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Christen und Muslime in Niedersachsen.

Beiheft 4, 2015

Christliches Abendland?
Die kulturellen Wurzeln Europas
und was wir dafür halten

Religionen im Gespräch (18)


mit Michael Borgolte und Stefan Schreiner

Kirche und Islam


Christen und Muslime in Niedersachsen.
Beiheft 4, 2015
Christliches Abendland? Die kulturellen Wurzeln Europas und was wir dafür halten
Religionen im Gespräch (18) mit Michael Borgolte und Stefan Schreiner
ISSN: 2191-6772

Herausgeber: Haus kirchlicher Dienste der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers


Verantwortlich: Dr. W. Reinbold, Kirche und Islam (V.i.S.d.P.)
Hausanschrift: Archivstraße 3, 30169 Hannover
Postanschrift: Postfach 2 65, 30002 Hannover
Fon: 0511 1241-972 Fax: 0511 1241-941
E-Mail: reinbold@kirchliche-dienste.de
Internet: www.kirchliche-dienste.de
Druck: Haus kirchlicher Dienste, gedruckt auf Recyclingpapier aus 100% Altpapier
Auflage: 100
Christen und Muslime in Niedersachsen.
Beiheft 4, 2015

Christliches Abendland?
Die kulturellen Wurzeln Europas
und was wir dafür halten

Religionen im Gespräch (18)


mit Michael Borgolte und Stefan Schreiner

Kirche und Islam


Inhalt

3 Vorwort

4 Christliches Abendland?
Die kulturellen Wurzeln Europas und was wir dafür halten
Religionen im Gespräch (18)
mit Michael Borgolte und Stefan Schreiner

5 „Abendland“, was bedeutet das?


6 Gab es ein christliches Europa?
7 Muslime und Juden in Litauen
8 Christen, Juden, Muslime – ein spannungsreiches und fruchtbares Miteinander
9 Die europäische Wissenschaft kommt über Arabien zurück nach Europa
12 Karl Martell, Retter des Abendlands?
13 Kulturrelativismus?
14 Wir brauchen ein neues Bild von Europa, auch in den Schulbüchern
15 Kommt auch die Aufklärung aus Arabien nach Europa?

17 Weiterführende Literatur

17 Gäste
Vorwort

Immer wieder sind wir gebeten worden, die Gespräche der Reihe „Religionen im Gespräch“ auch
im Druck zugänglich zu machen.

Mit diesem Beiheft legen wir die Mitschrift des 18. Gesprächs als Broschüre vor.

Das christliche Abendland hat zurzeit Konjunktur. Die Pflege „abendländischer Bildungs- und
Kulturwerte“ ist Aufgabe der Schule in einigen Bundesländern. Journalisten fordern die Vertei-
digung abendländischer Kultur. Demonstranten warnen vor dem Untergang des Abendlands.

Der Islam gehört nicht zu Europa, denn er ist ein Geschöpf des Morgenlandes, sagen nicht weni-
ge. Andere warnen vor falschen Alternativen. Haben Morgenland und Abendland sich nicht
schon immer gegenseitig befruchtet? Und was ist das überhaupt, „das Abendland“?

Wo liegen die kulturellen Wurzeln Europas, und wie können wir sie angemessen benennen?
Darüber habe ich im Juli 2015 mit dem evangelischen Theologen und Islamwissenschaftler Prof.
Dr. Stefan Schreiner von der Universität Tübingen und mit dem Historiker Prof. Dr. Michael Bor-
golte von der Humboldt-Universität Berlin gesprochen.

Hannover, im September 2015

Wolfgang Reinbold

Religionen im Gespräch
Seriöse interreligiöse Diskussion und Information, leicht zugänglich und jenseits der
Formatzwänge der Talkshow, das ist die Grundidee von „Religionen im Gespräch“.

Seit dem Jahr 2012 diskutiert „Religionen im Gespräch“ aktuelle Themen des interreligiösen
Dialogs. Fünf Mal im Jahr laden wir zwei Gesprächspartner oder Gesprächspartnerinnen ein. Die
Gespräche werden gefilmt und auf der Homepage www.religionen-im-gespraech.de
dokumentiert. Dazu gibt es Hintergrundinformationen und die Möglichkeit zur Diskussion in
einem Forum.

Die Gespräche sind öffentlich. Sie finden statt im Haus der Religionen in der Böhmerstraße 8 in
Hannover-Südstadt.

Religionen im Gespräch ist ein Projekt des Hauses kirchlicher Dienste der Evangelisch-
lutherischen Landeskirche Hannovers, in Kooperation mit dem Haus der Religionen in Hannover.
Die Projektleitung hat der Beauftragte für Kirche und Islam im Haus kirchlicher Dienste, der auch
die Gespräche moderiert. Die Videos produziert der Evangelische Kirchenfunk in Niedersachsen.
Der Fernsehsender „h1 – Fernsehen aus Hannover“ überträgt die Gespräche im Lokalfernsehen.

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Christliches Abendland?
Die kulturellen Wurzeln Europas und was wir dafür halten
Religionen im Gespräch (18)
mit Michael Borgolte und Stefan Schreiner*

Reinbold: Herzlich Willkommen im Haus der können wir diese kulturellen Wurzeln ange-
Religionen zum 18. Gespräch unserer Reihe messen beschreiben?
„Religionen im Gespräch“, heute Abend mit
dem Thema: Christliches Abendland? Die Das ist unser Thema heute Abend, und ich
kulturellen Wurzeln Europas und was wir freue mich, dass zwei ausgewiesene Experten
dafür halten. zu uns gekommen sind. Ich begrüße sehr
herzlich Stefan Schreiner von der Universität
In den letzten Wochen ist es etwas ruhiger Tübingen. Sie haben, und schon das ist ein-
geworden um das Thema, aber wenn ich drucksvoll, Evangelische Theologie studiert,
zwei Monate zurück denke, dann ging es mir dazu Arabistik, Islamwissenschaft und
so, dass ich, wann immer ich das Radio oder Judaistik, also die Grundlagen aller drei
den Fernseher eingeschaltet habe, eine abrahamischen Religionen. Seit 25 Jahren
Nachricht gehört habe, in der die vier sind Sie Professor an der Universität
Buchstaben GIDA vorkamen: „gegen die Tübingen und verbinden diese drei Themen
Islamisierung des Abendlands“. Also: PEGIDA in ihren Forschungen und in der Lehre.
– Patriotische Europäer gegen die Islamisie-
rung des Abendlands, oder LEGIDA, MAGIDA, Seit kurzer Zeit ist Herr Schreiner das, was
KAGIDA und wie sie alle hießen und heißen. man heute einen „Senior-Professor“ nennt,
und ich lese Ihnen jetzt einmal vor, wie sein
Diese Gruppen sind im Jahr 2015 und im Jahr Lehrstuhl genau heißt: Er ist Seniorprofessor
2014 überall in Deutschland entstanden und „am Seminar für Religionswissenschaft und
zum Teil immer noch aktiv. Mit ihnen ist das Judaistik der Evangelisch-theologischen
Thema „Abendland“ plötzlich überall präsent. Fakultät mit dem weiteren Schwerpunkt
Und wenn man dann einmal nachschaut, Islamistik“. Sie merken an dieser Formulie-
stellt man fest, dass es ist nicht erst durch rung, wie kompliziert es ist, zu beschreiben,
diese Gruppen nach oben gespült worden ist, worüber Herr Schreiner forscht und lehrt. Die
sondern dass dieser Begriff auch andernorts Evangelische Theologie gehört dazu, die
eine wichtige Rolle spielt. In unseren Judaistik und die „Islamistik“, also die
Schulgesetzen zum Beispiel wird er häufig Islamkunde. Sie, lieber Herr Schreiner, haben
verwendet. sich stark engagiert bei der Gründung der
Islamischen Theologie an der Universität
Sehr prominent geworden ist kürzlich die Tübingen. Und Sie sind einer der Initiatoren
einschlägige Wendung im Schulgesetz des des Zürcher Lehrhauses, wo sich seit 20
Landes Nordrhein-Westfalen, denn sie wurde Jahren Juden, Muslime und Christen treffen
im Bundesverfassungsgerichtsurteil über das und über diese Themen sprechen. Wir freuen
Kopftuch beurteilt. In diesem Schulgesetz uns sehr, dass Sie da sind – Herzlich
heißt es: Aufgabe der Schule sei es, die – ich willkommen, Herr Schreiner!
zitiere – „christlichen und abendländischen
Bildungs- und Kulturwerte“ zu fördern. Reinbold: Ich begrüße herzlich Michael
Borgolte. Sie sind in Braunschweig geboren,
Bei all dem stellt sich eine Frage, die nicht haben in Münster studiert, Geschichte,
häufig gestellt wird – und deshalb wollen wir Germanistik und Philosophie, und haben sich
sie heute Abend einmal ausführlich diskutie- dann schon in Ihrer Dissertation mit einem
ren: Was meinen wir eigentlich, wenn wir Thema beschäftigt, das unserem heutigen
dieses Wort verwenden? Was ist das, das Thema sehr nahekommt, nämlich mit den
„Abendland“, das „christliche Abendland“? Beziehungen der Karolinger zu den
Eine Stufe höher gefragt: Wo liegen die islamischen Herrschern und den Patriarchen
kulturellen Wurzeln Europas, und wie in Jerusalem im Mittelalter.

