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Schwerpunkt | Geschichte und Kontinuitäten des deutschen Kolonialismus

Von Kien Nghi Ha

Deutschlands
koloniale Matrix
Geschichte und Kontinuitäten des deutschen Kolonialismus

Kolonialismus ist in Deutschland, sobald er als kritische Analyse- der inneren Dekolonialisierung ge-
kategorie gebraucht wird, ein unnahbarer, geradezu unheimlicher kennzeichnet ist. Grundsätzlich ist da-
Begriff. Wie die Rassismuskritik löst die Erinnerung an koloniale Unter- her festzuhalten, dass das heutige
drückungen bei Weißen Deutschen das Bedürfnis nach augenblicklicher Ausmaß und die spezifische Ausrich-
Distanzierung aus. Meist schlagen sich solche Entlastungsstrategien in tung rassistischer Gewaltverhältnisse
der Sehnsucht nach einem endgültigen Schlussstrich nieder. nicht von der kolonialen Erfahrung
abgetrennt werden können. Die Kolo-
Die Weigerung der deutschen Domi- Anstöße für eine wissenschaftliche nialpolitik hat zu einer strukturellen,
nanzgesellschaft, sich mit den kolo- Aufarbeitung des deutschen Imperia- kulturellen und nicht zuletzt auch
nialen Grundlagen ihrer eigenen Kul- lismus kamen daher zunächst auch administrativen Verankerung von Ab-
turgeschichte und politischen Identität nicht aus den hiesigen Universitäten, wertungs- und Aggressionspotentia-
auseinander zu setzen, hat weitrei- sondern von den Schwarzen len gegen People of Color beigetra-
chende Folgen. Sie reflektiert einen (deutschen) Gelehrten und Aktivist/- gen. Die Alltäglichkeit rassistischer
Prozess, in dem weder die Unterwer- innen der transatlantischen Black Dia- Verhältnisse äußert sich nicht nur in
fung des Anderen noch die Frage nach spora Studies, der anglo- amerikani- skandalisierbaren Gewalt- und Diskri-
der kolonialen Konstruktion der schen German Studies und der trans- minierungserfahrungen – etwa im
deutschen Nation zur Sprache kommt. national ausgerichteten postkolonia- Umgang mit deutschen Behörden und
Diese Frage erscheint um so gefährli- len Kritik. Gesetzen.
cher und unzulässiger, je stärker der Demgegenüber beschäftigt sich das Nicht zuletzt deshalb müssen wir
Blick auf die ungeklärte Aktualität Gros der kolonialhistorischen For- uns nach wie vor mit den Fort-
deutscher Kolonialkultur gelenkt wird. schung mit der Kolonialisierung wirkungen des kolonialen Rassismus
Bisher hat das gesellschaftliche außereuropäischer Gebiete, wodurch auseinandersetzen, in denen bei-
Schweigen und Verschweigen das Feld der wechselseitige Prozess von äu- spielsweise auch die normalisierende
des notwendig Sagbaren weitgehend ßerer Fremd- und innerer Selbst- Ko- Praxis der „Rassifizierung“ als men-
verdrängt. lonialisierung aufgespalten wird und schlich angeboren und damit unhin-
die Produktion entgrenzter Räume im tergehbar erscheint. Dass Menschen
Post/koloniale Prozess der Kolonialisierung unter- eine unleugbare, weil angeborene
Selbstverleugnungen belichtet bleibt. Studien, die die „rassische“ Identität und Zugehörig-
Die Aufarbeitung der eigenen Kolo- Kontinuität und Transformation kolo- keit haben, ist jedoch eine koloniale
nialgeschichte wurde lange Zeit in der nialer Denkweisen, Bilder und Struktu- Erfindung, die meist nicht als solche
BRD stark vernachlässigt. Erstaunli- ren bis in die gegenwärtige Bundesre- wahrgenommen wird. Eine lange
