Il-
lusion abtut. Diese Illusion bedroht uns nur dann, wenn wir unser gegenwärtiges
Dasein zusammenhanglos betrachten, gleichsam nur als eine Sammelstätte beliebiger
psychischer Gegebenheiten, die das im Augenblick Unübersteigbare unserer
menschlichen Beschränkung als für alle Zeiten stets unübersteigbar postulieren. Die-
se unleugbar aktuelle, aber nicht zu verewigende, darum auch nicht ewige Beschrän-
kung aufzuzeigen, hat Unger in seiner kleinen Schrift „Das Problem der mythischen
Realität" von 1926 und in dem schon erwähnten großen Werk „Wirklichkeit, My-
thos, Erkenntnis" von 1930 unternommen. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß
hier entwickelt wird: was war, was ist, was sein könnte. So gelangt Unger — wie
schon vor ihm Schelling in anderem Zusammenhang — zur Betrachtung des Experi-
mentes und des Experimentierbaren in der Philosophie. Er lehrt:
„Die Herstellungs-Funktion der philosophischen Überlegung bedeutet eine ei-
gentümliche Einheit von Betrachten und Tun. Diese Einheit erscheint von den ge-
genwärtig herrschenden Standpunkten der Philosophie aus leicht als jene pragma-
tisch-psychologistische Vermengung der Geltungs- und der Seinssphäre, mit der sie
in Wahrheit nichts zu tun hat.
Die herrschende Erkenntnistheorie, welche die Erkenntnisvorgänge nach ,Psy-
chologie' und ,Logik', nach ,Erfahrung' und ,Geltung' aufspaltet, vollzieht diese ra-
dikale Trennung mit Recht, solange die psychologische Situation als einheitlicher
Komplex der Geltungs-Situation als ebenfalls einheitlichem Komplex gegenüberge-
stellt werden kann. Anders aber würde die Sachlage mit Notwendigkeit werden,
wenn diese beiden einheitlichen Gesamtkomplexe des Erkenntnis- Vorgangs und des
Erkenntnis-/»Ä<t/£s, ein jeder in sich, in unterschiedliche Regionen sich zerlegen lie-
ßen, die nun eine deutliche parallelistische, regionsweisende Zuordnung zwischen
den Komplexen aufwiesen. Ergäbe sich hier eine Systematik dieser Zuordnung, so
könnte der einer bestimmten Geltungs-Konzeption zugehörige Tatbestand nicht
mehr als ,sachlich unerheblich' bezeichnet werden, soll nicht die Zuordnung unver-
ständlich werden."
„All dies zeigt, daß schon in der .gewöhnlichen' philosophischen Besinnung,
wenn man die Akzentuation ihrer Ergebnisse als endgültiger Wahrheiten unterläßt
und ihnen den Charakter eines bloßen .Materials' der Wirklichkeits-Umformung
zuerkennt, das Merkmal eines Tuns steckt, das nicht als empirisch-psychologisches,
sondern als ein Sachverhalt durch das Mittel der Bewußtseinslagenänderung ent-
deckendes Tun begriffen werden muß — kurzum, als der Beginn des .Experiments
der Philosophie'."
Der Philosophie Ungers war eine zu kurze Entfaltungszeit beschieden, um in
Deutschland und von hier aus in anderen Ländern sich zu verbreiten, wenn sie auch
Widerhall und manche Zustimmung fand, wovon noch mancher weiß, der über 50
Jahre alt ist. Vielleicht war es ihm gar beschieden, in Berlin Gast im Hause Ungers
gewesen zu sein, wo er mit seinen Freunden Joseph Markus und Adolf Caspary im
Jahre 1927 die „Philosophische Gruppe" gründete. Allwöchentlich kam man abends
— 50 oder 60 Leute faßte der Raum in der Charlottenburger Uhlandstraße — und
blieb gewöhnlich bis tief in die Nacht beisammen. Bis Anfang 1933 bildete die Grup-
pe einen Mittelpunkt des Berliner kulturellen Lebens. Oft wurde ein philosophi-
scher Text, etwa Plato, gelesen und gründlich ausgelegt. Vertreter fast aller Geistes-
richtungen trafen zusammen und behandelten in Rede und Widerrede, wobei jedem
freie Äußerung gewährt war, Themen über verschiedenste Wissensgebiete: sei es nun
philosophischer Positivismus, mathematische Logik, Naturwissenschaft, Grundla-
gen der Mathematik, Technik, Kunst, Geschichtsphilosophie, Marxismus und vieles
andere mehr. Unvergeßlich wurden diese Abende jedem, er auch nur einigen bei-
wohnte, und mancher erinnert sich, mit welch belebender Kraft Unger Ansichten
zusammenfaßte und in dieser freiesten Akademie des Geistes auftauchende Konflik-
te überlegen und einfach fruchtbar machte, dabei stets straff, doch ohne daß Bitter-
keit aufkam. So leitete Unger diese Abende überlegen und mit unbezweifelter Auto-
rität.
Das nationalsozialistische Regime setzte der „Philosophischen Gruppe" und Un-
gers publizistischer Tätigkeit ein jähes Ende. Er und die anderen Stützen der Grup-
pe, meist waren es Juden, verließen Deutschland nicht später als am 1. April 1933,
dem Tage des .Judenboykotts", den Unger richtig nicht als einmalige Ausschrei-
tung, sondern als den Anfang viel schlimmerer Übel noch begriff. Unger wandte
sich zunächst nach Prag, ging wenige Monate später nach Paris und schließlich 1936
nach England, wo er in Oxford und in seinen letzten Jahren in London mit Würde
in dürftigen Umständen lebte. Seit 1943 herzleidend, ist Erich Unger am 25. Novem-
ber 1950 in London gestorben. Auch in Frankreich und England hielt er Vorträge,
aber ein Kreis bildete sich nicht wieder, zumal die engsten Freunde aus Berlin jetzt
in aller Welt zerstreut waren. In England arbeitete Unger an einer Übersicht über
zeitgenössische englische Philosophie und an einer Darstellung der jüdischen Philo-
sophie der letzten 50 Jahre. Vollendet wurde neben vielen kleineren Schriften, von
denen nur ein Teil in französischen, englischen und amerikanischen Zeitschriften ge-
druckt wurde, zwei umfangreichere Bücher, Ungers reifste Gaben, die noch der Ver-
öffentlichung harren: „Warum die Philosophie keine Wissenschaft ist" und „Das Le-
bendige und das Göttliche". In die Problematik des zuletzt genannten Werkes führt
der nachstehende Aufsatz ein.1 Knapp und kristallen enthält er die Quintessenz sei-
nes reifsten Denkens. Alle Gedanken in sich verschränkt, dennoch alle aufeinander
bezogen, stehen sie, wenn dieses Sprachbild gelten darf, in monumentaler Schlicht-
heit vor uns; sie weisen das Nächste und Fernste im realen wie idealen Treffpunkt
des Jetzt und Hier. Dieser Treffpunkt ist die Mitte des Menschen, also sein Geist als
Organ der Erkenntnis, sein erst durch Einsichten wirksames Dasein. Dieses Dasein
blickt auf den wirklichen Gott als erste und fortbestehende Ursache, die ent-fernt,
aber nicht deistisch in der Zeit ungültig — und in diesem Sinne dann doch unwirk-
lich — sein kann, und so wird dieses Dasein, menschliches Dasein, des Weges der
Menschheit und mit ihr alles Geschaffenen inne, wie er von der Urzeit des Anfangs
zur Urzeit des Endes endgültig bestimmt, aber der Freiheit unserer Entscheidung
überlassen ist. Das Endgültige kann hinausgeschoben, es kann vertagt werden; dann
halten wir es auf und stehen in der Schuld. Der Ablauf der Geschichte, der als Evolu-
tion das von Gott gegebene Zeichen unseres kollektiven wie individuellen Daseins
ist, wird durch die Schuld scheinbar aufgehalten, weil sie in Verstrickung und kausa-
ler Abfolge diesen Ablauf, als Dauer verstanden, verlängert, ihn fast zu verhindern
und aufzuheben droht, während wir, auch wenn wir nicht an die Gültigkeit des gött-
lichen Gesetzes glauben, die Geschichte als Gericht, als Gerechtigkeit erleben und
als Gerechtigkeit auch erschauen können. Alles, was im göttlichen Plane nicht ge-
wollt (doch zugelassen) ist, von uns aber gewollt wird, verwandelt sich in das Wir-
ken der zu erleidenden Gerechtigkeit; die Erfüllung des Gewollten ist der uns vorge-
schlagene Weg, sein Verfolgen die Evolution von der Erschaffung unserer Welt bis in
das ihr bestimmte letzte Ziel.
