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Liqueszenzneumen1

aus: Luigi Agustoni/Johannes Berchmans Göschl, Einführung in die Interpretation des Gregorianischen Chorals, Bd. 2: Ästhetik (Teilband II),
Regensburg 1992, S. 489.

Grundsätzlich gilt:
1. Liqueszenzzeichen sind ambivalent (zweideutig).
2. Für ein und dieselbe Neume - mit Ausnahme der Einzeltonneume - stehen grundsätzlich zwei
unterschiedliche Liqueszenzformen zur Verfügung, nämlich die augmentative und die diminutive
Liqueszenzform.

a) Was bedeutet gregorianische Liqueszenz?


„Die Liqueszenz ist nach Cardine ein vokales Phänomen, das primär durch komplexe
Aussprachegegebenheiten am Silbenwechsel bedingt ist und eine geschmeidige Ausführung solcher
Silbenartikulationen gewährleisten und eine klangschöne Verschmelzung der beiden angrenzenden
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Silben bewirken soll.“
b) „Die phonetischen Voraussetzungen der Liqueszenz

1. Zwei oder drei Konsonanten


a) zwei oder drei Konsonanten, deren erster eine Liquide (l, m, n, r) ist
(Beispiele: salvi, omnia, ostende, cordis);
b) zwei Konsonanten, deren erster ein dentaler Explosivlaut (d, t) ist (Beispiele: ad
lapidem, et semitas);
c) zwei Konsonanten, deren erster ein Zischlaut (s) ist (Beispiele: filius Dei, Israel);
d) die Konsonantenverbindung „gn“ (Beispiel: magni);
e) zwei Konsonanten, deren zweiter ein „j“ ist, deren erster variieren kann (b, d, m,
n, r, s, t; auch l, jedoch nicht in G 339); Beispiele: adjutor, ovem Joseph, injuste, et
jam.

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Vgl. ausführlich zum Thema: Luigi AGUSTONI/Johannes Berchmans GÖSCHL, Einführung in die Interpretation
des Gregorianischen Chorals, Band 2, Ästhetik (Teilband II), Regensburg 1992, S. 481-551, Kap. 8: Die Liqueszenz
im Gregorianischen Choral, ein Phänomen der Ästhetik des Wort-Ton-Bezugs.
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Ebd., 486.

Seite 1 Zusammenstellung: Prof. Dr. Christoph Hönerlage


2. Die Konsonanten „m“ und „g“ zwischen zwei Vokalen
Hier handelt es sich um eine „liquescens antecedens“, die bereits am Schluss der
diesen Konsonanten unmittelbar vorangehenden Silbe wirksam wird. Im Fall eines
intervokalischen „g“ muss diesem entweder ein „e“ oder ein „i“ folgen. Beispiele:
petra melle, altissimus; regit.

3. Die Diphtonge „au“, „ei“, „eu“


Beispiele. gaudete, aures, eleison, euge (= 2.).

4. „j“ zwischen Vokalen


Beispiele: ejus, cujus, majestas, alleluia.“3

(N. B.: Im GR von 1974 und allen neueren Gesangbüchern sind grundsätzlich alle „j“ durch „i“ ersetzt.
Das gilt auch für die Beispiele unter 1. e)

Die Angabe einer Liqueszenz ist grundsätzlich fakultativ. Der Neumenschreiber kann sie angeben,
muss es aber nicht.
Dennoch gibt es im Hinblick auf Angabe der Liqueszenz oder deren Unterlassung oder auch bezüglich
der Wahl zwischen augmentativer und diminutiver Liqueszenz klare Tendenzen.

c) Interpretation der Liqueszenzneumen

Die Editio Vaticana gibt als Liqueszenzformen nur die diminutive L. und die augmentative L. mit
Zusatzton an, angezeigt jeweils durch die kleine Note am Neumenende. Sie wird durch ein
vorübergehendes „Schließen“ des Stimmorgans ausgeführt. Die kleine Note wird mit reduzierter
Klangfülle ausgeführt. Bei einem Konsonanten wird vor allem dieser - mehr als der vorausgehende
Vokal - hörbar gemacht. Bei einem Diphtong oder j/i zwischen zwei Vokalen gleitet die Stimme mit
dem Erklingen der Endnote sofort zu dessen zweitem Element.

Im Fall einer augmentativen Liqueszenz ohne Zusatzton singt man die Endnote der
Liqueszenzneume zunächst mit dem vollen Klang des Vokals aus, und erst dann schließen sich die
Stimmorgane, um den Konsonanten bzw. das zweite Element des Diphtongs oder das „i“ bzw. „j“
zwischen zwei Vokalen auszuführen.

Wird ein Zusatzton gebildet, der der Vorausnahme der folgenden Note dient, so handelt es sich um
eine augmentative Liqueszenz mit höherem oder tieferem Zusatzton. Dieser wird bereits mit dem
reduzierten Klang des Konsonanten bzw. des zweiten Elements eines Diphtongs oder des „i“ bzw. „j“
zwischen zwei Vokalen ausgeführt, so als handle es sich um die diminutive Liqueszenz der
nächstgrößeren Neume.

Ob und inwieweit sich eine augmentative L. mit Zusatzton von der diminutiven L. der
nächstgrößeren Neume unterscheidet ist nicht abschließend erforscht und kann sich bestenfalls aus
der Kontextanalyse erschließen. (Bsp.: GrN I, S. 251, 4: protector – augmentative Liqueszenz. einer
Clivis – vgl. Laon: gleichbedeutend einer diminutiven Liqueszenz eines Porrectus?)

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Ebd., 488.

Seite 2 Zusammenstellung: Prof. Dr. Christoph Hönerlage

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