cherweise fing die westdeutsche Ge- publik hinein analysieren, sind immer Reihe deutscher Philosophen und
schichtswissenschaft erst Ende der noch recht selten. Wissenschaftler wie Immanuel Kant
1960er Jahre in einem umfangreiche- Ich möchte daher im Folgenden auf und Georg Wilhelm Friedrich Hegel,
ren Maß damit an, sich mit dieser die widersprüchlichen Überlagerungen um nur zwei der berühmtesten
Epoche auseinander zu setzen. Ebenso von Raum – Traum – Trauma als Aus- Masterminds zu nennen, leisteten im
bezeichnend war, dass bereits Mitte gangsbedingungen kolonialer Politik Namen der europäischen Aufklärung
der 1970er Jahre das Forschungsinte- eingehen und dabei vor allem skizzie- bedeutende Beiträge zur Durchset-
resse wieder erlahmte. Die neueren ren, wie sich der Kolonialisierungspro- zung rassentheoretischer Diskurse im
zess auf die politische Kultur Deutsch- westlichen Allgemeinwissen. Ein
Bei dem Artikel handelt es sich um eine gekürzte lands auswirkte. Noch immer sind wir Strang dieser pseudo- wissenschaft-
und leicht überarbeitete Fassung aus Kien Nghi Ha mit einer historischen Situation kon- lichen Entwicklung endete in der welt-
(2010): Unrein und vermischt. Postkoloniale Grenz-
gänge durch die Kulturgeschichte der Hybridität und frontiert, die durch diskriminierende weit führenden deutschen „Rassenhy-
der kolonialen „Rassenbastarde“. Bielefeld: transcript. Praktiken und eine fehlende Erfahrung giene“, die sich bereits im kolonialen

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Kaiserreich an den Universitäten for- schaftliche, technische und städte- die sogenannten Schutzgebiete
mierte und gerade im Bildungsbürger- bauliche Sphäre der Wilhelminischen „Deutsch- Ostafrika“, „Deutsch- Süd-
tum und in der sozialen Elite ihre Gesellschaft unübersehbar. westafrika“, „Deutsch- Kamerun“ und
treusten Anhänger/- innen fand. In der Nicht zuletzt ist hier an die epochale „Togoland“ zu einer kolonialen Groß-
Zeit des Nazismus nahm die „Rassen- Bedeutung der Berliner Afrika- Konfe- macht auf. Demgegenüber ist das
hygiene“ eine wesentliche Rolle in der renz von 1884/85 zu erinnern, in der koloniale Designprodukt „Afrika“ von
industriellen Vernichtungspolitik ein, auf Einladung des Reichskanzlers Otto seiner historischen, politischen und
da sie biopolitische Techniken der von Bismarck 14 vorwiegend euro- kulturellen Entstehung her ein geisti-
Identifizierung, Selektion und Konzen- päische Kolonialmächte einen ganzen ges Erzeugnis, das von Anfang an mit
tration der zu vernichtenden Bevölke- Kontinent unter völliger Missachtung dem Stempel „Made in Germany“ ver-
rungsgruppen erarbeitete und sich als der Interessen der dort lebenden sehen ist. Das koloniale und postkolo-
ideologisch zuverlässiger Apparat der Menschen unter sich aufteilten. Bei niale Afrika war demnach niemals ein
deutschen Nazis erwies. diesem Verhandlungsmarathon wurde ferner, „dunkler“ Kontinent, sondern
nichts Geringeres als die zukünftige das Ergebnis europäischer Projektio-
Laboratorien der Moderne Gestalt und die Spielregeln der euro- nen, Wunschvorstellungen und
Der deutsche Beitrag zur kolonialen päischen Einverleibung Afrikas fest- Machtkompromisse, die nicht zuletzt
Globalisierung spielt sich im Rahmen gelegt. Die damit vertraglich geregelte durch die Diplomatie des deutschen
eines über mehrere Jahrhunderte an- geopolitische Neuordnung ermög- Gastgebers hergestellt wurden.
