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Skizze zu einem transdisziplinären Projekt (2009)

iMEMES/iSEMES – Zirkulation und Anreicherung von Information/Wissen im ”Web 2.0” bzw. „i


n the cloud“
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Der Vorschlag
Es geht um ein transdiziplinäres Projekt, das im August bei der VW-Stiftung beantr
agt wird (Programm „Schlüsselfragen der Geisteswissenschaften“): Erforscht werden soll
die Binnenlogik, Eigendynamik und „Emergenz“ von digitaler „Mikroinformation“ im Web.
Dabei sollen disziplinäre und methodische Grenzen überschritten werden: Beteiligt we
rden sollen neben „Geisteswissenschaftlern“[1] auch Kognitionswissenschaftler und in
sbesondere theoretisch interessierte Software-Entwickler und Applikations-Design
er.[2]
Umständlicher ausgedrückt
Erforscht werden soll die quasi „emergente“ Entstehung, Ausbreitung, Zirkulation und
Anreicherung von kleinen und kleinsten, für sich stehenden Bedeutungseinheiten, d
ie befördert wird durch neue „Web 2.0“[3]-Technologien wie durch neue Praktiken, Erfah
rungsmuster und „Subjektpositionen“ der NutzerInnen von digitalen vernetzten Medien.
Konkreter Ausgangspunkt sind „Internet/Web-Meme“[4], als beobachtbares Phänomen und al
s vortheoretisch (!) verstandener, heuristischer Begriff: d.h. also Prozesse der
„viralen“ Ausbreitung von „sich selbst replizierenden Einheiten kultureller (Mikro-)I
nformation“. Was hier „viral“ und „selbst replizierend“ meint, und was eine „Einheit kultur
ller Information“ sein könnte, wäre im Verlauf des Projekts zu klären. Geprüft werden soll
u.a. die Hypothese, dass solche „Meme“ Sonderfälle von allgemeineren Prozessen der „Sem
-Zirkulation“ sind.
Das Interessante daran ist, dass solche Ausbreitungsprozesse und Kettenreaktione
n zugleich begünstigt werden durch technische Kodierung wie durch menschliche Fakt
oren. Es handelt sich quasi um “Cyborg“-Phänomene.
Die Forschung soll sich dabei gezielt auf das konzentrieren, was im Web seit ca.
5 Jahren tatsächlich passiert: also auf real existierende „Meme/Seme“ und v.a. auch a
uf die real existierende technologische Struktur des „Web 2.0“ (oder wie immer das i
n Zukunft genannt werden wird), die neue Formen der Mem/Sem-Zirkulation möglich ma
cht.
Warum ist das ein „Schlüsselthema“?
Für die Gesellschaft: Das Web greift tief ein in den soziokulturellen Stoffwechsel
, auf eine Art, die noch kaum verstanden und abzusehen ist. Hier entsteht ein ne
ues Informations/Wissens/Kommunikations-Ökosystem, das vielfach zurückwirkt auf die „w
irkliche Welt“.
Für die Geisteswissenschaften bzw. Humanities: Das iMemes/iSemes-Projekt stellt he
rkömmliche „geisteswissenschaftliche“ Ansätze quasi vom Kopf auf die Füße. Es erprobt ihre
ruchtbarkeit an einem unmittelbar gesellschaftlich relevanten Gegenstand.
Für den deutschsprachigen Diskurs: Diese Thematik „liegt in der Luft“. Wenn man sie sy
stematisch angeht, ungefähr in der unten skizzierten Weise, findet man nicht nur A
nschluss, sondern übernimmt auch eine Schrittmacherfunktion für den internationalen
englischsprachigen Diskurs im neuen, noch undeutlichen Schnittfeld von Cognitive
Science, Web Studies, Media Studies, Social Network Theory und Humanities.
„Forschung und Entwicklung“
Methodisch soll der Fokus auf Empirie und Technologie gelegt werden. Es geht als
o mehr darum, die im Web implizierte Theorie (auch) mit „geisteswissenschaft-liche
n“ Mitteln herauszulesen, als darum, bestehende „geisteswissenschaftliche“ Theorien im
Web wiederzufinden.
Das heißt, es wird versucht, „geisteswissenschaftliche“ Theorien als Teil eines Forsch
ungsprozesses zu verstehen und zu benutzen, der sich eher an „Research & Developme
nt“ orientiert als an herkömmlichen geistes- und sozialwissenschaft-lichen Modellen.
Insbesondere soll Software in diesem Projekt eine wichtige Rolle spielen:
(a) als Analyse-Instrument für „meme-mapping“ und „seme-mapping“;
(b) als technische Basis für so etwas wie „Laborexperimente“, als Software-in-Aktion – d