Mit diesem Augenblick ist die Richtung gewiesen, die einzuschlagen wäre, wenn
man die Philosophie Erich Ungers erschließen und sich aneignen will.
Nachwort
Was Erich Unger 4 mit ,Politik und Metaphysik', seiner ersten Buch Veröffentli-
chung 5 , 1921 vorlegte, war ein umfassender Entwurf einer Neufundierung von Poli-
tik. Dreh- und Angelpunkt seiner Überlegungen ist die Verkoppelung des psycho-
physischen Problemes mit dem Begriff des Volkes. Dem entspricht der Aufbau des
Werkes: Der erste Teil setzt sich kritisch mit bestehenden Vorstellungen von Politik
auseinander und weist die zentrale Stellung des psychophysischen Problemes nach,
der zweite Teil entwickelt den metaphysischen Volks-Begriff, der dritte Teil stellt die
Grundlagen einer neuen Politik dar.
Dieser Aufbau des Werkes hängt zweifellos auch mit seinem Verhältnis zu Oskar
Goldberg (1885-1952) zusammen. Beide kannten sich schon vom Berliner Friedrichs-
Gymnasium her. Zurecht galt der zwei Jahre jüngere Unger als Goldbergs Schüler,
Wer die geläufige Vorstellung von Politik — damals wie heute — zentral angreifen
will, muß auf den Begriff des Kompromisses zielen, wie dies Unger hier (S. 8) getan
hat. Unger spricht dem Kompromiß, den Georg Simmel „eine der größten Erfin-
dungen der Menschheit" 11 genannt hat, die Möglichkeit ab, einen .Maßstab des
Rechts' zu bilden. Wer den Kompromiß ablehnt, der lehnt die Parteien und die De-
12 Felix Weltsch: Das Wagnis der Mitte, Sttg./Berlin/Köln/Mainz 1965, S. 25; Nachdruck der Erstausga-
be 1936
13 ebd. S. 76 und 78 (im Orig. gesperrt)
14 Helmut Thielicke: Theologische Ethik, II. Bd. I. Teil, 3. Aufl. Tübingen 1965, S. 190; zit. nach: Ger-
hard Zacharias: Der Kompromiß, München 1974, S. 82
15 Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 4. Aufl. Tübingen 1968 (Wissenschaft als
Beruf), zit. ebd. S. 11
dert, der Ausgleich wirkt mechanisch"
(S. 8) Die Interessen, die sich im Kompromiß
treffen, haben sich autonom gesetzt, die theologische Figur — so schon Max Weber
—, die dem Kompromiß entspricht, ist der Polytheismus 16 . In demselben Sinne deu-
tete auch Günther Anders den modernen Pluralismus als Polytheismus, ja Polykos-
mismus 17 : Da die „diversen, unendlich vielen Götter" nichts miteinander zu tun ha-
ben, ergebe sich keine übergreifende Ordnung. „Und deshalb ist der heutige Poly-
theist...,weltlos'. Denn wo das Götterchaos herrscht da bleibt auch unsere subluna-
re Welt chaotisch; da kristallisiert sie sich nicht zu etwas, was wir ,Welt', gar eine
,Welt' nennen dürfen." 18 Auch Unger sprach von der .politischen Chaotik' und gab
als Ursache an: „Die Ganzheit ist aus dem ganzen Umkreis der Teile nicht zu ermit-
teln, weil die Teile verselbständigte
Teile sind." (S. 9)
Und damit befinden wir uns schon mitten in'der gegenwärtigen Diskussion um
politische Theologie, polytheistische und polymythische Politik, wie sie von Hans
Blumenberg, Odo Marquard und anderen geführt wird 19 — dies kann hier nicht ein-
mal angedeutet werden. Dennoch muß auf den entscheidenden Punkt hingewiesen
werden: Wenn Unger die Geschichte als .Mißlingen' und den Mythos als .Gelingen'
bezeichnet (S. 4), wenn Odo Marquard eine .Polymythie' fordert 20 , dann geht es
dem einen um Realität und dem anderen um Interpretation. Marquard setzt auf „je-
ne Metaphysik, die so viele Antworten produziert, daß sie einander wechselseitig
neutralisieren, und gerade dadurch — teile und denke! — die Probleme offenläßt" 21
— und verkürzt die Metaphysik auf diesem Wege zur Hermeneutik. Unger ver-
knüpft, wie wir sehen werden, die Metaphysik mit dem psychophysischen Problem
und versucht den Beweis zu erbringen, daß auch die Metaphysik sich mit Realien be-
faßt, nicht mit irgendwelchen ,bloß geistigen' Dingen.
Gerade gegen die .Geistigen', gegen den literarisch-politischen ,Aktivismus' (S.
10) hat Unger sich am entschiedensten gewendet: „Diese Wirtschaftswelt und diese
— scheinbar doch ganz heterogene — .geistige' Welt mitsamt ihren das Wirtschafts-
dasein revolutionierenden Forderungen... bedingen einander." (S. 13) Ein Vergleich
mit einem der wichtigsten Texte des Aktivismus kann die Position Ungers verdeutli-
chen: Ludwig Rubiner schrieb für die .Aktion', in der auch Unger veröffentlicht hat,
den Beitrag ,Der Dichter greift in die Politik'. Auch Rubiner fordert: „Nieder mit
16 ders. in: Schriften zur theoretischen Soziologie und zur Soziologie der Politik und Verfassung,
Frankfurt/Main 1947, S. 20 f.