haltenden weltpolitischen Zerstö- lichte ein gigantisches, systematisch Insbesondere Berlin hatte kein Inte-
rungs- und Transformationsprozesses angelegtes Kolonialprojekt, das resse daran, dass die mit Deutschland
ab. Bemerkenswert ist, wie durch die ausgehend von den am Reißbrett konkurrierenden Großmächte wie
Kolonialisierung in den Metropolen entworfenen Grenzen ein neues Frankreich und England das riesige
selbst koloniale Räume und Praktiken Zeitalter und vollkommen künstlich Gebiet des Kongobeckens mit seinen
entstanden, die im Rahmen eines „Ko- erzwungene Retortengesellschaften vielfältigen Ressourcen und ökonomi-
lonialismus ohne Kolonien“ bis in die hervorbrachte. Die weltpolitische schen Möglichkeiten ausbeuteten und
heutige Zeit tradiert wurden. Die Bedeutung dieses G14- Ereignisses ist den deutschen Aufstieg zur Welt-
Kolonialisierung wirkte sich nicht nur schwer zu überschätzen, da der macht erschwerten. Dass der Kongo
verheerend auf die Menschen und bereits im Gang befindliche „Wettlauf als Kompromisslösung in den Privat-
Gesellschaften in den neu geschaffe- um Afrika“ nun multilateral organisiert besitz des belgischen Königs Leo-
nen Kolonien aus. Sie veränderte auch wurde und sich in Richtung eines tem- pold II. überging, der dort ein beson-
die deutsche Gesellschaft, deren porären und brüchigen Macht- und ders grausames Ausbeutungs- und
Lebenswelten und Institutionen sich Interessensausgleiches der europä- Terrorregime etablierte, dem etwa die
den Erfordernissen eines koloniali- ischen Imperien entwickelte, der bis Hälfte der Bevölkerung, schätzungs-
sierenden Staates anpassten. Die zum Ersten Weltkrieg hielt. weise bis zu 10 Millionen Afrikaner/-
Kolonien wurden nicht nur als Roh- innen, innerhalb von etwas mehr als
stofflieferanten, Siedlungsräume, Ab- „Berliner Afrika- Konferenz“ 20 Jahren zum Opfer fiel, ist auch ein
satz- und Kapitalmärkte genutzt, sie oder „Kongo- Konferenz“ Ergebnis der deutschen Verhand-
dienten zudem als „Laboratorien der Ohne Übertreibung kann behauptet lungsstrategie.
Moderne“ und „Schule der Nation“. werden, dass der geopolitische Ur- Obwohl die Berliner Afrika- Konfe-
Entsprechend waren die Auswirkun- sprung des heutigen Afrikas sowie der renz symbolisch und realpolitisch eine
gen der Selbstkolonialisierung auf die Grundstrukturen seiner gegenwärti- herausragende Wegmarke ins impe-
militärische, politische, kulturelle, ide- gen Kartographie in der deutschen rialistische Zeitalter darstellt, wurde in
ologische, ökonomische, wissen- Hauptstadt zu finden sind. Deutsch- der BRD die Fiktion der Verleugnung
land stieg infolge der Herrschaft über und Unsichtbarmachung der maßgeb-

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lichen deutschen Beteiligung lange te. Die Opposition gegen die Kolonial- Populärkultur wurden koloniale Phan-
Zeit erinnerungs- sowie sprachpoli- politik war in der deutschen Gesell- tasien massenhaft erfahrbar gemacht.
tisch gepflegt. Man tat so, als ob das schaft wie im Reichstag denkbar In diesen Praktiken der Fremdreprä-
koloniale Gipfeltreffen, das heutzu- gering: Ein nicht unwesentlicher Teil sentation avancierte die koloniale Be-
tage als politischer Mega- Event be- der Sozialdemokratie betrachtete die gegnung zu einer alltäglichen Ware
zeichnet werden müsste, nie in Berlin Schaffung von Kolonien zuweilen als und gleichzeitig zu einem Raum der
stattgefunden hätte. Entgegen dem zivilisatorische „Kulturtat“ und forder- hierarchischen Inszenierung.
internationalen Verständnis, das dieses te einen „besseren“ Kolonialismus. In Die kolonialen Zuschreibungen und
Kolonialereignis als „Berlin Conference den bürgerlichen Kreisen und unter rassistischen Prozesse der Machtun-
(1884)“ bezeichnet, wird in den Eliten war die Kolonialbegeiste- gleichheit negierten faktisch die Mög-
Deutschland der Begriff „Kongo- rung nahezu einmütig. Man berausch- lichkeiten der offenen Begegnung.