*
Gespräch am 2. Juli 2015 im Haus der Religionen in Hannover, www.religionen-im-gespraech.de/
thema/christliches-abendland-die-kulturellen-wurzeln-europas-und-was-wir-dafuer-halten.
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Danach, nach Zwischenschritten, die ich wenn man über das Mittelalter spricht, nicht
auslasse, sind Sie auf den Lehrstuhl für vom „christlichen Abendland“ spricht.
mittelalterliche Geschichte an der Humboldt- Wissenschaftlich gesehen, ist das überholt.
Universität in Berlin gegangen und haben
dort eine Fülle von Projekten gestartet. Zum Begriff des „Abendlands“: Man muss
Stellvertretend genannt sei ein Projekt, für sich zunächst vergegenwärtigen, dass wir ja
das Sie einen europäischen Forschungspreis vor 40 Jahren, in der frühen Nachkriegszeit
bekommen haben, mit dem Titel und insbesondere in der Adenauerzeit, auch
„Foundations in medievial societies. Cross- vom „Abendland“ gesprochen haben, aber
cultural comparisons“, also „Stiftungen in damals war es der Gegenbegriff zum
mittelalterlichen Gesellschaften. Transkul- kommunistischen Osten. Der berühmte
turelle Vergleiche“. Karlspreis ist im Jahr 1949 in Aachen
begründet worden mit Bezug auf Karl den
All das zeigt, dass Sie sehr interessiert sind an Großen als den Begründer des Abendlands.
der Frage, wie das Christliche, das Islamische Als Henry Kissinger, der amerikanische
und das Jüdische im mittelalterlichen Europa Außenminister, den Preis im Jahr 1987
zusammenhängen. Dazu haben Sie nicht bekam, gab es eine große Krise. Seither wird
zuletzt ein dickes Buch geschrieben mit dem der Preis vergeben „für Verdienste um die
Titel: „Christen, Juden, Muselmanen. Die europäische Einigung“, insbesondere in der
Erben der Antike und der Aufstieg des Integration des Ostens. Das heißt: der
Abendlandes 300 bis 1400 n. Chr.“. Wir Abendlandbegriff ist uns um das Jahr 1990
freuen uns sehr, dass Sie da sind – Herzlich verloren gegangen aufgrund der politischen
willkommen, Herr Borgolte! Entwicklung.

Mein Name ist Wolfgang Reinbold. Ich bin Interessanterweise ist der Begriff durch die
der Beauftragte der evangelisch-lutherischen christlich-muslimische Konfrontation in den
Landeskirche Hannovers für den christlich- letzten Jahrzehnten wieder aufgekommen.
islamischen Dialog. PEGIDA und andere haben den Begriff
wiederentdeckt, ohne, glaube ich, zu wissen,
was sie damit tun, wie hoch besetzt dieser
Begriff ist. Mir scheint, dass diese Erneuerung
„Abendland“, was bedeutet das? des Abendlandbegriffs vollkommen unreflek-
tiert ist. Es ist ein Verlegenheitsbegriff, der
Herr Borgolte, lassen Sie mich einmal nicht zur Analyse taugt. Es ist ein Begriff, der
beginnen mit dem Titel des eben erwähnten weder den historischen Sachverhalten
Buches: „Christen, Juden, Muselmanen. Die gerecht wird noch der Tradition der
Erben der Antike und der Aufstieg des Verwendung des Begriffs in verschiedenen
Abendlandes“. Das „Abendland“ steht im Generationen.
Titel und auf dem Buchumschlag. Als ich das
Buch gelesen habe, hatte ich allerdings den Wenn man die Wurzeln der Begriffsfindung
Eindruck: innen drin ist nicht ganz so viel historisch aufklärt, kommt man zurück zum
„Abendland“. Was meinen Sie, wenn Sie griechischen Geschichtsschreiber Herodot
dieses Wort benutzen? (gest. ca. 424 v. Chr.). Er hat die Perser und
die Griechen konfrontiert, und er hat die
Borgolte: Zunächst zum Buch. Die These ist ja Perser als die östliche Gefahr angesehen und
im Haupttitel enthalten, nämlich dass Europa die Griechen als die Demokraten, die die
von drei monotheistischen Religionen Perser besiegt haben. Seither gibt es dieses
geprägt ist und nicht, wie in der Modell, dass der Westen im Osten seinen
traditionellen Sicht, nur vom Christentum. Gegenpart findet. Bei Hegel ist das natürlich
Das ist die Hauptthese, und der Titel war in auch so, insofern das Gute im Westen ist und
gewisser Weise ein Zugeständnis an die das Böse im Osten. Das ist sehr vereinfacht,
Erwartungen des Publikums. Man wollte – aber das ist das Denkmodell, das immer
das Buch ist über 10 Jahre alt – das Publikum wieder aufgewärmt wird.
gewissermaßen beheimaten in Europa, und
deshalb sollte das „Abendland“ vorkommen. Reinbold: Ich fasse zusammen: Wir erleben
Das war auch ein Wunsch des Verlages, wie die Rückkehr eines uralten, vorchristlichen,
ich gerne zugebe. Der Titel war ein antik-griechischen Modells, das wir schon bei
Kompromiss. Heute hat sich die Situation Herodot finden. Im Jahr 1987 ist das
dramatisch geändert. In der Wissenschaft ist „Abendland“ beim Karlspreis weggebrochen,
es heute ohne weiteres anerkannt, dass man, weil der Gegner im Osten langsam

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wegbrach. Und heute kommt es wieder, weil abgestorben – wenn man an Germanen
man jetzt mit den Muslimen einen neuen denkt, an Kelten, Römer, Griechen, alle diese
Gegner hat? Religionen sind durch die monotheistischen
Religionen aus dem Osten verdrängt worden.
Borgolte: Genau. Wobei, von Europa aus
gesehen, die Muslime ja eher im Süden sind Dann ist es eine Tatsache, dass Europa
und nicht so sehr im Osten. Man weiß längst, niemals in vollständigem Umfang christiani-
dass dieses Ost-West-Modell dazu führt, dass siert worden ist. Es gab immer „Heiden“,
man überhaupt nicht mehr wahrnimmt, dass immer Atheisten, es gab sehr früh schon
der Gegner häufig gar nicht im Osten ist, Juden.
sondern im Süden. Man sucht den Gegner
immer im Osten. Das ist ein Denkmodell, das Reinbold: Europa war niemals christianisiert
immer wieder neu aufgeladen wird. in vollständigem Umfang?

