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ISSN 0946-7165

Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1/2000


1/2000
Zeitschrift für
Internationale
7. Jahrgang
Heft 1
50 Jahre Juni 2000

Europarat Beziehungen
Der Straßburger Europarat symbolisiert mit seinen 41
Mitgliedstaaten das »Größere Europa«. Seit 1949 hat Aus dem Inhalt
er wichtige Beiträge zur Einigung Europas und zur Hrsg.
internationalen Verständigung geleistet. im Auftrag Gerald Schneider / Julia Schiller
der Sektion Goethe ist nicht überall
Eine empirische Analyse der Standortentscheidungen in
Dieser praxisbezogene Sammelband verdeutlicht, daß Internationale der Auswärtigen Kulturpolitik
der Europarat mit den über 170 Konventionen eine Politik der
differenzierte Integration ermöglicht hat und auch Reinhard Wolf
zukünftig das europäische Haus mitgestalten wird.
DVPW Was hält siegreiche Verbündete zusammen?
Machtpolitische, institutionelle und innenpolitische Faktoren im Vergleich

Die Beiträge der ersten beiden Teile betrachten den Sven Behrendt
Die israelisch-palästinensischen
Europarat insgesamt, verbinden Geschichte und Per- Geheimverhandlungen von Oslo 1993
spektive und arbeiten die Bedeutung seiner Parla- Ein konstruktivistischer Interpretationsversuch
mentarischen Versammlung als treibende Kraft und Thomas Faist
Motor heraus. Der dritte Teil widmet sich dem zen- Uwe Holtz (Hrsg.) Jenseits von Nation und Post-Nation
tralen Arbeitsbereich des Europarats »Demokratie 50 Jahre Transstaatliche Räume und Doppelte Staatsbürgerschaft
und Menschenrechte«. Im vierten Teil wird die Europarat Christian Joerges
Bedeutung des Europarats für Mitgliedsländer und 2000, 377 Seiten, geb., Transnationale deliberative Demokratie oder
seine Rolle als internationaler Akteur analysiert. 128,– DM, 934,– öS, deliberativer Supranationalismus?
114,– sFr, Anmerkungen zur Konzeptualisierung legitimen Regierens
Im Anhang finden sich wichtige Dokumente – ISBN 3-7890-6423-8 jenseits des Nationalstaats bei Rainer Schmalz-Bruns
so die Beschlüsse der zwei Gipfelkonferenzen des (Schriften des Zentrum Frank Biermann / Udo E. Simonis
Europarats – und eine Zeittafel. für Europäische Inte- Institutionelle Reform der Weltumweltpolitik?
grationsforschung (ZEI), Zur politischen Debatte um die Gründung einer »Weltumweltorganisation«
Zu den Autorinnen und Autoren zählen hochrangige Bd. 17) Thomas Gehring / Sebastian Oberthür
Abgeordnete und Mitglieder der Europaratsadminis- Was bringt eine Weltumweltorganisation?
tration, der ständige Vertreter Deutschlands in Straß- Kooperationstheoretische Anmerkungen zur institutionellen Neuordnung
burg sowie Wissenschaftler der Universität Bonn. der internationalen Umweltpolitik

de
mos.
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NOMOS Verlagsgesellschaft w.n
76520 Baden-Baden · Fax (0 72 21) 21 04-27 ://ww
htt
p 7: 1

NOMOS
INHALT

Editorial ................................................................................................................... 3

AUFSÄTZE

Gerald Schneider / Julia Schiller


Goethe ist nicht überall
Eine empirische Analyse der Standortentscheidungen
in der Auswärtigen Kulturpolitik .......................................................................... 5

Reinhard Wolf
Was hält siegreiche Verbündete zusammen?
Machtpolitische, institutionelle und innenpolitische Faktoren im Vergleich........ 33

Sven Behrendt
Die israelisch-palästinensischen Geheimverhandlungen von Oslo 1993
Ein konstruktivistischer Interpretationsversuch .................................................... 79

Thomas Faist
Jenseits von Nation und Post-Nation
Transstaatliche Räume und Doppelte Staatsbürgerschaft ..................................... 109

FORUM

Christian Joerges
Transnationale deliberative Demokratie oder
deliberativer Supranationalismus?
Anmerkungen zur Konzeptualisierung legitimen Regierens jenseits
des Nationalstaats bei Rainer Schmalz-Bruns....................................................... 145

Frank Biermann / Udo E. Simonis


Institutionelle Reform der Weltumweltpolitik?
Zur politischen Debatte um die Gründung einer »Weltumweltorganisation« ...... 163

Thomas Gehring / Sebastian Oberthür


Was bringt eine Weltumweltorganisation?
Kooperationstheoretische Anmerkungen zur institutionellen Neuordnung
der internationalen Umweltpolitik......................................................................... 185

ZIB 1/2000
Neuerscheinungen ............................................................................................... 213
Mitteilungen der Sektion .................................................................................... 221
Abstracts .............................................................................................................. 227
Autorin und Autoren dieses Hefts ..................................................................... 231

Beilagenhinweis: Dieser Ausgabe liegt je ein Prospekt der Nomos Verlagsgesellschaft bei.
Wir bitten freundlichst um Beachtung.
Editorial

In neuer Zusammensetzung ist der Beirat der Zeitschrift für Internationale Bezie-
hungen ins Jahr 2000 gestartet. Um der Zeitschrift auch von dieser Seite immer
wieder neue Anstöße zu verschaffen, wurde für den Beirat ein regelmäßiger Wechsel
vereinbart, bei dem alle zwei Jahre auf Vorschlag des Beirats einige neue Mitglieder
in den ZIB-Beirat aufgenommen werden und gleichzeitig ebensoviele ausscheiden.
Wir freuen uns sehr, daß in den kommenden Jahren Prof. Dr. Thomas Bernauer
(Forschungsstelle für Internationale Beziehungen, ETH Zürich), Prof. Dr. Josef Esser
(Institut für Gesellschafts- und Politikanalyse, Universität Frankfurt a.M.), Prof.
Dr. Horst Fischer (Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völker-
recht, Universität Bochum) und Prof. Dr. Klaus Segbers (Osteuropa-Institut, Freie
Universität Berlin) im ZIB-Beirat mitwirken werden. Den ausgeschiedenen Mit-
glieder, Prof. Dr. Hartmut Elsenhans, Prof. Dr. Gert Krell, Prof. Dr. Hanspeter Neu-
hold und Prof. Dr. Dieter Ruloff gilt unser Dank für die in den vergangenen Jahren
geleistete Arbeit.
Eine der zentralen Aufgaben der Zeitschrift für Internationale Beziehungen be-
steht darin, die wissenschaftliche Kommunikation zu beleben und zu intensivieren.
Um dieser Funktion noch besser gerecht zu werden, hat sich der Beirat entschlos-
sen, die Möglichkeit für Themenschwerpunkte oder ganze Themenhefte unter der
Verantwortung von Gast-HerausgeberInnen zu schaffen. So können auch mehrere
Manuskripte, die sich gemeinsam in konsistenter Weise einer bestimmten Fra-
gestellung annehmen, zusammen eingereicht werden. Hierfür hat der Beirat ein spe-
zifisches Begutachtungsverfahren beschlossen, welches neben der obligatorischen
Einzelbegutachtung besonderes Gewicht auf die Homogenität der Beiträge zu
einem Themenschwerpunkt legt. Potentielle GastherausgeberInnen sind damit ein-
geladen, den Herausgebern der ZIB zunächst ein acht- bis zehnseitiges Outline der
Einleitung und alle Abstracts der zur Einreichung geplanten Beiträge vorzulegen,
ehe dann, im Fall unseres grundsätzlichen Interesses an dem entsprechenden The-
menschwerpunkt bzw. Themenheft, die Manuskripte zur Begutachtung eingereicht
werden.
Die Anerkennung, das Niveau und die Bedeutung der Zeitschrift für Internationa-
le Beziehungen steht und fällt mit dem systematischen, anonymen Begutachtungs-
verfahren und der in den meisten Fällen engagierten Bereitschaft, in unserem
Review-Panel mitzuarbeiten und ausführliche, empathische und konstruktive Gut-
achten zu schreiben. Es ist uns deswegen eine besondere Freude, an dieser Stelle
den vielen Gutachterinnen und Gutachtern namentlich zu danken, die im vergange-
nen Jahr an unseren Review-Verfahren beteiligt waren:

Zeitschrift für Internationale Beziehungen 3


7. Jg. (2000) Heft 1, S. 3-4
Editorial

Mathias Albert Günther Bächler Martin Beck


Arthur Benz Thomas Bernauer Tanja Börzel
Claudia v. Braunmühl Helmut Breitmeier Lothar Brock
Michael Brzoska Walter Carlsnaes Christopher Daase
Thomas Faist Susanne Feske Horst Fischer
Erhard Forndran Thomas Gehring Oliver Gerstenberg
Klaus-Gerd Giesen Laurent Goetschel Helga Haftendorn
Brigitte Hamm Hubert Heinelt Gunther Hellmann
Adrienne Héritier Helmut Hubel Markus Jachtenfuchs
Cord Jakobeit Anja Jetschke Dietrich Jung
Peter Katzenstein Otto Keck Edward Keynes
Beate Kohler-Koch Friedrich Kratochwil Joachim Krause
Michael Kreile Gert Krell Ned Lebow
Ursula Lehmkuhl Ulrike Liebert Martin List
Thilo Marauhn Hanns Maull Peter Mayer
Monika Medick-Krakau Lukas Meyer Reinhard Meyers
Harald Müller Hanspeter Neuhold Thomas Nielebock
Frank Nullmeier Sebastian Oberthür Ingo Peters
Ulrich Preuß Emanuel Richter Werner Ruf
Waltina Scheumann Frank Schimmelfennig Stefan Schirm
Alfred Schmidt Hajo Schmidt Dieter Senghaas
Eva Senghaas-Knobloch Anselm Skuhra Bernhard Stahl
Gerhard Stuby Roland Sturm Dietrich Thränhardt
Cornelia Ulbert Kees van der Pijl Gregor Walter
Erich Weede Antje Wiener Manfred Wöhlcke
Dieter Wolf Klaus Dieter Wolf Reinhard Wolf
Bernhard Zangl Ekkart Zimmermann

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Gerald Schneider / Julia Schiller

Goethe ist nicht überall


Eine empirische Analyse der Standortentscheidungen
in der Auswärtigen Kulturpolitik

Dieser Artikel untersucht, ob sich die Standortpolitik des Goethe-Instituts mit dem en-
gen Auftrag der Kulturvermittlung oder dem Einfluss konkurrierender gesellschaftli-
cher Interessen erklären lässt. Unsere makroquantitative Evaluation zeigt deutlich,
dass vor allem machtpolitische und wirtschaftliche Erwägungen die weltweite Prä-
senz der zentralen Mittlerorganisation der Auswärtigen Kulturpolitik leiten. So ist
das Goethe-Institut vor allem in Staaten aktiv, die wirtschaftlich entwickelt und
handelsorientiert sind. Kaum einen Einfluss auf die Politik des Goethe-Instituts ha-
ben hingegen Entwicklungskriterien und die Respektierung von Menschenrechten.
Bei der neuerlichen Schließungsrunde von Instituten beschreitet die Mittlerorgani-
sation den Weg des geringsten Widerstands. So setzen die Kürzungen vor allem in
Ländern an, in denen bis jetzt mehr als eine Zweigstelle bestand. Dieser Abbau lässt
sich aber nicht mit dem eigentlichen Auftrag des Instituts vereinbaren, da eher in
Kleinstaaten als in den betroffenen Gastländern ein Reduktionsbedarf besteht.

»Zur Einsicht in den geringsten Teil ist die Übersicht über das Ganze nötig«.
(J. W. Goethe)

1. Einleitung1

Die im September 1999 angekündigte Schließung von Goethe-Instituten hat einen


Kernbereich der deutschen Außenbeziehungen in die Schlagzeilen gerückt, den die
Medien wie auch weite Teile der Außenpolitikanalyse sträflich vernachlässigen. So
hat die Auswärtige Kulturpolitik, die das Auswärtige Amt neben der Sicherheits-
1 Dieser Artikel entstand als Pilotaufsatz im Rahmen eines Evaluationsprojekts zu den
Tätigkeiten des Goethe-Instituts. Eine ausführlichere Darstellung mit einer Auswertung
von Interviewergebnissen ist in Schiller (1999) zu finden. Für den Anstoß zu diesem
Projekt möchten wir Hans-Gert Peisert danken; wertvolle Kommentare zu einem ersten
Entwurf steuerten drei Gutachter, Tobias Bachteler, Christian Martin, Frauke Kreuter,
Thomas Plümper sowie der ehemalige Generalsekretär des Goethe-Instituts Horst Har-
nischfeger bei. Für ihre Gesprächsbereitschaft möchten wir uns ebenfalls bei Mitarbei-
tern und Mitarbeiterinnen des Goethe-Instituts und des Auswärtigen Amtes bedanken.
Die Daten, die in der Analyse Verwendung fanden, sind auf der webpage des ersten Ver-
fassers öffentlich zugänglich: http://www.uni-konstanz.de/FuF/Verwiss/GSchneider.

Zeitschrift für Internationale Beziehungen 5


7. Jg. (2000) Heft 1, S. 5-32
Aufsätze

und Außenwirtschaftspolitik emphatisch als »dritte Säule der Außenpolitik« be-


zeichnet, zum letzten Mal vor mehr als zwanzig Jahren eine umfassende sozialwis-
senschaftliche Durchdringung erfahren (Peisert 1978).2 Das scheinbare Desinteresse
der Forschung an diesem Themenbereich überrascht insofern, als verschiedenste
Autoren und Autorinnen eine systematische Auseinandersetzung mit dem Einfluss
kultureller Variablen auf die Außenpolitik anmahnen (z.B. Jetschke/Liese 1998).
In diesem Artikel beschäftigen wir uns mit den Gründen, warum die Auswärtige
Kulturpolitik je nach Partnerland höchst unterschiedlich ausfällt. Unsere statistische
Analyse gilt dabei drei Fragen. Erstens wollen wir die Faktoren ermitteln, mit de-
nen sich die Verteilung des Goethe-Instituts auf eine begrenzte Zahl von Gastgeber-
ländern erklären lässt. Zweitens untersuchen wir, welchen Kriterien die Personal-
ausstattung der Zweigstellen im weltweiten Vergleich gehorcht, und drittens
versuchen wir zu erklären, warum das Goethe-Institut nur in bestimmten Ländern
seine Präsenz reduziert. Zur Zeit ist die zentrale Mittlerorganisation für die Auswär-
tigen Kulturbeziehungen nur in rund der Hälfte der Nationalstaaten mit mehr als
500.000 Einwohnern mit einem Institut vertreten. Zum anderen reicht die Mitarbei-
terzahl in den Ländern mit Zweigstellen von einer Handvoll Stellen bis zur Hun-
dertschaft an Angestellten, die das Goethe-Institut derzeit in Frankreich und Italien
beschäftigt.
Auf der theoretischen Ebene geht unsere Evaluation der Frage nach, welche Fak-
toren die weltweite Präsenz des Goethe-Instituts als wichtigsten Träger der Auswär-
tigen Kulturpolitik erklären können. Unsere Analyse soll dabei zeigen, inwiefern
sich die Standortpolitik an dem engen Auftrag der Kulturvermittlung orientiert oder
ob breiter gefasste nationale Anliegen die geographische Vertretung der Zweigstellen
bestimmen. Die multivariaten Regressionen lehnen sich dabei an Peisert (1978) und
die unveröffentlichten Selbstevaluierungen der Münchner Zentralverwaltung des
Goethe-Instituts an. Unsere statistischen Tests beruhen aber auf neueren Schätzme-
thoden, die Rücksicht auf die Datenqualität nehmen.
Um die unterschiedlichen Vorstellungen zur Ausrichtung der Mittlerorganisation
analytisch in den Griff zu bekommen, unterscheiden wir ähnlich wie Rittberger
(1999) zwischen machtorientierten, handelszentrierten und entwicklungsfördernden
Makro-Modellen. Unsere statistischen Tests zeigen klar auf, dass sich die Vertei-
lung und Ausstattung der Institutszweigstellen wie auch die Abbaupläne kaum über
den engen Auftrag der Kulturvermittlung erfassen lassen. Viel mehr wird deutlich,
dass in die Standortpolitik vielfältige machtpolitische und wirtschaftliche Erwägun-
gen einfließen. Die Untersuchung bestätigt ähnliche Resultate, wie sie Schrade
(1997) und Zanger (2000) für die deutsche Entwicklungspolitik erbracht haben. Im
Gegensatz zu Schrade (1997) und in Übereinstimmung mit Zanger (2000) stützen
wir uns aber auf einen multivariaten Analyserahmen.
2 Dazu kommen einige Fallstudien und Übersichtsartikel, die sich meist in deskriptiver
Weise mit der Wirkungsweise einzelner Goethe-Institute oder der auswärtigen Kulturpo-
litik gegenüber spezifischen Staaten auseinandersetzen. Typische Beispiele sind Znined-
Brand (1999), Kramer (1997), Lippert (1996) oder ein Heft der Zeitschrift »Aus Politik
und Zeitgeschichte« (B 41-96).

6
Gerald Schneider / Julia Schiller: Goethe ist nicht überall

Unser Artikel ist so strukturiert, dass wir zunächst den offiziellen Auftrag des
Goethe-Instituts darstellen und aus der aktuellen Literatur zur Außenpolitikanalyse
einige Hypothesen ableiten. Anschließend überprüfen wir die Modelle und diskutie-
ren die Implikationen unserer Befunde. Der Artikel schließt mit einer Diskussion
darüber, ob die Schließungsentscheidungen am richtigen Ort ansetzen und inwie-
fern sich kulturelle Leistungen überhaupt statistisch erfassen lassen.

2. Der Auftrag der Auswärtigen Kulturpolitik und die Theorie der


internationalen Politik

Grundsätzliche Aufgabe der Kulturarbeit im Ausland ist es, »einen unverzichtbaren


Beitrag zur Wahrung und Förderung der deutschen Interessen im Ausland« (Aus-
wärtiges Amt 1998) zu leisten und dadurch Verbindungen zu anderen Kulturen und
Ländern herzustellen. Die Zuständigkeit für die Auswärtige Kulturpolitik liegt nach
dem Grundgesetz beim Auswärtigen Amt, das aber lediglich koordinierende Funk-
tionen wahrnimmt.3 Mit der konkreten Durchführung der Kulturarbeit im Ausland
sind die sogenannten Mittlerorganisationen betraut, die nicht zur eigentlichen
Staatsverwaltung zählen. Diese Institutionen nehmen zwar staatliche Interessen im
Auftrag der Bundesregierung wahr, besitzen aber dennoch privatrechtlichen Status
und zeichnen sich durch ihre Autonomie gegenüber dem Auswärtigen Amt und den
übrigen Regierungsstellen aus.
Unter den insgesamt zwölf anerkannten Mittlerorganisationen ist das Goethe-Insti-
tut die größte und aufgrund seiner hohen Präsenz im Ausland sicher auch die be-
kannteste Repräsentantin der Auswärtigen Kulturpolitik.4 Als »Goethe-Institut zur
Pflege der deutschen Sprache im Ausland und zur Förderung der internationalen Zu-
sammenarbeit e.V.« mit Sitz in München im Jahr 1952 wieder gegründet, hat es heu-
te den Status eines eingetragenen gemeinnützigen Vereins, der mit etwa 3500 Mitar-
beitern im In- und Ausland sowie mit 128 Zweigstellen in 76 Ländern präsent ist.
Ein Rahmenvertrag aus dem Jahr 1976 fixiert das Verhältnis zwischen der Bun-
desregierung und der Mittlerorganisation rechtlich. Dieses Dokument garantiert die
inhaltliche Autonomie des Goethe-Instituts, unterwirft es aber gleichzeitig einer ge-
wissen politischen Kontrolle, da das Auswärtige Amt zumindest indirekt Einfluss
auf die Politik des Goethe-Instituts nehmen kann. So werden nicht zuletzt die Akti-
vitäten, welche die Mittlerorganisation im Ausland durchführt, aus dem Haushalt

3 Nach Art. 32 Abs. 1 GG ist die »Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten [...] Sa-
che des Bundes«.
4 Im Bericht zur Auswärtigen Kulturpolitik 1996/1997 der Bundesregierung (Auswärtiges
Amt 1998) werden folgende weitere Mittlerorganisationen genannt: Deutscher Akademi-
scher Austauschdienst, Alexander v. Humboldt-Stiftung, Institut für Auslandsbeziehun-
gen, Deutscher Musikrat, Inter Nationes, Zentralstelle für das Auslandsschulwesen,
Deutsches Archäologisches Institut, Carl-Duisberg-Gesellschaft, Deutsche Geisteswis-
senschaftliche Institute im Ausland, Villa Vigoni und das Haus der Kulturen der Welt.

ZIB 1/2000 7
Aufsätze

des Außenministeriums finanziert. Von den 1,155 Mrd. DM, welche die politische
Seite insgesamt 1998 für die Kulturarbeit im Ausland genehmigte, erhielt das
Goethe-Institut allein etwa 25% der Mittel.5
Die Ausrichtung auf staatliche Geldgeber erwies sich zwar in der Aufbruchphase
der 1970er Jahre als großer Vorteil; in den Zeiten drakonischer Kürzungen verwan-
delt sich die dadurch geschaffene Abhängigkeit aber zum größten Handicap der
Auswärtigen Kulturpolitik (Znined-Brand 1999). Dieses Dilemma äußert sich für
das Goethe-Institut darin, dass auf der einen Seite die finanzielle Ausstattung keine
Erweiterung der Aktivitäten zulässt, auf der anderen Seite aber die weltpolitischen
Umwälzungen des vergangenen Jahrzehnts die Nachfrage nach deutscher Kultur im
Ausland verändert haben. So ist es eigentlich erst seit dem Ende des Kalten Krieges
politisch möglich und erwünscht, im ehemaligen Herrschaftsbereich der Sowjetunion
kulturpolitische Antennen der Bundesrepublik zu errichten.
Als Konsequenz der veränderten Großwetterlage hat die Münchner Organisation
bereits zu Beginn der 1990er Jahre ihr Zweigstellen-Netzwerk massiv umstruktu-
riert. Allein seit dem Ende des Kalten Krieges hat sie weltweit 24 Filialen geschlos-
sen, jedoch gleichzeitig 25 neue, vor allem in Mittel- und Osteuropa eröffnet. Dieses
Nullsummenspiel versagt jedoch vor den Kürzungsanforderungen, welche die Re-
gierung Schröder im Zuge der finanzpolitischen Konsolidierung formuliert hat. So
muss nun die Auswärtige Kulturpolitik trotz zunächst positiver Zusagen von
Außenminister Fischer einschneidende Einsparungen erbringen.
Der Sparauftrag lautete zunächst, in einem Zeitraum von vier Jahren auf ca. 30
Mio. DM zu verzichten, was für die Organisation die Schließung von insgesamt 25
kleinen und mittleren Instituten bedeutet hätte. Am 10. September 1999 kündigte
die Münchner Zentralverwaltung aufgrund dieser Vorgaben an, elf Zweigstellen
ganz und zwei Filialen sofort teilweise zu schließen. Dies wäre, wenn man die Ra-
tionalisierungen in der Zentrale hinzunimmt, einem Sparvolumen von 19 Millionen
Mark gleich gekommen. Um die politischen Vorgaben vollständig zu erfüllen,
wollte sich das Institut zu einem späteren Zeitpunkt aus sieben weiteren Standorten
ganz zurückziehen und die Belegschaft in fünf Zweigstellen teilweise reduzieren.
Da sich die Sparaufträge im Dezember wohl nicht zuletzt wegen dem »Anticham-
brieren des Staatsministers für Kultur« (Die Zeit, 9. Dezember 1999: 57) um 11
Millionen reduzierten, wurden aber dann in der ersten Runde 10 Institute geschlos-
sen. Da die Auffangfinanzierung aber einmalig ist, bestehen zum Zeitpunkt, da dieser
Artikel geschrieben wird, die Schließungspläne für gewisse Institute weiter.6
Wir untersuchen im folgenden, ob sich die gegenwärtige und die geplante Stand-
ortpolitik mit den Zielen des Goethe-Instituts vereinbaren lässt. Dazu bilden wir das
»Auftragsmodell« der Auswärtigen Kulturpolitik. Es wird in Übereinstimmung mit
der klassischen Evaluationsforschung (Rossi/Freeman 1993: 104-160) den Grad
bestimmen, mit dem die »Theorie« (Annahmen/Ziele) verwirklicht wird, die hinter

5 Der Anteil der Aufwendungen für die Auswärtige Kulturpolitik am Gesamthaushalt von
rund 465,3 Mrd. DM betrug gleichzeitig rund 0,25%.
6 Die Schließungsentscheidungen analysieren wir in Kapitel 5.

8
Gerald Schneider / Julia Schiller: Goethe ist nicht überall

der Auswärtigen Kulturpolitik steht.7 Damit ist die von allen politischen Kräften ge-
teilte und in der Satzung des Goethe-Instituts formulierte Überzeugung gemeint,
wonach die Mittlerorganisation vor allem dort aktiv werden soll, wo überhaupt ein
Wunsch nach deutscher Kultur besteht. Somit besteht eine entscheidende Kausalhy-
pothese zur Auswärtigen Kulturpolitik darin, dass sich die Standortpolitik des
Goethe-Instituts an der je nach Land unterschiedlichen Nachfrage nach deutscher
Kultur zu orientieren hat.
Wir verbinden dieses erste grundlegende und in einem gewissen Sinn offizielle
Erklärungsmodell zur weltweiten Präsenz der Mittlerorganisation mit paradigmati-
schen Orientierungen der Internationalen Beziehungen und versuchen zu eva-
luieren, inwiefern die Standortwahl des Goethe-Instituts eher realistisch, liberali-
stisch oder idealistisch orientiert ist. Mit Hilfe dieser Großtheorien lassen sich a
priori die Kalküle von Staaten auf dem Feld der internationalen Politik identifizieren.
Ferner ist auf diesem Weg eruierbar, welche gesellschaftlichen Kräfte am stärksten
der Außenpolitik ihren Stempel aufdrücken beziehungsweise wie der »inoffizielle
Auftrag« des Goethe-Instituts lautet. Kurz, die Großtheorien dienen uns zur Identifi-
kation des relativen Stellenwerts der unterschiedlichen politischen Aufträge, die das
Goethe-Institut neben der eigentlichen Kulturvermittlung zu erfüllen hat. Unsere
Gegenüberstellung von paradigmatischen Strömungen zielt also nicht darauf ab,
Theorien empirisch zu vergleichen. Statt des Wahrheitsgehalts der unterschiedli-
chen Ansätze wollen wir einzig deren mittelbaren Einfluss auf die Handlungen des
Goethe-Instituts feststellen.

3. Hypothesenbildung, Operationalisierung der Variablen und statistische


Methoden

3.1. Offizieller Auftrag

Beim Auftrag der Auswärtigen Kulturpolitik sind die generellen von den speziellen
Zielen zu unterscheiden. Ganz allgemein dient die »Dritte Säule der Außenpolitik«
der Erhaltung und Stärkung der Position Deutschlands im internationalen System.
Da dieses »nationale Interesse« ein schillernder Begriff und höchst unterschiedlich
interpretierbar ist, beschränken wir uns zunächst auf die engere Fassung des Auf-
trags, der sich vor allem auch an der Nachfrage nach deutscher Kultur orientiert. In
diesem Rahmen dient die Auswärtige Kulturpolitik vor allem dazu, deutsche Kultur
im Ausland zu vermitteln. Für die Standortpolitik des Goethe-Instituts sollte dies
bedeuten, dass Zweigstellen vor allem in Staaten anzusiedeln wären, in denen eine
gewisse Nachfrage nach deutscher Kultur besteht. Schließlich bildet Kooperation

7 Rossi/Freeman (1993: 120) sprechen in diesem Zusammenhang von Wirkungsmodellen:


»An impact model takes the form of a statement about the expected relationships bet-
ween a program and its goals, setting forth the strategy for closing the gap between the ob-
jectives set during the planning process and the existing behavior or condition.«

ZIB 1/2000 9
Aufsätze

und nicht einseitiger Kulturexport die Grundlage der Arbeit im Ausland. Messen
lässt sich dieses Interesse vor allem über die Zahl der Personen, die in ihrem Hei-
matland Deutsch als Fremdsprache lernen.8 Gleichzeitig spielt dabei die Zahl der
hier in Deutschland lebenden Ausländer als Bindeglieder zwischen den Gesell-
schaften eine nicht unerhebliche Rolle.
Ein weiterer Aspekt des kulturellen Auftrags ist der sogenannte Nachversor-
gungsauftrag. So versucht das Goethe-Institut den Kontakt zwischen der Bundesre-
publik und jenen Ausländern aufrecht zu erhalten, die nach einem Aufenthalt in
Deutschland in einen anderen Staat umgezogen sind. Da die zwei Indikatoren für
die Nachfrage nach deutscher Kultur natürlich relativ zu sehen sind, kontrollieren
wir in der statistischen Überprüfung des Auftragsmodells zusätzlich für die Bevöl-
kerungsgröße der tatsächlichen wie potentiellen Gaststaaten für Goethe-Institute.9
Aus diesen Überlegungen leiten wir die erste Hypothese ab, welche die Standortpo-
litik im Spiegel des enger gefassten Auftrags des Goethe-Instituts wahrnimmt.
Hypothese 1 (Auftragshypothese): Je größer das Interesse in einem Staat an deut-
scher Kultur und Sprache, desto eher wird das Goethe-Institut dort mit einem
Standort präsent sein und desto größer ist die personelle Ausstattung der entspre-
chenden Zweigstellen.
Wünschenswert wäre es sicher, den Auftrag noch über andere Indikatoren abzu-
bilden. Solche Daten erhebt das Goethe-Institut jedoch nicht. Sie können deshalb
auch nicht in die Selbstevaluationen einfließen, die die Organisation nach eigenem
Bekunden durchführt, aber nicht publiziert.10
Neben diesem eigentlichen Auftrag der Kulturvermittlung dürfte die Standortpoli-
tik aber auch anderen Zielsetzungen gehorchen. Eine Evaluation dieser oft breit an-
gelegten Anliegen fällt aber insofern schwer, als sie kaum operationalisiert sind und
höchstens implizit Erwähnung finden.11 Dabei ist zu beachten, dass sich die ver-
schiedenen politischen Lager von der Auswärtigen Kulturpolitik höchst Unter-
schiedliches erhoffen. Während die Linke die »Dritte Säule« als Teil der Entwick-

8 Dieser Indikator ist, es sei zugegeben, nicht unproblematisch, da die Zahl der Deutsch-
sprechenden natürlich auch von der Existenz von Goethe-Instituten beeinflusst sein
kann. Solche Zirkularitätsprobleme sind in der Ökonometrie nicht unüblich, können aber
im Rahmen des hier gewählten Querschnittsdesigns nicht behoben werden.
9 Ein Verzicht auf diesen Kontrollfaktor ändert die nachfolgenden multivariaten Tests
kaum. Dies bedeutet, dass zwischen der absoluten und der relativen Nachfrage nach
deutscher Kultur kein wesentlicher Unterschied besteht.
10 Hier ist ebenfalls anzumerken, dass von Seiten des Goethe-Instituts vor allem die
Spracharbeit dokumentiert ist. Informationen über die Anzahl der Teilnehmer von Veran-
staltungen oder über die Multiplikatorwirkung der Leistungen des Mittlers liegen nicht
vor. Den Verfassern standen die periodischen Selbstevaluierungen des Instituts nicht zur
Verfügung. Diese hausinternen Überprüfungen des Institutsnetzes werden seit den
1970er Jahren durchgeführt (Brief von Dr. Horst Harnischfeger an die Verfasser,
6.9.1999). Grundlage dazu ist anscheinend die Studie von Peisert (1978), die im Lichte der
heutigen Methodenkenntnisse aber nicht unproblematisch ist.
11 So finden sich von offizieller Seite keine genauen Richtlinien und Bestimmungen über
die konkreten Ziele und Aufgaben der Auswärtigen Kulturpolitik.

10
Gerald Schneider / Julia Schiller: Goethe ist nicht überall

lungspolitik bzw. als entscheidenden Beitrag zur Sicherung des Weltfriedens be-
greift,12 ist für andere politische Kräfte eine Koordination der Kulturarbeit mit wirt-
schaftlichen oder auch sicherheitspolitischen Interessen durchaus erstrebenswert.13
Wir bilden in der Folge drei unterschiedliche Modelle, um die impliziten Anforde-
rungen an die Standortpolitik analytisch in den Griff zu bekommen.

3.2. Realismus

Gemäß der Annahmen des strukturellen Realismus sind die bestimmenden Akteure
im internationalen System die Nationalstaaten, die der Ansatz als einheitlich und ra-
tional wahrnimmt. Da die staatlichen Präferenzen einzig durch das systemische
Machtgleichgewicht vorgegeben sind, verändern sie sich nur, wenn sich die
Hackordnung zwischen den Staaten verschiebt. Folglich beeinflussen nur systemi-
sche Strukturen des internationalen Umfelds die Handlungsmöglichkeiten14 und die
Präferenzen der Staaten (vgl. Gilpin 1984: 302).
Für den Realismus steht im anarchischen Umfeld der internationalen Politik für
den einzelnen Staat das eigene Überleben an erster Stelle. Wie stark ein Staat insge-
samt ist, ergibt sich aus dessen relativer Position im internationalen System. Der
Realismus definiert jedoch Macht höchst unklar, so dass wir in der empirischen
Analyse verschiedene Indikatoren für die Überprüfung der Machtstellung heranzie-
hen müssen. Häufig genannte Merkmale sind Bevölkerungsgröße oder territoriale
Ausdehnung, natürliche und wirtschaftliche Ressourcen sowie ein starkes militäri-
sches Potential und die Stärke der Allianzpartner.15

12 »Kulturpolitik ist ein Beitrag zur Friedenspolitik, und dem Frieden zu dienen, ist das
übergeordnete Ziel deutscher Außenpolitik« (Interview des Bundesministers des Aus-
wärtigen Joschka Fischer für die im Februar erscheinende Ausgabe der Zeitschrift für
KulturAustausch; http://www.auswaertiges-amt.de/3_auspol/11/3-11-1a.htm; 10.3.2000).
Vgl. dazu auch die im Dezember 1999 präsentierte Konzeption 2000, in der die neuen
Leitlinien für die künftige Auswärtige Kulturpolitik präsentiert wurden. Dort heißt es unter
anderem, dass die Aktivitäten der Auswärtigen Kulturpolitik in ausgewählten Schwer-
punktregionen verstärkt werden sollen: »in den Nachbarstaaten in Mittel-, Ost- und Süd-
europa, in Schwellenländern und Wachstumsregionen außerhalb Europas sowie in Staaten
auf dem Weg zur Demokratisierung und Verwirklichung der Menschenrechte« (Auswär-
tige Kulturpolitik – Konzeption 2000; http://www.auswaertiges-amt.de/3_auspol/11/
3-11-1e.htm; 10.3.2000).
13 Dagegen forderte der ehemalige Außenminister Kinkel zum einen: »in den Wachstumsre-
gionen Asiens und Lateinamerikas müssen wir stärker präsent sein, um den Anschluss an
die globale Entwicklung zu halten« (10 Thesen zur Auswärtigen Kulturpolitik;
http: www.auswaertiges-amt.de/6_archiv; 10.3.2000) und zum anderen: »Wir wollen an
dem Prinzip weltweiter kulturpolitischer Präsenz festhalten« (Kinkel 1994: 184f).
14 Das ist damit zu begründen, dass angenommen wird, dass »the structure of the internatio-
nal system conditions the behaviour of states and is required to explain generalized or
aggregate patterns of state behaviour« (James 1995: 182f).
15 Vgl. etwa Lebow (1995). Sehr klar ist Powell (1999), der Allianzbildung und Aufrüstung
aus einer stringenten Perspektive als Selbsthilfemaßnahmen analysiert.

ZIB 1/2000 11
Aufsätze

Daraus ergibt sich, dass das Machtstreben die alles bestimmende Handlungs-
grundlage für die Nationalstaaten ist. Konsequenterweise werden alle anderen mög-
lichen Handlungsmotive, also auch altruistische und moralische, den dominieren-
den Sicherheitsinteressen untergeordnet (vgl. Vasquez 1997: 899; Gilpin 1984:
290f). Aus diesem Grund ist die Außenpolitik davon geprägt, den Einfluss im inter-
nationalen System auszubauen, um Autarkie und Unabhängigkeit zu sichern.
Für die Standortwahl der Goethe-Institute im Ausland soll nun geprüft werden,
ob machtpolitische und einflussmaximierende Überlegungen eine Rolle spielen. Ist
das der Fall, dann ist nach Hypothese 2 zu erwarten, dass sich Deutschland besonders
in den Staaten kulturpolitisch engagiert, die von strategischer Bedeutung sind.16
Hypothese 2 (Machthypothese): Je bedeutender ein Staat strategisch und mi-
litärisch aus Sicht der BRD ist, desto eher wird das Goethe-Institut dort mit einem
Standort präsent sein und desto größer ist die personelle Ausstattung der entspre-
chenden Zweigstellen.
Eine erste für uns wesentliche Dimension der staatlichen Macht ist die Bevölke-
rungsgröße. Dazu kommt die militärische und wirtschaftliche Ressourcenausstat-
tung, die wir in Anlehnung an Rittberger (1999) durch das Bruttosozialprodukt und
die Militärausgaben des jeweiligen Landes abbilden. Zusätzlich berücksichtigen
wir, inwiefern allianzpolitische Überlegungen die Auswärtige Kulturpolitik prägen.
Dabei gehen wir davon aus, dass Deutschland insbesondere ideologisch naheste-
hende Staaten mit Goethe-Instituten ausstattet. Die entsprechenden Indikatoren
dazu lassen sich aus dem Abstimmungsverhalten in der UNO ableiten. Wir haben
dazu aufgrund der Faktoranalyse von Kim und Russett (1996) zwei Gruppen gebildet,
die »Gruppe der 77« und die der westeuropäischen Industriestaaten,17 die in ihren
Koalitionen gegensätzliche Präferenzen haben.18 Aus Gründen der Multikollinea-
rität haben wir davon abgesehen, die EU- und NATO-Mitgliedschaften gesondert
zu erfassen. Diese Länder sind aber zum größten Teil in der Variable der westeu-
ropäischen Industriestaaten berücksichtigt. Somit reflektiert unsere Analyse das
realistische Argument, wonach Staaten aufgrund der systemischen Machtverteilung
vor allem mit Ländern zusammenarbeiten, von denen sie sicherheitspolitisch nichts
zu befürchten haben (Gowa 1994). Ferner versuchen wir über die Entfernung des
Partnerlandes zur BRD zu erfassen, dass Deutschland die geographischen Präferen-
zen einer Mittelmacht entwickelt und in diesem Sinne eher im nahen als im fernen
Ausland aktiv ist.

16 Nach Markovitz und Reich (1992) liegt die für Deutschland interessante strategische Re-
gion in den Staaten Mittel- und Osteuropas.
17 Dazu sind neben den Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch Australien, Island,
Kanada, Neuseeland, Norwegen und die Türkei zu zählen (vgl. Kim/Russett 1996: 646).
18 Wir haben noch zusätzlich geprüft, ob die Einrichtung von Goethe-Instituten politischen
Prärogativen folgt. Die Analyse ergab, dass die Mittlerorganisation in der Tat nur in jenen
Ländern vertreten ist, in denen die BRD auch eine Botschaft aufweist. Die entsprechende
unabhängige Variable wurde aber nicht in die Analyse aufgenommen, da sie die Analyse
determiniert.

12
Gerald Schneider / Julia Schiller: Goethe ist nicht überall

3.3. Liberalismus

Während der Realismus somit Machtüberlegungen als Motive für die Auswärtige
Kulturpolitik in den Vordergrund rückt, verbindet der freihändlerische Liberalismus
diese Form der Außenpolitik vor allem mit wirtschaftlichen Erwägungen.19 Nach
dieser Spielart des Liberalismus setzt sich ein Staat aus Eigeninteresse auf der inter-
nationalen Ebene für die Einhaltung der Eigentumsrechte und eine freihändlerische
Handelsordnung ein, da Protektionismus nur Schaden hervorruft. Statt auf militäri-
sche Macht und Stärke zu pochen, trachtet ein Handelsstaat danach, Handelsströme
zu erschließen und wirtschaftliche Beziehungen auszubauen.20
Für die Ausgestaltung des außenpolitischen Stils von Handelsstaaten ist zu erwar-
ten, dass er eher von kooperativen denn von konfrontativen Elementen gekenn-
zeichnet sein wird, so dass staatliche Zusammenarbeit nicht nur denkbar, sondern
sogar erwünscht ist (vgl. Corrales/Feinberg 1999; Rosecrance 1993). Im Kontext
der wirtschaftlichen Globalisierung und den daraus resultierenden Interdependen-
zen ist der Auslöser für Kooperation vor allem ein Streben nach der Maximierung der
gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt. Gleichzeitig wird erwartet, dass sich der abso-
lute Profit steigern lässt.
Mit der folgenden Hypothese wollen wir überprüfen, inwiefern außenwirtschafts-
politische Überlegungen bei der Standortwahl der Goethe-Institute eine eigenständige
Rolle spielen. Ob wirklich ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Bereichen
besteht, ist vor allem auch deshalb interessant, weil Politiker die Unabhängigkeit der
Auswärtigen Kulturpolitik häufig betonen, das politische Feuilleton aber eine Unter-
jochung der Auswärtigen Kulturpolitik unter Wirtschaftsanliegen befürchtet.21
Hypothese 3 (Handelshypothese): Je bedeutender ein Staat wirtschaftlich für die
Bundesrepublik ist, desto eher wird das Goethe-Institut dort mit einem Standort präsent
sein und desto größer ist die personelle Ausstattung der entsprechenden Zweigstellen.
Wir überprüfen diese Hypothese anhand von wirtschaftlichen Indikatoren. Um
Aussagen über die internationale wirtschaftliche Bedeutung eines Staats machen zu
können, ist der gesamte Welthandel eines Staats ein wichtiger Anhaltspunkt. Dane-
ben ist auch das gesamtwirtschaftliche Potential einer Gesellschaft von Bedeutung,

19 McMillan (1997: 35) unterscheidet eine politische, wirtschaftliche, soziologische und


eine umfassende Variante des Liberalismus. Wir beschränken uns hier auf die freihändle-
rische Variante, weil sich aus ihr recht klare Hypothesen ableiten lassen. Da sich die ver-
schiedenen Großtheorien nicht vollständig trennen und scharf unterscheiden lassen, dis-
kutieren wir die These des »demokratischen Friedens« teilweise auch im Zusammen-
hang mit dem Idealismus.
20 Vgl. dazu die Annahmen der klassischen Theorie des Außenhandels, wobei der Koopera-
tionsbedarf vor allem darauf zurückzuführen ist, dass »der Warenaustausch zwischen
zwei Ländern beide besser stellt (sonst würden sie darauf verzichten)« (Frey 1985: 3).
21 So fragte etwa Christof Siemes in der ZEIT, »ob auswärtige Kulturpolitik ganz kinkel-
mäßig dazu da ist, der heimischen Wirtschaft ein hübsches Image zu verpassen« (Die
Zeit 33, 12.8.1999: 34). Die Neue Zürcher Zeitung wiederum zitierte ironisierend »Pud-
ding-König« Arend Oetker, der ein »Lob der Kultur als ›weicher Standortfaktor‹« ange-
stimmt habe (NZZ, 2.12.1999: 68).

ZIB 1/2000 13
Aufsätze

welches durch das Bruttosozialprodukt pro Kopf dargestellt wird. So sind reiche
Staaten als potentielle Handelspartner interessanter als ärmere Nationen.
Zusätzlich dazu wird die Intensität der bilateralen Handelsbeziehungen zwischen
der BRD und dem betreffenden Partnerland berücksichtigt, um den Grad der wirt-
schaftlichen Verflechtung abzubilden. Diese wird durch eine Dummy-Variable er-
gänzt, die zeigt, ob die deutsche Wirtschaft durch eine Auslandshandelskammer
vertreten ist oder nicht.

3.4. Idealismus

Das auf liberalen Ideen aufbauende Konzept der Zivilmacht im internationalen Sy-
stem rückt neue Begriffe für den Bereich der internationalen Politik in das Zentrum
des wissenschaftlichen Interesses. Ausgangslage dieser Überlegungen ist zum ei-
nen, dass die bisher bestimmenden Kategorien von Macht und Einfluss mit dem
Ende des Ost-West-Konflikts nicht mehr zeitgemäß erscheinen.22 Zum anderen fin-
den hierbei die Annahmen und positiven Auswirkungen des demokratischen Frie-
dens23 auf die internationalen Beziehungen eine neue Berücksichtigung. Dabei geht
ein großer Teil der Literatur davon aus, dass die Konfliktneigung zwischen demo-
kratischen Staaten tendenziell geringer ist und die Wahrscheinlichkeit für Zusam-
menarbeit damit grundsätzlich steigt. Ein anderer Grund für die friedlicheren Bezie-
hungen zwischen Demokratien wird in der Gleichartigkeit der Gesellschaften und
der zunehmenden Konvergenz der Wertvorstellungen gesehen.24
Damit erhalten gesellschaftliche Lernprozesse sowie die Beziehungen zwischen
Gesellschaft und Staat einen wesentlichen Einfluss auf die inhaltliche Ausgestal-
tung der Außenpolitik. In dieser Perspektive ist deshalb die Einmischung in innere
Angelegenheiten von Staaten ein akzeptiertes und wenn nötig auch praktiziertes
außenpolitisches Instrument (Rittberger 1999: 89). Das Ende des Kalten Krieges hat
es nun mit sich gebracht, dass sich Regierungen theoretisch in der Gestaltung ihrer
Außenbeziehungen vermehrt an den Kriterien des »Good Governance« orientieren
könnten. Dies würde bedeuten, dass die Exekutiven bei der Anbahnung und Auf-
rechterhaltung von diplomatischen Kontakten häufiger auf die Qualität der Regie-
rungsführung des Partnerlandes achten. In der Entwicklungspolitik und teilweise
auch in der Sicherheitspolitik hat die Umorientierung bereits stattgefunden. Die
22 Maull (1997) führt dazu aus, dass besonders die realistischen Machtattribute während
des Kalten Krieges die internationalen Beziehungen dominiert hätten und damit die
Außenpolitik jenseits der gesellschaftlichen Kräfte angesiedelt gewesen sei. Mit dem
Ende des Ost-West-Konflikts sei demnach die Möglichkeit gekommen, eine »Zivilisie-
rung von Gesellschaft und Politik zu erreichen« (Maull 1997: 64). Verstärkt würde der
Einfluss von zivilen Werten dadurch, dass mit den bisher verwendeten Instrumenten die
aktuellen Probleme nicht zu lösen seien (Maull 1997: 63f).
23 In der Literatur ist die positive Wirkung des demokratischen Friedens umstritten und
zum Teil auch empirisch widerlegt (vgl. dazu Barbieri/Schneider 1999; Barbieri 1996).
24 Gründe dafür sind: »liberals trust those states they consider fellow liberal democracies
and see no reason to figth them« (Owen 1995: 124).

14
Gerald Schneider / Julia Schiller: Goethe ist nicht überall

neue Ausrichtung der Außenpolitik ist gleichzeitig als Renaissance von idealisti-
schen Theorieansätzen zu verstehen, nach denen Regierungen in der Gestaltung ihrer
Außenpolitik auch von uneigennützigen oder von zumindest nicht direkt egoisti-
schen Motiven heraus geleitet sein können.
Auch wenn die operationale Definition des Begriffs der »Good Governance« bis-
lang noch nicht vollständig gelungen ist, so besteht Konsens, dass die Beachtung von
Menschenrechten, ein Mindestmaß an Demokratie und geringe militärische Ausga-
ben wesentliche Kriterien für eine »gute Regierungsführung« darstellen (Zanger
2000). Diese drei Elemente können Hinweise darauf geben, welche Qualität die Be-
ziehungen zwischen Staat und Gesellschaft aufweisen. Setzt eine Regierung diese
Anforderungen nicht konsequent um, verfolgt sie offenkundig keine Politik, die inter-
nationalen Wertmaßstäben genügt.25 Als Konsequenz davon empfehlen westliche
Staaten zunehmend, Staaten ohne »gute Regierungsführung« international zu isolieren,
da deren Verhalten die Sicherheit und Stabilität des internationalen Systems gefährde.
Langfristig erwarten die Verfechter der »Good Governance«, dass gesellschaftliche
oder politische Veränderungen in Gang gesetzt werden können, die in der innerstaat-
lichen Umsetzung internationaler Werte und Normen enden. Im Gegensatz zu den
anderen theoretischen Ansätzen und den allgemein anerkannten Regeln des Völker-
rechts26 werden unter Berufung auf das Kriterium der »guten Regierungsführung«
Missstände in anderen Gesellschaften in der Außenpolitik von zivilen Staaten the-
matisiert. Ziel ist es dabei, durch ein gemeinsames Vorgehen der Staatengemein-
schaft zu grundlegenden Veränderungen der innerstaatlichen Strukturen beizutragen.
Aus diesen Gründen ist anzunehmen, dass auf der Grundlage des Wertesystems
der Vereinten Nationen außenpolitische und kulturpolitische Beziehungen nur zu
solchen Staaten unterhalten werden, die im Sinne einer guten Regierungsführung
handeln. Aus diesem Grund kann die Existenz eines Goethe-Instituts besonders in
Transformationsstaaten als Belohnung für einen erfolgreichen Reformprozess gese-
hen werden. Daraus ergibt sich unsere vierte und abschließende Generalhypothese:
Hypothese 4 (Good-Governance-Hypothese): Je mehr ein Staat den Kriterien einer
guten Regierungsführung nachkommt, desto eher wird das Goethe-Institut dort mit
einem Standort präsent sein und desto größer ist die personelle Ausstattung der ent-
sprechenden Zweigstellen.
Wir überprüfen weitgehend anhand von soziodemographischen Indikatoren, ob
sich ein Staat aufgrund von Good-Governance-Kriterien zur Einrichtung eines
Goethe-Instituts eignet. Dazu werden neben der Existenz demokratischer Strukturen

25 Siehe dazu die Charta der Vereinten Nationen, in der es heißt: »Wir, die Völker der Vereinten
Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren
[...], unseren Glauben an die Grundrechte der Menschen [...] zu bekräftigen, [...] den sozialen
Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern, [...] den
Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren« (Unser/Wimmer 1995: 25).
26 Im internationalen Völkerrecht wird das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren
Angelegenheiten von anderen Staaten als allgemein gültig von der Staatengemeinschaft
akzeptiert. Auch die Vereinten Nationen unterliegen einem Interventionsverbot nach
Art. 2, Absatz 7 der UN-Charta.

ZIB 1/2000 15
Aufsätze

und der Garantie bürgerlicher Freiheiten auch die Anerkennung und die innenpoliti-
sche Umsetzung internationaler Menschenrechtsstandards gezählt.27 Neben den Aus-
prägungen dieser Bürgerrechte kann zusätzlich die Verwendung öffentlicher Res-
sourcen Auskunft über die gesellschaftliche Situation in einem Land geben. Unsere
Indikatoren dazu sind die relativen Ausgaben für militärische Zwecke, die auf die
Allokation staatlicher Ressourcen in den Verteidigungssektor im Verhältnis zum
Zivilbereich hinweisen. Ein ähnliches Maß ist die Analphabetenrate, die den Ausbil-
dungsstand der Bevölkerung abbildet und für Politikversagen im Bildungssektor
steht. Eine Förderung im Rahmen der Kulturpolitik sollten in einer emanzipatori-
schen Perspektive auch jene Länder erhalten, die ein geringes Bruttosozialprodukt
pro Kopf aufweisen. Tabelle 1 fasst im folgenden noch einmal zur besseren Über-
sicht die bestehenden bzw. die zu erwartenden Zusammenhänge zusammen.
Wir werden die vier konkurrierenden Modelle anschließend statistisch testen und
mit den Ergebnissen zusammenfassender Modelle vergleichen.28 Anzumerken ist
noch, dass wir einige andere mögliche Erklärungsvariablen nicht in die Berechnungen
einbezogen haben, weil entweder die Daten nicht zur Verfügung standen oder die
Faktoren sich nicht in die hier vorgestellten Modelle einfügen ließen. So fehlen uns
selbstverständlich Angaben darüber, wie wirkungsvoll die einzelnen Leiter und ihr
Mitarbeiterstab sind. Weiterhin sind der Erfolg und die Ausstrahlungskraft von kultu-
rellen Veranstaltungen im Ausland und deren unmittelbarer Nutzen für Externe nur
schwer zu erfassen. Ferner dürfte für die Erklärung der Höhe der Mitarbeiterzahl unter
anderem auch entscheidend sein, wie lange die Mittlerorganisation schon in einem
Land ansässig ist.29 Doch da einzig die Jahreszahlen der Institutsgründungen be-
kannt sind, lässt sich kein überzeugendes bürokratietheoretisches Gegenmodell for-
mulieren. Deshalb beschränken wir uns zumindest im ersten Untersuchungsteil mit
den eher äußeren Faktoren, welche die Tätigkeiten des Goethe-Instituts prägen. Un-
tersuchungseinheit ist bei uns der Nationalstaat, wobei wir uns bei der Fallauswahl
in Anlehnung an die klassische Definition von Singer/Small (1982) im wesentlichen
an den Kriterien der Souveränität und der Bevölkerungsgröße orientieren.30
27 Wir verwendeten dazu die folgenden Datensätze, die in der quantitativen Forschung zu
Menschenrechten bzw. in der Makropolitologie breite Verwendung finden: die Political
Terror Scale (PTS), die vor allem von Stohl, Gibney et al. (vgl. Stohl et al. 1986; Gib-
ney/Dalton 1997a, 1997b) verwendet wurde, und der »Polity 3u-Datensatz« von Jaggers
und Gurr (1998). Die PTS bildet Kategorien, welche die Staaten nach der Umsetzung
und Verwirklichung von Menschenrechtsstandards einordnet. Aus dem Polity-Datensatz
lässt sich auf einer Ordinalskala der Demokratisierungsgrad einer Gesellschaft ablesen.
28 Die statistischen Tests zu den ursprünglichen Standorten führten wir durch, bevor das
Goethe-Institut die definitive Liste der Schließungsentscheidungen bekannt gab.
29 Der Ansatz der Evolutionstheorie nach Hannan und Freeman (1989) aus der Organisa-
tionsforschung geht z.B. davon aus, dass ältere Organisationen gegenüber Veränderungen re-
sistenter sind als jüngere (vgl. Kieser 1995). Der historische Neo-Institutionalismus geht
sogar von einer grundsätzlichen Trägheit von Organisationen aus (vgl. Hall/Taylor 1996).
30 Als Schwellenwert der Einwohnerzahl wurde in Anlehnung an Singer/Small (1982) eine
Bevölkerungsgröße von 500.000 Einwohnern festgelegt, so dass sich die Analyse auf
insgesamt 158 Staaten bezog. Dabei wurden zusätzlich Luxemburg, Zypern und Island
als Goethe-Institut-Standorte trotz einer geringeren Einwohnerzahl einbezogen. Ledig-

16
Gerald Schneider / Julia Schiller: Goethe ist nicht überall

Tabelle 1: Determinanten der Standortpolitik des Goethe-Instituts,


ihre theoretische Einordnung und Datenquellen

Variable Modell 1 Modell 2 Modell 3 Modell 4 Quelle (Jahr)31


Auftrag Macht Handel Governance
Ausländer in + Statistisches
Deutschland Bundesamt 1999
Deutschlerner + Goethe-Institut
im Ausland 1999 (1995)
Bevölkerungsgröße + + Weltbank 1999
(1997)
Militärausgaben + SIPRI 1998;
IISS 1999
Bruttosozialprodukt + Weltbank 1999
(1997)
Westeuropäische + Kim/Russett
Staaten-Cluster 1996 (1991-1993)
Gruppe der - Kim/Russett
77-Cluster 1996 (1991-1993)
Geographische + Kindred 1999
Distanz zur BRD
Außenhandel/BSP + UNCTAD 1999
(1996/97)
Bilateraler + Statistisches
Außenhandel/BSP Bundesamt 1997
(1997)
BSP per capita + - Weltbank 1999
(1997)
AHK-Vertretung + DIHT 1999
Politische Rechte + Jaggers/Gurr
1998
Menschenrechte + Gibney/Dalton
1997 (1997)
Militärausgaben - SIPRI 1998;
per cap. IISS 1999
Analphabetenrate + Weltbank 1999;
UNESCO 1998
+ = positiver Einfluss, - = negativer Einfluss

lich der kürzlich gegründete Standort in Ramallah in den palästinensischen Autonomie-


gebieten findet damit keine Berücksichtigung. Das hier zusätzlich verwendete Kriterium
für staatliche Souveränität ist der Beitritt eines Landes zu den Vereinten Nationen; hier bil-
det lediglich die Schweiz die Ausnahme.
31 Die Daten sind, wenn immer möglich, für das Untersuchungsjahr 1998 erhoben worden.
Falls keine Daten für 1998 vorlagen, benutzten wir die nächst aktuellen Angaben, auf die
mit den Jahreszahlen in Klammern verwiesen wird.

ZIB 1/2000 17
Aufsätze

In statistischer Hinsicht stützen wir uns in der Analyse zunächst auf multivariate
Ordinal-Logitmodelle (»ordered logit«), um die Präsenz von Goethe-Instituten zu
erklären. Dieses Verfahren eignet sich besonders, um den Einfluss von unabhängigen
Variablen auf eine ordinalskalierte abhängige Variable abzuschätzen.32 Auf der ab-
hängigen Seite haben wir entsprechend eine ordinale Variable gebildet, die drei Ka-
tegorien umfasst: 0 steht für Länder ohne Goethe-Institut, 1 für Staaten mit einer
Zweigstelle und 2 für Staaten mit zwei oder mehr Zweigstellen. Die Zusammenfas-
sung einzelner Kategorien drängte sich dabei insofern auf, als nur wenige Staaten
über drei oder mehr Institute verfügen.33 Die zweite abhängige Variable, die Zahl
der Mitarbeiter des Goethe-Instituts in den Gastländern, ist intervallskaliert. Aus
diesem Grunde lässt sich die Bedeutung der Prädiktoren über die Methode der
kleinsten Quadrate erfassen (OLS-Regression). Da die Ausprägungen auf der ab-
hängigen Variablen extrem schief verteilt sind, führten wir noch die gebräuchliche
Box-Cox-Transformation durch.34

4. Die Länderwahl des Goethe-Instituts

Unsere Analyse soll zunächst zeigen, aus welchen Gründen das Goethe-Institut nur in
bestimmten Ländern mit Zweigstellen vertreten ist. Ungleichverteilungen in geo-
graphischer Hinsicht zeigen sich sofort, wenn man sich die Liste der Goethe-Institu-
te und die Ausstattung nach Mitarbeitern vor Augen hält. Tabelle 2 zeigt auf, in
welchen Staaten das Institut vertreten ist und wo die Kürzungsentscheidungen an-
setzen. Zu beachten ist dabei auch, dass die Organisation in einer Mehrzahl der
Staaten gar nicht präsent ist. Als einzige Nachbarländer sind dabei das fast aus-
schließlich deutschsprachige Österreich und die mehrheitlich deutschsprachige
Schweiz keine Standorte. Aus Luxemburg wollte sich das Institut zunächst verab-
schieden; dank finanzieller Großzügigkeit der Bundesregierung ist diese Filiale
aber nun zumindest vorerst gerettet. Im europäischen Netz ergibt sich ferner eine
weitere Ungleichverteilung, da sich etwa in Albanien oder Island Lücken finden,
während im Baltikum jeder Staat mit einem Goethe-Institut ausgestattet ist.35
Aus den Angaben in Tabelle 2 erschließt sich relativ rasch, dass der Ausbau des
Zweigstellennetzes vorwiegend in der Einflussphäre der ehemaligen Sowjetunion
eingesetzt hat. Dort scheint auch eine große Nachfrage nach Leistungen des
Goethe-Instituts zu bestehen. So wurden in Mittel- und Südosteuropa 1997 viermal

32 Bei der Logit-Analyse geht es generell darum, die Wahrscheinlichkeit eines qualitativen
Ereignisses wie die Präsenz eines Goethe-Instituts zu erklären. Für eine Standardein-
führung zu dieser Methode siehe etwa Maddala (1983).
33 Wir haben ähnliche Ergebnisse erhalten, wenn wir nur eine Dummy-Variable oder einen
Indikator mit vier Kategorien verwendeten. Die Ergebnisse dieser Analysen können von
den Verfassern auf Anfrage hin bezogen werden.
34 Eine Einführung dazu bietet etwa Greene (1993: Kap. 11).
35 Im Gespräch führte ein ehemaliger Mitarbeiter des Goethe-Instituts die Sonderbehand-
lung des Baltikums auf die Nostalgie ehemaliger Baltendeutscher zurück.

18
Gerald Schneider / Julia Schiller: Goethe ist nicht überall

Tabelle 2: Die Standortländer von Goethe-Instituten, die Zahl der Zweigstellen


1999 und 1989 und die Anzahl der 1998 beschäftigten Mitarbeiter36
Land Filialen Personal Land Filialen Personal
1999 1989 1999 1989
USA 10 11 61 Uruguay 1 1 10
Italien 7 7 101 Bulgarien 1 1 9
Frankreicha 6 7 125 Kenia 1 1 9
Indien 6 7 63 Philippinen 1 1 9
Brasilien 5 7 88 Syrien 1 1 9
Griechenlandb 4 4 86 Thailand 1 1 9
Großbritannien 4 4 58 Elfenbeinküste 1 1 8
Türkei 3 3 56 Finnland 1 3 8
Kanada 3 3 24 Georgien 1 0 8
Spanien 2 2 58 eh. Jugoslawien 1 2 8
Argentinienb 2 4 50 Norwegen 1 2 8
Russ. Föderat. 2 0 47 Singapur 1 1 8
Japan 2 3 45 Tunesien 1 1 8
Mexiko 2 2 40 Vietnam 1 0 8
VR China 2 1 36 Bangladesch 1 1 6
Polen 2 0 35 Jordanien 1 1 6
Indonesienc 2 3 26 Libanon 1 1 6
Niederlande 2 2 23 Sri Lanka 1 1 6
Portugal 2 3 19 Zypernd 1 1 6
Israel 2 2 17 Äthiopien 1 1 5
Australien 2 3 14 Dänemark 1 2 5
Schweden 2 3 8 Kroatien 1 0 5
Ägypten 1 2 23 Nigeria 1 1 5
Belgien 1 1 22 Pakistan 1 2 5
Peru 1 1 22 Bolivien 1 1 4
Tschechien 1 0 18 Ghana 1 1 4
Irland 1 1 17 Luxemburg 1 1 4
Ukraine 1 0 17 Senegal 1 1 4
Südkorea 1 1 16 Costa Ricad 1 1 3
Chile 1 2 15 Malaysia 1 1 3
Lettland 1 0 15 Usbekistan 1 0 3
Kasachstan 1 0 14 Kamerun 1 1 2
Marokko 1 2 13 Neuseeland 1 1 2
Rumänien 1 1 13 Togo 1 1 2
Südafrika 1 0 12 Litauen 1 0 1
Ungarn 1 1 12 Venezuela 1 1 1
Weißrussland 1 0 11 Slowakien 1 0 0
Kolumbien 1 2 10 Estland 1 0 0
a) Schließung u.a. in Toulouse; »Rettung« dieses Instituts aber über Finanzierung durch Großunter-
nehmen und lokale Kräfte; b) Umwandlung zweier Institute in »lokale Zweigstellen«; c) Teil-
schließung; d) Weiterhin Sprachkurse

36 Stand der Schließungspläne vom 14.1.2000. Länder, in denen ursprünglich Kürzungen


vorgesehen waren, sind fett gedruckt. Was dank der finanziellen Großzügigkeit der Bun-
desregierung zumindest aufschubweise gerettet werden konnte, führen wir im nächsten
Abschnitt auf. Staaten, die seit 1989 zum Standortland wurden, sind durch Kursiv-
schreibweise hervorgehoben. 1989 gab es zusätzlich noch Standorte in Afghanistan, Al-
gerien, Island, Republik Kongo (Zaire), Sudan und Tansania.

ZIB 1/2000 19
Aufsätze

mehr Bücher entliehen als in den USA und Kanada zusammengenommen und fast
dreimal so viel wie in Frankreich oder Italien (Goethe-Institut 1998: 203). Vom Ab-
bau der letzten Jahre wiederum waren vorwiegend Mitgliedstaaten der OECD-Welt
betroffen. Hinzu kommt, dass mit diesen Regionen bereits ein dichtes Geflecht pri-
vater Initiativen und Kooperationen auf anderen gesellschaftlichen Ebenen besteht,
wie Städtepartnerschaften, Schüleraustausch oder gemischte Parlamentariergrup-
pen, so dass eine intensive staatliche Unterstützung durch die Goethe-Institute über-
flüssig zu sein scheint. Dieser Trend der Schließungen in den entwickelten Indu-
striestaaten soll sich nun noch fortsetzen, wie aus der letzten Spalte in Tabelle 2
hervorgeht.

4.1. Die Zahl der Zweigstellen

Im folgenden stellen wir nun dar, inwiefern sich diese Unterschiede durch den engen
oder die verschiedenen Modelle zum weiten Auftrag des Goethe-Instituts erklären
lassen. Tabelle 3 zeigt die unterschiedlichen Modelle, die wir für die Bestimmung der
Ausstattung mit Goethe-Instituten gebildet haben. Die in Tabelle 3 dargestellten Er-
gebnisse bestätigen vor allem das machtpolitische und das handelszentrierte Er-
klärungsmodell zur Standortwahl des Goethe-Instituts. Dies bedeutet umgekehrt,
dass die Erklärungskraft des Auftragsmodells allgemein als relativ gering einzustufen
ist, wenngleich die Vorzeichen für alle drei verwendeten Prädiktoren signifikant
sind und in die prognostizierte Richtung weisen. Folglich wird das Goethe-Institut in
Ländern mit einer großen Zahl von Deutschlernenden und in gewichtigen »Sender-
ländern« von Immigranten eher Filialen eröffnen und unterhalten.
Errechnet man aus der offiziellen Auftragshypothese die Staaten, in denen das
Goethe-Institut seine Zweigstellen schließen müsste, so erhält man eine bunte Liste,
die Regionen aus allen Kontinenten einschließt.37 Demnach wären von den Kürzungen
neben Neuseeland auch Staaten in Europa, Asien, Afrika und Lateinamerika sowie
die neueren Institute im baltischen Raum betroffen. Dabei ist jedoch auffällig, dass
mehrfach ausgestattete Staaten, mit der Ausnahme von Israel, mit je zwei Instituten,
nicht auf der Streichungsliste zu finden sind.38 Da wir für die Bevölkerungsgröße
kontrollieren, ist anzunehmen, dass in der Perspektive des offiziellen Auftrags kleine-
re Staaten zum jetzigen Zeitpunkt übermäßig mit Goethe-Instituten ausgestattet sind.
Dieser Befund gilt trotz des positiven Einflusses, den die Bevölkerungsgröße auf die
Ausstattung mit Filialen ausübt. Wenn das Goethe-Institut sich eng an seinen offiziel-
len Auftrag hielte, müsste entsprechend dieser Zusammenhang noch stärker werden.

37 Diese Schließungslisten ergaben sich über den Vergleich der prognostizierten mit der
tatsächlichen Präsenz. Streichungskandidaten sind somit Standortländer, für die das je-
weilige statistische Modell kleine Wahrscheinlichkeiten vorhersagt, dass ein Institut exi-
stiert. Wir haben in diesen Listen jeweils aufgrund der ursprünglichen Kürzungsvorga-
ben die Standortstaaten mit der geringsten Wahrscheinlichkeit berücksichtigt.
38 Ursprünglich war auch eine Schließung der Zweigstelle in Göteborg vorgesehen. In
Schweden ist die Mittlerorganisation noch in Stockholm vertreten.

20
Gerald Schneider / Julia Schiller: Goethe ist nicht überall

Tabelle 3: Determinanten der Präsenz von Goethe-Instituten


(Ordinale Logit-Regression)39
Modell 1 Modell 2 Modell 3 Modell 4 Synthese- Synthese-
Auftrag Macht Handel Governance Modell I Modell II
Ausländer in 7.00e-06** 0.00003* 7.61e-06**
Deutschland (2.75e-06) (0.00002) (2.42e-06)
Deutschlerner 4.96e-06** -2.90e-07
im Ausland (1.55e-06) (1.55e-06)
Bevölkerungs- 0.00003*** 0.00003** 0.00003** 0.00003***
größe (6.99e-06) (9.87e-06) (0.00001) (7.86e-06)
Militärausgaben -6.25e-07
(1.11e-06)
BSP (absolut) 0.00001** 0.00002**
(3.55e-06) (5.84e-06)
Distanz zu -0.00002 4.11e-06
Deutschland (0.00007) (0.0001)
Westeuropä- 1.131
isches Cluster (0.977)
Gruppe der -1.729** -1.236*
77-Cluster (0.619) (0.734)
Außenhandel 0.00001** -7.54e-06 8.47e-06**
(absolut) (4.76e-06) (8.90e-06) (3.2e-06)
Bil. Außenhandel -1.58e-09 5.85e-09
(absolut) (1.78e-08) (3.13e-08)
BSP/Kopf -0.00006** 0.00005** 0.00002
(0.00003) (0.00002) (0.00005)
AHK 2.904*** 1.410** 2.183***
Vertretung (0.486) (0.641)) (0.481)
Politische 0.053** 0.052 0.072**
Rechte (0.032) (0.052) (0.035)
Militäraus- -0.064
gaben/BSP (0.082)
Menschenrechte 0.318
(0.195)
Analphabeten- 0.030**
rate (0.01)
N 121 130 151 133 107 148
Log-Wahr- -90.70 -74.35 -94.65 -117.98 -50.56 -79.11
scheinlichkeit
Pseudo R2 0.2742 0.4443 0.3659 0.1340 0.5487 0.4641
Chi-Quadrat 68.54*** 118.88*** 109.22*** 36.50*** 122.91*** 137.03***
39 Die einzelnen Felder enthalten die geschätzten Werte für die einzelnen unabhängigen
Variablen sowie die Standardfehler. Die abhängige Variable ist trichotom und gibt wieder,
ob in einem Staat kein, eins bzw. mehr als eine Zweigestelle des Goethe-Instituts vor-
handen sind. Das Pseudo R2 gibt das Ausmaß an, in dem sich die Schätzung des nichtre-
duzierten Modells im Vergleich zum Nullmodell verbessert. Die Log-Wahrscheinlich-
keit basiert auf dem Likelihood-Ratio-Test, der ebenfalls die Log.-Likelihood-Werte der
zwei Modelle vergleicht. *< .1; **<.05; ***<.001.

ZIB 1/2000 21
Aufsätze

Der negative Zusammenhang zwischen der Zahl der Zweigstellen und der Bevölke-
rungsgröße überrascht insofern nicht, als kleinere Staaten tendenziell auch mehr Ent-
wicklungshilfe pro Kopf erhalten (vgl. Zanger 2000).
Im machtpolitischen Modell wird die Annahme widerlegt, dass ideologische
Konfliktlinien bei der Bestimmung von außenpolitischen Partnern seit dem Ende
des Kalten Krieges von nachrangiger Bedeutung geworden sind. So äußert sich in
der Auswärtigen Kulturpolitik der Nord-Süd-Konflikt insofern, als in Staaten, die
zur Gruppe der 77 zählen und so zumindest auf außenwirtschaftlichem Gebiet ande-
re Präferenzen als Deutschland hegen, weniger Goethe-Institute anzutreffen sind.
Ebenso wie die ideologische Übereinstimmung weist die wirtschaftliche Potenz eines
Staates, wie sie sich im Bruttosozialprodukt äußert, statistische Signifikanz auf, so
dass sich die Vermutung einer Nord-Süd-Teilung bei der Auswahl der kulturpoliti-
schen Partnerregionen verstärkt. Daher ergibt sich aus diesem Modell, dass besonders
die wirtschaftlich mächtigen Staaten als Standorte für ein Goethe-Institut gewählt
wurden. Die Neugründungen in Südafrika und Kuba (bis jetzt nur geplant) werden
hier keine Abhilfe schaffen, zumal sich das Goethe-Institut aus Costa Rica zurück-
zieht und in Tansania schon früher die Pforten geschlossen hat.
Keinen signifikanten Einfluss üben die Militärausgaben, die Entfernung zu
Deutschland sowie die Zugehörigkeit zur westeuropäischen Staatengruppe aus.
Dies bedeutet etwa, dass Deutschland zumindest in der »Kulturpolitik« ein »global
player« ist und nicht nur in geographisch nahegelegenen Staaten seine Interessen
geltend machen will. Zu den besonders bevorzugten Staaten nach diesem Modell
gehören im wesentlichen die OECD-Staaten, wogegen in Afrika, den baltischen
Staaten und in Lateinamerika tendenziell keine kulturpolitischen Beziehungen un-
terhalten werden müssten.
Wie das realistische Erklärungsmodell findet auch die handelsliberale Hypothese in
gewissem Umfang Bestätigung. Daher lässt sich vermuten, dass wirtschaftlich bedeu-
tende und einflussreiche Staaten, die über eine gewisse Ressourcenausstattung verfü-
gen, eher von einer Zusammenarbeit im Rahmen der deutschen Auswärtigen Kultur-
politik profitieren. Der Vorwurf, dass die Auswärtige Kulturpolitik zuweilen zu
außenwirtschaftlichen Zwecken instrumentalisiert wird, kann entsprechend auf der
Grundlage der vorliegenden Ergebnisse nicht entkräftet werden. Innerhalb des Mo-
dells weist nämlich vor allem die Präsenz einer Interessenvertretung der deutschen
Wirtschaft in Form von Auslandshandelskammern (AHKs) einen signifikanten Ein-
fluss auf die Zahl der Zweigstellen aus. Ob hier aber das Huhn (das Goethe-Institut)
dem Ei (den AHKs) folgt oder umgekehrt, lässt sich aufgrund unserer Schätztechnik
nicht bestimmen. Insofern handelt es sich bei der Koexistenz von AHKs und Goethe-
Instituten um eine Korrelation, die der weiteren Erforschung bedürfte.40
Unter den Staaten, in denen die Auswärtige Kulturpolitik nach dem Handelsmodell
nicht tätig werden dürfte, befinden sich interessanterweise neben den Entwick-
40 Eine genauere Abschätzung der Kausalität wäre über eine komplexere und sehr aufwen-
dige Gestaltung des Datensatzes möglich, der Struktur- und Gründungsdaten aus immerhin
vier Jahrzehnten berücksichtigt hätte. Ein solcher Datensatz hätte mit Verfahren wie Pa-
nel-Logit-Regressionen analysiert werden können.

22
Gerald Schneider / Julia Schiller: Goethe ist nicht überall

lungsländern in Asien, Afrika und Lateinamerika aber auch europäische Staaten.


Darunter sind Jugoslawien, die skandinavischen und baltischen Staaten mit Aus-
nahme von Schweden sowie Griechenland zu nennen. Ein weiterer Streichungskan-
didat wäre Neuseeland.
Die Aussagekraft des Good-Governance-Modells ist im Vergleich zu den ande-
ren Modellen äußerst beschränkt. Allem Anschein nach ist die Standortpolitik prak-
tisch nicht von entwicklungspolitischen Motiven geleitet. Wenn man die einzelnen
Indikatoren unterscheidet, sind die Ergebnisse zudem recht widersprüchlich. Erneut
zeigt sich zunächst, dass hohe Militärausgaben und damit wohl auch die Präsenz ei-
nes tendenziell undemokratischen »Militärisch-Industriellen Komplexes« die
Standortpolitik der Mittlerorganisation nicht beeinflusst. Ebenso wenig sind die Ga-
rantie und Umsetzung von international anerkannten Menschenrechtsstandards, wie
sie über die sog. Political Terror Scale erfasst werden, von statistischer Bedeutung.
Dabei ist aber anzumerken, dass wir in dieser Analyse die Menschenrechtssituation
nur zu einem einzigen Zeitpunkt erhoben haben, die zeitliche Varianz auf dieser
Variablen aber gleichzeitig auch eingeschränkt ist. Lediglich die Existenz von politi-
schen Rechten, also das Vorhandensein demokratischer Strukturen, ist von einer ge-
wissen Relevanz. Darin kann sich aber auch der Wunsch des Goethe-Instituts
äußern, Mitarbeiter vor allem in politisch stabile Länder zu entsenden. Über die Er-
gebnisse, welche die Analphabetenrate und das Brutto-Sozial-Produkt (BSP) pro
Kopf liefern, werden die wirtschaftlichen Einflüsse auf die Standortwahl bestätigt. So
ist das Goethe-Institut gerade nicht in Staaten präsent, in denen der Analphabetis-
mus ein großes Problem darstellt.
Wenn wir nach diesem Modell die Liste der überrepräsentierten Staaten betrachten,
würden vor allem Standorte in Asien und Afrika dem Rotstift zum Opfer fallen.
Dies zeigt erneut, dass die Auswärtige Kulturpolitik anscheinend nicht von den Zivi-
lisierungsbestrebungen beeinflusst ist, die die Entwicklungspolitik Deutschlands
seit den 1990er Jahren parteienübergreifend prägen. Vielmehr bildet die Standort-
politik die macht- und wirtschaftspolitischen Interessen jener gesellschaftlichen
Kräfte ab, die am stärksten auf die Bundesregierung Einfluss nehmen können. Dieser
Eindruck verstärkt sich noch, wenn wir abschließend zwei zusammenfassende Mo-
delle betrachten, welche verschiedene Determinanten aus den unterschiedlichen
theoriegeleiteten Modellen vereinen. Wir haben hier zwei Modelle gebildet. Syn-
these-Modell I berücksichtigt vor allem Variablen, die in der Analyse der Einzel-
modelle erfolgreich waren; im Synthese-Modell II sind jene Einflussmöglichkeiten
zusammengefasst, die sich im Aggregat bewähren. Die Analyse beider Modelle
zeigt, dass die weltweite Präsenz des Goethe-Instituts vor allem von gesamtwirt-
schaftlichen Faktoren und der Bevölkerungsgröße der tatsächlichen und möglichen
Gastländer bestimmt ist. Dagegen scheinen die eher weicheren Standortfaktoren
wie die Zahl der Deutschlerner oder die Situation der Bürgerrechte nicht mehr rele-
vant zu sein, wenn für den Einfluss von zusätzlichen Variablen kontrolliert wird.
Ähnliches gilt auch für das Bruttosozialprodukt pro Kopf.
In dieser zusammenfassenden Perspektive wären vor allem die afrikanischen
Staaten von den Kürzungen betroffen, so etwa Togo, Senegal, Ghana, daneben auch

ZIB 1/2000 23
Aufsätze

Jordanien. Lässt man das wenig aussagekräftige Good-Governance-Modell außen


vor, wären nach dem offiziellen Auftrag, nach macht- und wirtschaftspolitischen
Erwägungen zusätzlich noch Uruguay, Costa Rica, Georgien, Lettland, Estland und
der Libanon als Standorte zu schließen. Wie diese Aufstellung zeigt, befinden sich
darunter aber im wesentlichen die kleineren Staaten und die Institutsneugründungen
auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, die sich bislang kaum ausreichend
etablieren konnten. Würde das Goethe-Institut dagegen gemäß der »Good Gover-
nance-Kriterien« seine Standorte auswählen, müsste es gerade in den Staaten aktiv
werden, aus denen es sich nach den Ergebnissen der anderen Modelle zurückziehen
sollte.

4.2. Die Mitarbeiterausstattung

Diese Ergebnisse bestätigen sich weitgehend, wenn wir zusätzlich den Einfluss der
verschiedenen Determinanten auf die Zahl der Mitarbeiter analysieren. Die Resultate
der entsprechenden OLS-Regressionen sind in Tabelle 4 zusammengefasst. Da-
nach empfehlen sich vor allem jene Standorte zu einer Reduktion, die im Ver-
gleich eher weniger Personal beschäftigen. Auf allen Streichungslisten, welche die
Modelle erzeugen, sind lediglich drei afrikanische Staaten zu finden, nämlich
Togo, Senegal und Ghana. Lässt man in einem zweiten Schritt die Ergebnisse des
Good-Governance-Modells weg, das auch hier die geringste Erklärungskraft hat,
müssten zusätzlich in Singapur, Uruguay, Costa Rica und Georgien Stellen abgebaut
werden. Im Modellvergleich fällt auf, dass das Handelsmodell die größte Er-
klärungskraft im Sinne von »erklärter Varianz« aufweist. Gerade hier ergibt sich
insofern ein interessanter Unterschied zu den Schätzergebnissen der Standortwahl,
als die bilateralen Handelsbeziehungen Deutschlands mit den Staaten der Welt einen
positiven Einfluss auf die Zahl der Mitarbeiter des Goethe-Instituts ausüben. Das
zeigt, dass in der Mitarbeiterpolitik noch sehr viel stärker als bei den reinen Stand-
ortentscheidungen wirtschaftspolitische Erwägungen dominieren. Das legt die
Vermutung nahe, dass die deutschen Handelspartner, die gleichzeitig international
von enormer wirtschaftlicher Bedeutung sind, über hervorragend ausgestattete
Goethe-Institute verfügen.41 Dies lässt sich auch insofern erklären, als die Anbah-
nung von Handelskontakten natürlich den Wunsch fördert, die Sprache der Ge-
schäftspartner zu sprechen.42

41 In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass die beiden Handelsindikatoren


stark miteinander korrelieren. Die Ergebnisse bleiben jedoch stabil, wenn man in der
multivariaten Analyse jeweils auf Einzelindikatoren verzichtet.
42 Die Nachfrage nach Sprachkursen ist positiv mit der Mitarbeiterzahl verknüpft. Brief
von Dr. Horst Harnischfeger an die Verfasser, 6.9.1999.

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Gerald Schneider / Julia Schiller: Goethe ist nicht überall

Tabelle 4: Determinanten der Ausstattung mit Mitarbeitern des Goethe-


Instituts für alle Untersuchungsländer (OLS-Regression)43
Modell 1 Modell 2 Modell 3 Modell 4 Synthese- Synthese-
Auftrag Macht Handel Governance Modell I Modell II
Ausländer in 0.00004*** 0.00003** 0.00003***
Deutschland (7.69e-06) (6.69e-06) (6.17e-06)
Deutschlerner 0.00001** 3.31e-06
im Ausland (3.08e-06) (2.61e-06)
Bevölkerungs- 0.00008*** 0.00004*** 0.00006*** 0.00003**
größe (0.00002) (0.00001) (0.00001) (9.47e-06)
Militärausgaben -4.43e-07
(absolut) (1.14e-06)
BSP (absolut) 9.58e-06*** 7,22e-06
(1.92e-06) (5.17e-06)
Distanz zu -0.0005 0.0006
Deutschland (0.0005) (0.0005)
Westeuropäisches 24.396***
Cluster (5.069)
Gruppe der 1.477 -0.800
77-Cluster (4.328) (3.974)
Außenhandel 0.00002* -0.00005 0.00005***
(absolut) (0.00001) (0.00003) (7.89e-06)
Bilateraler 4.39e-07*** 5.36e-07***
Außenhandel (7.03e-08) (1.00e-07)
(absolut)
BSP/Kopf -0.0007*** 0.0005** -0.0001
(0.0002) (0.0002) (0.0002)
AHK Vertretung 13.282*** 8.322** 8.590**
(2.603) (3.400) (2.685)
Politische Rechte 0.609* 0.119 0.285
(0.308) (0.234) (0.186)
Militärausgaben/ 0.061
BSP (0.779)
Menschenrechte 2.491
(1.907)
Analphabetenrate -0.154*
(0.089)
Konstantglied 6.332 5.474 1.706 3.281 -2.235 -0.203
(1.791) (4.262) (1.537) (6.371) (3.960) (1.618)
N 121 130 151 133 107 148
Korrigiertes R2 0.3391 0.4122 0.5437 0.1283 0.6392 0.5192
F 21.52*** 16.08*** 45.68*** 4.89*** 18.07*** 32.75***
Root MSE 17.844 16.512 13.76 19.915 13.823 14.223

43 Die einzelnen Felder enthalten die geschätzten Werte für die einzelnen unabhängigen
Variablen sowie die Standardfehler. Die abhängige Variable ist transformiert nach dem
Box-Cox-Verfahren. Root MSE steht für den Root Mean Square Error, ein Gütemaß für
das Gesamtmodell.*< .1; **<.05; ***<.001.

ZIB 1/2000 25
Aufsätze

Ähnlich zeigt es sich für den Einfluss der ideologischen Übereinstimmung. So


werden Staaten, die sich in der Generalversammlung der Vereinten Nationen ähnlich
wie Deutschland verhalten, tendenziell mit zusätzlichen Goethe-Mitarbeitern be-
lohnt. Der Bias zugunsten Westeuropas zeigt sich nicht in den Standortentscheidun-
gen, sondern eher in der personellen Ausstattung der einzelnen Institute. Gleichzeitig
wirkt sich eine hohe Analphabetenrate negativ auf die Zahl der Mitarbeiter aus.