Konferenz“ bevorzugt. Somit wird te sich an der Vorstellung von einer Unter diesen Bedingungen wurden die
nicht nur ein wichtiger Entstehungs- deutschen Weltmacht und gefiel sich Selbst- und Fremdbilder rassistisch
und Ausgangsort des europäischen in der Rolle des „Herrenmenschen“. formatiert und in ein starres Verhältnis
und deutschen Kolonialismus un- Die Kolonialbewegung sammelte von Zugehörigkeit und Fremdheit, von
kenntlich gemacht, sondern auch sich in Massenorganisationen wie der Über- und Unterordnung gebracht.
erinnerungspolitische Räume werden Deutschen Kolonialgesellschaft und Solche deformierten Weltbilder haben
dem Vergessen anheimgegeben. Die- dem Alldeutschen Verband. Neben sozialdarwinistischen Überlegenheits-
ses Beispiel verdeutlicht, dass koloniale ausgiebiger Lobbyarbeit und Propa- gefühlen, aber auch missionarischem
Strukturen, Dimensionen und Überlie- ganda versuchten diese Organisatio- wie kolonialpädagogischem Eifer
ferungen nicht nur bei der Verteidi- nen, die Germanisierung der okku- Vorschub geleistet. Statt als kritisches
gung rassistischer Werte und kolonia- pierten Überseegebiete durch Sied- Korrektiv dienten akademische Diszip-
ler Bilder zum Vorschein kommen, lungsmigration zu befördern. Auf der linen wie Botanik, Tropenmedizin,
sondern sich auch in der Nichtaner- anderen Seite brachte die koloniale Geographie, Anthropologie und
kennung, Unsichtbarmachung und Zwangsverbindung auch eine Verstär- Sprachwissenschaften häufig als willi-
Externalisierung ausdrücken. kung Schwarzer Präsenzen in den ge Kolonialtechniken.
deutschen Städten mit sich. Die An-
Imperial Germany wesenheit Schwarzer Menschen er- Zwischen Nostalgie,
Infolge der gesamtgesellschaftlichen regte mit der Zeit zunehmend migra- Revisionismus, virtuellen
Aufgaben- und Arbeitsteilung wurden tions- und biopolitische Debatten Kolonien und Größenwahn
viele Gesellschaftsbereiche in über die Möglichkeit bzw. Unmöglich- Am Ende des Ersten Weltkrieges
Deutschland durch die Kolonialisie- keit von Akkulturation, Niederlassung waren die imperialistischen Expan-
rung außereuropäischer Räume Be- und „Mischehen“. Neben der Kolo- sionspläne Deutschlands zunächst ge-
standteil einer kolonialen Infrastruktur. nialmigration wanderten auch im scheitert. Das Land musste seine Kolo-
Das koloniale Moment trat damit als Import- und Exportgeschäft Konsum- nialterritorien in den Friedensverhand-
gesellschaftlich organisierende Kraft in produkte über transkontinentale Han- lungen von Versailles abtreten. Mit
Erscheinung. Es entstand eine zusam- delsrouten nach Deutschland. Die dieser formalen Schlussakte schien die
menhängende Kette kolonialer Orte ökonomischen Verflechtungen zwi- Kolonialzeit in Deutschland besiegelt
und Produktionsstätten in Deutsch- schen Peripherie und Zentrum ließen zu sein. Tatsächlich trat die deutsche
land, die nach imperialistischen Inte- einen Wirtschaftskreislauf und eine In- Kolonialpolitik lediglich in eine neue,
ressen organisiert wurden. Der Auf- frastruktur für Kolonialwaren aller Art revisionistische Phase ein. Dieser Kolo-
stieg zu einer globalen Imperialmacht entstehen. Die Schauplätze dieser Ko- nialismus ohne Kolonien erfüllte sich in
ging mit der Ausbildung eines kolo- lonialwirtschaft, ihre Fabriken, Han- einem Feld der virtuellen Realität. In-
nialen Apparates einher. Gerade in delshäuser und Ausstellungsräume dem die nostalgisch verklärten Kolo-
Berlin, das als Reichshauptstadt des wurden Teil des städtischen Raums nialerinnerungen die Zukunftspläne
„Imperial Germany“ fungierte, ent- und der deutschen Alltagswelt. Öko- für die Wiedererlangung außereuro-
stand ein neues Machtzentrum. Dieser nomische Interessen begünstigten päischer Räume vorbereiteten, drohte
Ort wurde zum Ausgangspunkt eines auch die Entwicklung einer deutschen die Phantasie immer real zu werden.