Schreiner: Das kann ich nur unterstreichen. Borgolte: Ja. Als letztes großes Volk sind die
Der Begriff „Abendland“ ist ein ideologischer Litauer im Jahr 1386 christianisiert worden.
Begriff, kein historischer, kein geografischer. Aber das heißt ja nicht, dass damit nun alle
Er ist als Antithese formuliert gegen etwas, Europäer Christen waren. Mindestens seit
das man als „den Osten“ bezeichnet (oder in dem frühen Mittelalter gibt es in Europa
der Bibel als „den Feind aus dem Norden“ jüdische Siedlungsinseln an verschiedenen
oder manchmal auch aus dem Süden). Ich Orten (und in Rom gab es schon im ersten
verstehe die Wiederbelebung dieses Begriffs Jahrhundert Juden, allerdings wahrscheinlich
heute ganz aus dieser Konfrontation heraus. keine Kontinuität). Es gibt seit dem 8.
Für mich ist ziemlich deutlich, dass der Jahrhundert in Europa Muslime, und das hört
antiislamische Affront heute gewissermaßen nicht auf. An verschiedenen Orten, erst in
die Konsequenz bzw. die logische Fortsetzung Spanien und Sizilien und später dann in dem,
der antikommunistischen Positionierung ist. was wir Türkei nennen, auch in Ungarn.
Das, was früher „der Klassenfeind“ für die Christen bilden die Mehrheit in Europa, aber
einen und „der kommunistische Gegner im sie haben niemals den ganzen Kontinent
Osten“ für die anderen war, das wird heute umfasst.
zwischen dem „Westen“ und der
„islamischen Welt“ fortgesetzt. Die Zweitens muss man sagen, dass das, was
islamische Welt spielt heute die Rolle, die die christliche Wissenschaft ausmacht bzw. den
kommunistische bis 1990 gespielt hat. Aufschwung der Wissenschaften in den
Universitäten im Mittelalter, ein arabisches,
muslimisches Fundament hat (und natürlich
auch ein jüdisches Fundament, aber
Gab es ein christliches Europa? wichtiger ist das arabische). Wenn wir davon
ausgehen – wovon ich überzeugt bin –, dass
Reinbold: Herr Borgolte, Sie haben in Ihrem die Moderne ein Fundament in der
Eingangsstatement gesagt: die These Ihres Wissenschaft hat, dann muss man auch
großen Buches ist, dass es kein christliches sagen, dass diese Wissenschaft ihrerseits
Europa gab, sondern dass alle drei Religio- entscheidend von arabischer Philosophie und
nen für Europa grundlegend gewesen sind. Naturwissenschaft geprägt worden ist. Wir
Sie haben das so gesagt, als sei das gewisser- können überhaupt nicht daran vorbeisehen,
maßen eine wissenschaftliche Selbstverständ- dass nicht nur, wie es Bundespräsident Wulff
lichkeit. Ich hake da noch einmal nach, weil gesagt hat, der Islam „zu Deutschland
es ja in der allgemeinen Diskussion über- gehört“, sondern dass der Islam auch zu
haupt nicht so wahrgenommen wird. Wir Europa gehört, und zwar seit dem 8.
diskutieren darüber, ob der Islam „zu Europa Jahrhundert. Gewiss hatte er nicht dieselbe
gehört“ und ähnliche Fragen. Sie hingegen Durchschlagskraft wie die christliche Tradi-
sagen: Alle drei Religionen gehören hinein in tion, das ist nicht zu bestreiten. Aber ohne
das Fundament Europas und nicht bloß das muslimisches Fundament hätte es den Take-
Christentum? Off in der Wissenschafts- und Technik-
geschichte nicht gegeben.
Borgolte: Ich will zuerst einmal eine
Selbstverständlichkeit in Erinnerung rufen:
Alle drei Religionen kommen aus dem Osten.
Sie alle sind orientalische Religionen. Die
sozusagen „europäischen“ Traditionen sind

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Muslime und Juden in Litauen 1397 gibt es für Litauen ein Generalprivileg
vom Großfürsten Witold, dass Muslime auf
Schreiner: Eine kurze Ergänzung zur dem Territorium leben können usque ad
Christianisierung Litauens: Sie hatten das infinitum, also bis zum Ende der Zeiten, und
Datum 1386, den Beginn der Christiani- man darf sie nicht zur Konversion zwingen.
sierung Litauens, erwähnt. Es ist fast eine Diese Parallelgeschichte ist sehr interessant.
Ironie der Geschichte, dass dieses Territorium Das katholische Königreich Polen hatte
zu jenem Zeitpunkt bereits von Muslimen später mit dem Großfürstentum Litauen eine
und Juden bewohnt war. Das heißt: Im Osten gemeinsame Geschichte, aber im Umgang
Europas sind Muslime und Juden ältere mit Andersgläubigen weisen die beiden
Zeitgenossen als Christen, wenn ich so sagen Länder zwei verschiedene Geschichten auf.
darf.
Reinbold: Das ist eine ganz erstaunliche
Reinbold: Da muss ich einhaken: Muslime Geschichte, die kaum bekannt sein wird. Ist
sind im Osten Europas ältere Zeitgenossen als das ein Toleranzmodell gewesen? Die
Christen? Das heißt, sie waren da, bevor die Muslime können ihren Glauben leben bis ans
Christen da waren? Ende der Zeiten?

Schreiner: Sie lebten dort, bevor das Land Schreiner: Es gibt zeitgenössische Autoren –
christianisiert wurde. Juden aus unterschied- die ältesten Dokumente, die ich kenne,
lichen Regionen lebten dort seit dem Ende stammen aus der zweiten Hälfte des 14.
des 9. bzw. dem Anfang des 10. Jahrhun- Jahrhunderts –, die das tatsächlich juristisch
derts. diskutieren, als eine Frage der Toleranz: Wie
weit darf man anderen Religionen
Reinbold: … in Litauen … gegenüber Toleranz walten lassen? – auch
dann später unter dem Vorzeichen eines
Schreiner: … im Territorium des historischen christianisierten Staates. Hier war es
Großfürstentums Litauen. Das ist nicht selbstverständlich, dass Juden und Muslime
identisch mit der heutigen Republik Litauen, unter das Toleranzprinzip fallen.
sondern dazu gehören die Teile, die
Weißrussland heute zum großen Teil Reinbold: Gibt es diese ehemals litauischen
ausmachen, der Nordwesten der Ukraine, der Muslime bis heute? Haben wir hier einen
östliche Teil des heutigen Polen und der uralt eingesessenen europäischen Islam?
südliche Teil vom heutigen Lettland. Das
Territorium des Großfürstentums Litauen Schreiner: Diese Muslime gibt es bis heute.
reichte von der Ostsee bis zum Schwarzen Sie sind weithin tatarischen Ursprungs. Es ist
Meer. keine homogene Gesellschaft, weder in
ethnischer, noch in kultureller, noch in
Auf diesem Großfürstentum gab es Juden sprachlicher Hinsicht. Es ist eine aus
und Muslime, bevor das Christentum dort verschiedensten Gemeinschaften erwachsene
eingeführt worden ist, das lateinische Gesellschaft, die aus dem Umfeld des
Christentum. Die Tatsache, dass Juden und tatarischen Islams stammt, der seit dem 10.
Muslime zunächst einmal mit „Heiden“ Jahrhundert islamisiert ist. Die Wolga-
zusammenlebten, hat wahrscheinlich auch bulgaren waren die ersten, die den Islam
Auswirkungen gehabt darauf, dass das angenommen haben, am Ende des 9.
Verhältnis zwischen den Christen in dieser Jahrhunderts.
Region und den Juden und Muslimen später
anders war als in den mittel- und Diese tatarischen Muslime sind bis heute in
westeuropäischen Regionen. Im Osten waren der Region des alten Litauens präsent. Heute
die Christen die Newcomer, auch wenn sie leben sie auf drei Länder verteilt, Polen,
später die dominierende Religionsgemein- Litauen und Weißrussland, das Territorium
schaft werden. Das kann man sehr schön des historischen Großfürstentums. Dort leben
sehen. Das katholische Königreich Polen, das sie, unmittelbare Nachkommen der
zum gleichen Zeitpunkt muslimische tatarischen Muslime des späten Mittelalters.
Einwohner bekam wie das Großfürstentum 25.000 Menschen sind es etwa, die heute
Litauen, hat die Muslime, die nach Polen noch in der Region leben. Es gibt einige
kamen, im Unterschied zu Litauen zur Dörfer, die bis heute eine ziemlich
Konversion gezwungen. Sie mussten sich beachtliche muslimische Bevölkerung haben.
taufen lassen oder das Land wieder Südlich von Vilnius beispielsweise ist ein
verlassen. In Litauen war das nicht so. Seit Dorf, das 1397 gegründet worden ist. Da
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stehen Moschee und Kirche gleich Christen, Juden, Muslime – ein
nebeneinander. Auch in Weißrussland gibt es
noch kleine Dörfer, die eine muslimische
spannungsreiches und fruchtbares
Mehrheitsbevölkerung haben. Miteinander