enn tatsächlich kann man viele der neuen Web 2.0-Applikationen auch als „geisteswiss
enschaftliche Laborxperimente“ betrachten.
Am Ende sollen möglichst anfassbare und benutzbare Resultate stehen, möglichst im We
b, möglichst auch in Software-Form und in englischer wie deutscher Sprache.
Transdisziplinär
Die hypothetisch postulierten „Meme“ bzw. „Seme“, über deren Wesen erst einmal nichts ausg
esagt sein soll, sind Teil von Prozessen, an denen zumindest fünf Funktionsstellen
bzw. Funktionsebenen beteiligt sind:
(1) Das „elementare Stück Information“ selbst, abstrahiert vom jeweiligen Akt der „Äußerung
wie es in technisch und normalsprachlich-semantisch kodierter Form „vorliegt“;
(2) menschliche Agenten als kognitiv-individuelle Einheit, die das Stück Informati
on (re-)produzieren, es flüchtig aufnehmen, irgendwie transformieren und schnell v
on Neuem in Umlauf bringen;
(3) menschliche Diskurs-Agenten in einem sozio-kulturellen Kommunikationssystem
(hier von außen als Funktionsstellen betrachtet, quasi wie Partygäste, die „Konversati
on machen“);
(4) das mediale System, in dem das geschieht, also „das Web“ als Infrastruktur und a
ls Summe der beteiligten Applikationen, die jeweils das sich permanent transform
ierende Spielfeld darstellen für dieses „Massive Multiplayer Online Language Game“;
(5) „die Sprache“ selbst, hier begriffen als dynamische „Semiosphäre“, die sich zugleich b
etrachten lässt als relativ stabiles Feld (quasi als „Supertext“) und als komplex verw
obenes Ineinander von Kettenreaktionen von Aussagen/Äußerungen.
Für jede dieser Funktionsstellen bzw. –ebenen lassen sich verschiedene geistes- und
kulturwissenschaftliche Disziplinen und Theorien heranziehen:
(1) Semiotisch fundierte Textwissenschaft (Analyse von einzelnen „Texten“, „Aussagen“, „Bo
tschaften“);
(2) Kognitionswissenschaften und kognitive Psychologie (Erforschung von „attention“
und kurzzeitigem Gedächtnis); (3) Soziologie und Cultural Studies (insbesondere sy
stemtheoretisch orientiert);
(4) Medienwissenschaften (wiederum systemtheoretisch ausgerichtet und fokussiert
auf digitale vernetzte Medien, nicht in erster Linie auf herkömmliche „Massenmedien“:
also in der Richtung von Manovich, Winkler…);
(5) Sprachwissenschaftlich und systemtheoretisch orientierte Kulturwissenschafte
n (mit relevanten Konzepten wie Lotmans „Semiosphäre“, Foucaults „Archäologie“, Lévi-Straus
hen“ …).
Computational Humanities - Humanities-informed Computing
Diese fortschrittlichen, aber immer noch akademischen Ansätze, die man „System Theor
y-informed Humanities“ nennen könnte, sollen zusätzlich kombiniert werden mit den hoch
interessanten Diskursen und Methoden, die seit einiger Zeit rund um Software-Des
ign im weitesten Sinn v.a. im Web selbst sich herausbilden (und nur partiell und
selten in gedruckter Form, vgl. aber Literaturliste). Diesen Diskurs könnte man „Hu
manities-informed Computing“ nennen (beginnend mit den Web 2.0-Definitionen von O’Re
illy u.a., fortgeführt vor allem in vielen Blogs, im übrigen durchwegs englischsprac
hig).
„Computational“ ist hier also konkret auf den Gegenstand „Web (2.0)“ bezogen, d.h. nicht
zuerst auf „den Computer“ oder „digitale (Basis-)Technologien“ – es geht hier eben nicht
mehr um „Nullen und Einsen“, sondern um neuartige, menschliche User in die Software
mit einbeziehende Medientechnologien. Zugleich deutet der Begriff die Anschlusss
tellen an zu all den Theorien „komplexer emergenter Systeme“, die ja nicht zufällig en
g mit Hilfe von Software-Modellen erforscht und weiterentwickelt werden.
Das Projekt zielt also ab auf eine Art von transdisziplinären „Computational Humanit
ies“, in einer Engführung von
- Empirie (Analysen von Mem-Prozessen, mit geistes- und sozialwissenschftlichen
Methoden, aber auch mit Hilfe von Software),
- Engineering (Laborexperimente mit konkreten „meme machine“-Applikationen aus dem W
eb 2.0-Bereich, vgl. Liste im Anhang) und
- Theorie, die möglichst schlackenlos und „anwendungsnah“ gehalten und auf den konkret
en Forschungsgegenstand bezogen sein soll.