kolonialen Weltreiches, das mittels Kolonialkultur und Kulturindustrie, die Die Reminiszenzen an die „gute alte
verschiedener staatlicher Organe wie das Konsuminteresse nach exotischer Zeit“ verstärkten den Wunsch, diesen
dem Reichstag, dem Reichskolonial- Fremdheit und rassistischen Stereoty- Zustand möglichst bald wieder-
amt oder dem Oberkommando der pisierungen bediente. Durch Reisero- herzustellen, um die deutsche Nation
Kolonialtruppen über die außer- mane, Zeitungsberichte, Fotografien, zur alten Stärke zurückzuführen.
europäischen Gebiete und ihre Be- später auch Filme, Werbeplakate, Völ-
wohner/- innen zu herrschen versuch- kerschauen und andere Medien der

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legen und zu einem großdeutschen


Der Verlust der „Schutzgebiete“ Maßstab bewies, lockten die so ge- Kontinent namens „Eurafrika“ zu
wurde allgemein als eine schmerzhafte nannten Völkerschauen Zuschauer- vereinen.
Amputation der Nation empfunden. Er massen an.
traf das deutsche Selbstverständnis als Das Bedürfnis nach Kolonialbesitz Koloniale Diskurse in der BRD
Weltmacht ins Mark. Kolonialrevisio- drückte sich auch in der politischen Zu den größten Bewunderern dieser
nistische Diskurse rekurrierten auf Kultur der Weimarer Republik aus. Nur manischen Großprojekte zählten die
weitverbreitete Einstellungsmuster in die Kommunistische Partei distanzierte Anhänger/- innen der Kolonialbewe-
der Bevölkerung: Neben Massenkund- sich von diesem nationalen Konsens. gung. Da ihr Wirkungskreis weit über
gebungen in vielen Städten beteiligten In einem Akt, in dem der Wunsch- die eigenen Mitglieder hinausreichte,
sich 1919 auch mehr als 3,8 Millionen traum die Realität trotzig ersetzte, blieb die Kolonialbewegung ein wich-
Deutsche an einer Unterschriften- wurde das Reichskolonialamt 1919 tiger politischer Faktor in der Weima-
aktion, um gegen den „Raub der Ko- zunächst in ein Reichskolonialministe- rer Republik. Ein Großteil dieser Kolo-
lonien“ zu protestieren. rium umgewandelt und ein Jahr später nialgesellschaften schloss sich 1922
Es gab aber auch andere Wege, das dem Reichsministerium für Wieder- zur Kolonialen Reichsarbeitsgemein-
deutsche Kolonialtrauma zu kompen- aufbau zugeordnet. schaft zusammen, die erst 1974 ab-
sieren. Noch während der Kolonialzeit Deutschland hielt sich in der gewickelt wurde. Einer ihrer Vizepräsi-
begann man damit, der deutschen Folgezeit bereit, durch die Weiterent- denten war Konrad Adenauer.