Leider ist diese Geschichte hierzulande wenig Borgolte: Diesen Befund, der sehr interessant
bekannt. Dabei wäre es interessant, ihr ist, kann man verallgemeinern. Man soll die
einmal genauer nachzugehen. Nicht dass ich Verhältnisse zwischen den verschiedenen
diese Geschichte verkaufen möchte als ein Religionen nicht idealisieren. Es gab genug
Lehrstück oder als ein Modell. Aber sie Mord und Totschlag und Verfolgung. Aber
könnte doch einen Denkanstoß geben, unbestreitbar ist andererseits, dass die drei
einmal zu überlegen, wie sich diese monotheistischen Religionen sich nicht
Gemeinschaften arrangiert haben, die Juden, ausgerottet haben. Die Juden durften nach
die Muslime, die verschiedensten Formen von Kirchenrecht ja nicht getötet werden. Sie
Christentum. Im 16. Jahrhundert nannte man durften geschlagen werden, sie durften
Litauen „das Asyl der europäischen vertrieben werden, was schlimm genug ist.
Häretiker“, weil sich dort alle gesammelt Aber sie durften nicht getötet werden. Und
hatten. Dort lebten sie nebeneinander. Wie der Koran schreibt vor, dass es in der Religion
hat man sich arrangiert, so dass jeder seine keinen Zwang geben darf. Es gibt sozusagen
religiöse Identität behalten hat? Wie hat ein Recht von Nichtmuslimen, unter muslimi-
man trotzdem ein Gemeinwesen gemeinsam scher Herrschaft nicht zwangsweise bekehrt
gestaltet? Das sind wichtige Fragen. Die zu werden.
Muslime in Litauen zum Beispiel waren
immer die Leibgarde der Großfürsten. Sie Trotz der immer wieder vorkommenden
waren die Leibgarde, die Elitetruppe des Verfolgungen muss man sagen, dass dieser
polnischen, katholischen Königs. Vorbehalt offensichtlich gewirkt hat. Im
Gegensatz dazu steht die Tatsache, dass die
Reinbold: Die Muslime sind die Elitetruppe sogenannten „Heiden“, die Polytheisten
des katholischen polnischen Königs? oder Naturreligionen, von allen drei
monotheistischen Religionen rigoros
Schreiner: Ja. Nach 1572 wurden sie die bekämpft worden sind – so rigoros, dass sie
Elitetruppe des katholischen Königs in Polen. keine religiöse Formation mehr darstellen,
Muslime! Das ist eine sehr interessante wenn man von ein paar in jüngerer Zeit
Geschichte, und da kann man schon fragen: entstandenen Gruppen einmal absieht. Es
Wie hat man sich arrangiert? Die Muslime gab zwar noch „Heiden“, aber es gab sie
sind Muslime geblieben, die Christen sind nicht mehr in organisierter Form. Da waren
Christen geblieben, und die Juden sind Juden sich alle drei Religionen einig. Das haben sie
geblieben, und Gleiches gilt für andere geschafft. Man kann daher sagen: Seit dem
Religionsgemeinschaften, die ebenfalls 8. Jahrhundert musste man in Europa
präsent waren. Man hat sich arrangiert. entweder Christ, Jude oder Muslim sein.
Wenn Sie heute beispielsweise muslimische Oder man musste Verfolgung auf sich
Friedhöfe in Polen, in Weißrussland oder nehmen.
Litauen anschauen, dann stellen Sie fest, dass
noch eine ganze Reihe von ihnen erhalten Reinbold: Wenn man keiner Religion
geblieben ist. Manche sind mit vielen angehört, hat man es sehr schwer, aber
hundert Grabsteinen besät, wenn ich so wenn man Jude oder Muslim ist, geht es so
sagen darf. Und wenn Sie die Inschriften einigermaßen?
anschauen, dann finden Sie alle Schichten
der Gesellschaft, von den untersten Schichten Borgolte: Von Fall von Fall. Jedenfalls hat
bis in den Adelsstand. Alle Schichten der man die Chance, zu überleben, oder man hat
Gesellschaft sind vertreten. Das ist schon ein die Chance, innerhalb Europas das Land zu
interessanter Fall. Es ist eine Gemeinschaft, wechseln und woanders Aufnahme zu
die seit 800 Jahren einen europäischen Islam finden. Die Mongolen etwa, die nach Europa
repräsentiert. vordrangen, mussten den Islam annehmen,
als sie europäischen Boden betraten,
übrigens auch im Nahen Osten. Man kann
geradezu von einem Gesetz sprechen, das
seit dem 8. Jahrhundert für Europäer galt, in
der Regel auch für diejenigen, die nach
Europa einwanderten: Sie mussten eine der

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drei monotheistischen Religionen annehmen. sehr verwandt. Aber sie hat nichts zu tun mit
Wer das nicht tat, wurde ausgerottet, mit Brahmanismus, Buddhismus und Hinduismus.
den bekannten Ausnahmen. Da waren sich
alle einig.

Deshalb plädiere ich immer dafür, nicht nur Die europäische Wissenschaft
die zu bedauernden Verfolgungsgeschichten
zwischen den drei monotheistischen
kommt über Arabien zurück nach
Religionen zum Thema zu machen. Zugleich Europa
müssen wir auch feststellen, dass sie
Jahrhunderte lang nebeneinanderher gelebt Schreiner: Mit dem, was Sie eben sagten,
haben, in Spanien genauso wie in Litauen. sind wir bei der Wissenschaftsgeschichte. Die
Das war konfliktreich, aber ein Zusammen- Wissenschaft, die in Europa geblüht hat, war
leben. Wir tun gut daran, dieses Spannungs- das Produkt einer Kooperation, einer
verhältnis im Bewusstsein zu halten. Und ich spannungsreichen Kooperation, die etwas
bin der festen Überzeugung, dass gerade nach Europa zurückgebracht hat, was einmal
dieses Spannungsverhältnis ein wesentliches in Europa geboren worden war: Das antike,
Element der europäischen Geschichte griechische und lateinische Wissen.
gewesen ist, das Europa auch voran gebracht
hat. Diese Spannungen waren nicht Dieses Wissen wurde im 9. und 10.
auflösbar, sie konnten nicht theoretisch Jahrhundert im Nahen Osten ins arabische
bewältigt werden – es kann eben nur ein Wissen übertragen. Als die erste Universität
Dogma richtig sein und nicht alle drei im Jahr 825 in Bagdad gegründet worden ist,
zugleich. Aber damit praktisch umzugehen, das „Haus der Weisheit“, da waren die ersten
hat bedeutet, dass Europa sich in diesen 42 Gelehrten, die dort gearbeitet haben, 30
Spannungsverhältnissen offensichtlich entfal- Christen, 5 Juden und 7 Zoroastrier, wenn ich
ten konnte. Das unterscheidet Europa ganz mich richtig erinnere. Ein Muslim war nicht
dramatisch von Asien, zum Beispiel. darunter. Die Aufgabe dieser Leute war es,
das griechische Wissen ins Arabische zu
Reinbold: Würden Sie so weit gehen zu übersetzen und es auf diese Weise
sagen: Diese für Europa typische Spannung, zugänglich zu machen. In einem längeren
diese Reibung der drei Monotheismen Zeitraum ist von einer Vielzahl von
erzeugt kreative Energie? Übersetzern, die zum größten Teil Christen
oder Juden waren, eine ganze Bibliothek
Borgolte: Das würde ich sagen, ja. Es ist ein übersetzt worden. Etwa 120 griechische
fruchtbarer Ansatz, darüber nachzudenken. Autoren sind ins Arabische übersetzt
Man muss natürlich sagen: Monotheismen worden, von den berühmten Philosophen
gab es auch in Vorderasien. Da waren nur die Aristoteles und Platon angefangen über die
Dominanzverhältnisse umgekehrt, es Mathematiker, die Chemiker und die
dominierte der Islam, und es gab darüber Mediziner und so weiter.
hinaus Christen und Juden. Erst in Indien
bricht diese monotheistische Weltzone, wie Dieses Wissen hat dann sozusagen
ich sie nenne, ab, weil es dort unter der ausgestrahlt. Es kam zur Gründung der
Herrschaft des Brahmanismus, später des Universität in Kairouan, zur Gründung der
Buddhismus, des Jainismus und des Universität von Fes – nebenbei gesagt, die
Hinduismus Religionen gegeben hat, die Gründung der Universität von Fes geht auf
nicht „monotheistisch“ genannt werden eine Frau zurück, die die Gründungsrektorin
können (obwohl das einige Religionswissen- gewesen ist. Das hat dann nach Europa
schaftler sagen, aber ich meine, es ist nicht ausgestrahlt. Und dann beginnt ein Prozess
korrekt). Hier gibt es eine völlig andere der Rückübersetzung. Im 11. und 12. Jahrhun-
Jenseitsvorstellung und eine völlig andere dert werden diese Texte aus dem Arabischen
Ethik, es ist eine andere Welt. wieder in das Lateinische übertragen, und
diese Texte sind es, die das Fundament für
Wenn man religionswissenschaftlich über das die Entwicklung der europäischen Wissen-
„Abendland“ diskutiert, würde ich daher schaften bilden.
sagen: Das Abendland reicht bis Persien. Es
schließt den Zoroastrismus, also die Religion Das ist kein Zufall für mich, dass der Aufstieg
Zarathustras ein, die die Mutterreligion der der europäischen Universitäten im 12. und 13.
monotheistischen Religionen ist und mit Jahrhundert unmittelbar im Zusammenhang
unseren drei monotheistischen Religionen mit dieser Übersetzungstätigkeit steht. In