17 Günther Anders: Mensch ohne Welt, München 1984, S. X V I
18 ebd. S. XVIH
19 hier sei nur hingewiesen auf die entsprechenden Beiträge in: Jacob Taubes (Hrsg.): Der Fürst dieser
Welt, München u.a. 1983
20 Odo Marquard: Politischer Polytheismus, in: ebd. S. 82
21 ders.: Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1986, S. 20; s. hierzu schon: Walter Bröcker/Heinrich Buhr: |
Zur Theologie des Geistes, Pfullingen 1960, S. 12 . »
den Demokraten!" 22 , auch Rubiner stellt sich gegen die Vorstellung einer schrittwei-
se sich vollziehenden Entwicklung zum Besseren — dennoch nehmen Unger und
Rubiner diametral entgegengesetzte Positionen ein. Unger konstatiert ein heilloses
Chaos und sein Ziel ist eine .unkatastrophale Politik" (S. 3), Rubiner sieht verstei-
nerte Verhältnisse, die es durch Katastrophen zu beenden gilt: „Und jede Idee ist eine
Katastrophe , . . " 2 3 . Rubiner kommt es darauf an, „Erschütterungen zu erzeugen" 24 ,
ein politisches Ziel konnte, ja wollte er nicht vorgeben: „Es gilt nur, daß wir schrei-
ten. Es gilt jetzt die Bewegung. Die Intensität und den Willen zur Katastrophe." 23
Die hier geforderte ,Intensität' bezieht sich allein auf den Einzelnen, während Un-
gers Vorstellung einer .Steigerung' der menschlichen Möglichkeiten (S. 40 und 57)
sich ausdrücklich als soziologische Kategorie versteht (S. 18): „Die Philosophie wird
sich nicht weiter bewegen als durch die Stellung und Beherrschung des Problems der
Auswertbarkeit einer extensiven Gegebenheit, jener Mehrfachheit, für eine intensi-
ve." (S. 57) Eine Intensivierung der Möglichkeiten, die Lebensbedingungen der Men-
schen zu beherrschen, sieht Unger allein auf der sozialen Ebene, genauer: bei den
metaphysischen Völkern. Darum ist für ihn der entscheidende Punkt der Argumen-
tation die Verbindung des psychophysischen Problemes (im Individuum) mit der
Gründung des metaphysischen Volkes.
Indem wir einen letzten Vergleich von Rubiner und Unger vornehmen, gelangen
wir genau an die Ausgangsproblematik des psychophysischen Problemes. Rubiner
sah sich unter einem großen Zeitdruck: „Wir können es nicht länger aushalten. . . .
(Der Dichter) spreche auch zu denen, die nicht warten können — wie er nie warten
konnte." 26 Gerade hier setzt Unger mit seiner entscheidenden Kritik des .Geistigen'
an, indem er feststellt, „daß alle geistige Wirkung keine augenblickliche nach Art der
körperlichen, sondern eine an Unsichtbarkeit grenzend ferne und allmähliche ist;...
daß Körperhaftes überall die Notwendigkeit momentaner Regelung zeige, demge-
genüber Geistiges jedweden unbestimmten Aufschub vertrage." (S. 13) Seine Forde-
rung, die eben gerade die Losgelöstheit des .Geistigen' aufzuheben bestrebt ist: „Es
muß dem Wirken des Geistes die Möglichkeit gegeben sein, mit der gleichen Unmit-
telbarkeit, mit der gleichen unzweifelhaften, unmetaphorischen Drastik und Plötz-
lichkeit da zu sein wie dem des Körpers — sonst verbürgt nichts das Aufhören seiner
ewigen Nachträglichkeit." (S. 15) Rubiners Ungeduld, die das Problem in gleicher
Weise erkannt hatte, wird durch Unger aufgenommen und umgekehrt. Das psycho-
physische Problem ist gestellt: Wie kann der Geist „Momentanwirkung" (S. 15) er-
langen?
22 Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik, hrsg. von Klaus Schuhmann, Frankfurt/Main
1976, S. 262
23 ebd. S. 258
24 ebd. S. 261
25 ebd. S. 264
26 ebd. S. 253 u. 262
Die Frage nach der .Nachträglichkeit* der geistigen hinter den materiellen Wir-
kungen spielte schon in der Aufklärung eine wichtige Rolle, sie war für die Zuord-
nung von ,höheren' und .niederen' Seelenvermögen maßgebend, das psychophysi-
sche Problem stand im Zentrum des Menschenbildes. Moses Mendelssohn: „Allein
die sinnlichen Lüste haben größtentheils mehr Gewalt über die Seele, als die verstän-
digen Vergnügungen. Woher dieses? Warum sind die dunkeln Vorstellungen thätiger
als die deutlichen?" Und er beantwortete die Frage so, daß die undeutliche Sinnlich-
keit wirkt, „bevor sich noch der denkende Theil des Menschen in das Spiel
mischt." 27 Zu lösen suchte Mendelssohn dieses Problem durch die Übung des
Geschmacks: „Ein geübter Geschmack findet in einem Nu, was die langsame Kritik
nur nach und nach ins Licht setzt." 28 Diese auf die Pädagogik hinweisende Antwort
blieb für die bürgerliche Gesellschaft verbindlich — bis hin zu Ludwig Rubiner, für
den der Literat der .Führer', der ,Volksmann' sein sollte. Heute stellt sich dasselbe
Problem drängender denn je: Können die existenzbedrohenden Vorgänge von der
Umweltverschmutzung über die Bevölkerungsexplosion bis zur atomaren Drohung
durch rationale Einsicht gelöst werden — oder kommt die Einsicht zu spät, diesmal
endgültig zu spät?
II
27 Moses Mendelssohn's Schriften, hrsg. v. Moritz Brasch, 2 Bde. Breslau 1892, Bd. 2, S. 51 und 52 (Brie-
fe über die Empfindung, 10. Brief)
28 ebd. Bd. 1, S. 100 (Uber die Evidenz, 4. Abschnitt); s. hierzu: Manfred Voigts: Naturrecht und Ästhe-
tik bei Moses Mendelssohn, in: Mendelssohn-Studien, Bd. 4, Berlin 1979, S. 180 ff.
sehe und kosmologische Grundlagen. Der Begriff der Prophetie', in dem er das Ver-
hältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit untersucht: Die „Möglichkeit ist genauso
wirklich bzw. existent bzw. seiend wie die in Raum und Zeit befindliche sogenannte
Wirklichkeit. Der Unterschied . . . ist jedoch der: während die erstere offenbar,
d.h.
stets nur ,wirksam' zu denken ist, ist die letztere 19 latent."