Kolonialwelt auf der Berliner Straßen- wicklung der Tropenmedizin und der Auch nach dem Ende der NS- Zeit
landkarte ein Denkmal im kollektiven Kolonialtechnik auch künftig weltweit sind koloniale Argumentations- und
Gedächtnis zu setzen. Das Zentrum agieren zu können. In kolonial- Denkmuster in der BRD trotz aller
dieser symbolhaften geopolitischen politischen Richtlinien und in wirt- gesellschaftlichen Umbrüche wir-
Aneignung in Wedding besteht schaftlichen Mobilmachungsplänen kungsmächtig geblieben. So soll der
hauptsächlich aus dem „Afrikanischen wurde die entwicklungspolitische frühere Bundespräsident Heinrich
Viertel“, das durch pazifische und chi- Durchdringung der ehemaligen Kolo- Lübke bei einem Staatsbesuch in
nesische Ortsbezeichnungen komplet- nien mit Ärzten, Pionieren und Inge- Afrika seine Gäste in „sehr geehrte
tiert wird. Einen wichtigen Impuls für nieuren angeregt. Deutschland strebte Damen und Herren, liebe Neger“
das zwischen 1899 und 1958 immer noch nach einem „Platz an der eingeteilt haben. Zwar erscheint
entstandene Kolonialviertel gab der Sonne“. So entstanden Phantasien, die inzwischen fraglich, ob dieser Aus-
berüchtigte Hamburger Kaufmann Sahara zu begrünen und agrarwirt- spruch tatsächlich von Lübke stammt,
Carl Hagenbeck, der mit Tierhandel schaftlich zu nutzen. Übertroffen wur- belegt ist hingegen, dass der Bundes-
und Menschenzoos ein florierendes de diese koloniale Utopie nur noch präsident bei einem Staatsbesuch in
Geschäft betrieb und dort einen Kolo- durch das beispiellose Atlantropa- Madagaskar den Einheimischen pater-
nialpark errichten wollte. Wie die Ko- Projekt. Aus dem Wunsch nach afrika- nalistisch riet: „Die Leute müssen ja
lonialausstellung 1896 im großen nischen Besitzungen entwickelte sich auch mal lernen, dass sie sauber
die Idee, das Mittelmeer trockenzu- werden“. Der sich in einer solchen

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politischen Kultur wiederfindende den. Gerade in der kritischen Kultur- Meinungsführer darin einig, dass
koloniale Habitus, den viele Weiße arbeit und Wissenschaft ist es daher Köhlers Fehler vor allem darin be-
Deutsche lediglich als lustige Anek- sinnvoll, etwa in der heutigen Migra- standen habe, zu wenig Stehver-
dote abtun, mag der Sozialisation sei- tions- und Integrationspolitik wie mögen und Ausdauer gezeigt zu
ner Generation in der Kolonialzeit ge- auch in anderen Bereichen für die stille haben. Einige werteten Köhlers Rück-
schuldet sein. Die Hierarchisierung und Wiederkehr kolonialer Paradigmen als tritt sogar als Verrat an Deutschland in
konstruierte „Rassenpyramide“, die Farce oder Tragödie zu sensibilisieren Zeiten der Krise. Meist wurde be-
solche Diskurse erst ermöglichen, ste- und immer wieder gesellschaftliche hauptet, dass die eigentliche Schuld
hen zudem symptomatisch für das Konventionen gegen den Strich zu bei seinen politischen Gegnern und
problematische deutsche Verhältnis zu bürsten. Einige Episoden aus dem deren maßloser Kritik läge, die eine
seinen früheren Siedlungskolonien. politischen Alltagsgeschäft zeigen in Reihe von Missverständnissen gegen
Die in der BRD geäußerten Sorgen dieser Hinsicht eine erstaunliche ihn ausgenützt hätten.