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einem relativ kurzen Zeitraum werden Übersetzungsgeschichte auch geografisch
zunächst auf dem Territorium Spaniens, einigermaßen nachvollziehen. Sehr viele
später dann auch Siziliens – etwa in der Italiener waren darunter. Es waren aber auch
Akademie von Palermo – viele dieser Texte Leute aus England dabei, die nach Spanien
aus dem Arabischen und Hebräischen ins gegangen sind aus Spaß an der Freude, weil
Lateinische übersetzt und dann weiter in die sie dort Arabisch lernen konnten. Es waren
lokalen Sprachen, das Kastilische, Altfranzö- Ordensleute, die zum Teil beauftragt
sische und so weiter. Diese Bücher sind die wurden, solche Übersetzungen zu machen,
Lehrbücher an den europäischen Universitä- und so weiter.
ten, zum Teil bis ins 18. Jahrhundert hinein.
Avicennas berühmter Kanon der Medizin So entsteht ein Korpus von Übersetzungen
etwa ist in 23 Auflagen gedruckt worden, aus zwei Teilen. Der eine ist der wissenschaft-
und zwar in der lateinischen Übersetzung, liche Teil im engeren Sinne, Naturwissen-
die in der zweiten Hälfte des 12. schaften und Philosophie. Und dann entsteht
Jahrhunderts in Toledo gemacht worden ist, eine Bibliothek theologischer Schriften,
von Gerhard von Cremona. Solche Beispiele islamische und jüdische. Man braucht sie zur
gibt es viele. Sie zeigen, wie antikes Wissen Apologie, zur Erklärung des Christentums,
zunächst in den arabischen Raum transferiert oder zum Zweck der Widerlegung. Dieses
wurde und wie es dann wieder aus dem Corpus Islamo-Christianum, wie man das
arabischen Raum nach Europa zurückkam. heute nennt, diese Elementarbibliothek des
Wissens über den Islam war bis ins 18.
Reinbold: Ein komplizierter Umweg war das: Jahrhundert hinein das Rüstzeug zur
nicht direkt vom Griechischen ins Lateinische, Auseinandersetzung mit dem Islam. Theodor
wie es ja leichter gewesen wäre. Aber diesen Bibliander etwa hat im Jahr 1543 in seiner
direkten Weg gab es nicht, er war verstellt. berühmten dreibändigen Koranausgabe in
Basel einen nicht unerheblichen Teil dieser
Schreiner: Ja, weil die Texte verloren waren Texte nachgedruckt.
oder nicht zugänglich. Die arabischen und
die hebräischen Texte aber waren sozusagen Reinbold: Ich fasse zusammen: Die Christen
auf dem Markt, die hatte man in der und die Juden und einige Zoroastrier bringen
Bibliothek. Zwar konnte sie nicht jeder lesen, das wissenschaftliche Erbe der Antike in die
aber das Interesse war da, und es wurde arabische Welt. Und von dort kommt es dann
übersetzt. Ein grandioses Übersetzungswerk zurück in die spanische, europäische Kultur
ist das, das da im Mittelalter geleistet und bringt die europäische Universität
worden ist. hervor, in Paris und all den anderen Orten,
wo sie dann gegründet wird.
Reinbold: Wer übersetzt denn zurück in
Spanien, sind das Muslime? Borgolte: Ergänzend kann man noch sagen,
dass auch christliche Syrer und Perser an den
Schreiner: Es war ein Gemeinschaftswerk. Es Übersetzungen beteiligt waren, es sind nicht
sind jüdische Übersetzer dabei, es sind nur arabische Übersetzungen, die die
christliche Übersetzer dabei, es sind Muslime Grundlage der lateinischen Fassungen bilden.
dabei. Was das Haus der Weisheit in Bagdad
anbetrifft, so würde ich es eigentlich nicht als
Reinbold: Hauptsache man kann Arabisch? „Universität“ bezeichnen. Es ist eine
Abteilung in der Bibliothek gewesen. Man
Schreiner: Die Sprache war natürlich das darf es sich so vorstellen, dass die Muslime
Medium. In der Regel sind die Übersetzun- die fremden Wissenschaften geduldet haben,
gen von mehreren gemacht worden, weil die aber nicht im offiziellen Lehrkanon. Die
christlichen Übersetzer zunächst nicht so gut Lehrer, die zum Teil Muslime waren, haben
Arabisch und Hebräisch konnten, so dass sie vielmehr in ihrer Freizeit die fremden
es alleine hätten schaffen können. Sie waren Wissenschaften gelehrt, auf den Fluren der
auf die Zuarbeit von jüdischen und Bibliothek, nicht im Hörsaal.
muslimischen Übersetzern angewiesen. Erst
später beginnt eine eigenständige Überset- Das ist ja faszinierend, dass die Araber in
zungstätigkeit. Das ist eine sehr interessante Bagdad dieses riesige Übersetzungswerk
Geschichte. Schon vor 100 Jahren hat Moritz hergestellt haben, damit aber nichts ange-
Steinschneider ein dickes Buch von 1000 fangen haben, während die Übersetzungen
Seiten über die Juden als Dolmetscher im vom Arabischen ins Katalanische und ins
Mittelalter geschrieben. Da können sie diese Lateinische in Spanien und Sizilien sehr

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schnell durch die westeuropäischen Wissen- kennenzulernen. Und dann mit Bücherkisten
schaftler rezipiert wurden. Man kann also voll nach England zurückgereist.
überhaupt nicht bestreiten, dass die
christlichen Gelehrten – ich bin sonst nicht Diese unglaubliche Mobilisierung der Wissen-
immer dafür, die christlichen Gelehrten schaft im 12. und 13. Jahrhundert, die die
hochzujubeln, aber das muss man jetzt Grundlage der Universitäten gewesen ist,
einmal deutlich sagen – die Universität als betraf alle drei Religionen. Man spricht ja
eine Lehreinheit geschaffen haben, dass sie davon, dass die jüdische säkulare Wissenschaft
sie erfunden haben. Die Universität gibt es in in diesem Zusammenhang erst erfunden
keiner anderen Kultur als im, sage ich jetzt worden ist, genauso wie die westliche
einmal, christlichen Abendland. Es ist die christliche Wissenschaft. Grundlage all dessen
einzige Form einer genossenschaftlichen ist die unglaubliche Mobilisierung.
Lehre. Lehrer und Schüler sind gleichberech-
tigt und arbeiten gleichberechtigt über den Diese Mobilisierung hängt mit bestimmten
Büchern. Das haben die Araber nicht sozialgeschichtlichen Erscheinungen zusam-
geschafft. men, etwa mit der Verstädterung, dem
wirtschaftlichen Aufstieg, der Bevölkerungs-
Schreiner: An einer Stelle möchte ich einen vermehrung, und so weiter. Die Mobilisie-
kleinen Widerspruch anmelden. Sie sagen, rung des Handels und die Pilgerschaften
dass die Araber mit der übersetzten Literatur haben dazu geführt, dass Leute aus Liebe zur
nicht viel angefangen haben. Ich meine, dass Wissenschaft die Heimat verlassen haben. Sie
durchaus auch eine Auseinandersetzung mit sind nicht mehr wie früher aus Liebe zu Gott
den Inhalten stattgefunden hat, schon von ins Kloster gegangen, sondern aus Liebe zur
der Frühzeit an, etwa in der Philosophie und Wissenschaft gereist über viele tausend
in der Medizin. Wenn Sie sich zum Beispiel Kilometer. Das ist ein Phänomen, das wir in
die Rezeptionsgeschichte Galens anschauen, allen drei Religionen feststellen. Bei den
des großen Arztes der Antike. Er wurde ins Muslimen lag das ohnehin nahe, da sie ja die
Arabische übersetzt und wurde das Vorbild Reise nach Mekka antreten mussten. Sie
der arabischen Medizin. Seine Werke sind waren sowieso viel mobiler als die Christen.
nicht nur übersetzt, sondern auch Sie müssen pilgern, während es die Christen
kommentiert worden, immer wieder über die und die Juden nicht müssen, obwohl sie es
Jahrhunderte. Ähnlich ging es beispielsweise natürlich weitgehend tun. Das schlägt um in
den mathematischen Werken des großen dieser Zeit.
Euklid. Auch sie sind unendlich oft
kommentiert worden. Schreiner: Noch eine Fußnote dazu. Dieser
Aufschwung der Wissenschaft wäre nicht
Borgolte: Das ist so. Allerdings sprechen wir denkbar gewesen ohne die Erfindung des
jetzt über die Wissenschaft, nicht über die Papiers. Die Araber haben im Jahr 751 die
Lehre. Mein Punkt ist: Es gab kein Forum, Chinesen besiegt in einer Schlacht am Talas,
diese arabische Wissenschaft in der Lehre zu das ist heute etwa der westliche Teil von
verbreiten. Erst die Universität hat das Usbekistan. Bei dieser Gelegenheit sind sie
ermöglicht. zum ersten Mal mit der Herstellung von
Papier in Berührung gekommen, das die
Reinbold: Das ist sehr interessant. Wenn ich Chinesen ja erfunden hatten. Die Araber
es einmal auf die moderne Universität haben das sofort übernommen und schon
übertrage, dann heißt das ja: Ich mache all fünf Jahre später wurde in Samarkand die
das nicht in meiner normalen Vorlesung, mit erste arabische Papierfabrik gegründet, in
der ich mein Geld verdiene. Sondern ich der man Papier billig herstellen konnte aus
mache es nebenher, aus reinem Interesse. Ich Stoff und allen möglichen anderen Fetzen.
sitze nachts und übersetze noch ein bisschen, Man konnte es billig herstellen und damit
weil ich Lust dazu habe … das Wissen viel schneller verbreiten als zuvor
mit Pergament oder auf sonst irgendeine
Borgolte: Es war die Liebe zur Wissenschaft, Weise. Die Araber haben die Bedeutung des
der amor scientiae, wie die Lateiner sagen, Papiers sehr schnell erkannt, und dann
der dazu geführt hat, dass Iren und breitete sich das Papier in rasantem Tempo
Engländer nach Spanien gereist sind, um aus bis nach Marokko. Und 1144 haben die
Aristoteles kennenzulernen. Und dann sind Araber dann im Süden der iberischen
sie von dort weitergereist bis nach Halbinsel, in Xativa, die erste Papiermühle
Nordafrika, um die indischen Mathematiker auf europäischem Boden gegründet.