(Es ist sicher kein Zufall,
daß David Baumgardt, der dem Goldbergkreis nahe stand, schon 1920 über ,Das
Möglichkeitsproblem der Kritik der reinen Vernunft, der modernen Phänomenolo-
gie und der Gegenstandstheorie' promoviert hatte 30 .)
Die .Latenz' der Möglichkeit, die Goldberg hier hervorhebt, weist voraus auf
Ernst Bloch. Alfred Schmidt über Bloch: „Die Welt ist kein bloßes Aggregat fertiger
Tatsachen, sondern ein zielgerichteter Prozeß. . . . Hieraus nun ergibt sich . . . , daß
die Materie . . . ebenso das noch unerschöpfte Totum (ist): das ,In-Möglichkeit-Seien-
de' schlechthin.... Der Grundwiderspruch dieser Dialektik ist der zwischen dem ab-
solut Möglichen (,In-Möglichkeit-Seienden') und dessen relativer Verwirklichung
(im ,Nach-Möglichkeit-Seienden' als partieller Wirklichkeit)." 31 So, wie Bloch die
Verwirklichung als relativ, die Möglichkeit aber als absolut ansah, so barg auch für
Goldberg und Unger erst die Möglichkeit „eine intensivere Wirklichkeit." (S. 32)
Diese greifbar und erfahrbar zu machen, war ihre zentrale Intention. Und so, wie
Bloch die Welt zuletzt als ,Experiment' vorstellte (Experimentum mundi', 1975), so
definierte Goldberg seine Theorie als „Experimentalwissenschaft" 32 (s. Unger S. 32).
Der Schritt zur Veränderung des psychophysischen Problemes führt vom Einzel-
nen, auf den allein bezogen das Problem bisher interpretiert wurde, zur Vielheit:
„Vielheit ist nicht als das bloß ,geistige Band' der .allein realen' Einzelnen, sie ist
selbst als Realität zu verstehen, deren Sinn zu ermitteln ist." (S. 20) Allein die reale
Existenz einer „Einheit einer bestimmten empirischen Vielheit" (S. 26) kann die ka-
tastrophale Kontinuität unterbrechen, eine Einheit, die — weil sie die bloße physika-
lische Welt überschreitet — als .metaphysisch' bezeichnet werden muß, die aber den-
noch erfahrbar sein muß: „Metaphysik bedeutet nicht logische, sondern nur gleich-
sam-historische Nicht-Erfahrung." (S. 25) Die Realität dieser Vielfalts-Einheit be-
zeichnet Unger — Goldberg folgend — als .Volk', und er konstatiert: „Heute gibt es
keine Völker." (S. 30) Die Realität der Vielfalts-Einheit ist eine Möglichkeit, die erst
Wirklichkeit werden muß. Das, was Unger hier anstrebte, nannte Goldberg .Mytho-
logie', die er definierte als die „Wissenschaft von den metaphysischen Volkswirklich-
33 ebd. S. 273
34 ebd. S. 284
35 Der in Paris veranstaltete Neudruck einer Artikelserie Goldbergs: .L'edifice des nombres dans le Pen-
tateuque' (1986) kann angesichts des Goldbergs Intentionen widersprechenden Nachwortes keine
Tradition bilden
36 s. Anm. 6 und: International Biographical Dictionary of Central European Emigres 1933-1945, Vol.
Ii/Part 1: A-K, München/New York/London/Paris 1983, S. 389 (falsches Todesjahr!)
37 Meine Forschungen sind — erst einmal — zusammengefaßt in der Rundfunk-Sendung .Oskar Gold-
berg — ein verdrängtes Kapitel jüdischer Geschichte', gesendet vom Sender Freies Berlin am
27.12.1988 in SFB III
38 Die einzige mir bekannte autobiographische Äußerung Goldbergs befindet sich unter dem Titel
.Curriculum' im Max-Horkheimer-Archiv in Frankfurt und wurde höchstwahrscheinlich im August
1941 in New York verfaßt, wohin er im Mai 1941 emigriert war
le sein Abitur abgelegt hatte, erwähnte diesen Text in seiner Dissertation von 1922
nicht, obwohl sie thematisch benachbart war und ihm zweifellos vorgelegen hätte;
der Titel von Ungers Dissertation: ,Das psychophysische Problem und sein Arbeits-
gebiet. Eine methodologische Einleitung*.
Das Besondere der Erkenntnisse Goldbergs war, daß er ihnen von Anfang an eine
„naturwissenschaftliche Bedeutung" beimaß39 — Goldberg wollte die Trennwand
zwischen Wissen und Glauben niederreißen40. Er wollte sich nicht damit abfinden,
daß das Wissen sich fortwährend mit den bedingten und begrenzten Tatsachen be-
schäftigt, während das Glauben sich auf die unbegrenzten Ideale beschränkt, Gold-
berg strebte eine Verbindung beider Bereiche in einer höheren Stufe der Wirklich-
keit an. Dies meinte er ganz praktisch, und bei der Umsetzung dieses Zieles half ihm
Erich Unger. In unterschiedlichen Fassungen wird Folgendes von Martin Buber be-
richtet — hier im Gespräch mit Werner Kraft: „Während des ersten Weltkriegs sei
Erich Unger in Goldbergs Auftrag zu ihm gekommen, mit dem Vorschlag, er solle
seinen Einfluß im Berliner Auswärtigen Amt geltend machen, daß dieses ihn, Gold-
berg, in offiziellem Auftrag nach Indien schicke, um mit den dortigen .Mahatmas' in
Verbindung zu treten, denn diese verfügten über metaphysische Geheimnisse, deren
Kenntnis Deutschland den Sieg sichern könnte." 41 Die .anormalen biologischen
Vorgänge' waren für ihn das Tor zur höheren, nicht mehr mechanisch-technisch
orientierten Realität. Diese außerordentlichen biologischen Vorgänge — Atemstill-
stand, Aussetzen des Herzschlages, Schmerzunempfindlichkeit — waren für Gold-
berg wie für Unger ein .Paradigma': Die „Beherrschung des Körpers durch geistige
Momente" (S. 15) sollte beispielhaft für die Wirksamkeit des Geistigen im Materiel-
len stehen. Derjenige, der diese außergewöhnlichen Fähigkeiten besitzt, gilt als Hei-
liger, aber als einer, „der realiter nichts anderes ist als jemand, der die physiologische
Anlage seiner Gruppe voll zum Ausdruck bringt, eine Anlage, die somit potentiell
jeder Angehörige der Gruppe besitzt." 42 — so die Darstellung Goldbergs in einem
unveröffentlichten Brief an Prof. Felix von Luschan vom 30. August 1922, in dem er
sein neues Dissertationsvorhaben darlegt mit dem Thema ,Die Verbindung physio-
logischer und soziologischer Methodik in der Anthropologie als heuristisches Prin-
zip zur Aufklärung der anthropologischen Gruppenbildung'. Erich Unger — um
dies zu ergänzen — half auch bei späteren Versuchen, ein .Indien-Unternehmen' in
offizieller Mission zustande zu bringen43, Goldberg berichtet aber in jenem Brief an
39 Oskar Goldberg: Die fünf Bücher Mosis ein Zahlengebäude, Berlin 1908, Vorbemerkung
40 s. ders.: Maimonides, Wien 1935
41 Werner Kraft: Gespräche mit Martin Buber, München 1966, S. 33; s.a.: Schalom Ben-Chorin: Zwiege-
spräche mit Martin Buber, Gerlingen 1978, S. 104 f, und: Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusa-
lem, Frankfurt/Main 1977, S. 187 f.