über die jüngsten Landreformpläne in Selbstgefälligkeit, die unbeantwortete Das größte Missverständnis in
Namibia zuungunsten der deutsch- Fragen nach den weiteren Entwick- Köhlers Position läge darin, dass er mit
stämmigen Großgrundbesitzer er- lungen aufwerfen. dieser Stellungnahme eigentlich den
wecken den Eindruck einer „Schutz- Wenn nicht alles täuscht, sind mit Somalia- Einsatz der Bundeswehr
macht“, die sich für ihre deutsche Ko- den „Verteidigungspolitischen Richt- rechtfertigen wollte. Merkwürdiger-
lonie und ethnischen Landsleute ein- linien“ der Bundesregierung von 1992 weise wurde in der Diskussion sug-
setzt. Ebenso ist daran zu erinnern, und 2003, die eine weltweite Siche- geriert, dass Köhlers Begründung für
dass es zu Südafrika in der Apartheid- rung nationaler Interessen vorsehen, militärische Auslandseinsätze auf dem
zeit nicht nur eine gut funktionierende die militärischen und machtpolitischen afrikanischen Kontinent den normalen
Franz- Josef- Strauß- Connection gab, Komponenten in der deutschen Au- Gepflogenheiten der außenpolitischen
sondern auch weitläufige Bestrebun- ßenpolitik revitalisiert worden. Inzwi- Debatte entspräche. Nach derzeitiger
gen, sich für die Interessen der schen ist die deutsche Armee als Glo- Planung wird zukünftig vor allem
120.000 deutschstämmigen Siedler/- bal Player nach den geflügelten Wor- Afrika als Zielgebiet deutscher Kriegs-
innen zu engagieren. ten ihres damaligen sozialdemokrati- einsätze angesehen, die offiziell als
Abschließend möchte ich die schen Ministers Peter Struck vom 5. „friedenserzwingende Missionen an
zentrale Frage nach der kolonialen Dezember 2002 auch bereit, „die Si- jedem Ort der Welt“ beschrieben
Präsenz in zugespitzter Weise veran- cherheit Deutschlands am Hindukusch werden. Mit der Durchsetzung west-
schaulichen. In der Gegenwart er- [zu] verteidigen“. licher Militärgewalt steigt die Gefahr,
scheint für viele der deutsche Kolonia- Ende Mai 2010 hatte der inzwischen dass durch geopolitische Interven-
lismus nur noch als historische Er- zurückgetretene Bundespräsident tionen eine Weltordnung (re- )etabliert
scheinung und die Rede vom „Neoko- Horst Köhler die Ansicht vertreten, wird, die einen Kreislauf von Herr-
lonialismus“ wie ein Relikt aus der dass ein Land wie Deutschland, „mit schaft und Viktimisierung revitalisiert,
endlich pazifizierten 1968er- Zeit. Aber dieser Außenhandelsorientierung und in der die aufeinander weisenden Ka-
sind die Gefahren eurozentristischer damit auch Außenhandelsabhängig- tegorien von Raum – Traum – Trauma
Diskurse und selbstreferentieller keit auch wissen muss, dass im Zwei- erneut als Glieder einer kolonialen
Machtlogiken, zu denen auch das Pri- fel, im Notfall auch militärischer Ein- Produktionskette miteinander ver-
mat nationaler Interessen gehört, tat- satz notwendig ist, um unsere Interes- bunden werden. «
sächlich gebannt? Gehört das sen zu wahren, zum Beispiel freie
deutsche Streben nach einem „Platz Handelswege, zum Beispiel ganze re- Zum Autor
an der Sonne“ einer endgültig abge- gionale Instabilitäten zu verhindern, Kien Nghi Ha ist promovierter
schlossenen Epoche an? Statt beruhi- die mit Sicherheit dann auch auf un- Kultur- und Politikwissenschaftler.
gende Gewissheiten zu behaupten, sere Chancen zurückschlagen negativ Zuletzt kuratierte er am Hebbel am
erscheint es mir sinnvoller, von einer durch Handel, Arbeitsplätze und Ein- Ufer Theater (Berlin) das Programm
Realität auszugehen, in der es unter kommen. Alles das soll diskutiert wer- „Vietnamesische Diaspora and
veränderten inner- und weltgesell- den und ich glaube, wir sind auf einem Beyond“. Eine Buch- und
schaftlichen Voraussetzungen möglich nicht so schlechten Weg.“ Zwar wurde Videofilmdokumentation ist für 2011
ist, kolonialähnliche Dominanzverhält- sein Rücktritt oft mit der, wie es hieß, geplant. Veröffentlichungen u.a.
nisse weiterzuentwickeln und die Welt unglücklichen Formulierung dieser „Ethnizität und Migration Reloaded“
weiterhin nach den Bedürfnissen des Äußerung begründet, die die politi- (1999/2004) und „re/visionen.
globalen „Westens“ neu zu gestalten. sche Opposition kurzfristig als Plädo- Postkoloniale Perspektiven von People
Zweifellos ist das wiedervereinte yer für verfassungswidrige Wirt- of Color auf Rassismus, Kulturpolitik
Deutschland zu einem wichtigen schaftskriege kritisierte. Letztlich wa- und Widerstand in Deutschland“ (Co-
Akteur auf dieser Weltbühne gewor- ren sich viele politische und mediale Hg, 2007).

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