5. Determinanten der Schließungspläne

Wie das Goethe-Institut am 11. September 1999 nach tagelangen Verhandlungen


verlauten ließ, sollten in den folgenden Jahren mehr als 20 ausländische Filialen der
Goethe-Institute ihre Tätigkeit einstellen. Dabei handele es sich voraussichtlich um
achtzehn44 komplette Schließungen und sieben Teilschließungen.45 Da die Sparlei-
stung über einen Zeitraum von vier Jahren erbracht werden müsse, erfolge der
Rückzug des Kulturmittlers an den jeweiligen Standorten sukzessiv. In einem er-
sten Schritt ziehe sich das Goethe-Institut aus elf Standorten ganz zurück und redu-
ziere das Personal gleichzeitig in zwei Filialen.46 Aufgrund einer »Vorgriffser-
mächtigung« von Kanzler Schröder auf den Etat 2001 fielen die Kürzungsentschei-
dungen dann jedoch nicht so dramatisch aus, wie zunächst befürchtet worden war. So
konnten die Kulturpolitiker vorerst 9 Institute retten, während die Zweigstellen in
Genua und Toulouse dank des Engagements lokaler Kräfte und von Großunterneh-
men weiterhin ihre Tore offen halten können.47 Zu beachten ist auch, dass die Ret-
tungen aus eigener Kraft einmaliger Natur sind, da der Sparauftrag weiterhin gilt:
So droht also noch immer einer Vielzahl von Instituten die Schließung, falls nicht
wie andernorts privatwirtschaftliche Lösungen zustande kommen oder lokale Kräfte

44 Komplette Schließungen waren nach den telefonischen Angaben des Goethe-Instituts


(9.9.1999) an folgenden Standorten geplant: Ann Arbor, Atlanta, Houston, Los Angeles
und Seattle (USA); Vancouver (Kanada); San José (Costa Rica); York (Großbritannien);
Turin und Genua (Italien); Göteborg (Schweden); Luxemburg; Lille und Toulouse
(Frankreich); Madras (Indien); Chania und Kreta (Griechenland); Nicosia (Zypern).
45 Teilschließungen in den Sprachkursabteilungen betreffen Wellington (Neuseeland), Bo-
ston (USA), Manchester (Großbritannien), Cordoba (Argeninien), Dhaka (Bangladesh)
und Bandung (Indonesien). In Singapur wird die Programm- und Informationsabteilung
geschlossen (Süddeutsche Zeitung vom 9.9.1999; telefonische Angaben des Goethe-In-
stituts).
46 Die ersten Pressemitteilungen ließen vermuten, das Goethe-Institut beschränke sich auf die
Schließung von elf Instituten und die Teilschließung von zwei Instituten. Laut Auskunft
der Planungsabteilung der Mittlerorganisation war aber eine weiterreichende Reduktion
notwendig, um die Sparauflagen zu erfüllen (Gespräch mit den Verfassern am
13.9.1999). Die Kandidaten für die erste Schließungswelle waren nach Angaben der
Frankfurter Rundschau vom 11.9.1999: York, Patras, Chania, Nikosia, Genua, Toulouse,
San José, Seattle, Ann Arbor, Houston und Vancouver. Daneben wurden sofortige Teil-
schließungen in Bandung und Cordoba durchgeführt.
47 Die dank der Aufschubsfinanzierung geretteten Institute sind die Zweigstellen in Atlanta,
Boston, Göteborg, Los Angeles, Luxemburg, Lilles, Madras, Singapur und Turin.

26
Gerald Schneider / Julia Schiller: Goethe ist nicht überall

die Arbeit der deutschen Kulturvermittlung erledigen. In der ersten Welle geschlos-
sen worden sind nun Nikosia, York, Seattle, Ann Arbor, Houston, Vancouver und
San José. Patras und Chania folgen im Mai 2000.48
Dieser schrittweise Abbauplan lässt vermuten, dass die Münchner Zentrale auf die
Erreichung schneller Erfolge hofft, die ohne größeren gesellschaftlichen Widerstand in
den Partnerstaaten erreicht werden sollen. Wie unsere statistische Analyse der ur-
sprünglichen Abbaupläne ergab, wird vor allem in Ländern reduziert, die mehr als
eine Filiale des Goethe-Instituts aufweisen. Das sind aber zumeist gerade nicht die
Staaten, in denen aufgrund der vier diskutierten Modelle überhaupt ein Kürzungsbe-
darf bestünde.49 So scheint es, als ob sich das Goethe-Institut bei dieser Abbaurunde
eher am Kriterium orientiert, die Kürzungen möglichst schmerzlos über die Bühne
zu bringen. Dass vor allem auch innerbetriebliche Motive die Standortpolitik leiten,
geht aus der Antwort des Generalsekretärs auf einen Zeitungsartikel der Verfasser
hervor. So schreibt Joachim Sartorius, dass »Mietvertragslaufzeiten, lokales Arbeits-
recht und Zwänge der Kameralistik eine massive Rolle spielen«.50 »Die Zeit« spricht
sogar vom »russischen Roulette« und bezweifelt, dass sich auf einer so willkürlichen
Grundlage Kriterien für die zukünftige Arbeit entwickeln lassen.51
Im Gegensatz zum eher bürokratischen Faktor der unterschiedlichen Präsenz in
den Gastländern ist der Erklärungsgehalt des Auftragsmodells hingegen begrenzt.52
Dies bedeutet zum ersten vor allem, dass die Reduktionen sich nicht aus der fehlen-
den Nachfrage nach deutscher Kultur erklären lassen. Zwar stimmen die offiziellen
und unsere eigenen Schließungsvorschläge zumindest für Zypern, Costa Rica und
Neuseeland überein.53 Doch gleichzeitig besteht in den Länder mit mehreren Institu-
ten, in denen Schließungen geplant sind, eigentlich gar kein Reduktionsbedarf. Das
betrifft vor allem den Rückzug aus Genua, Toulouse und den amerikanischen
Standorten. Bei den amerikanischen Schließungen stach überdies ins Auge, dass die
Neuenglandstaaten im Vergleich zum mittleren Westen oder aber auch dem Nord-
osten nach den Schließungen eher überproportional vertreten sein werden. Auch
nach dem Schröderschen Gnadenerlass ist nunmehr der mittlere Westen ein weißer
Fleck in der Auswärtigen Kulturpolitik.

48 Zu beachten ist, dass in Nikosia und San José weiter Sprachkurse erteilt werden, dass
auch in Vancouver trotz der Schließung eine lokale Lösung zustande kam und die zwei
griechischen Institute nach dem Rückzug zu »lokalen« Instituten wurden (Gespräch mit
den Verfassern am 14.1.2000).
49 Die analogen Analysen für das letztlich durchgeführte Sparprogramm führen zu keinen an-
deren Einsichten.
50 Joachim Sartorius: Kultur ist messbar. Zur Situation der Goethe-Institute, in: Frankfurter
Rundschau, 17.9.1999: 10.
51 Jörg Lau: Reform als russisches Roulette. Berlin debattiert über die Zukunft der Auswär-
tigen Kulturpolitik, in: Die Zeit 50, 9.12.1999: 57.
52 Diese Schätzungen stellen die Autoren auf schriftliche Anfrage hin zur Verfügung, werden
hier aber wegen ihrem begrenzten Informationsgehalt nicht abgedruckt.
53 Bei der ursprünglichen Liste kämen noch Singapur und Schweden dazu.

ZIB 1/2000 27
Aufsätze

Die Abbaupläne lassen sich auch nicht mit einem der drei Modelle vereinbaren,
die unterschiedliche nationale Interessen Deutschlands repräsentieren. So führt der
Abbau zu keiner Gewichtsverlagerung zugunsten der Entwicklungsländer, ganz im
Gegensatz zur Bekundung der Institutsleitung, gerade in den Staaten präsent blei-
ben zu wollen, in denen die kulturpolitische Infrastruktur nur schwach ausgeprägt
sei und die Einwohner keinen ungehinderten Zugang zu Informationen erhielten.
Wenn dieses Kriterium für die Entscheidungen zentral gewesen wäre, hätte es kaum
zu Abbauplänen für Lateinamerika, Bangladesh, Indonesien und Zypern kommen
dürfen. Gerade mit dem Standort Costa Rica verabschiedet sich die deutsche Aus-
wärtige Kulturpolitik ganz aus der Region Mittelamerika, sieht man von der noch
nicht gesicherten Gründung in Havanna ab.
Ebenso wie bei den amerikanischen Schließungsentscheidungen fällt der kultur-
politische Federstrich in Europa recht gründlich aus, da gerade in zentralen Staaten
wie Italien und Frankreich ein Rückzug der sämtlichen Kulturvermittlung stattfin-
det. Beim Abbau in diesen Staaten wie auch in Nordamerika stellt sich die Frage,
warum Institute nicht durch die Umlagerung von Stellen zu retten gewesen sind. So
sind in den Großinstituten Tokio, New York oder London keine Stellenkürzungen
vorgesehen und auch der Abbau in der Münchner Zentralverwaltung hält sich in
Grenzen. Insgesamt setzt der Abbauplan bei den kleinen Filialen an, Zweigstellen,
die sich leichter »abwickeln« lassen als die großen Institute. Etwas unverständlich
ist ferner – zumindest aus politischen Überlegungen – der Abzug der Kulturpolitik
aus dem geteilten Zypern, dem eigentlich als EU-Beitrittsaspirant die Anpassung an
die Staaten der Europäischen Union durch eine kulturpolitische Flankierung er-
leichtert werden könnte. Andere Beitrittskandidaten werden, obwohl mit ihnen
noch gar keine offiziellen Verhandlungen geführt werden, sehr viel pfleglicher be-
handelt.

6. Fazit und Ausblick

Unsere Evaluation hat den Nachweis erbracht, dass sich die Standortpolitik wie
auch die Streichungsentscheidungen des Goethe-Instituts kaum allein durch die
Nachfrage nach deutscher Kultur und damit durch den eng konzipierten Auftrag
dieser zentralen Mittlerorganisation erklären lassen. Vielmehr scheint es so, als ob
sich die Standortpolitik aus einer Gemengelage unterschiedlichster Interessen er-
gibt. So ist die Verteilung der Institute wie auch die Personalausstattung zu einem
guten Teil, aber nicht ausschließlich, mit Machtüberlegungen und Einflusserwägun-
gen deutbar. So werden vor allem Staaten, die sich außenpolitisch auf der gleichen
Linie wie Deutschland bewegen, mit Goethe-Instituten und einem großzügigen Mit-
arbeiterstab versorgt. Dabei scheinen vor allem bei der Entscheidung zur Gründung
bzw. Aufrechterhaltung eines Standorts Machtüberlegungen von Relevanz zu sein.
Betrachtet man in einem zweiten Schritt die Ausstattung der Standorte mit Mitar-
beitern, scheinen die Staaten von einer intensiven Kulturarbeit zu profitieren, die
handelspolitisch besonders interessant sind. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt dabei

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Gerald Schneider / Julia Schiller: Goethe ist nicht überall

aber auch das zusammenfassende Modell, das die Annahmen des Einflusses von
Macht und wirtschaftlicher Bedeutung zusätzlich noch unterstützt.
Ein weiteres Ergebnis der Untersuchung ist, dass moralische und altruistische
Motive bei der Standortwahl der Goethe-Institute allgemein keinen großen Einfluss
zu haben scheinen. Dem Anspruch, die Auswärtige Kulturpolitik in den Dienst einer
zivilen Außenpolitik zu stellen,54 kann die Standortpolitik des Goethe-Instituts des-
halb kaum gerecht werden. Wie sich gezeigt hat, ist das Kriterium der politischen
Rechte zwar in einem gewissen Ausmaß sowohl für die Standortwahl als auch für die
Ausstattung der Filialen mit Personal von Bedeutung, in der Gesamtheit der Kriteri-
en sind diese aber gegenüber anderen Faktoren eher von untergeordneter Wichtigkeit.
Unsere makroquantitative Analyse weist sicher insofern Mängel auf, als sie einzig
einige allgemeine und zum Teil auch krude Indikatoren zur Erfassung des Bedarfs
nach einem Goethe-Institut erfasst. So wäre es sicher wünschenswert, sehr viel ge-
nauere Angaben zum Wunsch nach Deutschunterricht oder aber über die Resonanz
bzw. die Ausstrahlung der im Ausland organisierten kulturellen Veranstaltungen zu
erhalten. Denn vor allem in ärmeren, wenig industrialisierten Staaten bereichert das
Goethe-Institut das kulturelle Leben enorm. Aber gerade die Bedeutung und Nach-
haltigkeit solcher Leistungen sind für Außenstehende meist schwierig nachzuvoll-
ziehen. Die Erfassung gestaltet sich um so schwieriger, als das Goethe-Institut fast
keine Indikatoren zu seiner eigenen Performanz entwickelt hat. Im Gegenteil, die
Eigenevaluationen, sofern sie überhaupt systematisch durchgeführt werden, beru-
hen auf ähnlichen Angaben wie diese Studie. Der Mittlerorganisation wäre deshalb
zu wünschen, dass sie ihre Leistungen vermehrt in objektivierbarer Form darstellt
und sich gegenüber Kritik nicht mit dem Argument zu immunisieren versucht, Kultur
sei nicht messbar bzw. eine Studie zur Auswärtigen Kulturpolitik müsse sich ver-
mehrt auf qualitative Indikatoren stützen. Doch solange das Goethe-Institut solche
Daten nicht systematisch erhebt, wird es auf Kürzungswünsche der Regierung wei-
terhin nur passiv reagieren können. Eine klar nach außen kommunizierte Standort-
politik würde auch den Vorwurf entkräften, es werde ohne eine klare Prioritätenset-
zung gekürzt bzw. die Verteilung der Zweigstellen sei von den falschen Kriterien
geleitet. »Schwerpunktregionen« zu bilden, so wie es nun über die Konzeption
2000 des Auswärtigen Amtes geschehen soll, genügt nicht. Nähme man dieses neue
Dokument zum Nennwert, müsste das Goethe-Institut in sehr viel mehr Ländern
präsent sein, als es sich leisten kann.

54 Vgl. dazu etwa auch Äußerungen von Alt-Bundespräsident Herzog: »Für uns gewinnt
der Kulturdialog gerade deshalb die Qualität eines sicherheitspolitischen Imperativs«
(Rede von Bundespräsident Roman Herzog anläßlich der von Inter Nationes veranstalteten
Tagung »Deutschland im internationalen Kulturdialog« im Haus der Geschichte in Bonn
am 9. Oktober 1996) und »Kultur und Demokratie hängen aufs Engste zusammen, und
wenn es je eine Zeit gegeben hat, große globale Entwicklungen im Sinne von Menschen-
recht und Demokratie zu beeinflussen, dann ist es die heutige« (Rede vom Bundespräsi-
dent Roman Herzog anläßlich der Verleihung der Goethe-Medaillen am 22. März 1998 in
Weimar: http://195.145.53.84/reden/deutsch05.htm; 10.03.2000).

ZIB 1/2000 29
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32
Reinhard Wolf

Was hält siegreiche Verbündete zusammen?


Machtpolitische, institutionelle und innenpolitische Faktoren im Vergleich

Auf der Basis von vier historischen Fallstudien zeigt der Beitrag, daß Zusammen-
halt und Erosion siegreicher Allianzen vor allem davon abhängen, wie sehr die
staatlichen Präferenzen miteinander harmonieren, die sich aus den spezifischen In-
teressen der jeweiligen nationalen Einflußgruppen ergeben. Die Stärke internatio-
naler Institutionen hatte dagegen kaum einen wahrnehmbaren Einfluß auf diese
Entwicklung und für die internationale Machtverteilung galt dies nur dann, wenn
das Potential sehr stark konzentriert war und die betroffenen Mächte unterschiedli-
che Gesellschaftsmodelle aufwiesen. Die grundlegende Konstellation der interna-
tionalen Politik, das Freund-Feind-Verhältnis zwischen den Großmächten, wurde
also primär von der Konfiguration und den Interessen interner Akteure bestimmt.
Dieser Befund stärkt die Plausibilität der liberalen Theorie der Internationalen Be-
ziehungen. Er schwächt diejenige des realistischen Ansatzes und verringert zumin-
dest die Plausibilität von stärkeren Versionen des Institutionalismus, insofern diese
internationalen Normen und Regeln nachhaltigen Einfluß auf nationale Präferen-
zen zuschreiben. Die praktische Politik ist daher gut beraten, wenn sie den Zerfall er-
folgreicher Mächtekoalitionen nicht als unvermeidlich unterstellt, sondern aktive
Schritte unternimmt, um Sicherheitspartnerschaften langfristig zu erhalten. Hierzu
eignen sich vor allem Demokratisierungspolitik und die gezielte Unterstützung von
gesellschaftlichen Gruppen, die in Partnerstaaten für internationale Zusammenarbeit
eintreten.

1. Einleitung1

Ob die Machtverteilung zwischen Staaten, die Ausgestaltung internationaler Institu-


tionen oder innenpolitische Konstellationen die Weltpolitik dominieren, ist zweifellos
eine der ältesten und wichtigsten Streitfragen im Bereich der Internationalen Bezie-
hungen. Je nachdem welchem dieser Faktoren man den größten Einfluß zuschreibt,
1 Dem Beitrag liegt eine größere Studie zugrunde, die demnächst bei Nomos in der Reihe
»Weltpolitik im 21. Jahrhundert« erscheinen wird. Zur Überarbeitung dieses Aufsatzes
habe ich den anonymen Gutachten zu beiden Publikationen viele nützliche Hinweise
entnommen, für die ich mich auf diesem Wege bedanken möchte. Die Verantwortung
für alle verbliebenen Unvollkommenheiten liegt selbstverständlich bei mir.

Zeitschrift für Internationale Beziehungen 33


7. Jg. (2000) Heft 1, S. 33-78
Aufsätze

wird man zu ganz unterschiedlichen Zeit-Diagnosen, Zukunftserwartungen und Po-


litikempfehlungen gelangen, welche die praktische Politik in die verschiedensten
Richtungen lenken können. So gesehen ist es mehr als unbefriedigend, daß die mei-
sten Politiker und viele Wissenschaftler sich in diesem Punkt auf unreflektierte An-
nahmen, singuläre historische Beispiele oder unhinterfragte Theorien verlassen.
Zweck des vorliegenden Beitrags ist es, diese Debatte anhand eines systematischen
Vergleichstests voranzubringen.
Dazu werden aus der realistischen, der institutionalistischen und der liberalen
Theorie konkurrierende Hypothesen abgeleitet, die anschließend anhand ausge-
wählter Phasen der internationalen Politik überprüft werden. Als historische Daten-
grundlage dienen dabei die Beziehungen verbündeter Großmächte, die ihren ge-
meinsamen Gegner bezwungen haben. Derartige Konstellationen eignen sich in
besonderem Maße für einen Wirkungsvergleich unterschiedlicher Faktoren, weil sie
relativ offen für die Entwicklung neuer Mächtekonfigurationen sind. Welche Ver-
bündete Sicherheitspartner bleiben und welche bald schon zu Rivalen werden, läßt
sich im Augenblick ihres gemeinsamen Erfolges kaum absehen, weil dann der
Hauptzweck ihrer bisherigen Zusammenarbeit weggefallen ist. Auch wenn es sich
bei derartigen Konstellationen nie um eine echte »tabula rasa« handelt, sind sie
doch so ergebnisoffen, daß sie einen ausgewogenen Vergleich von Theorien und
damit eine Gewichtung der fraglichen Faktoren begünstigen sollten.
Im nächsten Abschnitt werden zunächst Kriterien für die Unterscheidung zwi-
schen partnerschaftlichen und rivalitätsgeprägten Sicherheitsbeziehungen vorge-
stellt, auf deren Grundlage die Ausprägungen der abhängigen Variable bestimmt
werden. Hierauf folgt die Ableitung von Hypothesen aus drei Theorien, welche je-
weils die kausale Bedeutung eines der drei Faktoren besonders hervorheben.2 Dies ist
für den Faktor »Macht« die strukturelle Variante des Realismus, wie sie vor allem
von Kenneth Waltz, Joseph Grieco und John Mearsheimer vertreten wird, für den

2 Mangelnde Trennschärfe hinsichtlich dieser Faktoren ist einer der Gründe, weshalb kon-
struktivistische Ansätze hier nicht berücksichtigt werden. Konstruktivisten haben bisher
großen Wert auf die Feststellung gelegt, daß sie noch keine differenzierte Theorie der Si-
cherheitspolitik vorgelegt haben, sondern eher eine Reihe von Hypothesen über die Rolle
kultureller Faktoren, die in rationalistischen Ansätzen vernachlässigt werden. Sie leug-
nen keineswegs, daß neben staatlichen Identitäten, internationalen Normen und anderen
immateriellen Strukturen auch materielle Ressourcen und innenpolitische Konstellatio-
nen von Bedeutung sind. Ungeklärt bleibt indes zumeist, wann genau welche Art von
Variablen den größten Einfluß hat (Jepperson et al. 1996: 36, 40, 56, 64; Wendt 1996:
54-55, 62-63; 1999: 2, 21, 256; Ruggie 1998: 856, 879f). In seinem kürzlich erschienenen
Buch erhebt Wendt (1999) zwar erstmals den Anspruch, eine umfassende konstruktivi-
stische Theorie vorzustellen, räumt aber gleichzeitig ein, daß genuin konstruktivistische
Faktoren (wie z.B. staatliche Identitäten) besser epochale Transformationen des interna-
tionalen Systems erklären können als kurz- oder mittelfristige Interaktionsprozesse. In
diesem Zeitrahmen neigten Wissensstrukturen dazu, sich weitgehend unverändert zu re-
produzieren. Deshalb ist die Analyse kurz- oder mittelfristiger Veränderungen nach
Wendt (1999: Kap. 7) eher eine Domäne rationalistischer Ansätze. Auch von daher er-
scheint es wenig sinnvoll, den Konstruktivismus in den vorliegenden Vergleichstest ein-
zubeziehen.

34
Reinhard Wolf: Was hält siegreiche Verbündete zusammen?

Faktor »Institutionen« vor allem der rationalistische Institutionalismus von Robert


Keohane und anderen Autoren sowie für den Faktor »interne Konstellationen« die
Konzeptualisierung des Liberalismus nach Andrew Moravcsik. Für das theoretische
Anliegen ist diese Zuspitzung vorteilhaft, weil sie es einfacher macht, die relative
Bedeutung der Faktoren – und damit indirekt auch die Leistungsfähigkeit3 der ver-
schiedenen Theorieschulen – zu überprüfen.
Den Hauptteil bilden vier Fallstudien, welche die Sicherheitsbeziehungen ver-
bündeter Großmächte in der Zeit zwischen einem Hegemonialkonflikt und dem
Entstehen neuer Rivalitäten analysieren. Ausgewählt wurden nur solche Fälle, bei
denen die Partner den Konflikt nicht nur gemeinsam bestritten sondern auch zusam-
men beendet haben, d.h. in denen die Koalition zumindest bis zur Niederlage des
potentiellen Hegemons bestehen blieb. Zu den Großmächten werden genau diejeni-
gen Staaten gezählt, die bei Kriegsende in den höchsten Entscheidungsgremien der
erfolgreichen Allianz vertreten waren. Nach diesen beiden Kriterien ergeben sich
vier Beispiele aus der Geschichte des modernen internationalen Systems:
(1) die Beziehungen zwischen England, Österreich, Preußen und Rußland nach den
Napoleonischen Kriegen;
(2) die Beziehungen zwischen Großbritannien, Frankreich und Italien nach dem Er-
sten Weltkrieg;
(3) die Beziehungen zwischen Großbritannien, Japan und den USA nach dem Er-
sten Weltkrieg;
(4) die Beziehungen zwischen Großbritannien, der Sowjetunion und den USA nach
dem Zweiten Weltkrieg.4
Der Schlußabschnitt vergleicht auf dieser empirischen Grundlage den Einfluß,
den die betrachteten Faktoren auf Fortbestand und Zerfall siegreicher Koalitionen
hatten, und diskutiert die Konsequenzen für die getesteten Theorien. Abschließend
werden praktische Schlußfolgerungen gezogen, die sich aus dem besonderen Stel-
lenwert der innenpolitischen Konstellationen ergeben.

3 Der Ausdruck »Leistungsfähigkeit« ist mit Bedacht gewählt, da der Institutionalismus


im Unterschied zu den beiden anderen Ansätzen keinem Test unterzogen wird, der seine
Plausibilität grundsätzlich infrage stellen könnte. Diese Einschränkung ergibt sich aus
der Tatsache, daß der Institutionalismus staatliche Präferenzen weitgehend als exogene
Variablen behandelt, d.h. als wichtige Einflußgrößen, die er selbst weder erklärt noch
prognostiziert. Im Gegensatz zu Realisten und pluralistischen Liberalen lassen Institutio-
nalisten wie Keohane (1989) völlig offen, ob die Präferenzen staatlicher Entscheidungs-
träger stärker von internen oder von externen Konstellationen abhängen (Wallander et al.
1999: 6). Ein umfassender Test institutionalistischer Hypothesen würde folglich eine se-
parate Bestimmung staatlicher Präferenzen (over outcomes) erfordern, die hier aus ver-
schiedenen Gründen nicht geleistet werden kann. Zur Notwendigkeit und Schwierigkeit ei-
ner derartigen Erhebung vgl. Zürn (1997).
4 Die Untersuchung der Zwischenkriegszeit differenziert zwischen Europa (Fall 2) und
dem Fernen Osten (Fall 3), weil beide Regionen in sicherheitspolitischer Hinsicht da-
mals noch weitgehend autonome Subsysteme des internationalen Systems bildeten. Ja-
pan und die USA zogen sich aus europäischen Sicherheitsbelangen bald zurück und
Frankreich und Italien spielten in Fernost keine hervorgehobene Rolle.

ZIB 1/2000 35
Aufsätze

2. Kriterien und Hypothesen

2.1. Partnerschaft oder Rivalität?

Wie lassen sich partnerschaftliche Sicherheitsbeziehungen von einem Rivalitätsver-


hältnis unterscheiden? Wann sind langjährige Verbündete tatsächlich noch Partner,
ab wann sind sie in Wahrheit schon Rivalen? Die Fortsetzung einer Partnerschaft
liegt vor, wenn auch ohne einen gefährlichen Gegner enge Politikabstimmung und
koordiniertes Vorgehen beibehalten werden. Ziel solch eines kooperativen Manage-
ments der Sicherheitsbeziehungen wäre dann nicht mehr die Niederringung des ge-
meinsamen Gegners, sondern die vorausschauende Eindämmung einer neuen Be-
drohung, nämlich der Gefahr, daß Verbündete (wieder) zu Konfliktgegnern und Ri-
valen werden. Dementsprechend wären Krisen und Rivalitäten zwischen den
Großmächten zu verhindern durch gemeinsame ordnungspolitische Anstrengungen
sowie durch gemeinsame Beratung über eskalationsträchtige Krisen zwischen Dritt-
staaten. In Fällen von allgemeinem Interesse würde jede Macht auf die kurzfristigen
Vorteile verzichten, die sie aus faits accomplis und dem Vorenthalten von Informa-
tionen ziehen könnte, um dafür in den Genuß der langfristigen Vorteile zu geraten,
welche mit der Erhaltung einer engen Zusammenarbeit verbunden sind. Obwohl die
involvierten Mächte zumeist nur ungern unilaterale Maßnahmen unterlassen, pas-
sen sich in einer Sicherheitspartnerschaft alle den Präferenzen ihrer Partner an, weil
sie wissen, daß ein unilaterales Vorgehen von diesen auf Dauer nicht hingenom-
men, sondern entsprechend erwidert würde.
Verkürzt ergibt sich demnach folgende Skala für die Einstufung sicherheitspoliti-
schen Verhaltens:
– gemeinsames, abgestimmtes Vorgehen in Krisen bzw. ordnungs- oder rüstungs-
politischen Fragen;
– gemeinsames »Heraushalten«;
– vorhergehende Konsultationen, die ohne Erfolg bleiben;
– unilaterales Vorgehen ohne vorangehende Konsultationen (fait accompli);
– reziprokes Konfliktverhalten (Wettrüsten, Stellvertreterkriege, Bildung konkur-
rierender Bündnissysteme);
– militärische Auseinandersetzung.
Aus dieser Skala zur Einordnung einzelner Aktionen ist schließlich noch ein Kri-
terium für die Unterscheidung zwischen kooperativen und unkooperativen Sicher-
heitsbeziehungen abzuleiten. Erklärungsbedürftig ist in dieser Untersuchung näm-
lich nicht der individuelle Fall von Sicherheitskooperation, sondern das Muster der
Beziehungen, konkreter: die Fortsetzung der Partnerschaft oder ihr Niedergang. Die
abhängige Variable ist nicht ein punktuelles Ereignis, das ganz vielfältige Ursachen
haben kann, sondern ein Trend, der sich über mehrere Jahre durchhält und insofern
eher auf strukturelle Faktoren zurückzuführen sein dürfte. Wann also kann anhand
dieser Skala ein Scheitern der Partnerschaft und wann ihre Fortsetzung konstatiert
werden? Von einer Ersetzung partnerschaftlicher Sicherheitsbeziehungen durch Ri-
valität wäre spätestens dann zu sprechen, wenn es zu einer militärischen Auseinan-

36
Reinhard Wolf: Was hält siegreiche Verbündete zusammen?

dersetzung kommt, ein mehrjähriger Rüstungswettlauf stattfindet oder in mehreren


aufeinanderfolgenden Krisen dem unilateralen Verhalten keine Konsultationen vor-
ausgehen; ihr Fortbestehen ist solange als gegeben anzusehen, solange solche faits
accomplis isolierte Einzelfälle bleiben, weil auf sie immer wieder eine Kette erfolg-
reicher Beratungen über Krisen sowie ordnungs- und rüstungspolitische Fragen
folgt. Dazwischen liegt eine »Grauzone«, die weder dem Bereich Partnerschaft
noch dem der Rivalität eindeutig zuzuordnen ist, aber immerhin auf eine nachhaltige
Schwächung der Sicherheitskooperation schließen läßt.

2.2. Hypothesen

Keinem Faktor läßt sich ohne weiteres eine spezifische Wirkung auf zwischenstaat-
liche Sicherheitsbeziehungen zuschreiben. Dies kann vielmehr erst auf der Grundla-
ge einer bestimmten Theorie geschehen, die den Faktor als eine unabhängige Varia-
ble enthält. Auf den folgenden Seiten werden Hypothesen über die Wirkung von
Machtverhältnissen, internationalen Institutionen und internen Interessenkonstella-
tionen abgeleitet. Weil die einschlägigen Theorien der Leserschaft bekannt sein
dürften, konzentriert sich die Abhandlung auf die Erläuterung kontextspezifischer
Vorhersagen.

2.2.1. Realistische Hypothesen für den Faktor »Macht«

Aus neorealistischer Sicht ist effektive Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich einzig


und allein im Rahmen von Bündnissen möglich, deren Mitgliedstaaten einen gemein-
samen Gegner haben. Sobald dieser besiegt ist oder aus anderen Gründen keine Be-
drohung mehr darstellt, erwarten Realisten ein Nachlassen der Kooperationsbereit-
schaft, das schließlich zur Marginalisierung oder offiziellen Auflösung der Allianz
führt. Große Koalitionen, welche die hegemonialen Ambitionen ihres Gegners vereitelt
haben, sind mithin unweigerlich dazu verurteilt, in rivalisierende Staaten oder Bünd-
nisse zu zerfallen, so daß sich in der Folge ein neues Gleichgewicht herausbildet. Es be-
steht keine Aussicht, Allianzen in kollektive Sicherheitssysteme umzuwandeln, wel-
che neue Antagonismen im Keim ersticken könnten (Mearsheimer 1995: 26-37).
Wie schnell ein erfolgreiches Bündnis zerfällt, hängt nach der realistischen Theorie
primär von der neuen Machtverteilung und ihren Entwicklungstrends ab. Je schneller
und umfassender das Bedrohungspotential des besiegten Gegners zerschlagen wird,
desto eher wird sich das erfolgreiche Bündnis auflösen. Die Furcht vor dem ge-
meinsamen Gegner weicht dann bald der Sorge, daß eigene Bündnispartner überle-
gene Positionen nutzen könnten, um ihre bisherigen Partner zu bedrohen oder gar
anzugreifen. Je weniger Großmächte nach dem Hegemonialkonflikt übrigbleiben,
desto sensitiver werden sie auf Machtverschiebungen reagieren und entsprechend
eher ist das Umschlagen von Kooperation in Rivalität zu erwarten. Sind nach dem
Hegemonialkonflikt nur noch zwei Großmächte vorhanden, bedeutet jeder relative

ZIB 1/2000 37
Aufsätze

Verlust der einen Seite stets einen Gewinn für die einzige Macht, die als potentielle
Bedrohung in Frage kommt. Weil zudem gravierende Machtverschiebungen kaum
mehr durch geschickte Bündnispolitik auszugleichen sind, ist jede Macht um so
stärker auf ihr eigenes Potential angewiesen. Entsprechend schärfer wird sie auf alle
Entwicklungen reagieren, die ihre Position gegenüber dem bisherigen Partner
schwächen könnten (Grieco 1990: 228; Waltz 1979: 170-175).5 Ist dagegen nach
der Niederlage des ursprünglichen Feindes ein Allianzmitglied den übrigen deutlich
überlegen, wenden sich diese von ihm ab und bilden ein neues Bündnis, um den
einstigen Partner am willkürlichen oder aggressiven Einsatz seiner neuen Machtpo-
sition zu hindern (Waltz 1979: 126f).
Ist das Potential breiter und gleichmäßiger auf die Siegermächte verteilt, so wird
die Erosion der Zusammenarbeit primär von Befürchtungen über Machtverschie-
bungen bestimmt. In diesem Fall besteht keine unmittelbare Notwendigkeit zur Bil-
dung eines Gegengewichts. Sofern das Zusammenwirken demographischer, wirt-
schaftlicher und technologischer Trends einen der Partner zu begünstigen scheint,
werden die übrigen Maßnahmen zu ergreifen suchen, um dessen Machtzuwachs
aufzuhalten oder zu verlangsamen (Walt 1997: 159).6 Da den zurückfallenden Staa-
ten selten Mittel zur Verfügung stehen, um diese ungünstigen Trends direkt aufzu-
halten, werden sie insbesondere bei internationalen Krisen oder multilateralen Kon-
ferenzen auf Ergebnisse dringen, welche den aufstrebenden Staat benachteiligen.
Umgekehrt wird der aufsteigende Staat immer mehr dazu neigen, sein angewachse-
nes Potential für politische oder territoriale Veränderungen einzusetzen, die ihn
selbst begünstigen. Je größer sein relativer Zuwachs ist, um so weniger fallen für
ihn die Kosten derartiger Revisionen ins Gewicht und desto aufwendiger wird es
für die übrigen Mächte, den Status quo zu verteidigen. Ceteris paribus wird die auf-
strebende Macht somit eher versucht sein, solche Veränderungen durchzusetzen, sei
es indem sie ihr gewachsenes Potential in Verhandlungen zur Geltung bringt, sei es
indem sie militärische Gewalt offen androht oder anwendet (Gilpin 1981: 55-56;
Carr 1946: 190).
Realistische Theoretiker wie Waltz (1979) und Grieco (1990), die der Machtver-
teilung eine große Wirkung zuschreiben, erwarten damit – stark vereinfacht gesagt –

5 Zwar hält Waltz (1979) im allgemeinen bipolare Systeme für stabiler als multipolare.
Diese These bezieht sich jedoch auf die Wahrscheinlichkeit großer Kriege und nicht auf
die Aussichten fortgesetzter Sicherheitskooperation zwischen Staaten, die bereits zusam-
menarbeiten. Sie beschränkt sich also auf die Folgen der Rivalität zwischen Großmächten
und thematisiert nicht ihre Entstehungsbedingungen.
6 Die größere Bedeutung, die in diesem Zusammenhang ökonomischen und demographi-
schen Faktoren zukommt, ergibt sich daraus, daß sie bei Änderung fremder Absichten,
wenn überhaupt, nur sehr viel langsamer mobilisiert werden können als das militärische
Potential. Rüstungsrückstände können bei Bedarf innerhalb weniger Jahre korrigiert
werden, wenn das ökonomische Potential des betreffenden Staates noch nicht voll ausge-
nutzt war. Ausschlaggebend für die mittel- und langfristige Macht eines Staates ist daher
nicht so sehr die aktuelle Kampfkraft seiner Streitkräfte; entscheidend sind vielmehr die-
jenigen Ressourcen, auf die sich sein militärisches Potential stützt (Gilpin 1981: 67;
Kennedy 1989: Einleitung).

38
Reinhard Wolf: Was hält siegreiche Verbündete zusammen?

folgende Entwicklungen nach der Niederlage eines potentiellen Hegemons: Das


Bündnis seiner Gegner wird um so rascher in rivalisierende Lager zerfallen, (1) je
stärker das Machtpotential auf einzelne Siegermächte konzentriert ist und (2) je
größer die Wachstumsdifferenzen zwischen den erfolgreichen Mächten sind. Hieraus
wird sich (3) ein neues Gleichgewicht der Mächte ergeben.

2.2.2. Institutionalistische Hypothesen und der Einfluß


internationaler Institutionen

Institutionalisten zeichnen ein weitaus optimistischeres Bild der internationalen Be-


ziehungen. Nach ihrer Auffassung ist intensive Zusammenarbeit zwischen Staaten
nicht bloß Derivat eines übergeordneten Konflikts. Kompetent eingesetzt können
nämlich Institutionen Kooperation in vielen Situationen ermöglichen, in denen Reali-
sten aufgrund der Machtverteilung konfliktives Verhalten erwarten (Czempiel 1996;
Keohane 1986: 196-200; Mayer et al. 1993: 392-398; Müller 1993: 170f). Ob die
Mitglieder eines siegreichen Bündnisses ihre Zusammenarbeit längere Zeit fortset-
zen können, ist daher maßgeblich durch die institutionellen Charakteristika ihrer Be-
ziehungen bedingt (Haftendorn 1997: 11f; Keohane 1993a: 288f; Wallander 1992).
Die Qualität einer Institution hängt dabei vor allem davon ab, wie genau und kon-
sistent sie staatliches Agieren verregelt (Keohane 1993b: 42; Haftendorn 1997: 24;
Levy et al. 1995: 277f). Je genauer sie zwischen kooperativem und unkooperativem
Verhalten unterscheidet, desto besser stabilisiert sie die Erwartungen ihrer Mit-
gliedstaaten. In dieser Hinsicht sind explizite Normen, Regeln und Verfahren impli-
ziten Institutionen klar vorzuziehen. Da auch die präziseste Regel auslegungsbe-
dürftig ist, hängen diese Regimewirkungen ferner von Schiedsgerichtsverfahren
oder Überprüfungskonferenzen ab, die eine konsensuale Interpretation oder Anpas-
sung der Regeln und Normen erleichtern (Keohane 1984: 85-109; Axelrod/Keohane
1985: 237, 250). Wichtig sind ferner die Ausgestaltung von Sanktionsverfahren und
politischen Konsultationen sowie die Verregelung benachbarter Politikfelder. Bei
den Sanktionsverfahren kommt es vor allem darauf an, ob vorab festgelegte Rege-
lungen existieren, die notfalls auch gegen den Willen eines Regelverletzers wirksame
Vergeltungsmaßnahmen ermöglichen. Die Wirksamkeit von Konsultationen hängt
stark von ihre Frequenz ab. Eine Institution, die häufig und insbesondere schon im
Vorfeld von Krisen die Offenlegung von Vorstellungen und Plänen vorsieht, verrin-
gert eher die Attraktivität von unkooperativem Vorgehen, weil sie den Partnern
mehr Warnzeit und damit auch Gelegenheiten für angemessene Gegenreaktionen
verschafft. Schließlich erhöht die Einbettung eines Sicherheitsregimes in ein gut in-
stitutionalisiertes Umfeld den Spielraum für Vergeltungsmaßnahmen und ver-
größert für den Regelverletzer die Opportunitätskosten, die aus Reputationsein-
bußen erwachsen können (Keohane 1984: 89-92; Wallander/Keohane 1999).
Wenn Institutionen die Wirkung haben, die ihnen die rationalistischen Institutio-
nalisten zuschreiben, dann sollten Verbündete nach der Niederlage ihres Gegners
ceteris paribus um so länger Sicherheitspartner bleiben, je präziser und konsistenter

ZIB 1/2000 39
Aufsätze

die Normen und Regeln des Sicherheitsregimes festgelegt sind, je genauer dessen
Verfahren die Schlichtung von Streitfällen und Auslegungsdifferenzen regeln, je
mehr Konsultationen die Regeln in Krisenfällen vorschreiben, je stärker das Re-
gime in ein institutionelles Umfeld eingebettet ist und je besser es sich zur Koordi-
nierung von Sanktionsmaßnahmen gegen einen Regelverletzer eignet. Sicherheits-
partnerschaft sollte insbesondere dann in Rivalität umschlagen, wenn unerwartete
Entwicklungen gravierende Widersprüche und Ungenauigkeiten im Regelsystem
des Regimes aufzeigen, wenn institutionalisierte Zusammenarbeit der beteiligten
Staaten in anderen Bereichen gescheitert ist und das Sicherheitsregime selbst sich
nicht zur Koordination von Sanktionen gegen Regelverletzer eignet, wenn wieder-
holte Regelverstöße den verantwortlichen Staaten – vom Reputationsverlust abge-
sehen – keine erkennbaren Kosten verursachten und wenn unter den beteiligten Eliten
ein grundsätzlicher Vorstellungswandel stattfindet, der aus ihrer Sicht den Nutzen
des Regimes insgesamt oder einzelner Regeln in Frage stellt.

2.2.3. Liberale Hypothesen zum Einfluß interner


Macht- und Interessenkonstellationen

Für pluralistische Liberale wie Andrew Moravcsik oder Helen Milner ergibt sich
die Qualität der zwischenstaatlichen Beziehungen aus dem Zusammenwirken staatli-
cher Präferenzen, die einflußreiche innenpolitische Akteure durchgesetzt haben.
Sind die spezifischen Interessen der Akteurskoalitionen, welche die Außenpolitik
zweier Staaten bestimmen, problemlos miteinander zu vereinbaren oder durch Ab-
stimmung in Einklang zu bringen, ist internationale Harmonie bzw. Zusammenar-
beit wahrscheinlich; wo das Gegenteil der Fall ist, erwarten Liberale entsprechende
Konflikte zwischen den betreffenden Staaten (Moravcsik 1992: 13; Milner 1997:
61-62). Die internationale Machtverteilung beeinflußt gemäß dieser Theorie nicht
die Enstehung, sondern allenfalls den Ausgang eines Konflikts, während internatio-
nalen Institutionen nahezu überhaupt keine Bedeutung zugeschrieben wird.
Nach liberaler Auffassung bestimmt nicht die Behauptung des Staates im interna-
tionalen System die Außenpolitik seiner Entscheidungsträger. Deren Hauptanliegen ist
vielmehr die Bewahrung ihrer persönlichen Machtposition gegenüber der eigenen
Gesellschaft. Im Zweifelsfall sehen sie lieber die äußere Macht ihres Staates schwin-
den als ihre eigene Stellung innerhalb des Staates. Entscheidend für die außenpoliti-
schen Präferenzen eines Staates ist aus liberaler Sicht mithin die Zusammensetzung
der Interessenkoalition, auf die sich die jeweiligen politischen Machthaber stützen.
Die Interessen dieser Gruppen stecken den politischen Rahmen ab, den die staatli-
chen Entscheidungsträger nicht verlassen dürfen, wenn sie ihre Position erhalten
wollen. Als weitere Beschränkung können im Einzelfall noch die Interessen von
Gruppen hinzutreten, welche zwar nicht in der Koalition vertreten sind, aber auf-
grund ihrer besonderen Ressourcen oder institutioneller Befugnisse bestimmte Maß-
nahmen blockieren könnten, indem sie ihre Mitwirkung bzw. Zustimmung verwei-
gern (Moravcsik 1993: 483-84; Milner 1997: 73-75; Snyder 1991: 31-55). Größeren

40
Reinhard Wolf: Was hält siegreiche Verbündete zusammen?

Spielraum genießen die Entscheidungsträger nur bei politischen Fragen, denen ihre
Unterstützungskoalition indifferent gegenübersteht, oder wenn sie mithilfe eines ef-
fektiven Repressionsapparats Gefolgschaft weitgehend erzwingen können. In diesem
Fall müssen sie fast nur noch die Interessen dieses Apparats zufriedenstellen. Anson-
sten bestimmen ihre je persönlichen Präferenzen die Außenpolitik des Staates (Mora-
vcsik 1992: 20; 1993: 484, 488; 1997: 518; Snyder 1991: 54).
In welchem Maße konfliktive Präferenzen dominanter Gruppen in konfliktive
Außenpolitik umgesetzt werden, hängt nach liberaler Auffassung vor allem davon
ab, inwieweit die Mitglieder der maßgeblichen Interessenkoalition auf den Rest der
Gesellschaft und zentrale Staatsorgane Rücksicht nehmen müssen. Expansion und
Konfrontation sind selten mit einem Netto-Gewinn für die Gesellschaft insgesamt
verbunden. Weit wahrscheinlicher ist das Gegenteil. Bei einer gleichmäßigen Ver-
teilung des politischen Einflusses innerhalb der Gesellschaft neigen Staaten daher
mehr zu internationaler Zusammenarbeit, um Konflikten zu entgehen. Ist der Ein-
fluß hingegen auf wenige Gruppen konzentriert, besteht für diese eher die Möglich-
keit, die Expansions- oder Konfrontationspolitik so zu gestalten, daß deren materiel-
le und ideelle Vorteile hauptsächlich ihnen selbst zugute kommen, während die
Risiken und Kosten überproportional vom unterrepräsentierten Rest der Gesell-
schaft getragen werden. Insofern sollten demokratische Staaten weit mehr bestrebt
sein, kostspielige Konflikte zu vermeiden (Moravcsik 1992: 8-17; Snyder 1991: 32-
35, 40; Czempiel 1981: 153-155).
Ceteris paribus wird der konfrontative Effekt der Machtkonzentration auf wenige
Eliten stärker ausfallen, wenn über diesen Eliten kein von ihnen allen akzeptiertes
Entscheidungsorgan steht. In einer derart »anarchischen« Oligarchie haben die privi-
legierten Gruppen wenig Veranlassung, Abstriche an ihren jeweiligen Zielsetzun-
gen zu akzeptieren, um dadurch innerhalb des Machtkartells eine Einigung auf ein
kohärentes außenpolitisches Gesamtprogramm zu ermöglichen. Vielmehr sind do-
minante Gruppen dann versucht, ihre konfrontativen Zielsetzungen einfach zu ei-
nem in der Summe noch antagonistischeren Programm zu addieren (logrolling),
und zwar unabhängig davon, ob darunter seine Konsistenz und seine Realisierungs-
chancen leiden. Schließlich können sie die daraus resultierenden Risiken und Kosten
auf die benachteiligten Gruppen abwälzen. Ein übergeordneter »Schiedsrichter« hat
dagegen die Macht, privilegierte Gruppen zu Abstrichen zu zwingen, und meist
auch ein größeres persönliches Interesse an einem echten Kompromiß, weil er als
oberster Repräsentant und Entscheidungsträger des Landes selten so enge Interes-
sen hat wie einzelne soziale Gruppen (Snyder 1991: 43-49, 52-55).
Wenn interne Konstellationen tatsächlich so wichtig sind, wie Liberale glauben,
können somit nur diejenigen Großmächte Sicherheitspartner werden, die keine ex-
pansiven oder militaristischen Präferenzen haben, sei es, weil die dominanten Ak-
teure keine Konflikte wünschen, sei es, weil die maßgeblichen Koalitionen die Ko-
sten und Risiken von Konflikten kaum auf den Rest der Gesellschaft abwälzen
können. Von Staaten, auf deren Eliten diese Bedingungen nicht zutreffen, kann hin-
gegen erwartet werden, daß sie sich den Einschränkungen von Konsultationen und
multilateralem Vorgehen entziehen, weil sie z.B. freie Hand für territoriale Erobe-

ZIB 1/2000 41
Aufsätze

rungen oder intern stabilisierend wirkende Kriege behalten wollen oder weil ihren
Eliten so wenig an der Vermeidung von Rivalität und Krieg liegt, daß sie den Auf-
wand multilateraler Sicherheitskooperation scheuen. Der Zusammenbruch der Si-
cherheitskooperation, d.h. zunehmende faits accomplis und Konflikte zwischen
Großmächten, wird um so wahrscheinlicher, wenn in zumindest einer von ihnen die
dominanten Akteure ihr Interesse an der internationalen Zusammenarbeit verlieren
und mehr Interesse an territorialer Expansion oder internationalen Konflikten zei-
gen oder wenn innerhalb der bestimmenden Koalitionen die Macht expansiver oder
konfliktorientierter Eliten zunimmt. Die Partnerschaft wird um so rascher auseinan-
derbrechen, je schneller sich diese innenpolitischen Veränderungen vollziehen und je
geringer der Einfluß der obersten Zentralinstanz in den betreffenden Staaten ist.

3. Fallstudien

3.1. Die Epoche des Europäischen Konzerts

Das europäische Mächtekonzert, das sich nach der endgültigen Niederlage Napo-
leons herausbildete, gilt geradezu als der paradigmatische Fall einer erfolgreichen
Sicherheitspartnerschaft nach Beendigung eines Hegemonialkonflikts. Tatsächlich
gelang es damals den Verbündeten England, Österreich, Preußen und Rußland7 fast
zwei Jahrzehnte lang, ihre Sicherheitskooperation fortzusetzen oder zumindest den
Rückfall in einen machtpolitischen Antagonismus zu verhindern.8 Rüstungswettläu-
fe oder kompetitive Bündnisbestrebungen unterblieben weitestgehend. Statt dessen
fanden sich die großen Mächte, die sich seit Beginn der Französischen Revolution
argwöhnisch belauert, gegenseitig übervorteilt und vielfach bekriegt hatten, immer
wieder zu kooperativer Ordnungs- und Krisenpolitik zusammen (Albrecht-Carrié
1958: 68; Schroeder 1994). Erst mit dem Aufkommen der anglo-russischen Riva-
lität ab 1832 behandelten sich zwei der Alliierten erneut über einen längeren Zeit-
raum konsequent als potentielle Gegner statt als hilfreiche Partner bei der Erhaltung
von Europas Ordnung. Sie unterstützten nicht nur ihre jeweiligen ideologischen Ge-
sinnungsgenossen in Drittstaaten, sie standen auch in zwei Orientkrisen am Rande ei-

7 Zur sprachlichen Vereinfachung werden im Folgenden meist die gebräuchlichen Kurz-


namen der jeweiligen Mächte verwendet und nicht die korrekten Bezeichnungen, die je-
weils das komplette Staatsgebiet miteinschließen (z.B. »England« statt »Vereinigtes
Königreich von Großbritannien und Irland«).
8 Frankreich wurde und wird üblicherweise ebenfalls als Mitglied des Konzerts betrachtet,
für das sich daher auch die alternative Bezeichnung »Pentarchie« eingebürgert hat. Um
die Einheitlichkeit der durchgeführten Fallstudien zu wahren, stehen aber in diesem Ab-
schnitt, genau wie in den folgenden, nur die Beziehungen der Mächte im Mittelpunkt,
welche sich der Errichtung der Hegemonie widersetzt hatten. Dieser formale Gesichts-
punkt findet seine Berechtigung auch darin, daß Frankreich immer ein besonderes Mit-
glied des Konzerts blieb. Selbst nach seiner Aufnahme in das Kongreßsystem änderte sich
nichts an seinem grundsätzlichen Revisionismus, dem die übrigen Mächte nicht zuletzt
durch die geheime Bekräftigung ihrer Viererallianz Rechnung trugen (Bullen 1979).

42
Reinhard Wolf: Was hält siegreiche Verbündete zusammen?

nes Krieges, rüsteten ihre Flotten gegeneinander auf und behandelten sich in Zen-
tralasien zunehmend als geopolitische Gegner: »Alliance was transformed into ri-
valry« (Gleason 1950: 290; Ingle 1972; G. Morgan 1981).
Ermöglicht wurde die langwährende Sicherheitspartnerschaft vor allem durch die
Kompatibilität der spezifischen Interessen, welche die jeweiligen Herrschaftseliten in
den vier Staaten gewahrt sehen wollten. Die Priorität von Monarchie und Adel für die
Erhaltung der kontinentalen Herrschaftsordnungen und die Sparpolitik der briti-
schen Aristokratie gestatteten, trotz schwacher Institutionalisierung der Beziehun-
gen, die Fortführung der Sicherheitspartnerschaft. Zu der machtpolitisch nahelie-
genden Polarisierung zwischen einem russisch-französischen Block und einem von
England und den beiden deutschen Mächten gebildeten Bündnis sollte es nicht
kommen. Daß mit England und Rußland schließlich doch noch die beiden stärksten
Mächte zu Rivalen wurden, hatte weniger mit einer wachsenden Furcht vor frem-
den Machtressourcen zu tun, sondern war in erster Linie auf die gesellschaftspoliti-
sche Kluft zurückzuführen, welche England nach seiner Parlamentsreform von dem
zunehmend reaktionären Zarenreich trennte.

3.1.1. Der Einfluß der internationalen Machtverteilung

Die Entwicklung der internationalen Machtverhältnisse hat die damaligen Sicher-


heitsbeziehungen offenbar kaum beeinflußt – jedenfalls nicht im Sinne neorealisti-
scher Erwartungen. Gewiß zerfiel das gegen Frankreich gebildete Viererbündnis
schließlich und machte einer Rivalität zwischen den beiden stärksten Mächten
Platz. Daß die Zusammenarbeit der Siegermächte aber noch so lange gut funktio-
nierte, daß sie gerade ab Beginn der dreißiger Jahre von der anglo-russischen Riva-
lität beendet wurde und daß die beiden deutschen Siegermächte nicht in sie hinein-
gezogen wurden und mit Rußland weiterhin partnerschaftliche Beziehungen
unterhielten, läßt sich kaum mit der Entwicklung der europäischen Machtverteilung
vereinbaren, geschweige denn logisch stringent erklären.
Wenn die politische Konstellation nach Kriegsende primär durch die internatio-
nale Machtverteilung bestimmt worden wäre, dann hätte es nach 1815 bald zu einer
anglo-russischen Rivalität kommen müssen. Auch wenn Rußland und England da-
mals nur als zwei von fünf europäischen Großmächten galten, so waren sie doch
Großmächte einer besonderen Kategorie, wenn nicht gar »Supermächte« in der heu-
tigen Terminologie (Schroeder 1992: 688; Gruner 1992: 731; Kennedy 1989:
Kap. 4). Sowohl die starke Konzentration der Ressourcen auf zwei Mächte als auch
die allmähliche Verschiebung der Balance zugunsten Englands sprachen eher für
Rivalität als für das partnerschaftliche Verhältnis, das bis 1832 zwischen St. Peters-
burg und London vorherrschte. Besonders intensiv hätten freilich die schwächeren
Großmächte nach Alliierten Ausschau halten müssen. Gerade für Preußen und
Österreich hätte es aufgrund der damaligen Machtverteilung nahegelegen, eine gegen
Rußland gerichtete Bündnispolitik zu betreiben, um insbesondere englische Hilfs-
zusagen zu erlangen. Schließlich wären die beiden deutschen Mächte noch nicht

ZIB 1/2000 43
Aufsätze

einmal gemeinsam stark genug gewesen, sich ihres übermächtigen Nachbarn zu er-
wehren (Kennedy 1989: 197). Als »natürliche« Bündnisentwicklung wäre unter
diesen Bedingungen zu erwarten gewesen, daß die deutschen Mächte mit England
ein Bündnis geschlossen hätten, welches die Mitte Europas gegen etwaige Expan-
sionsbestrebungen Rußlands oder Frankreichs gesichert hätte. Auf diese Weise
wäre in Europa ein annäherndes Gleichgewicht entstanden, das die schwache Mitte
des Kontinents vor dessen stärksten Landmächten geschützt hätte.
Die tatsächliche Politik der Mächte orientierte sich offenbar kaum an solchen
machtpolitischen Kalkulationen, sonst hätte sich nicht eine ganz andere Konstellati-
on herausbilden können (Schroeder 1992: 690-704). In Mißachtung der Maximen
der Gleichgewichtspolitik formierten sich die drei östlichen Höfe 1820 in Troppau zu
einem konservativen Aktionsbündnis, dem sich dann auch noch Frankreich an-
schloß. Hingegen zog sich England vorübergehend von der kontinentalen Politik
zurück, weil es sich an der reaktionären Interventionspolitik seiner Verbündeten
nicht beteiligen wollte (Webster 1925; Kissinger 1990: Kap. 14-16). Um die Mitte
der zwanziger Jahre schien sich keine der Siegermächte mehr dafür zu interessie-
ren, wie Rußlands überlegene Landmacht auszubalancieren war. Statt sich mit den
Jahren, die nach Napoleons Niederlage vergangen waren, immer mehr an machtpoli-
tischen Überlegungen zu orientieren, gingen die vier Mächte offenbar genau den
umgekehrten Weg und stellten ihre innenpolitischen Machtansprüche und Legiti-
mitätsgrundsätze zunehmend über alle zwischenstaatlichen Kräftekalkulationen.
Die Entstehung der anglo-russischen Rivalität nach 1832 ist nicht viel besser mit
den machtpolitischen Annahmen des Realismus zu vereinbaren. Mit England und
Rußland gerieten zwar schließlich die beiden Mächte miteinander in Konflikt, die
aufgrund ihrer überlegenen Ressourcenausstattung dazu prädestiniert schienen.
Auch der Gegenstand und der zeitliche Beginn des Konflikts fügen sich insofern
gut in eine realistische Erklärung, als Anfang der dreißiger Jahre des Sultans Nie-
derlage gegen den ägyptischen Herrscher Mehmed Ali ein Machtvakuum an den
türkischen Meerengen schuf oder doch zumindest verstärkte (Anderson 1966). Un-
erklärbar bleibt indes die weitere Allianzkonfiguration. Zwar bildete sich mit dem
Gegeneinander von Berliner Koalition (Rußland, Preußen und Österreich) und Qua-
drupelallianz (England, Frankreich, Spanien und Portugal) vorübergehend ein unge-
fähres Machtgleichgewicht heraus. Die beiden Gruppierungen waren aber eher
locker verfaßt und wurden nicht durch eine allgemeine Beistandsklausel zusam-
mengehalten. Zudem war ihre Zusammensetzung in geopolitischer Hinsicht sub-
optimal, weil sie England, Preußen und Österreich keinen Schutz vor ihren mächtigen
Nachbarn Frankreich bzw. Rußland bot. Gerade aus britischer Sicht hätte zu Beginn
der dreißiger Jahre ein anti-französisches Bündnis nahegelegen, denn damals ge-
lang es Frankreich, kurzzeitig wieder zu den beiden stärksten Mächten aufzu-
schließen, nicht zuletzt deshalb, weil es im Unterschied zu England in den zwanziger
Jahren Armee und Flotte kontinuierlich verstärkt hatte (Bullen 1979: 130f; Moul
1989: 119). Schließlich verdeutlicht die Genese des anglo-russischen Konflikts, daß
machtpolitische Interessen bei einigen wichtigen Entscheidungen nur eine zweitran-
gige Rolle spielten. Eine nähere Betrachtung der Perzeptionen und Interessen, welche

44
Reinhard Wolf: Was hält siegreiche Verbündete zusammen?

die Entscheidungsträger ihrem Handeln zugrundelegten, wird unten zeigen, daß die
Furcht vor der Macht der anderen Seite häufig nicht ausschlaggebend war (Lincoln
1978; Webster 1951).

3.1.2. Der Einfluß internationaler Institutionen

Die Qualität der internationalen Verregelung hatte ebenfalls wenig Einfluß auf die
guten Beziehungen, die Napoleons Gegner noch lange Zeit nach dessen Niederlage
unterhielten. Im Vergleich zu den Sicherheitsinstitutionen, die nach den beiden
Weltkriegen geschaffen werden sollten, stellten die Institutionen der Konzertepoche
zweifellos nur einen ersten, bescheidenen Anfang dar. Präzise Regelungen und Ver-
fahren enthielten nur die Wiener Schlußakte und der Friedensvertrag mit Frank-
reich, die alle vier Verbündeten zur Achtung der neuen Territorialordnung ver-
pflichteten. Eine gemeinsame Verantwortung für den Schutz der fixierten Grenzen
war mit diesen Verträgen allerdings nicht verbunden. Keine der Parteien mußte einer
anderen zu Hilfe kommen, wenn ihre territoriale Integrität durch Dritte verletzt
wurde. Rußland und Preußen sollten sich 1818 auf dem Aachener Kongress für einen
derartigen Garantievertrag einsetzen, stießen damit jedoch bei England und Öster-
reich auf wenig Gegenliebe (Webster 1925: 74-87, 142-166; Kissinger 1990:
Kap. 12). Was zu tun war, wenn die etablierte Territorialordnung bedroht oder ver-
letzt werden sollte, regelten diese beiden Friedensinstrumente mithin nicht.9
Die verschiedenen Bündnisverträge der Sieger waren kaum geeignet, diese Lücke
zu schließen. So erschöpfte sich der Gründungsvertrag der Heiligen Allianz – bis
heute »perhaps the vaguest document ever to trouble European diplomacy« (Sked
1979: 4) – in unspezifischen Prinzipienerklärungen, mit denen die Monarchen Ruß-
lands, Österreichs und Preußens ihre Absicht bekundeten, künftig ihre Beziehungen
auf der Grundlage der »erhabenen Wahrheiten« der christlichen Religion zu gestal-
ten. Für die Politik der Mächte blieb diese Allianz nahezu folgenlos (Grie-
wank 1954: 360f; Näf 1928: 5, 9). Der Deutsche Bund, der an die Stelle des Heiligen
Römischen Reiches getreten war, erlangte für die Sicherheitsbeziehungen der
Großmächte keine echte Bedeutung. Er war eher »eine Art fürstlicher Versiche-
rungsverein auf Gegenseitigkeit zur Erhaltung des politischen und gesellschaftli-
chen status quo« (Rürup 1984: 128; vgl. auch Nipperdey 1993: 356; Wehler 1987:
367) als eine internationale Sicherheitsinstitution. Der Bündnisvertrag der vier Sie-
germächte explizierte allenfalls die allgemeinen Prinzipien der Zusammenarbeit so-
wie Normen und Regeln, die das Verhältnis zu Frankreich betrafen. Hingegen fehlten
Normen, Regeln und Verfahren für alle übrigen Probleme, die zwischen den Sieger-
mächten auftreten mochten. Sein berühmter »Kongreßartikel« (Art. VI) legte nur
ganz allgemein fest, daß sich die Monarchen oder ihre Minister regelmäßig zu Kon-

9 Eine Ausnahme bildete in dieser Hinsicht lediglich der Teil der Wiener Schlußakte, der
sich auf die Gründung des Deutschen Bundes bezog und dessen Mitglieder u.a. zur Ver-
teidigung des gesamten Bundesterritoriums verpflichtete.

ZIB 1/2000 45
Aufsätze

gressen versammeln sollten, auf denen neben ihren gemeinsamen Interessen auch
die Maßnahmen erörtert werden sollten, welche »der Ruhe und dem Wohlstand der
Nationen, sowie der Erhaltung des Friedens in Europa« am besten dienen würden.
Unklar blieb hierbei unter anderem, was konkret unter der Einigkeit der Mächte und
unter der etablierten Ordnung zu verstehen sei (schloß sie die innere Organisation
der Staaten mit ein?), wann eine alliierte Intervention zu erfolgen habe und unter
welchen Voraussetzungen ein Kongreß zusammentreten müsse (Kissinger 1990:
408-410; Webster 1925: 153-165; Hinsley 1963: 199-210). Entsprechend trennten
die Vertragsparteien schon bald erhebliche Auslegungsdifferenzen. Der Institutio-
nalisierungsgrad des Konzerts blieb also gering. Spätestens mit dem Ende des Kon-
greßsystems im Jahre 1822 war es bloß noch eine »informal institution« (Holbraad
1970: 2), »a vague system of Conferences« (Webster 1922: 627), wenn nicht gar
»eher eine abstrakte Idee« (Doering-Manteuffel 1991: 13).10
Daß die Beziehungen der Sieger lange ihren partnerschaftlichen Charakter behiel-
ten läßt sich daher schwerlich auf ihren Institutionalisierungsgrad zurückführen.
Wichtiger als die beschränkenden Normen war die unabhängig davon vorhandene
Bereitschaft der Entscheidungsträger, sich von diesen beschränken zu lassen. Um es
mit den Worten des britischen Historikers Hinsley auszudrücken: »Their accep-
tance of the restraints and frustrations of the Concert system was the consequence
rather than the cause of their preparedness to be restrained« (Hinsley 1963: 220).
Die Institution des Mächtekonzerts erklärt mithin kaum, weshalb die Sicherheitsbe-
ziehungen seiner Mitglieder so lange ihren partnerschaftlichen Charakter behielten.
Auch die Erosion der Sicherheitspartnerschaft ab 1832 steht in keinem erkennbaren
Zusammenhang zur damaligen Entwicklung der Sicherheitsinstitutionen. Dem
Bruch zwischen London und St. Petersburg ging keine deutliche Schwächung der
Normen des Konzertsystems voraus. Vielmehr war die Zusammenarbeit zwischen
beiden Mächten in den entscheidenden Jahren eher besser institutionalisiert als
noch in der Mitte der zwanziger Jahre und auch nicht schlechter verregelt als Ruß-
lands Beziehungen zu Österreich und Preußen. Unter anderem hatten sich gerade
London und St. Petersburg bei der Regelung der griechischen Unabhängigkeit wie-
derholt zu der Norm bekannt, daß die Großmächte bei der Bewältigung internationa-

10 Selbst Richardson (1999: 52, 56), die dem Konzertregime eine erhebliche Wirkung zu-
schreibt, muß einräumen, es habe sich bei ihm bloß um eine »extremely loose institutional
form« gehandelt, deren Struktur nur unter großen Schwierigkeiten zu analysieren sei. Es
kann auch keine Rede davon sein, daß sich eine Präzisierung von Normen und Prinzipien
in dieser Phase erübrigte, weil die Entscheidungsträger auch so einander bewährtes Ver-
trauen entgegenbrachten und überdies aus Erfahrung genau wußten, welche Maßnahmen
ge- oder verboten waren. Im Gegenteil: in den Jahren vor und nach dem Wiener Kon-
greß legten die Verantwortlichen weder auf der persönlichen noch auf der offiziellen
Ebene ein Verhalten an den Tag, das als Vorbild, Richtschnur oder Orientierungsrahmen
internationaler Zusammenarbeit hätte dienen können. An der Tagesordnung waren viel-
mehr Wortbrüche, Drohungen, Intrigen und Verdächtigungen, ja selbst ein Duell zwi-
schen Alexander I. und Metternich konnte während des Wiener Kongresses nur mit
Mühe abgewendet werden (Burg 1993: 9-29; Gulick 1955: 191, 212, 216, Kap. VIII;
Kissinger 1990: Kap. 9; abweichend Wallander/Keohane 1999: 37).

46
Reinhard Wolf: Was hält siegreiche Verbündete zusammen?

ler Krisen keine unilateralen Vorteile anstreben sollten (Albrecht-Carrié 1968: 69,
73, 106, 109). Daß sich die Zusammenarbeit der Ostmächte intensivierte, während sie
zwischen London und St. Petersburg in Rivalität umschlug, hängt somit wenig mit in-
stitutionellen Faktoren zusammen.
Alles in allem spielten internationale Institutionen bei der Fortsetzung und beim
Zerfall der alliierten Sicherheitskooperation keine zentrale Rolle. Im Vergleich zu
denjenigen Organisationen, die nach den beiden Weltkriegen geschaffen werden soll-
ten, waren die damaligen Institutionen nur sehr schwach verregelt (Richardson 1999:
54). Ohne andere Faktoren, welche die Zusammenarbeit der Verbündeten begünstigten,
hätten die vier Mächte demnach ihre Partnerschaft schwerlich bewahren können.

3.1.3. Der Einfluß interner Macht- und Interessenkonstellationen

Der liberale Ansatz kann die sicherheitspolitischen Entwicklungen der Konzertphase


weitaus besser erklären als die beiden konkurrierenden Theorien. Das Herrschaftsin-
teresse von Monarchie und Adel verlangte von den konservativen Ostmächten eine
vorsichtige Außenpolitik, die auf internationale Zusammenarbeit gegen emanzipa-
torische Bestrebungen der anderen Gesellschaftsschichten setzte. Englands aristo-
kratische Oligarchie teilte dieses Interesse an koordinierter Repression zwar bald
schon nicht mehr, forderte aber um so nachdrücklicher staatliche Ausgabensenkun-
gen, die eine risikofreudige Außenpolitik unmöglich machten. Trotz Londons zeit-
weiliger Distanzierung von den konservativen Festlandsmächten kam es so nicht zu
machtpolitischen Rivalitäten zwischen dem Inselstaat und seinen Alliierten. Dies
änderte sich erst, als die Revolutionen von 1830/31 und die Reformpolitik der
Whig-Regierung die gesellschaftspolitische Spaltung derart vertieften, daß sich
auch die britische Reformkoalition in einen grenzüberschreitenden Kampf zwischen
reaktionären und fortschrittlichen Kräften verstrickt sah. In dieser Situation schien
es ihr nahezuliegen, gemeinsam mit dem konstitutionellen Frankreich dem von
Rußland geführten konservativen Lager die Stirne zu bieten.
Österreich war in den vier Jahrzehnten nach 1815 »das klassische Land der Re-
stauration« (Nipperdey 1993: 340), das »Zentrum der gegenrevolutionären Bestre-
bungen in Deutschland« (Rürup 1984: 134). Es wurde beherrscht von einem absoluten
Monarchen, Franz II., seiner Bürokratie und dem Adel. Die einzige politische Linie,
die sich angesichts dieser Konstellation von Einfluß und Interessen durchsetzen
konnte, war die der Erhaltung des Bestehenden, der Stagnation. Für die Außenpolitik
implizierte diese Interessenkonstellation im allgemeinen ein behutsames Vorgehen,
das auf die Solidarität der Monarchen gegen alle revolutionären Entwicklungen baute
(Srbik 1925: 438-440; Nipperdey 1993: 337-340; Holbraad 1970: 23-33).
In diesem Punkt trafen sich die österreichischen Herrschaftseliten schon wenige
Jahre nach Napoleons endgültiger Niederlage wieder ganz mit den Interessen der
dominanten Akteure in Preußen. Mit dem Sieg über Frankreich erstarkten in Berlin
die Kräfte der Beharrung, die sich bis zum Ende des Jahrzehnts gegen die noch ver-
bliebenen Reformer durchsetzen sollten. Hierbei handelte es sich primär um die alt-

ZIB 1/2000 47
Aufsätze

ständischen Adeligen, die um ihre Privilegien und ihre Einkommen fürchteten, sowie
um den Monarchen und seine »Hofkamarilla«. Im Ergebnis dieser Entwicklungen
formierte sich zwischen 1815 und 1822 eine »von konservativer Bürokratie, Hof
und traditionalem Adel gebildete Allianz« (Wehler 1987: 315), die im Inneren die Er-
haltung der bestehenden Ordnung anstrebte. In der Außenpolitik erforderte der Primat
der Herrschaftssicherung die enge Anlehnung an Wien und St. Petersburg sowie
den Verzicht auf jede äußere Machterweiterung, welche die inneren Verhältnisse
womöglich destabilisiert hätte.11
Die russische Politik machte in den ersten Jahren nach dem Krieg eine ähnliche
Veränderung durch wie diejenige Preußens. Anders als in Preußen war im Zaren-
reich die Wendung zu einer konservativen Stabilisierungspolitik aber fast aus-
schließlich darauf zurückzuführen, daß der Monarch angesichts zahlreicher Rebellio-
nen im In- und Ausland mit seinen reformistischen Überzeugungen brach. Auf
Geheiß seiner Großmutter Katharina II. im Geist der Aufklärung erzogen, hatte
Alexander I. in den ersten beiden Jahrzehnten seiner Regierungszeit durchaus Sym-
pathien für liberale Bestrebungen gezeigt. Mit Beginn der zwanziger Jahre sollte sich
der Selbstherrscher jedoch von diesen Vorstellungen völlig abwenden. Zur Erleichte-
rung des russischen Adels verzichtete Alexander nunmehr endgültig auf alle inneren
Reformvorhaben, während er in der äußeren Politik den engen Schulterschluß mit
den anderen konservativen Großmächten suchte (Hartley 1994: 147-194; Grimsted
1969: 252f, 279; Palmer 1982: 328-335). Alexanders Nachfolger Nikolaus I. führte die
Linie seines Bruders weitgehend fort. Lediglich in der Orientpolitik setzte er – ver-
mutlich unter dem Einfluß von Adel, Militär und Kirche – neue Akzente, indem er
russische Interessen so konsequent vertrat, daß er zeitweilig das Mißtrauen Öster-
reichs erregte (Lincoln 1978: 115-116, 147; Schiemann 1908: 210f).
Englands Politik wurde nach den Kriegen von Aristokratie und gentry bestimmt.
Diese Schichten forderten vor allem Steuersenkungen und wollten kostspielige Ver-
wicklungen in die Angelegenheiten des Festlands vermeiden (Gruner 1979: 493-
517; Gash 1984: 115-119, 126-38, 197-98). Angesichts innenpolitischer Unruhen in
den ersten Nachkriegsjahren brachten die britischen Eliten den antirevolutionären
Bestrebungen der Kontinentalmächte zunächst noch einige Sympathien entgegen.
Mit dem Abklingen der englischen Unruhen und dem Erstarken der liberaleren Ver-
treter innerhalb von Kabinett und Parlament schwand in den zwanziger Jahren je-
doch das Verständnis für die Repressionspolitik der übrigen Monarchien. Die Folge
war eine zeitweilige Entfremdung zwischen London und seinen früheren Alliierten,
die allerdings keine machtpolitischen Formen annahm (Kissinger 1990: Kap. 14-17;
Webster 1925: 21-23, 241f; Gash 1984: 171-190, 231f).

11 Beispielsweise unternahm Berlin nichts, um den deutschen Nationalismus anzufachen,


obwohl es auf diese Weise seine Position gegenüber Österreich hätte ausbauen können.
Ferner verfolgte die preußische Regierung einen strikten Sparkurs, unter dem besonders
die Armee litt. Der Monarch scheute indes neue Staatsanleihen, weil deren Bewilligung
die Einberufung der Reichsstände erfordert hätte (Wehler 1987: 298-316, 331-344,
383-391; Nipperdey 1993: 328f, 334, 361; Stamm-Kuhlmann 1992: 458f, 463, 475f;
Koselleck 1987: 325-330).

48
Reinhard Wolf: Was hält siegreiche Verbündete zusammen?

Die innenpolitischen Erschütterungen, die Europa zu Beginn der dreißiger Jahre


erfaßten, mußten zu einem Bruch der großen Allianz führen. Auf seiten der konser-
vativen Ostmächte verstärkten die zahlreichen Erhebungen die Sorge um die Stabi-
lität der alten Ordnung. Folglich lösten sie eine Verschärfung der Repressionsmaß-
nahmen und eine Intensivierung antirevolutionärer Kooperation aus. Englands
kurze Zeit später durchgeführte Parlamentsreform vertiefte zusätzlich den ideolo-
gisch-gesellschaftspolitischen Riß zwischen den Verbündeten. Die britische Re-
formkoalition aus Whigs und Radikalen wähnte sich, nicht ganz zu Unrecht, in einem
doppelten Abwehrkampf gegen innere und äußere Reformgegner. Sie suchte daher
die Zusammenarbeit mit dem konstitutionellen Frankreich und ergriff in der Folge
Maßnahmen, um das angebliche Expansionsstreben des verachteten Zarenreiches
einzudämmen (Bullen 1978; Webster 1951: 604, 786; Bourne 1982: 351f, 551).
Dessen Führung verfolgte in Wahrheit eher eine Status-quo-Politik, die dem Impera-
tiv der Systembewahrung entsprach. Für die russische Westpolitik implizierte die-
ses Interesse die enge Zusammenarbeit mit den beiden deutschen Großmächten ge-
gen alle liberalen Bestrebungen und Ideen, die vom Westen ausgingen oder
auszugehen schienen. Dadurch trieb er das Zarenreich in einen wachsenden Gegen-
satz zu England und insbesondere zu Frankreich. In der Orientpolitik verlangte er
die Eindämmung Mehmed Alis, in dem der Zar einen französisch beeinflußten Ver-
breiter rebellischer Ideen zu erkennen glaubte, und die konsequente Durchsetzung
russischer Schiffahrtsrechte, von denen das wirtschaftliche Überleben des südrussi-
schen Adels abhing (Lincoln 1978: 109, 197-224; Schiemann 1913: 211f, 279-282).
Insgesamt läßt sich also festhalten, daß über den Lauf der Jahre Änderungen in
den zwischenstaatlichen Beziehungen immer mit innenpolitischen Brüchen oder
Machtverschiebungen verbunden waren. So war die Festigung, welche die Partner-
schaft der Ostmächte 1819/20 erfuhr, unmittelbar der konservativen »Bekehrung«
Alexanders I. zu verdanken, die verschiedene Rebellionen damals ausgelöst hatten.
Umgekehrt war Englands schon damals beginnende Distanzierung eine unverkenn-
bare Folge der Konsolidierung der parlamentarischen Oligarchie und der Tatsache,
daß danach das liberale Element in der Regierung gestärkt wurde. Auch der spätere
Bruch zwischen England und seinen kontinentalen Verbündeten sowie die Entste-
hung der anglo-russischen Rivalität wurden in erster Linie ausgelöst von der gesell-
schaftspolitischen Polarisierung. Sie waren eine Konsequenz der neuerlichen Revo-
lutionen, der repressiven Maßnahmen der Ostmächte, des Machtantritts der
Whig-Regierung und der sich anschließenden Parlamentsreform.

3.2. Europa nach dem Ersten Weltkrieg

Die Sicherheitsbeziehungen zwischen den drei europäischen Siegermächten Eng-


land, Frankreich und Italien waren bis Mitte der zwanziger Jahre alles in allem part-
nerschaftlich. Das Verhältnis zwischen London und Paris kühlte sich zwar vorüber-
gehend ab, weil Differenzen in bezug auf den Nahen Osten, die Durchsetzung der
deutschen Reparationsleistungen und die französische Luft- und U-Boot-Rüstung

ZIB 1/2000 49
Aufsätze

auftraten. Auf den multilateralen Konferenzen von Lausanne, Washington und Lo-
carno konnten für viele dieser Probleme indes bald schon wieder Kompromißlösun-
gen gefunden werden. Zu einem Wettrüsten, Kriegsdrohungen oder kompetitiven
Bündnisprojekten war es ohnehin nie gekommen. Genau diese Prozesse kennzeich-
neten jedoch ab 1925/26 die italienisch-französischen Sicherheitsbeziehungen. Vor
allem in der Balkanpolitik und bei der maritimen Rüstung wurden Paris und Rom
rasch zu ernsthaften Rivalen, die gelegentlich am Rande eines Krieges zu stehen
schienen (Cassels 1970: 391; Shorrock 1988: 49, 60-61; Kenyon 1993: 180-227;
Roskill 1976: 27, 183f).
Hauptursache dieses Umbruchs war weder eine deutliche Machtverschiebung
zwischen den Siegermächten noch eine Schwächung des institutionellen Gefüges,
sondern, wie vom liberalen Ansatz postuliert, eine Veränderung innenpolitischer
Macht- und Interessenkonstellationen. Zunächst dominierten in allen drei Sieger-
mächten noch bürgerliche Koalitionen, denen vordringlich an der Stabilisierung der
etablierten Ordnung gelegen war. Dies änderte sich erst mit der Errichtung der Dik-
tatur Mussolinis und der damit verbundenen Radikalisierung der italienischen Bal-
kanpolitik, die von Frankreich nicht passiv hingenommen werden konnte.

3.2.1. Der Einfluß der internationalen Machtverteilung

Der Faktor Macht hatte keinen entscheidenden Einfluß auf die Qualität der Sicher-
heitsbeziehungen zwischen den drei europäischen Siegermächten. Die Machtvertei-
lung bei Kriegsende machte die Fortsetzung der Zusammenarbeit keineswegs zwin-
gend erforderlich. Das Machtpotential Deutschlands und seiner Verbündeten war so
gründlich geschwächt worden, daß es für das europäische Gleichgewicht auf abseh-
bare Zeit keine ernsthafte Bedrohung mehr darstellte, selbst wenn man die vorüber-
gehende Neutralisierung des paralysierten Rußlands berücksichtigt. Nicht einmal in
Frankreich befürchtete die außenpolitische Elite ein baldiges Wiedererstarken des
deutschen Nachbarn.12 Die beiden überseeischen Großmächte Japan und die USA
verfügten nicht nur über begrenzte Mittel zur Bedrohung der anderen Sieger, sie
zeigten von sich aus auch wenig Interesse an der europäischen Sicherheitsordnung.
Deren Gestaltung blieb so weitestgehend den drei europäischen Siegermächten
überlassen. Unter diesen Umständen hätte die Machtverteilung am ehesten die Ent-
stehung einer Rivalität zwischen den beiden stärksten Siegern erwarten lassen, d.h.
zwischen London und Paris (Kennedy 1989; Moul 1989: 121).
Ebensowenig trägt die weitere Entwicklung der Machtverteilung zur Erklärung
des italienisch-französischen Bruches bei. Italien konnte Mitte der zwanziger Jahre
zwar seine Machtposition gegenüber Frankreich leicht verbessern, erreichte aber
12 Beispielsweise rechnete der einflußreiche Ständige Generalsekretär des französischen
Außenministeriums, Berthelot, im Januar 1923 damit, daß Frankreich trotz seiner gerin-
geren Bevölkerung Deutschland noch ein Dutzend Jahre an Macht überlegen sein würde.
Ähnlich zuversichtliche Erwartungen herrschten damals in der Nationalversammlung
und im Generalstab vor (Challener 1953: 77; Hughes 1971: 81, 119, 128).

50
Reinhard Wolf: Was hält siegreiche Verbündete zusammen?

nie ein Niveau, das eine erfolgreiche Herausforderung des nordwestlichen Nach-
barn hätte möglich erscheinen lassen.13 Dies galt erst recht, nachdem Frankreich in
Locarno eine Entspannung mit Deutschland und eine multilaterale Garantie seiner
Ostgrenze erreicht hatte. In Anbetracht dieser eklatanten Disparität hätte Rom nie
damit rechnen können, sich gegen Paris durchzusetzen, und letzteres hätte italienische
Bemühungen um Positionsgewinne mit großer Gelassenheit beobachten können. Zu
einer machtpolitischen Rivalität zwischen diesen beiden Ländern hätte es ange-
sichts der bescheidenen italienischen Positionsverbesserung somit gar nicht erst
kommen dürfen. Frankreich und Mussolinis Italien, obzwar als Großmacht aner-
kannt, spielten letztlich doch nicht ganz »in der selben Liga« oder, um die Metapher
zu variieren, zumindest in weit auseinanderliegenden Tabellenregionen.

3.2.2. Der Einfluß internationaler Institutionen

Aus institutionalistischer Sicht ist die anfängliche Fortsetzung der Sicherheitsko-


operation zwischen den drei europäischen Siegermächten längst nicht so überra-
schend wie in der Perspektive der realistischen Schule. Trotz der vorübergehenden
Marginalisierung des Völkerbunds läßt sich, auch für die unmittelbare Nachkriegs-
zeit, von einer relativ stark institutionalisierten Sicherheitskooperation sprechen,
vor allen Dingen, wenn man den Vergleich zum klassischen Mächtekonzert zieht.
Gemessen an einer idealen Institution, die eigens für die Aufrechterhaltung einer
Sicherheitspartnerschaft zwischen Großmächten konzipiert wäre, wies der Verbund
von interalliierten Institutionen (Oberster Rat und Botschafterkonferenz) und Völ-
kerbund zwar einige Mängel auf, insbesondere im Hinblick auf die Präzision von
Regeln und Verfahren sowie hinsichtlich der Durchführung von Sanktionen. Auch
stimmten ihre Mitglieder keineswegs immer darin überein, welche Funktionen die
jeweiligen Institutionen haben sollten (Heideking 1980). Dem stand jedoch eine
Reihe von Vorzügen gegenüber, die vor allem die Botschafterkonferenz auszeich-
neten. Hierzu gehören neben der Vielzahl der Beratungen vor allem die Informati-
onspflicht und das Gebot interalliierter Solidarität, die den Spielraum für opportuni-
stisches Verhalten stark einschränkten. Positiv bemerkbar machen mußten sich
ferner die Kontinuität der interalliierten Gremien und die große Bandbreite der be-
handelten Fragen, weil eine umfassende Agenda den Einsatz von Linkage-Strategien
erleichtert und die Gefahr erhöht, daß opportunistisches Verhalten in einem Pro-
blemfeld in anderen Feldern erwidert wird, in denen der potentielle Regelverletzer
stärker auf Zusammenarbeit angewiesen ist. So konnte die alliierte Botschafterkon-
ferenz eine bedeutende Rolle spielen und nach Auffassung eines Experten im Verlauf
der Jahre sogar zu einer Art von »European Directorate« werden (Pink 1942: 276).
Dem Völkerbund überließen die Sieger zunächst nur die Behandlung von Proble-
men, die zweitrangig waren oder von den Alliierten für kaum lösbar gehalten wurden.

