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Martin Lindner, Was sind Meme im Web?

Eine Definition
28. Januar. 2009
http://microinformation.wordpress.com/2009/01/28/was-sind-meme-im-web-eine-defin
ition/
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Definition: Memes sind elementare Einheiten kultureller Information, die „sich sel
bst replizieren“, in Kettenreaktionen, und die in diesem Prozess mehr oder minder
komplexe, flüchtige und ausdifferenzierte Felder/Strukturen/ Wolken bilden, die wi
eder auf den gesamten Mem/Sem-Prozess zurückwirken.
(Ausführlicher dazu siehe unten.)
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Das ist entstanden im Rahmen eine hypothetischen iMEMES / iSEMES – Projekts: Die I
dee wäre es, das Web als neuartiges, dynamisches und sich komplex ‘selbst-organisier
endes’ Ökosystem für die Zirkulation, Anreicherung und Produktion von Wissen/Informati
on zu erforschen.
Ziel: Den „Grundstoff des Web“ greifbar machenen, seine Regularitäten und Strukturen b
eschreiben.
Also nicht „das Web“ als Ganzes, sondern konkret „mem-ähnliche Elemente und mem-artige S
trukturen/ Prozesse“ im microcontent-basierten Web. „Mem“-Phänomene als bezeichnende Son
derfälle auffassen für Semiose-Prozesse, Bildung von ideologischen Feldern, Ausbildu
ng von externalisiertem „kollektivem“ Wissen usw. im Web.
(0) DISCLAIMER / VORBEMERKUNG
(0.1) „Meme“ wird hier als rein heuristischer, operativer, quasi „oberflächlicher“ Begriff
verwendet, der es erlaubt, wesentliche Phänomene des Web als neuartigem „Ökosystem“ für I
nformation/Wissen in den Blick zu bekommen. (D.h. die Binnenlogik und Eigendynam
ik des Web, die sich aus der hohen Granularität, losen Kopplung und Volatilität, dyn
amischen Prozessen und Kettenreaktionen ergibt.)
(0.2) Ausgeklammert wird hier die ganze zweifelhafte ontologische „Meme“-Diskussion,
die aus polemischer „kulturdarwinistischer“ Perspektive geführt wird: Das „Mem“ als direk
te Entsprechung zum „Gen“, d.h. als etwas, dessen Existenz bewiesen werden kann. Wir
fragen uns also nicht, ob es Meme „gibt“, in dem Sinn, in dem es anerkannt ist, das
s es (irgendwie) Gene „gibt“. Wir glauben aber sehr wohl, dass das Konzept „Mem“ fruchtb
ar ist und Phänomene und Regularitäten zu beschreiben erlaubt, die kultur-und sozial
wissenschaftliche Theorien bisher kaum nüchtern in den Blick bekommen haben.
(0.3) Wir betrachten insbesondere nicht den „menschlichen Geist“ als Träger und Medium
von Memen. Stattdessen lokalisieren wir sie provisorisch in den beobachtbaren Z
eichen-Ereignissen selbst.
(0.4) „Menschen“ kommen in diesem System vor als aktive Knoten im Mem-Zirkulations-P
rozess, nämlich (a) als „kognitive Agenten“ (Aufmerksamkeit, Gedächtnis, kognitiver Aspe
kt der Äußerung, aktive/passive „User Experience“), (b) als „soziale Agenten“ (Subjekt-Posi
ion im Aussage- und Kommunikationsgeflecht, sozialer Aspekt der Äußerung).
(0.5) Wir benutzen vielmehr eine abstrakte, systemtheoretische Version des Meme-
Begriffs, wie sie ja auch in der Evolutionsbiologie jenseits der philosophisch-w
eltanschaulichen Diskussionen tatsächlich gebraucht wird. Daneben ist diese Versio
n von Systemtheorie v.v.beeinflusst von Linguistik/Semiotik: Ein „Mem“ ist ein (im w
eitesten Sinn) ‘sprachliches’ Phänomen.
(0.6) Wir vermuten, dass „Meme“ nur ein plakativer Spezialfall von „Semen“ sind, hier im
Sinne von elementaren Zeichen-Ereignissen (Aussagen).
(1) PROVISORISCHE DEFINITION
Memes sind (1.1) elementare (1.2) Einheiten (1.3) kultureller (1.4) Information,
(1.5) die „sich selbst replizieren“, (1.6) in ununterbrochenen Kettenreaktionen, (1
.7) und die in diesem Prozess mehr oder minder komplexe, flüchtige und ausdifferen
zierte Felder/Strukturen/ Wolken bilden, die wieder auf den gesamten Mem/Sem-Pro
zess zurückwirken.
Bemerkungen dazu:
(1.1) „elementar“ > in Bezug auf System-Prozesse, relativ stabil, relativ selbst-ide
ntisch. (Es „gibt“ „Meme“ nicht als solche, sondern nur „in Aktion“ und „im System“.)