42 Oskar Goldberg an v. Luschan 30.8.1922, S. 11, Nachlaß v. Luschan in der Staatsbibliothek Preussi-
scher Kulturbesitz Berlin
43 s. Telegramm von Oskar Goldberg an Prof. Kurt Breysig vom 1. Febr. 1916 und Telegramm von
von Luschan, daß erst Kontakte zum Bayerischen Kriegsministerium insofern zum
Erfolg geführt haben, als er an Expeditionen in die Türkei teilgenommen hat.
Die Figur des .Heiligen' bzw. einer Person, die die (physiologische) Anlage einer
Gruppe in einer besonderen Deutlichkeit und Intensität repräsentiert, ist bei Unger
und Goldberg von zentraler Bedeutung, denn diese Repräsentanz gilt nicht nur von
der Vergangenheit her, sondern auch in die Zukunft hinein. Für Unger ist sie der
„Typus des zu einer .Regierung' Befugten" (S. 45), von dem ein Volk gegründet wer-
den kann. Bei Goldberg ist dies der „Stammvater"* 4 , der gegen das (rein biologische)
Abstammungs-Prinzip gesetzt ist. Es ist dies ein Vermögen, „das typisch .Einzelnen'
übergeben wird, die hierdurch zu .Völkern' in ihrer eigenen Person werden." 45 Daß
Goldberg und Unger hier auf alte hebräische Vorstellungen zurückgreifen, zeigt ein
Blick in das Standardwerk von Thorleif Boman ,Das hebräische Denken im Ver-
gleich mit dem griechischen':,.Die Begriffe des Israeliten sind keine von konkreten
Einzeldingen oder Einzelerscheinungen abgeleiteten Abstraktionen, sondern reale
Ganzheiten, welche die Einzeldinge in sich schließen.... Das Allgemeine, der Typus
ist der gegebene Ausgangspunkt des Denken, der die gemeinsamen Charakterzüge
enthält und der Gemeinschaft ein einheitliches Willengepräge gibt.... Das Entschei-
dende ist nämlich nicht die Anzahl, ob mehrere oder nur ein einzelnes Exemplar
darin steckt, sondern, ob die Eigenart oder das Wesen sich in dem betreffenden Indi-
viduum oder in den Individuen verkörprt." 46 Hier ist die Umkehrung des
Abstämmlings- in das Stammvater-Prinzip schon vorgezeichnet, das Goldberg und
Unger („Stammindividuum", S. 36) zum Drehpunkt ihrer .metapolitischen' (S. 48)
oder .transzendentalpolitischen'47 Vorstellungen machten.
Goldberg war der Meinung, daß die Besonderheit der Bindungskraft der israeliti-
schen Gemeinschaft (religio) in der von der Abstammung „diskontinuierlichen
Volksgründung" zu finden sei48. Das .geborene' Volk werde durch .feste Gesetzlich-
keiten' vorausbestimmt, während „die Struktur des .gegründeten' Volkes durch das
Wechselwirkungssystem zwischen Gott und Volk erst hergestellt" wird 49 . Diese
Wechselwirkung, die das System der durch Abstammung erstellten biologischen Ge-
setze durchbricht, vollzieht sich in „metaphysischen Ereignissen" 30 . Da das Volk Is-
rael die Folge einer teleologischen Gründung' war, bezeichnete Goldberg es als ein
.teleologisches Volk', das „hinsichtlich des Dienstes dem Wahl- und Zielgott gegen-
Erich Unger an denselben vom 2. Febr. 1916, Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz Berlin
44 Oskar Goldberg: Die Wirklichkeit der Hebräer, a.a.O., S. 79
45 ebd., S. 286
46 Thorleif Boman: Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen, 6. Aufl. Göttingen
• 1977, S . 5 6 •
47 Oskar Goldberg: Die Wirklichkeit der Hebräer, a.a.O., S. 35
48 ebd. S. 205
49 ebd. S. 182
50 ebd.
über Willensfreiheit"
habe51 — mit der Gefahr, daß das Ziel verfehlt werden kann,
was Goldbergs Uberzeugung nach geschah52.
| £ Weiterer Hinweise bedarf es nicht um zu erkennen, daß Unger mit .Politik und
Metaphysik' eine ent-theologisierte Fassung Goldbergscher Vorstellungen darbietet;
wo er ohne konkretere Hinweise vom .psychischen Programm' (S. 37) oder von
.notwendigen Inhalten' (S. 53) spricht, sind jene Punkte getroffen, an denen Gold-
berg auf hebräische Traditionen (Riten, Gesetze u.a.) zurückgriff. Ein Jahr später leg-
te Unger seine Position zum Judentum dar in dem Vortrag .Die staatslose Bildung ei-
nes jüdischen Volkes'. Auch dort stand das psychophysische Problem im Mittel-
punkt: „Den Geist weitertreiben um des Körperhaften willen: den Geist tiefer, ge-
wandter, subtiler und abstrakter zu kultivieren, — gerade um zuletzt der Leiblich-
keit und ihren Problemen gewachsen zu sein, aus Liebe zum Materiellen — geistig
sein — durch diese Spannung am tiefsten geeignet zu sein, darin liegt vielleicht die
Kraft und die Definition des Judentums." 53
Die beiden Publikationen Ungers geben ein grundsätzliches Dilemma Goldbergs
wieder: Einerseits hielt er allein die Fünf Bücher Mosis für einen heiligen Text und
die darin beschriebenen Rituale allein für geeignet, die Verbindung zu Gott herzu-
stellen, andererseits aber stellt für ihn die Geschichte des Judentums eine einzige Ge-
schichte des Abfalles, des Niederganges dar, sodaß er in Ostasien und in Nordafrika
nach Resten ,mythenfähiger' Völker suchte. Das .Hebräerritual' mußte missionsfä-
hig sein, es mußte sowohl der metaphysischen Idee des Volkes Israel entsprechen als
auch auf andere Völker übertragbar sein — dies war zweifellos der tiefste Anstoß für
Unger, die Goldbergschen Ideen auf die philosophische Ebene zu übertragen. Da
diese Fragen den hier zu behandelnden Themenkreis überschreiten, seien hier nur
zwei Zitate nebeneneinandergestellt. Erich Unger schrieb; „Der absolut zu bejahen-
de, d.i. metaphysische Begriff der Nation bejaht das Prinzip der Nation überhaupt:
sofern wirkt der national; und verneint die empirischen: sofern wirkt er internatio-
nal." (S. 35) Goldberg ganz ähnlich und doch um wichtige Nuancen anders: „Im Ge-
gensatz zu den Moralgesetzen der anderen metaphysischen Völker-Gesetze . . . führt
der biologische Universalismus der hebräischen Metaphysik . . . zu .Moral'gesetzen,
die nicht sinnlos werden, wenn sie vom übrigen Ritual abgetrennt werden, sondern
welche die Möglichkeit zu universeller Anwendung in,sich enthalten." 54 Hier öffnet
sich die tiefe Problematik der Goldbergschen Idee des „Missionierenden Hebräer-
tums' 55 .