13 Gemäß der Gewichtung von Moul (1989: 121) überstieg das französische Machtpotential
während der zwanziger Jahre stets den 2,5-fachen Wert des italienischen.

ZIB 1/2000 51
Aufsätze

Folglich blieb die Genfer Organisation in den ersten Jahren der Dekade klar im
Schatten von Botschafterkonferenz und Oberstem Rat.14
Inwieweit die institutionalistische Perspektive auch zur Erklärung der italienisch-
französischen Rivalität beitragen kann, hängt primär davon ab, ob sich ein zeitlicher
und kausaler Zusammenhang zwischen institutioneller Entwicklung und dem Nach-
lassen der Zusammenarbeit herstellen läßt. In der Tat schwand die Bedeutung des
Obersten Rats und mehr noch der Botschafterkonferenz erheblich bis zur Mitte der
zwanziger Jahre, als die meisten territorialen und abrüstungspolitischen Bestim-
mungen der Friedensverträge schließlich verwirklicht worden waren. Dieser Mar-
ginalisierungsprozeß ging dem Aufkommen der italienisch-französischen Rivalität
unmittelbar voraus (Heideking 1979: 32, 349f; 1980: 612-614). Prima facie könnte
somit durchaus ein Zusammenhang zwischen der Entwicklung der interalliierten
Organe und der Sicherheitskooperation zwischen den Siegermächten bestehen –
vorausgesetzt der Bedeutungsrückgang der interalliierten Organe wurde nicht wieder
ausgeglichen durch einen entsprechenden Bedeutungszuwachs des Völkerbunds.
Tatsächlich machte die Genfer Weltorganisation in den Jahren zwischen Locarno
und der Weltwirtschaftskrise aber eine hoffnungsvolle Phase durch, die nicht selten als
ihre »Goldene Ära« bezeichnet wird (Heideking 1980: 628; Pfeil 1976: 81). Diese
resultierte unter anderem aus Erfolgen und Verfahrensverbesserungen im Bereich
der Streitschlichtung. Aufgewertet wurde der Völkerbund ferner durch die zuneh-
mende Präsenz der Außenminister Briand, Austen Chamberlain und Stresemann, die
ab 1924 bzw. 1926 kontinuierlich an allen Ratssitzungen teilnahmen, deren Fre-
quenz auf einen vierteljährlichen Turnus erhöht worden war (Walters 1960: 297,
299, 379f; Pfeil 1976: 95; Armstrong et al. 1996: 34-40). Hinzu kamen informelle
Abstimmungen der Großmächte. Unter dem Vorwand, mit dem Locarno-Vertrag zu-
sammenhängende Fragen zu erörtern, fanden sich regelmäßig vor den offiziellen
Ratssitzungen die Vertreter Englands, Deutschlands, Frankreichs, Italiens, Belgiens
und auch Japans zu sogenannten Locarno tea-parties zusammen. Da bei diesen Gele-
genheiten in Wirklichkeit alle diplomatischen Probleme hinter verschlossenen Türen
erörtert wurden, blieben für die eigentlichen Ratssitzungen oft nur zweitrangige Fra-
gen (Walters 1960: 335-347; Pfeil 1976: 95-96; Scott 1973: 163-165).
Alles in allem kann in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre also kaum von einer
spürbaren Schwächung des institutionellen Umfelds gesprochen werden. Wenn
Frankreich und Italien dennoch zu Rivalen wurden, so lag dies schwerlich an einem
Mangel an institutionellen Abstimmungsmöglichkeiten oder an ihrer nachlassenden
Wirksamkeit. Entscheidend war vielmehr, daß diese Institutionen bewußt nicht ge-
nutzt wurden, weil insbesondere auf italienischer Seite das Interesse an Kooperation
geschwunden war. Hauptursachen dieser Entfremdung waren nicht Entwicklungen,
welche das institutionelle Gefüge destabilisierten, sondern unvereinbare nationale

14 Heideking (1979: 203); Walters (1960: 93-94). Um so unverständlicher daher die These
von Wallander/Keohane (1999: 38) »[that] the lack of institutionalization in the Entente
meant that the architects of the post-war system, centred around the League of Nations,
had to build their institutions from scratch«.

52
Reinhard Wolf: Was hält siegreiche Verbündete zusammen?

Präferenzen, die ihrerseits durch die jeweiligen innenpolitischen Kräftekonstellatio-


nen bedingt waren.

3.2.3. Der Einfluß interner Macht- und Interessenkonstellationen

Die Präferenzen der dominanten innenpolitischen Interessengruppen, die nach dem li-
beralen Ansatz das Konfliktniveau zwischenstaatlicher Beziehungen bestimmen,
eignen sich am besten als Ausgangspunkt für die Erklärung der europäischen Si-
cherheitsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Während der kooperativen Phase
waren die tonangebenden Koalitionen in den drei Staaten hauptsächlich an der Kon-
solidierung des bürgerlichen Gesellschaftssystems interessiert, dessen Stabilität der
Krieg und die sich anschließenden Revolutionen merklich erschüttert hatten (Maier
1975; Ziebura 1984). Dazu erschien ihnen die Zusammenarbeit mit den anderen
Mächten als geeignetstes Mittel, sei es um den innereuropäischen Handel zu reakti-
vieren (wie im Falle Englands), sei es um deutsche Reparationsleistungen und Abrü-
stungsschritte durchzusetzen, worauf vor allem die französischen Einflußgruppen
großen Wert legten. Dieser relativen Harmonie bereitete die Errichtung von Musso-
linis persönlicher Diktatur ab 1925 ein Ende, weil sie zunächst den Einfluß der radi-
kalen Faschisten auf Kosten des liberal-konservativen Establishments stärkte und in
der Folgezeit die antifranzösischen Ressentiments des Diktators zunehmend poli-
tikbestimmend werden ließ.
Die bürgerlich-konservativen Interessengruppen, welche die italienische Politik
in den ersten Nachkriegsjahren dominierten, konnten sich von einem Konflikt mit
England oder Frankreich keinen besonderen Vorteil versprechen. Hierzu fehlten ih-
nen sowohl die nötigen Anreize als auch die erforderliche Geschlossenheit und
Machtposition gegenüber dem Rest der Gesellschaft. Überdies wurde in dieser Phase
des sozialen und politischen Umbruchs der bei weitem größte Teil ihrer Aufmerk-
samkeit von den Bemühungen absorbiert, die inneren Verhältnisse erneut zu stabili-
sieren. Rivalität mit den bisherigen Verbündeten wäre diesem Ziel wenig dienlich
gewesen. Mussolinis Machtübernahme im Oktober 1922 bedeutete in diesem Kontext
zunächst keinen grundlegenden Wandel der politikbestimmenden Interessenkoalition,
weil der neue Ministerpräsident anfänglich auf die Unterstützung der alten Eliten
angewiesen blieb (Seton-Watson 1967: Kap. 13, 635-640; Maier 1975: 305-350,
427-429, 547; Lyttelton 1987: Kap. 2-3).
Auch in Frankreich konnte die dominante Koalition kein Interesse daran haben,
Konflikte mit den alliierten Großmächten vom Zaun zu brechen. Die gemeinschaft-
lichen Prioritäten der tonangebenden bürgerlichen Parteien bestanden in der Vertei-
digung der bestehenden sozialen Ordnung, die nach der Oktoberrevolution und der
politischen Mobilisierung der Kriegszeit von massiven Arbeitskämpfen bedroht er-
schien, der Sanierung der vom Krieg zerrütteten Staatsfinanzen, dem Wiederaufbau
der zerstörten Gebiete im Nordosten, der Wiedereingliederung Elsaß-Lothringens
und nicht zuletzt in dem Erhalt der interalliierten Solidarität, der Frankreich den
Sieg über Deutschland verdankte. Die Kosten der dazu nötigen Programme sollten

ZIB 1/2000 53
Aufsätze

primär von zwei Gruppen getragen werden, die in der Koalition nicht vertreten sein
konnten: von den französischen Arbeitnehmern und den deutschen Bürgern (»L’Al-
lemagne paiera«). Gewiß beschwor die Reparationsfrage zeitweilig ernsthafte Diffe-
renzen zwischen Paris und London herauf. Indes wurde den politischen Angelpunk-
ten der damaligen Republik, der Geschäftswelt und den Parteien der Mitte bald
klar, daß die begrenzten Vorteile der Ruhrbesetzung keineswegs die Nachteile auf-
wogen, welche die davon ausgelöste Entfremdung der anglo-amerikanischen Eliten
für Politik und Wirtschaft bedeutete. Frankreich kehrte daher bald zu einer koopera-
tiveren Linie zurück, die es schließlich nach Locarno führte (Mayeur 1984: 251-
269; Rémond 1988: 46-94; Bernard 1975: 108-174; Maier 1975: 100-109, 404-420,
464-480; Schuker 1976).
Die treibende Siegermacht hinter diesem Friedensprojekt war Großbritannien, dessen
maßgebliche Interessenkoalition schon bald nach Kriegsende für einen Ausgleich
zwischen Siegern und Besiegten eingetreten war. Die britische Politik wurde in den
zwanziger Jahren über weite Strecken von einem Bündnis zwischen der Mittelklasse
und den Handelshäusern und Banken der City bestimmt, das für die Stabilisierung der
bestehenden Ordnung, den Erhalt des Empires, Haushaltsdiziplin und Freihandel ein-
trat. Cum grano salis handelte es sich um die schon vor 1914 maßgeblichen Gruppen,
deren Ziel in der Wiederherstellung der Vorkriegsverhältnisse bestand. Angesichts
der begrenzten Mittel, die dem vom Krieg erschöpften Großbritannien dafür zur Ver-
fügung standen, konnte die Priorität der dominanten Kreise nicht in der Erkämpfung
neuer Märkte und Einflußgebiete bestehen. London mußte sich vielmehr auf den Ver-
such beschränken, die traditionellen Handels- und Herrschaftsbeziehungen mit mög-
lichst geringem Aufwand zu erhalten. Die Politik der Wahl war somit schon damals
Versöhnung und Appeasement (Kennedy 1981: Kap. 5; K. Morgan 1979;
Mowat 1955). Die Interessenverteilung innerhalb der dominanten Koalition Englands
begünstigte insofern genauso die Zusammenarbeit mit den anderen Siegermächten,
wie dies zunächst auch für ihre französischen und italienischen Pendants galt.
Dem Bruch in den französisch-italienischen Beziehungen (1925/26) ging, wie der
liberale Ansatz erwarten läßt, ein tiefgreifender Wandel der innenpolitischen Kräfte-
konstellation voraus. In diesem Fall betraf die einschneidende Veränderung Italien.
Die Entwicklung von Mussolinis Herrschaft zur Diktatur, die nach der sogenannten
Matteotti-Krise von 1924/25 einsetzte, führte Änderungen in der Herrschaftsstruktur
herbei, die eine gegen Frankreich gerichtete Politik begünstigten. Der außenpoliti-
sche Einfluß der faschistischen »Heißsporne« erhöhte sich, wohingegen die franko-
phile Führungsschicht des italienischen Außenministeriums stark an Bedeutung
verlor (Cassels 1970: 283-287, 342-345; Lyttelton 1987: Kap. 11, 127, 250-252,
269). Beide Entwicklungen förderten eine Radikalisierung der italienischen Außen-
politik, die zu Lasten Frankreichs auf Expansion im Balkanraum abzielte (Keny-
on 1993: 183; Seton-Watson 1967: 693). Vor allem eröffnete die allmähliche Verfe-
stigung von Mussolinis eigener Machtposition dem Diktator größeren Spielraum,
um in der Außenpolitik seine persönlichen Ressentiments zur Geltung zu bringen,
die sich hauptsächlich gegen Frankreich und seinen jugoslawischen Bundesgenos-
sen richteten (Cassels 1970: 259, 356; Kenyon 1993: 178f).

54
Reinhard Wolf: Was hält siegreiche Verbündete zusammen?

Frankreich mußte der italienischen Herausforderung entgegentreten. Ein Nachge-


ben gegenüber Mussolinis Ambitionen hätte die heterogene Interessenkoalition
schwerlich überstanden, zu der sich die parlamentarische Mitte damals zusammenge-
funden hatte. Auf Mussolinis Forderung nach entschiedenen Maßnahmen gegen italie-
nische Emigranten, die in Frankreich anti-faschistische Aktivitäten entfalteten, konnte
die Regierung der Union nationale nicht eingehen. Eine solche Komplizenschaft mit
dem faschistischen Diktator hätte die gemäßigten Linksparteien gegen die Regierung
aufgebracht (Mayeur 1984: 284-286; Keeton 1987: 289). Ebensowenig hinnehmen
konnte die Union nationale die Schwächung des jugoslawischen Verbündeten oder
eine Überlegenheit der italienischen Marine im Mittelmeer. In beiden Fällen hätte die
Regierung massive Kritik von seiten der konservativen Parteien gewärtigen müssen,
und der fragile Konsens zugunsten einer weiteren Verkürzung der Wehrdienstzeit, an
der vor allem Sozialisten und Radikalsozialisten lag, wäre einer ernsthaften Belastung
ausgesetzt worden (Keeton 1987: 100f, 290, 311; Wurm 1979: 39f, 212f, 300-306).
Da für die in Paris maßgeblichen Gruppen ein Zurückweichen nicht infrage kam,
mußte sich eine Rivalität zwischen den »lateinischen Schwestern« herausbilden.

3.3. Der Ferne Osten zwischen den Weltkriegen

Das politische Geschehen in Ostasien und in der Pazifikregion wurde in der Zwi-
schenkriegszeit überwiegend vom Zusammenspiel der drei maritimen Siegermächte
England, USA und Japan bestimmt. Bis zum Beginn der dreißiger Jahre hielten Lon-
don, Washington und Tokio im wesentlichen partnerschaftliche Beziehungen auf-
recht. Obwohl ihre Interaktionen kaum verregelt waren und die Machtverteilung eher
ein anglo-japanisches Zusammenspiel gegen die USA nahegelegt hätte, verzichteten
die drei Regierungen sowohl auf ambitionierte Rüstungsprogramme als auch auf die
kompetitive Ausnutzung des Machtvakuums, das sich ihnen in China bot (Iriye 1965;
Roskill 1968). Diese Phase wurde 1931 abrupt beendet, als die japanische Armee im
Handstreich die Mandschurei besetzte (Ogata 1964; Nish 1993). Da Japan auch in
den folgenden Jahren an seinem expansiven Kurs festhielt, entfremdeten sich seine
Beziehungen zu den angelsächsischen Seemächten. Eine echte Rivalität entwickelte
sich daraus aber erst nach 1935, als zunächst England und ab 1938 auch die USA an-
fingen, dem japanischen Imperialismus aktiv entgegenzutreten. Beide Staaten beant-
worteten Japans dynamische Flottenrüstung mit großen Beschaffungsprogrammen
und begannen mit der aktiven Unterstützung des chinesischen Verteidigungskampfes.
Konfrontiert mit immer schärferen Wirtschaftsembargos entschied sich Tokio 1941
schließlich für den Krieg (Nish 1982; Utley 1985; Pelz 1974).
Daß sich die Sicherheitsbeziehungen der drei Seemächte so lange partnerschaft-
lich gestalteten, ist primär dem Zusammenwirken ihrer gesellschaftlich bedingten
Präferenzen zu verdanken. Die einschlägigen Sicherheitsregime waren eher
schwach verregelt und die internationale Machtverteilung hätte den Konflikt um
das zersplitterte China und ein anglo-japanisches Bündnis gegen die übermächtigen
USA nahegelegt. Eine solche Politik hätte freilich den Wirtschaftsinteressen der

ZIB 1/2000 55
Aufsätze

bürgerlichen Einflußkoalitionen widersprochen, die zunächst in allen drei Ländern


den Ton angaben. Erst als in Japan Armee und Marine die wirtschaftsfreundlichen
Parteikabinette verdrängten, fiel die langjährige Sicherheitspartnerschaft Tokios
neuem Expansionismus zum Opfer. Weil die dominanten Koalitionen in England
und den USA zunächst die Kosten und Risiken einer aktiven Gegenwehr scheuten,
bildete sich die machtpolitische Rivalität zwischen Japan und den beiden West-
mächten erst ab der Mitte der dreißiger Jahre heraus.

3.3.1. Der Einfluß der internationalen Machtverteilung

Die Entwicklung der Beziehungen, welche die drei Seemächte während der Zwi-
schenkriegszeit unterhielten, ist mit der internationalen Machtverteilung nicht befrie-
digend zu erklären. In das Schema des Realismus passen allenfalls die beiden ersten
Nachkriegsjahre, in denen beträchtliches Mißtrauen zwischen Tokio und Washing-
ton herrschte. Daß diese ambivalente Phase bald schon einer langjährigen Partner-
schaft Platz machte (1921-31), ist aus machtpolitischer Perspektive eher verwunder-
lich. Nicht auf die Intensivierung der Sicherheitskooperation zwischen den drei
Seemächten deutete nämlich die Konstellation bei Kriegsende hin, sondern auf die
Herausbildung einer intensiven Rivalität zwischen den USA und einer gegen sie ge-
richteten anglo-japanischen Koalition. Gerade im maritimen Bereich hätte Washing-
tons wirtschaftliche Überlegenheit den Widerstand des niedergehenden Empires pro-
vozieren müssen (Sprout/Sprout 1946: 289, 292; Cohen 1987: 5, 22). Statt aber dem
wachsenden Potential der USA eine starke Allianz entgegenzusetzen, löste London
sein langjähriges Bündnis mit Tokio auf und vertraute bereitwillig darauf, daß Wa-
shington »the greatest resources of the world« (Premierminister David Lloyd George)
nicht zum Schaden des Empires einsetzen würde. London betrieb also nicht »balan-
cing«, sondern tendierte eher zum »bandwagoning« (Barnett 1972: 254).
Als nicht viel hilfreicher erweist sich die Betrachtung der Machtverhältnisse,
wenn es darum geht, Japans Ausbrechen aus der in Washington etablierten Ord-
nung zu erklären. Japans Unterlegenheit gegenüber den angelsächsischen Mächten
verringerte sich zu Beginn der dreißiger Jahre keineswegs so sehr, daß sich eine
veränderte Mächtekonstellation herausbildete, vor deren Hintergrund ein so gravie-
render Wandel seiner Außenpolitik plausibel würde. Zwar schwächten Depression
und Weltwirtschaftskrise die USA erheblich stärker als Großbritannien und Japan.
Dennoch verfügte das Kaiserreich auch 1932 bei weitem noch nicht über das
Machtpotential, um den Westmächten erfolgreich die Stirne bieten zu können.
Selbst in diesem Jahr, das den absoluten Tiefpunkt der amerikanischen Wirtschafts-
leistung markierte, erreichte Japans Industrieproduktion noch nicht einmal ein
Neuntel (!) der amerikanischen und lediglich ein Drittel der britischen.15
15 Der Anteil der USA an der Weltindustrieproduktion betrug in diesem Jahr 31,8%, der
Großbritanniens 10,9% und der Japans 3,5%. Noch unverständlicher wird die japanische
Expansion, wenn neben den angelsächsischen Mächten auch die Sowjetunion berücksichtigt
wird, die sowohl in der Region selbst als auch im japanischen Interessenkalkül eine zentra-

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Reinhard Wolf: Was hält siegreiche Verbündete zusammen?

Die späte Reaktion Englands und der USA fügen sich noch am besten in das
Schema des Realismus. Daß die USA ihr enormes Aufrüstungsprogramm und ihre
einschneidenden Embargos erst nach Hitlers Siegen in Europa sowie angesichts des
drohenden Zusammenbruchs des britischen Empires durchführten, lag zweifellos
mit daran, daß diese Umwälzungen erstmals die globale Machtbalance zu gefährden
schienen (Utley 1985: 57). Allerdings ist damit noch nicht erklärt, weshalb Wa-
shington und London nicht schon viel eher, konkret in den frühen dreißiger Jahren,
feiner dosierte Gegenmaßnahmen ergriffen haben, die genau auf das Ausmaß der
japanischen Positionsgewinne zugeschnitten waren. Beispielsweise hätte schon die
Verweigerung von Anleihen und Krediten Tokio empfindlich treffen und insbeson-
dere die industrielle Entwicklung der Mandschurei nachhaltig beeinträchtigen kön-
nen.16 Der Verzicht auf solche Schritte kann offenbar nur bei Berücksichtigung an-
derer Faktoren erklärt werden.

3.3.2. Der Einfluß internationaler Institutionen

Ein enger Zusammenhang zwischen dem Niveau der Institutionalisierung und den
Sicherheitsbeziehungen der drei Seemächte ist für die Zwischenkriegszeit nicht
auszumachen. Zwar bestand eine grobe Korrelation zwischen Institutionalisierungs-
grad und internationaler Zusammenarbeit insofern, als dem Aufbau des Washingtoner
Systems ab 1922 auch eine Periode der Sicherheitspartnerschaft folgte. Ein starker
Kausalnexus zwischen beiden läßt sich aber nicht herstellen. Zum einen waren die
Washingtoner Verträge von 1921/22 naturgemäß mehr Folge als Ursache des ge-
stiegenen Kooperationsinteresses der Mächte; zum anderen – und das ist noch
wichtiger – etablierten diese ein Regime, das teilweise in sich widersprüchlich und
vielfach nur relativ schwach verregelt war. Der Neun-Mächte-Vertrag, der Chinas
Position gegenüber den ehemaligen Kolonialmächten neu definieren sollte, krankte
beispielsweise daran, daß seine wichtigsten politischen Prinzipien und Normen
nicht verregelt und – schlimmer noch – zum Teil realitätsfremd und inkonsistent
waren. So ging der Vertrag trotz rivalisierender war lords und ungeachtet der zahl-
reichen extraterritorialen Privilegien der Großmächte von der Existenz einer Regie-
rung aus, die tatsächlich autoritativ für das gesamte China sprechen konnte (Endi-
cott 1975: 11; Ziebura 1984: 128f). Der Fünf-Mächte-Vertrag über maritime
Rüstungsbegrenzung legte zwar detaillierte Obergrenzen und Reduzierungsver-
pflichtungen fest, enthielt jedoch keine Regelungen für die Verifikation – ein Manko,
das bei heutigen Abrüstungsregimen undenkbar erscheint. Infolgedessen konnte er
nur bedingt zur Minderung der Unsicherheit zwischen den Mitgliedstaaten beitra-
gen (Kaufman 1990: 97-108).
le Rolle spielte. Ihr Anteil an der Weltindustrieproduktion stieg zwischen 1929 und 1932 von
5,0% auf 11,5%. Ihr Wirtschaftspotential zeichnete sich also gegenüber dem japanischen
durch einen größeren Umfang und eine weit größere Dynamik aus (Kennedy 1989: 426).
16 Sowohl Japans Heimatwirtschaft als auch der Aufbau seiner Kolonien hingen stark vom
Zustrom westlichen Kapitals ab (Cohen 1987: 32-35).

ZIB 1/2000 57
Aufsätze

Angesichts dieser immer schon bestehenden Schwächen in der Verregelung kann


die Ursache der japanischen Expansionspolitik, die ab 1931 zum Ende der fernöstli-
chen Sicherheitskooperation führen sollte, nicht in einer Erosion der Institutionen
gesehen werden. Da die einschlägigen Regime von Beginn an nicht gut institutiona-
lisiert waren, hätte deren weitere Schwächung vermutlich keinen großen Einfluß
auf die Beziehungen der Mächte gehabt. Tatsächlich waren die betreffenden Institu-
tionen am Vorabend der japanischen Expansion insgesamt keineswegs in einem
schlechteren Zustand als in den Jahren zuvor, eher sogar in einem besseren.17 Der
Völkerbund und das maritime Abrüstungsregime gingen eher gestärkt in die neue
Dekade. Die Genfer Organisation hatte ihre Aufbauphase hinter sich gebracht und
seit Mitte der zwanziger Jahre ihre Autorität beständig ausweiten können (siehe
oben, Abschnitt 3.2.2). Sie erreichte am Ende des Jahrzehnts den Gipfel ihres Anse-
hens. Noch wichtiger für die Beziehungen zwischen den Seemächten war der erfolg-
reiche Abschluß der Londoner Konferenz von 1930. Dort war es gelungen, die Be-
schränkungen der Flottengrößen von den Großkampfschiffen auf die kleineren
Schiffsklassen auszuweiten. Zudem verpflichtete der Artikel XI des Vertrags erst-
mals die Parteien dazu, ihre jährlichen Beschaffungsprogramme im voraus einander
mitzuteilen (Roskill 1976: Kap. II; Hall 1987: 226-230; Kaufman 1990: 129-138).
Eine echte Schwächung erfuhr in den zwanziger Jahren nur das internationale Re-
gime für die Behandlung Chinas. Dort ließ das Erstarken des Nationalismus und
seiner wichtigsten Organisation, der Kuomintang, die Ordnung des Neun-Mächte-
Vertrags zunehmend anachronistisch erscheinen. Alle drei Seemächte reagierten
auf diese Entwicklung, indem sie ihre Beziehungen zu den chinesischen Machthabern
nach und nach bilateralisierten (Borg 1947: 130-138, 238, 353, 420; Iriye 1965: 87,
121f). Für die sicherheitspolitischen Beziehungen zwischen den Mächten blieb dies
jedoch ohne gravierende Folgen. Gerade die japanische Regierung nahm die all-
mähliche Erosion des Neun-Mächte-Regimes zum Anlaß dafür, gegen Ende der
dreißiger Jahre wieder die engere Abstimmung mit Washington und London zu su-
chen. Tokios Interesse an der Revitalisierung des Regimes war am Vorabend der
Mandschurei-Invasion so groß wie schon lange nicht mehr (Iriye 1965: 242;
Nish 1977: 160, 165f).
Auch die Tatsache, daß die Westmächte erst ab der zweiten Hälfte der dreißiger
Jahre Japans Expansion mit Gegenmaßnahmen beantworteten, steht in keinem deut-
lichen Zusammenhang mit der Entwicklung der internationalen Institutionen. Am
ehesten ist ein solcher noch bei der britischen Entscheidung für die maritime Aufrü-
stung zu erkennen, wartete London damit doch genau bis zum Auslaufen der Be-
grenzungsverträge. Tatsächlich beeinflußten die Verträge in den letzten Jahren ihrer
Laufzeit die Mächte aber nur geringfügig. Während Japan seine Aufrüstungspro-
gramme kontinuierlich verwirklichte und dabei auch verschiedene Regelverletzungen
17 Mit dem Inkrafttreten des Briand-Kellogg-Pakts war im Jahre 1929 sogar noch ein weite-
res Vertragsinstrument hinzugekommen. Dieses beschränkte sich jedoch auf ein allge-
meines Verbot der Kriegführung, ohne im Falle einer Zuwiderhandlung Schiedsverfahren,
Konsultationen oder gar Sanktionen vorzusehen. Seine Bedeutung ging somit kaum über
die deklaratorische Ebene hinaus (Buchheit 1998: 390-398).

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Reinhard Wolf: Was hält siegreiche Verbündete zusammen?

in Kauf nahm, blieben die Vorhaben der beiden angelsächsischen Mächte zum Teil
deutlich unter den zulässigen Höchstgrenzen. Überdies vernachlässigten sie lange
Zeit den Ausbau regionaler Flottenstützpunkte und unternahmen in dieser Hinsicht
selbst dann noch nichts, als sich Beweise und Hinweise dafür häuften, daß Japan
seine Vertragspflichten bewußt verletzt hatte (Hall 1987: 193, 197f; Roskill 1976:
237; Kaufman 1990: 104, 153-155). Die Zurückhaltung der Westmächte kann also
nur bedingt darauf zurückgeführt werden, daß sie sich durch die Verträge be-
schränkt fühlten und diesen Nachteil akzeptierten im Vertrauen darauf, daß die Ver-
bote analog auch Japan banden. Entscheidend müssen vielmehr andere Faktoren ge-
wesen sein, vor allem solche innenpolitischer Natur.

3.3.3. Der Einfluß interner Macht- und Interessenkonstellationen

Die Periode der Sicherheitspartnerschaft zwischen den drei Seemächten, die bis
1931 währte, ist vor allem innenpolitischen Veränderungen in den USA und Japan zu
verdanken. Während die traditionellen Eliten in England schon bald nach Kriegsende
auf die Wiederherstellung des einträglichen Freihandels drängten und ein neuerli-
ches Wettrüsten entschieden ablehnten (siehe oben, Abschnitt 3.2.3), verfolgten die
maßgeblichen Gruppen in Japan und den USA anfangs zum Teil konfligierende
Zielsetzungen, sowohl in Bezug auf die politische Ordnung in Fernost als auch hin-
sichtlich der maritimen Kräfteverhältnisse. Hieraus ergab sich zunächst eine Phase,
die durch eine Mischung von Kooperation und Konflikt geprägt war. Dieser Zeitab-
schnitt sollte indes nach kurzer Zeit von einer partnerschaftlichen Periode abgelöst
werden, weil in beiden Ländern zu Beginn der zwanziger Jahre insbesondere der
politische Einfluß der großen Banken und Unternehmen wuchs, die eine Senkung
der Staatsausgaben sowie eine Ausweitung des Handels und der internationalen Fi-
nanzdienstleistungen befürworteten.
In den zwanziger Jahren gewannen besonderen Einfluß auf die amerikanische Po-
litik vor allem zwei Interessengruppen, die sich in manchem uneinig waren, aber
zumindest die Abneigung gegen einen Konflikt mit den anderen Seemächten teil-
ten: der sogenannte Farm-Block und die Unternehmerschaft, deren politische
Hauptvertreter die sogenannten »Old Guard Republicans« waren. Neben dem ge-
meinsamen Wunsch nach Senkung von Steuern und Staatsausgaben, der eingangs
der zwanziger Jahre zu einer »popular revolt against navalism« beitrug, hatten Far-
mer und Geschäftsleute noch spezifische Interessen, die gegen eine Konfrontations-
politik sprachen. Der Farm-Block bestand hauptsächlich aus den gewählten Vertre-
tern der Binnenstaaten, denen wenig an außenpolitischen Verwicklungen gelegen
sein konnte. Die Geschäftswelt legte naturgemäß großen Wert auf die Rückkehr zu
einer pragmatischen Außenpolitik, die wirtschaftliche Beziehungen nicht für große
politische Ordnungspläne instrumentalisierte. Dies galt vor allem für den überwie-
genden Teil der Industrie, der binnenorientiert war und sich Amerikas aktiver Mit-
wirkung in internationalen Organisationen widersetzte. Aber auch den großen Ban-
ken und Handelshäusern, die aufgrund ihrer überseeischen Geschäftsverbindung die

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Aufsätze

internationalistische Minderheit innerhalb der business community bildeten, war


wenig an einer konfrontationsbereiten Außenpolitik gelegen. Sie befürworteten eine
ökonomische Zusammenarbeit mit England und Japan, die beide einträgliche Kre-
ditnehmer darstellten (Murray 1973; Sprout/Sprout 1946: Kap. 7; Wilson 1971: 31-
50, 207-218; Cohen 1987: 24-56).
Erleichtert wurden die asiatischen Geschäfte amerikanischer Banken durch die
innenpolitischen Entwicklungen in Japan, wo an der Wende zu den zwanziger Jahren
ebenfalls Kräfte an Boden gewannen, die für die Kooperation mit den anderen See-
mächten eintraten. Das Militär und die lange dominanten Meiji-Oligarchen verloren
ihren Einfluß zugunsten von Parteipolitikern, Teilen der Bürokratie und der großen
Unternehmensgruppen (zaibatsu). Für die Gestaltung der Außen- und Sicherheits-
politik war die enge »Symbiose von Großkapital und politischen Parteien« (Lan-
ger 1960: 258) von entscheidender Bedeutung (Scalapino 1953: 268-70; Tiede-
mann 1971: 272). Beide Gruppen strebten danach, die Stellung des Militärs in der
japanischen Gesellschaft zu reduzieren, nicht zuletzt, um kostspielige Rüstungsaus-
gaben und Militärinterventionen auszuschließen. Für die zaibatsu wäre ein militäri-
sches Ausgreifen nicht nur mit unerwünschten Steuererhöhungen verbunden gewe-
sen, es hätte vor allem auch ihre internationalen Geschäfte gefährdet. Angesichts
ihrer Abhängigkeit von westlichem Kapital und überseeischen Märkten befürchte-
ten sie für diesen Fall empfindliche Einbußen, insbesondere was Exporte nach China
und den USA anbetraf (Patrick 1971: 261; Ziebura 1984: 133-137; Bartlett 1984:
131, 149, 153f). Infolge dieser Präferenzen entwickelte sich Japans Außenpolitik in
den zwanziger Jahren zu einer »economic diplomacy« (Storry 1979: 129f), die der
Zusammenarbeit mit den Westmächten und der friedlichen Expansion in China Prio-
rität einräumte (Iriye 1965: 37, 184f; Langer 1960: 242-246).
Die Vorstellung von Japan als einem »Handelsstaat« (Rosecrance 1986) kam je-
doch nicht allen Interessengruppen des Landes entgegen. Bereits Ende der zwanziger
Jahre regte sich vor allem innerhalb des Militärs wachsender Widerstand gegen die
als »schwächlich« empfundene Politik der Parteikabinette. Die Radikalisierung von
Armee und Marine und die Auflösung der symbiotischen Beziehung zwischen Par-
teien und zaibatsu führten Anfang der dreißiger Jahre zu einem radikalen Bruch in
der japanischen Diplomatie. Das eigenmächtige Vorgehen der japanischen China-
Armee bereitete der Sicherheitskooperation mit den anderen Seemächten ein jähes
Ende. Während Parteien und zaibatsu kontinuierlich an politischem Einfluß verloren,
konnte das Militär aufgrund der Gewaltbereitschaft extremistischer Offiziere seine
Position immer weiter ausbauen und so die Rückkehr zu einer Politik der internatio-
nalen Zusammenarbeit verhindern. Die Aufrüstungs- und Expansionsbestrebungen
der Streitkräfte prägten so mehr und mehr die Regierungspolitik. Sie summierten
sich zu einer irrationalen Überdehnung der japanischen Ressourcen, weil über Ar-
mee und Marine keine Institution mehr stand, die sie zu Abstrichen an ihren paro-
chialen Zielsetzungen hätte zwingen können (Ogata 1964; Maxon 1957; Crow-
ley 1966; Barnhart 1987; Byas 1945).
London reagierte auf Japans Expansionspolitik erst, nachdem die innenpoliti-
schen Widerstände gegen eine Wiederaufrüstung geschwunden waren und große

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Reinhard Wolf: Was hält siegreiche Verbündete zusammen?

britische Unternehmen eine standhaftere China-Politik gefordert hatten. Lange Zeit


war Englands »Nationale Regierung« vor Aufrüstungsprogrammen zurückge-
schreckt. Angesichts der pazifistischen Grundströmung in weiten Teilen der Bevöl-
kerung (Mowat 1955: 422) und der angespannten sozialen Lage in den frühen
Dreißigern befürchtete sie in diesem Falle eine Machtübernahme durch die Labour-
Party (Schmidt 1979, 1981). Der Pazifismus der britischen Wählerschaft ließ aller-
dings in dem Maße nach, in dem Hitler und Mussolini sich über internationale Ab-
machungen hinwegsetzten und in Äthiopien und Spanien ihre expansiven
Absichten andeuteten. Vor allem mußte die konservativ geführte Regierung nach
den Unterhauswahlen vom November 1935 – die sie noch mit Premier Baldwins
Versprechen gewonnen hatte, »that there will be no great armaments« – längst nicht
mehr so viel Rücksicht auf die Einstellungen ihrer mittelständischen Wähler neh-
men. Daß sie schon im folgenden Winter und Frühjahr ihr großes Flotten-Rüstungs-
programm beschließen konnte, war darüber hinaus aber auch dem Umstand zu ver-
danken, daß sich die Wirtschaft inzwischen weitgehend von der Depression erholt
hatte und weiter zu wachsen versprach. Damit konnte sich die Regierung Hoffnung
machen, ihre Beschaffungsprogramme ohne die zusätzliche Besteuerung oder
Staatsverschuldung finanzieren zu können, die von ihrer Klientel in der City damals
noch nachdrücklich abgelehnt wurden. Mit dem Jahr 1936 hatte die »Nationale Re-
gierung« somit größere rüstungspolitische Handlungsfreiheit erlangt, die ihr endlich
eine Beantwortung der zahlreichen militärischen Herausforderungen zu erlauben
schien (Shay 1977: 16, 57f; Peden 1979: 70; Pelz 1974: 180-187). Eine Preisgabe
der britischen Position in Süd- und Mittel-China konnte für die regierenden Tories
nicht in Betracht kommen, auch und gerade dann nicht, nachdem Japans Druck in der
zweiten Hälfte der Dekade immer stärker geworden war und die einflußreiche China-
Lobby britischen Widerstand gefordert hatte. Schließlich hätte eine Kapitulation
nicht nur bedeutende britische Unternehmen sowie die nationalchinesische und die
amerikanische Regierung befremdet, ein derartiger Schritt hätte auch dem briti-
schen Prestige gewaltigen Schaden zugefügt. Die unabsehbaren Folgen, die damit
für das Empire und Englands globale Wirtschaftsinteressen verbunden gewesen
wären, konnte keine konservative Regierung ihrer Klientel zumuten (Endicott 1975:
95-103, 127, 184f; Louis 1971: 228-230; Lowe 1977: 286).
In den USA verhinderten dagegen die isolationistischen Gruppen noch lange eine
aktive Fernostpolitik. Sowohl Präsident Hoover als auch sein Nachfolger Franklin
Roosevelt hätten sich schwerlich gegen diese binnenorientierten Interessen durch-
setzen können. Besonders Roosevelt war bei der Verwirklichung des »New Deal«
auf die politische Unterstützung der »Mid Western Progressives« angewiesen, welche
die Farmer und Geschäftsleute des Westens und Mittleren Westens im Kongreß
vertraten. Diese widersetzten sich systematisch allen Versuchen, die Offensivfähig-
keit der U.S. Navy zu erhöhen oder gezielte Wirtschaftssanktionen gegen Aggresso-
ren zuzulassen. Die Rücksicht auf den Zusammenhalt ihrer Reformkoalition versag-
te der Roosevelt-Administration so die beiden wichtigsten Instrumente für eine
harte Haltung gegenüber der japanischen Expansion (Dallek 1979: 70f, 152-160;
Cole 1983: Kap. 10; Jonas 1966: 17-18, 22-23, Kap. V).

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Erst mit der öffentlichen Empörung über die Gewaltpolitik Nazi-Deutschlands


und die japanischen Angriffe auf die chinesische Zivilbevölkerung setzte in den
USA ein innenpolitischer Umschwung ein, welcher den Einfluß der Isolationisten
schwächte und damit eine härtere Fernost-Politik ermöglichte. Parallel zu ihrer öf-
fentlichen Dominanz büßten die Isolationisten auch ihren Einfluß auf die Admini-
stration mehr und mehr ein. Die »uneasy alliance« (Cole 1983) zwischen Roosevelt
und den progressiven Republikanern aus dem Mittleren Westen hatte inzwischen
erhebliche Risse bekommen (Cole 1983: Kap. 14, 243f, 294f; Jonas 1966: Kap.
VII; Dallek 1979: 194f). Härtere Maßnahmen gegen das japanische Vordringen er-
griffen die amerikanischen Entscheidungsträger freilich erst ab Mai 1940, nachdem
Frankreich gefallen war und das britische Weltreich existenziell bedroht erschien.
Die Wende von der passiven Hinnahme der japanischen Expansion zur Konfron-
tation mit dem Kaiserreich ist sowohl auf internationale Veränderungen als auch
den Wandel innerhalb der USA zurückzuführen. Die Übergriffe der aggressiven
Diktaturen nahmen der isolationistischen Position viel von ihrer Glaubwürdigkeit
und verstärkten öffentliche Forderungen nach Embargomaßnahmen. Gleichzeitig
verringerte sich Roosevelts innenpolitische Abhängigkeit von den progressiven Re-
publikanern des Mittleren Westens, die bis dahin eine aktive Außenpolitik er-
schwert hatte. Damit war der Weg frei für erste Wirtschaftssanktionen und maritime
Aufrüstungsprogramme. Einschneidende Handelsbeschränkungen und dramatische
Aufrüstungsprogramme konnten jedoch erst durchgesetzt werden, als im Sommer
1940 das globale Gleichgewicht zu kippen drohte. Während also die Einleitung
amerikanischer Gegenmaßnahmen vor allem aus der weitverbreiteten Empörung
über Japans Gewaltpolitik und der innenpolitischen Schwächung der Isolationisten
resultierte, ist ihre spätere Verschärfung eher auf die machtpolitische Herausforde-
rung durch die Achsenmächte zurückzuführen.

3.4. Die Entstehung des Kalten Krieges

Der rasche Zerfall des Anti-Hitler-Bündnisses ist zweifellos ein Paradebeispiel für die
Transformation einer siegreichen Allianz in zwei rivalisierende Lager. Die sowjeti-
sche Reaktion auf Truman-Doktrin und Marshall-Plan spaltete Europa bereits
1947/48 in getrennte Einflußbereiche, die von ihren jeweiligen Vormächten konse-
quent abgeschottet wurden (Gaddis 1997: Kap. 1-2). Ausgelöst wurde dieses Um-
schlagen von Partnerschaft in Rivalität sowohl von der Entwicklung der internatio-
nalen Machtverteilung als auch von innenpolitischen Faktoren. Die Konzentration
der Machtressourcen auf drei Siegermächte, die technologische und wirtschaftliche
Überlegenheit der USA sowie das Machtvakuum in Kontinentaleuropa begünstig-
ten ohne Frage die Erosion der Siegerallianz. Nicht minder wichtig waren jedoch
innenpolitisch bedingte Präferenzen, insbesondere die Ideologie und persönliche
Rolle Stalins, die für eine weitere Zusammenarbeit der »Großen Drei« keinen
Raum ließen.

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Reinhard Wolf: Was hält siegreiche Verbündete zusammen?

3.4.1. Der Einfluß der internationalen Machtverteilung

Realistische Deutungsversuche sind von großem Nutzen, solange der Zerfall der
Kriegskoalition erklärt werden soll, versagen aber, sobald die Herausbildung der
neuen Bündniskonstellation zu analysieren ist. Mit der vollständigen Niederlage der
Achsenmächte war eine historisch einmalige Situation entstanden: Angesichts der
relativen Machtlosigkeit aller übrigen Staaten konnten sich die »Großen Drei« allen-
falls gegenseitig gefährden (Wohlforth 1993: 60, Tabelle). Dies begünstigte unter ih-
nen die Entstehung eines Sicherheitsdilemmas. Der gleiche Effekt war von dem
Machtvakuum zu erwarten, das auf dem europäischen Kontinent entstanden war.
Der Westen befürchtete, daß östliche Infiltration oder allein schon ein wirtschaftli-
cher Kollaps dort kommunistische Regime an die Macht bringen könnte, die sich
dann in den sowjetischen Einflußbereich einfügen würden. Um dies zu verhindern,
förderten die Westmächte liberale und konservative Kräfte. Hierzu setzten sie vor al-
lem ökonomische Hilfsprogramme und politische Propaganda ein. In eben diesen
Schritten sah die sowjetische Führung jedoch Aktivitäten, die den westlichen Macht-
bereich erweiterten und daher ihrerseits mit antikapitalistischer Propaganda, Streiks
und anderen Maßnahmen zu bekämpfen waren (Paterson 1979: 23-27; Leffler 1992:
Kap. 5, 502-517; Parrish 1993: 161-168, 209-247). Schließlich mußte ein kooperatives
Konsortium, das sowohl die Vorherrschaft der »Großen Drei« als auch ihre relativen
Machtpositionen untereinander dauerhaft stabilisiert hätte, nach 1945 allein schon
am rapiden Zuwachs der amerikanischen Machtressourcen scheitern. Das nukleare
Monopol der USA und ihre enorme industrielle Überlegenheit mußte gemäß der rea-
listischen Theorie bei den bisherigen Alliierten zwangsläufig das Interesse wecken,
durch die Bildung von Gegenmacht eine globale Hegemonie der USA zu verhindern.
Historische Studien belegen, daß diese Gesichtspunkte in den Kalkülen der Entschei-
dungsträger tatsächlich eine zentrale Rolle spielten (Leffler 1992: 96-99, 157-164;
Holloway 1994: 90-94, 131-133; Gaddis 1987: Kap. 2-3).
Die eindeutige Überlegenheit der USA stellt allerdings auch ein gravierendes
Problem für alle Erklärungsversuche dar, die sich auf machtpolitische Faktoren be-
schränken. Die amerikanische Dominanz hätte nämlich Moskau und London dazu
veranlassen müssen, ihr bilaterales Anti-Hitler-Bündnis mit neuer Frontstellung
fortzuführen. In Wirklichkeit taten beide eher das Gegenteil: Der Kreml bedrängte
schon bald nach Kriegsende die britischen Einflußbereiche im Mittelmeerraum sowie
im Nahen und Mittleren Osten. Umgekehrt zeigten sich die britischen Entschei-
dungsträger wenig alarmiert vom amerikanischen Machtzuwachs, sondern fürchteten
weit eher ein Wideraufleben des Isolationismus. Statt amerikanische Macht auszu-
balancieren, forderte London Washington dazu auf, größere weltpolitische Verant-
wortung zu übernehmen (Bartlett 1972: 34; 1992: 16; Gorst 1990: 95). Gemeinsam
mit vielen anderen Staaten Asiens und Europas, die ihre Außenpolitik noch selbst
bestimmen konnten, verschaffte es den USA die Möglichkeit zur Errichtung eines
»empire by invitation« (Lundestad 1986). Die betreffenden Regierungen gingen
also fest davon aus, daß die Vereinigten Staaten ihr überlegenes Machtpotential
nicht zur Durchsetzung bedrohlicher Absichten einsetzen würden. Diese Gewißheit

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konnte sich nur auf Faktoren gründen, die in der realistischen Theorie keine maß-
gebliche Rolle spielen: internationale Institutionen, gemeinsame kulturelle Werte
und politische Institutionen oder komplementäre innenpolitische Interessenkonfigu-
rationen.

3.4.2. Der Einfluß internationaler Institutionen

Unter günstigeren Voraussetzungen hätten die 1945 etablierten Institutionen die


Partnerschaft der »Großen Drei« durchaus erhalten können. Die Qualität der interna-
tionalen Verregelung war gewiß nicht in jeder Hinsicht optimal. Dies galt zumal für
die Tätigkeit interalliierter Gremien wie den Rat der Außenminister und die Kon-
trollräte. Insbesondere die Charta der Vereinten Nationen beschränkte die Hand-
lungsfreiheit der Mitglieder jedoch erheblich. Hätten die Großmächte sie konse-
quent eingehalten, wären viele Aktionen unterblieben, die den Kalten Krieg
mitausgelöst haben. Es ist daher kaum anzunehmen, daß ein besseres Design der
damaligen Institutionen den Zerfall der Kriegskoalition verhindert hätte.
Die institutionelle Schwäche der interalliierten Räte resultierte zum einen aus
ihrem geringen Verregelungsgrad und zum anderen aus den unklaren Vorgaben, die
ihnen die drei Regierungschefs hinsichtlich der Gestaltung der europäischen Nach-
kriegsordnung gemacht hatten. Wie schon dem System der postnapoleonischen
Kongresse fehlten dem Rat der Außenminister jedwede Verfahrensvorschriften. Ein
Verbot nationaler Alleingänge ergab sich höchstens implizit aus seinen Hauptauf-
gaben, welche nach alliierter Übereinkunft im Entwerfen der Friedensverträge und in
der Lösung territorialer Dispute bestanden, die bei der Beendigung des Krieges auf-
getreten waren (Ward 1979: Kap. 1, 151; Messer 1982: 109-110). Die inhaltlichen
Vereinbarungen der großen Kriegskonferenzen konnten diese Verfahrensdefizite
kaum ausgleichen. In Anbetracht ihrer höchst unterschiedlichen Ideologien und Ge-
sellschaftssysteme konnten die Alliierten schwerlich davon ausgehen, daß sie unter
der »Beseitigung der Überbleibsel des Faschismus«, unter der »Schaffung demo-
kratischer Institutionen« und der »Durchführung freier Wahlen« immer dasselbe
verstanden. Stellt man zudem in Rechnung, daß Churchill und Roosevelt sich
mündlich mit der Etablierung mancher moskaufreundlicher Regierung einverstan-
den erklärt hatten, dann ist es nicht verwunderlich, daß der Kreml die Potsdamer
»Erklärung über das befreite Europa« in Ost- und Südosteuropa selten im westli-
chen Sinne implementierte (Messer 1982: 53-64; Kuniholm 1980: 109-125).
Ungleich besser verregelt war das neu geschaffene System der Vereinten Nationen.
In Kombination mit den Verfahren zur friedlichen Beilegung von Streitfällen waren
dessen inhaltliche Normen und Prinzipien durchaus geeignet, das Aufkommen einer
Rivalität unter den Siegermächten zu verhindern oder zumindest nachhaltig zu er-
schweren. Auch wenn die »Großen Drei« mit ihrem Veto gemeinsame Aktionen
oder Sanktionen der Vereinten Nationen unterbinden konnten, beschränkte sie doch
der Wortlaut der Charta erheblich in den Möglichkeiten, ihre jeweilige Machtpositi-
on einseitig auszubauen. Insbesondere eine Eroberungs- und Drohpolitik war ihnen,

64
Reinhard Wolf: Was hält siegreiche Verbündete zusammen?

wie auch den übrigen Mitgliedern, untersagt. Bei internationalen Disputen mußten sie
sich einer Erörterung im Sicherheitsrat stellen. Aus internationalen Krisen und Kon-
flikten konnten sie gemäß der Charta kaum Kapital schlagen, weil deren Lösung
vorrangig in der Zuständigkeit des Sicherheitsrats lag.
Die begrenzte Wirkung der Institutionen resultierte mithin nicht so sehr aus ei-
nem mangelhaften Design, sondern aus dem geringen Respekt, der ihnen vielfach
entgegengebracht wurde. Trotz mancher Grauzonen und Inkonsistenzen sind die
meisten Krisen und Konflikte, die zu Beginn des Kalten Krieges das Mißtrauen
zwischen den Mächten schürten, nicht deshalb aufgetreten, weil das Instrumentarium
zu lückenhaft und widersprüchlich war, um ihre kooperative Bearbeitung zu erlau-
ben. Vielmehr ist davon auszugehen, daß in der Mehrzahl der Fälle bewußt gegen
einschlägige Normen und Abmachungen verstoßen wurde. Dies läßt sich sowohl
für das sowjetische Vorgehen in Osteuropa als auch für die Krisen um Iran und die
Türkei belegen (Resis 1993: 51, 74). Nur die Spannungen, die im Zusammenhang
mit dem Marshall-Plan auftraten, waren nicht auf klare Regelverstöße zurückzu-
führen. Zu diesem Zeitpunkt war das Mißtrauen des Westens aber schon so weit
vorangeschritten, daß seine Regierungen auch ohne konkrete Anzeichen sowjeti-
scher Aktivitäten es für unumgänglich hielten, der drohenden Destabilisierung
Westeuropas mit einem wirtschaftlichen Wiederaufbau-Programm zuvorzukom-
men.

3.4.3. Der Einfluß interner Macht- und Interessenkonstellationen

Der rasche Umschlag der interalliierten Zusammenarbeit in die Rivalität des Kalten
Krieges ist zu einem ganz erheblichen Teil auf die Unvereinbarkeit der Gesell-
schaftssysteme und der dahinterstehenden Interessen zurückzuführen. Von ent-
scheidender Bedeutung war dabei die Rolle des sowjetischen Diktators. Sowohl
Stalins konfliktorientierte Persönlichkeit als auch seine ideologisch induzierte Er-
wartung neuerlicher Weltkonflikte schlossen für ihn eine dauerhafte Kooperation
mit den Westmächten aus. Sie verlangten vielmehr nach einer opportunistischen
Expansionspolitik, die wiederum von den Westmächten nicht hingenommen wer-
den konnte. Insbesondere die Gefolgschaft der britischen Labour-Regierung hätte
eine Neuauflage der Appeasement-Politik – wenn auch unter umgekehrten ideolo-
gischen Vorzeichen – nicht hingenommen. Eine pro-sowjetische Politik, die letzt-
lich den Verlust des Empires und den Verzicht auf Dollartransfers aus den USA
und den Kolonien bedeutet hätte, wäre allein schon am britischen Selbstverständnis
und der Forderung nach dem Aufbau des Wohlfahrtsstaates gescheitert. Dem Vor-
wurf, »soft on communism« zu sein, konnte sich auch die Administration von Roo-
sevelts Nachfolger Harry Truman nicht aussetzen, wollte sie nicht die Unterstüt-
zung wesentlicher Gruppen der »New Deal-Koalition« riskieren. Insofern mußte
auch die amerikanische Regierung dem sowjetischen Opportunismus bald schon
sichtbar entgegentreten. Daß sie dies ab 1947 mit so großer Entschiedenheit tat, ist al-
lerdings weniger auf innenpolitischen Druck zurückzuführen als auf machtpoliti-

ZIB 1/2000 65
Aufsätze

sche Kalkulationen der Exekutive. Eine vollständige Erklärung der Entstehung des
Kalten Krieges vermag somit auch die liberale Perspektive nicht zu leisten.
Der sowjetische Diktator Stalin war an einer echten Zusammenarbeit mit den
Westmächten schon deshalb nicht interessiert, weil sie nach seiner Überzeugung
gar nicht dauerhaft funktionieren konnte. Für überzeugte Marxisten-Leninisten war
ein Kondominium der »Großen Drei« undenkbar in einer Welt, die von der Dynamik
antagonistischer Klassen-Widersprüche geprägt war. Solange es noch kapitalisti-
sche Staaten gab, konnten internationale Übereinkünfte keine langfristige Stabilität
verbürgen – nicht zwischen sozialistischen und kapitalistischen Staaten und erst
recht nicht unter den kapitalistischen Staaten allein. Gemäß der Leninschen Impe-
rialismustheorie mußten die Expansionsbestrebungen des Kapitals immer wieder zu
kriegerischen Konflikten um Märkte und Rohstoffgebiete führen. Demnach mußte
es auch nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zu Auseinandersetzungen zwischen
den imperialistischen Hauptmächten kommen. Selbst für den Fall, daß sich die So-
wjetunion gegenüber Washington und London überaus entgegenkommend gezeigt
hätte, prognostizierte die herrschende Ideologie den zwangsläufigen Zerfall der
Kriegskoalition und neue militärische Auseinandersetzungen (Wohlforth 1993: 61-
87; McCagg 1978: Kap. 7; Stalin 1972: Kap. 6).
Vor dem Hintergrund dieser Weltsicht konnte das Ziel der sowjetischen Außen-
und Sicherheitspolitik nur darin bestehen, die Macht der Sowjetunion nach Kräften
zu mehren, damit sie den alles entscheidenden Dritten Weltkrieg siegreich bestehen
würde (Resis 1993: 63). Dazu mußte sie ihre Schwer- und Rüstungsindustrie weiter
ausbauen, das nukleare Monopol der USA brechen und natürlich territorial soweit
expandieren, daß sie selbst schwer anzugreifen war und ihrerseits im richtigen Mo-
ment zum Gegenangriff übergehen konnte. Mit einem Wort: die Sowjetunion mußte
die verbleibenden Jahre konsequent nutzen, um sich eine gute Ausgangsbasis für
die letzte große Auseinandersetzung zu verschaffen (Zubok/Pleshakov 1996:
Kap. 1-2; Holloway 1994: 168, 217).
Unnachgiebigkeit gegenüber dem Westen nützte Diktator und Nomenklatura aber
auch insofern, als sie das stalinistische Regime stabilisierte. Konfrontation erleich-
terte die Durchsetzung von Abschottung und innerer Repression (Conquest 1991:
271-281; Heller/Nekrich 1985: 168-177). Ein offenes Zurückweichen im Angesicht
kapitalistischen Drucks hätte womöglich neben den äußeren Feinden auch – tatsäch-
liche oder vermeintliche – Gegner im Inneren ermutigt (Wohlforth 1993: 86f). Eine
solche Entscheidung hätte überdies völlig dem Naturell des Diktators widerspro-
chen: Stalin war schließlich nicht nur extrem mißtrauisch und feindselig gegenüber al-
lem Fremden, er war es auch gewohnt, alle Widerstände niederzukämpfen, die sich
ihm entgegenstellten. Der Kampf war sein Lebenselement (Gaddis 1997: 292-294;
Wolkogonow 1989: 689). Solange er in der Sowjetunion die Außenpolitik bestim-
men konnte, hätte eine echte Entspannung, wenn überhaupt, nur durch ein massives
Nachgeben der Westmächte auf den Weg gebracht werden können.
Ein Zurückweichen auf breiter Front wäre in Großbritannien nicht durchzusetzen
gewesen. Eine Preisgabe des Empires hätte nicht allein dem Selbstverständnis der
eben noch siegreichen Briten widersprochen, sie hätte das Land auch wichtige Res-

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Reinhard Wolf: Was hält siegreiche Verbündete zusammen?

sourcen gekostet, welche die Labour-Regierung für die Wiederbelebung der Wirt-
schaft dringend benötigte. Ebensowenig war an ein gegen die USA gerichtetes Zu-
sammengehen mit der Sowjetunion zu denken, wie es die globale Machtverteilung
und vereinzelte Stimmen aus dem linken Labour-Flügel nahelegten. Der Lebens-
standard, die soziale Sicherheit und die Weltmacht-Rolle, welche Labour seiner
Klientel bieten mußte,18 ließen sich letztlich nur mit Hilfe der Vereinigten Staaten
verwirklichen. Ihre Währungskredite, ihre Kooperationsbereitschaft in der Deutsch-
landpolitik und ihre Stützung der britischen Position im östlichen Mittelmeer-Raum
waren dafür unverzichtbar.19 Im Gegensatz zu den USA schien Moskau entschlossen,
Englands zeitweilige Schwächung für eine rücksichtslose Expansionspolitik zu nut-
zen, die unter anderem zu Lasten der britischen Zahlungsbilanz gehen würde
(Gupta 1983: 105-111; Kent 1994: 148f). Eine, wie es damals schien, nur vorüber-
gehende Abhängigkeit von Washington war in dieser Situation eindeutig das gerin-
gere Übel als der riskante Versuch einer neuerlichen Beschwichtigungspolitik.20
Die offene Frage war zunächst, ob die amerikanische Gesellschaft eine enge Ab-
stimmung mit der britischen Weltpolitik zulassen würde.
Die in den USA maßgeblichen Gruppen waren sich in den beiden ersten Nach-
kriegsjahren uneins in der Frage, wie ihr Land weiterhin mit der Sowjetunion ver-
fahren sollte. Moskaus Politik gegenüber Osteuropa und dem Nahen Osten ließ
zwar schon bald Forderungen nach einem entschiedeneren Vorgehen laut werden,
insbesondere auf seiten der Republikaner, aber auch bei einigen Gruppen, die wie
der Polish-American Congress eher den Demokraten zugeneigt waren; diesem Ver-
langen standen indes zunächst noch liberale Demokraten und viele nationalistische
Republikaner entgegen, die nach wie vor einen Ausgleich mit Moskau befürworteten
bzw. die finanziellen Kosten einer wirksamen Konfrontationspolitik scheuten
(Hamby 1973: Kap. 4; Harbutt 1986: 153-159, 204-205). Entsprechend reagierte
die Truman-Administration auf die zunehmenden Forderungen nach einer härteren
Linie anfangs nur mit militärischen Gesten sowie mit diplomatischen Warnungen
vor den etwaigen Folgen sowjetischer Expansionsversuche.
Die entscheidenden Maßnahmen, die den Trend zum Kalten Krieg schließlich
irreversibel machten, entsprangen mehr den äußeren Bedrohungswahrnehmungen
der Exekutive und weniger dem Druck innenpolitischer Gruppen, wie es liberale
Theoretiker der internationalen Beziehungen erwarten würden. Zwar hatte der
Antikommunismus unter den den Kongreß beherrschenden Republikanern immer

18 Bullock (1985: 52-53, 126, 844); Frankel (1975: 61, 155f); K. Morgan (1984: Kap. 3-4,
194, 278f); Pelling (1984: 261-266, Kap. 5-6); Hennessy (1993: Kap. 3-4).
19 K. Morgan (1984: 145-151, 272); Pelling (1984: 54-60, 130f); Bullock (1985: 309, 348-
351, 389-392).
20 Bei dieser Abwägung spielten natürlich auch ideologische Affinitäten und gesellschafts-
politische Einschätzungen eine Rolle. Washington galt als vertrauenswürdig, wo der
Kreml undurchschaubar und gefährlich wirkte. Während die kommunistische Ideologie
Moskaus Politik besonders opportunistisch und unberechenbar erscheinen ließ, sahen die
britischen Entscheidungsträger im demokratischen System der USA den Garanten einer
friedlichen und vorsichtigen Außenpolitik (Frankel 1975: 193; Gaddis 1987: 69).

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mehr Anhänger gewonnen (Donovan 1977: 242f). Da diese aber vehement Steuer-
senkungen und Budgetkürzungen forderten, rechnete Truman damit, daß es ihm
äußerst schwerfallen würde, den Kongreß zur Bewilligung der erforderlichen
Ausgaben zu bewegen. Kostenträchtige Eindämmungsprojekte wie Truman-Dok-
trin und Marshall-Plan glaubte die Administration nur in Verbindung mit anti-
kommunistischer Rhetorik und der institutionellen Einbindung führender Unter-
nehmer initiieren zu können (Donovan 1977: 281; Leffler 1992: 145). Die
Entscheidung für diese Politik resultierte insofern nicht aus kurz- oder mittel-
fristigen Mehrheitskalkülen, sondern aus der Überzeugung, daß die USA eine
sowjetische Dominanz über Eurasien nicht hinnehmen konnten, wollten sie sich
nicht ihrerseits in einen belagerten Garnisonsstaat verwandeln (Leffler 1992: 51,
162, 180, 200; Gaddis 1987: Kap. 2-3).

4. Schlußfolgerungen

Dieser systematische Vergleichstest hat gezeigt, daß das Zusammenwirken interner


Macht- und Interessenkonstellationen den weitaus größten Einfluß auf die Sicher-
heitsbeziehungen verbündeter Großmächte hat, wenn diese ihren ursprünglichen
Gegner bezwungen haben. Liberale Theoretiker und politische Praktiker, die die
Stabilisisierung neuer Demokratien als Sicherheitsstrategie betreiben, können sich
hierdurch bestätigt fühlen. Sehr viel kritischer sind nach diesem Befund Theorien
und Strategien zu beurteilen, welche der Schaffung und Verbesserung internationaler
Institutionen große Bedeutung zumessen. Deren Einfluß konnte in den Fallstudien
nur selten nachgewiesen werden. In ähnlicher Weise gilt dies für die internationale
Machtverteilung, die das Freund-Feind-Verhältnis der Großmächte nur in Ausnah-
mefällen bestimmt hat. Dieses Ergebnis beeinträchtigt in erheblichem Maße die
Plausibilität des strukturellen Realismus, der pessimistischsten Theorie der Interna-
tionalen Beziehungen. Großmächte können auch ohne einen gemeinsamen Gegner
noch lange Sicherheitspartner bleiben, wenn dies im spezifischen Interesse ihrer po-
litikbestimmenden Akteure ist. Worin dieses genau besteht, muß im Einzelfall empi-
risch untersucht werden. So gesehen werden die bessere Erklärungskraft und der
größere Optimismus, welche die liberale Perspektive gegenüber dem Realismus
Waltzscher Prägung auszeichnen, mit einer unvermeidbaren Einbuße an theoreti-
scher Einfachheit und Eleganz erkauft.
Der Realismus hat zwar insofern Recht behalten, als alle Koalitionen tatsächlich ir-
gendwann zerfallen sind und neuen Machtrivalitäten Platz gemacht haben; die reali-
stische Erklärung dieser Entwicklungen ist jedoch wenig stichhaltig. Zweifel an der
dominierenden Wirkung der internationalen Machtverteilung wecken zum Teil die
unterschiedliche Zeitdauer der untersuchten Erosionsprozesse, insbesondere aber
deren Ergebnisse. Die Konzentration des Machtpotentials korreliert nur sehr be-
dingt mit der Geschwindigkeit, mit der sich die Allianzen auflösten. Selbst eine bi-
polare Machtverteilung ließ ihre Pole nicht von sich aus zu Rivalen werden, son-
dern erst dann, wenn als Hintergrundbedingung gesellschaftspolitische Gegensätze

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Reinhard Wolf: Was hält siegreiche Verbündete zusammen?

hinzutraten.21 Noch problematischer müssen den Realisten die Mächtekonstellationen


erscheinen, die sich mit dem Zerfall der Allianzen herausbildeten. In den meisten
Fällen entstand dabei nicht einmal ein ungefähres Gleichgewicht der Kräfte.
Auch die internationalen Institutionen beeinflußten die untersuchten Entwicklun-
gen nicht besonders nachhaltig, sonst hätte die Qualität der Sicherheitsbeziehungen
viel klarer mit der Stärke der jeweiligen Institutionen kovariieren müssen. Tatsächlich
läßt sich aber, wenn überhaupt, eher eine negative Korrelation zwischen dem Grad
der Verregelung und der Dauer der jeweiligen Partnerschaft beobachten. Am längsten
hielt nach dem Sieg über den gemeinsamen Gegner ausgerechnet die Koalition gegen
Napoleon, und das obwohl das Konzertsystem fast überhaupt nicht institutionali-
siert war. Am zweitlängsten währte die Partnerschaft der drei Seemächte nach dem
Ersten Weltkrieg, obgleich auch ihre Institutionen erhebliche Lücken und Wider-
sprüche aufwiesen. Dagegen wurden Frankreich und Italien trotz Völkerbund und
Botschafterkonferenz bereits wenige Jahre nach der Versailler Friedenskonferenz
zu Rivalen. Ebensowenig konnten zwei Jahrzehnte später die UNO und der Rat der
Außenminister verhindern, daß der Zweite Weltkrieg fast unmittelbar in den Kalten
Krieg überging. Hätten internationale Institutionen sehr große Auswirkung auf zwi-
schenstaatliche Sicherheitsbeziehungen, zum Beispiel indem sie staatliche Präferen-
zen direkt und nachhaltig beeinflussen (vgl. Jepperson et al. 1996: 54-56), wäre die
Geschichte der betreffenden Nachkriegsphasen gewiß anders verlaufen.22
Im Unterschied zur obigen Bewertung der realistischen Theorie stellt dieser Befund
die Geltungsansprüche der institutionalistischen Theorie allerdings nicht grundsätzlich in
Frage. Rationalistische Institutionalisten wie Keohane schreiben internationalen Regi-
men schließlich nur eine wichtige Rolle zu, wenn gewisse Hintergrundbedingungen er-
füllt sind. Beispielsweise muß eine »problematische soziale Situation« vorliegen, die
von den Akteuren als solche erkannt wird. Harmonieren die Akteurspräferenzen hinge-
gen in hohem Maße oder widersprechen sie sich fundamental, dann sind internationale
Institutionen nach dieser Theorie weitgehend überflüssig bzw. nutzlos.23 So wird es ei-
nen Institutionalisten nicht überraschen, daß Stalin eine Vielzahl von Übereinkünften,
Normen und Regeln brach. Aus Stalins Sicht war der »Schatten der Zukunft« zu kurz,
um aktuelle Opportunitätskosten rentabel erscheinen zu lassen. Insofern zeigt die Ent-
stehung des Kalten Krieges zwar den begrenzten Einfluß internationaler Institutionen
auf, widerspricht jedoch nicht unbedingt institutionalistischen Erwartungen.
21 Dies veranschaulicht die gravierende Verschlechterung der anglo-russischen Beziehun-
gen nach den Revolutionen von 1830/31 und der britischen Parlamentsreform von 1832.
Auffälliger noch ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß die beiden angelsächsi-
schen Demokratien nicht zu ernsthaften Rivalen wurden, als die maritime und wirt-
schaftliche Hegemonie Englands von derjenigen der USA abgelöst wurde.
22 Zur Beobachtung, daß die nach den großen Kriegen geschaffenen Sicherheitsinstitutio-
nen von Mal zu Mal besser verregelt wurden, vgl. auch Hinsley (1981: 12-24).
23 Überflüssig sind Institutionen, wenn jeder Akteur von sich aus grundsätzlich diejenige
Option präferiert, die für die übrigen Akteure am günstigsten wäre. Nutzlos sind Institu-
tionen, sofern ein Konstantsummenspiel vorliegt, d.h. jeder Gewinn eines Akteurs zu
Lasten eines anderen gehen würde. Ferner müssen Regime ineffektiv bleiben, falls maß-
gebliche Akteure fest mit einem baldigen Abbruch der Zusammenarbeit rechnen.

ZIB 1/2000 69
Aufsätze

Geichwohl sprechen die Ergebnisse dieser Studie sehr dafür, die Geltungsan-
sprüche institutionalistischer Theorie stärker zu begrenzen. Ihre Vertreter räumen
durchaus ein, daß die Plausibilität dieses Ansatzes in dem Maße beeinträchtigt wird,
in dem die Qualität zwischenstaatlicher Beziehungen vom Niveau ihrer Verrege-
lung abweicht (Levy et al. 1995: 274f, 294; Keohane/Martin 1995: 47). Wenn die
Hintergrundbedingungen, die der rationalistische Institutionalismus für die Wirk-
samkeit internationaler Regime angibt, letztlich weit wichtiger sind als die Institu-
tionen selbst, dann stellt sich in der Tat die Frage, ob diese Theorie ein nützlicher
Ausgangspunkt ist, um internationales Geschehen ganz allgemein zu erklären, oder
doch eher ein Ansatz, der bloß in bestimmten Fällen mit einzubeziehen ist. Zumin-
dest erscheint die Erwartung überzogen, der Institutionalismus könne den Realis-
mus mit seinem weitreichenden Geltungsanspruch ersetzen, indem er diesen gleich-
sam als Teiltheorie für Extremfälle in sich integriert (so aber Keohane 1989: 15f).
Der große Einfluß von innenpolitischen Macht- und Interessenkonstellationen steht
diesem Anspruch klar entgegen.
Im Gegensatz zu internationalen Machtverteilungen und Institutionen hatte die
Kompatibilität staatlicher Präferenzen entscheidenden Einfluß auf die Sicherheits-
beziehungen der Großmächte. Deren Qualität korrelierte in fast allen Mächte-Dyaden
eng mit dem Maße, in dem die aggregierten Interessen von politikbestimmenden
Koalitionen oder Alleinherrschern miteinander vereinbar waren. Schwächere Kor-
relationen waren nur bei den Verschlechterungen der amerikanisch-japanischen Be-
ziehungen ab 1940 und vor allem der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen ab
1947 zu beobachten. Bei der Entstehung dieser zwei Rivalitäten spielte die hohe
Machtkonzentration in Verbindung mit ideologisch induziertem Mißtrauen eben-
falls eine wichtige Rolle, insofern sie manche Entscheidungsträger zu einer Außen-
politik bewog, die konfrontativer ausfiel als von ihrer Unterstützerkoalition gefor-
dert. In allen übrigen Fällen zeigte sich eine starke Übereinstimmung zwischen
innenpolitisch bedingten Präferenzen und außenpolitischem Konflikt- bzw. Koope-
rationsverhalten – genau wie vom liberalen Ansatz prognostiziert.
Welche Art von gesellschaftlich vermittelten Interessen dominiert, läßt sich aller-
dings nicht deduktiv für alle Epochen festlegen, sondern jeweils nur für den konkre-
ten Einzelfall bestimmen, indem die innenpolitischen Machtverhältnisse empirisch
analysiert werden. Auch die Herausbildung von Gruppen und ihrer Präferenzen
kann nicht a priori erfaßt werden. Ein Liberalismus, der interne Macht- und Interes-
senkonstellationen nur aus materiellen Kosten-Nutzen-Kalkülen einzelner Akteure
ableiten wollte, würde einer empirischen Überprüfung nicht standhalten. Nicht immer
liegen gemeinsame materielle Interessen so auf der Hand, daß sie zwangsläufig zu
durchsetzungsfähigen Aktionsbündnissen führen. Wertvorstellungen, Identitäten
und kognitive Deutungsmuster haben vielfach einen eigenständigen Einfluß auf in-
terne Interessenkonstellationen. Die grenzüberschreitende Solidarität von Autokraten
und Adel bzw. Liberalen im frühen 19. Jahrhundert gründete sich nicht allein in ge-
genseitiger Abhängigkeit aufgrund gemeinsamer innerer Gegner, sondern ebenso in
geteilten Ordnungsvorstellungen. Ideologische Vorstellungen, die zum Teil über die
unmittelbar evidenten Eigeninteressen der jeweiligen Akteure hinausgingen, beein-

70
Reinhard Wolf: Was hält siegreiche Verbündete zusammen?

flußten insbesondere Stalin und Mussolini in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik.


Bei der Konstitutierung von innerstaatlichen Akteuren und deren Interessen könn-
ten sich demnach manche Anknüpfungspunkte mit konstruktivistischen Ansätzen
ergeben. Dies gilt insbesondere für die Einsicht, daß materielle Faktoren oft erst im
Zusammenwirken mit Ideen und Identitäten spezifische Akteursinteressen hervor-
bringen (Wendt 1999: Kap. 3).24
Für die Gestaltung der Sicherheitsbeziehungen nach dem Ende des Kalten Krieges
ergeben sich aus diesem empirischen Befund relativ optimistische Schlußfolgerun-
gen. Ein tiefgreifender Konflikt zwischen den Mächten, welche gemeinsam die So-
wjetunion eindämmten, erscheint vor dem Hintergrund der historischen Fallstudien
keineswegs so unausweichlich, wie es eine Prognose auf der Basis realistischer
Theorie vermuten lassen würde. Die Sicherheitsbeziehungen zwischen den USA,
Japan und den westeuropäischen Mächten sollten zumindest solange partnerschaftlich
bleiben, solange diese Staaten ihren liberalen Charakter bewahren. Schließlich ist in
marktwirtschaftlichen Demokratien kaum damit zu rechnen, daß sich mächtige Ko-
alitionen herausbilden, die ein gruppenspezifisches Interesse an innerwestlichen Ri-
valitäten hätten und gleichzeitig die Kosten solcher Konflikte auf den großen Rest ih-
rer Gesellschaft abwälzen könnten.
Weitaus problematischer könnten sich die Beziehungen zwischen den USA und
China entwickeln. Anlaß zu entsprechenden Sorgen gibt das große Wachstumspo-
tential der chinesischen Volkswirtschaft in Verbindung mit dem ideologisch-gesell-
schaftspolitischen Gegensatz, der die Volksrepublik von den Vereinigten Staaten
trennt. Hieraus könnte sich in den nächsten zwei Jahrzehnten durchaus eine bipolare
Struktur entwickeln, die bei entsprechendem Mißtrauen die beiden Supermächte zu
Gegnern werden läßt (Bernstein/Munro 1997; Möller 1998: 94-114). Um solch eine
Rivalität abzuwenden, empfiehlt sich für die westlichen Industriestaaten eine behut-
same China-Politik, die mit Augenmaß Demokratisierungsansätze fördert und
gleichzeitig diejenigen Eliten unterstützt, die bereits heute für eine Zusammenarbeit
mit dem Westen eintreten.

24 Dies bedeutet freilich nicht, daß der Liberalismus, so wie er hier verstanden wird, im
Konstruktivismus aufgehen würde. Auch ein pluralistischer Liberalismus, der kulturellen
Faktoren eine maßgebliche Wirkung auf Gruppeninteressen zuschreibt, unterscheidet
sich in fundamentalen Punkten von einem systemischen Konstruktivismus (vgl. Zangl
1999: 52-61).

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78
Sven Behrendt

Die israelisch-palästinensischen
Geheimverhandlungen von Oslo 1993
Ein konstruktivistischer Interpretationsversuch

Im September 1993 kam es zu einem Durchbruch im Nahost-Friedensprozeß: Die


PLO und der Staat Israel erkannten sich gegenseitig an und unterzeichneten eine
Prinzipienerklärung. Gegenseitige Anerkennung und Prinzipienerklärung waren
Resultat eines geheimen Verhandlungskanals zwischen Israelis und Palästinensern in
Oslo von Januar bis September 1993. Das Interaktionsergebnis sowie der
eigentümlich organisierte Verhandlungskanal verlangen nach einer Erklärung. Es
stellt sich insbesondere die Frage, wie Akteure ihre Anerkennung verhandeln können,
wenn die gegenseitige Anerkennung doch Vorbedingung von Verhandlungen ist. In
der Zeitschrift für Internationale Beziehungen wurde wiederholt von Anhängern
konstruktivistischer Erklärungsansätze internationaler Beziehungen auf die Bedeu-
tung »diskursiver Prozesse« für das Zustandekommen von Kooperation hingewie-
sen. Der vorliegende Beitrag spürt einen solchen Prozeß für die erste Phase der
Osloer Verhandlungen auf und weist anhand von Vergleichen mit anderen israe-
lisch-palästinensischen Verhandlungskanälen nach, daß die Existenz eines diskur-
siven Prozesses in Oslo eine wichtige, wenn nicht gar notwendige Bedingung für
den israelisch-palästinensischen Verhandlungserfolg war.

1. Einleitung1

An der Frage, wie Kooperation in den internationalen Beziehungen zustande


kommt (vgl. Müller 1994), hat sich in der Zeitschrift für Internationale Beziehun-
gen eine oftmals hochabstrakt geführte Debatte zwischen Rational-Choice-Anhän-
gern und Anhängern konstruktivistischer Ansätze entzündet.2 Der folgende Beitrag
hat nicht das Anliegen, in die Debatte mit der Präsentation weiterer theoretischer

1 Für die Begleitung dieser Forschungsarbeit danke ich Thomas Risse, I. William Zartman
und Gerald Schneider, den Teilnehmern der Kolloquien der Washington Interest in Nego-
tiation Group der Johns Hopkins University, Washington D.C. und des Robert-Schuman-
Centers des Europäischen Hochschulinstituts, Florenz, sowie für hilfreiche Anmerkungen
zum Manuskript den anonymen Gutachterinnen, Gutachtern und Christoph Weller.
2 Vgl. Müller (1994, 1995); Schneider (1994); Keck (1995, 1997); Risse-Kappen (1995);
Schmalz-Bruns (1995); Jäger (1996); Genschel/Plümper (1996); Schimmelfennig (1997).

Zeitschrift für Internationale Beziehungen 79


7. Jg. (2000) Heft 1, S. 79-107
Aufsätze

Argumente einzugreifen, sondern stürzt sich von den notwendigen Höhen abstrakter
Theoriediskussion in die Niederungen empirischer Umsetzung. Er präsentiert einen
Verhandlungsprozeß, der der weiteren Debatte als eine aufschlußreiche Fallstudie
dienen könnte. Dieser Fall ist gleichzeitig von historischer Bedeutung und aufgrund
seines ungewöhnlichen Verlaufs und überraschenden Ergebnisses eine nähere Ana-
lyse wert: Es handelt sich um die Osloer Geheimverhandlungen zwischen der Palä-
stinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und Israel von Januar bis September
1993, die in die gegenseitige Anerkennung und die Unterzeichnung einer Prinzi-
pienerklärung mündeten.
Im September 1993 wurden mit der gegenseitigen Anerkennung und der Verab-
schiedung einer Prinzipienerklärung die formalen Grundlagen für einen Ausgleich
zwischen der PLO und Israel gelegt.3 Zweifellos handelt es sich bei den Anerken-
nungserklärungen von Oslo um kooperative Züge: In einem Brief vom 9. September
1993 erkannte der Vorsitzende der PLO, Yassir Arafat, den Staat Israel an. Damit
gab die PLO formal ihre Ansprüche auf das gesamte ehemalige Mandatsgebiet
»Palästina« auf. Im Gegenzug erkannte der israelische Ministerpräsident Yitzhak
Rabin in seinem Brief vom 10. September 1993 die PLO als legitime Vertreterin
des palästinensischen Volkes an. In einer Prinzipienerklärung, unterzeichnet am
13. September 1993 in Washington, verständigten sich die beiden Parteien auf
einen weiteren Verhandlungsprozeß, an dessen Ende ein umfassendes Friedens-
arrangement stehen sollte.4 Diesem Durchbruch war ein geheimer Verhandlungs-
prozeß vorgeschaltet: In insgesamt 14 Runden wurde zwischen Israelis und Palästi-
nensern in Oslo die gegenseitige Anerkennung und die Prinzipienerklärung
ausgehandelt. Sowohl das Interaktionsergebnis wie auch die eigentümliche Gestal-
tung des Verhandlungsprozesses verlangen eine Erklärung.
Anhänger konstruktivistischer Erklärungsansätze haben wiederholt auf die Bedeu-
tung »kommunikativen Handels« für das Zustandekommen von Kooperation hinge-
wiesen. Sie behaupten, daß internationale Verhandlungen sogenannte »diskursive
Prozesse« integrieren müßten, um es den Verhandlungsparteien zu ermöglichen, sich
auf Regeln zu einigen, die die Grundlage für einen folgenden strategischen Aushand-
lungsprozeß bilden. Wenn man einmal annimmt, daß diskursive Prozesse in interna-
tionalen Verhandlungen so zentral sind, kann dann ein entsprechender Prozeß auch in
den erfolgreichen Geheimverhandlungen von Oslo nachgewiesen werden? Oder an-
ders formuliert: Zu welchen Ergebnissen kommt eine an konstruktivistischen Kom-
munikationsansätzen orientierte Erklärung der Osloer Verhandlungen?
3 Bei Abschluß des Manuskripts war dieser Ausgleich noch immer nicht erzielt. Vielmehr
debattierten die Verhandlungsparteien auch nach über fünf Jahren noch darüber, auf wel-
che Weise ein endgültiges Friedensabkommen zu verhandeln sei. Im Sharm-el-Sheikh-
Memorandum vom September 1999 einigten sich Israel und die PLO darauf, zunächst
einmal ein sogenanntes »Framework Agreement« (Art 1c) zu formulieren, das dann als
Grundlage für die Verhandlungen über den endgültigen Status der besetzten Gebiete die-
nen sollte (Sharm el-Seikh Memorandum on the Implementation Timeline of Outstanding
Commitments of Agreements Signed and the Resumption of Permanent Status Negotia-
tions, 4. September 1999, http://www.mfa.gov.il/mfa/go.asp?MFAH0fo30; 26.1.2000).
4 Für eine umfassende Dokumentation vgl. Abdul Hadi (1997)

80
Sven Behrendt: Die israelisch-palästinensischen Geheimverhandlungen von Oslo 1993

Dieser Beitrag beschäftigt sich im folgenden weniger mit der theoretischen De-
batte, sondern stellt das empirische Argument in den Vordergrund. Daher werden in
einem ersten Schritt nur skizzenhaft die Funktion und Elemente diskursiver Prozesse
in internationalen Verhandlungen erläutert. Im nächsten Schritt wird ermittelt, ob
im Verhandlungsprozeß von Oslo ein diskursiver Prozeß zwischen Israelis und
Palästinensern nachgewiesen werden kann.5 Wenn dieser Nachweis gelingen sollte,
ist es Aufgabe des dritten Schrittes zu überprüfen, inwiefern dieser Prozeß eine not-
wendige, zumindest aber wichtige Bedingung für das Zustandekommen des israe-
lisch-palästinensischen Verhandlungserfolgs war. Dazu wird ein Vergleich mit drei
weiteren israelisch-palästinensischen Verhandlungskanälen angestellt. Wenn diese
Kanäle ebenfalls die von konstruktivistischen Verhandlungsansätzen als notwendig
erachteten Komponenten aufweisen, dann leistet die konstruktivistische Erklärungs-
perspektive zumindest für diesen Fall keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn. Wenn
aber nachgewiesen werden kann, daß nur in Oslo ein diskursiver Prozeß stattfand,
dann ist zumindest nicht auszuschließen, daß er eine notwendige Bedingung für
dessen Erfolg war.

2. Diskursive Prozesse in (internationalen) Verhandlungen

Um zu erklären, wie Konfliktparteien in internationalen Verhandlungen trotz strate-


gischer Dilemmata ein kollektiv rationales Interaktionsergebnis erzielen und damit zu
Konfliktregelungen gelangen, wurde in den letzten Jahren ein Interaktionsmodus
identifiziert, der bislang vernachlässigt worden war: das »kommunikative Han-
deln«. Kommunikativ handelnde Akteure sind nicht primär am eigenen Erfolg ori-
entiert; vielmehr verfolgen sie ihre individuellen Ziele durch die Abstimmung ihrer
Handlungspläne auf der Grundlage gemeinsamer Situationsdefinitionen (Habermas
1981: 385). In internationalen Verhandlungen greifen Konfliktparteien auf diesen
Interaktionsmodus zurück, um durch Argumentieren und Überzeugen – diskursive
Prozesse – einen Konsens hinsichtlich zukünftigen Konfliktverhaltens zu erzielen.
Diskursive Prozesse sind notwendige Bedingung für erfolgreiche Verhandlungen,
da sie die Spannung zwischen kollektivem Interesse am Vertragsabschluß und indi-
viduellen Verteilungsinteressen, dem Verhandlungsdilemma, erträglich gestalten.
Auch konstruktivistische Ansätze gehen davon aus, daß Verteilungsfragen zentrales
Element internationaler Verhandlungen sind; sie betonen allerdings, daß einem stra-
tegischen Aushandlungsprozeß notwendigerweise ein diskursiver Prozeß vorge-
schaltet sein muß, um eine Einigung hinsichtlich der Regeln des Aushandlungspro-
zesses zu erzielen. Erst durch diese Einigung auf eine für alle Konfliktparteien als
angemessen empfundene Verhandlungsstruktur gewinnt der folgende strategische
Aushandlungsprozeß seine Legitimität.
5 Diese Analyse kann auf ein reichhaltiges Primärmaterial zurückgreifen, insbesondere auf
zahlreiche Interviews mit Teilnehmern der Geheimverhandlungen. Sie konzentriert sich
auf den Verlauf des Verhandlungsprozesses; Ex-post-Bewertungen des Verhandlungs-
ergebnisses können daher ausgeklammert werden.