11
Auf diese Weise konnte man das Wissen Horrorvorstellung zum Ausdruck gebracht,
schnell verbreiten. Wenn Sie sich vorstellen, dass die grüne Fahne des Propheten auf dem
wie man früher in den Schulen gearbeitet Kölner Dom geweht hätte, wenn diese
hat: Einer diktiert, und fünf oder sechs Leute Schlacht verloren gegangen wäre. Das ist
schreiben. Da konnte man zum gleichen abwegig.
Zeitpunkt sechs verschiedene Ausgaben eines
Textes herstellen. Das war natürlich für die Reinbold: … aber eine verbreitete Vorstel-
Verbreitung des Wissens von enormer lung …
Wichtigkeit. Die ganze Übersetzungstätigkeit
hätte nie diese Ausstrahlung gehabt, wenn Borgolte: Ja, eine verbreitete Vorstellung.
man kein Papier gehabt hätte, um das neue Um auf die Frage zurückzukommen, warum
Wissen zu verbreiten. wir dieses Bild brauchen, warum es immer
wieder aktualisiert wird: Ich glaube, es hängt
entscheidend damit zusammen, dass viele
Zeitgenossen ohne ein historisch begründe-
Karl Martell, Retter des Abend- tes Identitätsbewusstsein nicht leben
lands? können. In einer Zeit der Globalisierung, in
der jeder Mensch die kulturelle Vermischung
Reinbold: Das Bild, das jetzt entstanden ist, hautnah erlebt, scheint es notwendig zu sein,
ist das einer ungeheuer spannungsreichen scheint es vielen Menschen ein Bedürfnis zu
Geschichte, bei der sich Christen, Juden und sein, ihre Identität zu klären – und dazu
Muslime gegenseitig beeinflussen. Üblicher- gehört natürlich auch, das Eigene vom
weise höre und lese ich etwas anderes. Da Fremden abzugrenzen. Diese Klärung kann
geht es meist um ein Gegeneinander, „der in verschiedener Weise geschehen. Sie kann
Islam“ hier, „das Abendland“ da. Ein reflektiert geschehen oder so, dass Vorurteile
berühmtes Beispiel ist die Schlacht in Tours in ein große Rolle spielen, wie es bei PEGIDA
Südfrankreich im Jahre 732. Der Ansturm des ganz offensichtlich der Fall ist.
Islams sei dort aufgehalten worden, heißt es
oft. Wie halten Sie es damit? Ist das ein Ich glaube ohnehin, dass Religionen in der
falsches Bild? Zeit der Globalisierung deshalb wieder so
aktuell geworden sind, weil sie ein
Borgolte: Diese Schlacht hat stattgefunden. Identifikationspotential bieten, das viele
Sie ist erstaunlicherweise sogar in England vorher nicht gekannt und nicht gebraucht
fast zur selben Zeit bemerkt worden, was haben. Ich spreche jetzt nicht von religiösen
nicht selbstverständlich ist. Die Benennung Impulsen, die will ich gar nicht in Frage
des Siegers der Schlacht als Karl „Martell“, stellen. Aber diese merkwürdige, völlig
das heißt: „Karl, der Hammer“, geht darauf unerwartete Wiederkehr der Religionen in
zurück. Europa hängt aus meiner Sicht zweifellos
damit zusammen, dass die Öffnung der
Allerdings weiß die Wissenschaft, dass die Grenzen nach 1990 – also die sogenannte
Schlacht in ihrer Zeit relativ bedeutungslos Globalisierung, die Vernetzung aller mit
war. Die Exkursionen der Muslime von allen, die Gegenwärtigkeit aller Kulturen an
Spanien aus nach Gallien bzw. ins einem Ort –, dass diese Öffnung einfach dazu
Frankenreich haben damit nicht aufgehört. führt, dass man sich neu über seine Herkunft
Vor allem aber ist es falsch anzunehmen, klar werden muss. Und dann kommen solche
dass damit eine Expansionsabsicht verbunden Vorurteile natürlich wieder zum Tragen.
gewesen wäre. Die Muslime wollten
plündern. Sie hatten keineswegs die Absicht Die besondere Schwierigkeit in diesem
und hätten dazu auch gar nicht die Prozess besteht darin, dass es für diese
Möglichkeit gehabt, ihr Territorium nach Vorurteile natürlich eine gewisse historische
Gallien bzw. nach Frankreich, wie wir heute Substanz gibt. Es ist ja nicht so, dass es nicht
sagen, auszubreiten. Gründe gäbe zu sagen: der Osten und der
Westen unterscheiden sich. Natürlich tun sie
Reinbold: Sie wollen Geld, sie wollen das! Aber sie durchdringen sich eben auch,
plündern, sie wollen nicht Europa besetzen ebenso wie der Norden und der Süden. Es
und die Fahne des Halbmonds aufrichten … kommt darauf an, wie man die Akzente
setzt. Und da ist die Geschichtswissenschaft
Borgolte: Der junge Jakob Burckhardt hat in ganz entscheidend gefordert, in diesem
seiner ersten Berliner Schrift als Student über Prozess der Neuorientierung aufklärerisch
diese Schlacht geschrieben und dabei die mitzuwirken.