51 Ebd. S. 88 f.
52 s. ebd. S. 209
53 Erich Unger: Die staatslose Bildung eines jüdischen Volkes, Berlin 1922, S. 28
54 Oskar Goldberg: Die Wirklichkeit der Hebräer, a.a.O., S. 140
55 Oskar Goldberg: Missionierendes Hebräerturo, in: Saat auf Hoffnung, Zeitschrift für die Mission der
Kirche an Israel, 70. Jg., 1933, Heft 2, S. 70 (-79)
Eine Nachwirkung hatte Ungers .Politik und Metaphysik' nicht; die einzige Er-
wähnung, die mir bekannt ist, kommt aus dem Goldberg-Kreis: Adolf Caspary, der
Goldberg 1941 ins Exil nach New York folgte und der als ständiger Mitarbeiter der
Exil-Zeitschrift .Aufbau' die strategischen Probleme' des Zweiten Weltkrieges ana-
lysierte, schrieb über Ungers Buch am Schluß seiner .Geschichte der Staatstheorien
im Grundriß' gut zwei Seiten, in denen er nicht mehr als das Grundanliegen Ungers
darstellen konnte 56 .
III
Von Walter Benjamin wissen wir, daß Erich Unger sein Buch zuerst in Vorlesungen
vorgetragen hat. Die folgende längere Passage aus einem Brief Benjamins an Ger-
shom Scholem vom Januar 1920 zeigt, welch gespaltene Haltung Benjamin gegen-
über dem Goldberg-Kreis hatte:
„Nun habe ich gerade jetzt die Bekanntschaft mit einem Buche gemacht, das so-
weit ich nach der Vorlesung die der Verfasser an zwei Abenden hielt, denen ich bei-
wohnte, urteilen kann, die bedeutendste Schrift über Politik aus dieser Zeit mir zu
sein s c h e i n t . . . . Erich Unger: Politik und Metaphysik. Der Verfasser ist aus demsel-
ben Kreise der Neo-pathetiker, dem auch David Baumgardt (den ich hier einmal
sprach) angehört hat und den ich von seiner verrufensten und wirklich verderbli-
chen Seite zur Zeit der Jugendbewegung in einer für Dora und mich höchst eingrei-
fenden Weise in der Gestalt des Herrn Simon Guttmann kennen lernte.... Sie haben
recht wenn Sie — selbstverständlich — den zionistischen Tendenzen dieser Leute mit
völliger Teilnahmlosigkeit gegenüber stehen. Ich darf das voraussetzen ohne es zu
wissen. Das Hebräisch dieser Menschen kommt aus der Quelle eines Herrn Gold-
berg, — von dem ich zwar wenig weiß, durch dessen unreinliche Aura ich mich aber
so oft ich ihn sehen mußte aufs entschiedenste, bis zur Unmöglichkeit ihm die Hand
zu geben, abgestoßen fühlte. Dagegen sind Unger und Baumgardt wie mir scheint
von gänzlich andrer Art — und ich glaube es aus meinem höchst lebhaften Interesse
an Ungers Gedanken, die sich z.B. was das psycho-physische Problem angeht mit
den meinigen überraschend berühren, verantworten zu können, Sie, trotzdem ich
das Gesagte weiß, auf das Buch hinzuweisen." 57
Simon Guttmann war, wie Scholem anmerkt, Benjamin deswegen in böser Erin-
nerung, weil dieser 1914 eine Spaltung des ,Sprechsaals' betrieben und erreicht
hatte 58 . Diese Anmerkung Scholems erschien 1966, 1970 wurde sein Artikel über
59 Brief von Prof. Nachum T. Gidal vom 18.5.1988 an Verf.; im Nachlaß von Scholem befindet sich Ma-
terial über Goldberg und Unger aus dem Literaturarchiv in Marbach
60 Richard Scheppard (Hrsg.): Die Schriften des Neuen Clubs 1908-1914, Band 1, Hildesheim 1980,
S. XV; Brief von Nicholas Jacobs (London) vom 29.1.1988 an Verf.
61 Gershom Scholem: Walter Benjamin — die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt/Main 1975,
S. 122-126; und: ders.: Von Berlin nach Jerusalem, Frankfurt/Main 1977, S. 184-188
62 s. Walter Benjamin: Briefe, a.a.O., S. 483 u. 489
63 Franz Rosenzweig: Briefe und Tagebücher Bd. 2 (- Der Mensch und sein Werk, Gesammelte Schrif-
ten), Den Haag 1979, S. 1200 (Brief an Martin Buber vom 24.10.1928); der Name Scholems ist durch
Punkte ersetzt
64 Oskar Goldberg: Maimonides, Wien 1935
65 Walter Benjamin Gershom Scholem: Briefwechsel, Frankfurt/Main 1980, S. 2112
66 ebd. S. 213
67 Walter Benjamin: Briefe, a.a.O., S. 280
für die Zeitschrift einstellen mußte: „Das Ungerbuch, aus dem ich größere Einnah-
men haben werde, wird erst in vier Wochen fertig. Ich hoffe, dann über die notwen-
dige Summe verfügen zu können." 68 Über dieses „Ungerbuch" ist nichts bekannt,
mit Sicherheit ist es nicht erschienen.
Benjamin verfolgte sämtliche Veröffentlichungen Ungers mit großem Interesse
und berichtete Scholem brieflich davon — so auch über den Gedanken einer neuen
,Völkerwanderung' 69 , den Unger in .Politik und Metaphysik' dargelegt hat (S. 43 f).
Erst Ungers Buch .Wirklichkeit Mythos Erkenntnis' stieß bei ihm auf allerdings
scharfe Kritik und hier fällt das erste Mal der Begriff der ,Zauberei', gewendet gegen
den Goldbergkreis und dessen zahlenkombinatorischen Tendenzen70. Später heißt es
dann nur noch, Goldberg sei ein ,Zauberjude' 71 , eine Formulierung allerdings, die
deshalb pikant ist, weil Benjamin seinerseits Scholem einen „abgefeimten Zauber-Ju-
den" genannt hatte 72 .
Das Interesse Benjamins an Ungers Arbeiten anfang der 20er Jahre läßt es nicht
unwahrscheinlich erscheinen, daß er dessen Dissertation von 1922 gelesen hat.