ZIB 1/2000 81
Aufsätze

Welches aber sind die Grundlagen diskursiver Prozesse? Drei Elemente sind von
besonderer Bedeutung (Risse 2000): Erstens dürfen die Konfliktparteien nicht nur
versuchen, die Gegenpartei von der Richtigkeit ihres Arguments zu überzeugen –
sie müssen sich vielmehr bereit zeigen, das Argument des Dialogpartners zu verste-
hen und sich gegebenenfalls vom besseren Argument der Gegenpartei überzeugen
zu lassen. Dies verlangt von den Parteien den Willen zum empathischen Verständnis
der Argumentationsstrukturen des Interaktionspartners; sie müssen »dialogfähig«
sein. Sie akzeptieren damit, ihre eigenen Interpretationen sozialer, politischer und
materieller Zusammenhänge zur Disposition zu stellen und möglicherweise auf
Grund des besseren Arguments des Diskurspartners korrigieren zu müssen. Zweites
Element ist die gegenseitige Anerkennung der Akteure als relevante Konfliktparteien
mit legitimen Interessen an einem bestimmten Konfliktausgang. Dadurch wird der
Zugang zu Verhandlungen und Teilnahme an diskursiven Prozessen geregelt. Diese
Teilnahme muß darüber hinaus gleichberechtigt sein: In diskursiven Prozessen
zählt lediglich das bessere Argument, nicht aber die Durchsetzung eigener Positionen
auf der Basis eines überlegenen Machtpotentials. Freilich sind Machtpotentiale zwi-
schen internationalen Akteuren in den meisten Fällen de facto ungleich verteilt. Um
dennoch einen diskursiven Prozeß führen zu können, müssen sich die teilnehmen-
den Akteure auf eine konstruierte Situation einlassen, in der Machtressourcen keine
Berücksichtigung finden (Risse 2000: 16f). Das dritte Element erfolgreicher diskur-
siver Prozesse schließlich, so das Argument, ist die Existenz einer »gemeinsamen
Lebenswelt«, die dem Prozeß als Referenzrahmen dient und an dem sich die Stich-
haltigkeit der ausgetauschten Argumente überprüfen läßt. Geteilte Wissensvorräte,
von den Akteuren als legitim anerkannte Normensysteme und soziale Identitäten,
die den Akteuren erst Kommunikation ermöglichen, sind die konstitutiven Bestand-
teile der »gemeinsamen Lebenswelt« (Risse 2000: 14-16).
Diskursive Prozesse stellen allerdings nicht nur einen Konsens hinsichtlich der
Regeln eines distributiven Aushandlungsprozesses her, sondern wirken auch iden-
titätsbildend. In diskursive Prozesse eingebundene Akteure identifizieren sich
schrittweise mit dem Resultat des Prozesses, das heißt mit dem Lösungskonzept ihres
strategischen Dilemmas, das sich an der Erzielung eines für alle Beteiligten zufrie-
denstellenden Interaktionsergebnisses orientiert. Konsequenterweise bilden sich
»social identities [which] involve an identification with the fate of the other«
(Wendt 1996: 52). Es entsteht eine kollektive Identität, die durch die Bindung der
Akteure an das Ergebnis des diskursiven Prozesses selbst konstruiert wird, womit
die Identitäten der einzelnen Akteure freilich zu seiner abhängigen Variable wer-
den. Wenn nun angenommen wird, daß Interessen und Präferenzen hinsichtlich eines
bestimmten Interaktionsergebnisses im wesentlichen abhängig von der Identität des
jeweiligen Akteurs sind, und sich gleichzeitig Identitäten unter dem Eindruck dis-
kursiver Prozesse wandeln können, dann kann davon ausgegangen werden, daß Ak-
teurspräferenzen einem entsprechenden Wandlungsprozeß unterliegen. Identifizie-
ren sich Diskurspartner mit dem erarbeiteten Lösungskonzept und führt dies zur
Bildung einer kollektiven Identität, dann bedeutet dies – im günstigen Fall – die
gleichzeitige Bildung kollektiver Präferenzen hinsichtlich eines Interaktionsergeb-

82
Sven Behrendt: Die israelisch-palästinensischen Geheimverhandlungen von Oslo 1993

nisses.6 Damit tritt das strategische Dilemma, das die Konfliktkonstellationen der
Parteien zu Beginn definiert hatte, in den Hintergrund.
Konstruktivistische Erklärungsversuche internationaler Verhandlungen konkur-
rieren somit mit solchen, die sich auf das Analyseinstrumentarium »rational choi-
ce«-gestützter Ansätze berufen. Sie stellen Informations- und Transaktionskosten
sowie die Verhandlung über die Verteilung von Kooperationsgewinnen in den Vor-
dergrund der Analyse. Basierend auf gegebenen Präferenzen beginnen Verhand-
lungsparteien einen strategischen Aushandlungsprozeß, an dessen Ende – im erfolg-
reichen Fall – ein die Präferenzen und die relative Machtverteilung der Akteure
reflektierendes Verhandlungsergebnis steht. Dieses Verhandlungsergebnis fällt not-
wendigerweise in ein gegebenes Intervall, das sich aus der Überlappung der Präfe-
renzen der verhandelnden Akteure ergibt (vgl. Fearon 1995, 1998; Morrow 1994).
Eine Erklärung der Geheimverhandlungen von Oslo kann nun eine »rational
choice«-gestützte oder konstruktivistische Wendung nehmen. Ohne Zweifel würde
die erste Option zu interessanten Resultaten führen; es ließe sich beispielsweise die
Notwendigkeit der Geheimhaltung der Gespräche mit der Verringerung der politi-
schen Kosten der Verhandlungsführung im Sinne der Transaktionskostenreduktion
erklären. Die folgenden Seiten machen allerdings deutlich, daß der Verhandlungs-
prozeß von Oslo zahlreiche Eigentümlichkeiten aufweist, die den theoretischen An-
nahmen konstruktivistischer Verhandlungsanalyse erstaunlich nahekommen. Es
lohnt also, die zweite Option zu verfolgen.
Eine konstruktivistische Erklärung muß zunächst damit beginnen, ein strategi-
sches Dilemma zwischen PLO und Israel aufzuspüren, das es zu überwinden galt.
Danach werden die Osloer Verhandlungen auf Hinweise für die Existenz eines dis-
kursiven Prozesses und seiner Elemente – gemeinsame Lebenswelt, Empathie und
gegenseitige Anerkennung – überprüft. Konnten die Osloer Verhandlungen in ihrer
ersten Phase Ergebnisse erzielen, die den nachfolgenden strategischen Aushand-
lungsprozeß strukturierten? Kann darüber hinaus plausibel argumentiert werden,
daß sich zwischen den Teilnehmern des Osloer Prozesses eine kooperationsfördern-
de kollektive Identität entwickelte?

3. Die strategische Güterabwägung von PLO und Israel am Vorabend


der Geheimverhandlungen von Oslo

Eine Erklärung des israelisch-palästinensischen Durchbruchs muß ihren Anfang in


der strategischen Güterabwägung der beiden Parteien am Vorabend von Oslo neh-
men. Wo kein grundsätzliches Interesse an einem Konfliktausgleich besteht, dort
werden auch keine substantiellen Verhandlungen geführt. Verkürzt handelte es sich
6 Diese Aussage steht im scharfen Gegensatz zu rationalistischen Erklärungsansätzen, die
Identitäten, Interessen und Präferenzen der interagierenden Akteure als gegeben annehmen
und allenfalls eine Modifikation von Akteurspräferenzen durch die in Verhandlungspro-
zessen neu gewonnenen Informationen über bestimmte Sachverhalte in Folge sich verän-
dernder Kognitionsstrukturen zulassen.

ZIB 1/2000 83
Aufsätze

beim israelisch-palästinensischen Konflikt um einen Territorialkonflikt, in dem beide


Seiten sich zunächst das Recht vorbehielten, ausschließliche Herrschaftsgewalt
über das ehemalige britische Mandatsgebiet Palästina auszuüben. Eine Harmonisie-
rung der sich gegenseitig ausschließenden Ansprüche war über Jahrzehnte nicht in
Sicht.7 Seine besondere Akzentuierung – und damit auch seinen Reiz für die kon-
struktivistische Verhandlungsanalyse – erhielt der Konflikt durch die Politik der
Nichtanerkennung. Bis 1993 weigerten sich beide Seiten, die jeweils andere als Ak-
teur anzuerkennen – die PLO nicht den Staat Israel, Israel nicht die PLO.8 Die je-
weilige Anerkennung des anderen wurde von beiden Seiten mit der Anerkennung
von dessen Ansprüchen verbunden, die aufgrund ihrer Ausschließlichkeit die eigene
Existenz in Frage stellten.
Aufgrund zahlreicher Strukturveränderungen auf internationaler und innerstaat-
licher bzw. innerorganisatorischer Ebene, entwickelten beide Seiten bis Sommer
1992 Präferenzen, auf deren Basis kooperative Konfliktbearbeitung möglich wur-
de:9 Der zweite Golfkrieg 1990/91 verdeutlichte Israel, daß seine nationalen Sicher-
heitsinteressen über den unmittelbaren regionalen Kontext des Nahen Ostens hin-
ausgingen. Israel mußte sich mit seiner unmittelbaren Nachbarschaft arrangieren,
um sich dann mit Staaten auseinandersetzen zu können, die die vitalen Sicherheits-
interessen Israels gefährdeten. Der Golfkrieg belastete außerdem nachhaltig die in
Jahrzehnten aufgebaute israelisch-amerikanische strategische Partnerschaft: Die
konfrontative Haltung Israels gegenüber seinen arabischen Nachbarstaaten er-
schwerte die Integration der arabischen Staaten in eine Allianz gegen Saddam Hus-
sein; gleichzeitig wurde auf amerikanischer Seite mit Wohlwollen die Teilnahme
von bis dahin als schwierig geltenden Staaten wie Syrien auf Seiten der Allianz zur
Kenntnis genommen. Damit war Israel allerdings auch nicht mehr der exklusive mi-
litärische Partner der USA in der Region. In Konsequenz wurden der amerikani-
schen Administration Freiräume geschaffen, nach Ende des Krieges Druck auf Israel
auszuüben, den Ausgleich mit den arabischen Parteien voranzutreiben. Ein weiterer
Faktor für die Neudefinition der israelischen Präferenzen war die von den Palästi-
nensern im Dezember 1987 begonnene Intifada, die die unmittelbare Sicherheit der
Israelis bedrohte.10 Obwohl die israelischen Sicherheitskräfte und auch die öffent-

7 Zur situationsstrukturellen Modellierung des israelisch-palästinensischen Konflikts vgl.


Beck (1997: 303-314).
8 Freilich hatte die 19. Sitzung des palästinensischen Nationalrates im November 1988 im Rah-
men einer Unabhängigkeitserklärung einen palästinensischen Staat mit Referenz zu Resolution
181 der UN-Vollversammlung ausgerufen. Man könnte argumentieren, daß die PLO implizit
damit auch das israelische Existenzrecht anerkannt hätte. Nach israelischer Ansicht ging diese
Anerkennungserklärung allerdings nicht weit genug und auch solche Passagen der PLO-Char-
ta, die zur Vernichtung des Staates Israel aufriefen, wurden in Folge der Erklärung nicht
gestrichen. Damit ist der rechtliche und vor allem politische Status der impliziten Anerken-
nung Israels durch die PLO im Jahr 1988 höchst umstritten. Vgl. dazu auch Cossali (1996).
9 Vgl. dazu eine begrenzte Auswahl zahlreicher Analysen: Aggestam/Jönsson (1997);
Avineri (1993); Cobban (1995); Karsh/Mahler (1994); Karsh/Sayigh (1994); Marcus
(1992); Nassar (1991); Schmid (1993); Shlaim (1994); Sunderbrink (1993).
10 Vgl. den Zusammenhang zwischen Intifada und öffentlicher Meinung bei Goldberg et al. (1991).

84
Sven Behrendt: Die israelisch-palästinensischen Geheimverhandlungen von Oslo 1993

liche Meinung davon ausgegangen waren, den Aufstand schnell niederschlagen zu


können, zog dieser sich unerwartet lange hin. Zusammen mit dem sozialen Druck
durch die Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion und sich verschlechternden
Wirtschaftsdaten sorgten diese Faktoren für einen Stimmungsumschwung, der in
der Wahl Yitzhak Rabins zum israelischen Ministerpräsidenten im Sommer 1992
mündete. Rabin hatte im Wahlkampf versprochen, innerhalb von neun Monaten mit
den Palästinensern zu einem Ausgleich zu gelangen. Damit war eine Einigung
grundsätzlich möglich geworden.
Auch die PLO war zu Beginn der neunziger Jahre zahlreichen Strukturverände-
rungen unterworfen und hatte sich unter der Führung von Yassir Arafat im tunesi-
schen Exil in die politische Isolation manövriert. Arafat hatte den irakischen Ein-
marsch in Kuwait 1990 nicht verurteilt, sondern spekulierte im Gegenteil auf die
Verknüpfung einer politischen Lösung der Kuwait-Krise mit der Lösung der Palä-
stinafrage. Im Gegenzug allerdings stellten Kuwait und Saudi-Arabien ihre Finanz-
zahlungen an die PLO endgültig ein, so daß die PLO zunehmend in eine finanzielle
Krise geriet. Mit dem zusätzlichen Verlust internationaler politischer und materieller
Unterstützung nach der Auflösung der Sowjetunion geriet die PLO auch innerhalb
der palästinensischen Gesellschaft unter Druck. Mit den Zuwendungen ihrer inter-
nationalen Geldgeber war es der PLO lange Zeit möglich gewesen, durch Renten-
zahlungen differenzierte Klientelstrukturen zu den Palästinensern in der West Bank
und dem Gaza-Streifen aufrechtzuerhalten. Als die PLO die Zahlungen verringern
mußte, drangen alternative palästinensische Akteure in das sich bildende Vakuum
ein. Insbesondere die islamistische Hamas etablierte sich durch ihre gesellschaft-
liche Verankerung in weiten Teilen der palästinensischen Gesellschaft als relevante
politische Kraft und stellte den Alleinvertretungsanspruch des palästinensischen
Volkes durch die PLO in Frage.
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen richteten beide Akteure ihre Präfe-
renzen hinsichtlich ihres bilateralen Verhältnisses neu aus. Die Sicherheitsbedürf-
nisse Israels konnten nur über eine modifizierte Haltung gegenüber der PLO befrie-
digt werden; die PLO konnte ihre Position gegenüber den alternativen
palästinensischen Kräften nur behaupten, wenn ihr die Mobilisierung neuer politi-
scher und materieller Ressourcen gelang. Dies war nur über einen Ausgleich mit Is-
rael möglich. Um ihre weitergehenden Interessen erfolgreich zu verfolgen, mußten
allerdings beide zunächst ein Grundproblem ihrer Beziehungen bearbeiten: Beide
Seiten hatten seit der Gründung der PLO im Jahre 1964 eine förmliche Anerken-
nung der Gegenseite unter allen Umständen ausgeschlossen. Um nun zu einem
Ausgleich zu gelangen, mußten sie demnach zunächst ihre Präferenzen hinsichtlich
der Anerkennungsfrage modifizieren.
Die zwei Akteure, Israel und die PLO, hatten also grundsätzlich zwei Optionen:
Die andere Seite anzuerkennen – die PLO den Staat Israel, Israel die PLO als legiti-
me Vertreterin des palästinensischen Volkes – oder dies zu unterlassen. Unter
Berücksichtigung der weitergehenden Interessen der beiden Akteure lassen sich
nun folgende Präferenzen hinsichtlich des möglichen Interaktionsergebnisses im
Anerkennungskonflikt ermitteln, die in ihrer Zusammenstellung ein klassisches Ge-

ZIB 1/2000 85
Aufsätze

fangenendilemma ergeben: Das beste Interaktionsergebnis für beide Akteure be-


stand offensichtlich weiterhin darin, von der jeweils anderen Seite bedingungslos
anerkannt zu werden – also die Anerkennung der PLO durch Israel inklusive der in
der PLO-Charta genannten Ziele, oder die Anerkennung Israels durch die PLO in-
klusive der israelischen Ansprüche, das Ideal eines Erez Israel im gesamten Man-
datsgebiet Palästina zu verwirklichen; dies allerdings, ohne jeweils die andere Seite
anerkennen zu müssen. Die zweite Präferenz bestand in der bedingten gegenseiti-
gen Anerkennung – das heißt der Anerkennung der anderen Partei unter der Bedin-
gung der Modifikation der exklusiven Ansprüche des anderen auf das Mandatsge-
biet Palästina. Die dritte Präferenz bestand in der Aufrechterhaltung des Status quo;
die vierte und letzte Präferenz schließlich in der bedingungslosen Anerkennung des
anderen, ohne daß ein solch kooperativer Zug von der Gegenseite beantwortet würde.
Das strategische Dilemma wurde nun um eine Eigentümlichkeit verschärft, die
ihre Brisanz vor allem in einer konstruktivistischen Analyse von Verhandlungspro-
zessen gewinnt. Eines ihrer Postulate ist die gegenseitige Anerkennung der Kon-
fliktparteien als eine Vorbedingung für die Einrichtung von Verhandlungen. Ohne
freilich der Grundlagen konstruktivistischer Kommunikationsanalyse gewahr zu
sein, hatten die Konfliktparteien die Negation dieses Postulats zum politischen
Dogma erhoben: Beide Parteien hatten die direkte Interaktion/Kommunikation aus-
geschlossen, da damit notwendigerweise die Anerkennung impliziert war. Mitte der
achtziger Jahre hatte Israel ein Gesetz verabschiedet, das es jedem Israeli verbot,
mit einem Mitglied der PLO zu kommunizieren.11 Die offiziellen Friedensverhand-
lungen in Washington wurden erst möglich, als die Palästinenser zugesichert hatten,
keine PLO-Vertreter zu entsenden. Auch Arafat erkannte:
»[Rabin] is afraid even to sit with the Palestinian[s] at the table because it will prove to the
world that he is the occupier when I ask him to end the occupation of my people.«12

Gleichzeitig betonten die Palästinenser:


»[Meeting Israelis] had always been a delicate and potentially explosive issue, both with
the public and with our leadership. Traditionally, only collaborators or people with ques-
tionable national credentials had conducted talks with Israeli officials, particularly as
popular perceptions represented such meetings as »normalisation« under occupation or
suspicious secret deals/sell outs« (Ashrawi 1995: 238).
Diese Position war folgerichtig, denn wie konnte die PLO mit einen Staat kom-
munizieren, dessen politische Doktrin das Existenzrecht der Palästinenser und da-
mit die Existenz der PLO verneinte? Wie konnte andererseits Israel mit einer Orga-
nisation in Dialog treten, die zur Vernichtung Israels aufrief? Anders ausgedrückt:
Wie konnten die Konfliktparteien nun ihre gegenseitige Anerkennung verhandeln,
wenn die Anerkennung des anderen eine zentrale Voraussetzung von Verhandlun-
gen ist? An dieser Frage, die das ganze historische Dilemma der palästinensisch-

11 Dieses Gesetz wurde kurz vor der ersten Runde der Gespräche von Oslo aufgehoben.
12 Dokumentiert in: Al-Shira’, Beirut, 4. Januar 1993, in: FBIS-NES-93-003 (Foreign
Broadcast Information Service, Near East and South Asia).

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Sven Behrendt: Die israelisch-palästinensischen Geheimverhandlungen von Oslo 1993

israelischen Beziehungen offenbart, läßt sich der eigentliche Beitrag der eigentümlich
geführten Geheimverhandlungen von Oslo von Januar bis September 1993 auf-
fächern.13

4. Der Prozeß von Oslo

Um die Leistungsfähigkeit konstruktivistischer Verhandlungsanalyse nachzuwei-


sen, muß nunmehr überprüft werden, ob es sich bei dem ersten Abschnitt der Ge-
spräche von Oslo um einen Diskurs im konstruktivistischen Sinne handelte, der ba-
sierend auf den Elementen Empathie, gegenseitige Anerkennung jenseits eines
existierenden Machtgefälles und einer gemeinsamen Lebenswelt einen von beiden
Seiten akzeptierten Rahmen für einen folgenden strategischen Aushandlungsprozeß
erarbeitete. Darüber hinaus müßten plausible Schlußfolgerungen hinsichtlich sich
möglicherweise verschobener Identitäten und Präferenzen der teilnehmenden Ak-
teure möglich sein. Zudem muß überprüft werden, ob unter der Voraussetzung, daß
die erste Phase der Verhandlungen von Oslo als diskursiver Prozeß bezeichnet wer-
den kann, diskursive Elemente eine notwendige Bedingung für ihren Erfolg waren.

4.1. Die Entwicklung und Funktion einer gemeinsamen Lebenswelt

Inwiefern läßt sich nun eine gemeinsame Lebenswelt im kostruktivistischen Sinne


ermitteln, die als Basis für einen diskursiven Prozeß in Oslo hätte genutzt werden
können? Für die Beantwortung dieser Frage muß etwas ausgeholt werden. Lebens-
welten, die kommunikativen Prozessen eine tragfähige Grundlage bieten, wachsen
ja nicht auf Bäumen, sondern haben ihre eigene Entstehungsgeschichte. Die Entste-
hungsgeschichte der gemeinsamen Lebenswelt, auf deren Basis der Prozeß von
Oslo entstehen konnte, scheint besonders interessant. Für die konstruktivistische
Analyse beginnt der Prozeß von Oslo dementsprechend sowohl zeitlich als auch
konzeptionell mit der Einrichtung der multilateralen Friedensverhandlungen von
Madrid. Nach der Friedenskonferenz von Madrid im November 1991 wurden bi-
und multilaterale Verhandlungsrunden zwischen den Konfliktparteien eingerichtet.
Während die bilateralen Verhandlungen zu Abkommen zwischen Israel und Syrien,
Libanon und der jordanisch-palästinensischen Delegation führen sollten, wurden
die multilateralen Verhandlungen zur Bearbeitung übergreifender Probleme – Ver-
teilung des Wassers, Zukunft der Flüchtlinge, regionale Sicherheitsarrangements,
Umweltfragen und Entwicklung des regionalen ökonomischen Potentials – einge-
richtet und in fünf Arbeitsgruppen untergliedert.14 Teilnehmer der multilateralen

13 Für eine detaillierte Beschreibung des Verhandlungsprozesses vgl. u.a. Peres (1993, 1995);
Corbin (1994); Halter/Laurent (1994); King (1994); Abbas (1995); Makovsky (1996); As-
hrawi (1995); Heikal (1996); Beilin (1997); Savir (1998); Enderlin (1997); Segev (1998).
14 Die beste Übersicht über die multilateralen Friedensverhandlungen gibt Peters (1994, 1996).

ZIB 1/2000 87
Aufsätze

Verhandlungen waren neben den Ko-Sponsoren des Friedensprozesses – den USA


und Rußland – Akteure, die zwar nicht unmittelbar am arabisch-israelischen Kon-
flikt beteiligt, wohl aber ein Interesse an einem bestimmten Ausgang der Verhand-
lungen hatten. Darunter waren auch die Staaten der Europäischen Union (EU), die
durch die Kommission der EU vertreten wurden. Im Umfeld dieser Verhandlungen
tummelten sich zudem zahlreiche Nicht-Regierungsorganisationen und internatio-
nale Organisationen, die einen konzeptionellen Beitrag zum Gelingen des Prozesses
leisten wollten.
Während die bilateralen Friedensverhandlungen von ihrem Beginn an zumeist auf
der Stelle traten, entwickelten sich die multilateralen Friedensverhandlungen zu einer
regelrechten Ideenbörse. Insbesondere die Arbeitsgruppe für regionale Entwicklung
(Regional Economic Development Working Group, REDWG), für die die EU-Kom-
mission die Leitung übernommen hatte, formulierte zahlreiche Vorschläge zur Mo-
dernisierung der regionalen Wirtschaftsstrukturen. Diese Diskussion wurde sowohl
von den Palästinensern der West Bank als auch von der PLO in Tunis aufgenommen.
Auf der West Bank begannen die Palästinenser zahlreiche sogenannte »technische
Komitees« einzurichten, die den palästinensischen Delegationsteilnehmern in Wa-
shington und denen der multilateralen Friedensgespräche sowie der Führung der PLO
in Tunis hinsichtlich der technisch-inhaltlichen Aspekte (wie z.B. wirtschaftliche Ko-
operation mit Israel, Wasser, Flüchtlinge, Handel, Investitionen, jüdische Siedlungs-
aktivitäten, Umwelt) der Verhandlungsführung zuarbeiten sollten.15 Die Aktivitäten
der Komitees fanden in Tunis eine organisatorische Entsprechung. Die PLO hatte
eine Abteilung eingerichtet, die die bi- und die multilateralen Verhandlungen verfolgen
sollte (ohne freilich formal an ihnen teilzunehmen). Die bilateralen Verhandlungen
koordinierte Mahmoud Abbas, während Ahmad Qureia (Abu Ala), Wirtschaftsfach-
mann der PLO, die multilateralen Verhandlungen aus dem Hintergrund koordinierte.
Zur Erfüllung seiner Aufgabe hatte Qureia eine kleine Beratergruppe um sich gebil-
det, die Hintergrundpapiere, Redebeiträge und Positionspapiere in Zusammenarbeit
mit mehreren Assistenten erarbeitete. Im Kontext dieser Arbeiten entwickelte die
Gruppe weitergehende Ordnungskonzepte für die Zukunft des Nahen Ostens:
»In the discussions with Abu Ala [Ahmad Qureia] we thought about looking forward,
looking ten years from now [1991] in terms of full peace, when there is full peace, peace
agreement with Israel and ourselves, Jordan, Syria, Lebanon and [...] that the full peace
will become full warm and live. How would things look like and how would things be in
the new Middle East. And whether economics play an important role in that. We deve-
loped a concept [...] of interdependency in economic terms which would be an
indispensable factor in creating a durable peace.«16
15 Interview mit Mohammad Shtayyeh, Direktor des Palestinian Economic Council for De-
velopment and Reconstruction, Ramallah, 28. September 1997. Die Palästinenser der
West Bank und des Gaza-Streifens wurden eingeladen, an den multilateralen Friedens-
verhandlungen teilzunehmen; Palästinensern von außerhalb der Gebiete wurde durch die
Formel der Verhandlungen von Madrid eine Teilnahme untersagt. Erst im Oktober 1992
stimmte die neue israelische Regierung einer Teilnahme von Palästinensern aus der
»Diaspora« zu – vorausgesetzt sie waren keine Mitglieder der PLO (Peters 1994: 6).
16 Interview mit Maher el-Kurd (Berater von Ahmad Qureia), Gaza-Stadt, 27. Mai 1998.

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Sven Behrendt: Die israelisch-palästinensischen Geheimverhandlungen von Oslo 1993

Die EU-Kommission hatte ein Interesse, diesen Prozeß innerhalb der PLO zu för-
dern. Ohne die politischen und diplomatischen Konsequenzen abzusehen,17 beauf-
tragte sie im Sommer 1991 Qureia mit der Formulierung eines Entwicklungskon-
zepts für den Gaza-Streifen und die West Bank. Im November 1991 legte dieser ein
entsprechendes, knappes Konzept mit dem Arbeitstitel »Thoughts on the Prospec-
tive Dividend and Regional Economic Cooperation« vor, in dem er seine Vorstel-
lungen von einem »Neuen Nahen Osten« darlegte.
Gleichzeitig baute die EU-Kommission ihre Beziehungen zu israelischen Nicht-
Regierungsorganisationen wie der Economic Cooperation Foundation in Haifa aus.
Der Direktor des Instituts, Yair Hirschfeld, versuchte seinerseits mit Hilfe Yossi
Beilins (seit den Wahlen 1992 stellvertretender Außenminister Israels und enger
Vertrauter von Shimon Peres) die Kontakte zur Kommission zu stärken. Im Rah-
men eines Forschungsauftrags der Kommission erstellte Hirschfeld schließlich eine
Studie mit dem Titel »Israel, the Palestinians and the Middle East: From Dependen-
cy to Interdependence«. Auch sie beschäftigte sich mit den positiven politischen Ef-
fekten sich entwickelnder interdependenter Wirtschaftsstrukturen im Rahmen einer
palästinensischen Autonomieregelung. Darüber hinaus entwickelte Hirschfeld in
derselben Studie eine »breakthrough strategy«, die mittelfristig den Ausgleich
Israels mit seinen arabischen Nachbarn zum Ziel hatte. Ohne daß die Kommission
dies beabsichtigt hätte, hatte sie damit den unmittelbaren konzeptionellen Grund-
stein für die Gespräche von Oslo gelegt.18
Hirschfeld wurde 1992 durch Hannan Ashrawi, Sprecherin der Palästinenser in
Washington, auf die Arbeiten Qureias aufmerksam gemacht und kam zum Schluß:
»If I only wanted to meet one member of the PLO leadership, it was Ahmad Qureia,
because his ideas were very much compatible with ours«.19 Gleichzeitig informierten
die palästinensischen Teilnehmer der REDWG die PLO-Führung über die Arbeiten
Hirschfelds.20 Die PLO-Führung erkannte darin neue, von der offiziellen israeli-
schen Politik nicht vorgebrachte Positionen. Folgerichtig trafen sich Hirschfeld und
Qureia ein erstes Mal im Umfeld einer Sitzung der multilateralen Verhandlungen in
London Anfang Dezember 1992, bevor es dann unter Vermittlung des norwegi-
schen FAFO-Instituts und der norwegischen Regierung im Januar zur ersten Ge-
sprächsrunde in Oslo kam.21

17 Interview mit Eberhard Rhein (Direktor der Generaldirektion 1b der EU-Kommission


a.D.), Brüssel, 21. Januar 1998.
18 Dieser Erfolg ist in den folgenden Jahren weder von der Europäischen Union selbst,
noch von Beobachtern wahrgenommen worden. Vielmehr wurde der Mythos von der
Zweitklassigkeit der EU im Friedensprozeß, nach den USA, gepflegt.
19 Interview mit Yair Hirschfeld, Jerusalem, 20. Mai 1998.
20 Interview mit Mohammad Shtayyeh, Ramallah, 28. September 1997.
21 Auf die außerordentliche Vermittlungsleistung des die Geheimverhandlungen operativ
umsetzenden FAFO-Instituts und der norwegischen Regierung wird im folgenden nicht
weiter eingegangen. Neben den persönlichen Kontakten zwischen dem Leiter des Instituts,
Terje Larsen, und den Hauptakteuren des Osloer Prozesses war das Angebot der Norwe-
ger, absolute Geheimhaltung der Operation zu garantieren (wie beispielsweise entspre-

ZIB 1/2000 89
Aufsätze

Gleichzeitig begann diese erste Runde mit der Diskussion der ähnlichen Konzep-
tionen eines »Neuen Nahen Ostens«,22 welche im Fortgang zum Referenzrahmen
der Geheimgespräche werden sollten. Ron Pundak, der Hirschfeld nach Oslo be-
gleitete, kam zum Schluß:
»One of the unique things about Oslo was that it began with two sides dealing beyond
politics, and engaging in the discussion about economic cooperation. [...] So basically
the two sides, us and the Palestinians meaning Abu Ala [Ahmad Qureia] in this case,
were looking at the economics dimension side by side with economic cooperation, not
through economic cooperation but side by side. Take into consideration that the other se-
nior member of the Palestinian delegation was Dr. Maher al-Kurd who later entered as a
senior economic advisor of the chairman, Arafat, which had also its input. [...] We saw a
paper which Abu Ala presented to the Europeans which was written 1992 somewhere, at
the beginning, maybe even a year earlier. This paper very very impressed us because it
looked at the whole peace dialogue in a different dimension which was close to our idea
meaning Yair’s, myself and Beilin’s. This was very encouraging and we were very very
keen to meet Abu Ala, with no connections to the political peace process, but to the eco-
nomic peace process. This paper was definitely for my point of view a sign of peace. [...]
However, it is not right to say that we started to speak about economics and then through
this kind of threshold we went into politics, no, we spoke about this as one comprehensive
thing. It helped us to reach understanding on economy and to have common language
through this, but one can not say we started dealing with economy exclusively. We dealt
with this hand in hand together, although it was much easier to discuss for example the
idea of Gaza first when we already started to plan together the economic developmental
ideas of joint areas for industry and commerce, things like this.«23

Israelis und Palästinenser hatten mit der Diskussion der Entwicklung regionaler
ökonomischer Potentiale und des damit untrennbar verknüpften politischen Aus-
gleichs einen gemeinsamen, gewissermaßen visionären Referenzpunkt für die Or-
ganisation ihres zukünftigen Zusammenlebens ermittelt. Es waren also nicht etwa
gemeinsam – wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven – erlebte historische
Erfahrungen, sondern ein gemeinsamer Zukunftsentwurf – im Sinne der wirtschaftli-
chen Chanceneröffnung –, der die Kommunikationspartner eine gemeinsame Sprache
finden ließ. Hervorzuheben, auch im Lichte der aktuellen Diskussion um die Rolle
der Europäischen Union im Nahost-Friedensprozeß, ist, daß die EU durch ihr
höchst pragmatisches Vorgehen im Rahmen der multilateralen Friedensverhandlun-
gen als auch im Kontakt mit israelischen NGOs und der PLO gewissermaßen den
Grundstein für die Schaffung eines gemeinsamen lebensweltlichen Entwurfs legte,
der dann eine überragende Funktion in den ersten Runden der Osloer Verhandlungen
erfüllte. Bis zur siebten Verhandlungsrunde und der Übernahme der Verhandlungs-
führung durch Rabin und Arafat sollte die gemeinsame Entwicklung des regionalen

chende Ein- und Ausreisearrangements für die Delegationsmitglieder). Dies war eine
notwendige Bedingung für beide Seiten, da dadurch immer die Möglichkeit der Demen-
tierung der Gespräche offengehalten wurde (Interview mit Shlomo Gur, Assistent Yossi
Beilins, Jerusalem, 2. September 1999).
22 Dieser Begriff wurde von Peres (1993) geprägt.
23 Interview mit Ron Pundak, Tel Aviv, 21. September 1997.

90
Sven Behrendt: Die israelisch-palästinensischen Geheimverhandlungen von Oslo 1993

ökonomischen Potentials die ideelle Grundlage des Prozesses bleiben. Sie fand
schließlich ihren formellen Niederschlag in den Anhängen III und IV der im Sep-
tember 1993 unterzeichneten Prinzipienerklärung.24

4.2. Empathie als neues Element israelisch-palästinensischer Verhandlungen

Diskursive Prozesse entfalten ihre Wirkung nur, wenn die Diskurspartner versu-
chen, die Positionen der anderen Seite empathisch nachzuvollziehen und zu verste-
hen. Inwiefern läßt sich dieses zweite wesentliche Element diskursiver Prozesse im
Verhandlungsprozeß von Oslo nachweisen?
Nachdem in der ersten Runde der Gespräche ein gemeinsamer Referenzrahmen für
die folgenden Runden konstruiert worden war, kamen beide Seiten zu dem Schluß,
daß die Osloer Gespräche die Chance eröffneten, über einen informellen Dialog hinaus
zu Verhandlungsergebnissen zu gelangen. In langen Diskussionen zwischen Qureia,
seinen zwei Begleitern in Oslo, Hassan Asfour und Maher el-Kurd, sowie Mahmoud
Abbas entwickelten die Palästinenser ihre Verhandlungsstrategie:
»We realised if we want to talk about 1948, about historical rights, 1967, refugees, dis-
placed, water rights, then of course we would not get anywhere. In our consideration
there was a historical brief moment that needed to be utilised. [...] When we had the first
meeting with Hirschfeld and Pundak we told them: lets not talk about the past, lets not talk
about who occupied the land and who made the aggression, lets not talk about Jaffa and
Haifa and so on. Lets talk about what we can achieve if we can achieve it in the coming
five years and create a momentum and an interest on both sides in making peace based on
the two state solution. We proposed not talk about the past but about political separation
and economic cooperation.«25

Auch die Israelis realisierten, daß ein »justice oriented approach«, der seine Basis
auf historisch legitimierten Positionen und Interessen finden würde, kaum Aussicht
auf Erfolg haben würde. Da durch die Diskussion historischer Ansprüche lediglich
bekannte Stereotypen reproduziert würden, entschieden sie sich für ein »lösungsori-
entiertes« Verhandlungskonzept. Dadurch wäre es möglich, wahrgenommene kol-
lektive Kooperationsgewinne zu akzentuieren:26 »The idea was to try and find ways
for the future and to do that in a rational and not an emotional way«.27
Nach der ersten Runde beschloß Yair Hirschfeld dementsprechend, einen ersten
Entwurf für ein Abkommen zwischen der PLO und Israel zu formulieren. Er nutzte
dabei seine Vorarbeiten aus der Studie für die EU, aus zahlreichen Gesprächen mit
den Palästinensern der West Bank und des Gaza-Streifens und mit Mitgliedern der

24 Weite Teile des Textes von Annex III und IV sind identisch mit Teilen der von Hirschfeld
1992 entworfenen Studie »Israel, the Palestinians and the Middle East: From Dependency
to Interdependence«.
25 Interview mit Maher el-Kurd, Gaza-Stadt, 27. Mai 1998.
26 Interview mit Yair Hirschfeld, Jerusalem, 20. Mai 1998.
27 Interview mit Ron Pundak, Tel Aviv, 21. September 1997.

ZIB 1/2000 91
Aufsätze

PLO gewonnene Informationen als auch die in Washington formulierten Verhand-


lungspositionen in den bilateralen Friedensverhandlungen. Sein Ansatz war dabei
nicht, ein israelisches Positionspapier zu formulieren, sondern:

»The first draft already combined both our and their [the Palestinian’s] positions but not
the positions we wanted them to portray but what we thought that they could not but to put
on the table. So we did not draft an Israeli position, we drafted [...] something which we
believed could be already a first construction for a bridging draft and then it became, after
amendments, [...] the first joint draft declaration of principles«.28

Die Palästinenser zeigten sich anläßlich dieses substantiellen israelischen Kom-


munikationsangebots erstaunt und gelangten zu der Überzeugung, daß sie schließ-
lich Gesprächspartner gefunden hatten, die in einem gemeinsamen, problemlö-
sungsorientierten Prozeß ein für beide Seiten befriedigendes Verhandlungsergebnis
erzielen wollten. Zwei Schlüsselindikatoren waren für ihre Analyse von besonderer
Bedeutung: Zum einen glich das von Hirschfeld erarbeitete Konzept (politische
Teilung bei gleichzeitigem Ausbau der ökonomischen Beziehungen zwischen Israe-
lis und Palästinensern) dem Ansatz, den die Gruppe um Qureia erarbeitet hatte, der
allerdings bei den offiziellen Verhandlungen in Washington so nie zur Sprache ge-
bracht worden war. Die Israelis schienen folglich nicht daran interessiert zu sein,
die wirtschaftliche Entwicklung der palästinensischen Gebiete langfristig zu
blockieren, sondern waren im Gegenteil an einer wirtschaftlich gesunden palästi-
nensischen politischen Einheit orientiert. Zum zweiten konnten die Palästinenser
der Struktur des israelisch-palästinensischen Friedensprozesses selbst zustimmen:
In seinem Papier für die EU hatte Hirschfeld ein Konzept entwickelt, das das Prinzip
des Gradualismus für den Fortgang der Verhandlungen wie auch für die schrittweise
Übertragung von Kompetenzen an eine palästinensische Autonomieverwaltung be-
tonte: Das Territorium der West Bank und des Gaza-Streifens sollte Schritt für
Schritt unter die Kontrolle palästinensischer Institutionen gestellt werden, gleich-
zeitig würden die Kompetenzen dieser Institutionen graduell erweitert.29 Der Ent-
wurf schlug zudem vor, daß die zwischenzeitlichen Verhandlungsergebnisse hin-
sichtlich einer Interimsperiode das Endresultat der Verhandlungen nicht
präjudizieren dürfe. Dies eröffnete der PLO die Chance, schnell mit der Errichtung
palästinensischer Institutionen in den besetzten Gebieten zu beginnen, ohne daß die
zu diesem Zeitpunkt erworbenen Herrschaftsgewalten den endgültigen Hoheits-
bereich der Palästinenser vorwegnehmen würden.
»Whatever would go right or wrong in the interim period, would not deprive us of making
up in the final status. And that was accepted in the draft, which was never accepted in
any draft that was discussed [previously]. When we saw these two things, the combination
of political separation and economic cooperation on one hand, that whatever in the interim
arrangement would happen, would not prejudice the final status. On these two things we
can get an agreement. The details would come later«.30
28 Interview mit Ron Pundak, Tel Aviv, 21. September 1997.
29 Interview mit Maher el-Kurd, Gaza-Stadt, 27. Mai 1998.
30 Interview mit Maher el-Kurd, Gaza-Stadt, 27. Mai 1998.

92
Sven Behrendt: Die israelisch-palästinensischen Geheimverhandlungen von Oslo 1993

Letztendlich kam die palästinensische Führung zum Ergebnis, daß die Israelis zum
ersten Mal die palästinensischen Positionen in ihre Erwägungen einbezogen und
dementsprechend ihre eigenen modifizierten. Dies führte nach ihrer Ansicht zu einer
tiefgreifenden Veränderung des israelischen Verhandlungsansatzes.31 Die Israelis
hatten also einen explizit empathischen Ansatz zur Formulierung des sogenannten
»draft-zero«32 gewählt. Es ging ihnen gerade nicht darum, zunächst ein Positions-
papier in der Verhandlungseröffnung vorzulegen, um dann eine entsprechende Ant-
wort der Palästinenser zu erwarten; statt dessen versuchten sie, die Positionen der
PLO zu antizipieren und in ein erstes Konsenspapier zu integrieren. Damit wäre
auch das zweite Element erfolgreicher diskursiver Prozesse ermittelt.

4.3. Gegenseitige Anerkennung im Schatten der Geheimhaltung

Freilich verlief der Dialog bislang auf einer eigentümlichen Grundlage: Die beiden
Parteien erkannten sich auf einer individuellen Ebene als gleichberechtigte Diskurs-
teilnehmer an, nicht aber formal als Vertreter des Staates Israel oder der PLO.
Hirschfeld und Pundak – obwohl gestützt von Beilin – besaßen weder ein formales
Verhandlungsmandat, noch waren sie offizielle Regierungsvertreter, so daß eine zu-
mindest implizite formale Anerkennung der Konfliktparteien als legitime Diskurs-
partner im Schatten der Geheimhaltung zu diesem Zeitpunkt der Gespräche noch
ausstand. Die Entscheidungsträger beider Seiten mußten also in den Prozeß inte-
griert werden, um ihm seine politische Bedeutung zu geben.
Die Integration Rabins und Peres’ auf israelischer und Arafats auf Seiten der PLO
war allerdings nicht ohne weiteres möglich. Während Peres’ eigene Konzeption ei-
nes »Neuen Nahen Ostens« kompatibel mit den normativen Grundlagen des Prozesses
von Oslo war (Peres 1993), konnte sich Rabin, der einen Ausgleich mit den Palästi-
nensern vor allem mit der Wahrung israelischer Sicherheitsinteressen verband,
zunächst kaum mit ihnen identifizieren. Auf palästinensischer Seite war Arafat eher an
einer Konstellation interessiert, die ihm die Rückkehr in die besetzten Gebiete er-
möglichen würde, nicht aber an allgemein gehaltenen wirtschaftlichen Integra-
tionskonzepten. Ahmad Qureia war als Mitglied des Zentralkomitees der Fatah zwar
weit einflußreicher als seine israelischen Gesprächspartner; aber auch er besaß kein
formelles Verhandlungsmandat. Damit mußte sich das durch die Verhandlungsgruppe
erarbeitete Konzept erst als akzeptabel für die Prinzipale33 auf beiden Seiten erweisen.
Die Integration der Entscheidungsträger durchlief mehrere Stufen: Nachdem die
ersten Konturen eines möglichen Abkommens skizziert wurden, begannen die Teil-
nehmer in einem zweiten Schritt im Frühjahr 1993 die Aufmerksamkeit Arafats,
Rabins und Peres’ auf sich zu lenken, um so den informellen Status eines »autori-
sierten Kanals« zu erhalten. Freilich war ihnen bewußt, daß auch andere Akteure in

31 Interview mit Mamdouh Noufil, Ramallah/West Bank, 26. Mai 1998.


32 Interview mit Yair Hirschfeld, Jerusalem, 20. Mai 1998.
33 Der Begriff der Prinzipale ist entlehnt aus North (1981).

ZIB 1/2000 93
Aufsätze

Konkurrenz zum Kanal von Oslo Dialogprozesse zu initiieren versuchten (siehe un-
ten, Kap. 5). Die Israelis bestand darauf, diese Kanäle zu kontrollieren und durch
Oslo zu koordinieren (Abbas 1995: 133). Erst im April schließlich galten die Osloer
Gespräche als der ausschließliche Ort für ernsthafte israelisch-palästinensische Ver-
handlungen. Zu diesem Zeitpunkt war klar: »Oslo was it, and nothing else.«34
Die vollständige Integration der Entscheidungsträger beider Seiten konnte aller-
dings nicht durch die Ergebnisse des Osloer Kanals allein geleistet werden. Dazu
bedurfte es der Unterstützung Ägyptens, zu dessen Führung sowohl die PLO als
auch Israel gute Beziehungen unterhielten. Der ägyptische Präsident Husni Muba-
rak und sein kleiner Beraterstab ließen sich auf ein Manöver ein, das letztendlich
Rabin und Arafat überzeugte, die sich in Oslo bietende Chance wahrzunehmen.
Zentrale Figuren waren der ägyptische Botschafter in Tel Aviv, Mohammad Bas-
siouny, der außenpolitische Berater des ägyptischen Präsidenten, Usamah al-Baz,
sowie auf israelischer Seite der Peres-Vertraute Nimrod Novik.
Die Osloer Gespräche hatten im Frühjahr einen Punkt erreicht, an dem Peres die
Idee, zuerst Gaza und Jericho an die PLO zu übergeben, in den Kanal einspeisen
wollte. Dazu nahm er Anfang April den Umweg über Kairo. Nimrod Novik berichtete:

»And we went to one of his [Bassiouny’s] meetings in Peres’ Tel Aviv office and Peres was
in a very thoughtful reflective mood. Peres made a very brief comment, saying that ›tell the
President to take seriously and study the issue of Gaza first‹ and started to elaborate, he did
not elaborate for more than 45 or 60 seconds. As we always do, we left his office, sat
down, because Bassiouny likes to listen to him and I take notes, then we sit down outside
and [...] developed the concept, several papers came out of this conversation, and Bassiouny
was on his way to Cairo to see the President which is also a common practise. He usually
meets with the president tête-à-tête for an hour, two or three, depending on the agenda,
which is rare. [...] And we developed a concept paper just on that, when Bassiouny [...] sat
down with the President, he raised with him the various reports. Out of these various reports
the President said about one, leave this one with me, and that was that particular one.«35

Mubarak plante nunmehr seinerseits ein Manöver, um Arafat das Gaza-Jericho-Kon-


zept zu verkaufen. Ohne ihn über den israelischen Vorschlag zu informieren, schlug er
Arafat vor, von den Israelis zunächst Gaza und Jericho zu fordern.36 Arafat realisierte,
daß dieser Vorschlag ein »window of opportunity« darstellen könnte, da somit zumin-
dest ein Teil der Gebiete unter seine Kontrolle gelangen würde. Er skizzierte eine ent-
sprechende Karte, die die zu übergebenden Gebiete großzügig festlegte: »Arafat drew a
map with Jericho the size of California«.37 Mitte April überreichte Mubarak Rabin die-
se Karte in Ismailiya. Obwohl Rabin in vielen Aspekten der Position Arafats nicht folgen
konnte, zeigte er sich von dessen Ernsthaftigkeit, eine Verhandlungslösung zu erzielen,
überzeugt. In einer anschließenden Pressekonferenz machte er die Grundlagen eines is-

34 Interview mit Yair Hirschfeld, Jerusalem, 20. Mai 1998.


35 Interview mit Nimrod Novik, Herzliyah Pituah, 21. Mai 1998.
36 Interview mit Nimrod Novik, Herzliyah Pituah, 21. Mai 1998.
37 Interview mit Nimrod Novik, Herzliyah Pituah, 21. Mai 1998.

94
Sven Behrendt: Die israelisch-palästinensischen Geheimverhandlungen von Oslo 1993

raelisch-palästinensischen Ausgleichs noch einmal deutlich und erklärte: »You must


understand that territorial compromises are part of our policy«. 38
Von diesem Zeitpunkt an wurden die Verhandlungen von Oslo durch Arafat und
Rabin diktiert. Nachdem also die strukturellen und ideellen Grundlagen für offiziel-
le Verhandlungen geschaffen worden waren, wurde die Phase des strategischen
Aushandlungsprozesses erreicht. Dieser Wendepunkt wurde auf israelischer Seite
in Oslo in zwei Schritten vollzogen. Zunächst wurde Uri Savir, Generaldirektor im
israelischen Außenministerium, zur sechsten Runde in Oslo am 21. Mai 1993 ent-
sandt, wodurch die Gespräche zu offiziellen Verhandlungen aufgewertet wurden.
Zum ersten Mal traf ein israelischer Regierungsvertreter mit Vertretern der PLO
zusammen, um über eine Regelung des israelisch-palästinensischen Konflikts zu
verhandeln. Gleichsam symbolisierte Savirs Erscheinen einen weiteren Schritt in
Richtung gegenseitiger Anerkennung. Savirs Anwesenheit hatte zu diesem Zeit-
punkt der Gespräche damit zwar keine substantielle, wohl aber große symbolische
Bedeutung.
Der zweite Schritt wurde durch die Entsendung des Rechtsberaters und Vertrauten
Rabins, Joel Singer, zur siebten Runde am 13. Juni 1993 vollzogen. Singer hatte
schon in den ägyptisch-israelischen Friedensverhandlungen Erfahrungen mit arabi-
schen Verhandlungspartnern sammeln können und genoß daher das Vertrauen Ra-
bins. Seine Präsenz markierte den Einstieg in den Aushandlungsprozeß der Prinzipi-
enerklärung wie der gegenseitigen Anerkennung. Gleichzeitig wurden Rabin und
Singer gewahr, daß der bisherige Verlauf der Osloer Gespräche und seine Vorarbei-
ten große Kosten mit sich brachten. Singer bemängelte insbesondere die wirtschaft-
liche Ausrichtung des bis dahin erarbeiteten Dokuments:

»The text which had been developed by Hirschfeld and Pundak was terrible. Full of eco-
nomics. So we had to work on it. Because we could not get a totally new document, I in-
troduced interpretations and understandings of the text, so it was made contingent upon
these. In addition I changed some of the wording slightly which would give the docu-
ment another meaning«.39

38 Arab Republic of Egypt Radio, Kairo, 14. April 1993, in: FBIS-NES-93-071 (Foreign
Broadcast Information Service, Near East and South Asia).
39 Interview mit Joel Singer, Washington, D.C., 16. Juni 1998. Dementsprechend entschied
sich Singer, dem Abkommen sogenannte »Agreed Minutes to the Declaration of Princi-
ples« beizufügen, die einige Artikel der Prinzipienerklärung modifizierten. Von beson-
derer Bedeutung für Rabin war Punkt B, »Specific Understandings and Agreements«, in
Artikel IV, der die Reichweite des zu errichtenden palästinensischen Autonomierates
festlegt. Danach wurde explizit ausgeschlossen, daß der Rat Kompetenzen hinsichtlich
Jerusalem, der jüdischen Siedlungen auf der West Bank und dem Gaza-Streifen, Mi-
litäreinrichtungen und Israelis, die sich in den Gebieten aufhielten, übernehmen könne.
Gleichzeitig bestand Singer darauf, den Artikel »the« vor der Territorialbezeichnung
»West Bank« zu streichen, so daß die Reichweite des Rates nicht »die Gebiete«, sondern
lediglich Gebiete der West Bank und des Gaza-Streifens umfaßte.

ZIB 1/2000 95
Aufsätze

Trotz dieser Bedenken fiel Singers Bericht hinsichtlich des Potentials des Ver-
handlungskanals positiv aus,40 so daß sich Rabin schließlich entschied, den Kanal
von Oslo zu einem erfolgreichen Ende zu führen. Damit war der Weg frei für die
Aushandlung der gegenseitigen Anerkennung und der Prinzipienerklärung in weite-
ren sieben Verhandlungsrunden, die allerdings hier nicht weiter behandelt werden
können.
Dieses dritte Element diskursiv geführter Verhandlungen, die gegenseitige Aner-
kennung, ist ungleich schwieriger aus dem vorliegenden Datenmaterial herauszufil-
tern, als die ersten beiden. Zweifellos erkannten sich Israelis und Palästinenser in
der ersten Phase auf einer persönlichen Ebene als gleichberechtigte Diskurspartner
an. Auf einer politischen Ebene folgte die Anerkennung aber erst Mitte Mai mit der
Entsendung Uri Savirs nach Oslo. Auch nach diesem Schritt war die Geheimhal-
tung der Gespräche und die Möglichkeit, sie im Falle eines Scheiterns dementieren zu
können, notwendige Bedingung für ihren Erfolg. Das diskursive Element der Ge-
spräche allerdings wurde durch die Notwendigkeit, die Verteilungsfragen eines
zukünftigen Übereinkommens zu klären, in den Hintergrund abgedrängt. Damit
ließe sich einwenden, daß im Falle von Oslo die gegenseitige Anerkennung ein Re-
sultat, nicht aber Vorbedingung eines diskursiven Prozesses war. Andererseits ließe
sich argumentieren, daß ohne die gegenseitige persönliche, wenn auch zu diesem
Zeitpunkt noch nicht politische Anerkennung der Kanal von Oslo gar nicht erst hätte
eingerichtet werden können. Aus analytischer Sicht freilich sind diese Nuancen in-
sofern interessant, als daß sie die Möglichkeit eröffnen, bestimmte Typen der Aner-
kennung (in den internationalen Beziehungen) zu ermitteln.

4.4. Ergebnisse des diskursiven Prozesses: Verständigung über das Ziel


der Verhandlungen

Bis zu diesem Wendepunkt, so das Argument dieses Beitrags, hatten Israelis und
Palästinenser durch einen diskursiven Prozeß, der selbst wiederum auf gegenseitiger
Anerkennung, Empathie und argumentativem Bezug auf eine gemeinsame Lebens-
welt beruhte, sowohl eine gemeinsame Zieldefinition des israelisch-palästinensi-
schen Ausgleichs erarbeitet, wie auch ein Normensystem entwickelt, das den unmit-
telbar folgenden strategischen Aushandlungsprozeß strukturieren sollte. Dieses
Normensystem bestand aus vier Elementen: Erstens wurde der Kanal von Oslo selbst
als ausschließliche Arena für die Aushandlung einer Prinzipienerklärung und der ge-
genseitigen Anerkennung akzeptiert. Alle alternativen Kanäle und Dialogforen würden
Oslo lediglich zuarbeiten. Zweitens akzeptierten sich die beiden Akteure im Schatten
von Oslo implizit als Verhandlungspartner. Dabei gingen die Israelis soweit, mit der
Anerkennung der PLO als Verhandlungspartner die Anerkennung der politischen
Rechte der Palästinenser einschließlich der Entstehung eines palästinensischen Staates

40 »If we don’t come to an agreement with these people, we’re asses« (Singer, zit. nach Savir
1998: 33).

96
Sven Behrendt: Die israelisch-palästinensischen Geheimverhandlungen von Oslo 1993

zu verbinden.41 Ähnliches galt für die PLO, die durch ihre Teilnahme an den Ver-
handlungen implizit ihren Anspruch auf Gesamtpalästina aufgab. Drittens würde die
mittlerweile entstandene Rohfassung der Prinzipienerklärung so lange modifiziert
werden, bis ihr beide Seiten zustimmen könnten. Viertens akzeptierten beide Seiten
das Konzept des Gradualismus als Formel für die Strukturierung der vor ihnen lie-
genden Verhandlungen. Danach würden kontroverse Aspekte zunächst ausgeklam-
mert, um sie später, in sogenannten »final status negotiations« zu verhandeln. In der
Zwischenzeit würde den Palästinensern schrittweise Herrschaftsgewalt über immer
größere Gebiete der West Bank und des Gaza-Streifens übertragen werden.
Konstruktivistische Verhandlungsanalysen gehen von der Annahme aus, daß sich
in diskursiven Prozessen kollektive Identitäten bilden und sich demnach auch Präfe-
renzen für kollektiv präferierte Interaktionsergebnisse entwickeln können. Ein kon-
struktivistischer Ansatz muß demnach nachweisen, daß sich auch in Oslo eine kol-
lektive Identität herausbilden konnte und sich damit auch die Präferenzen der
Diskursteilnehmer veränderten.
Entsprechende Ergebnisse lassen sich auf zwei Ebenen nachweisen: Die Osloer
Gespräche konstruierten das Konzept regionaler wirtschaftlicher Interdependenzen;
die Entwicklung des regionalen wirtschaftlichen Potentials wurde zum Primärziel
des politischen Aushandlungsprozesses zwischen Israelis und Palästinensern. Die-
ser Ansatz unterschied sich deutlich zu vorhergehenden Ansätzen, die die Überwin-
dung des politischen Antagonismus zwischen Israel und seinen arabischen Nach-
barn zum Ausgangspunkt von Verhandlungen machten. War die Identität Israels
zuvor durch seine Fremdartigkeit inmitten einer arabischen, islamischen und auf einer
geringeren Modernisierungsstufe stehenden Region konstruiert, die entsprechend
vorsichtiges Vorgehen in den Friedensverhandlungen erforderte, so lag es in der
Logik der in Oslo konstruierten Grundannahmen, Israel als Teil eines zukünftig
wirtschaftlich integrierten und prosperierenden Nahen Ostens zu begreifen. Um die-
se neue Identität umzusetzen, war ein umfassender politischer Ausgleich mit den
arabischen Nachbarn notwendig. Auch die PLO vollzog mit Oslo einen Identitäts-
wandel. War sie bis 1991 eine nationale Befreiungsorganisation mit Anspruch auf
ganz Palästina gewesen, so wurde ihr durch die Integration in den regionalen Re-
konstruktionsprozeß bewußt, daß sie gleichsam die Verantwortung für die ökono-
mische Entwicklung der palästinensischen Gebiete trug. Sie konnte dieser Verant-
wortung nur durch einen Ausgleich mit Israel gerecht werden.
Nicht nur auf übergeordneter politischer, sondern auch auf individueller Ebene
wurde eine kollektive Identität konstruiert: Zwischen den Dialogpartnern in Oslo
hatten sich enge persönliche Beziehungen entwickelt, die nach und nach eine kol-
lektive Identität begründeten. Die beiden Parteien begannen, als »one team divided
by two«42 an der Prinzipienerklärung und der gegenseitigen Anerkennung zu arbei-
ten. Beide Teile dieser Mannschaft verfolgten gleichgerichtete Interessen, nämlich
den Kanal von Oslo zu einem Erfolg zu machen, und waren dafür auch zu weitrei-

41 Geschützte Quelle.
42 Interview mit Ron Pundak, Tel Aviv, 21. September 1997.

ZIB 1/2000 97
Aufsätze

chenden Konzessionen bereit.43 Die Bildung einer kollektiven Identität schlug sich
auch in den Präferenzen der Akteure nieder, die in dieser Phase der Verhandlungen
an ein Hirschjagd-Spiel erinnern: Beide Seiten bewerteten einen Verhandlungsab-
schluß, den Erfolg von Oslo, höher als jedes andere Interaktionsergebnis. Daher
waren beide Seiten zu weitreichenden Konzessionen bereit. Das zweitbeste Ergebnis
war die einseitige Extraktion von Konzessionen der anderen Seite; drittbestes Er-
gebnis war, ohne Resultat auseinanderzugehen. Schlechtestes Ergebnis schließlich
war das einseitige Angebot von Konzessionen, ohne daß diese Konzessionen von
der anderen Seite durch korrespondierende Züge beantwortet worden wären. Zwei
Jäger, in diesem Fall die israelischen und palästinensischen Delegationen, hatten
also die Wahl, entweder gemeinsam einen Hirschen (ein Abkommen) oder einen
Hasen (nicht beantwortete Konzessionen der anderen Seite) zu erlegen.
Die Entwicklung dieser Präferenzen erklärt den relativ moderaten Verhandlungsstil
beider Seiten: Beide machten weitreichende substantielle Konzessionen zu Beginn
der Gespräche, die über die eigentlichen Verhandlungspositionen der Prinzipale
hinausgingen. Dadurch war es ihnen möglich, zunächst zu einer grundsätzlichen Ei-
nigung zu gelangen, auf deren Basis die Verhandlungen weitergetrieben werden
konnten. Es wurden substantielle Konzessionen zugunsten der Verhandlungsstruktur
gemacht. Nach der sechsten Runde »[...] a joint strategic approach had definitively
begun to develop, one that assumed a partnership based on mutual legitimization,
reciprocal security, and economic prosperity« (Savir 1998: 39).

5. Alternative Kanäle

Freilich ist die Schlußfolgerung, daß ein diskursiver Prozeß, gestützt auf Empathie,
eine geteilte Lebenswelt und gegenseitige Anerkennung, wichtige Bedingungen für
den Erfolg von Oslo darstellten, spekulativ, solange nicht Testfälle für die Überprü-
fung der konstruktivistischen Thesen hinzugezogen werden. Dem kommt der Um-
stand zugute, daß PLO und Israel bis September 1993 über keine institutionalisierten
Kommunikationsstrukturen verfügten. Was sich in der historischen Situation
1992/93 als Hürde für den bilateralen Ausgleich erwies, stellt sich für die Überprü-
fung der Validität der konstruktivistischen These geradezu als Glücksfall heraus.
Noch am Vorabend der Gespräche von Oslo hatte keine der beiden Seiten ein Kon-
zept entwickelt, wie das dem Konflikt inhärente Kommunikationsdilemma behoben
werden könnte. Folglich versuchten beide Parteien vorsichtig, einzelne informelle
Kommunikationslinien aufzubauen. Weder für die israelische Regierung, noch für
die Führung der PLO war zu diesem Zeitpunkt klar, bei welchem Köder die Gegen-

43 Beispielsweise wurde Jerusalem in die Prinzipienerklärung aufgenommen (Artikel V


(3); vgl. die Dokumentation in Abdul Hadi 1997: 145) und damit zur Verhandlungsmasse
der sogenannten »final status negotiations«. Für Israel war dies eine sehr weitreichende
Konzession, da die Zukunft Jerusalems nach israelischer Doktrin nicht verhandelbar
war. Für die Palästinenser sollte Jerusalem Hauptstadt eines zukünftigen palästinensi-
schen Staates werden.

98
Sven Behrendt: Die israelisch-palästinensischen Geheimverhandlungen von Oslo 1993

seite anbeißen würde. Somit wird der Nachweis der Leistungsfähigkeit des Kanals
von Oslo unter konstanten Bedingungen möglich. Für einen Vergleich mit Oslo bie-
ten sich drei Kanäle an: ein Kanal der American Academy of Arts and Science der
Harvard University, das »Program on International Conflict Analysis and Resolution
(ICR)« am Harvard Center for International Affairs und schließlich die offiziellen
Verhandlungen zwischen Israel und der palästinensisch-jordanischen Delegation in
Washington. Es muß nunmehr nachgewiesen werden, daß andere israelisch-palästi-
nensische Gesprächskanäle, die parallel zu Oslo verliefen, keine diskursiven Pro-
zesse waren und folglich die Herstellung eines normativen Rahmenwerks für einen
strategischen Aushandlungsprozeß nicht leisten konnten. Anders ausgedrückt: Die
These Joel Singers, daß jeder andere zu dieser Zeit vorhandene Kanal zur Aushand-
lung der gegenseitigen Anerkennung und einer Prinzipienerklärung hätte genutzt
werden können,44 muß widerlegt werden. Warum erarbeitete genau der Kanal von
Oslo und nicht ein anderer ein Verhandlungsergebnis?

5.1. Der Kanal der American Academy of Arts and Science

Ein Konkurrenzkanal zu Oslo war durch die »American Academy of Arts and
Science« (AAAS) der Harvard University eingerichtet worden. Im Zeitraum von
Oktober 1992 bis Mai 1994 diskutierte eine kleine Gruppe israelischer und palästi-
nensischer Sicherheitsexperten Möglichkeiten der bilateralen und regionalen Si-
cherheitskooperation. Im Beobachtungszeitraum, also der Zeit bis September 1993,
wurden vier Treffen in London und Rom ausgerichtet.45 Obwohl sich der Kanal von
Oslo und der AAAS-Kanal hinsichtlich ihrer Struktur in vielen Elementen ähnelten –
beide wurden im Verborgenen geführt, involvierten eine äußerst begrenzte Zahl an
Teilnehmern –, konnte der letztere nie die spektakulären Erfolge von Oslo erzielen.
Im Sinne der Forschungsfrage wäre nun zu ermitteln, ob eine konstruktivistische
Interpretation eine Erklärung liefern kann.
In der Frage der gegenseitigen Anerkennung waren beide Seiten, vor allem die Is-
raelis, zu weitreichenden Konzessionen bereit. Wie im Falle der Osloer Gespräche
anerkannten sich die beiden Gruppen implizit auf einer personalen Ebene als
gleichberechtigte Diskurspartner. Gleichzeitig gingen die Israelis soweit, die
grundsätzlichen Ansprüche der Palästinenser auf einen eigenen Staat anzuerkennen:
»If the Israelis had not accepted the eventual emergence of the a Palestinian state,
then we would have left the talks«.46 Somit wurden auch grundsätzliche politische
Ansprüche als legitim anerkannt.
44 Interview mit Joel Singer, Washington, D.C., 16. Juni 1998.
45 Das erste Treffen fand vom 8.-10. Oktober 1992 in London statt; es folgten Treffen am
29. Januar 1993 in London, 26.-27. März in Rom und 28.-30. April in London. Die Daten
korrespondieren zeitlich mit den Daten der ersten vier Treffen der Osloer Gespräche am
21. Januar, 11. Februar, 20. März und 30. April 1993.
46 Interview mit Khalil Shikaki, einem palästinensischen Delegationsteilnehmer, Nablus,
20. September 1998.

ZIB 1/2000 99
Aufsätze

Es ist zudem plausibel zu argumentieren, daß die Teilnehmer beider Seiten auf
eine gemeinsame Lebenswelt zurückgreifen konnten. Die Themenstellung des Dia-
logs – regionale Sicherheitsarrangements – bildete eine lebensweltliche Bezugs-
klammer. Zentrale Bestandteile des Dialogs waren die Ausgestaltung regionaler Si-
cherheitsarrangements unter besonderer Berücksichtigung der strategischen
Bedeutung Jordaniens, die Gestaltung einer entmilitarisierten Zone auf der West
Bank und die Frage, wie die PLO die interne Sicherheit in den Gebieten im Falle
der Übernahme durch die PLO mit Sicherheitskräften sichern könnte. Zudem wiesen
sich die meisten Teilnehmer durch besondere Expertise in sicherheitspolitischen
Fragestellungen aus und waren zum Teil selbst Mitglieder der jeweiligen Sicher-
heitsestablishments. Unter den Teilnehmern auf palästinensischer Seite ist beson-
ders Nizar Amar, Leiter der Einheit für Informationsanalyse und -auswertung und
der Abteilung für israelische Studien im Planungszentrum der PLO, hervorzuheben.
Auf israelischer Seite waren mit Shlomo Gazit und Joseph Alpher ehemalige Mit-
glieder israelischer Sicherheitsdienste beteiligt.47 Somit kann davon ausgegangen
werden, daß die Teilnehmer, freilich aus unterschiedlichen Blickwinkeln, in ihren
Gesprächen Rückbezüge auf eine gemeinsame Lebenswelt herstellen konnten.
Nachdem sich die Teilnehmer als gleichwertige Dialogpartner anerkannt hatten
und ihnen eine »gemeinsame Lebenswelt« zu Verfügung stand: welche Aussagen
lassen sich zur Empathieentwicklung machen? Hier läßt sich ein wesentlicher Un-
terschied zu Oslo identifizieren. Während Hirschfeld im zweiten Treffen in Oslo
ein erstes Konsenspapier vorlegte, das empathisch die palästinensischen Positio-
nen integrierte, scheuten sich die Diskurspartner der AAAS-Gruppe davor, ähn-
lich vorzugehen. Obwohl beide Seiten ihre Ansichten und Perzeptionen hinsichtlich
einer politischen Regelung des Konflikts und ihre Positionen hinsichtlich der
dafür notwendigen Sicherheitsarrangements freimütig äußerten, vermieden sie es,
die eigenen Positionen den Argumenten der Gegenseite zu öffnen.48 Während die
ersten beiden Gesprächsrunden in Oslo bereits substantielle Verhandlungserfolge
hervorgebracht hatten, kam der AAAS-Kanal trotz Anstrengungen der Mediato-
ren der Akademie über einen informativen Austausch von Positionen nicht hin-
aus.49 Die Erklärung dafür liegt nach der konstruktivistischen Analyse des Kanals
im mangelnden empathischen Ansatz der Gespräche.
47 »Shlomo Gazit is former head of military intelligence, I deputy head of the Jaffee Center, we
have very good access« (Interview mit Joseph Alpher, Jerusalem, 25. September 1998).
48 Dem Autor liegen dazu unveröffentlichte Mitschriften der ersten Sitzung vor.
49 Dennoch leistete der Kanal einen Beitrag zum Resultat der Osloer Gespräche: »Joel Singer
told me after Oslo that he had been brought in in May, [...] and in the Foreign Ministry
they said: here is the room full of the reports of the Washington talks, read these! [...] He
sat for a week and he went through them and he came out and he said: ›I don’t think any-
thing has happened here‹. And – this is according to him – then they gave him, [our] first
three reports, London, London, Rome, and they said: ›Now read these!‹ Joel said to me: ›I
read your reports in the evening and now I understand what it is all about!‹ That was his
comment on our input as he was going to Norway. To what extent that he packed one
into the other, I do not know. [...] Perhaps there was no real input from our side« (Inter-
view mit Joseph Alpher, Jerusalem, 25. September 1998).

100
Sven Behrendt: Die israelisch-palästinensischen Geheimverhandlungen von Oslo 1993

5.2. Das Dialogprojekt des Harvard Center for International Affairs

Die konzeptionellen Grundlagen des zweiten Testfalls lesen sich wie eine reine An-
wendung konstruktivistischer Kommunikationsansätze. Zwischen November 1990
und August 1993 organisierte das »Program on International Conflict Analysis and
Resolution (ICR)« am Harvard Center for International Affairs insgesamt fünf
Workshops: im November 1990, als die Intifada einen vorläufigen Höhepunkt in den
besetzten Gebieten erreichte; im Juni 1991 unter dem Eindruck des zweiten Golf-
kriegs; im August 1991, als die Bush-Administration die Friedenskonferenz von
Madrid vorbereitete; im Juli 1992 kurz nach den Wahlen in Israel und schließlich im
August 1993, kurz bevor die Osloer Gespräche zum Abschluß kamen (Kelman 1997).
Für die Organisatoren beruhte der israelisch-palästinensische Konflikt nicht nur
auf den objektiven und ideologischen Differenzen (Kelman 1997: 62), sondern auf
der Überhöhung von Mißtrauen und Fehlperzeptionen. Durch deren Korrekturen
sollte zu den eigentlichen Wurzeln des Konflikts vorgestoßen werden, um in der
Folge auf Basis »objektiver Interessen« (Kelman 1997: 62) zu verhandeln. Das
Konzept der ICR-Workshops ging also davon aus, daß die Bearbeitung sozial-psy-
chologischer Elemente des Konflikts eine wesentliche Bedingung für seine Beendi-
gung sein würde (Kelman 1997: 57). Angesichts der Bedeutung, die die ICR-
Workshops den sozial-psychologischen Komponenten in Konfliktlösungsprozessen
zumaßen, stellt sich die Frage: Warum erzielten diese Workshops dennoch keine
Ergebnisse, die zumindest die Grundlage für einen israelisch-palästinensischen
Durchbruch hätten bieten können? Einige Faktoren, die die konstruktivistische Ver-
handlungsanalyse als wesentlich benennt, waren gegeben: Die Teilnehmer aner-
kannten sich gegenseitig implizit als gleichberechtigte Dialogpartner. Das Konzept
der Mediatoren basierte auf einem empathischen Ansatz, der von den Teilnehmern
abverlangte, die Positionen des Gegners nachzuvollziehen und damit die eigenen zu
hinterfragen. Die Elemente der gegenseitigen Anerkennung und Empathie waren
also gegeben.
Auch das dritte Element – die gemeinsame Lebenswelt – schien den Dialogpart-
nern eine tragfähige Grundlage für ihren Diskurs zu geben. Offensichtlich stand
ihnen mit der Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts ein gemeinsa-
mer Erfahrungsbestand zur Verfügung, auf den sie sich beziehen konnten. Die Me-
diatoren forderten die Teilnehmer geradezu auf, ihre jeweilige Sicht der Geschichte
des Konflikts zu verbalisieren. Die Nutzung dieser Erfahrungen durch Rückbezug
des Dialogs auf eine gemeinsame Lebenswelt führte in diesem Fall allerdings nicht
dazu, eine kollektiv akzeptierte Grundlage für die Lösung des Konflikts zu erarbeiten.
Vielmehr hatte die argumentative Verwendung der historischen Dimension des
Konflikts zur Folge, daß lediglich altbekannte Konfliktinterpretationen und Stereo-
type reproduziert wurden. Während in Oslo die geteilte Lebenswelt in der Idee eines
»Neuen Nahen Ostens« ihre Basis fand und die Geschichte des israelisch-paläs-
tinensischen Konflikts explizit ausgeschlossen worden war, stand in diesen
Gesprächen die Geschichte im Vordergrund. Damit war zwar der gegenseitige In-
formationsaustausch hinsichtlich der gehaltenen Konfliktpositionen möglich; indi-

ZIB 1/2000 101


Aufsätze

viduell konstruierte Positionen wurden allerdings nicht hinterfragt, sondern durch


die Debatte spiegelverkehrt wahrgenommener historischer Erfahrungen erhärtet.
Damit wird aus dieser kurzen Analyse deutlich, daß die Bedeutung gemeinsamer
Lebenswelten grundsätzlich für den Erfolg von Dialogprozessen relevant ist. Manche
lebensweltlichen Bezüge scheinen allerdings eher geeignet, kooperatives Verhalten
zu induzieren als andere.

5.3. Die Gespräche in Washington

Warum wurden die offiziellen Gespräche in Washington nicht als Ort eines israe-
lisch-palästinensischen Ausgleichs genutzt? Nach den strukturellen internationalen
und innerstaatlichen bzw. innerorganisatorischen Verschiebungen wäre es durchaus
eine Option für beide Seiten gewesen, den Verhandlungsprozeß von Washington
neu zu beleben und einen Ausgleich zu erarbeiten. Kann die konstruktivistische
Verhandlungsanalyse eine Erklärung liefern, aus welchem Grund die Washingtoner
Verhandlungen dennoch ohne substantielles Ergebnis blieben?
Der formale Referenzrahmen der Verhandlungen von Washington waren die von
den Ko-Sponsoren USA und Rußland formulierten Einladungsschreiben, die sich ex-
plizit auf die Resolutionen 242 und 338 des Weltsicherheitsrates bezogen. Darüber
hinaus waren keine Aspekte genannt, die als ein alternativer ideeller Hintergrund hätte
dienen können. Wie auch im Kanal der ICR-Workshops war die »gemeinsame Le-
benswelt« durch den Konflikt und seine Geschichte selbst konstituiert. Der Ausbruch
aus überkommenen Argumentationsmustern wurde dadurch unmöglich gemacht.
Zweitens war die Frage der Anerkennung ungeklärt: Unter keinen Umständen war
Israel bereit, einen Vertreter der PLO am Verhandlungstisch zu akzeptieren. Wie
oben dargelegt, hätte dies die Akzeptanz der PLO mit allen politischen Folgen impli-
ziert. Sogar die Teilnahme einer eigenständigen palästinensischen Delegation wurde
abgelehnt, da dies die Akzeptanz der Existenz eines palästinensischen Volkes bedeu-
tet hätte. Daher insistierte Israel zunächst darauf, daß die Palästinenser in eine ge-
meinsame jordanisch-palästinensische Delegation zu integrieren wären. Erst in der
dritten Verhandlungsrunde wurde die palästinensische Delegation als halbwegs auto-
nom anerkannt,50 so daß angenommen werden könnte, daß sich nunmehr ein diskur-
siver Prozeß zwischen den Palästinensern und Israel hätte entfalten können.
Daß dies nicht der Fall war, läßt sich anhand des dritten Elements konstruktivisti-
scher Verhandlungsanalyse erklären. Diskursive Prozesse entfalten nur dann ihre
Wirkung, wenn die Interaktionspartner während des unkooperativen Konfliktaus-
trags eingenommene Positionen verlassen und auf der Basis einer empathischen
Herangehensweise neue Argumente und Positionen »testen« können. Dafür ist al-
lerdings eine notwendige Bedingung, daß dieser Prozeß nicht kostenintensiv ist,

50 Es wurden zwei »Verhandlungstracks« gebildet. Israel bestand allerdings darauf, daß zwei
jordanische Delegierte an den israelisch-palästinensischen Verhandlungen teilnehmen müß-
ten, um so verneinen zu können, mit einer rein palästinensischen Delegation zu verhandeln.

102
Sven Behrendt: Die israelisch-palästinensischen Geheimverhandlungen von Oslo 1993

ein kooperativer Zug (wie eine empathische Herangehensweise an internationale


Verhandlungen interpretiert werden könnte) durch die Gegenseite nicht ausgenutzt
wird. In öffentlichen Verhandlungen, wie denjenigen in Washington, sind die
Emissäre dem Primat der individuellen Nutzenmaximierung unterworfen. Der
palästinensischen und israelischen Öffentlichkeit wäre kaum zu vermitteln ge-
wesen, Verhandlungspositionen ohne ersichtliche Not zu verlassen, wie dies eine
empathische Verhandlungsführung verlangt hätte. Was sich in anderen Verhand-
lungskonstellationen als nützlich erweist, nämlich der Verweis auf die mangelnde
Akzeptanz eines bestimmten Verhandlungsergebnisses durch eine »zweite Ebene«
als taktischer Zug zur Verbesserung der Verhandlungsposition, ist eine Hürde für die
Entwicklung eines diskursiven Prozesses. Mithin wäre damit die These zu über-
prüfen, ob diskursive Prozesse notwendigerweise diese zweite Ebene ausblenden
müssen, um zur Entfaltung zu gelangen. Ein öffentlicher Verhandlungsprozeß wie
derjenige zwischen Israel und der jordanisch-palästinensischen Delegation in Wa-
shington war dazu nicht in der Lage.

6. Schlußfolgerung

Welchen Beitrag leistet nun eine konstruktivistische Analyse für die Erklärung des
geheimen Verhandlungsprozesses von Oslo? Am Vorabend von Oslo fanden sich
Israel und die PLO mit dem Problem konfrontiert, wie Verhandlungen mit der Ge-
genseite zu führen wären, ohne den politisch kostenintensiven Schritt der formalen
Anerkennung zu gehen; die gegenseitige Anerkennung mußte ja erst verhandelt
werden. Wie können Konfliktparteien die gegenseitige Anerkennung verhandeln,
wenn doch gegenseitige Anerkennung eine notwendige Bedingung für den Erfolg
von Verhandlungen ist? Die Vertraulichkeit von Oslo machte es beiden Seiten mög-
lich, diese Kosten zu minimieren. Die Anerkennung erfolgte zunächst implizit und
beschränkte sich darauf, die Diskursteilnahme zu sichern und im Schatten der Ge-
heimhaltung die formale Anerkennung zu verhandeln. In Abgrenzung zu anderen
Kanälen hatte der Osloer Kanal weitere Vorteile vorzuweisen: Die Initiatoren des
Prozesses waren im Kontext der multilateralen Friedensverhandlungen in eine Dis-
kursgemeinschaft eingebunden, die die konzeptionellen Grundlagen eines wirt-
schaftlich integrierten prosperierenden »Neuen Nahen Ostens« legten. In Oslo
selbst konnten diese Akteure somit auf eine »gemeinsame Lebenswelt« zurückgrei-
fen. Als drittes Elemente machte der explizit empathische Ansatz von Oslo einen
diskursiven Prozeß im Sinne konstruktivistischer Kommunikationsanalyse möglich.
Keiner der parallel dazu verlaufenden Verhandlungskanäle wies alle Voraussetzun-
gen eines diskursiven Prozesses auf. Aus einer konstruktivistischen Perspektive ist
der alleinige Erfolg des Osloer Kanals daher keine Überraschung.
Der Diskurs von Oslo hatte zwei Ergebnisse: Erstens entwickelte er die normativen
Rahmenbedingungen für den in der zweiten Phase folgenden strategischen Aus-
handlungsprozeß (auf den hier nicht weiter eingegangen worden ist) sowie eine De-
finition des zu erreichenden Verhandlungsziels; zweitens identifizierten sich die

ZIB 1/2000 103


Aufsätze

Akteure zunehmend mit dem Prozeß selbst und entwickelten eine kollektive Iden-
tität. Dies wirkte sich wiederum auf ihre Präferenzen aus, die nunmehr ein koopera-
tives Interaktionsergebnis höher einstuften als alle anderen. Damit wurde das strate-
gische Dilemma, das die Ausgangslage am Vorabend der Osloer Gespräche
gekennzeichnet hatte, in den Hintergrund gedrängt.
Drei Aspekte dieser Fallstudie sind von besonderer Relevanz für eine Präzisie-
rung des hier zugrundegelegten theoretischen Ansatzes: Eines der herausragenden
Kennzeichen des Osloer Kanals – das allerdings vom konstruktivistischen Kommu-
nikationskonzept nicht aufgegriffen wird – war seine absolute Geheimhaltung und
die informelle Atmosphäre der Gespräche. Nur unter diesen Bedingungen war es
den Verhandlungsteilnehmern möglich, Empathie für die jeweils andere Seite zu
entwickeln und die eigenen Positionen den Argumenten der Gegenseite zu öffnen.
Hätten die Verhandlungsteilnehmer jedoch im grellen Licht der nationalen und in-
ternationalen Öffentlichkeit gestanden, wäre dieses Verhalten allzuschnell als zu
nachgiebige oder gar nationale Interessen »verratende« Verhandlungsführung kriti-
siert worden. Empathische Verhandlungsführung setzt also bestimmte Verhand-
lungsstrukturmerkmale voraus.
Eng mit diesem Punkt verknüpft ist die Frage nach der Beziehung zwischen Ver-
handlungsteilnehmern und Entscheidungsträgern. In der ersten Phase des Osloer
Prozesses entwickelten die Verhandlungsteilnehmer eine kollektive Identität, einen
»team spirit« und die darauf basierende Präferenz, die Verhandlungen erfolgreich
abzuschließen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Entscheidungsträger allerdings noch
nicht in den Verhandlungsprozeß integriert; die Verhandlungen fanden ohne for-
melles Mandat statt. Im Schatten der Geheimhaltung war möglich, die andere Seite
zunächst gleichsam probehalber anzuerkennen, mit geringen politischen Kosten.
Damit entwickelte sich genau zu jenem Zeitpunkt, als sich die Verhandlungen von ei-
nem »Arguing-« zu einem »Bargaining-Prozeß« wandelten, ein Spannungsverhältnis
zwischen Verhandlungsteilnehmern und den politischen Entscheidungsträgern.
Während erstere primär an einem Verhandlungserfolg interessiert waren, orientierten
sich letztere an individuellen Verteilungsinteressen. In einer Fortentwicklung des
Ansatzes wäre zu ermitteln, welchen Einfluß dieses Spannungsverhältnis auf den
Verlauf kommunikativer Prozesse in internationalen Verhandlungen hat.
Drittens veranschaulicht diese Fallstudie, daß die Qualität der gemeinsamen Le-
benswelt, auf die sich die beiden Parteien berufen, eine wesentliche Variable für
den Erfolg diskursiver Prozesse ist. In Oslo berief man sich gerade nicht auf ge-
meinsame geschichtliche Erfahrungen. Wäre dies der Fall gewesen, so hätten die
Palästinenser wohl auf die jahrzehntelange Besetzung ihres Landes verwiesen, die
Israelis auf die fortdauernden arabischen Aggressionen, die in drei große Nahost-
kriege mündeten. Die Diskurspartner bezogen sich aber explizit auf einen gemeinsa-
men Zukunftsentwurf, der ihre Lebenswelten gewissermaßen synchronisierte. Sie
konstruierten einen »shadow of the future« und leiteten daraus durch kooperatives
Verhalten zu erzielende Gewinnpotentiale ab. Der Fall von Oslo und der Vergleich
mit anderen Kanälen gibt somit zu bedenken, daß gemeinsame Lebenswelten nicht
per se kooperationsfördernd sind, sondern daß der Rückbezug auf diese Lebenswel-

104
Sven Behrendt: Die israelisch-palästinensischen Geheimverhandlungen von Oslo 1993

ten auch negative Folgen haben kann. Es ist also anzunehmen, daß bestimmte le-
bensweltliche Entwürfe mehr als andere geeignet sind, Kooperation zu fördern. Das
Konzept einer wirtschaftlichen Integration war hervorragend geeignet, einen »shadow
of the future« zu schaffen. Zum einen waren beide Parteien im Kontext der multila-
teralen Friedensverhandlungen in eine Diskursgemeinschaft eingebunden, die die
konzeptionellen Grundlagen eines wirtschaftlich integrierten prosperierenden
»Neuen Nahen Ostens« legten und konnten damit auf eine »gemeinsame Lebens-
welt« zurückgreifen. Mit der Hoffnung auf wirtschaftliche Gewinne für beide Seiten,
wurde gleichsam auch der zu verteilende Kuchen vergrößert, es entstand eine Win-
win-Situation. Es ist bemerkenswert, daß insbesondere die Europäische Union
einen wesentlichen Beitrag zur Herstellung der gemeinsamen Lebenswelt beitrug.
Indem sie Hirschfeld und Qureia aktiv in den Konstruktionsprozeß einbezog, legte sie
die ideellen Grundlagen des Osloer Prozesses.
Dieser Aufsatz hat sich nicht zum Ziel gesetzt, eine »rational-choice«-gestützte
Erklärung des Osloer Prozesses zu liefern, obwohl auch dies eine mögliche alternati-
ve Forschungsstrategie gewesen wäre. In diesem Fall hätte der Osloer Prozeß als
Versuch der Konfliktparteien re-interpretiert werden können, zunächst durch Signa-
le Informationen hinsichtlich ihrer gegebenen Präferenzen auszutauschen und sich
durch eine Abfolge von kooperativen und nicht-kooperativen Zügen langsam zur
formalen gegenseitigen Anerkennung heranzuarbeiten. In diesem Sinne ließe sich
beispielsweise die schrittweise Einbindung der israelischen Regierung über Hirsch-
feld (regierungsnaher Akademiker), Savir (Regierungsvertreter), Singer (Vertreter
Rabins), zu einem späteren Zeitpunkt Peres (Außenminister) bis hin zur von Mini-
sterpräsident Rabin unterzeichneten Anerkennungserklärung der PLO vom 10. Sep-
tember 1993 als Abfolge kooperativer Züge Israels mit Entsprechungen auf Seiten
der PLO interpretieren. Es wäre dann zu untersuchen, inwiefern konstruktivistische
und »rational-choice«-gestützte Erklärungsansätze sich möglicherweise komple-
mentieren. Beispielsweise basierte die Entsendung Savirs zu den Gesprächen si-
cherlich auf einer rationalen Kosten-Nutzen-Analyse Rabins, wobei mit der Präsenz
Savirs in Oslo politische Anerkennungskosten verbunden waren. Den Nutzen aller-
dings hatte der diskursive Prozeß von Oslo in Form eines ersten Abkommens erar-
beitet. In der weiteren Debatte zwischen den zwei theoretischen Lagern müßte es
dementsprechend nun darum gehen, anhand weiterer Fälle zu überprüfen, welche
Verhandlungssequenzen durch den einen oder anderen Ansatz besser erklärt wer-
den können.