12
Kulturrelativismus? tion, von der wir vorhin gesprochen haben,
verzichtbar. Man braucht sie nicht, um die
Reinbold: Es gab vor einiger Zeit einen europäische Geschichte zu erklären. Sie
großen Artikel in der Wochenzeitung „Die einzuführen, würde den Wert der europä-
ZEIT“, in der so etwa das, was eben gesagt ischen Kultur relativieren. Das ist die These
wurde, als „Kulturrelativismus“ bezeichnet von Gouguenheim.
wurde. Ich zitiere das einmal:
Borgolte: Eine These, die er allerdings
„Nun kann auch der Kulturrelativist die zurückgenommen hat, nachdem er widerlegt
hässlichen Seiten des Islams nicht leugnen, worden ist, weil er gravierende und geradezu
und deshalb beeilt er sich, sobald er auf sie blamable handwerkliche Fehler gemacht hat.
zu sprechen kommt, die hässlichen des In der deutschen Übersetzung gibt es ein
Christentums hervorzuheben […]. Die Vorwort von zwei Kollegen, die ihn
brutalen islamischen Eroberungskriege, die widerlegt haben. Und Gouguenheim schreibt
keinen Ungläubigen am Leben ließen – dazu in einem Nachwort: Diese Kritik ist
waren die Kreuzzüge nicht ebenso brutal? berechtigt. Und trotzdem hat er das Buch
Der intellektuelle und wissenschaftliche noch einmal zum Druck gebracht! Es ist
Rückstand des Islams – verdankt die grotesk, man kann den Mann nicht ernst
abendländische Kultur ihre Entstehung nicht nehmen. Die Franzosen haben sich blamiert,
auch jenen Muslimen, die das griechische dass sie ihn so hochgejubelt haben.
Denken ins verkümmerte Europa überliefert
haben?“ Das haben Sie eben gerade betont. Reinbold: Das Buch wird veröffentlicht mit
„Der Terror der Islamisten – erlebten die zwei Vorworten, in denen steht, dass das
Christen in Zeiten der Inquisition nicht Buch Quatsch ist?
ähnlich Furchtbares?“ Und Ulrich Greiner
setzt hinzu: „Kaum eines dieser Fantasmen Borgolte: Lesen Sie die deutsche Ausgabe! Er
hält strenger Überprüfung stand.“ wird widerlegt, und trotzdem bringt er das
Buch noch einmal heraus.
Wie verhalten Sie sich zu diesem Vorwurf des
„Kulturrelativismus“, Herr Schreiner? Aber zurück zum „Kulturrelativismus“: Das
ist einerseits natürlich ein Diskriminierungs-
Schreiner: Für mich ist das ein Angstbegriff. begriff. Andererseits ist er in gewisser
Jemand, der so redet, fühlt sich eigentlich Hinsicht unvermeidlich. Als Historiker – und
zutiefst verunsichert und errichtet einen wir reden ja heute nicht über die kulturellen
Abgrenzungswall um sich herum. Das ist Werte Europas, sondern über die kulturellen
nicht neu, diese Diskussion gibt es schon seit Wurzeln Europas – kann ich nur sagen: Alles,
einigen Jahrzehnten. was ist, hat Geschichte oder ist Geschichte.
Ich kann es nicht ändern. Ich kann, wenn ich
Wenn Sie beispielsweise an das berühmte als Historiker urteile, keinen Wertunterschied
Buch von Sylvain Gouguenheim denken, machen zwischen verschiedenen monotheis-
„Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel“ – tischen Religionen. Ich kann das als gläubiger
Herr Borgolte, Sie schütteln den Kopf. Es ist Mensch machen, aber als Historiker kann ich
ein höchst umstrittenes Buch, das aber das nicht. Seit der Erfahrung des Historismus
Furore gemacht hat. Der Autor, ein (von dem ich glaube, dass er andauert) ist es
französischer Mittelalterforscher, vertritt in so, dass es nichts gibt in der Welt, das keine
diesem Buch die These, dass es eine Fiktion Geschichte ist. Das kann man nicht ändern.
sei, wenn behauptet wird, die arabische Das ist so. Es gibt keinen Standpunkt, der sich
Kultur hätte irgendeinen Anteil an der wissenschaftlich begründe ließe außerhalb
Ausprägung der europäischen Kultur gehabt. der Geschichte. Das geht einfach nicht.
Er sagt: Die Gelehrten im europäischen
Mittelalter haben immer aus den griechi- Reinbold: Herr Schreiner, was sagen Sie
schen Quellen geschöpft, und sie haben nicht denjenigen, die jetzt sagen: „Jetzt führen die
die arabische Vermittlung gebraucht. Das Professoren da irgendwelche akademische
alles wird von ihm abgewertet. Er bestreitet Debatten. Mich aber sorgt jetzt und hier der
nicht die Existenz von Übersetzungen, aber Terror, der sich islamisch begründet, und da
sie waren seines Erachtens belanglos. Die müssen wir doch unsere Werte dagegen
Leute, sagt er, haben immer direkt aus den stellen!“ Wie antworten Sie auf so eine
Quellen geschöpft, und das sei typisch für die grobe Frage?
gelehrte Welt des europäischen Mittelalters.
Demnach ist diese ganze arabische Assozia-
13
Schreiner: Nun, wer so eine grobe Frage sind die kreativsten jungen Professoren, die
stellt, der wird wahrscheinlich auch nur eine jetzt auf die Lehrstühle drängen, Leute, die
grobe Antwort erwarten. Aber das möchte häufig Arabistik und mittelalterliche
ich nicht tun. Ich denke, das ist eine Geschichte studiert haben. Sie, lieber Herr
Diskussion, die zu nichts führt. Es ist, wie Sie, Schreiner, haben das schon in Ihrer
lieber Herr Borgolte, eben gesagt haben, Generation gemacht, da kann man Sie nur
eine geschichtliche Fragestellung. Und auf beglückwünschen! Aber da waren Sie sicher
dem Boden der Geschichte zu eine der wenigen Ausnahmen, während das
argumentieren, das bedeutet zunächst heute eher eine Bewegung ist. Ich wundere
einmal: zur Kenntnis zu nehmen, wie die mich selbst, wenn meine Schüler mir sagen,
Geschichte gelaufen ist. sie lernen Arabisch nebenher. Es gibt heute
ein verbreitetes Bewusstsein, dass man mit
Wir sind heute in der glücklichen Lage, nicht einer auf das lateinische Mittelalter und das
zuletzt durch das Internet, dass wir sehr „Abendland“ fixierten Ausbildung auf Dauer
schnell zu sehr vielen Quellen Zugriff haben nicht bestehen kann. Das ist eine verbreitete
und das verfügbare Wissen immens groß Stimmung, und ich glaube, sie trägt der
geworden ist. Das Problem, das wir haben, Erfahrung der Globalisierung in vernünftiger
ist, dass zwar das verfügbare Wissen immens Weise Rechnung.
groß ist, aber das gewusste Wissen immer
kleiner wird. Es entsteht die Schwierigkeit, Schreiner: Wenn ich noch eine Ergänzung
mit dieser immensen Menge von verfügba- hinzufügen darf: Wir sprechen oft von einem
rem Wissen umgehen zu müssen. So zu argu- Gegensatz von „Europa“ und „dem Islam“,
mentieren, wie Sie es eben charakterisiert als wären das zwei homogene Welten, zwei
haben, das ist für mich Ausdruck einer Blöcke. Aber so ist es ja nicht und war es nie.
Unsicherheit. Der Unsicherheit, mit einem Europa war nie eine homogene Gesellschaft,
verfügbaren Wissen umzugehen, mit dem und der Islam war nie eine homogene
man nicht mehr umgehen kann. Gesellschaft.

Nur als Fußnote: Im Jahr 922 gab es einen


irakischen Kaufmann aus Bagdad, der im
Wir brauchen ein neues Bild von Auftrage seines Kalifen an den Hof der
Europa, auch in den Schulbüchern Wolgabulgaren reisen sollte, nachdem der
Kalif gehört hatte, dass die Wolgabulgaren
Reinbold: Herr Borgolte, das Bild, das Sie zum Islam übergetreten seien: Er solle doch
skizziert haben, findet sich ja auch nicht in bei Gelegenheit bitte einmal herausfinden,
den Schulbüchern, oder? was das für Muslime geworden sind. Ibn
Fadlan heißt der Mann, und er hat einen
Borgolte: Das ist so. Man kann hoffen, dass schönen Reisebericht darüber geschrieben.
es noch in das Schulbuchwissen eingeht. Ich Und da schreibt er dann – wie soll ich sagen?
glaube auch, dass das sein muss. Denn ich – nicht ohne Hintersinn, dass diese Muslime,
kann mir nicht vorstellen, dass die denen er begegnet, tatsächlich Muslime
Globalisierung umkehrbar ist. Wir werden seien. Aber sie hätten doch ganz eigenartige
zunehmend konfrontiert werden mit Bräuche. Unter anderem, schreibt er, trinken
anderen Kulturen und Religionen. Dafür sie Sachen, die wir nicht trinken dürfen. Und
müssen wir unsere jungen Leute ausrüsten. er habe versucht, sie von unserem Islam zu
Sie müssen in der Lage sein, sich in kritischer überzeugen – aber sie ließen sich nicht
Weise – natürlich angeleitet durch Autoritä- überzeugen.
ten, denen sie vertrauen, das würde ich
immer sagen – einen Standpunkt zu erarbei- Solche lokalen Prägungen, einen solchen
ten, der zur Kenntnis nimmt, dass es andere Pluralismus gibt es auch innerhalb einer
Möglichkeiten der Lebensgestaltung und der Religion. Das ist offensichtlich von allem
Wertbezüge gibt. Insofern werden sich, wie Anfang an eine gegebene Tatsache – und
ich glaube, die Schulbücher entsprechend zugleich ein Problem, und das ist bis heute so
ändern müssen. Das dauert natürlich. Man geblieben. Das Problem besteht in der Frage,
kann nicht erwarten, dass das in zehn Jahren wie man umzugehen hat mit solchem
geht, wie es in der Wissenschaft ging. innerreligiösen Pluralismus. Eine Möglichkeit
ist die Homogenisierung, die es immer
In der Wissenschaft der mittelalterlichen wieder gegeben hat, man versucht, die
Geschichte hat sich das Klima in den letzten Religion zu vereinheitlichen. Solche Versuche
zehn Jahren vollkommen gewandelt. Heute sind oft mit einem nicht unerheblichen

14
Gewaltpotential verbunden, und das ist das, anstoß nicht von dort gekommen wäre, aus
was uns heute Angst macht. Arabien?