...

Zum Web als Phänomen und Forschungsgegenstand: 3 Hypothesen


(1) Mit dem microcontent-basierten neuen Web („Web 2.0“, „Live Web“, „Micro Web“, „Cloud“)
teht ein dynamisches, komplexes, selbstorganisierendes "Ökosystem", das auf eigentüm
liche Weise die Zirkulation, Anreicherung und Produktion von Information/Bedeutu
ng/Wissen neu organisiert – für Individuen, für Gruppen, für Unternehmen/Organisationen
und für die Gesellschaft/Kultur selbst.
(2) Im neuen Web („Web 2.0“, „Live Web“, „Micro Web“, „Cloud“) sind bisher entscheidende so
ulturelle Grenzen in alle Richtungen unscharf geworden. Unter anderem
- zwischen Schrift/Zeichen-Kultur, Medien, Software (Client & Server), D
esign (Interface, User Experience, Information Architecture);
- zwischen individueller Kognition („attention“, „media user experience“) und so
zialen Netzwerken,
- zwischen medialen Systemen (hier eben das „Web 2.0“) und kulturellen Zeich
ensystemen („Sprachen“), die unter dem Einfluss digitaler Medien ihren Aggregatzusta
nd[5] verändern;
- „wirklicher Welt“ und „Zeichenwelt“[6] …
(3) Das ist eine revolutionäre Umwälzung der „Semiosphäre“, eine Art „digitaler Klimawandel
Diese neuen Phänomene sind bisher kaum erforscht und kaum verstanden. Wenn das nic
ht ein zentraler Gegenstand der „Geisteswissenschaften“ ist (bzw. der „Kulturwissensch
aften“, „Humanities“, „Zeichen- und Systemwissenschaften“ …) – was dann?

Einige weitere thematische Aspekte


Das Projekt verspricht z.B. auch mögliche Aufschlüsse zu Fragen wie:
- "Kollektive" Anreicherung im Netzwerk/Web von Information/Wissen, das nicht me
hr als "individuelle Leistung" und "geistiges Eigentum" von Fachleuten, Experten
, geschlossenen Gruppen erscheint.
- Entscheidende Rolle der digitalen Medientechnologie: Immaterielle Schrift auf
Screens, Skyreading/skywriting - ReadWriteWeb; Feedback-Mechanismen; Web 2.0 als
"Matrix", in der Software und humane "Agenten" zusammenspielen ("Network effect
s by default"); Feed-Technologien; Filter, Recommender, „lower case semantic web“ us
w.
- Neue Subjektpositionen (Knoten im Zirkulations- und Anreicherungsprozess, "Poi
nts of Presence" in der Google Galaxis, „social software“, User Experience Design im
Web 2.0 und Mobile Web …).

Anmerkungen
[1] „Geisteswissenschaften“ wird hier sehr allgemein verstanden als ein umfassender
Terminus, der Kulturwissenschaften und „cultural studies“, „media studies“ und theoretis
ch ausgerichtete Sozialwissenschaften („social studies“) umfasst und dabei fließend über
geht in „exakte“ Wissenschaften („sciences“), die sich aus anderer Perspektive mit den e
her unscharfen Phänomenen des Geistes, der Kultur und der Kommunikation befassen.
[2] Dabei könnten etwa folgende theoretischen und empirischen Ansätze bzw. Disziplin
en einbezogen werden, für die sich an deutschen Universitäten konkrete Anknüpfungspunk
te und untereinander “geistesverwandte“ Vertreter finden: Medienwissenschaft, Semiot
ik/Literaturwissenschaft, Informatik, Design, Kognitive Psychologie, biologische
und soziologische Systemtheorie, Netzwerktheorie … Eine Liste mit möglichen Namen/I
nstituten, die mir dazu spontan einfallen, findet sich am Ende.
[3] Wie das künftig genannt werden wird, ist nicht klar, aber „Web 2.0“ ist ein durcha
us theoretisch brauchbarer und ansatzweise exakt definierter Begriff. Es wird hi
er synonym geraucht mit anderen Etiketten wie „Live Web“, „Micro Web“, „Cloud“ …
[4] „Mem“ wird hier als heuristischer Begriff benutzt und im übrigen eher systemtheore
tisch verstanden, also nicht so krud neodarwinistisch, wie es im Feld der vor ze
hn Jahren vorübergehend boomenden „Mem-Theorie“ üblich war. Der Terminus selbst geht zurüc
k auf eine eher beiläufige Begriffsprägung von Dawkins (The Selfish Gene, 1976). Dor
t ist das Konzept auch eher schlicht. Die komplexen systemtheoretischen Beschrei
bungen allerdings, die die aktuelle genetische Biologie verwendet, könnten auch im
Zusammenhang von kulturellen „Memen“ anregend und fruchtbar sein. Meine provisorisc
he Definition unter:
http://microinformation.wordpress.com/2009/01/28/was-sind-meme-im-web-eine-defin
ition/
[5] Als „Wolke“ und als „Flow“: Indem einerseits die Schrift elektronisch wird (quasi „Lic
htgeschwin-digkeit“, Flüssigkeit und Flüchtigkeit, Zerfall in für sich selbst stehende M
ikro-Teilchen), indem umgekehrt bisher mündliche, flüchtige Zeichen-Ereignisse in re
lativ dauerhafter Form auskristalli-sieren und digital werden, d.h. ineinander übe
rsetzbar, prozessierbar, aggregierbar …
[6] Wohlgemerkt: Hier sind nicht die „virtuellen Welten“ gemeint (also auch nicht „Sec
ond Life“), sondern das wahre „zweite Leben“ bzw. das zweite „wahre Leben“): nämlich die ne
entstehenden hybriden Kommunikationsräume des Web, in denen Menschen tatsächlich le
ben: mit e-mail und IM , Twitter, flickr und anderer „social software“, Widgets und
Feeds, aber auch mobile phone calls und SMS.

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