ZIB 1/2000 105


Aufsätze

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ZIB 1/2000 107


Thomas Faist

Jenseits von Nation und Post-Nation


Transstaatliche Räume und Doppelte Staatsbürgerschaft

Transstaatliche Räume sind pluri-lokale, grenzübergreifende Sets von dichten, häu-


figen und stabilen Bindungen von Personen, Netzwerken, Gemeinschaften und Or-
ganisationen. Darunter fallen Formen grenzüberschreitender Verdichtungsräume
wie Verwandtschaftsgruppen, themenzentrierte Netzwerke, transstaatliche Unter-
nehmen und Diasporas. Bindungen von ImmigrantInnen in transstaatlichen Räu-
men bilden einen zentralen Ausgangspunkt für das Verständnis von Mitgliedschaft in
politischen Gemeinwesen. Bisher ist die Diskussion um Staatsbürgerschaft durch
eine Dominanz nationaler und post-nationaler Vorstellungen gekennzeichnet. Auf
der einen Seite stehen »nationale« Modelle, die Staatsbürgerschaft mehr oder weni-
ger exklusiv an einen Nationalstaat binden. Auf der anderen Seite umgehen post-
nationale Vorstellungen diese Frage vorschnell, indem sie darauf verweisen, daß
viele der für ImmigrantInnen wichtigen Menschen- und sogar Bürgerrechte durch
inter- und supra-nationale Institutionen gewährt und geschützt würden. Beide Vor-
stellungen beantworten jedoch nicht die Frage, wie mit multiplen und grenzüber-
schreitenden Bindungen von ImmigrantInnen bei der Einbürgerung umgegangen
werden soll. Das Konzept Transstaatliche Räume hilft uns genauer zu fassen, welcher
Natur die grenzüberschreitenden Bindungen sind, die potentielle und tatsächliche
Anwärter auf Staatsbürgerschaft unterhalten. Eine nähere Betrachtung multipler
Bindungen von Individuen und Kollektiven zeigt dann, daß der mögliche Nutzen aus
doppelter Staatsbürgerschaft für die beantragenden Personen und die Emigrations-
länder sehr hoch und die Kosten für die Immigrationsländer vernachlässigbar sind.
»Hypothesen sind Netze, nur der wird fangen, der auswirft.
Ist nicht Amerika selbst durch Hypothese gefunden?
Hoch und vor allem lebe die Hypothese – nur sie bleibt
Ewig neu, sooft sie sich auch selbst nur besiegte.«
Novalis, Distichen (1798)

1. Einleitung1

Die Verbindung von Innenpolitik und grenzüberschreitenden Beziehungen beschäf-


tigt die Teildisziplin der Internationalen Beziehungen seit gut zwei Jahrzehnten in

1 Ich danke Jürgen Gerdes, Andrea Liese, Ilja Mertens, Christoph Weller und anonymen
GutachterInnen der Zeitschrift für hilfreiche Kommentare und Kritik.

Zeitschrift für Internationale Beziehungen 109


7. Jg. (2000) Heft 1, S. 109-144
Aufsätze

besonders intensiver Weise. Ein Schwerpunkt der Forschung liegt dabei auf der
zwischen- und interstaatlichen Verregelung grenzüberschreitender Probleme, in de-
nen Staaten die Hauptakteure stellen – wie Umweltschutz und Migration (vgl. statt
vieler Held et al. 1999). Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, welche Implika-
tionen verdichtete grenzüberschreitende Beziehungen nicht-staatlicher Akteure für
die Auffassung von Mitgliedschaft und Identität in politischen Gemeinschaften
haben, also für Staatsbürgerschaft. Inzwischen tolerieren über die Hälfte aller Staaten
der Welt doppelte Staatsbürgerschaft (Goldstein/Piazza 1996: 73). Diese Entwick-
lung berührt Kernfragen der Politik, so etwa das Gleichheitsprinzip und die Iden-
titätsannahme in der Demokratie, Auffassungen individueller und kollektiver Identität
und Loyalität von BürgerInnen untereinander und in ihrem Verhältnis zu Staaten.
Sie berührt auch die oft deckungsgleich gedachten Konzepte »Nation« und »Staat«.
Zu diesen Fragen sucht das hier vorgestellte und in der Politischen Soziologie der
Internationalen Beziehungen verortete Konzept »Transstaatliche Räume« einen
Beitrag zu leisten. Diese Aufgabe ist um so dringlicher, als die Diskussionen über
grenzüberschreitende Bindungen und multiple Bürgerschaften vorwiegend in
dichotome Konzepte von entweder »nationalen« oder »post-nationalen« Vorstellun-
gen von Mitgliedschaften eingeschlossen sind, aus denen sie angesichts der rapiden
Zunahme doppelter Staatsbürgerschaften befreit werden sollten.
Die wichtige Rolle, die im Konzept Transstaatliche Räume grenzüberschreiten-
den Netzwerken, Gruppen, Gemeinschaften und Organisationen zukommt, korre-
spondiert mit der älteren Literatur zum Transnationalismus und der dort geäußerten
Kritik an der übertriebenen Staatszentrierung mancher Theorien von den internatio-
nalen Beziehungen. Der (neo-) realistische Theoriezweig etwa geht wie selbstver-
ständlich davon aus, daß Staaten die einzigen wichtigen Akteure auf dem interstaat-
lichen Parkett seien und daß sie als politisch kohärente Einheiten handelten. Die
Kritiker an derartigen Perspektiven monierten, daß sich ein Großteil der Beziehungen
über Staatsgrenzen hinweg ohne Regierungskontrolle vollziehe und daß nicht-staat-
liche Akteure in der interstaatlichen Arena sogar Konkurrenten von Nationalstaaten
sein könnten (Kaiser 1969; Keohane/Nye 1971). Das heißt aber beileibe nicht, daß
transstaatliche Organisationen Staaten als wichtige Akteure der Weltpolitik ab-
gelöst hätten. Vielmehr bietet der transstaatliche Fokus ein exemplarisches Feld. Er
kann Konstellationen erfassen, in denen multiple Bindungen zwischen gesellschaft-
lichen Akteuren in verschiedenen Staaten bestehen, Staaten diese Beziehungen
nicht zur Gänze monopolisieren (Keohane/Nye 1977: 24-25) und kein ausgeprägter
kalter oder heißer Krieg zwischen den betreffenden Staaten herrscht. Die 1990er
Jahre erlebten einen erneuten Schub dieses transstaatlichen Paradigmas anhand der
Forschungen über Menschenrechte (vgl. Forschungsgruppe Menschenrechte 1998),
grenzüberschreitender sozialer Bewegungen (vgl. Tarrow 1996) und den Konse-
quenzen interstaatlicher Migration für Lebensläufe (vgl. u.a. Pries 1996).
Eine andere Antwort auf nationalstaatlich verengte Ansätze bieten post-moderne,
insbesondere post-nationale Vorstellungen. Allerdings begehen manche Ansätze
dabei den Fehler, die Existenz einer ausgeprägten Weltgesellschaft bzw. Weltkultur
mit normsetzendem Charakter zu überzeichnen und die Analyseeinheit Staat zugun-

110
Thomas Faist: Jenseits von Nation und Post-Nation

sten von Individuum und supra- bzw. interstaatlichen Institutionen zu vernachlässi-


gen. Eine der vorfindlichen Vorstellungen interpretiert dabei etwa Menschenrechte
oder die globale Standardisierung des Bildungswesens als Teil einer immer stärker
entwickelten Weltkultur (Meyer et al. 1997). Supra- und transstaatliche Diskurse,
die zu einem bedeutenden Teil auf interstaatlichen Vereinbarungen beruhen, konsti-
tuieren in dieser Sichtweise eine wichtige Voraussetzung, auf deren Hintergrund
etwa Menschenrechte bindenden Charakter entwickeln (vgl. Boli/Thomas 1997).
Gesellschaftliche Gruppen wie Menschenrechtsvereine oder Immigrantenorganisa-
tionen können sich dann gegenüber (liberal-demokratischen) Staaten auf diese
suprastaatlichen Normen beziehen.
Allerdings gibt es nun viele Politikbereiche, in denen suprastaatliche Normen nur
schwach oder ambivalent ausgebildet sind, so etwa im Hinblick auf mehrfache
Staatsbürgerschaften. Je stärker wir darüber hinaus den Blick von Menschenrechten
auf Bürgerrechte richten, desto schwächer wird die Plausibilität post-nationaler Mo-
delle. Staatliches Verhalten weicht somit häufig signifikant von weltkulturellen
Normen ab (vgl. Checkel 1998). Eine Kritik an »national« verengten Ansätzen, die
vorschnell auf den Abgang nationalstaatlicher Kompetenz baut, scheint ebenfalls
nicht befriedigend, um Licht auf den Einfluß grenzüberschreitender Beziehungen
auf Fragen von Mitgliedschaft und Identität zu werfen. Die erste Frage für eine
konzeptionelle Diskussion jenseits nationaler und post-nationaler Ansätze lautet so-
mit: Wie sieht ein zeitgemäßes Konzept transstaatlicher Beziehungen aus, das eine
Vielzahl verschiedener grenzüberschreitender Bindungen in Netzwerken, Organisa-
tionen und Gemeinschaften zu fassen vermag?
Hier wird vom Konzept »Transstaatliche Räume« ausgegangen; dabei geht es um
intensive ökonomische, politische und kulturelle Beziehungen zwischen Personen
und Kollektiven, die sich über staatliche Grenzen hinweg vollziehen. Eine hohe
Dichte, Häufigkeit und eine gewisse Stabilität und Langlebigkeit kennzeichnen diese
Beziehungen, hierarchisch gesehen unterhalb der Regierungsebene. Transstaatliche
Räume sind somit pluri-lokale, grenzübergreifende Sets der Bindungen von Perso-
nen, Netzwerken, Gemeinschaften und Organisationen. Langlebige Formen wie
Diasporas überdauern eine Menschengeneration. Dabei kann der Fluß der einzelnen
Austauschelemente wie Güter, Informationen, Symbole oder Personen in verschie-
denen, real vorfindlichen transstaatlichen Räumen stärker oder schwächer ausge-
prägt sein.
Doppelte Staatsbürgerschaft2 bietet sich als ein geeignetes Untersuchungsfeld der
Implikationen transstaatlicher Bindungen für staatlich organisierte politische Ge-
meinschaften an. Gerade die Erhöhung der staatlichen Toleranz gegenüber doppelter
Staatsbürgerschaft deutet auch auf veränderte gesellschaftliche Grundlagen hin, ins-
besondere im Hinblick auf transstaatliche Bindungen von Menschen, die sich in Im-
migrationsländern einbürgern lassen. Doppelte bzw. mehrfache Staatsbürgerschaft
wirft die Frage auf, wie transstaatliche Bindungen die Auffassung von voller Mit-

2 Im folgenden gebrauche ich weiterhin den Ausdruck »doppelte Staatsbürgerschaft«, ob-


wohl sich auch drei- oder mehrfache Staatsbürgerschaft immer mehr ausbreiten.

ZIB 1/2000 111


Aufsätze

gliedschaft in einem politischen Gemeinwesen verändern. In souveränen Staaten


drückt ja Staatsbürgerschaft eine volle Mitgliedschaft im rechtlichen und im weiteren
institutionellen Sinne aus, verbunden mit gegenseitigen Rechten und Pflichten.
Staatsbürgerschaft ist eine hoch formalisierte Form von institutionalisierter Rezi-
prozität zwischen BürgerInnen und Staat und formalisierter Solidarität der Bürge-
rInnen untereinander, jeweils treuhänderisch reguliert durch staatliche Instanzen.
Staatsbürgerschaft basiert auf einer wahrgenommenen kollektiven Zugehörigkeit zu
einem Staat bzw. einer Nation.
Niedergelassene ImmigrantInnen3 – darunter Nicht-BürgerInnen und BürgerInnen –
unterhalten häufig nicht nur Bindungen innerhalb einer Nation, eines Staatsvolks,
sondern auch über die Staatsgrenzen hinausreichende. Immer wieder belegen For-
schungsergebnisse, daß ImmigrantInnen der sogenannten ersten Generation in der
Regel über das ganze Leben hinweg multiple soziale, politische und ökonomische
Bindungen, sowohl in die Herkunfts- als auch die Niederlassungsländer unterhalten
(siehe etwa Gmelch 1980; vgl. Smith/Guarnizo 1998). Die Kontroversen um doppel-
te Staatsbürgerschaft betreffen im Kern die Relevanz transstaatlicher Bindungen für
die Demokratie. Eines der wichtigsten Argumente für doppelte Staatsbürgerschaft
ist, daß die rechtliche Tolerierung von Bindungen ins Emigrationsland eine höhere
Einbürgerungsrate mit sich bringt und die politische Partizipation gefördert wird
(Hammar 1989: 87f). Dadurch kann die für Demokratie unabdingbare Deckungs-
gleichheit von Volk und niedergelassener Bevölkerung wiederhergestellt werden.
Eine Reihe von Einwänden weist allerdings darauf hin, daß gerade die Tolerie-
rung doppelter Staatsbürgerschaft grundlegende Interessen staatlicher Einheit und
bürgerschaftlicher Solidarität gefährdet. Erstens fördere doppelte Staatsbürgerschaft
die Beibehaltung doppelter bzw. mehrfacher Loyalitäten externer Art, also Treue
gegenüber Staaten, die eventuell gar keine Demokratien sind. Dadurch würden gera-
de DoppelstaatlerInnen bei Interessenskonflikten zwischen Staaten zur einseitigen
Parteinahme für das Emigrationsland verleitet. Eng damit zusammen hängen mögli-
che Probleme mit interner Loyalität, d.h. der Gesetzes- und Verfassungstreue der
Neu-BürgerInnen und eventuell sogar »Konfliktimport« (vgl. Brieden 1996) aus
den Emigrationsländern. Zweitens stelle doppelte Staatsbürgerschaft die Nation als
Organisationsprinzip des Staatsvolks in Frage, weil sie zu überlappenden Vollmit-
gliedschaften führe. Das könne insgesamt eine Abwertung nationaler Staatsbürger-
schaft bedeuten und die sozialstaatlichen Voraussetzungen für Redistribution ge-
fährden. Drittens behindere doppelte Staatsbürgerschaft die politische Integration
von ImmigrantInnen durch Aufrechterhaltung des Herkunftslandsbezugs und gäbe
vor allem auch Regierungen der Herkunftsstaaten größeren Einfluß auf die Politik
des Immigrationsstaats. Die zweite Frage ist also: Wie kann das Konzept Trans-

3 Interstaatliche MigrantInnen sind hier alle diejenigen, die mit der Intention wandern, in
einem anderen Staat für eine bedeutungsvolle Zeitdauer in ihrem Lebenslauf zu ver-
weilen. TouristInnen gehören so beispielsweise nicht dazu. ImmigrantInnen sind hier
alle Personen, die sich auf Dauer in einem anderen als dem Ursprungsland niederge-
lassen haben.

112
Thomas Faist: Jenseits von Nation und Post-Nation

staatliche Räume für eine Analyse der Konflikte um doppelte Staatsbürgerschaft


fruchtbar gemacht werden? Und wie sind die Argumente für und wider aus empiri-
scher und normativer Sicht zu bewerten?
In der folgenden Analyse bedarf es erst einmal einer Definition des Konzepts
Transstaatliche Räume und ihrer Genese (Kap. 2). Daran schließt sich eine Darstel-
lung verschiedener Ausprägungen in Massenhandeln, Kleingruppen, Netzwerken
und Organisationen an (Kap. 3). Um die unter etwas anderem Namen – »Transnatio-
nalismus« bzw. »transnationales soziales Feld« (vgl. u.a. Basch et al. 1994) – seit
Anfang der neunziger Jahre von amerikanischen AnthropologInnen angestoßene
Diskussion über das Konzept zu verorten, ist eine Diskussion der Unterschiede zu
den durchaus fruchtbaren Vorstellungen Weltgesellschaft und Globalisierung bzw.
Denationalisierung vonnöten (Kap. 4). Die Nützlichkeit des Konzepts Transstaatliche
Räume wird dann am Beispiel doppelter Staatsbürgerschaft erläutert (Kap. 5). Diese
Fallstudie zeigt, daß es jenseits nationaler und post-nationaler Denkmodelle zu
Staatsbürgerschaft auch ein transstaatliches Modell gibt, das explizit die grenzüber-
schreitenden Bindungen der Anwärter auf die Staatsbürgerschaft mit einbezieht.

2. Transstaatliche Räume

Von »transstaatlichen« und nicht von »transnationalen« Räumen ist dabei aus zwei
Gründen die Rede. Erstens gibt es multinationale Staaten wie etwa Kanada, Indone-
sien oder Belgien, in deren Grenzen demnach transnationale Beziehungen existie-
ren. Wichtig sind dabei für grenzüberschreitende Beziehungen im allgemeinen und
interstaatliche Migration im besonderen primär nicht trans-nationale Beziehungen,
obwohl diese beispielsweise bei Bürgerkriegen relevant werden (Türkei: Türken
und Kurden) oder in Konflikten um kulturelle Autonomie von nationalen Minder-
heiten (Kanada: Québec gegen den Rest Kanadas). Vielmehr geht es um die Proble-
me, die grenzüberschreitende Mobilität für Souveränität und Autonomie von Staaten
und für die Mitgliedschaft von Personen in diesen Gemeinwesen aufwirft. Zweitens
bezieht sich »national« nicht nur auf bestehende (national-) staatliche Einheiten,
sondern auch auf Kollektive, die eine Nationalstaatswerdung nach den europäi-
schen, d.h. kolonialen Vorbildern anstreben; z.B. Palästinenser im Nahen Osten,
Kurden im Mittleren Osten und Sikhs auf dem indischen Subkontinent.4 Eines der
Hauptcharakteristika souveräner und autonomer Staaten besteht in der mehr oder
weniger gelungenen Kongruenz von Regierung, Staatsterritorium und Regierten.
Dabei läßt sich zwar beobachten, daß sich die Gruppe der Regierten seit über 200
Jahren als Volk oder Nation konstituiert und sich in vielen Teilen der Welt die
Form des Nationalstaats über seine historischen Konkurrenten wie Stadtstaat und

4 Vgl. im Unterschied dazu Definitionen, die Nationen auf Nationalstaaten beschränken. So


versteht Anthony D. Smith Nationen als »a named human population sharing an historic
territory, common myths and historical memories, a mass, public culture, a common
economy and common legal rights and duties for all members« (A. Smith 1991: 14).

ZIB 1/2000 113


Aufsätze

Imperium durchgesetzt hat. Das Beispiel interstaatliche Migration – neben dem


Niedergang von Imperien5 der Hauptanlaß für doppelte Staatsbürgerschaft – zeigt
jedoch, daß eine der zentralen Ursachen von Flucht und Vertreibung ganzer Bevöl-
kerungsgruppen in der mißlungenen Bildung von Nationalstaaten oder höchst um-
strittener Nationalstaatsprojekte zu suchen ist (Zolberg 1983). Seit den 1960er Jahren
gehören dazu viele Staaten in Afrika und seit Ende der 1980er Jahre der Balkan.
Ein Blick auf diese Krisenregionen belegt, daß innerstaatliche Konflikte und damit
einhergehende Bürgerkriege ganz gewichtige Fluchtursachen darstellen. Daher beto-
nen auch die differenziertesten und tiefgehendsten Definitionen von Kollektiven
wie Ethnie und Nation das subjektive Moment eines »Gemeinsamkeitsglaubens«
und nicht angeblich objektive Merkmale, an denen solche Gruppen eindeutig zu be-
stimmen wären (vgl. Weber 1980: 235-240).

2.1. Sozial-relationaler Raumbegriff

Transstaatliche Räume unterscheiden sich von staatlich klar markierten Territorien.


Raum bezeichnet hier die soziale Praxis von individuellen und kollektiven Akteu-
ren in Territorien bzw. Orten – und dies sowohl in politischer, ökonomischer und
kultureller Hinsicht. Der so verwendete Raumbegriff beinhaltet daher nicht allein
physische Eigenschaften im Sinne traditionell geographischer Zielrichtung. Viel-
mehr fallen darunter ebenso makro-strukturelle Voraussetzungen wie ökonomische
und politische Asymmetrien zwischen »Nord« und »Süd«, meso-relationale Bedin-
gungen wie Beziehungen zwischen Organisationen und Menschen und nicht zuletzt
mikro-strukturelle Faktoren wie subjektive Einstellungen, Werte und Bedeutungs-
zuschreibungen, die der jeweilige Ort für Personen repräsentiert (vgl. Malmberg
1997). Raum und Ort unterscheiden sich demnach also insofern, als daß ein Raum
verschiedene territoriale Orte mitsamt den implizierten Beziehungen umfaßt.
Zu beachten ist dabei, daß ein sozial-relationales Raumkonzept genau der Vor-
stellung von absoluten Behälterräumen widerspricht. Der Ausgangspunkt der sozial-
relationalen Vorstellung ist dabei eine sozialwissenschaftliche Erweiterung der phy-
sikalischen Raumidee von Gottfried Wilhelm von Leibniz: Er wies die Auffassung
zurück, daß Raum eine essentielle Qualität an sich habe und bezeichnete mit Raum
ein System von Beziehungen zwischen materiellen Objekten (vgl. Läpple 1991).
Anders gesagt: In der Vorstellung eines Container-Raums nehmen die betreffenden
Objekte einen festgefügten Platz ein, ohne daß die Relationen zwischen den Objekten
interessiert. Aber in einem sozial-relationalen Raum gestalten die Subjekte ihre Be-
ziehungen unter den jeweils vorfindlichen Bedingungen.
Das relationale Raum-Konzept kommt der Analyse grenzüberschreitender Bezie-
hungen entgegen. Es hilft, die sich zwischen Staaten aufgespannten sozialen und
symbolischen Bindungen zwischen Akteuren in allgemeinster Weise zu erfassen
und die verschiedenen Formen von sozialen Räumen zu differenzieren. Der

5 Siehe dazu das Beispiel Ukraine und Rußland bei Shevchuk (1996).

114
Thomas Faist: Jenseits von Nation und Post-Nation

Schwerpunkt der Analyse liegt hier auf den transstaatlichen Bindungen und Struktu-
ren, die aus und im Zusammenhang mit interstaatlicher Süd-Nord-Migration her-
vorgegangen sind. Interstaatliche Migration bildet einen vorzüglichen Ausgangs-
punkt für die Betrachtung grenzüberschreitender Phänomene, weil wir die
Entwicklung von transstaatlichen Räumen exemplarisch am Beispiel kleiner und le-
bensweltlich integrierter sozialer Einheiten wie Verwandtschaftskollektiven bis hin
zur Rolle von Gemeinschaften und hierarchisch gegliederten Großorganisationen in
einem System von Staaten und deren interstaatlichen Regimes nachvollziehen kön-
nen. Die kleinste analytische Einheit ist eine Vielfalt von sozialen und symboli-
schen Bindungen. Soziale Bindungen stellen eine kontinuierliche Serie von inter-
personalen Transaktionen – also Kommunikationen zwischen mindestens zwei
Akteuren – dar, denen die Beteiligten gemeinsame Interessen, Verpflichtungen, Er-
wartungen und Normen zuschreiben. Symbolische Bindungen hingegen sind konti-
nuierliche Transaktionen, die direkt oder indirekt stattfinden können und an welche
die Beteiligten gemeinsame Bedeutungszuschreibungen, Erinnerungen, Zukunfts-
erwartungen und Symbole knüpfen. Symbolische Bindungen können über unmittel-
bare Beziehungen zwischen Personen hinausgehen, indem sie sich allgemeiner an
Mitglieder desselben Glaubens, derselben Sprache, derselben Ethnizität oder gar
Nationalität richten.
Bei den hier betrachteten transstaatlichen Räume gilt es, einen gravierenden Un-
terschied zwischen der Mobilität von Personen auf der einen und der von Waren,
Dienstleistungen und Informationen auf der anderen Seite zu beachten. Während
die Mobilität von Kapital, Informationen und Gütern tendenziell gerade in einer
liberalen Weltökonomie vom Grundgedanken des Marktes her und teilweise auch
in der Realität immer weniger staatlichen Restriktionen unterworfen ist bzw. sein
sollte, sieht das bei Personen schon ganz anders aus. Dem potentiellen Freihandel
stehen in der Regel Immigrationspolitiken gegenüber, die Grenzöffnungen in Immi-
grationsstaaten immer nur partiell erlauben. Mit Handel in potentiell globalen
Märkten gehen häufig Forderungen nach ungehindertem Warenaustausch einher.
Bei Immigration verhält es sich zumindest kurzfristig gesehen tendenziell genau
umgekehrt; auf lange Sicht gesehen könnte allerdings auch bei offenen Grenzen
eine Wohlfahrtssteigerung eintreten. Im Falle der Mobilität von Personen wirkt in
der Realpolitik die Institution der Staatsbürgerschaft einer großzügigen grenzüber-
schreitenden Praxis entgegen. Dies erkennen wir am leichtesten, wenn wir die
Staatsfunktionen Wohlfahrt, Sicherheit und die Wahrung kollektiver, speziell natio-
naler Identität betrachten. Erstens sind die Rechte und Pflichten von Staatsbürger-
schaft prinzipiell knapp und daher mit Restriktionen gekoppelt. Dies gilt insbeson-
dere dann, wenn sie in wohlfahrtsstaatlicher Hinsicht mit der Verteilung von
knappen materiellen (Grundsicherungen wie Sozialhilfe) und immateriellen Res-
sourcen wie Solidarität zusammenhängen. Zweitens geht mit Immigration auch im-
mer die Frage nach kollektiver Identität einher – gleich, ob wir gemeinsame Kulturen
als homogene Nationen denken, in der Einflüsse der Herkunftskultur der
Neuankömmlinge eher als störend empfunden werden, oder ob wir von pluralen
Kulturen ausgehen, die in Staaten nebeneinander existieren können.

ZIB 1/2000 115


Aufsätze

2.2. Zur Genese Transstaatlicher Räume

Das Konzept Transstaatliche Räume bemüht sich um eine nähere Bestimmung der glo-
bal wirkenden Faktoren, welche die Ausbreitung transstaatlicher Räume wahrschein-
lich machen und beschleunigen. Beispielsweise umfaßt die globale Ausdehnung des
Kapitalismus ein Gewebe von Faktoren, die sich gegenseitig bedingen. Sie erhöhen
nach Max Weber (vgl. Hellmann/Palyi 1923) die Möglichkeit zur ausschließlichen
Orientierung der wirtschaftlichen Bedarfsdeckung an Marktchancen und an Rentabi-
lität. In dem Maße, in dem weltweit die Kommerzialisierung der Wirtschaft wächst,
steigen auch die Möglichkeiten für global vernetzte Ökonomien, wie wir sie aus vielfäl-
tigen Zustandsbeschreibungen der jüngeren Wirtschaftsgeschichte kennen. Zur fort-
schreitenden Kommerzialisierung gehören der allgemeine Gebrauch der Wertpapier-
form, freie Arbeit, rationales und damit berechenbares Recht, rationale Technik,
Marktfreiheit und Appropriation aller sachlichen Beschaffungsmittel wie etwa Grund
und Boden als freies Eigentum (Hellmann/Palyi 1923: 239-240). Beispielsweise wird die
Nachfrage nach Arbeitskräften tendenziell immer grenzüberschreitender – nicht nur
nach »billiger und williger« Arbeit (vgl. Sassen 1988), sondern insbesondere auch
nach hochausgebildeten Fachkräften (vgl. Salt 1997; Glebe 1997).
Technologischen Entwicklungen im Transport- und Kommunikationswesen
kommt eine direkt zu beobachtende Rolle bei der Formierung und der weiteren Ent-
wicklung transstaatlicher Räume zu. Dies ist eng mit dem ersten und breiten Set
von Faktoren dadurch verbunden, daß die kapitalistische Wirtschaftsform ungeahnte
Möglichkeiten der technologischen Entwicklung produziert (vgl. Schumpeter 1980:
Kap. 7). Der technologische Durchbruch im Bereich der Telekommunikation und
des Reiseverkehrs ereignete sich im 19. Jahrhundert und förderte wiederum die Ent-
wicklung des Weltmarkts (Marx/Engels 1972: 465). Neue und verbesserte Metho-
den der Kommunikation und des Reiseverkehrs, wie etwa die transozeanischen
Dampferlinien oder die Telegraphie, boten die notwendige, wenn auch nicht hinrei-
chende Voraussetzung für die Entstehung eines nordatlantischen Raums. Die anhal-
tenden technologischen Verbesserungen im Bereich der Kommunikation und des
Transportwesens senkten die Kosten zur Überbrückung großer Distanzen erheblich
(Hobsbawm 1996: 151). Diese Tendenz verstärkte sich besonders nach dem Ende
des Zweiten Weltkriegs. Die Migrationsrate wuchs von 1960 bis 1990 um rund
1,8% jährlich, wenn auch neuerlich mit geringfügig steigender Tendenz, nämlich
2,6% im Jahresdurchschnitt zwischen 1985 und 1990 (Zlotnik 1999: 22-23). Wir
können also festhalten, daß eine Vielfalt von potentiell global wirkenden strukturellen
und technologischen Entwicklungen Netzwerke, Gemeinschaften und Organisatio-
nen immer mehr von den Beschränkungen territorial genau begrenzter Kollektive
befreit haben – ohne daß die Auswirkungen selbst wieder global wären. Wohl aber
sind verdichtete, pluri-lokale Räume transstaatlichen Zuschnitts sichtbar.
Dabei können einige der Ceteris-paribus-Bedingungen, die innerhalb der Her-
kunfts- und Immigrationsländer zur Herausbildung von transstaatlichen Räumen
führen, näher benannt werden. Diese lassen sich in migrations- bzw. fluchterzeu-
gende Faktoren in den Ursprungsländern als auch integrationshemmende und inte-

116
Thomas Faist: Jenseits von Nation und Post-Nation

grationsfördernde Entwicklungen in den Immigrationsländern unterscheiden. Eine


fluchterzeugende Minoritätenpolitik in den Ursprungsländern geht oft ursächlich
mit einer spezifischen Art von Globalisierung im Weltsystem von Staaten einher.
Diese zeigt sich in Prozessen einer Art nachholenden Nationalstaatsbildung im »Sü-
den«, gewöhnlich nach europäischem Vorbild. In Frage kommen dabei vor allem
im Hinblick auf ethnische, religiöse und nationale Kategorien heterogene Staaten,
die beispielsweise in Afrika im Gefolge von Prozessen der Dekolonialisierung ent-
standen sind. Als Faktor, der die transstaatliche Weiterentwicklung von Politik und
Kultur in den Emigrationsländern am meisten begünstigt, können Konflikte ge-
genüber selbst- und fremd-definierten Minderheiten ausgemacht werden, die ins
Ausland fliehen. Viele Beispiele lassen sich nennen, angefangen von den indischen
Sikhs in Großbritannien, Kanada und den USA bis hin zu den Iranern in der Bun-
desrepublik, den Niederlanden, Belgien und Schweden.
Im Immigrationsland selbst sind dann eine Verweigerung der Akkulturation oder
kulturellen Anerkennung und ernsthafte Hindernisse für die sozio-ökonomische In-
tegration besonders geeignet, um dichte transstaatliche Aktivitäten politischer und
kultureller Art über Migranten- und Migrationsnetzwerke hinaus voranzutreiben.
Ökonomische und kulturelle Schwierigkeiten können hier gemeinsam, aber auch
getrennt auftreten. So wird manchen Gruppen die kulturelle Assimilation oder Aner-
kennung verweigert, obwohl diese sozio-ökonomisch integriert sind – ob nun in Ni-
schen oder im gesellschaftlichen »Kern«. Dies traf beispielsweise bis in die 1940er
Jahre auf die ChinesInnen in den weißen Siedlerkolonien USA, Kanada, Australien
und Neuseeland – und bis in die 1980er Jahre hinein auf Südafrika – zu. In anderen
Fällen kann sozio-ökonomischer Ausschluß und fehlende kulturelle Anerkennung
Hand in Hand gehen. Dies legen jüngste Beispiele von ArbeitsmigrantInnen aus
Nordafrika und Südosteuropa in Westeuropa nahe.
Interessanterweise stellen nicht nur Diskriminierung und Exklusion, sondern auch
multikulturelle Politiken in den Immigrationsländern fördernde Bedingungen für
transstaatliche Räume dar. Wenn Immigrationsstaaten liberale Demokratien sind, deren
Ziel nicht die zwangsweise Assimilation von ImmigrantInnen ist, dann haben die Ein-
gewanderten als Minderheiten größere Chancen, ihre kulturelle Unterschiedlichkeit
und Bindungen an das Herkunftsland aufrechtzuerhalten. Multikulturelle politische
Maßnahmen der Immigrationsländer wie die feste Institutionalisierung muttersprach-
lichen Unterrichts und die Inkorporation von Religionsgemeinschaften können unter
Umständen neben der Integration auch den Erhalt transstaatlicher Gemeinschaften
und Organisationen fördern. In den Immigrationsländern ist, ceteris paribus, die Her-
ausbildung von transstaatlichen Kollektiven um so wahrscheinlicher, je liberaler oder
toleranter das betreffende politische Regime auftritt und dadurch entsprechende Mög-
lichkeiten für die Mobilisierung von Ressourcen durch MigrantInnen oder Flüchtlinge
bietet. Als Beispiele lassen sich die kurdischen ImmigrantInnen in Deutschland,
Schweden und den Niederlanden anführen. Es läßt sich also festhalten, daß nicht nur
repressive Politik und Diskriminierung die transstaatlichen Bindungen von Immigran-
tInnen vorantreiben, sondern daß im Gegenteil auch das Zugestehen multikultureller
Rechte und Aktivitäten einen solchen Effekt erzielen kann, sogar unabhängig von

ZIB 1/2000 117


Aufsätze

Diskriminierung im Immigrationsland. Eine entsprechende »Unterstützerszene« kann


diesen Effekt noch verstärken (vgl. Liebe-Harkort 1994). Eine Konstellation von re-
pressiver Politik im Emigrationsland und liberal-demokratischen Rahmenbedingun-
gen im Immigrationsstaat scheint politischer und religiöser transstaatlicher Mobilisie-
rung besonders förderlich zu sein.

3. Vier Typen von Transstaatlichen Räumen

Transstaatliche Räume können nach zwei Dimensionen differenziert werden – Grad


der Formalisierung und Dauerhaftigkeit. Der Formalisierungsgrad kann sowohl die
internen Organisationsmerkmale einer Gruppe betreffen als auch das Ausmaß der ge-
meinsamen und geteilten Werte und Symbole. Auf der einen Seite befinden sich dabei
Netzwerke mit einem geringen Niveau an Formalisierung, auf der anderen Organisa-
tionen und Gemeinschaften. Organisationen sind durch ein hohes Maß an formalisier-
ten Beziehungen hinsichtlich Hierarchie und Kontrolle charakterisiert. Und Gemein-
schaften weisen ebenfalls einen hohen Grad an Formalisierung auf, aber nicht
hinsichtlich der internen Organisationsstruktur, sondern in bezug auf gemeinsame
Werte und Symbole.6 Sie enthalten stark formalisierte symbolische Bindungen, etwa im
Hinblick auf nationale, religiöse, kommunale oder familiäre Besonderheiten. Als
zweite Dimension kann das Potential für die Dauerhaftigkeit von Formen transstaat-
licher Räume gelten. Wichtig ist hier die Zeitperspektive der Handelnden, d.h. ob eher
kurz- oder langfristige Orientierungen bestehen. Es ergeben sich dann vier Typen von
Transstaatlichen Räumen: Kontaktfelder; Kleingruppen, vor allem Verwandtschafts-
systeme; Netzwerke; Gemeinschaften und Organisationen.

Abbildung 1: Typen von Transstaatlichen Räumen

Grad der gering hoch


Formalisierung (Netzwerke) (Organisationen)
Potential für Dauerhaftigkeit
kurzlebiger Kontaktfelder von Gütern, Kleingruppen
Personen, Informationen, verwandtschaftlicher
kulturellen Symbolen Art
und Praktiken
(I) (II)
langlebiger themenzentrierte Gemeinschaften und
Netzwerke Organisationen
(III) (IV)

6 Gemeinschaften und Organisationen sind analytische Trennungen. In der Realität finden wir
viele Organisationen, die auch gemeinschaftsähnliche Elemente aufweisen – und umgekehrt.

118
Thomas Faist: Jenseits von Nation und Post-Nation

3.1. Kontaktfelder von Gütern, Personen, Informationen und kulturellen Praktiken

Hierunter fallen nicht nur Beispiele, die letztendlich die Grundlage für Massenhan-
deln wie Kettenmigration von MigrantInnen bilden. Vielmehr gehören dazu auch
die Kontakte von Intellektuellen und ImmigrantInnen, die über verschiedene Staa-
ten in Migrationssystemen hinweg einen regen Austausch an politischen Neuigkeiten
pflegen. Nicht nur Menschen, Ideen und Informationen wandern, sondern auch so-
ziale und kulturelle Praktiken. Das fällt gerade bei sozialen Bewegungen auf, deren
Aktionsformen sich historisch immer weiter ausdifferenzierten. Öffentliche Mas-
senkundgebungen gehören seit der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts zum
Standardrepertoire kollektiven Handelns (Tilly 1978: Kapitel 5). Erst in den dreißiger
Jahren des 20. Jahrhunderts kamen Aktionsformen wie das sit-in dazu, die von den
Pionieren der US-amerikanischen Einheitsgewerkschaft zeitversetzt über die Bür-
gerrechts- und Studentenbewegung von Montgomery und Berkeley schließlich bis
nach Frankfurt und Berlin wanderten. Unter ImmigrantInnen beobachten wir ähnliche
Vorgänge, die teilweise auf Diffusionen vom Herkunfts- in das Niederlassungsland
hindeuten. So griffen beispielsweise in der Türkei Kurden die Tradition des Neu-
jahrsfestes (Newroz) auf, bauten es in politische Manifestationen ein und brachten
es nach Deutschland mit, wo es zu einem wichtigen Symbol kurdischer Identität
wurde. Um den kurdischen Separatisten den Wind aus den Segeln zu nehmen, rea-
gierte die türkische Regierung wiederum prompt und erklärte kurzerhand das
Newroz-Fest 1996 zu einem Nationalfeiertag (Pope/Pope 1997: 257).

3.2. Transstaatliche Kleingruppen verwandtschaftlicher Natur

Hoch formalisierte und grenzüberschreitende Beziehungen innerhalb von Kleingruppen


wie Haushalten und Familien sind typisch für viele ArbeitsmigrantInnen und Flücht-
linge der sogenannten »ersten Generation«. Von transstaatlichen Kleingruppen spre-
chen wir dann, wenn diese noch ein starkes Bewußtsein eines gemeinsamen Heimes
aufweisen. Ein klassisches Beispiel sind transstaatliche Familien, die sich als eine
ökonomische und solidarische Einheit begreifen und neben dem Haupthaushalt noch
eine Art Schattenhaushalt in einem anderen Land führen. Transstaatliche Kleingruppen
greifen auf Ressourcen in sozialen Bindungen wie Reziprozität (eine Form sozialen
Kapitals) und auf solche zurück, die in symbolischen Bindungen vorhanden sind, bei-
spielsweise verwandtschaftliche Solidarität (eine Ausprägung kulturellen Kapitals).
Diese Kapitalien werden beispielsweise bei Geldüberweisungen der MigrantInnen an
ihre Familien im Herkunftsland sichtbar. Vorrangig trifft dies auf solche Fälle zu, in de-
nen Migration Teil einer Strategie ist, die auf wirtschaftliches Überleben oder Verbes-
serung der Situation der MigrantInnen und der im Herkunftsland verbliebenen Ver-
wandten abzielt. Migration ist hier als eine Art informeller Risikoversicherung zu
verstehen. MigrantInnen überweisen dann vorwiegend Geld an diejenigen, die im
Emigrationsland weiterhin für den Familienhaushalt zuständig sind. Teil der Strategie
ist hier häufig die saisonale, wiederholte und endgültige Rückkehrmigration.

ZIB 1/2000 119


Aufsätze

Transstaatliche Haushalte bzw. Familien sind in der Regel nicht hypermobil. Nur rela-
tiv wenige MigrantInnen pendeln tatsächlich abwechselnd über längere Zeiträume zwi-
schen Orten in zwei oder mehreren Staaten hin und her. Aber die Organisation und Per-
spektive mancher Haushalte bzw. Familien ist dezidiert transstaatlich: Das sehen wir an
Kategorien wie chinesischen Geschäftsleuten aus Hongkong. Ihre Mobilität muß als
eine Folge der wachsenden Interdependenz zwischen der US-amerikanischen Wirt-
schaft und den chinesisch-pazifischen Ökonomien von Taiwan, Hongkong, Singapur
und China verstanden werden. So gründen diese »Astronauten« beispielsweise eine Fir-
ma in Singapur, siedeln ihre Familien jedoch in Los Angeles, New York oder Toronto an,
um so die Ausbildungschancen ihrer Kinder zu vergrößern oder um im Falle politischer
Instabilitäten eine sichere Zufluchtsmöglichkeit zu haben (Cohen 1997: 93).
Dieser Typus von Transstaatlichem Raum tendiert zu relativer Kurzlebigkeit, ob-
wohl er intern viel stärker formalisiert bzw. institutionalisiert ist als die Kontaktfelder
von Gütern, Informationen und Menschen. So gehen etwa auf Reziprozität basie-
rende Rücküberweisungen von MigrantInnen in verwandtschaftlichen bzw. haus-
haltsförmigen Kleingruppen in der Regel nicht länger als eine Generation vor sich;
also nur so lange, bis sich die Gruppe in einem Land wieder vereinigt hat oder die
MigrantInnen verstorben sind. Und manchmal findet Migration im Familienver-
band statt, so etwa bei russisch-deutschen Aussiedlern und russischen Juden nach
Deutschland, so daß klein-familiale Bindungen ins Herkunftsland von vornherein
abgeschnitten sind (vgl. Wegelein 2000).

3.3. Themenzentrierte Netzwerke

Themenzentrierte Netzwerke sind typische Formen grenzüberschreitender Verbin-


dungen von Personen und Organisationen – nicht-staatliche, teilweise mit staatli-
chen Akteuren –, die Informationen und Dienstleistungen austauschen, um gemein-
same Ziele auf dem Hintergrund eines für ein Problem (issue) geteilten
Werthorizonts und eines verbindlichen Diskurses zu erreichen. Dabei ist der Zu-
gang nicht rigide beschränkt. Als solche sind sie epistemischen Gemeinschaften
verwandt, die häufige Austauschbeziehungen zwischen WissenschaftlerInnen oder
ExpertInnen bezeichnen (Haas 1992). Während solche Netzwerke im Bereich der
Menschenrechte auf eine lange Tradition zurückblicken (Sikkink 1993) und im
Umweltbereich im Kommen sind, beginnen sie auch unter MigrantInnen aus den
sogenannten Drittstaaten in der Europäischen Union zu sprießen. Ein Ort, an dem
sich Relationen aus themenzentrierten Netzwerken heraus verdichten, ist eine Art
Migrantenparlament in Brüssel, in dem sich VertreterInnen einiger größerer Mi-
grantenorganisationen kontaktieren und Lobby-Arbeit betreiben. Eine nicht zu un-
terschätzende Rolle spielen dabei kirchliche Institutionen, die nicht zufällig über
das Churches Commission for Migrants in Europe netzverstärkend wirken, indem
sie die Strukturen und Erfahrungen einer älteren und ehrwürdigen Organisation zur
Verfügung stellen.

120
Thomas Faist: Jenseits von Nation und Post-Nation

Das Potential für eine gewisse Langlebigkeit derartiger Netzwerke ergibt sich
daraus, daß der politik-ökonomische Rahmen ein solcher zwischen Zentrum im
»Norden« und Peripherie im »Süden« ist: Oft wurzeln die Bindungen in einer langen
Geschichte von post- oder semi-kolonialen Beziehungsgeflechten. Dabei beruhen
Migrationssysteme und darin florierende Netzwerke von MigrantInnen und relativ
Immobilen auf diesen gewachsenen Verflechtungen. Beispiele umfassen Staaten
des indischen Subkontinents und Großbritannien, viele Staaten Westafrikas und
Frankreich oder die Karibik und die USA. In anderen Fällen können Migrations-
systeme auch neu wachsen, in der Regel aus früherer Wirtschaftsdominanz, so wie im
Verhältnis der Balkanstaaten und Deutschland oder aus militärisch-entwicklungs-
politischer Kooperation heraus, etwa zwischen der Türkei und Deutschland.

3.4. Transstaatliche Gemeinschaften und transstaatliche Organisationen

Gemeinschaften und Organisationen stellen hoch formalisierte Typen von trans-


staatlichen Räumen mit einem großen Potential für Langlebigkeit dar. Sie überlappen
sich teilweise, müssen aber analytisch unterschiedlich gefaßt werden: transstaat-
liche Gemeinschaften aufgrund der für sie prägenden engen solidarisch-symboli-
schen Bindungen und transstaatliche Organisationen wegen ihrer formalen internen
Hierarchisierung und der systemisch strukturierten Kontrolle sozialer Beziehungen.

3.4.1. Transstaatliche Gemeinschaften

Transstaatliche Gemeinschaften bezeichnen Konstellationen, in denen interstaat-


liche MigrantInnen und relativ Immobile durch dichte und stabile, soziale und sym-
bolische Bindungen über Zeit und Raum über Staaten hinweg verbunden sind. Der
Begriff Gemeinschaft umfaßt alle die Beziehungen, die durch ein hohes Maß an
persönlicher oder symbolischer Intimität, emotionaler Tiefe, moralischer Verpflich-
tung und dazugehöriger sozialer Kohäsion im Verbund mit zeitlicher Kontinuität
gekennzeichnet sind (Nisbet 1966: 47). Damit transstaatliche Gemeinschaften ent-
stehen können, müssen soziale Kapitalien wie Reziprozität und Solidarität über
enge Verwandtschaftsbeziehungen hinausreichen. Dabei sind Gemeinschaft einer-
seits und räumliche Nähe andererseits partiell entkoppelt, bezeichnen also keinen
Container-, sondern einen sozial-relationalen Raum. Diese Gemeinschaften erfor-
dern nun aber nicht notwendigerweise, daß einzelne Personen in zwei Welten
gleichzeitig oder zwischen den Kulturen in einem »globalen Dorf« des deterritoriali-
sierten »Welt-Raumes« leben. Um ein für Gemeinschaften hohes Maß an sozialer
Kohäsion und ein gemeinsames Repertoire symbolischer und kollektiver Repräsen-
tationen zu erreichen, ist es unabdingbar, daß in den sozialen und symbolischen
Bindungen Ressourcen stecken, die Nähe schaffen – also soziales Kapital wie Rezi-
prozität und kulturelles Kapital wie Solidarität.

ZIB 1/2000 121


Aufsätze

Transstaatliche Gemeinschaften können auf verschiedenen Aggregationsebenen


entstehen. Der grundlegendste Typus sind Dorfgemeinschaften in den Emigrations-
und Immigrationsländern, deren Beziehungen durch ausgedehnte Solidarität über
längere Zeitabschnitte hinweg geprägt sind. Mitglieder im Ausland oder Rückkehrer
nehmen etwa Investitionen in privaten oder öffentlichen Projekten vor.7 Transstaat-
liche Gemeinschaften können auch einen größeren Aggregatzustand annehmen:
Diese Gemeinschaften werden dann vorwiegend durch symbolische Bindungen ge-
meinsamer Ethnizität, Religion oder Nationalität zusammengehalten.
Die quintessentielle Form von transstaatlichen Gemeinschaften – und zugleich von
transstaatlichen Organisationen – sind grenzüberschreitende religiöse Gruppierungen
und Kirchen. Viele der großreligiösen Gemeinschaften wie Judentum, das Christentum
in seiner katholischen Inkarnation, Islam, Hinduismus und Buddhismus existierten
lange vor der Gründung moderner Staaten. Vor allem diejenigen Religionen mit
Verkündigungsansprüchen unterhalten dabei auch eine explizit grenzüberschreitende
Ideologie, etwa die islamische umma, die Gemeinschaft aller Muslime, oder die
»Mutter Kirche«, die katholische Gemeinschaft unter Führung des Papstes.
Diasporas gehören ebenfalls zum Typus transstaatlicher Gemeinschaft. Als Para-
debeispiel für eine transstaatliche Gemeinschaft der Diaspora-Form mag die jahr-
hundertealte jüdische Diaspora gelten. Dies kann auch auf die Afro-Amerikaner, die
Armenier und die Palästinenser ausgeweitet werden. Der Begriff der Diaspora be-
zeichnet eine Gruppe, die ein traumatisches Ereignis durchleben mußte, das wiederum
zur territorialen Zerstreuung der Mitglieder geführt hat. Im Bewußtsein der Mitglieder
existiert meist eine gemeinsame Erinnerung an die verlorene Heimat oder eine Vision
von einem imaginierten Heimatland, das noch geschaffen werden muß, während
gleichzeitig das Immigrationsland der betreffenden Minorität häufig die volle Aner-
kennung ihrer eingeforderten kulturellen Identität verweigert (vgl. Safran 1991).
Eine andere Form von transstaatlicher Gemeinschaft finden wir in Grenzregio-
nen. Analog zur Unterscheidung, welche die englische Sprache erlaubt, soll dabei
Grenze nicht border (Grenzlinie), sondern frontier bedeuten. Grenzregionen verbin-
den Orte, Menschen und Organisationen auf verschiedenen Seiten einer Grenzlinie
durch dichte soziale und symbolische Bindungen. Im Süd-Nord- und Ost-West-
Kontext denken wir bei Grenzregionen an ethnische, nationale oder religiöse Grup-
pen, die sich auf beiden Seiten der staatlichen Grenzlinien befinden. Über die
Grenzlinien hinweg bilden sie verdichtete Räume. Prominente Beispiele sind die
US-mexikanische und die deutsch-polnische Grenzregion; aber auch vermehrt in
Europa die westliche mediterrane Zone, welche Frankreich, die iberische und
Apenninen-Halbinsel mit nordafrikanischen Staaten verbindet (vgl. Wilson/Donnan
1998).
Zusammenfassend gilt für alle Formen transstaatlicher Gemeinschaften: Nicht das
Territorium bestimmt die Gemeinschaft, sondern die sozialen und symbolischen
Bindungen innerhalb der Gemeinschaft erschaffen die jeweilig pluralen Ortsbezüge.

7 Vgl. Engelbrektsson (1978) zu Türkei-Schweden und Smith (1999) zu Mexiko-USA.

122
Thomas Faist: Jenseits von Nation und Post-Nation

3.4.2. Transstaatliche Organisationen

Sie unterscheiden sich von Kleingruppen wie transstaatlichen Familien durch einen
noch höheren Grad an formaler Kontrolle und Koordination sozialer Beziehungen.
Sowohl in staatlichen als auch nicht-staatlichen politischen Organisationen ist eine
spezifische Form bürokratischer Herrschaft charakteristisch, wie etwa technisch effi-
ziente Instrumente der Verwaltung und sich selbst verstärkende Tendenzen der Aus-
weitung des jeweiligen Kompetenz- und Kontrollbereichs (vgl. Weber 1988: 498).
Eine erste und immer wichtiger werdende Form transstaatlicher Organisationen
sind transstaatliche Bewegungsorganisationen, die aus themenzentrierten Netzwerken
hervorgegangen sind, also etwa Amnesty International und Greenpeace oder in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Rote Kreuz. In ihren Anfangszeiten gehörte
dazu sicherlich auch die Sozialistische Internationale, die heute eher einer zweiten
Art transstaatlicher Organisationen zuzurechnen ist, nämlich den Zusammenschlüs-
sen von gewöhnlich auf nationalstaatlicher Ebene organisierten politischen Partei-
en. Eng damit verwandt ist eine dritte Art, die interstaatliche Migration und Netz-
werke bzw. Kollektive in transstaatlichen Räumen mit Hilfe bestehender
Institutionen kanalisiert: religiöse Organisationen, die gleichzeitig oft ausgeprägte
Gemeinschaften bilden (vgl. Voll 1997). Es ist daher nicht zufällig, daß etwa domi-
nikanische MigrantInnen in den USA über die katholische Kirche Rückbeziehun-
gen in das Ursprungsland pflegen. Grundlage dafür ist, daß schon im letzten Jahr-
hundert Missionare aus den USA in den Inselrepubliken arbeiteten und heutzutage
Pfarrer aus der Dominikanischen Republik dem Priestermangel in den USA abhelfen
(vgl. Levitt 1996). Auch muslimische Organisationen wie Milli Görüș in Deutschland
verfügen über reichhaltige organisatorische Kontakte in die Türkei (vgl. Feindt-
Riggers/Steinbach 1997).
Transstaatliche Wirtschaftsunternehmen sind stark differenzierte grenzüber-
schreitende Organisationen mit Myriaden an intra-institutionellen Arbeitsteilungen.
Noch Anfang der 1970er Jahre sahen AnalytikerInnen in ihnen Konglomerate, die
von einem hoch industrialisierten Land als Basis heraus staatsübergreifend agierten.
Heutige Studien beschäftigen sich vorwiegend mit transstaatlichen Wirtschaftsgi-
ganten, die gewichtige politisch-ökonomische Kraftfelder bilden. Jedoch wäre es
voreilig, transstaatliche Unternehmungen ausschließlich im Feld riesiger Konzerne
wie IBM oder Daimler-Chrysler anzusiedeln. Gerade im Rahmen der interstaat-
lichen Süd-Nord-Migrationen eröffnen sich Chancen in Bereichen wie der Textil-
industrie, auch mittelständische Unternehmen aufzubauen (Harvey 1989: 147-159).
So nutzen auch ImmigrantInnen ihre insider advantages wie Sprache und Ver-
wandtschaftsbeziehungen: Kinder ehemaliger Gastarbeiter in Deutschland produ-
zieren als Textilunternehmer in der Türkei und vertreiben ihre Waren in Europa
(Rieple 2000).

ZIB 1/2000 123


Aufsätze

4. Abgrenzung von alternativen Konzepten: Hybridität, Weltgesellschaft,


Globalisierung und Denationalisierung

Das Konzept Transstaatliche Räume grenzt sich von Vorstellungen ab, die explizit
grenzüberschreitende Transaktionen erfassen – so etwa Hybridität, Weltgesell-
schaft, Globalisierung und Denationalisierung. Dabei wird deutlich, daß die meisten
dieser Konzepte – mit der Ausnahme von Denationalisierung – von einem gemein-
samen »Welt-Raum« ausgehen. Demgegenüber betont das Konzept Transstaatliche
Räume, daß sich eine Vielzahl von Phänomenen transstaatlicher Bindungen und
Mitgliedschaften nur mit einer dazwischenliegenden Kategorie erfassen lassen, die
weder als »national« noch als »post-national« bezeichnet werden kann.
Auf der einen Seite weisen bisherige Modelle zur Analyse grenzüberschreitender
Vernetzungen häufig einen stark systemischen Charakter auf, so etwa Theorien, die
auf Globalisierung beruhen. Dabei zwingen neue Herausforderungen die Akteure
zu immer neuen Anpassungsleistungen. Überspitzt gesagt handelt es sich um eine
Perspektive des »Transnationalismus von oben«, bei dem Staaten oder transstaatliche
Wirtschaftsunternehmen den Ton angeben. Auf der anderen Seite des konzeptuellen
Kontinuums finden wir Ansätze, die eher lebensweltlich orientiert sind und die mit
Hybrid-Identitäten ausgestattete TransmigrantInnen als neue Träger des Wider-
stands gegen eine neo-liberale Wirtschaftsideologie oder einen rabiaten Nationalis-
mus stilisieren und verklären (siehe u.a. Drainville 1998). Ohne eine Gesamtsicht
oder gar eine Synthese anzustreben, hebt sich das hier entwickelte und kurz skiz-
zierte Konzept Transstaatlicher Räume von beiden Richtungen ab.

4.1. Hybrid-Identitäten

Mit dem post-modernen Zeitalter der 1980er Jahre vollzogen insbesondere Anthro-
pologInnen eine Erweiterung des Begriffs Diaspora über die eben vorgestellte Be-
deutung hinaus. Während Diaspora früher die gewaltsam erzeugte Zerstreuung von
Menschen aus ihrem Heimatland bedeutete, wendeten einige ForscherInnen ihn
jetzt auch auf alle diejenigen an, die beispielsweise durch Migration, ständiges Rei-
sen, Tourismus und multiple Loyalitäten in verschiedenen Staaten gekennzeichnet
sind. Damit verbanden sie dann gleich die Beobachtung, daß die betreffenden Men-
schen eben nicht ständig und ausschließlich zu einer Gemeinschaft, wie beispiels-
weise einer Nation gehörten. Diese MigrantInnen seien Hybride – ganz allgemein:
Mischlinge bzw. Mischungen in Form von Identitäten. Dabei entwickelten sich
auch neue Mixturen von Sprachen (vgl. Bhabha 1994: Kap. 9). Und aus ihrer spezi-
ellen Position heraus könnten solche Diasporisten kritisch dominante Diskurse von
Nation und Liberalismus beleuchten (statt vieler vgl. Clifford 1994). Schnell gerinnen
dann transstaatliche Bezüge zu »dritten Räumen«.
Es ist dabei nicht recht klar, was nun Hybrid-Identitäten genau bedeuten sollen.
Bilden sie wirklich Mischungen, die »dazwischen« liegen? Und wenn ja, bedeutet
das »dazwischen« zugleich eine kosmopolitane Orientierung? Diese Frage stellt

124
Thomas Faist: Jenseits von Nation und Post-Nation

sich insbesondere auf dem Hintergrund der Forschungen zur Integration von Immi-
grantInnen. Dabei hielten US-amerikanische ForscherInnen im Begriff des »marginal
man« schon in den 1920er Jahren fest, daß ImmigrantInnen ohne integrative Ten-
denzen, also die »Entwurzelten«, sich am ehesten als kosmopolitan einstufen (Park
1950). Damit würde eine problematische Gleichsetzung von Nicht-Integration in
den Immigrationsländern und Kosmopolitanismus vorgenommen.
Weiterhin deutet hinsichtlich eines angeblich herrschaftskritischen Potentials der
Hybride in »dritten Räumen« jedoch nichts darauf hin, daß der sozial-relationale
Raum »dazwischen« nicht für alle möglichen Zwecke benutzt werden kann, so daß
aus dem Widerstand gegen dominante Herrschaftspraktiken Diskurse auch in ihr
Gegenteil gerinnen können. Trotz dieser Kritik öffnet die Diaspora- bzw. Hybri-
dität-Perspektive den Blick für eine differenziertere Betrachtung lebensweltlicher
Aspekte transstaatlicher Verflechtungen im Hinblick auf individuelle und kollektive
Identitäten. Sie ist aber zu ausschließlich einer post-nationalen Perspektive verhaftet,
als daß sie Aufschlüsse über sich widerstreitende oder auch ergänzende plurale Bin-
dungen über Staatsgrenzen hinweg geben könnte.

4.2. Weltgesellschaft

Für die moderne Systemtheorie existiert keine scharfe Trennung von Sozialem und
Räumlichem mehr. Anders gesagt: Sie geht nicht von einer Übereinstimmung von
sozialen Beziehungen und Raum aus. Damit folgt sie dem traditionellen Trend der
Soziologie, Vergesellschaftung als immer weniger durch räumliche Gegebenheiten
determiniert zu betrachten. Diese Einsicht wird nun über den Containerraum des
Staats hinaus angewandt. Dabei richtet die soziologische Systemtheorie ihren Blick
auf die Gesamtheit der Kommunikationen. Und die Triebkraft der gesellschaft-
lichen Entwicklung liegt in selbstreferentiellen, autopoietischen Wachstumsprozes-
sen: Kommunikation reproduziert sich durch Kommunikation. Daher fungieren ein-
zelstaatliche Gesellschaften nicht mehr als Einheit der Analyse, sondern die
Gesamtheit der möglichen Kommunikationsbeziehungen auf dem Globus, die
Weltgesellschaft (Luhmann 1975; vgl. Forschungsgruppe Weltgesellschaft 1997).
Dies kann, etwas überspitzt formuliert, als eine Variante der linguistischen Wende in
den Sozialwissenschaften gedeutet werden. Schließlich ist die Untersuchung von
Kultur als Kommunikation das Credo der modernen Semiotik (vgl. Eco 1972: 19).
Prinzipiell gibt es keine Beschränkung der Kommunikationen in der Gesellschaft,
so daß potentiell die Weltgesellschaft zum Referenzsystem wird. Die Entkoppelung
von Sozialem und Räumlichem gerinnt dann jedoch schnell zu einer post-modernen
Deterritorialisierung, die dann den MigrantInnen eine schier unmögliche Allgegen-
wärtigkeit zuschreibt. Fruchtbar für das Konzept Transstaatliche Räume ist dieser
Ansatz der Weltgesellschaft trotz alledem. Es gilt aber weiter zu spezifizieren, um
welche Arten von Kommunikation es geht und welchen Inhalt transstaatliche Be-
ziehungen haben.

ZIB 1/2000 125


Aufsätze

Im Unterschied zum Konzept der Weltgesellschaft arbeitet der Ansatz Transstaat-


liche Räume die historisch-genetische Dimension der Kommunikations- und sonstigen
transstaatlichen Bindungen heraus, bleibt also nicht in der Potentialität regional bzw.
global vorfindlicher grenzüberschreitender Bindungen stecken. Transstaatliche Be-
ziehungsgeflechte – gerade im Zusammenhang mit Flucht und Migration – stellen
kein völlig neues Phänomen dar. Die jahrhundertelange Existenz grenzüberschrei-
tender religiöser Großgruppen und der jüdischen Diaspora und nicht zuletzt die jahr-
zehntelange der armenischen und palästinensischen Exilantengruppen verweisen
darauf. Neu ist jedoch, daß seit Mitte der siebziger Jahre unseres Jahrhunderts die
Dichte der grenzüberschreitenden Beziehungen im Vergleich zur Zwischenkriegszeit
und der unmittelbaren Nachkriegsperiode dramatisch angestiegen ist, wenn wir
Kommunikation, Verkehr oder Reisen betrachten (vgl. Beisheim et al. 1999). Andere
Studien verweisen darauf, daß interstaatliche Migration zwar nicht unbedingt globaler
bzw. extensiver wurde, wohl aber intensiver im Hinblick auf das Wanderungsvolumen
zwischen den beteiligten Staaten (vgl. Faist 2000a: Kap. 2).

4.3. Globalisierung und Denationalisierung

Hinter dem Schlagwort »Globalisierung« verbirgt sich längst keine Gruppe von relativ
einheitlichen Paradigmen wie bei Weltsystem oder Weltgesellschaft. Dieser weitge-
hend diffuse Begriff bezieht sich auf Prozesse, welche die ganze Welt umspannen
und als »action at distance – the increasing interpenetration between individual lives
and global futures« (Giddens 1991: 26) gesehen werden kann. Eine solche Auffas-
sung weist darauf hin, daß sich neben wirtschaftlichen Austauschprozessen auch so-
ziale Beziehungen räumlich immer mehr ausdehnen; einige Globalisierungstheoretiker
des 19. Jahrhunderts gingen schon so weit, die voranschreitende Zerstörung von
Raum-Zeit durch den Verwertungsprozeß des Kapitals zu konstatieren (Marx 1974:
438). Die für unsere Zwecke interessantesten Vertreter situieren sich heutzutage zwi-
schen Hyper-Globalisierern und Globalisierungsskeptikern. Auf der einen Seite ex-
trapolieren die Hyper-Globalisierer die Zukunft aus den Gesetzen des Marktes her-
aus, und manche wenden diese Logik auf alle Sphären an: Alles ende in einer zuneh-
menden universellen Verdichtung von Zeit und Raum. Dazu zählen auch die
Vertreter der These von der Deterritorialisierung der Lebenswelten, die ein allgemei-
nes Anwachsen von Hypermobilität im Anzug sehen (Appadurai 1996). In dieser
kulturalistischen Variante der Hyper-Globalisierung folgen Prozesse der Hybridisie-
rung nicht ausschließlich den Gesetzen des Weltmarkts, sondern entwickeln eine
Eigendynamik. Auf der anderen Seite dieses intellektuellen Globus verweisen die
Globalisierungsskeptiker darauf, daß in vielerlei Hinsicht die Weltökonomie Ende
des 19. Jahrhunderts noch integrierter war als heute. Sie folgern daraus, daß Globali-
sierung nichts Neues sei und daß es keine fundamentale Umstrukturierung des inter-
staatlichen Systems gäbe (Hirst/Thompson 1996). Weiterführend ist hier die Idee,
daß Konzepte zwischen space of flows (Harvey 1989) und space of places (Ruggie
1998: 28-41) liegen, also zwischen einem ausschließlichen Fokus auf »grenzenlose«

126
Thomas Faist: Jenseits von Nation und Post-Nation

Tauschprozesse einerseits und einer Konzentration auf container-räumliche Einhei-


ten wie Staaten andererseits. Das Konzept Transstaatliche Räume setzt weder eine
völlige Entgrenzung, noch eine Ansammlung von unveränderten Organisationen,
Gemeinschaften und Territorialstaaten in einem interstaatlichen politischen System
voraus. Die Spannung zwischen Sozialem einerseits und Räumlichem andererseits
gilt es eben gerade nicht in Flüssen von Waren, Personen und Informationen auf-
zulösen, sondern vielmehr analytisch fruchtbar zu machen.
Manche Analytiker bemerkten, daß viele grenzüberschreitende Prozesse gar keinen
globalen Charakter aufweisen, sondern regional begrenzt sind, z.B. auf die Staaten
der OECD. Hierunter fallen etwa Migrationsbewegungen, die sich auf regionale
Migrationssysteme beschränken oder Umweltverschmutzungen, die in der Regel
vor allem Anrainerstaaten belasten. Ein Konzept, das nicht semantisch, wohl aber
inhaltlich dem der Transstaatlichen Räume nahekommt, ist das der Denationalisie-
rung »als Prozeß der Ausweitung der Verdichtungsräume gesellschaftlicher Interak-
tionen über den Nationalstaat hinaus« (Beisheim/Walter 1997: 175; vgl. Zürn 1998:
Kap. 2). Während nun Denationalisierung gesellschaftliche und staatliche Grenz-
überschreitungen und deren Konsequenzen für Regieren zu beleuchten sucht, zielt
die Forschung zu transstaatlichen Räumen schwerpunktmäßig darauf, die Rolle
nicht-staatlicher Gemeinschaften und Organisationen im Zusammenhang des
Tauschs von Ressourcen zu fassen, die sozialen und symbolischen Bindungen in-
härent sind.

5. Aufbrechen dichotomer Denkstrukturen:


das Beispiel doppelte Staatsbürgerschaft

Die folgende Diskussion um doppelte Staatsbürgerschaft zeigt, daß akademische


Ansätze Diskussionen um grenzüberschreitende Mitgliedschaften in politischen Ge-
meinschaften vorwiegend in einer dichotomen Weise führen. Als Ausgangspunkt
werden entweder die staatliche oder die Weltebene ausgemacht – Container-Raum.
Die Analysen setzen dann folgerichtig bei Kategorien wie der Mitgliedschaft in einer
Nation oder der Weltgesellschaft an. Das drückt sich beispielhaft in den idealtypi-
schen Konzepten nationale und post-nationale Staatsbürgerschaft aus. Damit wird
aber die wichtigste Kategorie von Mitgliedschaft im Hinblick auf grenzüberschrei-
tende Verdichtungsräumen – doppelte Staatsbürgerschaft – konzeptuell nicht erfaßt.
In ihrer lebensweltlichen Dimension fußt doppelte Staatsbürgerschaft auf sozialen
und symbolischen Bindungen, wie wir sie in transstaatlichen Räumen kennenge-
lernt haben. Doppelte bzw. multiple Staatsbürgerschaft ist gleichsam ein institutio-
nalisiertes Korrelat der lebensweltlichen Dimension von transstaatlichen Räumen.
Aus normativer Sicht dient Staatsbürgerschaft so vielfältigen Zielen wie der Legi-
timation von Herrschaft (Barbalet 1988), der Qualifikation von StaatsbürgerInnen
als aktive TeilnehmerInnen in der Politik (Preuß 1989) und dem Ausgleich markt-
förmiger und klassenspezifischer Ungleichheiten durch einen rechtlichen Status
(Marshall 1992). Die Frage ist nun, ob solche Ziele durch doppelte Staatsbürger-

ZIB 1/2000 127


Aufsätze

schaft gefährdet werden. Im folgenden soll gezeigt werden, daß das rapide Anwach-
sen von doppelter oder multipler Staatsbürgerschaft als eine Reaktion von Staaten
auf vermehrte transstaatliche Bindungen von neuen BürgerInnen interpretiert wer-
den kann. Sie gefährdet weder grundlegende Ziele staatlicher Herrschaft noch die
Integration von BürgerInnen in politischen Gemeinschaften.

5.1. Rapides Anwachsen doppelter Mitgliedschaften

In den letzten Jahren wuchs weltweit die Zahl derjenigen ImmigrantInnen sprunghaft
an, die eine neue Staatsbürgerschaft im Immigrationsland erwarben und dabei ihre
alte Staatsbürgerschaft beibehielten (Hammar 1990: 111). Ganz allgemein ist die
Ausbreitung doppelter Staatsbürgerschaft eine Folge des Erwerbs von Staatsbürger-
schaft unter liberalisierten Bedingungen, die eine größere Toleranz von Staaten ge-
genüber mehrfachen Mitgliedschaften andeuten. Schon in den 1980er Jahren resul-
tierten etwa ein Drittel aller Einbürgerungen in Deutschland in Doppelstaatlichkeit
(Brubaker 1989: 116). Dahinter verbergen sich folgende Entwicklungen:
(1) Diskriminierende Gesetze gegenüber Frauen, die einen Ehemann mit anderer
Staatsbürgerschaft heiraten, sind in großem Maße weggefallen. Viele Staaten erlau-
ben inzwischen, daß die Frauen die Staatsbürgerschaft des Mannes erwerben, ohne
ihre eigene aufzugeben (vgl. Hammar 1989: 81-83).
(2) Eine ganz wichtige Quelle doppelter Staatsbürgerschaft ist die Kombination
von ius soli (Territorialitätsprinzip: Staatsbürgerschaft wird durch Geburt in einem
Land erworben) und ius sanguinis (Abstammungsprinzip). Herrscht in dem Ge-
burtsland ius soli, so erwerben auch Kinder von AusländerInnen die Staatsbürger-
schaft. Falls die Staatsbürgerschaft der Eltern auch durch ius sanguinis weitergegeben
wird, so hat das Kind quasi automatisch zumindest eine doppelte Staatsbürger-
schaft. Umgekehrt erhöht sich auch in Ländern mit starken Ius-sanguinis-Elemen-
ten dann die Doppelstaatlichkeit, wenn Menschen aus Ius-soli-Ländern mit Ab-
stammung aus den ersteren einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung erhalten – so
etwa AussiedlerInnen aus Osteuropa in Deutschland; aber auch Irland und Israel
sind dafür Beispiele.
(3) Seit einigen Jahren tolerieren bzw. fördern immer mehr Emigrationsländer –
beispielsweise Italien, Israel, El Salvador, Kolumbien, Türkei, Irland und Griechen-
land – doppelte Staatsbürgerschaft. Es verwundert nicht, daß viele Staatsangehörige
gerade aus diesen Ländern gegenwärtig im Ausland leben.8 Eine weitere Quelle ist
die Tolerierung der bisherigen Staatsbürgerschaft durch den einbürgernden Staat,
viele von ihnen sind wichtige Immigrationsländer, so etwa Großbritannien, Kanada,
Schweiz und Neuseeland. Selbst in Ländern wie Deutschland, das bis 1999 in der
Regel nur in dem Falle die doppelte Staatsbürgerschaft erlaubte, wenn das Ur-
sprungsland seine BürgerInnen nicht entließ, wuchs die Zahl der Doppelstaatler seit
8 Weiterhin verweigern manche wichtigen Emigrationsländer wie der Iran die Aus-
bürgerung, so daß fast alle Immigrationsländer in diesen Fällen Ausnahmen gestatten
und doppelte Staatsbürgerschaft zulassen.

128
Thomas Faist: Jenseits von Nation und Post-Nation

den 1980er Jahren stark an. Inzwischen gibt es schätzungsweise über zwei Millionen
Deutsche mit einem zweiten oder gar dritten Paß.
(4) Auch das einschlägige Völkerrecht bildet inzwischen einen toleranteren Rah-
men. Ein Wandel läßt sich etwa an den interstaatlichen Konventionen zur Regelung
von Mehrfach-Staatsbürgerschaften ablesen. Während im Jahr 1963 noch die Mehr-
heit der europäischen Staaten das Europarats-Abkommen zur Vermeidung von
Mehrfach-Staatsbürgerschaft unterzeichnete, unterstützt heutzutage die Majorität
eine Konvention des Europarates,9 in der die Vermeidung von mehrfachen Staats-
bürgerschaften nicht mehr eines der Hauptziele darstellt – insbesondere beim
Zusammenwirken von ius soli und ius sanguinis, das eine Folge interstaatlicher
Migration darstellt.
Die doppelte Staatsbürgerschaft variiert hinsichtlich der jeweils garantierten
Rechte und Pflichten – speziell im Hinblick darauf, ob auch in den jeweiligen Staaten
grundsätzlich sämtliche Rechte und Pflichten wahrgenommen werden können.
Zwei Enden eines Kontinuums werden sichtbar: Am einen Ende stehen Personen,
welche Pässe und volle Rechte und Pflichten in zwei oder mehreren Staaten inneha-
ben. Hin zum anderen Ende des Kontinuums finden wir Graduierungen von doppel-
ter Staatsbürgerschaft mit eingeschränkten Rechten. Damit sind oft im Land bzw. in
den Staaten außerhalb des ständigen Wohnsitzes gewisse Einschränkungen für die
BürgerInnen verbunden. So führte im März 1998 die mexikanische Regierung ei-
nen solchen Status ein. Er erlaubt mexikanischen BürgerInnen eine Einbürgerung in
den USA, ohne daß sie ihre ursprüngliche Staatsbürgerschaft aufgeben, und ermög-
licht eine Wiederaufnahme der mexikanischen Staatsbürgerschaft, wenn diese in
der Vergangenheit aufgegeben wurde. Es ist nicht die volle Staatsbürgerschaft: So
können etwa in den USA lebende Inhaber der doble nacionalidad kein aktives oder
passives Wahlrecht in Mexiko ausüben, müssen umgekehrt aber auch nicht in den
mexikanischen Streitkräften dienen. Für die außerhalb Mexikos lebenden Immi-
grantInnen ist mit der doppelten Staatsbürgerschaft im Sinne von doble nacionalidad
das Recht verbunden, z.B. Grundeigentum zu erwerben und zu veräußern, zu erben
und öffentliche Universitäten zu besuchen. Sie sind dabei nicht den für Ausländer-
Innen geltenden Restriktionen unterworfen. Gleichzeitig erlaubt das neue mexikani-
sche Gesetz nicht die Weitergabe der doble nacionalidad an die Kinder der doppelten
Staatsangehörigen (vgl. Chavez 1997; Cebecioǧlu 1995).

5.2. Drei Konzeptionen von Mitgliedschaft in politischen Gemeinschaften:


nationale, post-nationale und doppelte Staatsbürgerschaft

Es stellt sich nun die Frage, welche Konzeption von Staatsbürgerschaft die grenz-
überschreitenden Bindungen von MigrantInnen am besten fassen kann. Dazu bieten
sich die drei idealtypischen Konzepte nationale, post-nationale und doppelte Staats-

9 »Europäisches Abkommen über die Staatsangehörigkeit« (1997); vgl. Hailbronner


(1999: 52).

ZIB 1/2000 129


Aufsätze

bürgerschaft an. Doppelte Staatsbürgerschaft liegt zwischen den Dichotomien


nationale und post-nationale Staatsbürgerschaft. Das Konzept nationaler Staatsbür-
gerschaft behandelt den Staat als eine Art Containerraum, in dem sich sämtliche
oder doch ein Großteil der relevanten sozialen Bindungen von BürgerInnen vollzie-
hen. Ein solches Konzept ist angesichts der oben diskutierten, grenzüberschreiten-
den Bindungen von ImmigrantInnen und anderen Mobilen (z.B. Beschäftigten von
multinationalen Konzernen, vgl. Ohmae 1996: Kap. 1) zumindest für die sogenannte
»erste« Migrantengeneration nicht realistisch. Auf der anderen Seite des konzeptuel-
len Spektrums verweist das Konzept post-nationaler Staatsbürgerschaft auf die
wichtiger werdende Relevanz von interstaatlichen Normen für Menschenrechte.
Aber Menschenrechte sind wohl noch kein vollwertiges Substitut für Staatsbürger-
rechte, weil in der Regel nur staatlich einklagbare Rechte umsetzbar sind. Demge-
genüber betont das Konzept doppelter Staatsbürgerschaft erstens die (wachsende)
Bedeutung transstaatlicher Bindungen für ImmigrantInnen, ohne sogleich in die Illu-
sion zu verfallen, Nationalität sei als Ausdruck von An- und Zugehörigkeit zu einer
politischen Gemeinschaft gegenüber kosmopolitanen Solidaritäten zurückgetreten.
Zweitens sind mit der Gewährung der doppelten Staatsbürgerschaft für Staaten oft
keine Nachteile sichtbar (vgl. Hailbronner 1999).

5.2.1. Nationale Staatsbürgerschaft

Die am weitesten verbreitete Form voller Mitgliedschaft ist diejenige in einem einzi-
gen Staat, für Einwanderer das Immigrationsland. Die zugrundeliegenden sozialen
und kulturellen Voraussetzungen beziehen sich auf einen Territorialstaat, in dem
sich ImmigrantInnen assimilieren bzw. auch mit mancherlei multikulturellen Rech-
ten integrieren. Anstelle von transstaatlichen Bindungen sind dabei primär die neu
entstehenden und entstandenen Bindungen der ImmigrantInnen an das Aufnahme-
land ausschließlich Kriterien für den Erwerb von Staatsbürgerschaft; über ausrei-
chende Kenntnisse der Landessprache auch Bekenntnisse zur Verfassung und eine
gelungene Integration in den Wohn- und Arbeitsmarkt. Dabei regeln diese Immigra-
tionsstaaten den Zugang von Kindern der ImmigrantInnen nach verschiedenen Prin-
zipien, wie etwa ius sanguinis und ius soli. Der Idealtypus ius soli ist natürlich immer
mit ius sanguinis kombiniert. Die USA kommen dem Ius-soli-Prinzip wohl am näch-
sten. In Israel finden wir im sogenannten »Law of Return« das Ius-sanguinis-Prinzip in
intergenerationeller Hinsicht am stärksten ausgeprägt. Aber auch Deutschland (bis
1999), Griechenland und Italien können als Beispiele gelten, in denen ius sanguinis
eine herausragende Geltung zukommt. Gerade die drei letztgenannten Länder be-
nutzten Regelungen wie ius sanguinis um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, um
die transstaatlichen Bindungen von Hunderttausenden von BürgerInnen, die nach Ame-
rika emigriert waren, zu stärken. Einer der Hauptgründe, weshalb das Deutsche Reich im
Jahr 1913 im Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz explizit auf ius sanguinis be-
harrte, war es, die zahlreichen deutschen Einwanderer in den USA weiterhin an das
Ursprungsland zu binden. Ironischerweise konnte also gerade das ethnischste aller

130
Thomas Faist: Jenseits von Nation und Post-Nation

Prinzipien von Staatsbürgerschaft aus der Sicht der Emigrationsländer sogar als ein
Einfallstor für eine doppelte Staatsbürgerschaft gelten, da die beiden Prinzipien ius
sanguinis und ius soli zusammen angewandt mehrfache Mitgliedschaften ergeben.
Neben den Prinzipienbündeln von Zuschreibung (ius soli und ius sanguinis) und Er-
werb gibt es auch noch die der Option (ius domicili): So besteht in vielen europäi-
schen Ländern die Möglichkeit für Kinder ausländischer Eltern, nach einer be-
stimmten Periode die jeweilige Staatsbürgerschaft des Niederlassungslandes zu
übernehmen, so z.B. in Frankreich, Schweden und den Niederlanden.
Eine der allen Prinzipien nationalstaatlicher Bürgerschaft in ihrer exklusiven Aus-
prägung zugrundeliegende Vorstellung ist, daß Staaten als moderne Demokratien
und Wohlfahrtsstaaten eines hohen Maßes an institutionalisierter Reziprozität und
Solidarität bedürfen, um Vertrauen zwischen BürgerInnen herzustellen und einen ge-
wissen Grad an Regulierung und Umverteilung in Marktverhältnissen zu sichern.
T.H. Marshall (1992) erkannte, daß die Anerkennung von Rechten einer zentralen
Fundierung in einem »Gemeinsamkeitsglauben« (Weber 1980: 235) bedarf, so daß
reziproke Rechte und Pflichten in einer kollektiven Identität verankert sind: »Der
Staatsbürgerstatus setzt [...] ein unmittelbares Gefühl der Mitgliedschaft in einer Ge-
meinschaft auf der Grundlage der Loyalität gegenüber einer Kultur, die von allen ge-
teilt wird [voraus]« (Marshall 1992: 62). Sicherlich können wir dieser Überlegung
insoweit folgen, daß Rechte und Pflichten kollektiver Vorstellungen über Verpflich-
tungen der BürgerInnen untereinander bedürfen, die Solidarität und Reziprozität
überhaupt erst ermöglichen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob diese Gemein-
schaft ausschließlich durch den Behälterraum einer territorial definierten Nation ge-
währt werden kann – oder ob diese nicht durch doppelte Staatsbürgerschaft oder gar
durch die Weltbürgerschaft als politische Gemeinschaft ergänzt bzw. gar ersetzt
werden können. Und da sich Staatsbürgerschaft nicht ausschließlich auf Bindungen
zwischen BürgerInnen und Staat, sondern noch viel grundlegender auch auf die der
BürgerInnen untereinander bezieht, ergibt sich darüber hinaus die Frage, ob trans-
staatliche Bindungen von ImmigrantInnen zu relativ Immobilen in ihrem Herkunfts-
land nicht einer wie auch immer gearteten rechtlichen Anerkennung bedürfen.