Was also tun, wie mit dieser Vielfalt Reinbold: Der Impuls, sagen Sie, kam aus
umgehen? Das ist nicht so ganz einfach. Ich dem Osten?
bin in dieser Hinsicht altmodisch. Ich glaube
immer noch an die Möglichkeit einer Schreiner: Das ist jedenfalls eine Frage, die
Aufklärung über Bildung, die uns lernt, mit man stellen kann. Wie gesagt: wenn ich mir
der Vielfalt umzugehen. Wir erleben ja allein anschaue, was übersetzt worden ist,
angesichts der Fülle der Informationen den was die Leute gelesen haben und was sie
Zwang zur Reduktion. Es muss ganz schnell zitieren. Fritz Mauthner, in seiner berühmten
in Schwarz-weiß-Farben gemalt werden, Geschichte über den Atheismus im Abend-
damit das Bild verständlich ist. Nur ist das land, war meines Wissens der erste, der
noch kein Bild. Schwarz und Weiß sind nur darauf aufmerksam gemacht hat, dass es hier
die Enden des Spektrums. Der größte Teil einen nicht übersehbaren Zusammenhang
dazwischen sind Grauschattierungen. Das gibt. Dem muss man noch genauer
wahrzunehmen und damit umzugehen, das nachgehen. Ich denke, es ist vielleicht nicht
ist das Problem, das wir heute haben. uninteressant, die Geschichte unserer
europäischen Kultur und der europäischen
Nicht nur wir haben dieses Problem, sondern Aufklärung einmal in diesem Kontext neu zu
alle Seiten. Und da spielt natürlich das studieren.
Studium der Geschichte eine ganz wichtige
Rolle. Von daher ist es sehr erfreulich, dass Reinbold: Was Sie sagen, steht völlig quer zu
sich das Koordinatensystem in der den üblichen Bildern. Da ist es meist so, dass
Geschichtswissenschaft offenbar verschoben der Islam eine Aufklärung braucht, die wir
hat. Dass jetzt auch andere Gesichtspunkte längst hatten.
eine Rolle spielen, die von einem, wenn ich
so sagen darf, westeuropäischen Zentrismus Schreiner: Der Hallenser Arabist Johann Fück
wegführen, der in der Tat ein ganz hat im Jahr 1955 ein Büchlein geschrieben
verfärbtes Geschichtsbild geliefert hat. über die Geschichte der arabistischen Studien
in Europa, übrigens zugleich eine
wunderbare Kulturgeschichte Europas. Ich
denke, Fück war weitsichtiger und
Kommt auch die Aufklärung aus prophetischer als mancher Zeitgenosse
Arabien nach Europa? heute, denn er hat genau gesehen und
beschrieben, welche kulturelle Bedeutung
Lassen Sie mich noch ein zweites Beispiel im diese Rezeptionsprozesse hatten. Das muss
Nachgang zu den mittelalterlichen Überset- man vertiefen, weiter führen, manches auch
zungen liefern. Vielfach ist die Frage wieder neu entdecken, das vergessen,
diskutiert worden, ob es Zufall ist, dass am verloren ist. Ich denke, unser Bild von dem,
Beginn und in den ersten Jahrzehnten der was Europa ausmacht, auch und gerade den
europäischen Aufklärung im 18. Jahrhundert Reichtum Europas, wird sich dadurch
ein nicht unerheblicher Teil der Werke der erheblich wandeln und das Bild noch reicher
mittelalterlichen arabisch-jüdischen Aufklä- machen, als es ohnehin schon ist.
rung ins Deutsche, ins Englische, ins Franzö-
sische, ins Spanische übersetzt worden sind. Reinbold: Mit dem Stichwort „Europa“
Viele der frühen Aufklärer, Rousseau, bauen Sie eine Brücke zu meiner letzten
Diderot und Voltaire in Frankreich etwa, Frage. Herr Borgolte, wir haben viel über den
waren begeisterte Leser dieser Bücher. Sie Begriff „Abendland“ gesprochen. „Europa“
haben sich von ihnen inspirieren lassen. Und ist ja auch so ein Begriff, den wir häufig
wenn man Lessings berühmte Thesen zur verwenden, ohne genau zu wissen, was er
Erziehung des Menschengeschlechts liest, eigentlich bedeutet. Wo kommt der Begriff
stellt man fest, dass sie Anleihen bei Ibn her, und was bedeutet er ursprünglich?
Tufail nehmen, einem spanischen Araber des
12. Jahrhunderts, und seinem philosophi- Borgolte: Europa war zunächst einmal eine
schen Bildungsroman. Zum Teil zitiert Lessing griechische Region. Dann ist das Wort
ihn wörtlich. Das ist eine sehr interessante übertragen worden auf die westliche
Geschichte, so dass man fragen kann: Wäre Halbinsel Asiens. Interessant ist, dass Europa
die europäische Geschichte in diesen erst im Mittelalter erschlossen worden ist.
Denkbahnen gelaufen, wenn der Denk- Die Griechen wussten zwar, wo Europa im

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Westen endet. Aber die Grenzen nach Reinbold: Meine Damen und Herren, und
Norden haben in vollem Umfang erst die darüber weiß Professor Schreiner so viel, dass
mittelalterlichen Händler und Missionare wir es in 25 Sekunden nicht unterbringen
erschlossen, die bis zur Ostsee und nach werden.
Skandinavien vorgestoßen sind.
Herzlichen Dank Ihnen beiden für diese
Im Mittelalter und in der Antike gab es Diskussion!1
keinen Diskurs über Europa, wie das heute
der Fall ist. Es gab keine Debatte darüber, wo
Europa endet, welche kulturellen Werte
Europa hat, welche Religion für Europa
entscheidend ist, und so weiter. Es gab keine
Debatten darüber, welche Region dazu-
gehört und welche nicht.

Was es gab, ist ein sehr grober geografischer


Begriff, der gelegentlich eingesetzt wurde,
um sich zu orientieren. Iren und Engländer,
die in der Zeit Karls des Großen auf den
Kontinent kamen, waren nur kleine
Königreiche gewohnt, wie sie auf den Inseln
verbreitet waren. Das Reich Karls erschien
ihnen riesig, und sie nannten es „Europa“,
weil sie es mit keinem anderen Begriff
erfassen konnten. Es war ein Verlegen-
heitsbegriff.

Zu Beginn sprachen wir über den Karlspreis,


der in der Adenauerzeit stark aufgewertet
wurde: Karl als Begründer des Abendlands,
als Vater Europas, als Leitfigur. So war es in
der Zeit Karls nicht gemeint. „Europa“ war
damals sozusagen eine Blackbox, die
eingesetzt wurde, wenn man etwas
beschreiben wollte, das größer war als die
eigene Lebenswirklichkeit. Mit dem
aufgeladenen, bedeutungsvollen Begriff,
über den wir heute streiten und diskutieren,
hat das nichts zu tun.

Schreiner: Im 16. Jahrhundert hat es eine


Diskussion gegeben, wo Europa im Osten
endet, und zwar zunächst im Zusammenhang
mit dem polnisch-litauischen Königtum und
dann mit Kroatien. Diese Länder galten als
antemurale Christianitatis, als Bollwerk des
Christentums gegenüber dem Osten. Wenn
ich diese Texte lese, habe ich den Eindruck,
dass sie Europa mit dem lateinischen
Christentum identifizieren. Diese Länder
waren die östlichsten Vorposten des
lateinischen Christentums, das heißt: das
orthodoxe Christentum wurde nicht mehr zu
Europa gerechnet. Die Spätfolgen dieser
Entwicklung sehen wir bis heute im
Zusammenhang mit dem Ukrainekonflikt,
der im Oktober 1596 mit der Brester Union
angefangen hat.

1
Redaktion: Wolfgang Reinbold.
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Weiterführende Literatur Gäste
Michael Borgolte, Christen, Juden, Prof. Dr. Michael Borgolte ist Professor für
Muselmanen. Die Erben der Antike und der mittelalterliche Geschichte an der Humboldt-
Aufstieg des Abendlandes 300 bis 1400 n. Universität zu Berlin
Chr. München 2006
Prof. Dr. Stefan Schreiner ist Seniorprofessor
Alain Brissaud, Islam und Christentum. am Seminar für Religionswissenschaft und
Gemeinsamkeit und Konfrontation gestern Judaistik der Evangelisch-theologischen
und heute, Düsseldorf 2002 Fakultät der Universität Tübingen mit dem
weiteren Schwerpunkt Islamistik
Franco Cardini, Europa und der Islam.
Geschichte eines Mißverständnisses. Prof. Dr. Wolfgang Reinbold ist Beauftragter
München 2000 für Kirche und Islam im Haus kirchlicher
Dienste der Evangelisch-lutherischen
Thierry Chervel / Anja Seeliger (Hg.), Islam in Landeskirche Hannovers.
Europa. Eine internationale Debatte,
Frankfurt/M. 2007

Jack Goody, Islam in Europe, London 2003

Matthias Lutz-Bachmann / Alexander Fidora


(Hg.), Juden, Christen und Muslime.
Religionsdialoge im Mittelalter, Darmstadt
2004

Jonathan Lyons, The House of Wisdom. How


the Arabs Transformed Western Civilization,
New York 2009

Alex Metcalfe, The Muslims of Medieval Italy,


Edinburgh 2009

Jonathan Phillips, Heiliger Krieg. Eine neue


Geschichte der Kreuzzüge, München 2011

Stefan Schreiner, Das „christliche Europa“ –


eine Fiktion, in: J. Micksch (Hg.), Vom
christlichen Abendland zum abrahamischen
Europa, Frankfurt/M. 2008, 126–144

S. Frederick Starr, Lost enlightenment.


Central Asia's golden age from the Arab
conquest to Tamerlane, Princeton 2013

Matthias M. Tischler / Alexander Fidora (Hg.),


Christlicher Norden – muslimischer Süden.
Ansprüche und Wirklichkeiten von Christen,
Juden und Muslimen auf der Iberischen
Halbinsel im Hoch- und Spätmittelalter,
Münster 2011.

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