(1.2) „Einheit“ > wiederholbare Zeichen-Ereignisse, so wie „Gene“ lebendiger Bio-Code si
nd,
(1.3) „kulturell“ > Semiosphäre, bestehend aus Zeichen-Ereignissen, vgl. (1.7)
(1.4) „Information“ > systemtheoretisch-abstrakt zu definieren, als indirekte Repräsen
tation von System-Umwelt für ein gegebenes System (also eher „biologisch“ und/oder „sozi
ologisch/ethnologisch“, nicht im Sinn von Shannon/Weaver).
(1.5) „Replikator“ > Hier bleibt offen, was „sich selbst“ heißt. Das Phänomen wird erst ein
al „von außen“ betrachtet, im Als-ob-Modus: als handele es sich um „Selbst-Replikation“, u
m so die gegebenen Prozesse und Strukturen besser beschreiben zu können.
(1.6) „Kettenreaktionen“ > Web-Meme sind eingebettet in die unaufhörlichen Serien von
Zeichen-Ereignissen, die das „Live Web“ ausmachen. (Wir vermeiden hier möglichst den m
issverständlichen Begriff „Kommunikation“.) Wie sprachliche Aussagen existieren Meme n
ur innerhalb der Ketten, nicht außerhalb. „Sprache“ gibt es nur als Gesamtheit von sic
h gegenseitig hervortreibenden Aussage-Ereignissen.
(1.7) „Felder“ > Wiederum am ehesten vergleichbar mit einer „Sprache“ als System, das ne
ben/über den einzelnen Aussagen dann eben doch irgendwie „existiert“. Vor allem aber m
it den „diskursiven Feldern“, die sich aus „Aussagen“ bilden und sich dabei von „natürliche
Sprachen“ (wie Englisch, Deutsch, Französisch …) ablösen: z.B. „antisemitisches Feld“ als
ine Struktur, die sich aus „antisemitischen“ Aussagen und „Memen“ nährt und auf die Aussag
e-Kettenreaktionen zurückwirkt. (Diese Felder meinen die kulturdarwinistischen Mem
-Theoretiker vermutlich mit „Memplexe“.)
Dieser Eintrag wurde erstellt am 28. Januar. 2009 um 11:37 am und ist abgelegt u
nter information.
Tags: meme, memes, microinformation, semiose, semiotik, web studies, web theory
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10 Antworten zu “Was sind Meme im Web? Eine Definition”
Mac Sagt:
29. Januar. 2009 um 3:55 pm
Aktueller Beispiel: Boxxybabee
Antworten
ben_ Sagt:
30. Januar. 2009 um 9:03 am
Holla die Waldfee. Das ist nicht wenig. Deswegen lasse ich das mal in Ruhe s
acken und schreibe ein paar Kommentare, nach einander …
ad 1.6) „unaufhörlich“ möchte ich arg in Zweifel ziehen. Mehr noch: Klar können Meme w
ieder aufgegriffen werden, aber a) gehen die meisten aus sozialer Perspektive do
ch irgendwann unter und b) verhindert nichts, aber auch gar nichts, dass selbst
die technischen Grundlagen der Meme – ihre Artikel, URLs, Zeichenketten, Layouts – v
erändert werden oder gar völlig verschwinden. Die statischen HTML-Seiten des Web1.0
von denen heute fast keine mehr erreichbar ist, sind ein guter Präzendensfall dafür.
Antworten
martinlindner Sagt:
31. Januar. 2009 um 12:28 am
danke erstmal! das hilft jedenfalls weiter. ich verteile mal meine fragm
entarischen gedanken auf die einzel-comments…
„unaufhörlich“: das bezog sich nicht auf die meme (natürlich können die sterben),
sondern auf die permanenten kettenreaktionen der aussagen, die das Live Web als
ganzes ausmachen,und in die die mem-ketten selbst eingebettet sind. und dann gla
ube ich, dass es falsch ist, von der „urform“ eines memes auszugehen, die dann irgen
dwann verschwindet, verfällt usw. das betrifft vielleicht das soziale objekt im fa
ll viraler videos u.ä. in den interessanteren fällen, wo es sich umaussagen handeln,
die nicht per link oder copy/paste weitergegeben werden, sollte man sich vielle
icht die fortzeugung eher so vorstellen wie bei den wittgenstein’schen familienähnli
chkeiten: „Ich möchte hier sagen, dass es niemals unser Anliegen sein kann, irgendet
was auf irgendetwas zurückzuführen. … Sie [die Verwandtschaft] kann die Glieder ketten
artig verbinden, so dass eines mit einem anderen durch Zwischenglieder verwandt
ist; und zwei einander nahe Glieder können gemeinsame Züge haben, einander ähnlich sei
n, während entferntere nichts mehr miteinander gemein haben und doch zu der gleich
en Familie gehören.“
Antworten
ben_ Sagt:
30. Januar. 2009 um 9:08 am
ad 1.3) Es stellt sich die Frage in weit die technische Realität von Memen als
Zeichenketten in Datenbanken, Dokumenten die unter URLs zu erreichen sind und A
UTOMATISCH von Maschinen erfasst und weiterverbreitet werden, entweder als „techno
logie-kulturelle“ Eigenschaft betrachtet werden kann, oder ob der Definition eine
technologische Dimension hinzugefügt werden muss. Denn eines scheint mir klar: die
Dynamik, die Meme in ihrer Existenz im Internet aufzeigen, ist untrennbar mit i
hrer Existenz als binäre Informationen in einem Netz von URLs und Programmen verbu
nden.