5.2.2. Post-nationale Staatsbürgerschaft

Ein in den letzten Jahren kontrovers diskutiertes Konzept grenzüberschreitender


Mitgliedschaft geht von der Beobachtung aus, daß Staatsbürgerschaft nach dem
Zweiten Weltkrieg einem tiefgreifenden Wandel unterlag: Ihre beiden wesentlichen
Komponenten – Identität und Rechte – seien immer stärker voneinander getrennt
worden. Innerhalb des Rahmens der Menschenrechte würden Rechte, die ehemals
mit der Zugehörigkeit zu einer nationalen Gemeinschaft zusammenhingen, zuneh-
mend abstrakt und auf globaler Ebene legitimiert. Das heißt, daß ImmigrantInnen
auch als Nicht-BürgerInnen signifikante Rechte erwerben und ausüben können
(Soysal 1994); so etwa soziale Rechte und sogar politische Rechte wie das kommu-
nale Wahlrecht für Nicht-EU-BürgerInnen in den Niederlanden und Schweden. Im

ZIB 1/2000 131


Aufsätze

Grunde genommen geht das Konzept post-nationale Staatsbürgerschaft davon aus,


daß Menschenrechte eine starke Bedeutung für den Rechtsstatus von ImmigrantInnen
gewonnen haben und daß sich somit Menschenrechte stark an Bürgerrechte an-
genähert haben. Durch interstaatliche Diskurse und Institutionen angeregt hätten
Staaten immer stärker Menschenrechte gewährt, unabhängig von der jeweiligen
Staatsbürgerschaft der Bewohner auf ihrem Territorium (D. Jacobson 1995). Men-
schenrechte können so als wirksamer Teil einer Weltkultur bzw. einer Weltgesell-
schaft interpretiert werden. Eine solche Behauptung hat durchaus Neuigkeitswert:
Bis in die 1940er Jahre hinein galt ja die Einsicht, daß das Recht auf Staatsbürger-
schaft ein fundamentales »Recht auf Rechte« sei (Arendt 1949). Dies ging auf die Er-
fahrung der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg zurück, in der staa-
tenlose Personen keinerlei supra-staatliche Autorität hatten, an die sie sich wenden
konnten. Die Post-Nationalisten glauben nun, solche Institutionen in Form von inter-
staatlichen Konventionen und der durch sie ausgelösten Wirkung von Diskursen ge-
funden zu haben.
Sehen wir einmal von der Tatsache ab, daß auf absehbare Zeit keine effektiven supra-
staatlichen Institutionen existieren werden, die Menschenrechte weltweit garantieren,
dann stellen sich zwei grundlegende Probleme für diesen Ansatz. Erstens gibt es eine
konkurrierende und einfachere Erklärung für die Beobachtung, daß niedergelassene
ImmigrantInnen auch als rechtliche Ausländer an mancherlei Rechten teilzuhaben
vermögen. Nehmen wir das Beispiel soziale Rechte. Der Zugang zu sozialen Rechten
beruht in Wohlfahrtsstaaten seit Anbeginn in der Regel nicht auf Nationalität, sondern
auf Niederlassung an einem bestimmten Ort in einem markierten Territorium (vgl.
Faist 1995).
Zweitens implizieren post-nationale Konzepte die Universalität von Menschen-
rechten als ein sich entwickelndes Substitut für Nationalität. Denn eine Gewährung
von Rechten setzt immer eine Form von generalisierter Reziprozität bzw. diffuser
Solidarität voraus. Zwar sehen die Postnationalisten, daß im Gegensatz zur Ent-
grenzung von Rechten kollektive Identitäten weiterhin als partikulare und territorial
gebundene wahrgenommen werden. Aber ohne eine wie auch immer geartete natio-
nenübergreifende Identität wären supra-staatlich geltende Rechte doch gar nicht
vorstellbar. Es scheint nun sehr gewagt, eine kollektive Identität »WeltbürgerIn«
mit Bereitschaften für Solidaritäts- und Reziprozitätsleistungen auszustatten, die
bisher nur auf staatlicher und sub-staatlicher Ebene zu finden sind. Angesichts des
Umbaus fortgeschrittener Wohlfahrtsstaaten seit Anbeginn mutet es geradezu ver-
messen an, hohe moralische Anforderungen auf globaler Ebene zu implizieren.
Kurz gesagt schließen viele post-national angehauchte BeobachterInnen von uni-
versell Gültigkeit beanspruchenden Menschenrechten übereilt auf die reale Existenz
einer kosmopolitanen Mitgliedschaft. Das ist aber unrealistisch, wie schon Immanuel
Kant vor langer Zeit erkannte: Die Koexistenz mehrerer Staaten ist der möglichen
Despotie eines globalen Staates vorzuziehen (Kant 1984: 53). Allerdings sollte aus
der Unwahrscheinlichkeit, staatliche Strukturen auf globaler Ebene einfach zu repli-
zieren, nicht einfach der Schluß gezogen werden, daß Mitgliedschaft nur auf der Ebene
eines Staates möglich wären.

132
Thomas Faist: Jenseits von Nation und Post-Nation

5.2.3. Doppelte Staatsbürgerschaft

Doppelte Staatsbürgerschaft erlangt gegenwärtig eine immer stärkere Relevanz für


ImmigrantInnen und Regierungen. Erstens sind, wie bereits dargestellt, im Zeitalter
der »Globalisierung« äußerst günstige Bedingungen für das Entstehen und den Erhalt
von relativ dauerhaften transstaatlichen Räumen in Form von themenzentrierten Netz-
werken und grenzüberschreitenden sozialen Bewegungen, transstaatlichen Gemein-
schaften wie Diasporas und transstaatlichen Organisationen gegeben. Zweitens ist es
wohl kein Zufall, daß in öffentlichen Debatten gerade nach den beiden Weltkriegen
und dem Kalten Krieg das Thema »doppelte Staatsbürgerschaft« Einzug gehalten hat.
Nationale Staatsbürgerschaft muß immer auch in Abgrenzung zu anderen Nationen
und auch Nicht-StaatsbürgerInnen im jeweiligen Territorium des Nationalstaats ge-
dacht werden. Kurz gesagt: Die askriptiven und exklusiven Merkmale von Gruppen
dienen unter anderem dazu, die Loyalität ihrer Mitglieder zu gewinnen und zu erhalten.
Das gilt auch für politische Gemeinschaften wie moderne Nationen. In bestimmten
Situationen können Grenzen gegenüber Außenstehenden zum Gemeinschaftsgefühl
beitragen: Heiße und kalte Kriege bilden dann einen idealen Nährboden für die Ex-
pansion nationaler Staatsbürgerschaft – wie die Beispiele England während und un-
mittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und die USA während des Kalten Krieges na-
helegen. Umgekehrt wird gerade in Zeiten, in denen öffentliche Stimmen einen Krieg
zwischen Immigrations- und Emigrationsländern als sehr unwahrscheinlich ansehen,
der Ruf von MigrantInnen nach doppelter Staatsbürgerschaft lauter. Dabei sind Re-
gierungen dann in solchen Perioden eher geneigt, doppelte Staatsbürgerschaft zu tole-
rieren.
Es gibt eine generelle Hintergrundbedingung im interstaatlichen System dafür,
daß insbesondere Immigrationsländer Doppelstaatler tolerieren. Diese reicht zwar
über Einzelstaaten hinaus, ist aber beileibe nicht als globale Komponente zu den-
ken, wie dies manche VertreterInnen post-nationaler Optionen gerne hätten. Dabei
handelt es sich um die Abwesenheit bzw. Unwahrscheinlichkeit von Krieg zwi-
schen den beteiligten Staaten. Deutlich ist, daß innerhalb der OECD-Welt die
Wahrscheinlichkeit von Kriegen der Staaten untereinander deutlich gefallen ist. In
einem ersten Schritt ist also zu beachten, daß Demokratien keine Kriege gegenein-
ander führen (vgl. Russett 1993). Allerdings hat ein Gutteil von interstaatlicher Mi-
gration ihren Ursprung in Nicht-OECD-Ländern. Zwar sind nicht alle Mitglieder
der OECD auch Angehörige der EU. Nichtsdestotrotz gibt die EU darüber deutlich
Aufschluß: Insgesamt sind nur ein Drittel aller jeweiligen Nichtstaatsangehörigen
in den einzelnen Mitgliedstaaten BürgerInnen anderer EU-Länder. Zwei Drittel
kommen aus Ländern außerhalb der EU, die zum großen Teil nicht der OECD an-
gehören. Jedoch ist ein anderes und damit zusammenhängendes Argument plausi-
bler: Die Regimes, mit denen Immigrationsländer Krieg führen, sind zumeist auto-
ritäre und undemokratische Regime und verfügen bei vielen ihrer im Ausland
lebenden BürgerInnen über ein geringes Maß an Legitimität; so nahmen zum Beispiel
die meisten irakischen AmerikanerInnen in den USA im ersten Golfkrieg von 1990-
91 nicht Saddam Husseins Position ein. Es ist also nicht die Abwesenheit von

ZIB 1/2000 133


Aufsätze

Krieg, sondern die Dominanz des Demokratieprinzips als moralischer Grundlage,


die ein staatsübergreifendes und auch bei vielen ImmigrantInnen weithin akzeptiertes
politisches Meta-Prinzip darstellt. Aus dieser Sicht kann doppelte Staatsbürger-
schaft sogar für das Einbürgerungsland von Vorteil sein; nämlich dann, wenn es an
einem »Export« demokratischer Werte und Denkweisen in die Herkunftsländer in-
teressiert ist (vgl. Spiro 1997: 1477).
Die Aktivitäten von MigrantInnen in transstaatlichen Räumen legen nahe, daß
auch die Mitgliedschaft in politischen Gemeinschaften über die Zugehörigkeit zu
einer Nation hinausgehen kann. Allerdings haben die Hauptbeteiligten – die Immi-
grantInnen, die Emigrations- und die Immigrationsländer – jeweils etwas anders ge-
lagerte Kosten- und Nutzenkalküle.

5.2.3.1. Nutzen für ImmigrantInnen

Für viele ImmigrantInnen der ersten Generation liegen die vielfältigen Nutzen mul-
tipler Mitgliedschaft auf der Hand. Eine Fülle empirischer Evidenz belegt, daß Im-
migrantInnen in der Regel über ihre ganze Lebensspanne hinweg mannigfache so-
ziale und symbolische Bindungen ins Emigrationsland pflegen (vgl. Faist 2000a:
Kap. 7 & 8). Das legen auch repräsentative Umfragen unter ImmigrantInnen der er-
sten Generation aus der Türkei in Deutschland und aus Mittel- und Südamerika in
den USA nahe. In der Bundesrepublik Deutschland favorisiert daher nicht von unge-
fähr eine Mehrheit der einbürgerungsfähigen ImmigrantInnen doppelte Staatsbür-
gerschaft gegenüber der exklusiven deutschen Staatsbürgerschaft als eine Anerken-
nung ihrer mehrfachen Bindungen (Kılıç 1994: 75; vgl. Pachón/DeSipio 1994 und
Jones-Correa 1998 zu Latinos in den USA). Aus der Sicht von ImmigrantInnen und
deren Angehörigen ist doppelte Staatsbürgerschaft vor allem deshalb wünschens-
wert, weil sie die psycho-sozialen Kosten für den Erwerb der vollen Mitgliedschaft
im Immigrationsland entscheidend senken kann: ImmigrantInnen sind dann eher
geneigt, zusätzlich zur Staatsbürgerschaft des Emigrationslandes auch diejenige ihrer
neuen Heimat zu erwerben (Goldberg/Humpert 1998: 17). Dadurch wird politische
Partizipation überhaupt erst ermöglicht und verleiht somit dem Integrationsprozeß
neuen Schwung. Aus der Sicht der ImmigrantInnen kann es, je nach rechtlicher und
sozialer Lage, weitere Gründe für den Erwerb doppelter Staatsbürgerschaft geben:
erhöhter Schutz vor Ausweisung im Immigrationsland, ökonomische Vorteile (z.B.
Erbrecht), politische Partizipation auch im Emigrationsland (u.a. Briefwahl, Äm-
ter), erweiterte Reisefreiheit (z.B. Drittstaatler in EU) und vor allem die Möglich-
keit, symbolische Bindungen an und in die Herkunftsländer rechtlich auszudrücken.
Solche Überlegungen haben auch Implikationen für die Personengruppe, die ge-
rechtfertigterweise dann in den Genuß doppelter Staatsbürgerschaft kommen sollte.
Empirische Evidenz für die Relevanz von transstaatlichen Bindungen sozialer und
symbolischer Art und der spezifischen Erfahrung von Liminalität existiert auf ge-
sicherter Basis für die Zeit nach 1960 bisher nur für die erste Immigrantengeneration.
Es gibt aber einige intergenerationelle transstaatliche Gemeinschaften, wie etwa

134
Thomas Faist: Jenseits von Nation und Post-Nation

jüdische, armenische und palästinensische Diasporas. Für derartige Gemeinschaften


zumindest müßte die Gewährung bzw. Tolerierung von doppelter Staatsbürger-
schaft über die erste Generation der Flüchtlinge hinaus näher geprüft werden. Im
Endergebnis mag das bedeuten, daß nicht alle Typen von transstaatlichen Räumen
eine relevante Grundlage für doppelte Staatsbürgerschaft bilden. Es sollten aber auf
jeden Fall Bindungen an transstaatliche Kleingruppen und transstaatliche Gemein-
schaften berücksichtigt werden.

5.2.3.2. Nutzen für Emigrationsländer

Regierungen von Emigrationsländern – von denen die zahlenmäßig wichtigsten in-


zwischen alle bestimmte Formen von doppelter Staatsbürgerschaft erlauben – ha-
ben mindestens drei Gründe, warum sie der institutionalisierten Anerkennung trans-
staatlicher Solidarität und Reziprozität nicht im Wege stehen, sondern sie zum Teil
gezielt fördern. Erstens ist es ihr Anliegen, den Status ihrer BürgerInnen im Aus-
land zu stärken, um so ihrer Verpflichtung zum Schutz ihrer Untertanen nachzu-
kommen (vgl. Freeman/Ögelman 1998). Ob dies realiter immer geschieht, ist eine
andere Frage. Aber rhetorisch sind fast sämtliche Vertretungen der Emigrationsländer
wahre Künstler, wenn es um die Protektion ihrer BürgerInnen in fremden Landen
geht. Zweitens muß diesen Regierungen daran gelegen sein, die Bindungen an eine
Person zu erhalten, welche die Staatsbürgerschaft eines Immigrationslandes an-
nimmt, schon alleine deswegen, um den Fluß an Rücküberweisungen und Investi-
tionen nicht zu gefährden. Darüber hinaus verfolgen z.B. lateinamerikanische Emi-
grationsländer im Hinblick auf Doppelstaatlichkeit auch wirtschaftlich-defensive
Ziele: Es wäre ihnen höchst unwillkommen, wenn StaatsbürgerInnen in großem
Umfang zurückkehren würden. Doppelte Staatsbürgerschaft ist eine Art Absiche-
rung gegen Ausweisung ihrer BürgerInnen aus den USA.
Drittens sehen manche Inhaber politischer Macht in den Emigrationsländern dop-
pelte Staatsbürgerschaft als eine Möglichkeit an, ihre BürgerInnen im Ausland als
eine Lobby für ihre Regierungspolitik einzusetzen. So versucht Mexiko seit Anfang
der 1990er Jahre verstärkt, durch eine schwache Form doppelter Staatsbürgerschaft
die Bande zu ihren BürgerInnen in den USA nicht abreißen zu lassen (vgl. R. Smith
1999: 198-201). Doppelte Staatsbürgerschaft trägt auch den mexikanischen Wahl-
kampf verstärkt in die USA, genauso wie im Falle der Dominikanischen Republik. Es
gibt allerdings Hinweise darauf, daß die transstaatlichen Strategien der mexikani-
schen Regierung wichtiger für die mexikanische Innenpolitik als für die Interessen
der in den USA lebenden mexikanischen AmerikanerInnen sind. Somit ist es für die
mexikanische Regierung sehr schwierig, mexikanische AmerikanerInnen für ihre
Ziele zu gewinnen. So nahmen im Hinblick auf das North American Free Trade
Agreement (NAFTA) die in den USA niedergelassenen mexikanischen Amerika-
nerInnen in der Mehrheit andere Positionen als die mexikanische Regierung ein.
Und es ist selbst bei doble nacionalidad nicht gesagt, daß die Inhaber dieses Status
auch in den USA wählen oder ihre Stimme gar gemäß den Interessen der mexikani-

ZIB 1/2000 135


Aufsätze

schen Regierung abgeben. Insgesamt zeigen die mexikanischen AmerikanerInnen


relativ wenig Interesse für mexikanische Innenpolitik (de la Garza 1997; vgl.
Schmitter Heisler 1984 zum italienisch-deutschen Fall). Deshalb sind die Befürch-
tungen seitens der Immigrationsländer hinsichtlich der Schaffung oder Stärkung einer
Diaspora durch Doppelstaatlichkeit überzogen.

5.2.3.3. Vernachlässigbare Kosten für Immigrationsländer

Die Kosten- und Nutzenkalküle der Immigrationsländer drehen sich im wesent-


lichen um zwei Eckpunkte: die Loyalitäten von BürgerInnen gegenüber Staaten und
die Integration von ImmigrantInnen. Für beide Themenfelder öffnen sich eine Viel-
zahl von Fragen, für deren Beantwortung empirisch nur sehr wenig Informationen
vorliegen (vgl. Deutscher Bundestag 1999). Das vorhandene Wissen deutet aber
darauf hin, daß durch die Tolerierung doppelter Staatsbürgerschaft keine nennens-
werten Kosten auf die Immigrationsländer zukommen. Im folgenden soll daher so
verfahren werden, daß die Einwände gegen doppelte Staatsbürgerschaft zurückge-
wiesen werden.
Ein immer wieder zu hörendes Argument gegen doppelte Staatsbürgerschaft ist
ein vermehrter »Konfliktimport« aus den Emigrationsländern, insbesondere durch
anti-demokratische Assoziationen. Allerdings zeigt der angesammelte Schatz empi-
rischer Erfahrung über die letzten zweihundert Jahre in dieser Hinsicht, daß trans-
staatliche Bezüge bzw. Organisationen von MigrantInnen auf lange Sicht gesehen
in keinem Immigrationsland Europas oder Amerikas je eine Gefahr für etablierte
Demokratien darstellten. Sie bildeten immer nur Minoritäten, die sich an die jeweili-
gen länderspezifischen Gegebenheiten anzupassen hatten; ein Faktum, das heute
leicht durch multikulturelle Politiken abgemildert, aber nicht grundsätzlich verän-
dert ist. Die empirische Evidenz verweist eher auf das Gegenteil der Befürchtungen,
denn durch doppelte Staatsbürgerschaft kommen ImmigrantInnen noch eher in
Kontakt mit Institutionen des Immigrationslands. Im deutsch-türkischen Falle kann
beispielsweise keine Rede davon sein, daß an der als Ableger der islamischen Partei
in der Türkei in Deutschland gegründeten Milli Görüș Adaptionsprozesse spurlos
vorübergegangen seien (vgl. Trautner 2000). Die rigiden Anforderungen, die isla-
mische Organisationen erfüllen müssen, um in Zukunft die rechtliche Position einer
Körperschaft des öffentlichen Rechts zu erreichen, erfordern eine Konzentration der
Energien auf Sozialarbeit, Religionsunterricht und finanzielles Engagement für eine
organisatorische Infrastruktur in Deutschland.
Eine kritische Betrachtung der Annahme ungeteilter Loyalität ergibt also, daß
Doppelstaatlichkeit nicht unbedingt Widersprüche hinsichtlich demokratischer
Prinzipien und Werte bei den neu Eingebürgerten aufwerfen. Kurzum: Die Annahme,
Abwanderung führe zur Unterhöhlung demokratischer Prinzipien, basiert auf der
fragwürdigen Vermutung, daß Loyalität unteilbar ist. Und was populistische Ge-
genreaktionen auf Neu-Eingebürgerte bezüglich mangelnder Loyalität betrifft, so
richten sich diese aber in der Regel in Krisensituationen wie Kriegen auch gegen

136
Thomas Faist: Jenseits von Nation und Post-Nation

solche, die eine »einfache« und keine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen (vgl.
Hammar 1989: 90). Es ist auch nicht zwingend, daß die Loyalität gegenüber dem
Herkunftsland größer als die zum neuen Aufnahmeland ist. Die Annahme der Kriti-
ker doppelter Staatsbürgerschaft, daß BürgerInnen aus den Herkunftsstaaten sozu-
sagen schutzlos der Propaganda ausgesetzt seien, verliert bei näherer Betrachtung
ebenfalls an Plausibilität – wie schon weiter oben bei der Diskussion über den Ein-
fluß der mexikanischen Regierung über ihre BürgerInnen im Ausland deutlich wurde.
In diesem Zusammenhang läßt sich auch das Argument zurückweisen, Doppel-
staatlichkeit verletze die Identitätsannahme, indem BürgerInnen eventuell an Geset-
zen mitwirken, sich durch Abwanderung aber dem Geltungsbereich entziehen. Sou-
veräne Staaten können durchaus das Wahlrecht von Doppelstaatlern einschränken,
insbesondere wenn diese im jeweils anderen Staat ihren gewöhnlichen Aufenthalt
haben. Dies folgt aus der Idee, daß jeweils die Staatsbürgerschaft in einem Lande
»ruhen« kann und dann erst wieder aktiviert wird, wenn dort eine Niederlassung er-
folgt (vgl. Hammar 1990: 124). Der Gedanken einer ruhenden Staatsbürgerschaft
als Teil von Doppelstaatlichkeit wäre relativ einfach durch bi- bzw. multilaterale
Abkommen zwischen den betroffenen Staaten zu implementieren.
Eine kurze historische Rückblende zeigt, daß plurale Loyalitäten zu verschiede-
nen Staaten höchst kompatibel sein können. So unterstützten die Nachfahren polni-
scher Einwanderer in den USA die national gesinnte Solidarnosc-Bewegung in Polen
zu Anfang der 1980er Jahre. Und manch amerikanischer Jude spendet mit ganzem
Herzen für das Überleben und Gedeihen des Staates Israel (vgl. M.F. Jacobson
1995). Erfolgreiche Akkulturation im Immigrationsland und starke emotionale und
symbolische Bindungen an das Herkunftsland können auch noch in der vierten oder
fünften Generation miteinander einhergehen.
Eine noch weitergehende Kritik an der exklusiv-nationalen Sichtweise ungeteilter
Loyalität würde betonen, daß mehrfache Identitäten dazu verhelfen können, inter-
staatliche Spannungen durch transstaatliche Bindungen abzumildern. Dies käme
auch der Durchsetzung von Menschenrechten in den Emigrationsländern zugute.
Gerade hierin liegt eine der Bedeutungen transstaatlicher Menschenrechtsnetz-
werke, in denen BürgerInnen im Rahmen von Organisationen aus den Emigrations-
und Immigrationsländern mit genuin transstaatlichen Gebilden wie Amnesty Inter-
national kooperieren (vgl. Liese 2000). Insofern können transstaatliche Räume in
Form von themenzentrierten Netzwerken an der Verbreitung demokratischer Prinzi-
pien Bedeutung erlangen.
Kritiker doppelter Staatsbürgerschaft argumentieren weiterhin, daß neue Bürge-
rInnen bei mehrfachen, transstaatlichen Bindungen – insbesondere an transstaat-
liche Gemeinschaften und Organisationen – eine zu starke instrumentelle und eine zu
geringe gefühlsmäßige Bindung an die Immigrationsstaaten entwickelten. Das be-
hindere die Integration der eingebürgerten ImmigrantInnen. Besonders das Auf-
kommen enger fundamentalistisch-religiöser und nationalistischer Identitäten, die
grenzüberschreitend wirken und »Konfliktexporte« aus den Emigrations- in die Im-
migrationsländer ermöglichen, würden ein Gefühl für gemeinsame Mitgliedschaft
in einer politischen Gemeinschaft untergraben. Denn religiöse Eiferer, die primär

ZIB 1/2000 137


Aufsätze

transstaatliche Projekte verfolgen und Diasporakrieger, die für einen Nationalstaat


am anderen Ende des Globus kämpfen, dürften voraussichtlich nicht immer mit
ganzem Herzen der auf je unterschiedliche Weise wirksamen staatsbürgerlichen
Raison des Immigrationslandes dienen.
Diese Kritik an doppelter Staatsbürgerschaft übersieht jedoch, daß volle Mit-
gliedschaft eine Grundvoraussetzung für gemeinsinnige Partizipation in Form von
Reziprozität und Solidarität ist. Denn viele niedergelassene ImmigrantInnen lassen
sich nicht einbürgern, weil sie symbolische Bindungen an die Herkunftsländer nicht
verlieren wollen (Șen/Karakasoǧlu 1994). Während es nun in vielen Bereichen
außerhalb der politischen Partizipation ohnehin oft nur geringfügige Unterschiede
zwischen Staatsangehörigen und niedergelassenen ImmigrantInnen gibt, ist der Er-
werb ziviler und sozialer Rechte kein großer Anreiz für die Einbürgerung. Ohne
Staatsbürgerschaft ist aber keine volle politische Partizipation auf allen Ebenen
möglich. Das bedeutet, daß Staatsbürgerschaft Voraussetzung für die Integration
ins politische Gemeinwesen und nicht deren krönender Abschluß sein kann. Daher ist
auch die Debatte um Staatsbürgerschaft als Anfang oder Ende des Integrationspro-
zesses von ImmigrantInnen völlig fehlgeleitet.

6. Zusammenfassung und Ausblick

Angesichts dieser mehrheitlich für doppelte Staatsbürgerschaft sprechenden Argu-


mente wird deutlich, daß die Kosten für die Immigrationsstaaten gering und der
Nutzen für ImmigrantInnen eher hoch anzusetzen sind. Doppelte Staatsbürgerschaft
bildet bei Abwesenheit von Kriegen zwischen den beteiligten Staaten keine imma-
nente Gefahr für die notwendigen Loyalitäten von BürgerInnen zu den jeweiligen
nationalen und multinationalen Staaten. Eher fördert doppelte Staatsbürgerschaft
aufgrund der Anerkennung von transstaatlichen sozialen und symbolischen Bindun-
gen die Bereitschaft von ImmigrantInnen zur Integration in den Immigrationslän-
dern, senkt die Kosten der Einbürgerung und erhöht so die Einbürgerungsquoten;
womit wiederum dem Demokratiegebot der weitestgehenden Deckungsgleichheit
von Volk und dauerhaft niedergelassener Bevölkerung Rechnung getragen wird.
Somit ist der Vergleich mit einem »doppelten Doppelpaß« (Gerdes 2000; vgl. Esser
1991) angemessen: Der »Doppelpaß« als politisch tolerierte Regel bzw. System
einerseits und die transstaatlich orientierten BürgerInnen als psychische Systeme an-
dererseits ergänzen sich. Und »doppelt« wird diese außersportliche Form des Dop-
pelpasses auch dadurch, daß wir es hier mit mehrfachen transstaatlichen Bindungen
von BürgerInnen mit mindestens zwei souveränen Staaten und den Beziehungen die-
ser Staaten untereinander zu tun haben.
Die konzeptionelle Skizze Transstaatliche Räume und das Fallbeispiel doppelte
Staatsbürgerschaft legen nahe, daß der hier vorgestellte Ansatz eine sinnvolle Ergän-
zung von theoretischen Konzepten bilden kann, die Innenpolitik und grenzüber-
schreitende Beziehungen zu verbinden suchen. Dem Beispiel interstaatliche Migration
und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für Mitgliedschaft in politischen Ge-

138
Thomas Faist: Jenseits von Nation und Post-Nation

meinschaften kommt hier die Rolle eines exemplarischen Falles zu, weil sich dabei sy-
stemische und lebensweltliche Aspekte der bisherigen Forschung zusammenführen
lassen. Die ältere Transnationalismus-Forschung konzentrierte sich in den 1960er
und 1970er Jahren auf systemisch ausgerichtete Analysen von Großorganisationen
wie multistaatliche Konzerne. Die Überlegungen zu Migrationsnetzwerken und relativ
dauerhaften transstaatlichen sozialen und symbolischen Bindungen von MigrantIn-
nen führen im Unterschied dazu auch zur Berücksichtigung von stark lebensweltlich
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ZIB 1/2000 139


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144
Christian Joerges

Transnationale deliberative Demokratie oder


deliberativer Supranationalismus?
Anmerkungen zur Konzeptualisierung legitimen Regierens jenseits
des Nationalstaats bei Rainer Schmalz-Bruns

Der Beitrag kontrastiert zwei Ansätze zur Konzeptualisierung legitimen Regierens


jenseits des Verfassungsstaats, die beide unter dem Titel »deliberativer Supranatio-
nalismus« auftreten. Rainer Schmalz-Bruns hat seine Version, die auf einen nicht-
staatlichen, nicht-nationalen Konstitutionalismus und eine reflexive supranationale
Institutionenpolitik zielt, als systematische Fortschreibung deliberativer Demokra-
tiekonzepte insbesondere bei Joshua Cohen, Michael Dorf und Charles Sabel ent-
wickelt. Demgegenüber haben der Autor dieses Beitrags und Jürgen Neyer ihre
Vorstellungen aus einer Analyse und Rekonstruktion institutioneller Entwicklungen
und Entscheidungspraktiken im Prozeß der europäischen Marktintegration gewon-
nen. Dabei geht es, anders als Schmalz-Bruns dies wahrgenommen und kritisiert
hat, nicht um die Absegnung eines technokratischen Paternalismus, sondern um
eine Alternative zur Programmatik eines von »non-majoritarian institutions« be-
herrschten europäischen »Regulierungsstaats«, wie sie insbesondere Giandomeni-
co Majone vertritt. Die innovativen und normativen Qualitäten des europäischen
Projekts können allerdings nur zur Geltung kommen, wenn man es tatsächlich als
Experiment behandelt, also von der Notwendigkeit der Entdeckung neuer institutio-
neller Arrangements ausgeht, jene dafür unabdingbare Autonomie gewährt und erst
auf der Grundlage (neuer) Erfahrungen korrigierend eingreift.

1. Einführung

In seinem Beitrag zum »deliberativen Supranationalismus« in dieser Zeitschrift1 hat


Rainer Schmalz-Bruns die Vorstellungen, die Jürgen Neyer und ich mit diesem Be-
griff im Rahmen eines Forschungsprojekts zum europäischen Ausschußwesen ent-

1 ZIB 6 (1999): 1, 185-242 – und in einem darauf aufbauenden Beitrag »Demokratisierung


der Europäischen Union – oder: Europäisierung der Demokratie? Das Projekt Europa in
herrschaftskritischer Perspektive« zur Tagung des DVPW-Arbeitskreises »Europäische
Integration« über »Macht und Herrschaft in der EU« am 30.9./1.10.1999 in Bremen.

Zeitschrift für Internationale Beziehungen 145


7. Jg. (2000) Heft 1, S. 145-161
Forum

wickelt haben,2 einer mehrschichtigen Kritik unterzogen. Im Ergebnis besagt diese


Kritik, wir favorisierten in unserer Version eines »deliberativen Supranationalis-
mus« ein »traditionell technokratisches Modell der Politikberatung«, das gerade
nicht dazu tauge, das europäische Regieren an die normativen Maßstäbe der Theorien
deliberativer Demokratie zurückzubinden. Dieser Vorhalt ist zunächst einfach des-
halb schmerzlich, weil unser Interesse an der Praxis des Europäischen Ausschuß-
wesens von der Prämisse ausgeht, daß »technokratische« Konzeptualisierungen der
Europäischen Union (EU) als »regulatory state«, wie sie insbesondere Giandome-
nico Majone (1994, 1996a, 1996b) entwickelt hat, aus normativen Gründen nicht
attraktiv, aber auch praktisch nicht umsetzbar seien (vgl. schon Joerges 1991b,
1999; Neyer 1999a, 1999b).
Der Technokratie-Verdacht ist aber durch den Hinweis auf andere Intentionen allein
nicht zu entkräften. Es kommt vielmehr darauf an, ihn im Gesamtkontext der Argu-
mentation von Schmalz-Bruns (1999) zu lesen. Er besagt dann, daß unser Versuch, in
der real existierenden Praxis der regulativen Politik Europas eine Alternative aufzu-
weisen, die das Schisma positiv-technokratischer Regulierungskonzepte einerseits
und negativ-deregulativer Integrationsstrategien andererseits überwinde, jedenfalls
normativ nicht überzeuge – wie immer es denn um die faktische Plausibilität unserer
Behauptungen bestellt sein möge. Diese Differenzen hängen mit Diskrepanzen unserer
Vorgehensweisen zusammen. Wir teilen zwar den Ausgangspunkt, daß es möglich
und geboten sei, sich bei der Auseinandersetzung mit der Legitimitätsproblematik
transnationalen Regierens jedenfalls auf die EU in einer »konstruktiven« Weise ein-
zulassen, weil Forderungen nach einer Demokratisierung Europas, um eine Formel
von Schmalz-Bruns aufzugreifen, mit »in gewisser Weise entgegenkommenden« In-
stitutionalisierungsprozessen rechnen könnten (Schmalz-Bruns 1999: 189, vgl. auch
212, 223). Die Vorsicht der Bezugnahme auf die Realia – insbesondere – des eu-
ropäischen Mehrebenensystems kommt nicht von ungefähr. Schmalz-Bruns (1999)
geht es zuerst um eine konzeptionelle Fortentwicklung der Theorie der (deliberati-
ven) Demokratie. Sie liefert Maßstäbe für die Beurteilung von Europäisierungs- und
Globalisierungsprozessen und Kriterien für die Aus- oder Umgestaltung von Institu-
tionen. Demgegenüber setzen Neyer und ich in dem von Schmalz-Bruns herangezo-
genen Beitrag (Joerges/Neyer 1998) bei beobachtbaren Institutionalisierungsprozessen
an. Wir behandeln die Integration der »Märkte« Europas, um eine berühmte Formel
Friedrich von Hayeks (1968) verfremdend aufzugreifen, als ein »Entdeckungsver-
fahren Praxis«, in dem neuartige (»sui generis«) Antworten auf neuartige Problem-
konstellationen gefunden werden müssen (und gefunden werden). Beide Vorgehens-
weisen haben spezifische Risiken. Wer sich zuerst um die Theorie kümmert, läuft
Gefahr, die Wirkungsmacht überkommener Konzeptualisierungen zu unterschätzen,
das qualitative Novum in institutionellen Veränderungen zu übersehen oder mit seinen
Beurteilungsmaßstäben nicht zu erreichen. Wer es unternimmt, Prozesse wie den der

2 Joerges/Neyer (1998); zu den Fragestellungen dieses Projekts siehe Joerges (1995); in-
zwischen ist der Projektbericht abgeschlossen und seine Veröffentlichung in Sicht (Joer-
ges/Falke 2000).

146
Christian Joerges: Transnationale deliberative Demokratie oder deliberativer Supranationalismus?

Europäisierung als »Entdeckungsverfahren« zu rekonstruieren, läuft Gefahr, faktisch


wahrnehmbare Innovationen in ihrer praktischen Bedeutung zu überschätzen und sie
außerdem normativ zu überhöhen.
Dieser Interpretation unserer Differenzen entsprechend sehe ich von dem – oh-
nehin abenteuerlichen – Versuch ab, den Demokratie-Theoretiker Schmalz-Bruns
»als solchen« eines Besseren zu belehren. Meine Kritik und Selbstverteidigung
wird vielmehr bei den eben abstrakt bezeichneten Risiken seiner und meiner Vorge-
hensweise ansetzen. Und sie wird als Belege sowohl für die Resistenz des interna-
tionalen Systems gegen Demokratisierungsforderungen als auch für innovative Pro-
zesse in der EU vor allem auf rechtlich greifbare Strukturen und institutionelle
Entwicklungen Bezug nehmen.3 Dies soll in drei Gedankenschritten geschehen:
(1) In einem ersten Argumentationsschritt möchte ich die Forderung, transnationa-
le governance structures im Sinne von Ansätzen der deliberativen Theorie der De-
mokratie zu interpretieren und umzugestalten, mit der Perzeption der rechtlichen
»Verfassung« internationaler Beziehungen im allgemeinen und Europas im beson-
deren in den Kategorien der international-rechtlichen Disziplinen konfrontieren.
Dabei sollen eine Reihe von Schwierigkeiten zur Sprache kommen, die eine gleich-
sam direkte demokratie-theoretisch inspirierte Etablierung demokratischer Verhält-
nisse in einer entstaatlichten, entgrenzten, meta-nationalen Gesellschaft unwirklich
erscheinen lassen.
(2) Während der erste Argumentationsschritt Skepsis gegenüber der von
Schmalz-Bruns (1999) postulierten praxeologischen Relevanz seiner demokratie-
theoretischen Überlegungen signalisiert, handelt es im zweiten Schritt um ein um so
entschiedeneres Plädoyer dafür, institutionelle Innovationen, die im Zuge der eu-
ropäischen Marktintegration zustandegekommen sind, als praktisch funktionsfähige
und normativ entwicklungsfähige Formen transnationalen Regierens zu begreifen.
Auf die Risiken dieser induktiven Vorgehensweise – eine misplaced concreteness,
die keine allgemeineren Schlußfolgerungen trägt; eine normative Verklärung fakti-
scher Verhältnisse – wird zurückzukommen sein.
(3) Das Recht wird bei all dem wie ein sensibler und konfliktnah eingestellter
Seismograph verstanden, der gehaltvolle, wenn auch oft verschlüsselte Botschaften
aus der »Realität« preisgibt. In den Schlußüberlegungen soll aber auch das Potential
des Rechts zur Sprache kommen, die deliberative Qualität von politischen Prozes-
sen zu stabilisieren und so zur Legitimität transnationalen Regierens beizutragen.
Dabei wird sich auch zeigen, daß unsere Übereinstimmungen sich keineswegs in
der Verwendung eines gleichlautenden Labels erschöpfen.

3 Beide Gutachten zur ursprünglichen Fassung dieses Beitrags haben Einwände vorge-
bracht und Erläuterungen angemahnt, die ein Stück weit mit spezifischen Schwierigkeiten
interdisziplinärer Diskussionen zusammenhängen. Das Risiko von Mißverständnissen
und mithin auch der Bedarf nach Erläuterungen ist hier nicht einfach nur größer, sondern
auch schwerer abschätzbar als im je eigenen Fach. Die Kritik der Gutachten war für
mich gerade deshalb sehr hilfreich. Der Beitrag ist dabei hoffentlich transparenter ge-
worden. Mehrfach habe ich mir aber mit Weiterverweisungen zu helfen gesucht.

ZIB 1/2000 147


Forum

2. Demokratie als Maßstab und Demokratisierung als Prozeß

Würde die EU bei sich selbst die Mitgliedschaft beantragen, es erginge ihr schlechter
als etwa der Türkei. Das Bonmot ist so schön, daß es sich von seinem Urheber
emanzipiert hat. Aber bei allem Respekt vor diesen rhetorischen Meriten: Es gibt
keinen Aufschluß über seine eigenen Anwendungsbedingungen. Jeder Versuch,
diese Bedingungen zu präzisieren, führt wieder auf eben jene Fragen zurück, die es
doch erst zu klären gilt: Sind denn wirklich die Anforderungen an die demokrati-
sche Binnenverfassung der Mitgliedstaaten der EU auf den europäischen Verbund
dieser Staaten übertragbar? Würde damit – zumindest implizit – der Bau eines Super-
Staates propagiert, der demokratische Ideale unvermeidlich demontieren müßte?
Sollte die Unterscheidung zwischen einer »Demokratisierung der Europäischen
Union« und einer »Europäisierung der [nationalstaatlichen] Demokratien«4 die
Verkoppelung von Demokratisierung und Staatsbildung lösen? Schmalz-Bruns
(1999) rechnet offenbar damit, daß beides normativ geboten (und faktisch möglich)
sei: die Identifikation supranationaler Bindungen, die zur Öffnung der Verfassungs-
staaten führen und die Emergenz transnationaler Governance-Strukturen, die nun-
mehr jenseits staatlicher Ordnungen »verfaßt« werden müßten. Wer als Jurist in den
international-rechtlichen Disziplinen sozialisiert wurde, gewiß aber auch: wer sich
der prekären Legitimität Europas von einem IB-Hintergrund her nähert, dem wird
ein solcher Zweistufen-Ansatz realistischer und aussichtsreicher erscheinen als eine
Art – demokratie-theoretisch inspirierter – Durchgriff in eine entstaatlichte, ent-
grenzte, meta-nationale Gesellschaft.
Die staatlichen Verankerungen transnationalen Rechts und Regierens gehörten
jedenfalls zum klassischen Kernbestand aller international-rechtlichen Fächer: Völ-
kerrecht, Internationales Verwaltungsrecht, Internationales Privatrecht, aber auch
Europarecht. Und gleichzeitig sind sie alle damit befaßt, dieses Erbe abzuschütteln.
Überall ließe sich im Detail vorführen, wie sich die Konzeptualisierungen des inter-
nationalen Systems in den verschiedenen Disziplinen entsprechen und wechselsei-
tig ergänzen, wie sich Veränderungsprozesse im Rechtssystem bemerkbar machen,
befördern oder behindern lassen. Knappe Hinweise auf zwei (die mir am besten
vertrauten) Fächer mögen genügen:
(1) Anders als das auf zwischenstaatliche Beziehungen eingeschränkte traditio-
nelle Völkerrecht und das Internationale Verwaltungs- bzw. öffentliche Recht, das
lediglich »einseitige« Bestimmungen des internationalen Anwendungsbereichs
nationalstaatlicher Rechtsnormen entwickelte und keine Rechtsgebote einer zwi-
schenstaatlichen Verwaltungskooperation kannte,5 war das Internationale Privat-
recht kooperativ und universalistisch gesonnen. Dabei setzte es freilich voraus, daß es

4 So der Titel des Beitrags von Schmalz-Bruns zu der Tagung in Bremen (siehe Fn.1).
5 Vgl. Vogel (1965: 176-239). In einer neueren Version: »Jeder Staat ist ein Zusammen-
schluß der Leute (Bürger) in seinem Lande. [...] Jeder Staat fördert das eigene Staats-
wohl im eigenen Lande; er ist frei (Herr im eigenen Haus), nimmt keinen Befehl von
außen, duldet keinen Richter über sich« (Kegel 1995: 848).

148
Christian Joerges: Transnationale deliberative Demokratie oder deliberativer Supranationalismus?

sich beim Privatrecht um vorstaatlich-apolitische Materien handele, daß daher


grundsätzlich alle Privatrechtsordnungen als gleichwertig gelten können, daß dem-
zufolge über »allseitige« Verweisungsnormen zwar nicht eine universelle Rechts-
gleichheit, wohl aber ein internationaler Entscheidungseinklang erreichbar sein
müsse.6 Angesichts sich inzwischen geradezu inflatorisch mehrender Proklamationen
universell gültiger normativ-rechtlicher Standards sind Erinnerungen an den sper-
rig-skeptischen Realismus juristischer Konzeptualisierungen des internationalen
Systems und den beschränkten Geltungsanspruch des Internationalen Privatrechts
leider angebracht. Das gilt um so mehr, als alle Bestrebungen, transnationale Go-
vernance-Strukturen zu etablieren, die rechtlich-institutionellen Schwierigkeiten ei-
nes solchen Unterfangens früher oder später zu spüren bekommen.
Unschwer lassen sich in einschlägigen rechtlichen Positionen dominante Tradi-
tionen der Theorie der internationalen Beziehungen wiedererkennen. Dies gilt z.B.
für das allen positivistischen Richtungen sämtlicher international-rechtlicher Sub-
disziplinen geläufige Argument, daß es kein Super-Recht geben könne, dem es zu-
stände, diese oder jene Norm für »besser« oder aus irgendwelchen anderen Grün-
den für supranational verbindlich zu erklären. Eben deshalb begnügt das
Internationale Privatrecht sich mit Idealen einer »räumlichen« Gerechtigkeit. Eben
deshalb kann das sogenannte Wirtschaftskollisionsrecht – in dem es um den interna-
tionalen Anwendungsbereich regulativen Rechts geht – nicht zu transnationalen Re-
gulierungen vordringen (statt vieler vgl. Kegel 1979; Schnyder 1990).
Diese positivistische Skepsis gegen staatlich nicht beglaubigte Geltungsan-
sprüche hat weitreichende rechtspraktische und institutionelle Konsequenzen. In einer
markanten amerikanischen Variante: Wenn Gerichtshöfe dahin gebracht werden,
über kollidierende Geltungsansprüche staatlichen Rechts zu befinden, dann können
sie sich nur, weil ihnen rechtliche Entscheidungsmaßstäbe fehlen, an Interessen ori-
entieren oder zu politischen Kadis degenerieren (Currie 1963). Sie sollen deshalb
die lex fori anwenden, das jeweils eigene (öffentliche/zwingende) Recht.
(2) Wer sich all dies vor Augen führt, wird auch sehen, warum so viele Prinzipien,
Regeln, Institutionen des Europäischen Rechts geradezu revolutionär erscheinen:7
Dieses Recht soll sich von seinen staatsvertraglichen Ursprüngen emanzipiert und
als autonome Ordnung etabliert haben. Es soll den Bürgern der Mitgliedstaaten
Rechte verleihen und Handlungsspielräume garantieren, die sie als europäische Bürger
dem heimischen, verfassungsstaatlich beglaubigten Recht entgegenhalten können.8
All dies ist mittlerweile wohl tief ins öffentliche Bewußtsein gedrungen. Aber
wie stabil ist die soziale Akzeptanz der europarechtlichen Orthodoxie wirklich? In
den Debatten der Juristen um die Verfassung der EU wirken die normativen und
6 Nicht-Juristen sind all diese Begriffe kaum vertraut. Weitere Erläuterungen aber kosten
Platz. Für eine ausführlichere Explikation des Gedankengangs insgesamt vgl. Joerges
(1979).
7 Auch gegenüber dem »universalistischen«, aber eben auf das »unpolitische« Privatrecht
bezogenen Internationalen Privatrecht; vgl. Furrer (1999: Kap. 12-14).
8 Trotz vieler Nacherzählungen unvermindert eindrucksvoll: die Rekonstruktion dieser
Entwicklungen bei Weiler (1991).

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Forum

konzeptionellen Positionen aus den Traditionsbeständen der international-rechtli-


chen Disziplinen teils bloß hintergründig, teils aber auch sehr gut sichtbar fort.9 –
Wie beflissen die solche Widerstände nicht zur Kenntnis nehmenden Verbeugun-
gen vor den supranationalen Geltungsansprüchen des europäischen Rechts sich
auch immer lesen mögen: die Begründungen verweisen in aller Regel nur darauf,
daß der EuGH in seinen historischen Sentenzen (EuGH 1963, 1964) eben den
EWG-Vertrag vom Völkerrecht abgehoben, diese rechtschöpferische Interpreta-
tionsleistung immer weiter verfeinert hat – und daß sie allmählich und weithin expli-
zit oder implizit respektiert wurde. Daß diese Akzeptanz nicht so stabil ist und argu-
mentativ so nicht zureicht, ist seit dem Maastricht-Urteil des BVerfG (1994) eine
verbreitete Einsicht, war aber auch schon zuvor bekannt (vgl. Joerges 1996b: 77-
92). Nicht zufällig hatten alle wichtigen deutschen rechtswissenschaftlichen Inte-
grationstheorien auf die Zumutung, daß sich ein bloß staatsvertraglich entstandenes
Recht mit Geltungsansprüchen auszustatten begann, die der eigenen verfassungs-
staatlichen Ordnung überlegen sein sollten, durch die Suche nach Alternativen rea-
giert (Joerges 1994): nach einer Rechtsrationalität, die sich von denen des verfas-
sungsstaatlichen Rechts kategorial unterscheiden ließ, mit diesem aber kompatibel
bleiben und seine Integrität respektieren sollte. Erinnert sei bloß an Hans Peter Ipsens
Arbeiten aus den 1960er Jahren (Ipsen 1966) und seine spätere Qualifikation der
Europäischen Gemeinschaften als »Zweckverbände funktioneller Integration« (Ip-
sen 1972, 1973). Erinnert sei aber auch an die nach wie vor ungemein lebendige
Theorie einer auf die Ordnung der Wirtschaft focussierten europäischen »Verfas-
sung« (vgl. instruktiv resümierend Mussler 1998).
Wenn mithin der Gedanke, daß Europäisches Recht, wenn und weil es eine
Rechtsordnung sui generis sein soll, die im Konfliktfall gegenüber verfassungsstaatli-
chem Recht Vorrang beansprucht, selber demokratisch legitimiert sein müsse, nicht
gedacht wurde, sondern die Rechtswissenschaft alternative Legitimationsmodi suchte,
so darf man darin nicht einfach eine die Faktizität des Integrationsprozesses rechtlich
absegnende Flucht aus verfassungsstaatlichen Bindungen sehen; ebensowenig muß
man sich mit jenen Alternativen zufriedengeben. Richtig ist lediglich: Es geht um
eine Weichenstellung, die alle eben zitierten Juristen sehr klar gesehen haben – und die
unvermindert aktuell ist. Wer die Legitimität des Verfassungsstaats zum Maßstab für
die Legitimität der Integration erklärt, muß sich von der EU distanzieren. Normativ
tragfähige Gründe für ein transnationales Recht und transnationales Regieren lassen
sich nicht mit an den nationalen Verfassungsstaat gebundenen Denkmustern identifi-

9 Dies ließe sich an tausend Einzelfragen belegen, von denen wenigstens eine erwähnt sei:
Als kürzlich der EuGH in einem Urteil (EuGH 1999 – Centros), das, wenn nicht in seiner
Bedeutung, so doch in seiner Überzeugungskraft die legendäre Cassis de Dijon-Ent-
scheidung (EuGH 1979) m.E. übertrifft, dänischen Bürgern das Recht zusprach, in Däne-
mark verbindlichen (aber »schlechten«!) gesellschaftsrechtlichen Vorschriften auszu-
weichen, um sich stattdessen für sie günstigerer englischer Vorschriften zu bedienen
(EuGH 1999), kommentierte der Doyen des deutschen »Internationalen Privatrechts«:
»[...] keine Begünstigung von Schlitzohren, die dem Recht den Vogel zeigen! Es ist was
faul im Staate Dänemark – und anderswo!« (Kegel 1999).

150
Christian Joerges: Transnationale deliberative Demokratie oder deliberativer Supranationalismus?

zieren. So verstehe ich auch Schmalz-Bruns (1999: 188), wenn er dafür plädiert, de-
mokratische Ansprüche aus ihrer »nationalstaatlichen Umklammerung zu befreien«
– und sich dann an solche demokratie-theoretische Konzepte anlehnt, die eben die-
sen Ablösungsprozeß stützen. Diese Argumentation trifft sich durchaus mit Überle-
gungen, die Neyer und mich in dem Plädoyer für unsere Version eines »deliberati-
ven Supranationalismus« (Joerges/Neyer 1998) geleitet haben. Es ging uns um
zweierlei (vgl. auch Joerges 1997: 388-391): Dem supranationalen Recht haben wir
die Aufgabe zugewiesen, ein »Nationalstaats-Versagen« zu korrigieren, das sich vor
allem in der ständigen Produktion extraterritorialer Effekte auch durch Demokratien
dokumentiert (ähnlich Zürn 1998: 6-12) – und die in Artikel 23 GG verankerte Of-
fenheit des deutschen Verfassungsstaats darf man als nationalstaatliche Grundlage
jenes Supranationalismus in Anspruch nehmen (vgl. Kirchhof 1998; Kaufmann
1999). Die beiden gerade genannten Beispiele10 haben tatsächlich eine exemplari-
sche Bedeutung. Dem europäischen Recht ist die Zivilisierung nationalstaatlicher
Idiosynkrasien immer wieder mit normativ guten Gründen und faktisch beachtli-
chem Erfolg gelungen (Maduro 1998: 150-175; Weiler 1994).
Aber dies ist nur die eine Seite des Prozesses. Mit eben jenen Maßnahmen, die
auf den Abbau von Handelshemmnissen und zur Europäisierung der Märkte führen,
und im Gefolge eben jener Kontrollen, die einzelstaatliche Interessen und Orientie-
rungen zurückweisen, war, allen analytisch so überzeugenden Unterscheidungen
zwischen »negativer« und »positiver« Integration zum Trotz, die Integration immer
auch ein Prozeß der Re-Regulierung (Joerges 1991a), in dem transnationale Gover-
nance-Strukturen entstehen, die selbst wirkungsmächtig werden und eine Eigenlo-
gik entfalten, in der sich gesellschaftliche Akteure auf eine transnationale Wirklich-
keit einstellen, die nicht mehr staatlich domestizierbar ist. Deren Strukturen
sprengen die institutionell vom europäischen Recht vorgesehenen Formen intergou-
vernmentalen Handelns und supranationalen Entscheidens. Und es ist diese zweite
Dimension, in der die europäischen »Demokratiedefizite« so augenfällig werden
und so schwer behebbar erscheinen, weil die emergenten Rechtsstrukturen sich kei-
nem der institutionalisierten staatlichen oder supranationalen Modelle fügen. Um
noch einmal auf das internationale Wirtschaftsrecht zurückzukommen: Bislang ist
es m.W. niemandem in den Sinn gekommen, die lex mercatoria des internationalen
Handels, die komplexen internationalen Private-governance-Konfigurationen in der
Weltwirtschaft oder auch staatlich gestützte internationale Regime als »demokrati-
sche« Herrschaftsinstitutionen zu präsentieren.11 Die EU erscheint da als ein sehr
viel einfacherer Fall. Nicht nur wird die wechselseitige Einschränkung einseitig-
souveräner Setzungen an supranationalen Regeln und Prinzipien gemessen – und

10 »Cassis de Dijon« (EuGH 1979) und »Centros« (EuGH 1999).


11 Schmalz-Bruns (1999: 189, 233) verweist auf Teubners (1998b) Perspektive eines »pri-
vatrechtlich inspirierten Verfassungsmodells heterarchischer Selbstkoordination«, um
sich davon allerdings sogleich auch zu distanzieren. In der Tat: Teubners Begriff einer
privatrechtlichen Verfassung läßt sich (ungeachtet eines Verweises auf Cohen/Sabel
1997) nicht für die demokratietheoretischen Intentionen von Schmalz-Bruns in An-
spruch nehmen.

ZIB 1/2000 151


Forum

dies durchaus in grundsätzlicher Übereinstimmung mit dem Verfassungsleitbild einer


offenen Staatlichkeit; auch in der zweiten Dimension der europäisch-transnationa-
len Governance-Strukturen sind Verrechtlichungsprozesse beobachtbar: Es bilden
sich tatsächlich Regeln und Prinzipien, an die sich jene gleichsam im Rücken des
förmlichen Rechts entstandenen »Institutionen« in ihren Entscheidungsverfahren zu
halten haben; es gibt, wenn auch einstweilen allzu rudimentäre, Transparenz-Ge-
währleistungen, Partizipationsrechte, Rechtsschutz-Möglichkeiten; es gibt etablierte
politische Akteure und Institutionen – die Regierungen der Mitgliedstaaten, das Eu-
ropäische Parlament, die Europäische Kommission –, denen Handlungsreservate
verbleiben und die jene Gebilde der transnationalen governance zur Verantwortung
rufen können. Und es gibt Öffentlichkeiten, die solche Aktivitäten einfordern.
Ist all dies, so pflegen Juristen zu formulieren, »richtig« oder aber »falsch«? Dies
sei nicht die rechte Art zu fragen, würde der Theoretiker erwidern. Aber sind Maß-
stäbe, wie Schmalz-Bruns (1999) sie entwickelt hat, hinlänglich bestimmt, um hier
Antworten zu finden? Treffen sich seine Hinweise zu den »realen Strukturverände-
rungen transnationaler Politik« mit den eben angesprochenen Entwicklungen?

3. Europa als ein »Markt ohne Staat?« – Die »Herren der Verträge« als
»Staaten ohne Märkte?« – Die Märkte als »Polities«!

Wenn die von Schmalz-Bruns (1999) entwickelten theoretischen Maßstäbe für eine
Rekonstruktion und Beurteilung insbesondere der sich in der EU vollziehenden
Transformationsprozesse allzu unbestimmt bleiben, kann es angebracht sein, die
Blickrichtung umzukehren und eben diese Transformationsprozesse direkter in Au-
genschein zu nehmen. Auch wenn dabei auf reale politisch-rechtliche Programme
und rechtliche Entscheidungen Bezug genommen wird, handelt es sich doch um
eine Rekonstruktion. Die substaatlichen Phänomene, lautlosen und extra-legalen
Rechts-Wandlungen, von denen im folgenden die Rede sein wird, kommen in vielen
systematischen Darstellungen des Europarechts überhaupt nicht vor. Meine Rekon-
struktion ist die eines »kontextuell« arbeitenden Rechtsrealisten, der im ersten
Schritt das »law in action« namhaft machen will, um dann erst im zweiten Schritt
nach normativ tragfähigen Beurteilungskriterien zu suchen.
Um die hier sehr knapp ausfallenden, für meine Argumentation aber unverzicht-
baren Analysen in drei Thesen vorwegzunehmen: Weder ist Europa zu einem
»Markt ohne Staat« geworden (Joerges 1991a), noch wurden die Mitgliedstaaten
der Union zu »Staaten ohne Märkte« degradiert (Joerges 1996a); statt dessen sind
im europäischen Mehrebenensystem Politisierungs- und Institutionalisierungspro-
zesse in Gang gekommen, in denen transnationale Märkte zu Polities mutieren. Um
diese Analytik normativ zu ergänzen: Die Legitimität jener Polities bemißt sich an
der deliberativen Qualität der in ihnen organisierten Entscheidungsprozesse; und
mit Hilfe des Rechts sollen diese Qualitäten gesichert und darüber hinaus Verbin-
dungen mit den Institutionen der Nationalstaaten und der EU gewährleistet werden.

152
Christian Joerges: Transnationale deliberative Demokratie oder deliberativer Supranationalismus?

3.1. Europa als »Markt ohne Staat«?

Als die EG ihr Binnenmarktprojekt ins Werk setzte (Kommission der EG 1985), sa-
hen dessen der ordo- und neoliberalen Ordnungstheorie verpflichteten Beobachter
in Deutschland, was sie ohnehin für geboten hielten und konzeptionell vorgedacht
hatten (vgl. statt vieler Wissenschaftlicher Beirat 1986, 1994): Endlich sollten die
berühmten vier Freiheiten ernst genommen werden und die Marktbürger der Ge-
meinschaft ihre ökonomischen Freiheiten breitenwirksam durchsetzen können; das
rechtliche Gebot der wechselseitigen Anerkennung sollte die hoffnungslos komple-
xen international-rechtlichen Prinzipien des Privat- und Wirtschaftskollisionsrechts
ablösen und wirtschafts- und gesellschaftspolitisch eine Ära regulativ-institutionellen
Wettbewerbs einleiten; das Europäische Wettbewerbsrecht sollte nicht nur seine
Aufgaben der Kontrolle privater Wettbewerbsbeschränkungen wahrnehmen, son-
dern darüber hinaus zum Maßstab und Instrument bei der Deregulierung der Natio-
nalstaaten werden. Dies war die Vision Europas als »Privatrechtsgesellschaft«, das
seine Integration in einer supranationalen »Wirtschaftsverfassung« vollendet (Mest-
mäcker 1991, 1994).

3.2. Europa als »Regulatory State«?

Dies war nun allerdings eine Vision, die nicht nur an praktisch-politischen Hinder-
nissen auflief, sondern die Komplexität der sozialen, politischen und institutionel-
len Funktionsbedingungen von »Märkten« unterschätzt hatte. Die Binnenmarktpro-
grammatik transformierte, wie vor allem Giandomenico Majone (1990, 1996a,
1996b, 1998; vgl. Grande 1998) zeigte, zu einem Re-Regulierungs- und Moderni-
sierungs-Projekt. Dabei verteidigte Majone die Botschaft ökonomischer Effizienz,
ein Verständnis des »Allgemeinwohls« als allgemeiner Wohlfahrt. Nachdrücklich
plädierte er für einen Verzicht auf redistributive Politiken und die Beschränkung re-
gulativer Aktivitäten auf die Korrektur von Tatbeständen des Marktversagens, die
sich als kognitiv-technokratische Sachaufgaben darstellten und deren Bewältigung
deshalb am ehesten nicht-majoritären Institutionen zuzutrauen sei. Europa als »re-
gulatory state« – diese Vision war nicht einfach nur realistischer als die Program-
matik der deutschen Ordnungstheoretiker. Sie drang vor allem mit ihrer Rücksicht-
nahme auf die Anliegen der »social regulation« in Politikbereiche vor, deren
Brisanz unbestreitbar war. Sie bot gleichzeitig eine kohärente, in vielen Dimensionen
theoretisch durchdachte, empirisch gehaltvolle und politisch aktuelle konstitutionel-
le Perspektive. Indessen: Jene non-majoritären Institutionen, denen Majone zufolge
die Regulierung Europas anvertraut werden sollte, haben sich nicht etabliert – je-
denfalls nicht auf europäischer Ebene oder doch nicht so, wie Majone dies vor-
schwebte. Tatsächlich gibt es inzwischen eine ganze Reihe sogenannter Agenturen
(vgl. den Überblick bei Kreher 1996; zuletzt Commission of the EC 2000: 14-28).
Jede der sogenannten Agenturen ist anders; keine verfügt über jene Unabhängigkeit
und Regelungsgewalt, die Majone vorbildlich (wenn auch nur tendenziell) in den

ZIB 1/2000 153


Forum

USA verwirklicht sah (vgl. Majone 1994). Die Gründe sind vielfältig. Bedauern
wird dies nicht, wem die Delegation der Risikopolitik an »neutrale« und »objekti-
ve« Expertenstäbe normativ nicht vertretbar und praktisch ohnehin höchst unwahr-
scheinlich erscheint. Überdies setzt Majone voraus, daß es möglich sei, seiner Unter-
scheidung zwischen einer – bloß mit Effizienz befaßten – regulativen Politik
einerseits und »politischen« – weil redustributiven – Interventionen andererseits in-
stitutionell dadurch Rechnung zu tragen, daß die EU sich auf die regulative Politik
beschränkt, während für distributive Maßnahmen allein die Nationalstaaten zuständig
seien (vgl. hierzu kritisch Joerges 1999).

3.3. »Märkte« als »Polities«

Nicht die neuen Agenturen, sondern das seit langem etablierte Ausschußwesen ist
die signifikanteste Institutionalisierung des Binnenmarktes. Ausschüsse haben nicht
nur die sog. »Durchführung« von gemeinschaftsrechtlichen Rahmenvorschriften in
der Hand (»Komitologie«), sondern fungieren viel umfassender als Foren politi-
scher Prozesse und Koordinationsinstanzen zwischen supranationalen und nationalen,
gouvernementalen und gesellschaftlichen Akteuren (Joerges/Neyer 1998; Joerges/
Vos 1999). Und beide, Agenturen wie Ausschüsse, werden umrahmt von – oder
umgeben sich mit – halb-öffentlichen und privaten Policy-Netzwerken.
Die funktionale und formale Differenz von Agenturen und Ausschüssen ist wich-
tig, aber anders als diese Bezeichnungen suggerieren. Die neuen europäischen
Agenturen entscheiden nicht autonom über den Marktzutritt von Unternehmen oder
die Zulassung ihrer Produkte; sie sollen vielmehr Informationen erheben, die Politik
informieren – sie fungieren als technokratische Zuliefer-Betriebe der Politik. Ihr
halb-amtlicher Status öffnet sie augenscheinlich privaten/gesellschaftlichen Interes-
sen und stärkt ein technokratisch-unpolitisches Selbstverständnis. Die Zuordnung
zu Dienststellen der Kommission, die Repräsentation von nationalen Akteuren in
den Gremien der Agenturen scheint hieran nichts zu ändern. Demgegenüber sollten
die Ausschüsse als Kontrolleure und Agenten nicht nur technokratischer Erforder-
nisse, sondern auch der politisch-normativen Dimensionen der Vollendung und
Verwaltung des Binnenmarktes fungieren. Sie erscheinen häufig als »kleine Räte«,
als Foren, in denen die Logik der Marktintegration mit sozial-regulativen Anliegen
und Interessen in den Mitgliedstaaten kompatibilisiert werden muß.
Weniger sichtbar, aber keineswegs weniger bedeutsam als das Schisma von
Agenturen und Ausschüssen sind die Unterschiede in der Art und Intensität, mit der
europäische Institutionen mit der Öffentlichkeit interagieren, sich professionellen
Sachverstandes versichern, die Interessendefinitionen privater Akteure erkunden.
Das hat mit der Art, in der traditionelle Bürokratien ihr Verhältnis zur Öffentlich-
keit definiert haben, nicht mehr viel gemein. Vor allem diejenigen Agenturen, die
nicht über formelle Entscheidungsbefugnisse verfügen (und deshalb rechtlich so
schwach erscheinen), erweisen sich als höchst aktive Organisatoren Europa-weiter
Meinungsbildungsprozesse.

154
Christian Joerges: Transnationale deliberative Demokratie oder deliberativer Supranationalismus?

Agenturen, Ausschüsse, öffentliche und private Netzwerke – sie alle sind institu-
tionelle Produkte, die »so« nicht geplant waren und sich dennoch als »erforderlich«
erwiesen. Sie repräsentieren, was Joseph Weiler als »Unterwelt« des Binnenmarktes
gebrandmarkt hat:12 als eine »infranationale« Überwucherung der förmlichen natio-
nalen und supranationalen Institutionen Europas: »a new sub-atomic particle, a neu-
trino or a quark, affecting the entirety of molecular physics« (Weiler 1999: 340).
Wie schrecklich aber geht es in dieser Unterwelt wirklich zu? Sollte es möglich
oder gar geboten sein, hier eine kontra-intuitive, aber konstruktive Gegenperspektive
einzunehmen? Hat womöglich das Binnenmarktprojekt in einem »Entdeckungsver-
fahren der Praxis« den gordischen Knoten, der die Regulierung der Wirtschaft an
den Nationalstaat band, der nur entweder eine neo-funktionalistische Output- oder
eine intergouvernemental-strategische Vernunft zuzulassen schien, zersetzt und er-
setzt? Haben diese »muti-tiered, geographically overlapping structures of govern-
mental and nongovernmental elites« (Eriksen/Fossum 1999: 17) womöglich eine
Sphäre autonomen wirtschaftlichen Handelns geschaffen, die mit Hilfe jener neuen
Institutionen gesellschaftliche und politische Bindungen eingehen? Wenn die
Volkswirtschaften noch nach dem Modell vom politischen System ausgefilterter, zu
verbindlichen Regelungen geronnener und dann verwalteter Anforderungen dome-
stiziert wurden, hätten wir es nunmehr mit einem offenbar politischen, administrativ-
regulatorischen Prozeß zu tun, der ein Forum abgibt, auf dem konkurrierende priva-
te und öffentliche, politische und soziale, nationale und supranationale Werte und
Interessen zum Austrag kommen. Und tatsächlich: all dies läßt sich in den Aus-
schüssen bei der Repräsentation »nationaler Interessen«, in den Aktivitäten der
Kommission und den Netzwerken von Interessenrepräsentanten, Policy- und Ex-
pert-Communities erkennen.
Eine Horror-Vision? Ein Bild von Pieter Breughel statt von Ambrogio Loren-
zetti?13 Ein »normatives Desaster« (Weiler 1999: 346)? Die entscheidende Diffe-
renz zwischen unserer Argumentation und der von Schmalz-Bruns (1999) ist, daß
wir diese unordentlich-unübersichtliche, entgrenzt-hierarchielose, gewiß auch nicht
herrschaftsfreie transnationale Welt als ein wirkliches Novum auffassen, das sich
selbst strukturieren und definieren muß. Dies läuft nicht auf bloße Affirmation, auf
eine normative Absegnung faktischer Gegebenheiten hinaus. Alles kommt vielmehr
darauf an, wie jene Autonomie genutzt wird.

12 In einem Interview in: Die Zeit 44 vom 22.10.1998.


13 Lorenzettis Gemälde im Rathaus von Siena handelt vom »buon governo«; für eine sehr
schöne Deutung vgl. Teubner (1998a: 234-240).

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4. Konstitutionalisierung des deliberativen Supranationalismus und


der deliberativen Demokratie

Nachdem die Differenzen unserer Vorgehensweisen und unserer Aussagen hinläng-


lich zugespitzt sind, ist es an der Zeit, sie zu relativieren. Um mit einer Relativie-
rung der Kritik an Schmalz-Bruns (1999) zu beginnen: Es ist selbstredend unge-
mein wichtig, Europa mit der Demokratie-Theorie zu konfrontieren. Und mit
seinem Verweis auf das Konzept einer »direkt-deliberativen Polyarchie«
(Cohen/Sabel 1997), dessen Relevanz für die europäische Konstellation zuvor
schon Gerstenberg (1997) herausgestellt hatte, präsentiert Schmalz-Bruns in der Tat
eine Programmatik, die auf die Entstaatlichung und Entgrenzung politischer Kon-
texte reagiert. Natürlich wüßte man dennoch gern Konkreteres über die Institutiona-
lisierung der direkt-deliberativen Polyarchie in europäischen Kontexten und jene
»entgegenkommenden faktischen Entwicklungen« (Schmalz-Bruns 1999: 223), auf
die sich die Idee einer reflexiven Weltstaatlichkeit stützen möchte. Aber auch und
erst recht gilt umgekehrt: Die These, daß die »Market Polity« ihre Identität selbst
definiere, ist keine zulängliche Antwort auf den Vorwurf an Jürgen Neyer und
mich, in unserer Version eines deliberativen Supranationalismus werde Demokratie
um ihren konstitutiven Öffentlichkeitsbezug gebracht, die Idee der Selbstregierung
des Volkes durch eine paternalistische Herrschaft für das Volk ersetzt, die keinen
Bezug zum Konzept der Bürgerschaft und ihrer politischen Teilhabe mehr habe,
und die Programmatik einer rechtlich-konstitutionellen Domestizierung jener Herr-
schaft durch eine »expertokratische Enteignung des Rechtsmediums« diskreditiert
(Schmalz-Bruns 1999: 213). Die Vorwürfe sind von solchem Gewicht, daß ich in
diesen Schlußbemerkungen einige Redundanzen in Kauf nehme.

4.1. Technokratie und Deliberation

Noch einmal sei auf den Diskussionszusammenhang unserer Beschäftigung mit der
europäischen Komitologie erinnert. Konzeptionell war unser Projekt als eine Aus-
einandersetzung mit Majones Visionen eines europäischen Regulierungsstaates an-
gelegt, der vornehmlich mit Hilfe von »non-majoritarian institutions« regiert (vgl.
Joerges 1995). Das Ausschußwesen interessierte uns als Alternative zu europäi-
schen Agenturen, wegen seiner Verbindungen nicht nur mit den Bürokratien, son-
dern auch den Polities der Mitgliedstaaten, wegen seiner komplexen Binnenstruk-
tur, in der Regierungsvertreter, Repräsentanten sozialer Interessen und »die« Wis-
senschaft interagieren. Die Risiko-Regulierung im Binnenmarkt schien uns zur
Dokumentation der Schwächen expertokratischer Modelle zu taugen, weil die nor-
mativen, politischen, ethischen Dimensionen von Risikobewertungen unübersehbar
sind und bislang keinem demokratischen Staat vorgeworfen werden kann, er habe
solche Fragen gänzlich irgendwelchen Expertengremien überantwortet (Joerges/
Neyer 1998: 211f). Wenn diese Intentionen anderswo auch so verstanden worden
sind (vgl. etwa Everson 1998; Lindseth 1999), so beweist dies nicht, daß wir sie

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Christian Joerges: Transnationale deliberative Demokratie oder deliberativer Supranationalismus?

deutlich genug umgesetzt hätten. Ohnehin wäre es mit wohlmeinenden Absichten


nicht getan. Freilich: In der Diskussion um Risikobewertungen sind schlanke Ant-
worten auf die Schwierigkeit, die Ideale der Demokratie mit den Gegebenheiten der
Wissensgesellschaft zu versöhnen, bislang nicht vernommen worden. Weder qualifi-
ziert mich allein schon mein Status als Bürger zu einer mich selbst qualitativ über-
zeugenden Sachentscheidung, noch ist zu sehen, wie »alle« von solchen Entschei-
dungen betroffenen Bürger an ihr partizipieren sollen. Was für die Risikopolitik
gilt, ist als Problem in praktisch jedem Winkel des modernen Rechts präsent. Und
was für die Risikopolitik in einem Mitgliedstaat der EU gilt, in dem (relativ) dichte
Kommunikationsprozesse für eine kontinuierliche politische Diskussion sorgen, gilt
für ein derart polymorphes Gebilde wie die EU erst recht.
Das viel geschmähte Ausschußwesen hat gegenüber Agenturen nach amerikani-
schem Muster den Vorzug, daß es die Risikopolitik pluralistisch strukturiert, daß
nationale Bürokratien sich mit den Positionen ihrer Nachbarstaaten auseinandersetzen
müssen, daß Interessen und Besorgnisse in den Mitgliedstaaten nicht weggefiltert
werden können. Es läßt sich wohl kein Argument vorstellen, welches in diesem Ge-
flecht nicht zur Sprache gebracht werden könnte. Wenn dies aber der Fall ist und
das Ausschußwesen eher Foren für eine pluralistische Erörterung abgibt, so läßt
sich die deliberative Qualität jener Prozesse nicht a priori bestreiten.

4.2. Transparenz und Öffentlichkeit

Tatsächlich kann sich, wer das hierfür nötige Engagement aufbringt, tagtäglich via
Nicole.MORRE@DG24.cec darüber ins Bild setzen lassen, was in der »Unterwelt der
Ausschüsse« passiert und für Fragen der Normung entsprechende Seiten aufschlagen
(www.NewApproach.org). Dies sei allenfalls den Experten- und Interessentenzirkeln
hilfreich, mag man einwenden. Aber man muß zweierlei bedenken: Zum einen kann die
Risikoproblematik im Binnenmarkt sich über mangelnde öffentliche Aufmerksamkeit
kaum beklagen. In seinem Diskussionsbeitrag zur Bremer Tagung über »Macht und
Herrschaft in der Europäischen Union« hat Klaus Eder auf eine für die regulative Poli-
tik in Europa typische Dynamik aufmerksam gemacht: mit Expertentum werde Gegen-
expertentum institutionalisiert; nicht nur beobachten sich Experten und Gegenexper-
ten, sie werden ihrerseits durch Betroffene in den europäischen Gesellschaften
beobachtet, die auf diese Weise aufeinander aufmerksam werden. »Das Demos wird
das Ergebnis öffentlicher Kommunikation, es erzeugt sich selbst im Prozeß europäi-
scher Kommunikation« (Eder 1999). Dies ist eine neuartige politische Öffentlichkeit,
nicht die der nationalen Verfassungsstaaten. Sie lebt in dezentralen Kommunikations-
zusammenhängen, denen die Akteure des Ausschußwesens verpflichtet sind, und sie
gewinnt immer wieder, wenn auch gewiß nicht stabile, gesamteuropäische Dimensio-
nen. Statt dies zu beklagen oder zu preisen, sollte man wohl fragen, welche Chancen in
dem Aufeinandertreffen immer noch national disponierter Öffentlichkeiten stecken –
und wie diese Chancen institutionell stabilisiert werden können.

ZIB 1/2000 157


Forum

4.3. Recht

Wenn sich in den Beratungs- und Entscheidungsprozessen des europäischen Aus-


schußwesens deliberative Qualitäten aufweisen lassen, wenn es zutrifft, daß die be-
ratenden und entscheidenden Akteure von nationalen Öffentlichkeiten beobachtet
werden, die sich auch noch wechselseitig ins Visier nehmen, so kommt es darauf
an, solche Vorteile zu stabilisieren und erkennbaren Defiziten entgegenzuwirken –
wer solche Absichten verfolgt, sollte auf das Rechtsmedium nicht verzichten. Unse-
re bisherigen Überlegungen zur »Konsitutionalisierung« des Ausschußwesens
(Joerges/Neyer 1998: 224-230) sind gewiß noch allzu vage (vgl. die Kritik bei Hof-
mann/Töller 1998; Lindseth 1999). Immerhin sollte man einige der bereits gut eta-
blierten Kontrollmechanismen ernst nehmen – die Befürchtung, hier sei allenfalls
noch der Europäische Gerichtshof handlungsfähig (vgl. Schmalz-Bruns 1999: 215),
ist übertrieben: Zu verweisen ist zum einen auf die Richtlinie 83/189,14 derzufolge in-
nerstaatliche Regelungsvorhaben bei der Kommission gemeldet werden müssen
und dann einem Standstill unterliegen, wenn auf europäischer Ebene Bedenken gel-
tend gemacht und ein eigenes Verfahren in Gang gebracht wird. Sodann enthalten
die Europäischen Richtlinien regelmäßig sogenannte Schutzklauseln, die Ein-
sprüche gegen getroffene Festlegungen zulassen und zu deren Revision führen kön-
nen. Schließlich gibt es Rechte auf regulative »nationale Alleingänge«, mit denen
anerkannt wird, daß Risikobewertungen eben keine »objektiven« Entscheidungen
sind und die europäischen Instanzen hier keine unbedingte Suprematie in Anspruch
nehmen dürfen. Und dann ist da noch das Europäische Parlament, das durch die
Einsetzung von Untersuchungsauschüssen sehr wohl über wirksame Mittel verfügt,
die Akteure der regulativen Politik öffentlich zur Räson zu rufen (als Exempel vgl.
Europäisches Parlament/Europäische Kommission 1999).
Als »deliberativen Supranationalimus« haben Jürgen Neyer und ich einen doppel-
ten Prozeß bezeichnet: Zum einen die Einwirkung auf die »internen« Entschei-
dungsprozesse von Verfassungsstaaten, die sich aus der Garantie Europäischer
Rechte, aus Verpflichtungen zur Rücksichtnahme auf »fremde« Belange, aus der
Bindung der Nationalstaaten an transnationale Prinzipien und Rechtfertigungs-
zwänge ergibt – »deliberativ« ist ein solcher Supranationalismus, weil er sich nicht
einfach aus einer Hierarchie von Rechtsquellen, sondern aus konstitutionellen Bin-
dungen der Politik herleitet. Die zweite Dimension dieses deliberativen Supranatio-
nalismus ist eine unvermeidbare Konsequenz der Interdependenz, die aus den eben
benannten Einwirkungen entstehen. In einer Union, die mit begrenzten Kompetenzen
ausgestattet ist, deren Mitgliedstaaten durchaus noch aktiv sind, in der es viele Öf-
fentlichkeiten gibt, wird beides auf der Tagesordnung bleiben: die Europäisierung
der Nationalstaaten und die Demokratisierung jener Polities, die sich im Gefolge
des Integrationsprozesses etablieren.

14 ABl. EG L 109/1983, 8 (vielfach ergänzt, zuletzt durch die Richtlinie 98/34. ABl. EG L
217/1998, 18).

158
Christian Joerges: Transnationale deliberative Demokratie oder deliberativer Supranationalismus?

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ZIB 1/2000 161


Frank Biermann / Udo E. Simonis

Institutionelle Reform der Weltumweltpolitik?


Zur politischen Debatte um die Gründung einer »Weltumweltorganisation«

Seit einigen Jahren wird in Wissenschaft und Politik die Forderung nach einer »Welt-
umweltorganisation« laut. So befürworteten unter anderem der Direktor der Welt-
handelsorganisation, der französische Präsident sowie die deutschen Bundesregie-
rungen unter Helmut Kohl und Gerhard Schröder die Gründung einer solchen
Organisation. In diesem Beitrag werden die Notwendigkeit einer neuen Sonderorgani-
sation der Vereinten Nationen im Umwelt- und Entwicklungsbereich begründet und
deren mögliche und wünschenswerte Ausgestaltung skizziert. Damit soll die Debatte,
die in der Politik recht fortgeschritten ist, in die Wissenschaft von der Politik hinein-
getragen und die Diskussion der Fachkolleginnen und -kollegen angeregt werden. Die
deutsche Bundesregierung fordert, das Organisationengefüge der Weltumweltpolitik
zu reformieren und eine »Weltumweltorganisation« zu gründen – wie stellt sich hierzu
die hiesige Expertengemeinde im Fach Internationale Beziehungen?

1. Einleitung1

Kaum jemand bescheinigt der internationalen Umweltpolitik ein summa cum laude.
Eher malen Naturwissenschaftler ein düsteres, wenig zukunftsfrohes Bild. Klima-
tologen erwarten beispielsweise, daß der Meeresspiegel im nächsten Jahrhundert
um bis zu einen Meter steigen wird; Biologen schätzen, daß Tag für Tag zwischen 3
und 130 Tier- und Pflanzenarten aussterben (Schellnhuber/Pilardeaux 1999). An-
gesichts dieser globalen Ökologiekrise wurden internationale Regime zum Schutz
der Umwelt zu einem der bevorzugten Forschungsgebiete im Fach Internationale
Beziehungen, auch in politikberatender Absicht.2
1 Für wertvolle Hinweise zu früheren Fassungen und Diskussionsvorlagen danken wir
Richard E. Benedick, Tobias Debiel, Daniel Esty, Aarti Gupta, Michael von Hauff, Car-
sten Helm, Cord Jakobeit, Martin Jänicke, Carsten Loose, V. S. Mani, Edda Müller, Se-
bastian Oberthür, Benno Pilardeaux, Paul P. Streeten, Agni Vlavianos-Arvanitis, den
Mitgliedern des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltverän-
derungen sowie den uns namentlich nicht bekannten Gutachterinnen und Gutachtern der
ZIB und ihrem Redakteur, Christoph Weller.
2 Ein Literaturüberblick scheidet hier aus; vgl. den Literaturbericht von Jakobeit (1998)
und im deutschsprachigen Raum etwa Gehring (1994), Gehring/Oberthür (1997),
Oberthür (1997), Rittberger (1993) und Simonis (1996a).

Zeitschrift für Internationale Beziehungen 163


7. Jg. (2000) Heft 1, S. 163-183
Forum

Seit einiger Zeit wird dabei in Wissenschaft und Politik vorgebracht, daß Fort-
schritte nur durch eine mehr oder weniger grundlegende Reform des internationalen
Organisationensystems gelingen können, insbesondere durch die Gründung einer
neuen Sonderorganisation der Vereinten Nationen, welche sich im wesentlichen
(nicht notwendigerweise ausschließlich) mit Umweltproblemen beschäftigen sollte.
1998 haben wir uns in einem Policy-Paper der Stiftung Entwicklung und Frieden
für eine solche neue UN-Sonderorganisation ausgesprochen (Biermann/Simonis
1998). In diesem Beitrag soll dem politikwissenschaftlichen Fachpublikum unser
Vorschlag genauer begründet – und zum Disput eingeladen – werden.
Es fehlt hier der Platz für einen Literaturbericht zum Thema »Weltum-
weltorganisation«; nur wenige Eckdaten sollen die Debatte und ihre politische
Breitenwirkung illustrieren. Im angelsächsischen Schrifttum bekannt wurde insbe-
sondere die Initiative des Völkerrechtlers Daniel Esty, der 1994 in Greening the
GATT eine Globale Umweltorganisation vorschlug, mit Blick auf das Gesamtthema
seines Buches vor allem als Gegenpol zur Welthandelsorganisation (WTO).3 Estys
Organisation würde vor allem sogenannte globale Umweltgüter wie die Meere und
die Atmosphäre betreffen, und er scheint ihr durchgreifende Kompetenzen zubilli-
gen zu wollen. Der Nord-Süd-Kompromiß der Rio-Konferenz von 1992 – daß Um-
welt und Entwicklung zusammengehören – würde bei Esty eher einer Trennung der
»Umwelt« (in der von ihm vorgeschlagenen Globalen Umweltorganisation) von der
»Entwicklung« weichen. Initiiert von Esty hat sich ein »Global Environmental Go-
vernance Dialogue« von Experten zusammengefunden, der 1999 mit einer interna-
tionalen »Einladung zum Dialog« an die Öffentlichkeit trat.
Auch manche Politiker und Regierungen sehen mittlerweile in einer neuen Kör-
perschaft eine Lösung. So erregte 1999 der WTO-Exekutivdirektor Auf-
merksamkeit, als er sich für die Gründung einer Weltumweltorganisation als Ge-
gengewicht zur WTO aussprach – eine für Spitzenbürokraten ungewöhnliche
Initiative angesichts ihrer sonstigen Tendenz, im Zweifelsfall lieber die eigenen
Kompetenzen auszuweiten. Sicher spielte hier die Debatte über die Notwendigkeit
von Umweltstandards im WTO-Regime (Helm 1995, 1996; Biermann 1999, 2000)
eine Rolle. Der französische Präsident Jacques Chirac gesellte sich schon 1998 zu
den Befürwortern einer Weltumweltorganisation,4 und es wird spekuliert, daß dies
auch für den US-amerikanischen Vizepräsidenten Albert Gore ein Kampagnenziel
im Präsidentschaftswahlkampf werden könnte, um umweltpolitisch Profil und lea-
dership zu zeigen.
Gleichwohl ist es Deutschland, das international als Hauptbefürworter einer neuen
UN-Sonderorganisation gilt, nachdem sich Bundeskanzler Kohl Mitte der neunzi-
ger Jahre recht unvermittelt für einen »Umweltsicherheitsrat« ausgesprochen hatte,
diesem 1997 der offizielle deutsche Vorschlag einer »globalen Dachorganisation

3 Esty (1994a, 1994b, 1996); siehe auch Runge (1994).


4 Chirac sprach auf dem Kongreß der World Conservation Union (IUCN) am 3. November
1998 in Fontainebleau von der Notwendigkeit einer »World Authority« als einem »im-
partial and indisputable global center for the evaluation of our environment«.