Zweifellos jedenfalls wäre diese Arbeit für ihn von großem Interesse gewesen. Unger
führte hier seine Wissenschaftskritik fort, die er 1915 in einem langen Brief an Prof.
Kurt Breysig dargelegt hatte 73 — und die deutliche Parallelen zu Benjamins Vorstel-
lung der ,Aura' aufwies —, und die er über .Politik und Metaphysik' immer weiter
entwickelte bis hin zu seinen Spätschriften. Und immer stand für Unger das psycho-
physische Problem im Mittelpunkt. In seiner Dissertation bezog er sich vor allem
auf Ricken: und dessen Darstellung eines .transzendentalen Empirismus' 74 ; Benja-
min hatte in Freiburg bei Heinrich Rickert studiert 73 . Unger benutzt in seiner Darle-
gung Begriffe, die Benjamin erst viel später, nämlich in der Erkenntniskritischen
Vorrede seines Trauerspielbuches systematisch verwendet hat (deren Vorarbeiten al-
lerdings auf das Jahr 1916 zurückgehen). Hier sollen nur einige Sätze aus der Disser-
tation zitiert werden, die ein mögliches Interesse Benjamins am deutlichsten belegen
können: „Die Wissenschaften pflegen ihren Ausgang von Grenzbegriffen aus zu
nehmen. Dies deshalb, weil dem Denken der Radikalismus innewohnt, zuerst die
Pole, d.h. die unmittelbaren Gegensätzlichkeiten zu formulieren.... Deshalb fordert
auch das Denken in Extremen den geringsten Energieaufwand, weil die Pole als
Grenzen stets starr und eindeutig sind, während nach einem Zentrum hin eine end-
68 ebd. S. 289
69 ebd. S. 288
70 ebd. S. 516
71 ebd. S. 637
72 ebd. S. 282
73 s. Anm. 3
74 Erich Unger: Das psychophysische Problem und sein Arbeitsgebiet. Eine methodische Einleitung,
phil. Diss. der Friedrich-Alexanders-Universität Erlangen, Tag der mündl. Prüfung: 27.7.1922
75 s. Berd Witte: Walter Benjamin, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 18
los sich steigernde Fülle von Möglichkeiten oszilliert— Aus dem Vorangegangenen
dürfte hervorgehen, daß die erweiterte Psychophysiologie echte theoretische und
echte Experimentalwissenschaft ist." 76 Wenn es, wie Liselotte Wiesenthal darlegte,
Benjamins Frage war, wie „das naturwissenschaftliche Experiment als eine Form der
Erfahrung in den Humanwissenschaften realisierbar" sei77, so hatte Erich Unger
hier seine Antwort gegeben.
Die scharfe Ablehnung des Goldbergs-Kreises durch Scholem brachte Benjamin,
wie Scholem erinnert, „in ziemliche Verlegenheit, da ihm zwar nichts an Goldberg,
wohl aber an der Aufrechterhaltung der Verbindung mit Unger lag." 78 Diese Verbin-
dung wurde in verschiedene Gruppen hergestellt. Hans G. Adler berichtete in seinen
Erinnerungen über die .Philosophische Gruppe', aber die von ihm angegebenen Jah-
reszahlen sind wohl zu korrigieren: Die Philosophische Gruppe, die bei Erich Un-
ger tagte, wurde 1925 ins Leben gerufen und löste sich wahrscheinlich 1931 auf. Die
Erinnerungen über diese wöchentlich stattfindenden Abende gehen bei den Teilneh-
mern nach den Jahren des Exils auseinander: Während Hans G. Adler davon sprach,
daß die Abende in der Uhlandstraße stattgefunden haben, erinnert sich Werner
Kraft an die Wilmersdorfer Straße79. Ist dieser Widerspruch durch einen Umzug zu
erklären, so gehen doch die Teilnehmerzahlen sehr weit auseinander: Den von Adler
genannten 50 oder 60 Personen stehen 8 bis 10 Personen gegenüber, die Te Fuchs
angibt80. Nicht auseinander gehen die Angaben über die große Breite der behandel-
ten Themen. Über die Rolle Goldbergs aber gehen die Erinnerungen wieder ausein-
ander. Te Fuchs: „Es wurde auch versucht, gewisse Problemstellungen den Veröf-
fentlichungen Oskar Goldberg's anzugleichen und von der Problematik aus zu er-
klären." Dagegen Werner Kraft: „Die Themen waren rein philosophisch und völlig
sachlich, von Goldbergs Schülern, die hoch begabt waren wie Erich Unger, Adolf
Caspary und anderen, alles war auf Goldberg im Zentrum bezogen, obwohl er mit
Namen nie vorkam. Als Privatperson war er immer anwesend, ohne je persönlich
einzugreifen: er lenkte geheim." Zweifellos hat Benjamin an einzelnen dieser
Abende teilgenommen 81 . Ob er darüberhinaus auch an den bei Goldberg stattfin-
denden geselligen Abenden teilgenommen hat, die intern .langweilige Abende' ge-
nannt wurden und an denen keine Vorträge oder philosophische Diskussionen statt-
gefunden haben82, ist unbekannt, Scholem aber berichtet, daß Benjamin in anderem
Kreise manchmal mit Goldberg und Unger zusammengetroffen ist83.