Antworten
martinlindner Sagt:
31. Januar. 2009 um 12:35 am
ja. – die“meme“,von denen hier phänomenologisch die rede ist, sind „microcontent-c
hunks„: self-contained (quasi microformats), indiviudually addressable (URI), adae
quately formatted for further processing and „self-replicating“. und diese merkmale
haben sie eben (wie Web-microcontent überhaupt) immer zweifach: für das technische s
ystem und die software (also z.b. Atom usw.) und für die menschliche (kognitive,so
ziale, sprachliche) verarbeitung. und genau diese doppelung, diese feedback-loop
s von mensch/maschine machen die dynamik und das wesen des „Web 2.0″ aus.
Antworten
ben_ Sagt:
30. Januar. 2009 um 9:14 am
Überhaupt: Die Definition greift meines Erachtens auch auf das Konzept „Meldung“ (
nicht Nachrichten!) für Prä-Internet Medien und in Prä-Internet Zeiten. Einzige Bestan
dteil der solche nicht-web Meme ausschließen würde scheint mit der Begriff „Live Web“ in
der Erläuterung zu 1.6 zu sein und selbst der ließe sich mit etwas gutem Willen auc
h auf das Meldungswesen der Nachrichtenagenturen anwenden.
Antworten
martinlindner Sagt:
31. Januar. 2009 um 12:38 am
ja, das denke ich auch. „news“ (in einem mcluhan’schen sinn) gehorchen sicher äh
nlichen dynamiken und regularitäten. die einengung auf „Web meme“ ist hier rein heuris
tisch. ich vermute, dass man über deren untersuchung einiges an materialfür weiterge
hende kultur-analysen gewinnen könnte. aber eine frage: wieso news-als-meldungen j
a, hingegen aber „nachrichten“ nicht? ich würde meinen, dass selbstverständlich auch „nach
richten“ mem-dynamik entwickeln können?
Antworten
ben_ Sagt:
30. Januar. 2009 um 9:20 am
Und noch eine vielleicht brauchbare Beobachtung: Es fehlt meines Erachtens n
ach ein Moment der Mutation. Meme meandern mitunter stark. Das habe ich sowohl b
ei meinem Job bei einer Online Zeitung als auch in meinem eigenen Blog beobachte
t. Am besten aber kann man das beim Memetracker Rivva beobachten, wenn einzelne
Meme sich entweder binnen kurzer Zeit großer Popularität erfreuen, oder sich über eine
n längeren Zeitraum hinziehen. Ein Meme wird zu zwei Memen oder verändert deutlich s
ein Wesen. Aus Protesten wird eine Krise, aus einer Krise wird ein Notstand, aus
einem Notstand wird ein Konflikt, aus einem Konflikt wird ein Krieg. Und plötzlic
h erscheinen RÜCKWIRKEND die Beiträge zum Protest Teil des Krieges zu sein, obowhl s
ie als Zeichenketten und durch ihre Metainformationen nicht das geringste Anzeic
hen eines Krieges tragen.
Antworten
martinlindner Sagt:
31. Januar. 2009 um 12:55 am
mäandernde meme: ja,das stimmt sicher.wie man sich die verschiebungen und
mutationen vorstellen und modellieren soll, weiß ich selbst nicht genau. das wäre ja
dann resultat von so einem projekt ;)
das mit der rückwirkung ist auch interessant: ich denke, man könnte sagen, d
ass jedes sem/mem zwei seiten zugleich hat: einmal als teil von „ketten“ und einmal
als teil von „wolken“. so wie sprachliche aussagen teil einer konversation sind und
zugleich eine „sprache“ fortschreiben, aufladen und auf der mikroebene beeinflussen,
die wie eine wolke über dem großen stimmengewirr, das eine kultur ist, steht. ich wür
de da immer versuchen auf Foucaults konzept der aussagen in „Archäologie des Wissens“
zurückzugehen. aber es ist nicht leicht, da die relevanten teile herauszudestillie
ren. ich werde das hier mal versuchen. ah ja, und lotmans idee einer semiosphäre,
in der ständig „übersetzungen“ vorgenommen werden von einem system in ein anderes. schwi
erig, wie gesagt.

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