164
Frank Biermann / Udo E. Simonis: Institutionelle Reform der Weltumweltpolitik?

für Umweltfragen mit dem UN-Umweltprogramm als Kernpfeiler« gefolgt war5


und die neue rot-grüne Regierung diesen Weg weiterverfolgen will.6 So heißt es in ei-
ner Erklärung der umweltpolitischen Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion vom
25. Januar 1999 unter anderem:
»Wir brauchen […] eine Bündelung der unübersichtlichen und zersplitterten internationa-
len Institutionen und Programme. UNEP [UN Environment Programme], CSD [Com-
mission on Sustainable Development] und UNDP [UN Development Programme] soll-
ten in einer Organisation für nachhaltige Entwicklung zusammengeführt werden. Eine
enge Verbindung zu Weltbank, Weltwährungsfonds, Welthandelsorganisation und
UNCTAD [UN Conference on Trade and Development] sind anzustreben, um Umwelt-
dumping zu verhindern und insgesamt eine der Agenda 21 entsprechende nachhaltige
umweltverträgliche Entwicklung zu erreichen« (Ulrike Mehl, zit. nach: epd-Entwick-
lungspolitik 5/99: 8).

Diese politische Entwicklung macht deutlich: In naher Zukunft könnte es durchaus


Verhandlungen oder zumindest Sondierungsgespräche zur Gründung einer Welt-
umweltorganisation geben.7 Die letzten Dekaden zeigten mit der Errichtung der
UN-Organisation für industrielle Entwicklung (UNIDO), der Weltorganisation für
geistiges Eigentum (WIPO), der WTO oder des internationalen Strafgerichtshofs,
daß das Staatensystem trotz seiner anarchischen Elemente zu deutlichen Fortschritten
in seiner Institutionalisierung in der Lage ist. Die Gründung einer weiteren UN-
Sonderorganisation, welche bestehende Programme und Organisationen integriert,
ist nach Meinung mancher vielleicht unsinnig, aber keinesfalls mehr unrealistisch.
Doch wäre eine solche neue Organisation wünschenswert? Sollte die deutsche
Politikwissenschaft der Bundesregierung ein »Haltet ein!« oder ein »Weiter so!«
zurufen? Und wenn »weiter so« – wohin genau? Wie sollte die Organisation ausse-
hen? Diese Fragen sind nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch interessant,
knüpfen sie doch an wesentliche Probleme an, mit denen das Fach Internationale
Beziehungen sich seit Jahrzehnten beschäftigt: Es geht um Grundfragen der interna-
5 Die Erklärung von Bundeskanzler Kohl vor der UN-Sondergeneralversammlung 1997 –
dem »Rio-plus-fünf-Gipfel« – lautete: »Global environmental protection and sustainable
development need a clearly-audible voice at the United Nations. Therefore, in the short
term, I think it is important that cooperation among the various environmental organisations
be significantly improved. In the medium term this should lead to the creation of a global
umbrella organization for environmental issues, with the United Nations Environment
Programme as a major pillar« (Speech by Dr. Helmut Kohl, Chancellor of the Federal Re-
public of Germany, at the Special Session of the General Assembly of the United Nations.
Press Release, New York, 23. Juni 1997). Dies war im Ergebnis deckungsgleich mit der
Gemeinsamen Erklärung von Brasilien, Deutschland, Singapur und Südafrika vom
23. Juni 1997, ebenfalls auf der Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen.
6 Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen emp-
fahl 1997 ebenfalls eine »Organisation für nachhaltige Entwicklung«, ohne zu dieser
Zeit konkreter zu werden (WBGU 1998a).
7 Zum offiziellen Stand der UN-internen Reformdebatte siehe UNSG (1998). Die von
Klaus Töpfer geleitete UN Task Force on Environment and Human Settlements riet, eine
»Environmental Management Group« unter UNEP-Leitung einzurichten, um die Arbeit
der verschiedenen Sekretariate, Abteilungen und Organisationen besser abzustimmen.

ZIB 1/2000 165


Forum

tionalen Institutionalisierung, die im Streit um die Notwendigkeit einer Weltum-


weltorganisation – und in welcher Form? – exemplifiziert werden. Im wesentlichen
sind es drei Positionen, die sich hier gegenüberstehen und die wir im folgenden dis-
kutieren wollen:
− Hierarchisierung der Weltumweltpolitik (government). Diese – maximalistische –
Position würde lauten, daß wir eine hierarchische und zentralistische Organisation
der Weltumweltpolitik bräuchten, etwa in Form einer souveränitätseinschrän-
kenden Weltumweltorganisation oder eines »Umweltsicherheitsrates«.
− Horizonale Institutionalisierung (governance) mit oder ohne Gründung einer
Weltumweltorganisation als neues Element. Diesen beiden Positionen wäre ge-
meinsam, daß sie eine Hierarchisierung des internationalen Institutionen- und
Organisationengefüges im Umweltbereich ablehnen oder für unrealistisch hal-
ten, jedoch uneinig sind in der Frage, ob der Prozeß der horizontalen Institutio-
nalisierung (governance) durch die Einrichtung einer nicht-souveränitätsein-
schränkenden UN-Sonderorganisation gefördert werden könnte und sollte,
wobei wir in diesem Beitrag für letzteres eintreten.
Die erwähnten unterschiedlichen Positionen werden wir in den zwei folgenden
Abschnitten erörtern und dann am Schluß (Abschnitt 4) die mögliche Ausgestaltung
einer solchen, nicht-souveränitätseinschränkenden neuen Sonderorganisation der
Vereinten Nationen skizzieren, die wir wegen der Bedeutung auch ihrer entwick-
lungspolitischen Komponente »Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung«
nennen wollen.

2. Neu-Organisation der globalen Umweltpolitik durch Hierarchisierung in


Form einer souveränitätseinschränkenden Weltumweltorganisation?

Viele Vertreter von Umweltverbänden bemängeln seit Jahren, daß es der internatio-
nalen Umweltpolitik an Durchsetzungskraft und »Biß« mangele. Das weltumwelt-
politische Hauptproblem sei die fehlende oder fehlerhafte Umsetzung der globalen
Umweltstandards, welche in den internationalen Umweltverträgen und Kon-
ferenzdokumenten festgelegt sind. Im Grunde ist dies eine korrekte Feststellung.
Nur wird häufig aus dem richtigen Befund falsch geschlossen, und unrealistische
Institutionalisierungsschübe werden gefordert, etwa eine »Weltumweltorganisa-
tion« mit hierarchischem, zentralistischem Organisationsmuster, die die dezentralen
Verhandlungssysteme der internationalen Umweltpolitik vereinte, durchaus Sank-
tionsgewalt gegen Einzelstaaten hätte und Souveränitätseinschränkungen für die
Staaten mit sich brächte.
Solche Vorschläge geben dem Aspekt der globalen Regierung (government) den
Vorzug gegenüber horizontalen, nicht-hierarchischen Organisationsmustern (gover-
nance), was allerdings in der bisherigen Theoriedebatte oft als wenig realistisch
oder wenig wünschenswert gekennzeichnet wird – sowohl von Seiten des Neorealis-
mus, der jegliche Form der Institutionalisierung des internationalen Systems für un-
realistisch und unwahrscheinlich hält (vgl. z.B. Waltz 1959, 1979), als auch von

166
Frank Biermann / Udo E. Simonis: Institutionelle Reform der Weltumweltpolitik?

Seiten des neoliberalen Institutionalismus, der die Möglichkeit des Regierens im in-
ternationalen System auf Grund von vernetzten problemfeldspezifischen Regimen
und nicht durch souveränitätseinschränkende, zentralistische Organisationen be-
tont.8 Im Grunde schließt der Ruf nach einer hierarchischen Organisation der globa-
len Umweltpolitik eher an frühere idealistische Vorstellungen an, in denen bei-
spielsweise Chancen und Bedingungen eines »Weltföderalismus« (Bauer 1995) im
Mittelpunkt der Debatte standen.
Inzwischen zeigen die Erfahrungen der Weltumweltpolitik jedoch, daß zumindest
in diesem Problemfeld jegliche souveränitätseinschränkende Hierarchisierung auf
unüberwindlichen Widerstand stoßen würde, in Nord und Süd. Vor zehn Jahren hat-
ten zwar 24 Staaten, noch ganz zu Beginn der Klimadebatte, sich für eine neue
Organisation (authority) zum Schutz der Atmosphäre ausgesprochen, »[that] shall
involve such decision-making procedures as may be effective even if, on occasion,
unanimous agreement has not been achieved«, welche also Sanktionsgewalt gegen
einzelne Staaten oder eine Minderheit von Staaten haben sollte (Hague Declaration
1989; hierzu Sands 1989). Selbst wenn manche größere Staaten beteiligt waren –
unter anderem die Bundesrepublik Deutschland sowie Brasilien, Indien, Japan und
Kanada –, so war von den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats doch nur
Frankreich zur Unterschrift bereit. Heute scheint ausgeschlossen, daß wichtige Ent-
wicklungsländer wie China oder Industrieländer wie die USA zur Aufweichung ihrer
Souveränität im Umweltschutz bereit sein werden.
Ähnlich unrealistisch sind Vorschläge etwa eines Umweltsicherheitsrates,9 den
Bundeskanzler Kohl zwar einmal erwähnte, aber nicht zur offiziellen Position werden
ließ, sowie der Vorschlag eines Internationalen Umweltgerichtshofes mit bindender
Rechtsprechung (vgl. Zaelke/Cameron 1990: 285; Fues 1997: 5). Zumindest ersteres er-
forderte auch eine Änderung der Charta der Vereinten Nationen, welche die Ratifi-
kation durch zwei Drittel der UN-Mitglieder sowie von China, Frankreich, Großbri-
tannien, Rußland und den Vereinigten Staaten verlangt. Weitreichende Souveränitäts-
einschränkungen erscheinen bei einem solchen Quorum ausgeschlossen.
Es wird zudem gefordert, die Sanktionsmöglichkeiten der bestehenden internatio-
nalen Institutionen zu stärken, gerade auch mit Blick auf eine Weltumweltorganisation.
Manche sehen dabei die WTO als Vorbild, da dort einzelne Staaten andere Staaten
wegen der Verletzung des GATT und anderer Handelsabkommen vor einen Streit-
schlichtungsausschuß unabhängiger Handelsexperten zwingen können, welche de
facto verbindlich entscheiden. Auf eine Weltumweltorganisation läßt sich ein solches
Verfahren jedoch kaum übertragen. Zunächst sprechen technische Gründe dagegen.
Die Parteien zur WTO sind in der Regel Partei zu den gleichen Handelsabkommen,

8 Vgl. für die Umweltpolitik etwa Haas et al. (1993); Victor et al. (1998); Young (1997);
Zürn (1997).
9 Vgl. hierzu Palmer (1992: 278f). Ende der achtziger Jahre hatte Neuseeland die Grün-
dung eines »Environmental Protection Council« vorgeschlagen, der ebenfalls bindende
Entscheidungen fällen sollte (General Debate Statement at the 44th Session of the United
Nations General Assembly, 2 October 1989; Statement of the Right Honourable Geoffrey
Palmer, Prime Minister of New Zealand).

ZIB 1/2000 167


Forum

was bei einer Mitgliedschaft in der Weltumweltorganisation nicht notwendigerweise


der Fall wäre. Man könnte die Mitgliedschaft zur Weltumweltorganisation zwar von
der Ratifikation eines Katalogs bestimmter internationaler Umweltverträge abhängig
machen, aber wir bezweifeln, daß eine solche Organisation genügend Anreiz böte, ei-
nen Umweltvertrag zu ratifizieren, den ein Staat sonst nicht ratifiziert hätte. Insofern
hätte eine feste Bindung von Mitgliedschaft in der Weltumweltorganisation mit der
Ratifikation eines bestimmten acquis communautaire gegenteilige Folgen.
Hiermit verbunden ist das Problem, daß effektive Streitschlichtung im Handelsrecht
mit dem Umweltrecht nicht ohne weiteres vergleichbar ist. Handelskonflikte betreffen
konkrete, transparente und universell meßbare Rechtsakte einer Regierung – die Höhe
des Zolls, Einfuhr- und Ausfuhrbestimmungen, technische Vorschriften für Güter und
Fertigungsanlagen im Inland und so weiter. Die GATT/WTO-Streitschlichtungsaus-
schüsse sollen dabei verhindern, daß ein Staat durch kreatives Ausgestalten seiner Re-
gelungen handelspolitische Vorteile auf Kosten anderer Staaten erzielt. Selbst wenn
umweltpolitische Konflikte um die Angemessenheit von Rechtsakten auftreten, so ist
die globale Umweltkrise doch weit komplexer in Ursachen und Folgen des Problems
wie auch de facto nachrangig gegenüber ökonomischen Fragen. Viele globale Um-
weltverträge haben erst gar keine transparenten konkreten staatlichen Pflichten, die
sich messen ließen wie die Höhe eines Ausfuhrzolls. Und selbst wo meßbare Indikato-
ren vorliegen, läßt die Nachrangigkeit von Umweltpolitik auf der innenpolitischen
Agenda der meisten Staaten die Umsetzung der Entscheidungen von Streit-
schlichtungsausschüssen höchst fraglich erscheinen.
Scharfe Durchsetzungsmechanismen einer Weltumweltorganisation würden letztlich
nur gegenüber denjenigen Staaten praktikabel sein, die sich schon heute vom
»Ökoimperialismus« bedroht sehen: den Entwicklungsländern (vgl. etwa Agarwal/Na-
rain 1991). Gerade gegenüber diesen Staaten wirkte eine Weltumweltorganisation mit
»scharfen Zähnen« deshalb kontraproduktiv: Um sich nicht dem ökologischen
Durchsetzungswillen reicher Industrieländer auszuliefern, blieben sie der Organisation
entweder fern oder würden für ein Aufweichen der Standards der Umweltverträge
kämpfen und striktere verweigern. Der Umwelt wäre damit nicht gedient.

3. Horizontale Institutionalisierung mit oder ohne Einfügung


einer neuen Organisation als weiteres Element

Insoweit ist die maximalistische Lösung einer Hierarchisierung der Weltumweltpoli-


tik in Form einer souveränitätseinschränkenden Weltumweltorganisation nicht reali-
stisch, genausowenig wie eine Zentralisierung, die die bestehende Vielfalt von pro-
blem- und regionalspezifischen Regimen aufhebt. Die globale Umweltpolitik kann
nur durch horizontale Institutionalisierung in Form von weiteren und in ihrer Funk-
tionsweise verbesserten internationalen Regimen erfolgen. Gleichwohl bleibt die
Frage, ob die bestehenden Governance-Strukturen der Weltumweltpolitik so blei-
ben oder durch die Gründung einer nicht-souveränitätseinschränkenden Weltum-
weltorganisation – etwa der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entsprechend –

168
Frank Biermann / Udo E. Simonis: Institutionelle Reform der Weltumweltpolitik?

ergänzt werden sollten, wobei diese neue Organisation im wesentlichen eine Reihe
bestehender, kleinerer Organisationen verschmelzen würde.
Dieses wollen wir im folgenden anhand von drei wesentlichen Leistungen globaler
Umweltpolitik diskutieren, die unseres Erachtens von den bestehenden Governance-
Strukturen nur unzureichend erfüllt werden: (1) Koordination des fortschreitend
zersplitternden internationalen Institutionen- und Organisationengefüges, (2) Kapa-
zitätsbildungs- und Finanzierungsfunktion des Systems (capacity building), ins-
besondere mit Blick auf die Nord-Süd-Kooperation, sowie (3) bessere Umsetzung
und Fortentwicklung der internationalen Umweltpolitik (concern building, impro-
ving the contractual environment).10

3.1. Besseres Koordinieren des internationalen Organisationensystems durch


Funktionsintegration in eine neue Organisation

Zunächst besteht im internationalen Institutionen- und Organisationensystem ein


Koordinationsdefizit, das erhebliche (obgleich bislang kaum quantifizierte) Kosten
verursacht und suboptimale Politikergebnisse erbringt. Das UNEP, gegründet 1972,
war noch ein vergleichsweise eigenständiger Akteur mit klar abgegrenztem Auf-
gabengebiet. Die Zunahme internationaler Umweltverträge führte indessen zur erheb-
lichen Zergliederung des Systems, da neugeschaffene Konventionssekretariate, teils
aus politischen Gründen, dem UNEP nicht eingegliedert wurden und dadurch starke
Partikularinteressen entwickeln konnten, was insgesamt einer koordinierten Heran-
gehensweise an die globale Umweltpolitik wenig zuträglich war. Beispielsweise ist
die Klimapolitik kaum mit der Biodiversitätspolitik abgestimmt, für die jeweils
eigenständige Sekretariate eingerichtet wurden, welche sich de facto zu kleinen
Sonderorganisationen mit eigener Agenda entwickelten. Das Anrechnen von Treib-
hausgassenken im Kioto-Protokoll zur Klimarahmenkonvention könnte etwa Anrei-
ze in der Waldpolitik setzen, die den Zielen der Biodiversitätspolitik zuwiderlaufen,
weil in diesem Protokoll das Abholzen von (artenreichen) Urwäldern und das an-
schließende Aufforsten mit (artenarmen, aber schnellwachsenden) Plantagen als
klimapolitische Maßnahme prämiert wird (WBGU 1998b). Die Finanzierung der
zentralen Umweltverträge mit Nord-Süd-Relevanz wiederum wurde teils der Welt-
bank organisatorisch eingegliedert in Form der Globalen Umweltfazilität (GEF),
teils eigenständigen sektoralen Fonds übertragen (vgl. Ehrmann 1997; Biermann
1997). Zusätzlich sind verschiedene UN-Sonderorganisationen im Umweltschutz
aktiv geworden, ohne daß das relativ kleine UNEP eine normsetzende und pro-
grammbildende Kraft hätte aufbauen können.

10 Zu den (im Englischen) drei »c« erfolgreicher Umweltregime vgl. Haas et al. (1993).
Zürn (1997) hat dieses Modell um ein viertes »c« für compliance management ergänzt.
Diese letzte Funktion wird jedoch auch nach Gründung einer Weltumweltorganisation
weiterhin Aufgabe der einzelnen Umweltinstitutionen bleiben, da eine zentralisierte Er-
füllungskontrolle angesichts der Vielzahl von Regimen mit jeweils unterschiedlichen
Parteien nicht realistisch erscheint und wohl auch schlechtere Politikergebnisse erbrächte.

ZIB 1/2000 169


Forum

Dieses Problem ist seit längerem bekannt. Das Vernetzen einzelner Organisationen,
Programme und Büros wird seit 1972 versucht, als ein erstes Koordinationsgremium
innerhalb der UN geschaffen wurde.11 Diesem und seinen Nachfolgern gelang es
jedoch nicht, die Partikularinteressen einzelner Abteilungen, Programme und Kon-
ventionssekretariate zu überwinden, so daß die vergleichsweise ineffektive und inef-
fiziente (und damit teure) Zersplitterung des internationalen Organisationensystems
in der Umweltpolitik eher zugenommen hat. Die Rio-Konferenz von 1992 gebar
aus der damaligen Debatte um eine institutionelle und organisatorische Reform nur
eine weitere Unterkommission des Wirtschafts- und Sozialausschusses, die Kom-
mission für nachhaltige Entwicklung (CSD). Die CSD konnte sich neben UNEP,
den Konventionssekretariaten und den UN-Sonderorganisationen vielleicht als Fo-
rum für Diskurs, aber kaum für Dezision entwickeln. Sie wurde der Querschnitts-
funktion nicht gerecht, die ihr von vielen zugedacht war, denn vertreten sind nur die
Umwelt- und Entwicklungsminister, nicht deren Kollegen für Finanzen, Wirtschaft
oder Äußeres.
Kurzum, seit 1972 ist die internationale Umweltpolitik von einer erheblichen
organisatorischen Zergliederung gekennzeichnet. Einen Schwerpunkt im System –
wie etwa die WHO oder die WTO – gibt es nicht. Zwischen fast allen Institutionen
und Organisationen finden sich Überschneidungen im Aufgabenbereich. Abge-
stimmt wird, wenn überhaupt, nur ad hoc, indem einzelne Vertragssekretariate mit
UN-Organisationen oder untereinander Absprachen zur Koordination und Koopera-
tion treffen.
Ein organisatorisches Zentrum für eine internationale Nachhaltigkeitsstrategie,
das in seiner Form den Interessen der zentralen Staaten gerecht wird, erscheint des-
halb dringend erforderlich. Wie das Politikfeld »Umweltschutz« innerhalb der Na-
tionalstaaten in den siebziger und achtziger Jahren durch die Einführung von eigen-
ständigen Umweltministerien organisatorisch gestärkt wurde, so sollte auch jetzt
das globale Politikfeld »Umweltschutz« durch eine eigenständige Sonderorganisa-
tion gestärkt werden, um Partikularinteressen einzelner Programme und Or-
ganisationen zu minimieren und Doppelarbeit, Überschneidungen und Inkonsistenzen
zu begrenzen. Praktikabel und organisatorisch recht einfach erscheint die Gründung
einer eigenständigen UN-Sonderorganisation mit eigener Rechtspersönlichkeit, ei-
genem Budget und eigenen Finanzierungsquellen, was insbesondere mit (1) dem
Auflösen von UNEP, CSD und GEF, (2) der Integration der größeren Konventions-
sekretariate und (3) einer neuen Abgrenzung der Aufgaben der bestehenden Organi-
sationen einhergehen müßte.
11 Schon nach der Stockholmer Konferenz über die menschliche Umwelt von 1972 wurde
zur Koordination der umweltpolitischen Arbeit innerhalb der Vereinten Nationen ein
eigenständiges Büro im Rahmen des UN-Umweltprogramms geschaffen (Environment
Coordination Board), das 1977 wieder aufgelöst wurde. Seitdem wird die Koordination
der Umweltpolitik der Vereinten Nationen vom allgemeinen Verwaltungsausschuß für
Koordinierung (Administrative Committee on Co-ordination, ACC) und zum Teil von
UNEP wahrgenommen. Klaus Töpfer, der neue UNEP-Exekutivdirektor, will nun eine
»Environmental Management Group« unter UNEP-Leitung einrichten, um die Arbeit der
Sekretariate, Abteilungen und Organisationen besser abstimmen zu können.

170
Frank Biermann / Udo E. Simonis: Institutionelle Reform der Weltumweltpolitik?

3.2. Verbesserte Möglichkeiten für Kapazitätsaufbau im Süden sowie Finanz- und


Technologietransfer durch eine UN-Sonderorganisation

Kapazitätsaufbau (capacity building) wurde vor einigen Jahren zum Zauberwort der
Entwicklungszusammenarbeit, und empirisch dürfte der Aufbau umweltpolitischer
Kapazität, insbesondere in Entwicklungsländern (vgl. Paulus 1997), eine der we-
sentlichen Funktionen auch der globalen Umweltregime sein (vgl. Keohane et al.
1993). Die finanzielle und technische Zusammenarbeit bei globalen Umwelt-
problemen unterscheidet sich gleichwohl von der entwicklungspolitischen Koope-
ration: Die Finanzleistungen des Multilateralen Ozonfonds oder der GEF dienen
nicht nur dem Aufbau umweltpolitischer Kapazitäten im Süden, sondern entschä-
digen vertraglich auch für die vollen »vereinbarten« Mehrkosten, die Entwicklungs-
ländern in der globalen Umweltpolitik entstehen – gemäß dem Grundsatz der Rio-
Konferenz von 1992 von den »gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwort-
lichkeiten und entsprechenden Fähigkeiten« der Staaten. So schrieb Hans Peter
Schipulle aus dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung:
»Anders als bei der klassischen Entwicklungshilfe [...] handelt es sich bei den Leistun-
gen im Rahmen der [Umwelt-]Konventionen um Verpflichtungen, die im Grunde nach
völkerrechtsverbindlich sind [...]. Wenn diese Verpflichtungen von den Industrieländern
nicht eingelöst werden, können die Entwicklungsländer dies zum Anlaß der Nichterfüllung
ihrer eigenen Verpflichtungen nehmen, was wiederum den Interessen der Staatenge-
meinschaft, also auch der Industrieländer, schadet. [... Diese Bestimmungen] werden
durch Ratifikation nationales Recht und stellen damit ein neues, rechtliches Bezugs-
system für die Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern dar« (Schipulle 1997: 236f).

Dieses neue Bezugssystem spiegelt sich in den nord-süd-paritätischen Entschei-


dungsverfahren von GEF und Ozonfonds und der Ersetzung der Geber-Nehmer-
Terminologie durch den Begriff der »Partnerschaft« wider.
Auch hier jedoch leidet das internationale Organisationensystem an einem Ad-
hoc-Ansatz, der den Erfordernissen der Transparenz, Effektivität und Beteiligung
der Betroffenen schon jetzt nicht gerecht wird – und der Bedarf an Finanz- und
Technologietransfer von Nord und Süd in der globalen Umweltpolitik wird weiter
wachsen: So haben die Industrieländer zugesagt, die Mehrkosten der Entwicklungs-
länder wie schon in der Ozonpolitik, so auch in der Klimapolitik zu erstatten, wenn
diese sich in den nächsten Jahrzehnten zu quantitativen Emissionsminderungszielen
bei Treibhausgasen verpflichten. Vergleichbares gilt für die künftigen Kosten der
Biodiversitätspolitik im Süden (vgl. Biermann 1998: Kap. 5-7). Hinzu kommen
Transferpflichten zur Bekämpfung der Wüstenbildung (vgl. Pilardeaux 1998) und
bald wohl zur Begrenzung der Freisetzung persistenter organischer Schadstoffe
(vgl. Biermann/Wank 1999). Überdies erfordert ein künftiger internationaler
Emissionszertifikatehandel im Klimaschutz (vgl. Simonis 1996b) – etwa in Form
des »clean development mechanism«, der 1997 in Kioto beschlossen wurde – einen
erheblichen organisatorischen Unterbau.

ZIB 1/2000 171


Forum

Diese neuen und erweiterten funktionalen Erfordernisse der internationalen Um-


weltpolitik sind unseres Erachtens mit den bisherigen Einrichtungen nicht zu leisten.
− Ein Weg wäre die Proliferation weiterer Sonderfonds wie des Multilateralen
Ozonfonds, der 1990 zum Finanzieren nur dieses einen Umweltproblems einge-
richtet wurde. Solch weiteres Zersplittern des Organisationensystems scheint
aber wenig effizient und nicht empfehlenswert.
− Ein zweiter Weg wäre, diese Aufgaben alle der Weltbank zu übertragen. Dem
würden sich die Entwicklungsländer höchstwahrscheinlich widersetzen, da ihnen
die Weltbank mit ihrem beitragsabhängigen Entscheidungsverfahren als nord-do-
miniert gilt.
− Ein dritter Weg wäre, die Ausweitung der Kapazitätsbildungs-, Finanzierungs-
und Kompensationsfunktion der internationalen Umweltpolitik einer eigen-
ständigen Organisation zu übertragen, die die besondere Form der Nord-Süd-
Beziehungen in der Umweltpolitik besser berücksichtigt als die Weltbank und
zugleich die Zersplitterung in eine Vielzahl ineffizienter Einzelfonds überwin-
det. Eine Weltumweltorganisation könnte verschiedene Finanzierungsmechanis-
men koordinieren, die Mittel der sektoralen Fonds treuhänderisch verwalten,
wobei die Funktionen der GEF eingegliedert (und diese damit aufgelöst) wür-
den. Für die Industrieländer könnte dieser Vorschlag akzeptabel werden, wenn
die Weltumweltorganisation ein der GEF faktisch entsprechendes Entschei-
dungsverfahren erhielte (was unten näher begründet wird).
Hinsichtlich der Finanzierung böte eine neue Organisation zudem die Möglich-
keit einer grundsätzlichen Neuerung des internationalen Systems, nämlich der Ein-
führung »quasi-automatischer Finanzierungsmechanismen«. Fast alle bisherigen
Finanzierungsmechanismen kranken an der Freiwilligkeit der Beitragszahlung, und
selbst wo vertraglich festgelegte Mitgliedsbeiträge existieren, zeigt sich immer wie-
der, daß Zahlungen politisch instrumentalisiert oder von der Wirtschaftskonjunktur
abhängig gemacht werden. Wie die Theorie der kollektiven Güter zeigt, wird die
Finanzierung von Gemeinschaftsaufgaben durch Trittbrettfahrer systematisch unter-
graben, so daß auf nationaler Ebene Gemeinschaftsaufgaben nicht freiwillig, son-
dern durch Steuern finanziert werden.12 Hieran knüpft die aktuelle Debatte über
quasi-automatische Finanzierungsmechanismen in der Umweltpolitik an.
Der globale Finanzbedarf in der Umweltpolitik ist offensichtlich erheblich. Das
Sekretariat zur UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung von 1992 hatte ge-
schätzt, daß das gesamte, von den Staaten einvernehmlich ausgehandelte Aktions-
programm der Konferenz – die »Agenda 21« – jährlich insgesamt 125 Milliarden
US-Dollar Finanzhilfe in den Entwicklungsländern erfordert, also weitaus mehr als
der derzeitige Zweimilliardenhaushalt der Globalen Umweltfazilität der Weltbank,
über die die Industrieländer ihre Unterstützung für die Klima-, Biodiversitäts- und
Meeresschutzpolitik im Süden transferieren. Internationale Steuern auf um-
12 Siehe auch den Bericht der »Unabhängigen Arbeitsgruppe zur Zukunft der Vereinten
Nationen«, geleitet vom früheren pakistanischen Premierminister Moeen Qureshi und
dem früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker; Independent Working Group
on the Future of the United Nations (1995).

172
Frank Biermann / Udo E. Simonis: Institutionelle Reform der Weltumweltpolitik?

weltschädigende Tätigkeiten waren schon mit Blick auf die Ozonschutzpolitik und
die Klimapolitik (Kohlenstoffsteuer) diskutiert worden. Derzeit stehen die – nach
ihrem Erfinder als »Tobin-Steuer« bekannte – Devisenumsatzsteuer, die auch vom
ehemaligen französischen Präsidenten Mitterrand (auf dem Weltsozialgipfel in Ko-
penhagen) unterstützt wurde, sowie eine internationale Steuer auf den Luftverkehr
im Mittelpunkt der Debatte. Letzteres war vom ehemaligen UN-Generalsekretär
Boutros-Ghali diskutiert worden in seiner Agenda for Peace zur Finanzierung der
Friedenssicherung (UNSG 1992). Da eine internationale Luftverkehrssteuer recht
leicht mit geringen Verifikationskosten über Flughäfen eingetrieben werden könnte
(zum Beispiel zusammen mit der Erhebung der Flughafengebühr), scheint sie
praktikabel. Ein vergleichsweise niedriger Steuersatz würde gewährleisten, daß es
nicht zu größeren Wettbewerbsverzerrungen und Verkehrsverlagerungen kommt.
Eine (zusätzliche) Finanzierungsquelle könnte das Umwidmen von Schuldentiteln
der Entwicklungsländer für die Zwecke der Organisation sein (gleichsam ein globa-
ler debt-for-nature swap) wie auch eine entsprechende Verwendung der Erlöse aus
dem geplanten Emissionszertifikatehandel der Klimapolitik.
Natürlich könnten solche automatischen Finanzierungsmechanismen auch ohne
eine Weltumweltorganisation eingeführt werden, wie auch eine Weltumweltorgani-
sation gegründet werden könnte, ohne daß sie zugleich mit automatischen Finanzie-
rungsmechanismen ausgestattet wird. Dennoch ist beides verknüpft: Automatische
Finanzierungsmechanismen benötigen einen entsprechenden organisatorischen
Überbau, und gerade bei umweltbezogenen Abgaben (wie auf den Luftverkehr)
wäre hierfür eine UN-Sonderorganisation für Umweltfragen ein geeigneter Akteur
zur Verwaltung der Mittel. Andererseits würden automatische Finanzierungsmecha-
nismen der neuen Organisation die erforderlichen Mittel geben, um ihre Aufgaben,
insbesondere den notwendigen Kapazitätsaufbau in Entwicklungsländern, durch-
führen zu können.

3.3. Bessere Umsetzung und Fortentwicklung der internationalen Umweltpolitik

Wie oben diskutiert, wäre es falsch, umfassende Durchsetzungsmechanismen für


eine Weltumweltorganisation zu wünschen oder diese auch nur öffentlich zu for-
dern. Die organisatorische Reform würde »im Rohr krepieren« und die Weltum-
weltpolitik zurückwerfen. Statt »scharfer Zähne« sollte die Organisation »weiche-
re« Durchsetzungsmechanismen haben, die sich in der politikwissenschaftlichen
Forschung als durchaus tauglich und erfolgversprechend herausgestellt haben. Die
Organisation sollte beispielsweise das Recht haben, Informationen über den Stand
der Umwelt und der Umweltpolitik in den einzelnen Ländern zu sammeln, aus-
zuwerten und in geeigneter Form zu veröffentlichen, insbesondere im Vergleich zu
den internationalen Verpflichtungen, die die jeweiligen Staaten eingegangen sind.
Wie Marc A. Levy (1993) am Beispiel des europäischen Luftreinhalteregimes ge-
zeigt hat, kann die rein vergleichende Information über verschiedene Länder we-
sentliche politische Initiativen in weniger umweltbewußten Staaten auslösen.

ZIB 1/2000 173


Forum

Eine Weltumweltorganisation sollte deshalb, wie die meisten Sonderorgani-


sationen der Vereinten Nationen, das Problembewußtsein fördern und den welt-
weiten Informationsstand als Entscheidungsgrundlage verbessern, die Information
über das Erdsystem und die gegenwärtigen Umwelt- und Entwicklungsprobleme
ebenso wie die Information über den Stand der Umsetzung der internationalen und
nationalen Politik zur Steuerung des globalen Wandels (»raising concern«, vgl.
Keohane et al. 1993). Natürlich muß dabei das Rad nicht neu erfunden werden:
Sämtliche Umweltverträge verpflichten schon heute ihre Parteien zur regelmäßigen
Berichterstattung über ihre Politik. Sonderorganisationen wie die Weltorganisation
für Meteorologie (WMO), die Internationale Seeschiffahrtsorganisation (IMO) oder
die WHO sammeln und verbreiten wertvolles Wissen und fördern weitergehende
Forschung; die CSD leistet wichtige Beiträge beim Ausarbeiten von Indikatoren für
nachhaltige Entwicklung. Nicht zuletzt ist UNEP auf vielen dieser Gebiete aktiv.
Doch weiterhin fehlt das umfassende Koordinieren, Bündeln und entscheidungs-
orientierte Aufbereiten und Weiterleiten dieses Wissens. Was gegenwärtig von den
verschiedenen internationalen Akteuren erarbeitet wird, benötigt einen zentralen
Fixpunkt im internationalen Organisationensystem. UNEP könnte dieser Fixpunkt
sein, doch reichen die Ressourcen und derzeitigen Kompetenzen dieses der UN-
Vollversammlung beigeordneten Programms nicht aus. Viel eher wäre das die Auf-
gabe einer vertraglich abgesicherten, finanziell mit zusätzlichen Mitteln aus-
reichend gestützten und institutionell eigenständigen Weltumweltorganisation.
Eine solche Organisation hätte zudem mehr Möglichkeiten, Regimebildungspro-
zesse zu unterstützen (»improving the contractual environment«; vgl. Keohane et
al. 1993), beispielsweise durch das Initiieren und Vorbereiten von Verträgen. Ein
Vorbild könnte hier die ILO sein, die nach einem festgelegten Verfahren einen um-
fassenden Corpus von »ILO-Konventionen« ausgearbeitet hat, die eine Art globales
Arbeitsgesetzbuch darstellen. Verglichen mit der ILO ist die globale Umweltpolitik
in der Regimebildung weit disparater und von diversen Kompetenzstreitigkeiten
zwischen verschiedenen UN-Sonderorganisationen gekennzeichnet, in denen das
kleine UNEP die Umweltinteressen nicht genügend wahren konnte.
Natürlich ist zu berücksichtigen, daß internationale Organisationen nur selten als
Beispiele für hohe Effizienz gelten. Statt dessen kommt es oft zu institutionellen
Verfestigungen, die mangelnde Anpassungsfähigkeit und so auch Ineffizienz nach
sich ziehen. Aber dies spricht keineswegs für eine Aufrechterhaltung des Status
quo, denn schon heute sind die Sekretariate internationaler Regime in der Regel an
internationale Organisationen angegliedert und haben dementsprechend mit Büro-
kratisierungstendenzen zu kämpfen. Jedes Sekretariat, jedes kleine Umweltpro-
gramm benötigt seinen eigenen administrativen Apparat, von der Personalkostenab-
rechnung bis hin zu EDV-Dienstleistungen. Unser Vorschlag, eine Weltumweltor-
ganisation zu schaffen, die die Konventionssekretariate, das UNEP und die CSD
verschmelzen soll, würde insofern zwar eine neue Bürokratie schaffen – aber zu-
gleich unzählige kleinere überflüssig machen. Insgesamt wird diese organisatori-
sche Verschmelzung im umweltpolitischen Teil des UN-Systems zum Abbau von
Bürokratismus und zu wohl erheblichen Effizienzgewinnen führen.

174
Frank Biermann / Udo E. Simonis: Institutionelle Reform der Weltumweltpolitik?

4. Skizze einer »Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung«

Insgesamt scheint deshalb die Gründung einer nicht-souveränitätseinschränkenden


Weltumweltorganisation als zusätzliches Element einer horizontal organisierten
globalen Governance-Struktur in der Weltumweltpolitik ein erfolgversprechender
Weg zu sein. Eine solche Organisation kann unabhängig von den Quoren der Ver-
einten Nationen auf einer diplomatischen Konferenz gegründet werden und nur für
ihre Mitglieder in Kraft treten. Juristisch könnte sie zunächst tätig sein ohne China
(wie die WTO) oder ohne die USA, welche ja dem Völkerbund fernblieben, einige
UN-Sonderorganisationen verlassen haben und der eigentlichen UNO angesichts
der US-Beitragsrückstände eher fern als nahe stehen.
Im wesentlichen sollte die neue Organisation die genannten drei Funktionen er-
füllen: (1) die Weltumweltpolitik wieder zusammenführen und besser koordinieren,
(2) Kapazitäten im Süden aufbauen und finanzieren und (3) zur besseren Umset-
zung der internationalen Umweltpolitik beitragen sowie das Umfeld zur Aushand-
lung neuer Institutionen kooperationsfördernder gestalten. Wie aber könnte, wie
sollte eine solche Organisation konkret ausgestaltet sein? Drei Fragen wollen wir in
diesem zweiten argumentativen Schritt klären: die Abgrenzung von »Umwelt« und
»Entwicklung« (4.1), die Entscheidungsverfahren der Organisation und damit ihre
zwischenstaatliche Konsensfindungsfunktion (4.2) und die Integration privater Ak-
teure, insbesondere der Umwelt- und Wirtschaftsverbände (4.3).

4.1. Abgrenzung und Zusammenhang von »Umwelt« und »Entwicklung«

Eine neue UN-Sonderorganisation ist notwendig vor allem wegen der dysfunktio-
nalen Zersplitterung des internationalen Organisationensystems im Umweltschutz.
Diesem Aufgabenbereich sollte die neue Organisation vorrangig dienen. Allerdings
darf Umweltschutz international nicht isoliert gesehen werden. Bei politischen
Vereinbarungen und Programmen, beispielsweise zum Schutz von Tropenwäldern
oder zur Regulation des Verbrauchs fossiler Brennstoffe, sind unweigerlich wirt-
schafts- und entwicklungspolitische Kernbereiche betroffen. Eine Weltumwelt-
organisation muß dies berücksichtigen. Sie muß nicht Entwicklung als solche för-
dern, wie es etwa das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) versucht, aber sie darf
diesem nicht entgegenstehen und muß in ihrer Politik gewährleisten, daß Armuts-
bekämpfung und wirtschaftliche Entwicklung im Süden nicht gefährdet werden und
die globale Umweltpolitik dem Kriterium einer global gerechten Lastenverteilung
genügt. Deshalb ist es unerläßlich, daß sich dies im Statut der Organisation – analog
etwa zur Erklärung über Umwelt und Entwicklung von Rio de Janeiro 1992 – und
auch im Namen der Organisation spiegelt: »Weltorganisation für Umwelt und Ent-
wicklung«.
Manche streben hier eine weit größere Integration an: Das Verschmelzen des
UNEP mit dem UNDP – angesichts des UNDP-Budgets von etwa einer Milliarde
US-Dollar wäre dies eine »Elephantenhochzeit« in der internationalen Organisatio-

ZIB 1/2000 175


Forum

nenfamilie. Industrieländer haben sich seit langem einer internationalen Organisation


für Entwicklungsfragen widersetzt, so daß das Aufwerten von UNDP und UNEP zu ei-
ner »Weltorganisation für nachhaltige Entwicklung« vom Süden befürwortet, von
den meisten Industrieländern abgelehnt werden könnte. Andererseits finden manche
Industrieländer vielleicht Gefallen an der UNDP-UNEP-Synthese, wenn sich hier-
durch das entwicklungspolitische UN-Budget insgesamt reduzieren ließe, es also zu
vereinigungsbedingten Einsparungen käme. Der frühere UNDP-Verwalter Gustave
Speth hat sich grundsätzlich für eine Weltumweltorganisation, aber gegen deren Ver-
schmelzen mit seinem eigenen Programm ausgesprochen13 – und ein ähnlicher Wi-
derstand ist von seinem Nachfolger wohl zu erwarten und angesichts des Gewichts
des UNDP nicht zu unterschätzen. Ein Hauptproblem ist der Projektcharakter der Ar-
beit des UNDP, den UNEP nicht besitzt und der auch für die hier diskutierte Weltor-
ganisation für Umwelt und Entwicklung nicht sinnvoll ist, wie auch die erhebliche
Größendifferenz zwischen UNEP und UNDP. Beides würde möglicherweise die hier
angestrebten politikstimulierenden und kooperationsförderlichen Wirkungen einer
Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung vor dem Hintergrund der entwick-
lungspolitischen Projektarbeit des UNDP erheblich ins Hintertreffen geraten lassen.
Insofern erscheint es also geboten, zur Zeit keine Verschmelzung von UNEP und
UNDP in einer Organisation anzustreben, sondern UNDP neben einer eigenständi-
gen »Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung« bestehen zu lassen. Die Auf-
nahme des Entwicklungsbegriffs in den Titel der Weltumweltorganisation ist den-
noch notwendig. Dies bedeutet nicht, daß die neue Organisation eigenständige
(entwicklungspolitische) Projekte im Süden durchführen sollte; auch UNIDO,
UNDP oder die Weltbank werden damit keineswegs überflüssig. Statt dessen
schließt der Doppelbegriff »Umwelt und Entwicklung« an die Rio-Konferenz von
1992 und deren Grundsatzerklärung an, indem verdeutlicht wird, daß globale Um-
weltpolitik keine Begrenzung der wirtschaftlichen Entwicklung im Süden bedeutet.
Dies schließt wiederum eine Reihe von Grundsätzen der Weltumweltpolitik ein, wie
den Grundsatz der »gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und
entsprechenden Fähigkeiten« der Staaten,14 den Grundsatz der Pflichtendifferenzie-
13 »I think it is very timely to be thinking about how to strengthen the UN in both environ-
ment and development, and linking the two. Major institutional innovations are needed in
the environmental area, but perhaps the most important is to dramatically strengthen the
UN Environment Programme. My own view is that UNEP should evolve into a world
environment organization. I think a new name might be useful, because it would symbo-
lize the fact that something new had come into being. The organization which I think is
needed is one that would deal with information, analysis, monitoring trends in environ-
ment, early warning, framing agreements and building consensus for action. So we need a
World Organization for Environment that is as strong and as effective as the World Trade
Organization, where trade ministers work together internationally, or as the World
Health Organization, where the world’s health ministers work together. We need an orga-
nization that brings all the environmental ministers of the world together for concerted
action. I hope that UNEP can evolve into a world environment institution of the type that
I described« (Speth 1998).
14 Grundsatz 7 der Rio-Erklärung über Umwelt und Entwicklung, vgl. etwa auch Art. 3,
Abs. 1 der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen von 1992.

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Frank Biermann / Udo E. Simonis: Institutionelle Reform der Weltumweltpolitik?

rung zwischen Nord und Süd oder den Grundsatz der Kompensation der umweltpoli-
tischen Mehrkosten des Südens (vgl. Biermann 1998: 129-332). Einer reinen »Welt-
umweltorganisation« würden die Entwicklungsländer derzeit mit Sicherheit ableh-
nend gegenüberstehen – beim Vorschlag einer »Weltorganisation für Umwelt und
Entwicklung« wäre jedoch möglicherweise ein Kompromiß zwischen Nord und Süd
möglich.15

4.2. Entscheidungsverfahren

Institutionen senken die Transaktionskosten des internationalen Systems, indem sie


unter anderem bewährte Entscheidungsverfahren bereitstellen (vgl. Keohane 1984).
Gerade eine Weltumwelt- und -entwicklungsorganisation könnte dazu beitragen, den
besonderen Machtverhältnissen der internationalen Umweltpolitik durch die Etablie-
rung eines besonderen Entscheidungsprozesses Rechnung zu tragen, welcher unab-
hängig von einzelnen Regimen eine globale Nachhaltigkeitsstrategie zwischen Nord
und Süd initiiert, koordiniert und begleitet. Auch wenn sich im UN-Alltag zu-
nehmend das Konsensverfahren durchsetzt, wäre es falsch, die Relevanz der Stimm-
rechte in den Gremien zu übersehen. Besondere Aufgaben und Probleme haben in
einigen internationalen Organisationen zu sehr spezifischen Entscheidungsverfahren
geführt. Verschiedene Elemente dieser unterschiedlichen Entscheidungsverfahren
ließen sich für eine Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung kombinieren, um
ihre Effektivität und Akzeptanz sicherzustellen.
Sinnvoll wären insbesondere Entscheidungsverfahren, die Nord und Süd eine gleich-
berechtigte Stellung einräumen. Dies könnte gewährleisten, daß die Entscheidungen
der neuen Weltorganisation zu Strategie und Programm den Interessen weder der
Entwicklungsländer noch der Industrieländer widersprechen. Denn ohne Zustimmung
der Mehrheit der Regierungen des Südens und ohne Einwilligung der Mehrheit der
Industrieländer ist eine globale Weltumwelt- und -entwicklungspolitik nicht möglich.
Nord-süd-paritätische Entscheidungsverfahren sind also im Ergebnis ein »dritter Weg«
zwischen dem süd-orientierten Entscheidungsverfahren der UN-Vollversammlung (ein
Land, eine Stimme) und der nord-orientierten Prozedur der Bretton-Woods-Organi-
sationen (ein Dollar, eine Stimme). Im Ozonregime (und für den Multilateralen Ozon-
fonds) wurde bereits 1990 festgelegt, daß jeder Entscheidung zwei Drittel der Ver-
tragsparteien inklusive der einfachen Mehrheit der Entwicklungsländer und der
einfachen Mehrheit der Industrieländer zustimmen müssen (vgl. Benedick 1998). Ein
im Ergebnis ähnliches Verfahren wurde 1994 für die GEF vereinbart.16

15 Diese Einschätzung beruht unter anderem auf mehreren Expertenseminaren an der School of
International Studies, Jawaharlal Nehru University, Neu-Delhi, Januar und Februar 1999.
16 Vgl. Biermann (1998: Kap. 6). Entscheidungen des GEF-Verwaltungsrates erfordern seit
1994 eine Zweidrittelmehrheit, die sechzig Prozent der an der Fazilität beteiligten Staaten
und zugleich sechzig Prozent der finanziellen Beiträge zur Fazilität repräsentieren muß.
Dies ist im Ergebnis ein nord-süd-paritätisches Verfahren, das den Entwicklungsländern
und den Industrieländern jeweils ein effektives Vetorecht einräumt.

ZIB 1/2000 177


Forum

Problematisch bei strikt paritätischen Verfahren bleibt allerdings das Festlegen


der Gruppenzugehörigkeit. Singapur hat beispielsweise ein höheres Pro-Kopf-Ein-
kommen als viele Industrieländer, gilt jedoch – als Mitglied der »Gruppe der 77« –
weiterhin als Entwicklungsland.17 Das Ozonregime graduiert problemspezifisch:
Verbraucht ein Entwicklungsland mehr als 300 Gramm FCKW pro Kopf und Jahr,
wird es als Industrieland gewertet. Es muß die schärferen Reduktionspflichten des
Nordens erfüllen und zählt bei der paritätischen Abstimmung zur Gruppe der
Industrieländer (vgl. Biermann 1998: Kap. 5). Bei einer Weltorganisation für Umwelt
und Entwicklung, die ja für alle Umweltprobleme zuständig sein soll, scheidet eine
solche fallspezifische Graduierung aus. Übrig bliebe als zweitbeste Option die
Selbstdefinition der Staaten, wie in der UNCTAD oder in der UN-Vollversamm-
lung. Zumindest sollte zu erwarten sein, daß Entwicklungsländer, die der OECD
beitreten, automatisch die umweltpolitischen Pflichten der Industrieländer erfüllen.
Zudem ist zu überlegen, inwieweit das nord-süd-paritätische Verfahren in ein
mehrfach-paritätisches Verfahren untergliedert werden könnte. Es ließen sich zum
Beispiel vier Gruppen bilden – »westliche Industrieländer« (mit einer vorüberge-
henden Sondergruppe »Staaten im Übergang zur Marktwirtschaft«), »Schwellen-
länder«, »Entwicklungsländer« und »am wenigsten entwickelte Länder« (LLDC).
Bei vier Gruppen wäre es durchaus praktikabel, den Entscheidungen der Weltorga-
nisation für Umwelt und Entwicklung die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder
jeder dieser Gruppen zugrunde zu legen. Eine noch stärkere Untergliederung in mit
Vetorecht ausgestattete Gruppen würde dagegen die Effektivität des Entscheidungs-
prozesses mindern.

4.3. Integration privater Akteure

In der öffentlichen wie der sozialwissenschaftlichen Diskussion tritt die Rolle


nichtstaatlicher Akteure immer stärker in den Vordergrund, vor allem der transnatio-
nalen Umweltschutz- und Wirtschaftsverbände (vgl. etwa Wapner 1997). Dabei üben
diese Verbände nicht nur oft erheblichen Druck auf die Politik aus, sondern bieten in ei-
ner komplexer werdenden Welt auch eine Reihe von »Dienstleistungen« im internatio-
nalen System: Sie liefern kostengünstige Forschung und Politikberatung durch qua-
lifizierte (und privat finanzierte) Mitarbeiter, kontrollieren die gegenseitigen
Verpflichtungen der Staaten, wie es staatliche Stellen aufgrund des völkerrechtlichen
Interventionsverbots nicht könnten, und informieren Regierungen und Öffentlichkeit
umfassend über die internationalen Verhandlungen, sowohl über die Handlungen der
»eigenen« Diplomaten als auch die der anderen Verhandlungspartner. Zudem erlau-
ben transnationale Umwelt- und Industrieverbände ein effektives Rückkoppeln der
Regierungsvertreter auf diplomatischen Konferenzen mit der innenpolitischen Situa-
tion vor Ort (vgl. Raustiala 1997). Deshalb ist es weitgehend akzeptiert, daß Nichtregie-
rungsorganisationen an internationalen Verhandlungen stärker zu beteiligen sind.

17 Vgl. allgemein hierzu Jakobeit (1997a, 1997 b) sowie Simonis (1992).

178
Frank Biermann / Udo E. Simonis: Institutionelle Reform der Weltumweltpolitik?

Allerdings gibt es zwei Schieflagen in der internationalen Gemeinde privater Ak-


teure. Zum einen sind die auf UN-Konferenzen und Vertragsstaatenkonferenzen
tätigen privaten Umweltlobbyisten von den Gesellschaften des Nordens dominiert,
von denen sie ihr Geld und meist auch ihr Personal beziehen (vgl. kritisch hierzu
South Centre 1996: 212f). Dies beeinflußt die Agenda dieser Gruppen, selbst wenn in
der Praxis häufig versucht wird, nord-süd-paritätische Modi in den internen Ab-
stimmungsverfahren zwischen den transnationalen Umwelt- und Entwicklungsver-
bänden durchzuhalten. Wenn es um die Anhörungsrechte solcher Organisationen
auf diplomatischen Konferenzen geht, sind es deshalb in der Regel die Regierungen
der Entwicklungsländer, die weitergehende Rechte privater Akteure verhindern
(teils auch aufgrund interner Demokratiedefizite, etwa in China). Ein zweites Pro-
blem ist das Übergewicht der Finanzkraft der Wirtschaftsverbände, welches
Umweltinteressen schnell und oft ins Hintertreffen kommen läßt.
Ein Ausweg wäre, die Mitwirkung privater Akteure in einer Weise zu
institutionalisieren, die einen gleichgewichtigen Einfluß von Nord und Süd sowie
von Wirtschaft und Umwelt garantiert. Ein Präzedenzfall hierfür ist das Entschei-
dungsverfahren der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), in dem jeder Mit-
gliedstaat mit vier Stimmen vertreten ist, von denen zwei auf die Regierung und je
eine auf die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften entfallen. Die Umwelt-
und Entwicklungsverbände aus dem Süden hätten eine – der von ihnen repräsentier-
ten Bevölkerungszahl angemessene – Stimmenmehrheit, und die Interessen von
Ökonomie und Ökologie wären gleichgewichtig vertreten. Sicher träten beim Über-
tragen eines solchen Verfahrens auf die Weltumweltpolitik einige Probleme auf.
Auf der umwelt- und entwicklungspolitischen Seite gibt es zum Beispiel nur wenige
Zusammenschlüsse, die ihre gesamte nationale Klientel überzeugend reprä-
sentieren. Doch können sich solche Koalitionen, wie etwa das »Forum Umwelt und
Entwicklung deutscher Nichtregierungsorganisationen«, in naher Zukunft her-
ausbilden – ja dies könnte dadurch befördert werden, daß im Statut einer
Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung die Repräsentation von (stimm-
berechtigten) Nichtregierungsorganisationen aus beiden Interessenlagern festgelegt
würde.

5. Conclusio

Für eine Weltumwelt- und -entwicklungspolitik, die Zukunftsfähigkeit für das


21. Jahrhundert gewährleisten soll, muß die Familie der UN-Sonderorganisationen er-
gänzt werden um ein neues Mitglied für das Politikfeld »Umweltschutz und nach-
haltige Entwicklung«. Disparate, schlecht koordinierte Glieder des internationalen
Institutionen- und Organisationensystems würden damit zusammengelegt und so
insgesamt gestärkt: Unseres Erachtens sollten das UN-Umweltprogramm, die UN-
Kommission zur nachhaltigen Entwicklung, die Globale Umweltfazilität und die
Konventionssekretariate der großen Umweltverträge in der neuen Organisation auf-
gehen. Die Gründung einer solchen Sonderorganisation – einer Weltorganisation

ZIB 1/2000 179


Forum

für Umwelt und Entwicklung – würde den drängenden Aufgaben der Weltumwelt-
und -entwicklungspolitik einen höheren Stellenwert bei nationalen Regierungen,
internationalen Organisationen und privaten Akteuren verschaffen. Auch ließe sich
die Handlungskapazität der Staaten, insbesondere in Afrika, Asien und Latein-
amerika, durch verbesserte internationale Zusammenarbeit und Unterstützung stär-
ken. Ferner würde die institutionelle Umgebung für das Aushandeln neuer Konven-
tionen und Aktionsprogramme wie für das Umsetzen und Koordinieren der
bestehenden verbessert.
Eine Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung könnte einerseits durch
Beitragszahlungen der Industrieländer finanziert werden; manche Kosten entfielen
dabei durch die Integration der bestehenden Programme und Konventionssekreta-
riate. Darüber hinaus wäre eine Finanzierung möglich durch das Umwidmen von
Schuldentiteln der Entwicklungsländer für die Zwecke der Organisation, durch Ein-
führung automatischer Finanzierungsmechanismen, vor allem einer internationalen
Luftverkehrssteuer, oder auch durch die Erlöse aus dem geplanten Emissionszertifi-
katehandel der Klimapolitik.
Hinsichtlich der Entscheidungsverfahren wäre eine größtmögliche Akzeptanz der
Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung durch das Einführen nord-süd-
paritätischer Entscheidungsverfahren nach dem Modell des Ozonregimes zu erzie-
len. Dabei hätte die Mehrheit der Entwicklungsländer und zugleich die Mehrheit
der Industrieländer jeweils ein Gruppenvetorecht über die Entscheidungen. Der be-
trächtliche informelle Einfluß privater Akteure sollte in der Organisation
institutionalisiert und damit die Chancengleichheit verbessert werden: Wir schlagen
vor, daß Repräsentanten der Umwelt- und Entwicklungsverbände und der Wirt-
schaft nach dem Modell der ILO stimmberechtigt sein sollten, das heißt, jedes Land
könnte vier Stimmen haben: zwei Stimmen der Regierung und jeweils eine Stimme
der Umwelt- und Entwicklungsverbände und der Wirtschaftsverbände.
Sicherlich erscheint eine solche Organisation manchen als unrealistisch. Aber un-
wirklich war auch die Gründung eines Internationalen Strafgerichtshofes noch vor
zehn Jahren. In diesem Beitrag haben wir versucht, die Notwendigkeit einer Weltor-
ganisation für Umwelt und Entwicklung zu begründen. Zumindest Deutschland,
Frankreich und Japan scheinen einer neuen UN-Sonderorganisation inzwischen posi-
tiv gegenüberzustehen. Die Entwicklungsländer schweigen oder sind eher skeptisch.
Wir denken jedoch, daß die hier skizzierte Organisation für Entwicklungsländer ak-
zeptabel sein könnte. Viele Vertreter des Südens mögen bezweifeln, ob sich eine
südfreundliche Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung letztlich durchsetzen
läßt oder ob am Ende nicht eher eine Globale Umweltorganisation im Sinne Daniel
Estys (1994b) das Verhandlungsergebnis ist, durch die beispielsweise Regenwälder als
»global commons« international verwaltet und Umweltstandards des Nordens dem
Süden aufgezwungen würden – und ob die Entwicklungsländer deshalb nicht besser
von vornherein jegliche Reform verweigern sollten. Dem wird Rechnung zu tragen
sein. Wir sind jedoch der Meinung, daß angesichts der gewachsenen Ver-
handlungsmacht der Entwicklungsländer in der Weltumweltpolitik (vgl. Biermann
1998) der hier vorgelegte Vorschlag durchaus eine Chance zur Realisierung hat.

180
Frank Biermann / Udo E. Simonis: Institutionelle Reform der Weltumweltpolitik?

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ZIB 1/2000 183


Thomas Gehring / Sebastian Oberthür

Was bringt eine Weltumweltorganisation?


Kooperationstheoretische Anmerkungen zur institutionellen Neuordnung der
internationalen Umweltpolitik

Der Beitrag stellt eine Antwort auf Vorschläge dar, die institutionelle Zersplitte-
rung der internationalen Zusammenarbeit zum Schutz der Umwelt durch die Grün-
dung einer Weltumweltorganisation zu überwinden und gleichzeitig eine Reihe zen-
traler Probleme der internationalen Umweltzusammenarbeit zu lösen. Dazu werden
Organisationen kooperationstheoretisch als Steuerungsinstitutionen mit spezifi-
schen Entscheidungsprozessen konzipiert. Dadurch wird erkennbar, daß wichtige
bestehende internationale Umweltregime die Schwelle zur Organisation bereits
überschritten haben. Sodann wird die im Vergleich zu anderen Politikfeldern ty-
pisch kleinteilige Bearbeitung internationaler Umweltprobleme auf die strukturel-
len Bedingungen des Politikfeldes »Umwelt« zurückgeführt. Anschließend werden
die beiden zentralen Dimensionen, die Organisation kollektiver Entscheidungspro-
zesse und der Zuschnitt des bearbeiteten Problemfelds, zu drei Modellen einer mög-
lichen Weltumweltorganisation zusammengeführt. Die abschließende Untersu-
chung zeigt, daß von einer solchen Organisation aus kooperationstheoretischer
Sicht kein wesentlicher Beitrag zur Lösung zentraler Probleme der internationalen
Umweltpolitik zu erwarten ist.

Die internationale Zusammenarbeit zum Schutz der Umwelt hat in den vergangenen
30 Jahren dramatisch zugenommen. Internationale Übereinkommen regulieren heute
den Schutz globaler Umweltgüter (z.B. des Weltklimas und der Ozonschicht) ebenso
wie regionaler oder sub-regionaler Schutzgüter (z.B. Regionalmeere, internationale
Flüsse und Seen, Reinhaltung der Luft). Die Erfolge der internationalen Umweltzu-
sammenarbeit erstrecken sich allerdings nicht auf alle Bereiche gleichermaßen.
Zwar sind viele schützenswerte Umweltgüter durch geeignete Arrangements erfaßt,
für eine nachhaltige Entwicklung sind jedoch weitere Fortschritte in zahlreichen,
wenn nicht gar fast allen Bereichen erforderlich1.
Ein zentrales Charakteristikum der internationalen Umweltpolitik ist ihre starke
institutionelle Zersplitterung. Staaten kooperieren zum Schutz der Umwelt typi-

1 Zur Wirksamkeit internationaler Umweltpolitik vgl. u.a. Haas et al. (1993); Oberthür (1997);
Victor et al. (1998); Young (1999); zum Zustand der globalen Umwelt vgl. UNEP (1999).

Zeitschrift für Internationale Beziehungen 185


7. Jg. (2000) Heft 1, S. 185-211
Forum

scherweise, indem sie jeweils separate, problemfeldspezifische Übereinkommen


abschließen und diese unabhängig voneinander weiterentwickeln. Schon zu Beginn
der 1990er Jahre wurden in einer für den »Erdgipfel« von Rio erstellten Studie
mehr als 125 in der Regel institutionell unverbunden nebeneinander stehende multi-
laterale Umweltregime gezählt (Sand 1992). Jahr für Jahr treten etwa fünf weitere
wichtige Umweltvereinbarungen hinzu (Beisheim et al. 1999: 350-351). Mit der se-
paraten Institutionalisierung sind gegenseitige Beeinflussungen und Störeffekte in-
ternationaler Umweltarrangements verbunden, die seit einigen Jahren zunehmend
erkannt werden (Young 1996). Beispielsweise greifen die im Rahmen des Ozon-
schutzregimes getroffenen Maßnahmen allein deshalb in die Klimaschutzpolitik
ein, weil sowohl die ozonschichtgefährdenden Stoffe als auch viele ihrer Substitute
klimarelevante Eigenschaften besitzen (Oberthür 1999). Regelungen des Kyoto-
Protokolls zum Klimaschutz könnten zu einer Forstpolitik führen, die den Zielen
der Erhaltung der Artenvielfalt unter der Biodiversitätskonvention zuwiderlaufen
(WBGU 1998).
Vor diesem Hintergrund legen Biermann und Simonis (2000) ihren Vorschlag für
die Errichtung einer internationalen Umweltorganisation vor. Sie setzen sich deut-
lich von Vorstellungen ab, einen mit starken Eingriffsrechten ausgestatteten »Um-
welt-Sicherheitsrat« zu errichten. Statt dessen schlagen sie eine »nicht-souveränitäts-
einschränkende Weltumweltorganisation« vor, durch die die bestehende Umwelt-
zusammenarbeit einen kohärente(re)n institutionellen Rahmen erhalten soll. Davon
versprechen sie sich eine Reihe von Vorteilen, insbesondere eine verbesserte Koor-
dination zwischen bestehenden und/oder neu zu errichtenden Umweltregimen, ei-
nen verbesserten Kapazitätsaufbau im Süden einschließlich einer Ausweitung des
Ressourcentransfers dorthin sowie die Förderung der Entwicklung und Umsetzung
internationaler Regeln zum Schutz der Umwelt. Wenn dies zuträfe, dann müßte die
Errichtung einer Weltumweltorganisation, unter deren Schirm die bislang zersplit-
terten Einzelaktivitäten zusammengefaßt werden, als eine aussichtsreiche institutio-
nelle Innovation betrachtet werden.
Allerdings sind erhebliche Zweifel angebracht, ob eine Weltumweltorganisation
diese Erwartungen zu erfüllen vermag. In dem Beitrag von Biermann und Simonis
(2000) finden sich kaum Hinweise darauf, wie sie angelegt sein könnte. Damit bleibt
unklar, über welche Rechte und Eingriffsmöglichkeiten eine solche Organisation
verfügen müßte, um zur Lösung der – im wesentlichen zutreffend skizzierten – Pro-
bleme nennenswert beitragen zu können. Es wird auch nicht erkennbar, ob die er-
warteten Vorteile der Gründung einer »Organisation« anstelle der gegenwärtig vor-
herrschenden »Regime« oder der Zusammenlegung der heute existierenden
kleinteiligen Problemfelder zugeschrieben werden sollen. Diese Fragen, die den ge-
nerellen Nutzen und das konkrete Design einer internationalen Umweltorganisation
betreffen, lassen sich nicht ohne ein tragfähiges theoretisches Fundament beantworten.
In diesem Beitrag gehen wir aus einer kooperationstheoretischen Perspektive der
Frage nach, welchen Beitrag eine Weltumweltorganisation zur Überwindung der
von Biermann und Simonis (2000) angesprochenen Probleme zu leisten vermag.
Dazu skizzieren wir zunächst eine kooperationstheoretisch begründete Konzeption

186
Thomas Gehring / Sebastian Oberthür: Was bringt eine Weltumweltorganisation?

internationaler Organisationen, die den Zusatznutzen einer Umweltorganisation ge-


genüber einfachen Verhandlungssystemen erkennen läßt (Kap. 1). Sodann untersu-
chen wir die Folgen der Begrenzung von Problemfeldern für den Kooperationsprozeß
und gehen den Gründen für die im Vergleich zu anderen Politikbereichen der inter-
nationalen Beziehungen besonders hochgradige, institutionelle Zersplitterung der
internationalen Umweltzusammenarbeit nach (Kap. 2). Diese beiden Stränge wer-
den in der Entwicklung von drei grundlegenden Modellen einer möglichen inter-
nationalen Umweltorganisation zusammengeführt (Kap. 3). Schließlich fragen wir,
inwieweit eine diesen Modellen nachempfundene Organisation die von Biermann
und Simonis (2000) erwarteten positiven Wirkungen hervorzubringen vermag
(Kap. 4). Wir kommen zu dem Schluß, daß die Errichtung einer Weltumweltorgani-
sation zur Lösung der von Biermann und Simonis skizzierten Probleme der interna-
tionalen Umweltpolitik nur einen geringen Beitrag leisten könnte. Es bestünde im
Gegenteil die Gefahr, daß ein solcher Schritt gegenüber der bisherigen Situation mit
erheblichen Nachteilen verbunden wäre.

1. Verhandlungssysteme und internationale Organisationen

Der Vorschlag von Biermann und Simonis (2000) ist auf die Gründung einer Welt-
umweltorganisation gerichtet. Er schließt damit an die weit verbreitete Überzeu-
gung an, daß eine Organisation besser dazu geeignet sei, bestimmte Leistungen im
Prozeß der internationalen Zusammenarbeit zu erfüllen als andere Formen der Insti-
tutionalisierung. Allerdings wird dies nicht theoretisch begründet hergeleitet. Im
folgenden wird deshalb zunächst kooperationstheoretisch fundiert untersucht, wel-
chen Beitrag internationale Organisationen zur Förderung des Kooperationsprozesses
leisten können.

1.1. Internationale Organisationen in der bisherigen Kooperationstheorie

Internationale Organisationen werden in der kooperationstheoretisch informierten


Literatur vielfach mit ihren Sekretariaten gleichgesetzt (Keohane 1989: 3-4; Young
1994: 163-183) und dann als theoretisch wenig relevant betrachtet (Ruggie 1992:
573). In anderen Fällen werden sie, dem Völkerrecht folgend, als »Akteure« behan-
delt, die neben den Staaten internationale Rechtspersönlichkeit genießen (Müller
1993: 29). Beiden Konzeptionen fehlt eine kooperationstheoretisch gehaltvolle
Durchdringung der Organisationen selbst und ihres Beitrages zum Gelingen zwi-
schenstaatlicher Kooperation (Abbott/Snidal 1998).
Dieser Befund mag angesichts der über 20 Jahre andauernden Diskussion um die
Möglichkeiten und Grenzen der internationalen Kooperation überraschen. Er läßt
sich auf zwei zentrale Ursachen zurückführen. Zum einen wandte sich die Wissen-
schaft von der internationalen Zusammenarbeit (International Organization) zu Be-
ginn der 1970er Jahre gerade von der Untersuchung internationaler Organisationen,

ZIB 1/2000 187


Forum

insbesondere der UNO, ab, um die Bedingungen und Grenzen erfolgreicher Koope-
ration zu erforschen (Kratochwil/Ruggie 1986). Zum anderen errichten Staaten als
die zentralen Akteure des internationalen Systems in der Perspektive des lange Zeit
dominierenden streng akteurszentrierten Rational-Choice-Ansatzes internationale
»Regime«, um bestehende Kooperationsprobleme zu überwinden. Internationalen
Organisationen wird dann im wesentlichen eine Hilfsfunktion, etwa zur Gewinnung
von Informationen über das Implementationsverhalten der beteiligten Staaten (Martin
1993), zugewiesen.
Eine derart sparsame Konzeption läßt kaum einen nennenswerten Zusatznutzen
internationaler Organisationen erkennen. Während die frühe Kooperationstheorie
sich praktisch ausschließlich auf nicht-kooperative Spiele (Beispiel: Gefangenendi-
lemma) stützte, in denen Akteure nicht miteinander kommunizieren (beispielhaft
Zürn 1992; zur Kritik Müller 1994), nutzen neuere kooperationstheoretische Arbeiten
(Morrow 1994; Fearon 1998) zunehmend das Instrumentarium kooperativer Spiele
oder Bargaining-Modelle, in denen Kommunikation und das Treffen kollektiver
Entscheidungen von erheblicher Bedeutung sind. Diese Entwicklung eröffnet eine
Perspektive für eine kooperationstheoretisch gehaltvolle Konzeption internationaler
Organisationen. Sie müßte darlegen, wie diese Institutionen durch die spezifische
Organisation von Kommunikations- und Entscheidungsprozessen in die Lage ver-
setzt werden, kollektive Entscheidungen substanziell zu beeinflussen (vgl. ausführlich
Gehring 1998, 2000).

1.2. Die Vor- und Nachteile der Koordination durch Verhandlungen

Die Vorteile von Verhandlungen zur Lösung von Kooperationsproblemen auf der in-
ternationalen Ebene folgen aus der horizontalen Struktur des internationalen Sy-
stems, dem sowohl eine legitimierte normsetzende als auch eine wirksame norm-
durchsetzende Instanz nahezu vollständig fehlt. Unter diesen Voraussetzungen ist
internationale Zusammenarbeit weitgehend auf die Ausbeutung von Kooperations-
möglichkeiten beschränkt, an deren Nutzung sich Staaten im eigenen Interesse betei-
ligen können.2 Wenn die Staaten sich nicht darauf verlassen wollen, daß kooperatives
Verhalten allein durch wechselseitig aufeinander bezogenes Handeln der beteiligten
Akteure »spontan« entsteht (Axelrod 1984), dann müssen sie gemeinsam verbindliche
Entscheidungen über geeignete Verhaltensnormen treffen (Gehring 1995). Dazu
können sie sich nicht darauf beschränken, nur zu handeln, sondern müssen darüber
hinaus miteinander kommunizieren (Kratochwil/Ruggie 1986: 765).
Verhandlungen bilden einen Koordinationsmechanismus, der auf diese Bedin-
gungen besonders gut zugeschnitten ist und auf den Staaten deshalb besonders häufig
zurückgreifen. Sie erlauben es einer Gruppe von Akteuren, durch Kommunikation
kollektive Entscheidungen über kooperationsfördernde soziale Normen zu treffen

2 Zur Kooperationstheorie vgl. insbesondere Krasner (1982); Keohane (1984); Kohler-


Koch (1989); Zürn (1992); Rittberger (1993); Hasenclever et al. (1996); Keck (1997).

188
Thomas Gehring / Sebastian Oberthür: Was bringt eine Weltumweltorganisation?

und damit steuernd tätig zu werden. Gleichzeitig ermöglichen sie es den einzelnen
beteiligten Akteuren, ihre voneinander abweichenden Verteilungsinteressen gezielt
zu verfolgen. Dazu können die Akteure sich auf ihre Verhandlungsmacht (bargai-
ning power) stützen. Diese beruht auf den Handlungsoptionen, über die sie unab-
hängig von den Verhandlungen verfügen und die sie durch die Drohung mit der
Nicht-Teilnahme an dem geplanten Kooperationsprojekt (exit) in den Verhand-
lungsprozeß einführen können (Hirschman 1970), sowie auf ihrer Bedeutung für
das Kooperationsprojekt (Elster 1989; Holzinger 1996). Das Verteilungsergebnis
eines solchen Verhandlungs- (Bargaining-) Prozesses wird die außerhalb des Ver-
handlungsraums bestehende, problemfeldspezifische Machtkonstellation deshalb –
jedenfalls im großen und ganzen – widerspiegeln.
Die zwischenstaatliche Koordination durch Verhandlungen ist jedoch keineswegs
so problemlos, wie dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Erstens erweisen sich
einfache Verhandlungen wegen der zu lösenden Verteilungsfrage (Vanberg 1982)
oftmals als langwierig und schwerfällig. Hartes, auf Verteilung gerichtetes Verhan-
deln schmälert automatisch die Aussicht auf den gemeinsam gewünschten Ver-
handlungserfolg. Je größer die durch dieses »Verhandlungsproblem« (Lax/Sebenius
1986; Scharpf 1992) hervorgerufenen Reibungsverluste im Verhältnis zu dem er-
warteten Kooperationsgewinn sind, desto attraktiver wird der Rückgriff auf alterna-
tive Koordinationsmechanismen.
Zweitens nimmt die Koordinationsleistung einfacher Verhandlungen mit steigender
Komplexität der Verhandlungsmaterie rasch ab. Wenn der Verhandlungsgegen-
stand sich aus vielen Einzelaspekten zusammensetzt, die so miteinander verbunden
sind, daß ein für die Beteiligten nicht mehr überschaubares Geflecht von Konzes-
sionen und reziproken Vorteilen entsteht, steigt die Wahrscheinlichkeit von Koordi-
nationsstörungen und die »Transaktionskosten« wachsen drastisch an. Darüber hin-
aus sind einfache Verhandlungsprozesse nur unzureichend darauf eingerichtet,
Unsicherheiten über die gemeinsamen Handlungsgrundlagen, die im Umweltbe-
reich vielfach auftreten, durch gemeinsam anerkanntes und deshalb zuverlässigeres
Wissen zu reduzieren. Auch die Komplexität der Verhandlungsmaterie erhöht da-
mit die Attraktivität alternativer Koordinationsmechanismen.
Drittens erfordert der rasche Wandel vieler Verhandlungsgegenstände eine fle-
xible Anpassung der vereinbarten Normen an veränderte Bedingungen. Dies gilt
insbesondere in den Bereichen der Wirtschaft, der Technikregulierung und des Um-
weltschutzes. Wenn die beteiligten Akteure die Vorteile längerfristig stabiler Ko-
operationsbeziehungen genießen wollen, müssen sie in diesen Fällen darauf ver-
zichten, alle damit verbundenen Vor- und Nachteile schon im voraus genau zu
kennen und sogenannte »unvollständige Verträge« abschließen (Williamson 1990).
Viertens schließlich können rational handelnde Akteure daran interessiert sein, ihre
Kooperationspartner durch den Aufbau eines institutionalisierten Konfliktbearbei-
tungs- und Sanktionsapparates in besonderer Weise an die gemeinsam vereinbarten
Pflichten zu binden. Im Gegenzug müssen sie die erhöhte Bindungswirkung der selbst
eingegangenen Verpflichtungen in Kauf nehmen. Die Akteure erhöhen auf diese Weise
gemeinsam die Glaubwürdigkeit der gegenseitig eingegangenen Bindungen (credible

ZIB 1/2000 189


Forum

comitments) (Elster 1979: 36-111; Shepsle 1991). Dieser Fall wird um so wahrschein-
licher eintreten, je höher die Erwartung an die Gewinne eines Kooperationsprojekts
ausfällt, die durch opportunistisches »Trittbrettfahren« gefährdet sind.

1.3. Vom Verhandlungssystem zum komplexen Entscheidungssystem

Rationale Akteure können das Entscheidungsverfahren isolierter und einheitlicher


Verhandlungen also aus eigenem Interesse verlassen und sich auf institutionell an-
spruchsvollere Koordinationsmechanismen einlassen. Zur Lösung der genannten
Koordinationsprobleme werden sie in der Regel bestimmte Teilaspekte aus dem
Verhandlungsprozeß zu einer gesonderten Bearbeitung ausgliedern. Der zunächst
einheitliche Verhandlungsprozeß wird damit in unterschiedlicher, jeweils problem-
spezifischer Weise differenziert. Wenn die Akteure diesen Weg beschreiten, stehen
fortan für bestimmte Fragen spezialisierte Entscheidungsprozesse zur Verfügung,
die stärker als einfache Verhandlungen von Verfahrensregeln beeinflußt sind und
den Rückgriff der Akteure auf ihre ursprünglich verfügbare Verhandlungsmacht be-
schränken. Eine Institution, deren Entscheidungsprozesse differenziert sind, ge-
winnt gegenüber einer einfachen Verhandlungsrunde an Autonomie gegenüber den
beteiligten Staaten und wird zu einem eigenständigen Einflußfaktor. Wir wollen
hier drei Formen unterscheiden, in denen dies geschehen kann.
(1) Wenn die beteiligten Akteure einen Teil der Verhandlungsmaterie auf spätere
Verhandlungsrunden auslagern, etwa um die Komplexität zu reduzieren oder die An-
passungsfähigkeit der Institution zu steigern, dann überführen sie eine zeitlich begrenz-
te Verhandlung in einen dauerhaften Verhandlungsprozeß. Spätere Verhandlungsrun-
den finden dann unweigerlich in einem bereits institutionalisierten Kontext statt, der
Einfluß auf die Präferenzen der Akteure gewinnt und dadurch eine pfadabhängige Ent-
wicklung der Institution einleitet (Thelen/Steinmo 1992; Pierson 1996). Ist eine Viel-
zahl gleichartiger Folgeentscheidungen mit jeweils begrenzter Auswirkung zu treffen,
können sich auch fallübergreifende Kriterien bilden, die den verfügbaren Verhand-
lungsspielraum beschränken und den Übergang zur diskursiven Beratung fördern.
(2) Wenn die Akteure die Klärung bestimmter Teilfragen an Sonderausschüsse
oder Beratungsgremien übertragen, so richten sie eine Anzahl paralleler oder einan-
der nachgeschalteter Koordinationsprozesse ein, deren Aktivität jeweils auf die Be-
arbeitung nur eines Teilaspekts der zu treffenden Entscheidung gerichtet ist. Diese
Beschränkung des bearbeiteten Problemkomplexes fördert eine spezialisierte Inter-
essenvertretung der beteiligten Staaten und damit die Herausbildung von Fachge-
meinschaften oder »epistemic communities« (P. Haas 1992). Spezialisierungspro-
zesse führen vielfach zu einer Steigerung der Koordinationsfähigkeit, weil sie den
Rückgriff auf gemeinsam anerkanntes Fachwissen und den Übergang zu einem dis-
kursiven Interaktionsmodus erlauben. Der Gefahr, daß sich die geschaffenen Ent-
scheidungsprozesse verselbständigen, wird häufig dadurch begegnet, daß Entschei-
dungen erst verbindlich werden, wenn sie in ein umfassendes Verhandlungspaket
integriert und im Konsens verabschiedet worden sind.

190
Thomas Gehring / Sebastian Oberthür: Was bringt eine Weltumweltorganisation?

(3) Wenn die Akteure das Konsensprinzip für die Entscheidung über bestimmte
Fragen aufheben und an seine Stelle verbindliche Mehrheitsbeschlüsse oder die Be-
schlußfassung durch spezialisierte Sondergremien setzen, verzichten sie partiell auf
das Vetorecht, das ihnen die Möglichkeit der Blockade unerwünschter Entscheidungen
bietet. Die horizontale, auf den Konsens der Kooperationspartner gegründete institu-
tionelle Entscheidungsfindung wird damit durch eine vertikale Komponente ergänzt.
Dies ist auch unter den Voraussetzungen des gegenwärtigen internationalen Staaten-
systems möglich, wenn die Option des »selektiven Exits« ausgeschlossen ist (Weiler
1991: 2412). Dann sind die Einzelentscheidungen so fest miteinander verknüpft, daß
sie nur insgesamt entweder akzeptiert oder verworfen werden können.
Bereits in den beiden ersten Fällen gewinnt eine internationale Institution vergli-
chen mit einem undifferenzierten Verhandlungssystem deutlich an Einfluß auf die
kollektiven Entscheidungen, weil sie die Präferenzen der beteiligten Akteure modifi-
ziert und ihre Interventionen in den Entscheidungsprozeß verändert. Allerdings läßt
sich jede Einzelentscheidung noch vollständig dem aufeinander bezogenen Kom-
munikationshandeln der beteiligten Akteure zuschreiben. Die Autonomie der Insti-
tution beruht deshalb nicht auf ihrer Fähigkeit zu eigenständigem Handeln.
Im dritten Fall werden jedoch in mindestens einem ausgegliederten Teilprozeß
verbindliche Entscheidungen getroffen, ohne daß alle Mitgliedstaaten ihnen zustim-
men oder an dem betreffenden Entscheidungsprozeß überhaupt teilnehmen müssen.
Derartige Entscheidungen lassen sich den Mitgliedstaaten jedenfalls dann nicht
mehr zuschreiben, wenn einige von ihnen ausdrücklich dagegen votiert haben oder
gar nicht beteiligt waren. Sie müssen deshalb der Institution selbst zugeschrieben
werden (Willke 1996: 178-190). Dadurch wird das Entscheidungssystem zu einem
neuen korporativen Akteur, der die Fähigkeit besitzt, gegenüber seinen eigenen
Mitgliedern selbständig zu handeln, d.h. entsprechend der geltenden Entschei-
dungsregeln verbindliche Entscheidungen zu treffen. Damit ist die Schwelle zur in-
ternationalen Organisation (Rittberger 1995) unzweideutig überschritten.
Diese kooperationstheoretisch informierte Konzeption internationaler Organisa-
tionen läßt zunächst erkennen, daß der Zugewinn an institutioneller Autonomie un-
weigerlich mit der fortschreitenden Einbindung der Mitgliedstaaten in ein Geflecht
institutioneller Verfahren einhergeht, die ihrem Handeln Restriktionen setzen und
zugleich neue Optionen eröffnen. Der Einfluß einer internationalen Organisation
auf zwischenstaatliche Koordinations- und Kooperationsprozesse steigt in dem
Maße, in dem sie die Handlungs- und Entscheidungsspielräume der beteiligten
Staaten modifiziert. Es wird deshalb nicht möglich sein, die internationale Umwelt-
politik durch die Errichtung einer derartigen Organisation signifikant zu fördern,
ohne erheblich in die »Souveränität« der Mitgliedstaaten einzugreifen.
Die kooperationstheoretische Analyse zeigt darüber hinaus, daß internationale In-
stitutionen schrittweise Autonomie gegenüber den Mitgliedstaaten gewinnen. Der
Prozeß beginnt weit unterhalb der Schwelle, an der verbindliche Entscheidungen
der Institution selbst zugeschrieben werden müssen. Umgekehrt ist die Überschrei-
tung dieser Schwelle nicht notwendig mit einem hohen Autonomiegewinn verbun-
den, weil sie sich auf einen oder wenige für die Funktionserfüllung der Institution

ZIB 1/2000 191


Forum

insgesamt untergeordnete Teilprozesse beschränken kann. Insofern bilden nicht nur


weit entwickelte internationale Institutionen vom Typ der Europäischen Union oder
des Weltsicherheitsrats »Organisationen« im kooperationstheoretischen Sinne. Die
Schwelle zur Organisation wird durch viele internationale Umweltinstitutionen auf
vergleichsweise unspektakuläre Weise überschritten. So entscheidet im Ozon-
schutzregime ein paritätisch mit Industrie- und Entwicklungsländern besetzter Exe-
kutivausschuß über die Vergabe erheblicher finanzieller Hilfsmittel (Biermann
1997). Im Walfangregime und im Regime über den Handel mit gefährdeten Tier-
und Pflanzenarten (CITES) wird mit Mehrheit über die Anpassung von Fangquoten
bzw. die Einstufung gefährdeter Tier- und Pflanzenarten entschieden (Sand 1997;
Oberthür 1997). Damit erweist sich der in dem Beitrag von Biermann und Simonis
(2000) entstehende Eindruck als unzutreffend, daß es im Bereich des internationalen
Umweltschutzes bislang keine Organisation, sondern »nur« Regime gäbe.
Soweit sich die identifizierten Probleme der internationalen Umweltpolitik durch
die Stärkung organisatorischer Entscheidungsprozesse überwinden lassen, muß dies
nicht unbedingt durch die Neugründung einer umfassenden Weltorganisation ge-
schehen. Auch innerhalb der existierenden sektoralen Umweltregime sind die Mög-
lichkeiten zur Entscheidungsfindung unterhalb des Konsenses aller Mitgliedstaaten
oder durch Übertragung begrenzter Entscheidungskompetenzen auf Sonderakteure
bei weitem nicht ausgeschöpft (Oberthür 2000). Daß Versuche zur Ausweitung der-
artiger Organisationsentscheidungen regelmäßig am Widerstand (einiger) der be-
troffenen Mitgliedstaaten scheitern, kann kaum als Argument für die Einrichtung
einer Weltumweltorganisation herhalten. Denn daß diese solchen Widerstand leichter
überwinden könnte, ist kaum zu erwarten. In jedem Fall wäre es notwendig darzule-
gen, welche Teilprozesse innerhalb einer umfassenden Organisation besser »auto-
nom« ausgestaltet werden können als im Rahmen sektoraler Institutionen.