84 Hans Jonas: Organismus und Freiheit, Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973,
S. 39
85 ebd. S. 31
86 ebd. S. 39
87 Erich Unger: Das Lebendige und das Göttliche, Jerusalem 1966, S. 46
88 ebd. S. 65
fest: „Das Natürliche und Verständliche ist der Tod, problematisch ist das Leben." 89
Dann aber beginnen die Differenzen — die im Rahmen dieses Nachwortes nur
dargestellt und nicht aufgearbeitet werden können. Unger und Jonas legen uns zwei
unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten für die Zuordnung von Materie und Leben
vor. Hans Jonas: „Vielmehr, da die Materie nun einmal so von sich Kunde gab, näm-
lich sich tatsächlich auf diese Art und mit diesen Ergebnissen organisierte, so sollte
ihr das Denken ihr Recht widerfahren lassen und ihr die Möglichkeit zu dem, was
sie tat, als in ihrem anfänglichen Wesen gelegen zuerkennen." Es habe „schon das
gründende Prinzip des Überganges von lebloser zu lebender Substanz eine so zu be-
zeichnende Tendenz in den Tiefen des Seins selber" 90 gehabt. Jonas bleibt im Prinzip
bei der Aufeinanderfolge von toter und lebendiger Materie, wenn er auch der toten
eine ,Tendenz' zum Leben zuerkennt. Er löst die Zuordnung also durch Gradabstu-
fungen des Lebens von der minimalen Tendenz über die einfachen Stoffwechselfunk-
tionen bis hin zur lebendigen Freiheit des Menschen. Umgekehrt Unger: Er geht da-
von aus, „dass eine Zunahme der Bildbarkeit und Formbarkeit der lebenden Materie
in Richtung auf das Anfangsstadium des Lebens zu konstatieren sei", und daß am
Beginn der Welt eine lebendige ,Urmaterie' gestanden hat, „in der es nichts Unbeleb-
tes gab, aber auch noch keinen .Organismus'" 91 . Die Masse toter Materie im Kos-
mos sei das Produkt des in immer bestimmtere und begrenztere Formen drängenden
Lebens92. Lebende und unbelebte Materie bleiben aufeinander bezogen, der Kosmos
wird von Unger als .Umwelt' des Lebens begriffen93: „Es gibt keine andere nicht-
belebte Materie als .Nichtbelebte Materie f ü r Lebendiges'." 94
Solch eine Formulierung wäre für Hans Jonas unannehmbar. Für ihn ist das Phä-
nomen der Freiheit als Kennzeichen des Lebens durch einen „Urakt der Absonde-
rung" von der „allgemeinen Integration der Dinge im Naturganzen" gekennzeich-
net 95 . Dieser Urakt ist bei Jonas notwendig, damit das Leben aus dem Bannkreis der
unbelebten Materie heraustreten kann. Für Unger bildet die Organismus-Materie
und die Umwelt-Materie ein Ganzes, „dessen Unterteilung in einen .belebten' und
einen .unbelebten' Teil lediglich dem Endprodukt der Entwicklung und also der
wahrnehmungsempirischen Situation, nicht aber der Ursprungs-Situation oder der
kosmischen Sachlage zukommt." 9 6
Der entscheidende Unterschied bei den beiden Lösungskonzepten der Zuord-
nung von Materie und Leben ist der, daß Unger eine Wandlung in den Naturgesetz-
Erich Ungers ,Politik und Metaphysik' ist als 1. Veröffentlichung der Reihe ,Die
Theorie, Versuche zu philosophischer Politik' im Verlag David erschienen. Auf der
letzten Seite dieses Buches wird als 2. Veröffentlichung angekündigt: Oskar Gold-
berg: Das Volk. Über eine dynamische Struktur in soziologischen Einheiten und die
Theorie ihrer Formel. Dieses Buch aber ist nie erschienen. 1922 erschien als,Sonder-
veröffentlichung der Schriftfolge: ,Die Theorie' von Erich Unger: Die staatslose Bil-
dung eines jüdischen Volkes, Vorrede zu einer gesetzgebenden Akademie' 1 .1925 ver-
öffentlichte der Verlag David Goldbergs Hauptschrift ,Die Wirklichkeit der Hebrä-
er, Einleitung in das System des Pentateuch'. Dazu verfaßte Erich Unger ,Das Pro-
blem der mythischen Realität, Eine Einleitung in die Goldbergsche Schrift: „Die
Wirklichkeit der Hebräer'", die als 3. Veröffentlichung der Reihe ,Die Theorie' 1926
erschien. Die 4. Veröffentlichung dieser Reihe war: Adolf Caspary: ,Die Maschinen-
utopie, Das Ubereinstimmungsmoment der bürgerlichen und sozialistischen Öko-
nomie' von 1927.
Uber Ernst David sind zwei bedeutende Aussagen von Gershom Scholem erhal-
ten. Am 26. Juli 1933 schrieb dieser an Walter Benjamin:
Heute vor vierzehn Tagen ist Ernst David plötzlich gestorben, was ich nicht vergessen möch-
te Dir mitzuteilen. Er war einer der angenehmsten Menschen, denen ich in meinem Leben be-
gegnet bin, von einer Sauberkeit und Entschiedenheit des Wesens bei größter Zurückhaltung
und Bescheidenheit, die den Umgang mit ihm viele Jahre zu einer Erholung gemacht haben.
Er wohnte zuletzt eine Minute von uns, arbeitete freilich sehr viel in Kairo, wo er auch ohne
jede Vorbereitung tot umfiel. Ich habe bei seiner Beerdigung für seine Freunde gesprochen
und fühle einen wirklichen Verlust. (...) Er war übrigens sehr fromm und lebte hier streng
nach jüdischem Gesetz. Uber seine Beziehungen und seinen Bruch mit dem Goldbergkreis
bewahrte er ein unverbrüchliches Schweigen, so lebhaft er sich über meine Ansichten dar-
über zu erkundigen pflegte.2
1 Gershom Scholem gab verschiedene falsche Titel an: s. Walter Benjamin: Briefe, Ffm 1966, Bd. 1,
S. 291; und: Walter Benjamin — die Geschichte einer Freundschaft, Ffm 1975, S. 124.
2 Walter Benjamin Gershom Scholem: Briefwechsel 1933-1940, Ffm 1980, S. 88 f.
rung und Anteilnahme am zionistischen Aufbau belegt hatte, durchbrach. Von ihm und sei-
ner Frau habe ich viel über die exoterischen und esoterischen Aspekte dieser Gruppe gehört.3
3 Gershom Scholem: Walter Benjamin — die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt/Main 1975,
S. 123.
Auswahlbibliographie Erich Unger
A. Bücher
1921 Politik und Metaphysik; Berlin
1922 Die staatslose Bildung eines jüdischen Volkes; Berlin
1924 zusammen mit Adolf Caspary: Die Vergewaltigung des Gymnasiums durch den Geist des prakti-
schen Lebens'; Berlin
1925 Gegen die Dichtung; Leipzig
1926 Das Problem der mythischen Realität; Berlin
1930 Wirklichkeit Mythos Erkenntnis; München
posthum
1952 The Imagination of Reason; London
1966 Das Lebendige und das Göttliche; Jerusalem
Die Gehemmten
in: ebd., Jg. 1, Nr. 43, 22. Dez. 1910, S. (343)-344
Nietzsche
in: ebd., Jg. 1, Nr. 48, 28. Jan. 1911, S. 380-381, und: Nr. 49, 4. Febr. 1911, S. 388-389
Nachts
in: ebd., Jg. 2, Nr. 57, 1. Apr. 1911, S. 452
Der Krieg
in: Der Neue Merkur, Jg. 2, 2. Bd., Okt. 1915 - März 1916, S. 567-572
Schöpferische Indifferenz
in: Die Zukunft, hrsg. v. M. Harden, Berlin, X X I X . Jg. Nr. 52 vom 24. Sept. 1921, S. 350-355
L'evolution de la morale en Aliemagne et le point de vue de la sociologie francaise
in: Revue Philosophique, Jg. 40, Nr. 3 / 4 , März/Apr. 1935, S. 210-223
C. Unveröffentlichte Texte
Das psychophysiologische Problem und sein Arbeitsgebiet. Eine methodologische Einleitung.
Inaugural-Dissertation an der Friedrich-Alexanders Universität Erlangen, Tag der mündlichen Prüfung:
27.7.1922
Brief von Erich Unger an Kurt Breysig vom 7. Febr. 1915, handschriftl. 12 Seiten, Staatsbibliothek Preus-
sischer Kulturbesitz Berlin