2. Der Zuschnitt kooperationsfähiger Problemfelder

Der Vorschlag von Biermann und Simonis (2000) bezieht sich nicht nur auf die
Gründung einer neuen Organisation, sondern auch auf deren umfassende Zuständig-
keit. Damit ist der Zuschnitt des Problemfeldes angesprochen, das von einer solchen
Institution bearbeitet wird. Die Autoren verweisen ausdrücklich auf die Weltgesund-
heitsorganisation (WHO), die Welthandelsorganisation (WTO) sowie die Internatio-
nale Arbeitsorganisation (ILO). An der Vermutung, daß diese Vorbilder politikfeld-
weit operierender internationaler Organisationen sich auf den Bereich des
internationalen Umweltschutzes übertragen ließen, sind erhebliche Zweifel ange-
bracht. Selbst wenn die beklagte institutionelle Zersplitterung der internationalen
Umweltpolitik das Ergebnis einer aus heutiger Sicht unglücklichen historischen Ent-
wicklung darstellte, ließe sie sich aufgrund der zwischenzeitlich entstandenen Zwänge
nicht schon deshalb einfach korrigieren, weil sie kontingent ist, also grundsätzlich
auch anders hätte verlaufen können (North 1990; Scharpf 1985). Wichtiger ist je-
doch, daß die unterschiedliche institutionelle Entwicklung der betreffenden Poli-

192
Thomas Gehring / Sebastian Oberthür: Was bringt eine Weltumweltorganisation?

tikfelder möglicherweise auf strukturelle Ursachen zurückzuführen ist, die in diesen


Politikfeldern selbst liegen. Deshalb gilt es im zweiten Schritt, nach Antworten auf
die Frage zu suchen, warum die internationale Umweltpolitik in auffälligem Gegen-
satz zu anderen Politikfeldern institutionell so stark zersplittert ist.

2.1. Warum werden Problemfelder voneinander abgegrenzt?

Im akteurszentrierten Ansatz der klassischen Kooperationstheorie wurden Koopera-


tionslösungen für bestehende, als gegeben angenommene Probleme gesucht. Im
Gegensatz dazu werden die Problemfelder, auf die sich die Regulierung koopera-
tionsfördernder internationaler Institutionen erstreckt, erst durch das aufeinander
bezogene Handeln der beteiligten Akteure sozial konstruiert (E. Haas 1975). Sie
bilden stets Ausschnitte aus der Gesamtheit aller zwischen irgendwelchen Akteuren
bestehenden Probleme und werden durch »künstlich« gezogene Sinngrenzen von-
einander getrennt (Luhmann 1984). Die Grenzen eines Problemfeldes sind deshalb
kontingent. Es handelt sich um Aufmerksamkeitsgrenzen (Scharpf 1991), die den
Charakter sozialer Koordinationsnormen haben: Solange seine Verhandlungspart-
ner sich an sie halten, hat ein Akteur selbst dann keinen Anreiz, einseitig von ihnen
abzuweichen, wenn er eine andere Abgrenzung vorgezogen hätte. Die Akteure lassen
sich gemeinsam auf eine solche Aufteilung der Wirklichkeit ein, um die Komple-
xität der jeweiligen Verhandlungsgegenstände zu begrenzen. In den internationalen
Beziehungen kann zwar über (nahezu) alles verhandelt werden, aber nicht über alle
Themen zur selben Zeit im Rahmen einer einzigen Verhandlungsrunde.
Auch kooperationstheoretische Analysen befassen sich (meist implizit) mit der
Bedeutung der Abgrenzung eines Problemfeldes für den weiteren Entscheidungs-
und Kooperationsprozeß. Aus einfachen bilateralen Verhandlungsmodellen ist be-
kannt, daß sich Kooperationsspielräume durch die Verknüpfung von Teilgeschäften
mit unterschiedlicher Nutzenverteilung für die beteiligten Akteure erheblich erwei-
tern lassen (Scharpf 1992). Durch solche Koppelgeschäfte dehnen die Akteure die
Grenzen des Problemfeldes aus, das sich als zu eng erweist, um ein beiderseitig
vorteilhaftes Kooperationsgeschäft abzuschließen. In multilateralen Verhandlungen
ist eine solche zielgerichtete Erweiterung eines Problemfeldes aufgrund des expo-
nentiellen Anstiegs der Zahl der darin zusammengefaßten bilateralen Beziehungen
sehr viel schwerer zu erreichen. Deshalb wird die Bestimmung der Grenzen multila-
teraler Problemfelder vielfach zum Gegenstand oft langwieriger »Vorverhandlun-
gen« (Gross Stein 1989). Die Abgrenzung eines Problemfeldes hat erhebliche Folgen
für den weiteren Verhandlungsverlauf (Sebenius 1983). Themen, die nicht in das
neu entstandene Problemfeld fallen, lassen sich in den Verhandlungsprozeß kaum
noch einführen. Die beteiligten Akteure richten ihre Präferenzen deshalb in bezug
auf den laufenden Verhandlungsprozeß an den dort verhandelten Sachbereichen
aus, während alles andere für diesen Prozeß an Gewicht verliert. Damit beeinflußt die
Bestimmung eines Problemfeldes auch die Kooperationsmöglichkeiten, die sich aus
der Konstellation dieser Präferenzen ergeben.

ZIB 1/2000 193


Forum

Aus dem Umstand, daß ein Problemfeld sozial konstruiert ist, läßt sich jedoch
nicht ableiten, daß es sich in beliebiger Weise gleichermaßen gut konstruieren ließe.
Vielmehr erfolgt die sinnvolle Abgrenzung eines Problemfeldes, abgesehen von
den individuellen Interessen der beteiligten Akteure, angesichts zweier Risiken. Ein
zu eng begrenztes Problemfeld ruft die Gefahr hervor, daß kaum Kooperationsmög-
lichkeiten bestehen. Je großzügiger es dagegen geschnitten ist und je mehr Einzel-
themen in ihm zusammengefaßt sind, desto größer ist die Gefahr, daß die Komple-
xität der Verhandlungsmaterie zu signifikanten Koordinationsstörungen führt. Die
beteiligten Akteure müssen also nicht nur ihre individuellen Präferenzen in bezug
auf die Bestimmung eines Problemfeldes ausbalancieren, sie stehen gleichzeitig
auch vor einem kollektiven Optimierungsproblem.

2.2. Die politikfeldspezifische Bestimmung kooperationsfähiger Problemfelder

Wo die optimale Größe eines Problemfeldes liegt, wird insbesondere von den Ko-
operationsmöglichkeiten abhängen, die innerhalb eines Politikfeldes bestehen (oder
eben nicht bestehen). Deshalb werden im folgenden die Kooperationsmöglichkei-
ten, die in den von Biermann und Simonis (2000) genannten Politikfeldern beste-
hen, untersucht.
In der Welthandelspolitik wird ein Kooperationsproblem mit der Struktur eines
Gefangenendilemmas bearbeitet. Handel treibende Staaten sind in der Regel gleich-
zeitig an der Öffnung ausländischer (Absatz-) Märkte und am Schutz inländischer
Wirtschaftssektoren und Industrien interessiert. Wenn sie sich dieser Interessenlage
entsprechend verhielten, würde jeder von ihnen protektionistische Maßnahmen er-
lassen und den Welthandel damit trotz seines anerkannten Nutzens untergraben.
Dieses Problem wurde, eine Lehre aus der Welthandelskrise der 1930er Jahre, mit
dem Aufbau der gegenwärtigen multilateralen und sektorübergreifenden Welthan-
delsordnung schrittweise bearbeitet (Jackson 1999). Das zuvor bestehende System
bilateraler Handelsabkommen wurde durch das verbindliche Prinzip der Meistbe-
günstigung unterlaufen, das Handelsvorteile, die ein GATT/WTO-Mitgliedsland ir-
gendeinem Handelspartner gewährt, automatisch auf alle anderen GATT/WTO-
Mitglieder erweitert (Hoekman/Kostecki 1995; Ruggie 1992). Für regionale
Projekte der Marktintegration, die gerade in der jüngeren Zeit proliferieren (neben
EFTA und EG nunmehr z.B. NAFTA, Mercosur), gilt dieses Prinzip nicht. Die
WTO verfügt also keineswegs über ein Monopol auf die Regulierung internationaler
Handelsfragen, sondern konkurriert mit regionalen Handelsinstitutionen.
Allerdings wird im Rahmen der WTO ein umfassendes Problemfeld reguliert, das
sich auf alle Handelsfragen erstreckt. Warum haben sich keine separaten internatio-
nalen Handelsarrangements zur Öffnung spezifischer Märkte entwickelt? Einer sek-
torspezifischen Regimebildung zur Marktöffnung wäre schon deshalb kein großer
Erfolg beschieden gewesen, weil der internationale Handel typischerweise durch
den Austausch unterschiedlicher Güter erfolgt. Exportchancen, die durch die Öff-
nung jeweils eines Marktes – etwa für Automobile oder Kaffee – entständen, würden

194
Thomas Gehring / Sebastian Oberthür: Was bringt eine Weltumweltorganisation?

sich unweigerlich auf bestimmte Staaten konzentrieren, während andere Staaten


durch den Abbau ihrer Handelsschranken dafür zu zahlen hätten und sich einem
solchen Arrangement verweigern würden. Marktschaffende Handelsabkommen set-
zen deshalb das Schnüren sektorübergreifender Pakete voraus. Sektorale Marktre-
gelungen, z.B. für Milch- und Fleischprodukte, Flugzeuge und Textilien, die heute im
Rahmen der WTO bestehen, können den für Kooperationsprojekte notwendigen In-
teressenausgleich selbst nicht sicherstellen und sind deshalb nur als Bestandteile
größerer Vertragspakete existenzfähig. Dasselbe gilt bislang für die durch die Uru-
guay-Runde neu hinzugetretenen Bereiche des Urheberrechts- und Markenschutzes
(TRIPS) und des Handels mit Dienstleistungen (GATS). Voneinander unabhängige
sektorale Regime haben sich lediglich zur Regulierung einzelner Rohstoffmärkte
(z.B. für Kaffee, Kakao, Zinn) insbesondere durch Preisstützungsmaßnahmen her-
ausbilden können. Die Verkoppelung zahlloser Einzelthemen zu einem umfassen-
den und weiter wachsenden Problemfeld läßt sich damit durch die zusätzlichen Ko-
operationsmöglichkeiten erklären, die in separaten sektoralen Handelsregimen nicht
bestanden hätten. Trotz der inzwischen erreichten hohen Komplexität und Langwie-
rigkeit internationaler Handelsrunden wären zusätzliche Abgrenzungen schlichtweg
dysfunktional gewesen. Die WTO selbst hat an diesem Zuschnitt des Problemfeldes
kaum Anteil. Sie ist erst 1994, also spät im Verlaufe dieses Prozesses gegründet
worden (Hoekman/Kostecki 1995: 36-55).
Anders verhält es sich mit den beiden anderen von Biermann und Simonis (2000)
angeführten Politikfeldern, der internationalen Arbeitsschutz- und der internationalen
Gesundheitspolitik. Im Gegensatz zur WTO stehen sowohl die 1919 gegründete
ILO als auch die 1946 gegründete WHO am Beginn einer sektorübergreifenden in-
ternationalen Zusammenarbeit in den betreffenden Politikfeldern. Gibt es auch hier
triftige Gründe für die weitgehende Monopolstellung dieser internationalen Organi-
sationen auf globaler Ebene? Neben der technischen Zusammenarbeit, die hier we-
niger interessiert, ist die ILO in erster Linie mit der Schaffung und Verwaltung von
Übereinkommen und Empfehlungen über arbeits- und sozialpolitische Mindestnor-
men etwa in den Bereichen der Arbeitszeit, Entlohnung und Berufsausbildung be-
faßt (Köhler 1991). Sie können zur Überwindung typischer Dilemmasituationen
dienen, wenn sie der Gefahr eines Deregulierungswettbewerbs der Mitgliedstaaten
vorbeugen. Daß derartige Probleme in einer durch den internationalen Handel zu-
nehmend verflochtenen Welt auftreten können, zeigt die Diskussion um soziale
Normen im Rahmen der WTO (Langille 1996). Dies ist jedoch nicht der zentrale
Aspekt der Regulierungstätigkeit der ILO. Vielmehr nehmen ILO-Regelungen den
Charakter arbeits- und sozialpolitischer Menschenrechte an, die weniger auf die po-
litikgestaltende Verhaltensänderung der beteiligten Staaten als auf die Absicherung
eines möglichst umfassend geltenden Mindeststandards gerichtet sind (Ghebali
1989). Abkommen über einzelne Mindestnormen sind nicht unmittelbar miteinan-
der verkoppelt und könnten grundsätzlich auch unabhängig voneinander in sektoralen
Arrangements institutionalisiert werden. Allerdings stellte die Einberufung jeweils
eigenständiger Konferenzen und die separate Pflege sektoral institutionalisierter
Abkommen angesichts des vergleichsweise geringen damit zu erzielenden Nutzens

ZIB 1/2000 195


Forum

eine erhebliche Hürde dar. Die ILO senkt also die Transaktionskosten solcher Ko-
operationsprojekte, die andernfalls wahrscheinlich unterblieben wären (vgl. dazu
Keohane 1982).
Dies gilt erst recht für die Tätigkeit der WHO. Die Gesundheitspolitik ist im we-
sentlichen eine Angelegenheit der innerstaatlichen Politik. Die Aktivitäten der
WHO konzentrieren sich auf zwei wesentliche Gebiete: Zum einen werden gesund-
heitspolitische Programme zur Unterstützung der nationalen Gesundheitspolitiken
insbesondere der Länder der Dritten Welt durchgeführt, die als bereichsspezifische
multilaterale Entwicklungshilfe betrachtet werden können. Zum anderen wird das
verfügbare Wissen um gesundheitliche Standards in Expertengremien erfaßt, ver-
einheitlicht und in der Form unverbindlicher Empfehlungen veröffentlicht (Vierhei-
lig-Langlotz 1991). Diese Aktivitäten stellen die Antwort auf sozial so wenig pro-
blematische Situationen dar, daß sie ohne eine bestehende internationale
Organisation mit hoher Wahrscheinlichkeit ganz unterbleiben würden. In den Fäl-
len der WHO und der ILO wird die Kohäsion der Problemfelder also im wesentlichen
institutionell hervorgerufen. Sie entsteht aufgrund des kooperationsfördernden Ein-
flusses bereits bestehender internationaler Organisationen, durch den selbst nicht
überlebensfähige Kooperationsprojekte institutionell aneinandergeknüpft werden.
Anders als in den zuvor skizzierten Politikfeldern sind die bestehenden Umwelt-
probleme nicht in einem wachsenden Problemfeld zusammengefaßt, sondern auf
zahlreiche Problemfelder verteilt und werden im Rahmen einer Vielzahl selbständiger
Institutionen bearbeitet. Dies gilt nicht nur für regionale und sub-regionale Koopera-
tionsformen, sondern auch für die Umweltzusammenarbeit auf der globalen Ebene.
Wie läßt sich diese Entwicklung erklären ?
Zunächst einmal ist die internationale Umweltpolitik mit einer Vielzahl weitge-
hend voneinander unabhängiger Einzelprobleme befaßt, die nur durch internationale
Kooperation gelöst werden können. Obwohl nicht alle Situationen in derselben
Weise sozial problematisch sind, herrscht die Interessenkonstellation eines Gefan-
genendilemmas bzw. des Schutzes (globaler und regionaler) Gemeinschaftsgüter
vor (vgl. Oberthür 1997: 35-38). Grundsätzlich sind Probleme dieser Art für sich
selbst kooperationsfähig und regelbar. Wo kooperationstheoretisch ungünstigere In-
teressenkonstellationen, z.B. Oberlieger-Unterlieger-Probleme auftreten oder wo
aus anderen Gründen keine kurzfristige Kooperationslösung erkennbar ist, wird die
Verknüpfung mehrerer Umweltprobleme zu größeren Verhandlungspaketen nur im
Ausnahmefall zusätzliche Kooperationsmöglichkeiten schaffen. So wird der erfolg-
reiche Abschluß der gegenwärtig stattfindenden Verhandlungen über wirksame
Maßnahmen zum Schutz des Weltklimas nicht dadurch wahrscheinlicher, daß man
sie mit Verhandlungen zum Schutz der Biodiversität oder zum Schutz der Meere
zusammenlegt. Anders als im Falle der Öffnung nationaler Märkte für den interna-
tionalen Handel sind die Sektoren der internationalen Umweltpolitik damit nicht sy-
stematisch miteinander verknüpft. Die an der Lösung eines begrenzten Umweltpro-
blems interessierten Staaten müssen nicht darauf warten, daß auch andere
Umweltprobleme gleichzeitig durch Kooperation bearbeitet werden. Probleme, für
die sich Kooperationsmöglichkeiten auftun, können von allen anderen noch offenen

196
Thomas Gehring / Sebastian Oberthür: Was bringt eine Weltumweltorganisation?

Fragen abgetrennt und separat bearbeitet werden. Im Gegensatz zum Politikfeld


Handel bestehen deshalb im Politikfeld Umwelt Kooperationsmöglichkeiten auch
bei sektoraler Abgrenzung von Problemfeldern.
Damit ist zwar noch kein Zwang zur separaten Institutionalisierung von Koopera-
tionsprojekten verbunden. Allerdings ist die kollektive Bearbeitung der globalen,
aber auch vieler regionaler und sub-regionaler Umweltprobleme mit erheblichen
Eingriffen in das Handeln der beteiligten Staaten und der in ihnen tätigen Wirt-
schaftssubjekte verbunden. Daher müssen die Staaten erhebliche, von Fall zu Fall
jedoch stark unterschiedliche Partikularinteressen berücksichtigen. Demgegenüber
fallen die mit dem Aufbau separater Institutionen verbundenen Transaktionskosten
kaum ins Gewicht. Es ist deshalb wenig überraschend, daß die interessierten Staaten
die Lösung eines spezifischen Umweltproblems jeweils in die eigene Hand nehmen
und bestehende internationale Institutionen nur dann nutzen, wenn ihnen dies vor-
teilhafter erscheint als die Errichtung neuer institutioneller Strukturen. Damit läßt
sich die Tendenz erklären, daß sogar internationale Umweltregime, die ursprüng-
lich einmal als Aktivität einer bestehenden internationalen Organisation begonnen
haben, etwa die Regime über die grenzüberschreitende Verbringung gefährlicher
Abfälle (Meinke 1997), zum Schutz der Ozonschicht (Benedick 1998) und zum
Schutz des Weltklimas (Oberthür/Ott 1999), sich im Verlauf ihrer Entwicklung von
ihren Mutterorganisationen entfernen und eigene institutionelle Strukturen ausbil-
den. Die separate Institutionalisierung sektoraler kooperativer Arrangements ist im
Bereich der internationalen Umweltpolitik nicht nur möglich, sie erscheint den be-
teiligten Staaten trotz der damit verbundenen erhöhten Transaktionskosten vielfach
auch vorteilhaft. Indem sie maßgeschneiderte institutionelle Lösungen erlaubt, ist
sie auch für die Entwicklung der internationalen Umweltzusammenarbeit
grundsätzlich förderlich.
Die bemerkenswerte institutionelle Zersplitterung der internationalen Umweltpoli-
tik läßt sich also durch die politikfeldspezifischen Kooperationsbedingungen er-
klären. In der internationalen Handelspolitik führt die Notwendigkeit, Koopera-
tionsmöglichkeiten durch Verknüpfung unterschiedlicher Sektoren überhaupt erst
zu schaffen, zur Kohäsion eines umfassenden Problemfeldes. In den Bereichen der
Arbeitsschutz- und der Gesundheitspolitik führen die im Vergleich zu dem erwarteten
Kooperationsnutzen hohen Transaktionskosten zur institutionell hervorgerufenen
Kohäsion der betreffenden Problemfelder. Zwar erlaubt in der internationalen Um-
weltpolitik das UN-Umweltprogramm (UNEP) ebenfalls die Umsetzung von Ko-
operationsprojekten, die allein nicht existenzfähig wären (vgl. Kilian 1987). Für
viele Kooperationsprojekte in der internationalen Umweltpolitik erweist sich die
sektorale Herangehensweise jedoch als besonders fruchtbar, weil sektorale Pro-
blemfelder selbst genügend Kooperationsmöglichkeiten bieten und die erhöhten
Transaktionskosten, die durch separate Institutionalisierung anfallen, angesichts der
Bedeutung der Kooperationsprojekte nicht ins Gewicht fallen. Es wird damit er-
kennbar, daß die Zusammenlegung einzelner Probleme zu umfassenden Problem-
feldern nicht für jedes Politikfeld gleichermaßen sinnvoll ist.

ZIB 1/2000 197


Forum

3. Drei grundlegende Modelle für eine internationale Umweltorganisation

Nachdem wir die Anlage kollektiver Entscheidungsprozesse und den Zuschnitt des
bearbeiteten Problemfeldes zunächst getrennt untersucht haben, sollen diese beiden
zentralen Dimensionen einer möglichen Weltumweltorganisation nun im dritten
Schritt miteinander verbunden werden. Die nachträgliche Verknüpfung umweltpoli-
tischer Problemfelder ist zwar aus strukturellen Gründen nicht wahrscheinlich, aber
sie ist auch nicht von vornherein ausgeschlossen, denn derartige Entscheidungen
sind hochgradig kontingent. Auf der Grundlage der vorangegangenen Abschnitte
lassen sich nun kooperationstheoretisch begründete Vermutungen darüber anstellen,
wie eine Weltumweltorganisation angelegt sein und auf welche Weise sie Einfluß
auf den umweltpolitischen Entscheidungsprozeß gewinnen könnte. In diesem Ab-
schnitt wird deshalb der Frage nachgegangen, wie eine internationale Umweltorga-
nisation die Entscheidungsstrukturen mehrerer separat institutionalisierter bzw. in-
stitutionalisierbarer Umweltregime miteinander verknüpfen könnte. Dabei kann
man beispielsweise an den hypothetischen Fall einer Verknüpfung des Weltklima-
mit dem Ozonschutz- und dem Biodiversitätsregime denken.
Angesichts der Vielzahl der Entscheidungsfunktionen, die innerhalb dieser ent-
wickelten internationalen Umweltregime erfüllt werden, lassen sich dafür fast belie-
big viele Optionen denken, die hier nicht im einzelnen diskutiert werden können.
Im Zentrum der Entscheidungstätigkeit internationaler Umweltregime stehen je-
doch die Prozesse der Bildung kooperationsfördernder Verhaltensnormen. Für die
Verknüpfung regimespezifischer Normbildungsprozesse bieten die internationalen
Beziehungen mindestens die folgenden drei unterschiedlichen Muster.
Erstens könnte eine neu errichtete internationale Umweltorganisation die Ent-
scheidungsprozesse bestehender Umweltregime weitgehend intakt lassen und neue
Umweltregime dazu anregen, dem funktionalistischen Grundsatz »form follows
function« (Mitrany 1943) entsprechend auf die spezifische Problemlage zugeschnit-
tene und separat institutionalisierte Entscheidungsprozesse auszubilden. Die institu-
tionelle Struktur einer solchen Organisation würde die sektorspezifischen Umweltre-
gime (nachträglich) überwölben. Sie könnte Kooperationsprozesse etwa dadurch
fördern, daß sie die Schwelle zur Regimebildung absenkt und gegebenenfalls auf
Dauer Sekretariatsdienstleistungen bereitstellt. Diese Funktionen übernimmt die
UNO in vielen Bereichen der internationalen Beziehungen, etwa auf den Gebieten
des Menschenrechtsschutzes oder der Neuordnung des internationalen Seerechts.
Separate Untereinheiten der UNO, etwa das UN-Umweltprogramm (UNEP) oder
die Wirtschaftskommission für Europa (ECE), übernehmen bereits ähnliche Hilfs-
funktionen in der internationalen Umweltpolitik (Kilian 1987). Eine Zusammenle-
gung der derzeit sektoral voneinander abgegrenzten Problemfelder findet in diesem
Fall jedoch nicht statt, weil die sektorspezifischen Entscheidungsprozesse nicht auf-
gebrochen werden. Die beteiligten Akteure müssen ihre Präferenzen deshalb wei-
terhin auf die Themen ausrichten, die in das entsprechende sektorale Problemfeld
fallen, und andere Themen ausblenden. Kooperationsmöglichkeiten ergeben sich
dann weiterhin ausschließlich aufgrund dieser Präferenzen. Genau betrachtet stellt

198
Thomas Gehring / Sebastian Oberthür: Was bringt eine Weltumweltorganisation?

eine nach diesem UNO-Modell konstruierte internationale Umweltorganisation des-


halb gar keine Organisation im kooperationstheoretischen Sinne dar (siehe oben,
Kap. 1). Da sie weder die Organisation der institutionellen Entscheidungsprozesse
noch den Zuschnitt der separat bearbeiteten Problemfelder veränderte, wäre sie für
die Entwicklung der internationalen Umweltpolitik in den einzelnen Problemfel-
dern nur von geringer Bedeutung.
Zweitens könnte eine internationale Umweltorganisation die einzelnen Problem-
felder zusammenfassen, indem sie die problemfeldspezifischen Entscheidungspro-
zesse bestehender oder zukünftiger Umweltregime systematisch miteinander ver-
koppelte. Dies könnte in einer für das horizontale Staatensystem verträglichen
Weise etwa geschehen, indem die Entscheidungstätigkeit der in der Regel jährlich
oder zweijährlich wiederkehrenden Konferenzen der Vertragsparteien einzelner Re-
gime zu größeren Verhandlungsrunden zusammengelegt würde. Die internationale
Umweltpolitik ließe sich dann in regelmäßigen »Weltumweltrunden« fortent-
wickeln. Eine solche Konstruktion würde der Anlage der Welthandelsorganisation
folgen. Sie ist mit einer erheblich größeren Eingriffstiefe verbunden als das UNO-
Modell, weil das verhandlungsrelevante Problemfeld neu abgegrenzt wird. Durch
den größeren Zuschnitt steigt das Potential für Koppelgeschäfte tendenziell an. Al-
lerdings wachsen auch die Komplexität der gleichzeitig zu bearbeitenden Verhand-
lungsmaterie und damit die Schwerfälligkeit des Entscheidungsprozesses. Die Ver-
handlungsdauer von acht Jahren (1986-1994) im Fall der letzten Welthandelsrunde
(Hoekman/Kostecki 1995: 19-20) und von neun Jahren (1973-1982) im Fall der
umfassenden Neuordnung des Seerechts (Wolfrum 1984) illustrieren den Flexibi-
litätsverlust, der mit der Bearbeitung besonders umfassender Problemfelder verbun-
den ist. Eine Weltumweltorganisation, die nach diesem WTO-Modell konstruiert
wäre, bildete im wesentlichen ein umfassendes Verhandlungssystem, ohne die ko-
operationstheoretische Schwelle zur Organisation zu überschreiten. Sie könnte
durch einen veränderten Zuschnitt des bearbeiteten Problemfeldes dennoch einen
erheblichen Einfluß auf den umweltpolitischen Koordinationsprozeß ausüben. Posi-
tiven Effekten aufgrund zusätzlicher Linkage-Möglichkeiten ständen jedoch erhebli-
che negative Effekte infolge einer stark ansteigenden Komplexität der Verhand-
lungsmaterie gegenüber.
Drittens kann eine internationale Umweltorganisation darauf ausgerichtet sein, be-
reits jetzt auftretende Entscheidungsprobleme sowie die Schwerfälligkeit und Inflexi-
bilität umfassender Verhandlungsrunden, wie sie für das WTO-Modell charakteristisch
sind, durch eine Neuorganisation des Entscheidungsprozesses zu überwinden. Dann
würde die Verhandlungsmaterie in geeignete Einzelentscheidungen zerlegt werden, die
in spezialisierten Prozessen jeweils gesondert bearbeitet werden und nach ihrer Verab-
schiedung sofort in Kraft treten würden. Solche Einzelprozesse müssen etwa durch
Verzicht auf das Konsensprinzip und den Rückgriff auf Mehrheitsverfahren oder
nicht-majoritäre Koordinationsmechanismen (Majone 1993) so ausgestaltet werden,
daß Entscheidungsblockaden möglichst weitgehend vorgebeugt wird. Diese institutio-
nelle Konstruktion entspricht dem Koordinationsmechanismus der Europäischen Union.
Sie erlaubt es, Kooperationsprojekte innerhalb eines einheitlichen institutionellen Rah-

ZIB 1/2000 199


Forum

mens wirksam zu einem Gesamtpaket zu verkoppeln und gleichzeitig im Rahmen spe-


zialisierter Entscheidungsprozesse flexibel zu bearbeiten. Dieses EU-Modell verändert
sowohl die institutionellen Entscheidungsprozesse als auch den Zuschnitt des bearbeite-
ten Problemfeldes. Allerdings verläßt es den Koordinationsmechanismus konsensualer
Verhandlungen und überschreitet die Grenze zur Organisation in massiver Weise. Dieser
Schritt setzt ein Ausmaß an institutioneller Autonomie (»Supranationalität«) voraus,
das in den internationalen Beziehungen ohne Beispiel ist.
Die Gegenüberstellung dieser drei idealtypisierten Modelle internationaler Organi-
sationen läßt erkennen, daß eine internationale Umweltorganisation sehr unterschiedli-
che Formen annehmen kann. Keine dieser Formen ist der gegenwärtig bestehenden
sektoralen Institutionalisierung von vornherein überlegen. Das UNO-Modell wird
sich zwar, etwa durch eine entsprechende Umgestaltung von UNEP, vergleichsweise
einfach durchsetzen lassen, ist aber mit überaus begrenzten Folgen verbunden. Das
WTO-Modell könnte Synergie- und Koordinationsvorteile mit sich bringen, denen je-
doch erhebliche Kosten durch die drastisch sinkende Flexibilität internationaler Koor-
dinationsprozesse gegenüberstehen. Das EU-Modell schließlich könnte diese Kosten
wieder senken, ist aufgrund des dazu erforderlichen Ausmaßes an institutioneller Au-
tonomie jedoch auf absehbare Zeit kaum auf die globale Ebene übertragbar.

4. Die Problemlösungsfähigkeit einer internationalen Umweltorganisation

Biermann und Simonis (2000) erwarten von der Errichtung einer Weltumweltorga-
nisation, deren Kern in der Zusammenlegung des bisher zersplitterten Institutionen-
gefüges der internationalen Umweltpolitik besteht, die vollständige oder jedenfalls
teilweise Lösung einer Reihe konkreter Probleme. In den folgenden Abschnitten
soll deshalb aus einer kooperationstheoretischen Perspektive danach gefragt wer-
den, welche zusätzliche Problemlösungsfähigkeit eine Weltumweltorganisation ge-
genüber der gegenwärtigen Situation in bezug auf die folgenden, von Biermann und
Simonis thematisierten inhaltlichen Probleme verspricht, nämlich die Koordination
des internationalen Institutionensystems (4.1), die Zentralisierung und Ausweitung
des Ressourcentransfers von Nord nach Süd (4.2) sowie die Förderung von Ent-
wicklung und Umsetzung des Umweltrechts (4.3).

4.1. Koordination des internationalen Institutionensystems

Friktionen innerhalb des zersplitterten Gefüges internationaler Umweltinstitutionen


sind mit der ansteigenden Zahl internationaler Umweltinstitutionen in den letzten
Jahrzehnten zunehmend zum Problem geworden. Dies liegt zunächst einmal daran,
daß die Steuerungswirkungen, die von diesen Institutionen ausgehen, sich nicht
ohne Schwierigkeiten auf das jeweils regulierte sektorale Problemfeld begrenzen
lassen, sondern – vielfach unerwünschte – Nebenwirkungen auslösen, die auf andere
Problemfelder ausgerichtete Regulierungsprozesse stören. Angesichts einer rasch

200
Thomas Gehring / Sebastian Oberthür: Was bringt eine Weltumweltorganisation?

zunehmenden »Dichte« separat institutionalisierter Umweltregime (Young 1996)


steigt die Wahrscheinlichkeit solcher Störeffekte.
Typisch für diese Problematik ist das von Biermann und Simonis (2000) ange-
führte bekannte Beispiel eines potentiellen Konflikts zwischen der Biodiversitäts-
konvention und dem Kyoto-Protokoll zur Klimarahmenkonvention: Während jene
auf die Erhaltung von Naturwäldern mit hoher Artenvielfalt ausgerichtet ist, fördert
dieses indirekt den Anbau schnellwachsender Baumarten in Monokultur, weil sich
CO2 aus der Atmosphäre auf diese Weise rasch binden läßt (vgl. WBGU 1998;
Oberthür/Ott 1999: 285-286). Zunächst einmal handelt es sich um einen Konflikt
zwischen zwei umweltpolitischen Zielen, die sich nicht gleichermaßen vollständig
umsetzen lassen. Wer Naturwälder mit hoher Artenvielfalt möglichst vollständig er-
halten will, muß auf die Möglichkeit verzichten, den CO2-Gehalt der Atmosphäre
durch die Anpflanzung schnellwachsender Wälder auf diesen Flächen zu reduzie-
ren. Umgekehrt lassen sich Naturwälder nicht vollständig erhalten, wenn jede gang-
bare Möglichkeit zur Schaffung neuer CO2-Senken genutzt werden soll. Ein solcher
Zielkonflikt wird sich durch erfolgreiche Koordination niemals beseitigen lassen.
Im Sinne eines möglichst erfolgreichen Umweltschutzes ist vielmehr eine Abwä-
gung der beiden rivalisierenden Ziele durch den Vergleich der jeweiligen Vor- und
Nachteile möglicher Kombinationsstrategien anstrebenswert.
Ein solcher Konflikt hat jedoch auch eine institutionelle Seite. Angesichts der ge-
genwärtigen institutionellen Zersplitterung der internationalen Umweltpolitik exi-
stiert nämlich kein Entscheidungsprozeß, der die notwendige Abwägung für die
Mitgliedstaaten der betroffenen Regime verbindlich vornehmen könnte. Die sektor-
spezifische Abgrenzung von Problemfeldern erfolgt ja gerade durch die Beschrän-
kung der regimeeigenen Entscheidungsprozesse auf die Bearbeitung bestimmter
Fragen und durch das Ausklammern aller anderen Themen. Die gezogenen Auf-
merksamkeitsgrenzen sorgen dafür, daß die institutionellen Entscheidungsprozesse
unterschiedliche Kriterien anwenden und jeweils nur einen Teil des bestehenden
Zielkonflikts berücksichtigen. Insofern ist die Diagnose von Biermann und Simonis
(2000) richtig: Es ist die sektorale Abgeschlossenheit der regimespezifischen Ent-
scheidungsprozesse, die eine sinnvolle Bearbeitung derartiger Zielkonflikte er-
schwert.
Die Gründung einer Weltumweltorganisation beeinflußt diese Problematik nicht
notwendig in der erhofften Weise. Wenn sie nach dem UNO-Modell konstruiert ist,
stellt sie lediglich einen institutionellen Schirm bereit, unter dem die sektorspezifi-
schen Entscheidungsprozesse unangetastet bleiben. Dann ist auch nicht mit einer
signifikanten Veränderung der Entscheidungsergebnisse zu rechnen. Wenn sie nach
dem WTO-Modell ausgestaltet ist, führt sie zu einer Zusammenlegung der bislang
getrennt verhandelten sektoralen Problemfelder. Allerdings gewährleistet eine sol-
che Bündelung keineswegs eine wirksame Koordination, in der Störeffekte der be-
schriebenen Art vermieden werden. Vielmehr wird nach Kriterien der Verteilung
von Kosten und Nutzen unter den beteiligten Akteuren ein Kompromiß ausgehan-
delt, der nur zufällig eine rationale Bearbeitung des Zielkonflikts gewährleistet. Der
Koordinationsmechanismus von Verhandlungen zeichnet sich ja selbst gerade nicht

ZIB 1/2000 201


Forum

dadurch aus, kriteriengeleitete Ergebnisse herbeizuführen (Gehring 1996). Dazu


müßte eine Weltumweltorganisation den gesamten Entscheidungsprozeß so neu
ordnen, daß unerwünschte Formen der Auflösung des Zielkonflikts ausgeschlossen
werden. Dies könnte durch übergeordnete Kollisionsregeln und konfliktlösende
Entscheidungsmechanismen geschehen, wenn deren Ergebnisse Bindungswirkung
für die nachgeordneten Entscheidungsprozesse erlangen. Eine solche Hierarchisie-
rung umweltpolitischer Normbildungsprozesse ließe sich jedoch nur im Rahmen
des EU-Modells umsetzen.
Allerdings läßt sich Koordination zwischen internationalen Umweltinstitutionen
auch ohne Beseitigung der derzeit dezentralen Entscheidungsstruktur der internatio-
nalen Umweltpolitik fördern. Dazu muß ein regimespezifischer Entscheidungsprozeß
für die Problematik möglicher Zielkonflikte wirksam sensibilisiert werden. Damit
geht automatisch die Erweiterung des betreffenden Problemfeldes um die Proble-
matik von Konflikten mit anderen Umweltinstitutionen einher. Ein solcher Schritt
könnte etwa durch eine verstärkte Zusammenarbeit der Regimesekretariate unter-
einander gefördert werden, wie dies bereits durch die Schaffung einer »Environ-
mental Management Group« auf UN-Ebene angestrebt wird (UN Task Force 1998).
Noch erfolgversprechender mag in dieser Hinsicht ein mit Experten besetzter Aus-
schuß innerhalb jedes einzelnen Regimes sein, der mögliche Konflikte mit den Re-
gulierungszielen anderer Institutionen thematisiert und in den sektoralen Entschei-
dungsprozeß einführt. Die Mitgliedstaaten, die in der Regel an allen beteiligten
Regimen beteiligt sind, würden so angehalten, die konfligierenden Ziele bei der Bil-
dung ihrer Präferenzen zu berücksichtigen. Ein derartiger Mechanismus wäre auf
sämtliche internationale Institutionen anwendbar, etwa auch auf regionale Regime,
die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds (IWF).3

4.2. Ressourcentransfer von Nord nach Süd

Der Transfer von Finanzmitteln von Nord nach Süd sowie aus den Industrieländern
der OECD in die post-kommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas – in Einzelfäl-
len sogar zwischen den westlichen Industrieländern – bildet ein wichtiges Steuerungs-
instrument in der internationalen Umweltpolitik (vgl. Keohane/Levy 1996). Biermann
und Simonis (2000) weisen auf mögliche »Reibungsverluste« zwischen separat insti-
tutionalisierten Finanzinstrumenten hin. Solche Probleme sind bisher zwar nicht als
ein zentrales Problem der internationalen Umweltpolitik hervorgetreten, könnten ihre
Wirksamkeit jedoch grundsätzlich einschränken. Ihrer Problematik nach handelt es
sich dabei weniger um Finanz- als um Koordinationsprobleme, für deren Bearbeitung
das oben Gesagte sinngemäß gilt (siehe 4.1). In bezug auf globale Umweltprobleme
zeichnet sich seit dem Beginn der 1990er Jahre eine Bündelung regimespezifischer

3 Allerdings wäre dadurch noch nicht gewährleistet, daß Regulierungsziele anderer Institu-
tionen im jeweiligen Entscheidungsprozeß nicht nur thematisiert, sondern auch berück-
sichtigt werden.

202
Thomas Gehring / Sebastian Oberthür: Was bringt eine Weltumweltorganisation?

Finanzinstrumente im Rahmen der Global Environment Facility (GEF) ab (Fairman


1996). Eine sektorübergreifend tätige globale Umweltfinanzierungsinstitution ist also
bereits unabhängig von der vorgeschlagenen Gründung einer möglichen Weltumwelt-
organisation im Entstehen begriffen – im wesentlichen, um die Transaktionskosten zu
senken, die mit der Vergabe von Zuwendungen verbunden sind.
Durch diese Finanzierungsinstrumente werden zum einen Ausgleichszahlungen
für solche Akteure bereitgestellt, die für ein umweltpolitisches Kooperationsprojekt
wichtig sind und gleichzeitig keine eigenen Ressourcen aufzuwenden bereit sind
(Scharpf 1992). Darüber hinaus werden solche Akteure unterstützt, die nicht in der
Lage sind, den erforderlichen Kostenbeitrag zu leisten (Zürn 1997). In beiden Fällen
ließe sich durch die Verstärkung des Finanztransfers mehr internationaler Umwelt-
schutz »einkaufen«. Biermann und Simonis (2000) gehen davon aus, daß eine Welt-
umweltorganisation durch Erschließung neuer Quellen zusätzliche Finanzmittel in
erheblichem Umfang beschaffen könnte. Sie geben jedoch wiederum keine Begrün-
dung dafür, warum sie diese Folgen erwarten.
Aus einer kooperationstheoretischen Perspektive ist die Erschließung zusätzlicher
Finanzmittel durch die Zusammenlegung bislang sektoral institutionalisierter Um-
weltregime unabhängig von der Konstruktion einer Weltumweltorganisation nicht
wahrscheinlich. Im UNO-Modell ist dies schon deshalb nicht zu erwarten, weil die
sektoralen Entscheidungspakete unverändert erhalten bleiben. Innerhalb des Ozon-
schutz- oder des Klimaregimes werden die Geberländer nicht bereits deshalb zu-
sätzliche Finanzmittel bereitstellen, weil diese Institutionen nicht mehr selbständig,
sondern in eine überwölbende institutionelle Konstruktion eingebettet sind. Inner-
halb des WTO-Modells könnten die für das Erreichen eines angestrebten Umwelt-
ziels notwendigen Aufwendungen sogar verringert werden, wenn sich zusätzliche
Möglichkeiten für Koppelgeschäfte auftun, die die Interessenlage der Empfänger-
länder so beeinflussen, daß diese sich auch ohne Kompensationszahlungen an dem
Gesamtpaket beteiligen. Im EU-Modell ist die Erschließung zusätzlicher Finanz-
mittel bei Anlage entsprechender Entscheidungsprozesse zwar nicht grundsätzlich
ausgeschlossen, aber höchst unwahrscheinlich. Sie wäre nämlich an die Vorausset-
zung gebunden, daß die Mitgliedstaaten entsprechende Entscheidungskompetenzen
an die Organisation übertragen. Dies haben sie jedoch bislang selbst im Rahmen der
EU verweigert, so daß die EU bis heute nicht über eigene Steuerrechte verfügt.

4.3. Entwicklung und Umsetzung des internationalen Umweltrechts

Schließlich erwarten Biermann und Simonis (2000) von der Errichtung einer Welt-
umweltorganisation auch die Förderung der Weiterentwicklung sowie die Unter-
stützung einer möglichst wirksamen Umsetzung des internationalen Umweltrechts.
Dies soll insbesondere durch eine verbesserte Informationserhebung und -verbrei-
tung geschehen. Auch hier muß sorgfältig untersucht werden, welchen Beitrag eine
Weltumweltorganisation zur Lösung der angesprochenen zentralen Probleme der
internationalen Umweltpolitik zu leisten vermag.

ZIB 1/2000 203


Forum

Zur Weiterentwicklung des internationalen Umweltrechts, d.h. zur aktiven Norm-


bildung, ist im Rahmen der Skizzierung der drei Organisationsmodelle oben bereits
Stellung bezogen worden (siehe Kap. 3). Es darf bezweifelt werden, daß sich die ge-
ringen Fortschritte beispielsweise in der internationalen Klimapolitik darauf zurück-
führen lassen, daß das relevante Wissen nicht »umfassend koordiniert, gebündelt
und entscheidungsorientiert aufbereitet und weitergeleitet« wird (Biermann/Simonis
2000: 174). Die zentrale Ursache liegt vielmehr in einer Präferenzkonstellation der
beteiligten Staaten, die trotz häufig vorhandener angemessener Wissensbasis nur ge-
ringe Spielräume für allseits vorteilhafte Kooperationsprojekte eröffnet. Die Ent-
scheidungsblockade wird sich nur überwinden lassen, wenn sich die relevante Präfe-
renzkonstellation wandelt oder wenn der Entscheidungsprozeß vom Erfordernis des
Konsenses abweicht. Eine Weltumweltorganisation könnte die Präferenzkonstellation
in erster Linie beeinflussen, wenn sie dem WTO-Modell folgend Kooperationspro-
bleme mit komplementärer Verteilungswirkung miteinander verknüpfte. Möglich-
keiten dazu sind jedoch im Politikfeld »Umwelt« kaum vorhanden. Eine Überwin-
dung des Konsenserfordernisses wäre nur durch eine Weltumweltorganisation zu er-
warten, die nach dem – auf absehbare Zeit utopisch anmutenden – EU-Modell
konstruiert wäre. Dies schließt nicht aus, daß eine internationale Umweltinstitution
die Errichtung neuer sektoraler Regime durch Informationsbeschaffung und die Be-
reitstellung geeigneter Kommunikationskanäle unabhängig von sektorspezifischen
Umweltregimen fördert. Diese Aufgabe wird heute bereits von UNEP wahrgenom-
men, so daß der Zusatznutzen einer neuen Organisation fraglich ist.
Auch die nicht übersehbaren Probleme bei der Umsetzung der aus sektoralen
Umweltregimen herrührenden Verhaltenspflichten läßt sich kaum auf solche Infor-
mationsprobleme zurückführen, die eine Weltumweltorganisation besser als separat
institutionalisierte Umweltregime lösen könnte. Viele Umsetzungsprobleme, etwa
die Implementationsdefizite der mittel- und osteuropäischen Staaten im Rahmen
des Montrealer Protokolls (vgl. Werksman 1996; GEF 1999), sind gar nicht auf In-
formations-, sondern auf politische und ökonomische Kapazitätsprobleme zurück-
zuführen (vgl. Chayes/Chayes 1993). Im Rahmen zahlreicher internationaler Um-
weltregime haben sich Kontroll- und Überwachungsmechanismen herausgebildet
(Victor et al. 1998), die jeweils auf spezifische Problemlagen zugeschnitten sind
und sich dabei teilweise der Mitarbeit nicht-staatlicher Akteure bedienen (Sand
1997; Raustiala 1997). Wenngleich diese Mechanismen in der Regel verbesse-
rungsfähig sind, ist nicht ersichtlich, welchen spezifischen Beitrag eine sektorüber-
greifende Umweltorganisation hier leisten könnte (Oberthür 2000).
Problematischer für die internationale Umweltpolitik als die Implementations-
überwachung ist jedoch der Umgang mit den so gewonnenen Informationen über
festgestellte Implementationsdefizite. Die Sanktionsgewalt internationaler Steue-
rungsinstitutionen ist aufgrund der horizontalen Struktur des internationalen Staa-
tensystems bekanntlich gering. Die systematische Verkoppelung bisher separat in-
stitutionalisierter Kooperationsprojekte in einer Weltumweltorganisation könnte
gerade auf diesem Gebiet zu erheblichen Veränderungen führen. Die zentrale Vor-
aussetzung dafür ist, daß es unmöglich wird, ein sektorales Kooperationsprojekt

204
Thomas Gehring / Sebastian Oberthür: Was bringt eine Weltumweltorganisation?

ohne negative Folgen für den Teilnehmerstatus in anderen Projekten in Frage zu


stellen. Das UNO-Modell erfüllt diese Voraussetzung nicht. Das WTO-Modell bietet
jedoch die Chance, die Möglichkeit des selektiven exit zu verschließen. Da die be-
teiligten Staaten ein umfassendes, sektorübergreifendes Verhandlungspaket ab-
schließen, verletzt die unzureichende Umsetzung eines der vielen Einzelbestandteile
des Paketes stets auch den umfassenden Verhandlungskompromiß. Es liegt deshalb in
der Logik derartiger Paketlösungen, daß kollektive oder individuelle Reaktionen
sich auf alle relevanten Bestandteile erstrecken können. Deshalb muß ein Mitglied-
staat der WTO, der das Übereinkommen für Rindfleisch verletzt, mit Reaktionen
auf beliebigen anderen Sektoren rechnen. Eine nach diesem Muster konstruierte
Weltumweltorganisation könnte also dafür sorgen, daß die Verletzung der Pflichten
aus dem Ozonschutzregime den Teilnahmestatus des betreffenden Staates in anderen
Umweltregimen beeinträchtigt. Er müßte statt dessen damit rechnen, daß andere
Teilnehmer Sanktionen ergreifen, wenn sich diese auf irgendeinem anderen Sektor
anbieten. Auf diese Weise steigen die kollektiv verfügbaren Sanktionsmöglichkei-
ten und, dadurch bedingt, die Kosten möglicher Pflichtverstöße.
Allerdings wirft die Suche nach umweltpolitisch wirksamen Sanktionsmöglich-
keiten aufgrund der Kollektivgutproblematik im Umweltbereich deutlich größere
Schwierigkeiten auf als im Handelsbereich: Eine Erhöhung des eigenen CO2-Aus-
stoßes in Reaktion auf die Verletzung der Pflichten eines anderen Staats zum Aus-
stieg aus ozonzerstörenden Substanzen beinhaltet immer ein Element der Selbst-
schädigung und ist somit nur begrenzt wirksam. Darüber hinaus könnte die
Androhung von Sanktionen mögliche Kooperationspartner von der Teilnahme ab-
halten und Kooperationsprojekte dadurch behindern.

5. Fazit

Mit dem Vorschlag, eine Weltumweltorganisation zu errichten und die gegenwärtig


in einer Vielzahl voneinander unabhängiger Institutionen zersplitterte internationale
Umweltpolitik in ihr zusammenzufassen, legen Biermann und Simonis (2000) einen
anspruchsvollen Entwurf für die Reorganisation der internationalen Umweltpolitik
vor. Sie erwarten von diesem Schritt die jedenfalls teilweise Lösung mehrerer zen-
traler Probleme, die die erfolgreiche Gestaltung der internationalen Umweltpolitik
gegenwärtig belasten. Die Autoren lassen uns allerdings darüber im unklaren, wie
eine solche Organisation ausgestaltet sein müßte, um die skizzierten Ziele erreichen
zu können, und auf welche Weise sie Einfluß auf den politischen Gestaltungsprozeß
gewinnen soll. Sind ihre Leistungen von der Gründung einer Organisation anstelle
der bislang vorherrschenden Umweltregime zu erwarten? Oder sind sie auf die Zu-
sammenlegung der bislang sektoral voneinander getrennten Problemfelder zurück-
zuführen? Und aufgrund welcher Wirkmechanismen soll man mit der Erfüllung
dieser Koordinationsleistungen rechnen können? Die Verfasser begnügen sich da-
mit, zentrale Probleme und politische Ziele zu benennen, ohne Antworten auf diese
Fragen zu geben.

ZIB 1/2000 205


Forum

Ohne eine stabile theoretische Fundierung lassen sich gehaltvolle Hypothesen


über die voraussichtlichen Folgen der vorgeschlagenen institutionellen Reorganisa-
tion der internationalen Umweltpolitik nicht formulieren. So läßt der Vorschlag
mehr Fragen offen, als er klärt. Eins läßt sich hier aber feststellen: Eine Weltum-
weltorganisation wird aller Voraussicht nach das, was Biermann und Simonis
(2000) von ihr erwarten, nicht leisten können – es sei denn, man würde darauf hoffen,
daß sich »auf dem Rücken« einer solchen Initiative eine Anzahl bestehender Pro-
bleme der internationalen Umweltpolitik gleich mit erledigen ließe.
In diesem Beitrag haben wir uns bemüht, aus einer kooperationstheoretischen
Perspektive einige wesentliche konzeptuelle Fragen zu beleuchten, die die Errich-
tung einer Weltumweltorganisation aufwirft. Wir haben zunächst eine theoretisch
fundierte Begründung für die Unterscheidung von Verhandlungs- und Organisa-
tionsentscheidungen geliefert. Wenn man davon ausgeht, daß ein zentrales Charak-
teristikum von Organisationen ihre Fähigkeit zu eigenständigem Handeln ist, dann
sind Organisationsentscheidungen stets mit einer Überwindung »einfacher« Ver-
handlungen verbunden. Der Übergang von Verhandlungs- zu Organisationsent-
scheidungen erweist sich jedoch als fließend. Viele bestehende internationale Um-
weltregime haben diese Schwelle für einzelne Teilentscheidungsprozesse bereits
überschritten. Wer die internationale Umweltpolitik durch die Stärkung von Orga-
nisationsentscheidungen fördern will, sollte deshalb zunächst einmal prüfen, ob
sich dieses Ziel nicht erfolgversprechender durch den Ausbau der Koordinations-
mechanismen bestehender Umweltregime als durch die Errichtung einer Weltum-
weltorganisation erreichen ließe.
Wir haben weiterhin untersucht, ob die von Biermann und Simonis (2000) ange-
führten Vorbilder politikfeldweit tätiger internationaler Organisationen, nämlich der
WTO, der ILO und der WHO, sich auf den Bereich der internationalen Umweltpolitik
übertragen lassen. Dabei zeigt sich zunächst, daß die Abgrenzung eines Problemfeldes
ein Mechanismus zur Reduzierung der Komplexität des zur Beratung anstehenden
Verhandlungsgegenstandes ist. Weil man nicht alle Probleme, die in den internatio-
nalen Beziehungen bestehen, auf einmal verhandeln kann, müssen Grenzen gezogen
werden. Für Verhandlungsprozesse geeignete Problemfelder müssen groß genug an-
gelegt sein, um allseits vorteilhafte Kooperationsmöglichkeiten zu eröffnen, und
gleichzeitig klein genug, um das Ausmaß der zu bewältigenden Komplexität sinnvoll
zu beschränken. So betrachtet erweist sich die Einrichtung sektorübergreifend tätiger
Organisationen als eine Notlösung, mit der sich auch solche Probleme, die aus unter-
schiedlichen Gründen selbständig nicht kooperationsfähig sind, für die zwi-
schenstaatliche Zusammenarbeit aufbereiten lassen. In der internationalen Umwelt-
politik sind interessierte Akteure jedoch nicht auf das Schnüren großer Pakete
angewiesen und deshalb in der Lage, sektoral zu kooperieren. Damit wird die Errich-
tung einer umfassend zuständigen Weltumweltorganisation für diese Staaten weni-
ger attraktiv und deshalb insgesamt auch weniger wahrscheinlich.
Schließlich sind wir der Frage nachgegangen, wie und mit welchen Folgen sich
die bereits separaten Regime im Rahmen der umfassenden institutionellen Struktur
einer Weltumweltorganisation miteinander verbinden lassen. Dazu haben wir drei

206
Thomas Gehring / Sebastian Oberthür: Was bringt eine Weltumweltorganisation?

in den internationalen Beziehungen existierende Modelle der Verknüpfung sektoraler


Kooperationsprojekte idealtypisch rekonstruiert. Es zeigt sich, daß eine nur lose
Überwölbung der bestehenden Regime, die deren Entscheidungsprozesse unange-
tastet läßt (das UNO-Modell), die Problemlösungsfähigkeit der internationalen
Umweltpolitik kaum erhöhen wird. Eine Verkoppelung der bislang voneinander
abgegrenzten Verhandlungsrunden der bestehenden Regime zu umfassenden Welt-
umweltrunden (das WTO-Modell) würde die Gestaltung der internationalen Um-
weltpolitik dagegen erheblich verändern. Vorteile insbesondere auf dem Gebiet der
Implementationsüberwachung und Sanktionierung müßten jedoch mit hohen Ko-
sten in der Form komplexer und schwerfälliger Mammutverhandlungsrunden be-
zahlt werden. Der Übergang von Verhandlungs- zu Organisationsentscheidungen
(das EU-Modell) würde diese Kosten zwar reduzieren und brächte zusätzliche Vor-
teile in den Bereichen der Normbildung und der Koordinierung sektoraler Koopera-
tionsprojekte mit sich. Er wäre jedoch mit einer so weitreichenden Supranationali-
sierung der internationalen Umweltpolitik verbunden, daß er auf längere Sicht als
utopisch angesehen werden muß.
Aus einer kooperationstheoretischen Perspektive ist das Projekt der Errichtung ei-
ner Weltumweltorganisation mit dem Risiko verbunden, die im Prozeß der Gestal-
tung der internationalen Umweltpolitik verfügbaren bürokratischen und politischen
Ressourcen gewissermaßen als Trojanisches Pferd über einen erheblichen Zeitraum
zu absorbieren, ohne im Erfolgsfall den erwarteten Nutzen zu erbringen. Der Ent-
wicklung der internationalen Umweltpolitik wäre weitaus besser gedient, wenn diese
Ressourcen in den Auf- und Ausbau sektoraler Steuerungsinstitutionen investiert
würden.

ZIB 1/2000 207


Forum

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ZIB 1/2000 209


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Märkte, Kooperationen, Tübingen.
Willke, Helmut 1996: Systemtheorie I: Grundlagen. Eine Einführung in die Grundprobleme
der Theorie sozialer Systeme, 5. Auflage, Stuttgart.
Wolfrum, Rüdiger 1984: Die Internationalisierung staatsfreier Räume. Die Entwicklung einer in-
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Global Governance 2: 1, 1-24.
Young, Oran R. (Hrsg.) 1999: The Effectiveness of International Environmental Regimes:
Causal Connections and Behavioural Mechanisms, Cambridge, Mass.
Zürn, Michael 1992: Interessen und Institutionen in der internationalen Politik. Grundlegung
und Anwendungen des situationsstrukturellen Ansatzes, Opladen.
Zürn, Michael 1997: »Positives Regieren« jenseits des Nationalstaates. Zur Implementation
internationaler Umweltregime, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 4: 1, 41-68.

ZIB 1/2000 211


Neuerscheinungen

Die Redaktion der Zeitschrift für Internationale Beziehungen bittet vor Erscheinen eines
jeden Heftes die Mitglieder des Review-Panels der ZIB, einige wenige, aus ihrer Sicht
besonders wichtige und interessante Neuerscheinungen aus ihren jeweiligen Fachge-
bieten zu empfehlen. Aus diesen Literaturempfehlungen ergibt sich die folgende Liste.

1. Theorien der Internationalen Beziehungen / Allgemeine Publikationen

Creveld, Martin van: Aufstieg und Niedergang des Staates, München: Gerling Aka-
demie Verlag 1999.
Elazar, Daniel J.: Constitutionalizing Globalization. The Postmodern Revival of
Confederal Arrangements, Lanham, Md.: Rowman & Littlefield 1998.
Gu, Xuewu: Theorien der internationalen Beziehungen. Einführung, München: Ol-
denbourg 2000.
Hall, Rodney Bruce: National Collective Identity: Social Constructs and International
Systems, New York: Columbia University Press 1999.
Höffe, Otfried: Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München: Beck 1999.
Jetschke, Anja/Liese, Andrea: Die kulturelle Prägung staatlicher Interessen und
Handlungen. Anmerkungen zur sozialkonstruktivistischen Analyse von »Kultur« in
den Internationalen Beziehungen, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwis-
senschaft 28 (1999): 3, 285-300.
Montbrial, Thierry de/Jacquet, Pierre (Hrsg.): Ramses 2000. L’entré dans le XXI
siècle (Institut français des relations internationales – IFRI), Paris: Dunod 1999.
Morton, Rebecca B.: Methods and Models. A Guide to the Empirical Analysis of For-
mal Models in Political Science, Cambridge: Cambridge University Press 1999.
Opello, Walter C., Jr./Rosow, Stephen J.: The Nation-State and Global Order. A Hi-
storical Introduction to Contemporary Politics, Boulder, Colo.: Lynne Rienner
1999.
Pangle, Thomas L./Ahrensdorf, Peter J.: Justice Among Nations. On the Moral Basis
of Power and Peace, Lawrence, Kans.: University Press of Kansas 1999.
Powell, Robert: In the Shadow of Power. States and Strategies in International Poli-
tics, Princeton, N.J.: Princeton University Press 1999.
Solingen, Etel: Regional Orders at Century’s Dawn: Global and Domestic Influences
on Grand Strategy, Princeton, N.J.: Princeton University Press 1998.
Tehranian, Majid (Hrsg.): Worlds Apart. Human Security and Global Governance,
London: I.B. Tauris 1999.
Vasić, Mark: Zivilgesellschaftliche Demokratisierungsprozesse in der Bundesrepu-
blik Jugoslawien. Perspektiven nach dem Kosovo-Konflikt, Frankfurt a.M.: Peter
Lang 2000.

Zeitschrift für Internationale Beziehungen 213


7. Jg. (2000) Heft 2, S. 213-219
Neuerscheinungen

Velody, Irving/Williams, Robin (Hrsg.): The Politics of Constructionism, London:


Sage 1998.
Wendt, Alexander: Social Theory of International Politics, Cambridge: Cambridge
University Press 1999.
Yamamoto, Yoshinobu (Hrsg.): Globalism, Regionalism and Nationalism. Asia in
Search of Its Role in the 21st Century, Oxford: Blackwell 1999.

2. Außenpolitikanalyse / Deutsche Außenpolitik

Aldecoa, Francisco/Keating, Michael: Paradiplomacy in Action: The Foreign Rela-


tions of Subnational Governments, London: Frank Cass 1999.
Banchoff, Thomas: German Identity and European Integration, in: European Journal
of International Relations 5 (1999): 3, 259-289.
Bierling, Stephan: Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Normen,
Akteure, Entscheidungen, München: Oldenbourg 1999.
Boekle, Henning/Rittberger, Volker/Wagner, Wolfgang: Normen und Außenpolitik:
Konstruktivistische Außenpolitiktheorie (Tübinger Arbeitspapiere zur Internatio-
nalen Politik und Friedensforschung 34), Tübingen: Institut für Politikwissen-
schaft der Universität Tübingen 1999.
Czempiel, Ernst-Otto: Kluge Macht. Außenpolitik für das 21. Jahrhundert, Mün-
chen: Beck 1999.
Duffield, John S.: Political Culture and State Behavior: Why Germany Confounds
Neorealism, in: International Organization 53 (1999): 4, 765-803.
Geldenhuys, Deon: Foreign Political Engagement. Remaking States in the Post-
Cold War World, Basingstoke: Macmillan 1998.
Goldgeier, James M.: Not Whether But When. The U.S. Decision to Enlarge
NATO, Washington, D.C.: Brookings Institution Press 1999.
Guérin-Sendelbach, Valérie: Frankreich und das vereinigte Deutschland. Interessen
und Perzeptionen im Spannungsfeld, Opladen: Leske + Budrich 1999.
Herren, Madeleine: Hintertüren zur Macht. Internationalismus und modernisie-
rungsorientierte Außenpolitik in Belgien, der Schweiz und den USA, München:
Oldenbourg 2000.
Hoffmann, Arthur/Longhurst, Kerry: German Strategic Culture and the Changing
Role of the Bundeswehr, in: WeltTrends (1999): 22, 145-162.
Kupchan, Charles A. (Hrsg.): Atlantic Security. Contending Visions, New York:
Council on Foreign Relations Press 1998.
Link, Werner: Alternativen deutscher Außenpolitik, in: Zeitschrift für Politik NF 46
(1999): 2, 125-143.
Medick-Krakau, Monika (Hrsg.): Außenpolitischer Wandel in theoretischer und
vergleichender Perspektive. Die USA und die Bundesrepublik Deutschland, Ba-
den-Baden: Nomos 1999.
Müller, Harald: Macht und Ohnmacht. Deutsche Außenpolitik vor dem Ende?
Frankfurt a.M.: Alfred Herrhausen Gesellschaft für internationalen Dialog 1998.

214
Neuerscheinungen

Paulsen, Thomas: Economic Diplomacy. Die Ökonomisierung der amerikanischen


Außenpolitik unter Präsident Clinton 1993 – 1996, Opladen: Leske + Budrich 1999.
Zakaria, Fareed: From Wealth to Power: The Unusual Origins of America’s World
Role, Princeton, N.J.: Princeton University Press 1998.

3. Internationale Institutionen

Aggarwal, Vinod K./Morrison, Charles E. (Hrsg.): Asia-Pacific Crossroads. Re-


gime Creation and the Future of APEC, Basingstoke: Macmillan 1998.
Alger, Chadwick F. (Hrsg.): The Future of the United Nations System: Potential for
the Twenty-First Century, Tokyo: United Nations University Press 1998.
Barnett, Michael N./Finnemore, Martha: The Politics, Power, and Pathologies of
International Organizations, in: International Organization 53 (1999): 4, 699-732.
Knill, Christoph/Lenschow, Andrea: Neue Konzepte – alte Probleme? Die institu-
tionellen Grenzen effektiver Implementation, in: Politische Vierteljahresschrift
40 (1999): 4, 591-617.
Krasner, Stephen D.: Sovereignty. Organized Hypocrisy, Princeton, N.J.: Princeton
University Press 1999.
Sørensen, Georg: Sovereignty: Change and Continuity in a Fundamental Instituti-
on, in: Political Studies 47 (1999): 3, 590-604.
Volger, Helmut (Hrsg.): Lexikon der Vereinten Nationen, München: Oldenbourg 2000.
Young, Oran R.: Governance in World Affairs, Ithaca, N.Y.: Cornell University
Press 1999.

4. Europäische Integration

Dyson, Kenneth/Featherstone, Kevin: The Road to Maastricht. Negotiating Economic


and Monetary Union, Oxford: Oxford University Press 1999.
Falkner, Gerda/Müller, Wolfgang C./Eder, Martina/Hiller, Karin/Steiner, Gerhard/
Trattnigg, Rita: The Impact of EU Membership on Policy Networks in Austria:
Creeping Change Beneath the Surface, in: Journal of European Public Policy 6
(1999): 3, 496-516.
Fischer, Thomas/Schley, Nicole: Europa föderal organisieren. Ein neues Kompetenz-
und Vertragsgefüge für die Europäische Union, Bonn: Europa Union Verlag 1999.
Geeraerts, Gustaaf/Stouthuysen, Patrick (Hrsg.): Democratic Peace for Europe:
Myth or Reality?, Brüssel: VUB University Press 1999.
Héritier, Adrienne: Policy-Making and Diversity in Europe. Escape from Deadlock,
Cambridge: Cambridge University Press 1999.
Kohler-Koch, Beate/Eising, Rainer (Hrsg.): The Transformation of Governance in
the European Union, London: Routledge 1999.

ZIB 1/2000 215


Neuerscheinungen

Lenschow, Andrea/Zito, Anthony R.: Blurring or Shifting of Policy Frames? Institu-


tionalization of the Economic-Environmental Policy Linkage in the European
Community, in: Governance: An International Journal of Policy and Administra-
tion 11 (1998): 4, 415-441.
Mickel, Wolfgang W. (Hrsg.): Handlexikon der Europäischen Union (2., überarbeite-
te und erweiterte Auflage), Köln: Omnia-Verlag 1998.
Schittek, Carsten: Ordnungsstrukturen im europäischen Integrationsprozeß. Ihre
Entwicklung bis zum Vertrag von Maastricht, Stuttgart: Lucius & Lucius 1999.
Weidenfeld, Werner (Hrsg.): Amsterdam in der Analyse. Strategien für Europa, Gü-
tersloh: Bertelsmann Stiftung 1998.
Weidenfeld, Werner (Hrsg.): Europa-Handbuch, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung
1999.
Zielonka, Jan: Explaining Euro-Paralysis. Why Europe is Unable to Act in Interna-
tional Politics, Basingstoke: Macmillan 1998.

5. Sicherheit und Frieden

Barbieri, Katherine/Schneider, Gerald: Globalization and Peace: Assessing New


Directions in the Study of Trade and Conflict, in: Journal of Peace Research 36
(1999): 4, 387-404.
Bueno de Mesquita, Bruce/Morrow, James D./Siverson, Randolph M./Smith,
Alastair: An Institutional Explanation of the Democratic Peace, in: American Po-
litical Science Review 93 (1999): 4, 791-807.
Daase, Christopher: Kleine Kriege – Große Wirkung. Wie unkonventionelle Krieg-
führung die internationale Politik verändert, Baden-Baden: Nomos 1999.
Doyle, Michael W.: Ways of War and Peace. Realism, Liberalism, and Socialism,
New York: Norton 1997.
Geller, Daniel S./Singer, David J.: Nations at War. A Scientific Study of Internatio-
nal Conflict, Cambridge: Cambridge University Press 1998.
Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg –
IFSH (Hrsg.): OSZE-Jahrbuch 1999. Jahrbuch zur Organisation für Sicherheit
und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Baden-Baden: Nomos 1999.
Jean, François/Rufin, Jean-Christophe (Hrsg.): Ökonomie der Bürgerkriege, Ham-
burg: Hamburger Edition 1999.
Kley, Roland: Der Friede unter den Demokratien, Bern: Stämpfli 1999.
Knudsen, Olav F. (Hrsg.): Stability and Security in the Baltic Sea Region. Russian,
Nordic, and European Aspects, London: Frank Cass 1999.
Kurtz, Lester (Hrsg.): Encyclopedia of Violence, Peace, & Conflict (3 Bände), Lon-
don: Academic Press 1999.
Leue, Michael: Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
(OSZE) und ihre Instrumente zur friedlichen Streitbeilegung, Frankfurt a.M.: Peter
Lang 1999.

216
Neuerscheinungen

Markusen, Ann R./Costigan, Sean S.: Arming the Future. A Defense Industry for
the 21st Century, New York: Council on Foreign Relations Press 1999.
Rufin, Jean-Christophe/Balencie, Jean-Marc/De La Grange, Arnaud: Mondes re-
belles. Guerres civiles et violences politiques. L’encyclopédie des conflicts, Edition
revue et augmentee, Paris: Michalon 1999.
Tannenwald, Nina: The Nuclear Taboo: The United States and the Normative Basis
of Nuclear Non-Use, in: International Organization 53 (1999): 3, 433-468.
Sfikas, Thanasis D./Williams, Christopher (Hrsg.): Ethnicity and Nationalism in
Russia, the CIS and the Baltic States, Aldershot: Ashgate 1999.
Trachtenberg, Marc: A Constructed Peace: The Making of the European Settlement
1945 – 1963, Princeton, N.J.: Princeton University Press 1999.
Weisser, Ulrich: Sicherheit für ganz Europa. Die Atlantische Allianz in der Be-
währung, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999.
Welfens, Paul J. J.: Der Kosovo-Krieg und die Zukunft Europas: Diplomatieversa-
gen, Kriegseskalation, Wiederaufbau, Euroland, München: Olzog 1999.

6. Internationale Politische Ökonomie

Johnson, Bryan T./Holmes, Kim R./Kirkpatrick, Melanie (Hrsg.): 1999 Index of


Economic Freedom, New York: Dow Jones/Washington, D.C.: The Heritage
Foundation 1999.
Johnson, Peter A.: The Government of Money: Monetarism in Germany and the
United States, Ithaca, N.Y.: Cornell University Press 1998.
Mattli, Walter: The Logic of Regional Integration: Europe and Beyond, Cambridge:
Cambridge University Press 1999.
Notermans, Antonius: Money, Markets, and the State. Social Democratic Economic
Policies Since 1918, Cambridge: Cambridge University Press 2000.
Pempel, T.J. (Hrsg.): The Politics of the Asian Economic Crisis, Ithaca, N.Y.: Cornell
University Press 1999.
Revelli, Marco: Die gesellschaftliche Linke. Jenseits der Zivilisation der Arbeit,
Münster: Westfälisches Dampfboot 1999.
Hausmann, Ricardo: Should There be Five Currencies or One Hundred and Five?, in:
Foreign Policy (1999): 116, 65-79.
Schaberg, Marc: Globalization and the Erosion of National Financial Systems: Is
Declining Autonomy Inevitable? Cheltenham: Edward Elgar 1999.
Spiro, David E.: The Hidden Hand of American Hegemony: Petrodollar Recycling
and International Markets, Ithaca, N.Y.: Cornell University Press 1999.
Trentin, Bruno: Befreiung der Arbeit. Die Gewerkschaften, die Linke und die Krise
des Fordismus, Hamburg: VSA-Verlag 1999.
van der Pijl, Kees: Transnational Classes and International Relations, London:
Routledge 1998.

ZIB 1/2000 217


Neuerscheinungen

7. Nord-Süd-Beziehungen / Entwicklungspolitik

Eberlei, Walter: Deutsche Gläubigerpolitik gegenüber ärmsten Ländern (Schriften


des Deutschen Übersee-Instituts 42), Hamburg: Deutsches Übersee-Institut 1999.
Elsenhans, Hartmut: Autonomy of Civil Society, Empowerment of Labour, and the
Transition to Capitalism, in: Jain, R.B./Khator, Renu (Hrsg.): Bureaucracy – Citizen
Interface. Conflict and Consensus, Delhi: B.R. Publishing Corporation 1999, 15-60.
Ferdowsi, Mir A. (Hrsg.): Vom Enthusiasmus zur Ernüchterung? Die Entwick-
lungspolitik der Europäischen Union (Arbeitspapiere zu Problemen der Interna-
tionalen Politik und der Entwicklungsländerforschung 27), München: For-
schungsstelle Dritte Welt am Geschwister-Scholl-Institut für Politische
Wissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München 1999.
Fuster, Thomas: Die »Good Governance« Diskussion der Jahre 1989 bis 1994. Ein
Beitrag zur jüngeren Geschichte der Entwicklungspolitik unter spezieller Berück-
sichtigung der Weltbank und des DAC, Bern: Haupt 1998.
Hein, Wolfgang: Versunkenes Land? Globalisierung, Archipelisierung und die Per-
spektiven marginalisierter Räume, in: Nord-Süd aktuell 13 (1999): 3, 403-417.
Hengstenberg, Peter/Kohut, Karl/Maihold, Günther (Hrsg.): Sociedad civil en
América Latina: representación de intereses y gobernabilidad, Caracas: Editorial
Nueva Sociedad 1999.
Hibou, Béatrice (Hrsg.): La privatisation des Etats, Paris: Karthala 1999.
Kaul, Inge/Grunberg, Isabelle/Stern, Marc A. (Hrsg.): Global Public Goods. Inter-
national Cooperation in the 21st Century (Published for UNDP), Oxford: Oxford
University Press 1999.
Molt, Peter: Europäische Union sucht nach gemeinsamer Afrikapolitik, in: Journal
für Entwicklungspolitik 15 (1999): 3, 257-274.
Robinson, Mark/White, Gordon (Hrsg.): The Democratic Developmental State: Poli-
tics and Institutional Design, Oxford: Oxford University Press 1998.
Tetzlaff, Rainer (Hrsg.): Weltkulturen unter Globalisierungsdruck. Erfahrungen und
Antworten aus den Kontinenten (EINE Welt – Texte der Stiftung Entwicklung
und Frieden, Band 9), Bonn: Dietz 2000.
Thiel, Reinold E. (Hrsg.): Neue Ansätze zur Entwicklungstheorie (Themendienst
der Zentralen Dokumentation 10), Bonn: Deutsche Stiftung für Internationale
Entwicklung (DSE) 1999.

8. Internationales Problemfeld: Umwelt

Carius, Alexander/Lietzmann, Kurt M. (Hrsg.): Umwelt und Sicherheit. Herausfor-


derungen für die internationale Politik, Berlin: Springer 1998.
Chambers, W. Bradnee: Global Climate Governance: Inter-Linkages Between the
Kyoto Protocol and Other Multilateral Regimes, Tokyo: United Nations University,
Institute of Advanced Studies 1998 (http://www.geic.or.jp/climgov; 01.03.2000).

218
Neuerscheinungen

Grundmann, Reiner: Transnationale Umweltpolitik zum Schutz der Ozonschicht.


USA und Deutschland im Vergleich, Frankfurt a.M.: Campus 1999.
Hartje, Volkmar/Klaphake, Axel (Hrsg.): Die Rolle der Europäischen Union in der
Umweltplanung, Marburg: Metropolis-Verlag 1998.
Postel, Sandra: Pillar of Sand. Can the Irrigation Miracle Last? New York: Norton
1999.
Scheer, Hermann: Solare Weltwirtschaft. Strategie für die ökologische Moderne,
München: Kunstmann 1999.
Schlegelmilch, Kai (Hrsg.): Green Budget Reform in Europe. Countries at the Fore-
front, Berlin: Springer 1999.
Suliman, Mohamed (Hrsg.): Ecology, Politics and Violent Conflict. A Development
and Peace Foundation Book in cooperation with the Institute for African Alterna-
tives (IFAA), London: Zed Books 1999.
Wettestad, Jørgen: Designing Effective Environmental Regimes. The Key Condi-
tions, Cheltenham: Edward Elgar 1999.

9. Internationales Problemfeld: Menschenrechte

Arnim, Gabriele von/Deile, Volkmar/Hutter, Franz-Josef/Kurtenbach, Sabine/


Tessmer, Carsten (Hrsg.): Jahrbuch Menschenrechte 2000, Frankfurt a.M.: Suhr-
kamp 1999.
Bobbio, Norberto: Das Zeitalter der Menschenrechte. Ist Toleranz durchsetzbar?
Berlin: Wagenbach 1998.
Brunkhorst, Hauke/Köhler, Wolfgang R./Lutz-Bachmann, Matthias (Hrsg.): Recht
auf Menschenrechte: Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik,
Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999.
Dunne, Tim/Wheeler, Nicholas J. (Hrsg.): Human Rights in Global Politics, Cam-
bridge: Cambridge University Press 1999.
Eller, Jack David: From Culture to Ethnicity to Conflict. An Anthropological Per-
spective on International Ethnic Conflict, Ann Arbor, Mich.: University of Michi-
gan Press 1999.
Gerges, Fawaz A.: America and Political Islam: Clash of Cultures or Clash of Inte-
rests? Cambridge: Cambridge University Press 1999.
Gosepath, Stefan/Lohmann, Georg (Hrsg.): Philosophie der Menschenrechte, 2.
Auflage, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999.
Korey, William: NGOs and the Universal Declaration of Human Rights: A Curious
Grapevine, New York: St. Martin’s Press 1998.
Morsink, Johannes: The Universal Declaration of Human Rights: Origins, Drafting
and Intent, Philadelphia, Pa.: University of Pennsylvania Press 1999.
Rawls, John: The Law of Peoples, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1999.
Reuter, Hans-Richard (Hrsg.): Ethik der Menschenrechte. Zum Streit um die Uni-
versalität einer Idee I, Tübingen: Mohr Siebeck 1999.

ZIB 1/2000 219


Neuerscheinungen

Schubert, Gunther (Hrsg.): Menschenrechte in Ostasien. Zum Streit um die Univer-


salität einer Idee II, Tübingen: Mohr Siebeck 1999.
van der Stoel, Max: Peace and Stability Through Human and Minority Rights.
Speeches by the OSCE High Commissioner on National Minorities, edited by
Wolfgang Zellner and Falk Lange, Baden-Baden: Nomos 1999.

220
Mitteilungen der Sektion

1. Gemeinsame Tagung der Sektionen »Staatslehre und politische Verwaltung«


und »Internationale Politik«
Vom 8. bis 10.7.1999 fand in Arnoldshain eine gemeinsame Tagung der Sektionen
»Staatslehre und politische Verwaltung« und »Internationale Politik« zum Thema
»Globalisierung und die Handlungsfähigkeit des Nationalstaates« statt. Ein ausführ-
licher Tagungsbericht ist über die Homepage der Sektion (http://www.tu-
dresden.de/phfipo/intpol/DVPW.html) zugänglich. Wichtige Tagungsbeiträge wer-
den voraussichtlich in Heft 2/2000 der ZIB veröffentlicht.

2. Bericht über die Nachwuchstagung in Arnoldshain

Vom 3. bis 5. März 2000 fand in Arnoldshain die Vierte Tagung der Nachwuchs-
gruppe der Sektion Internationale Politik der DVPW statt. Aus den eingegangenen
Vorschlägen wurden aufgrund eines anonymen Begutachtungsverfahrens 15 Nach-
wuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler ausgewählt. Die präsentierten Ar-
beiten sorgten, weiter befördert durch Kommentare »etablierter« Fachvertreter, für
Stoff für eine Reihe anregender Diskussionen. Die Entscheidung, im Unterschied
zu den vorangehenden Tagungen auf Fremdfinanzierung und damit auch auf eine
Begrenzung der Teilnehmerzahl zu verzichten, erwies sich nach allgemeinem Emp-
finden als richtig und wurde durch eine Zahl von über 50 Teilnehmenden ein-
drucksvoll bestätigt. Während des Treffens der Nachwuchsgruppe im Rahmen der
Tagung wurden Tanja Brühl (Tübingen) und Dr. Bernhard Zangl (Bremen) in
Nachfolge von Andrea Liese (Bremen) und Dr. Mathias Albert (Darmstadt) als
neue Nachwuchssprecher gewählt. Zu Stellvertretern gewählt wurden Anja Jetschke
(Berlin) und Rainer Baumann (Frankfurt/M.). Gleichzeitig wurde beschlossen, für
die Abfolge von Nachwuchstagungen wie auch für die Amtszeit der Nachwuchs-
sprecher einen festen 2-Jahres-Turnus einzuführen. Die neue elektronische Mailing-
Liste der Nachwuchsgruppe (http://www.fu-berlin.de/atasp/nachwuchsliste.html)
steht als Informations- und Diskussionsplattform für alle für den wissenschaftlichen
Nachwuchs im IB-Bereich relevanten Nachrichten zur Verfügung.
Nachwuchssprecherin und -sprecher sind unter den folgenden Adressen zu erreichen:
Tanja Brühl Dr. Bernhard Zangl
Universität Tübingen Universität Bremen
Institut für Politikwissenschaft Institut für Interkulturelle
Abteilung Internationale Beziehungen/ und Internationale Studien
Friedens- und Konfliktforschung Postfach 330440, 28334 Bremen
Melanchthonstr. 36, 72074 Tübingen Tel: 0421/218-3649
Tel: 07071/29-75442 (Sekr. -78372) Fax: 0421/218-7248
E-Mail: tanja.bruehl@uni-tuebingen.de E-Mail: bezangl@uni-bremen.de

Zeitschrift für Internationale Beziehungen 221


7. Jg. (2000) Heft 1, S. 221-226
Mitteilungen der Sektion

3. DVPW-Kongreß in Halle

Vom 1. bis 5. Oktober 2000 findet an der Martin-Luther-Universität Halle-Witten-


berg der 21. wissenschaftliche Kongreß der Deutschen Vereinigung für Politische
Wissenschaft statt. Das Thema lautet: »Politik in einer entgrenzten Welt«.
Wir veröffentlichen nachstehend einen Auszug aus der Programmübersicht
(Eröffnung und Plenarveranstaltungen):

Eröffnungsveranstaltung (Sonntag, 1.10.2000, 15 Uhr)


Grußworte
Einführungsvortrag
Politik in einer entgrenzten Welt
Prof. Dr. Christine Landfried, Vorsitzende der DVPW
Vortrag
Politikwissenschaft in einer entgrenzten Welt
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Renate Mayntz
Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln

Plenumsveranstaltungen
Plenum I (Montag, 2.10.2000, 9 – 12 Uhr):
Legitimation und Demokratie
PD Dr. Markus Jachtenfuchs, Universität Greifswald
Verfassung, Parlamentarismus, Deliberation. Legitimation und
politischer Konflikt in der Europäischen Union
Discussant: Prof. Dr. Heidrun Abromeit, Technische Universität Darmstadt
PD Dr. Walter Reese-Schäfer, Universität Hamburg
Globale Orientierung und Europabewußtsein
Discussant: Prof. Dr. Max Kaase, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Plenum II (Dienstag, 3.10.2000, 14 – 17 Uhr):


Politik und Ökonomie
Dr. Susanne Lütz, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln
Die politische Architektur von Finanzmärkten
Discussant: Prof. Dr. Elmar Altvater, Freie Universität Berlin
Prof. Dr. Stefan A. Schirm, Universität Stuttgart
Antworten auf Globalisierung: Wie Globalisierung den Staat stärkt
Discussant: Prof. Dr. Adrienne Héritier,
Max-Planck-Projektgruppe Recht der Gemeinschaftsgüter, Bonn

222
Mitteilungen der Sektion

Plenum III (Mittwoch, 4.10.2000, 9 – 12 Uhr):


Politik und Territorialität
Dr. Katharina Holzinger, Max-Planck-Projektgruppe
Recht der Gemeinschaftsgüter, Bonn
Optimale Regulierungseinheiten für Europa.
Flexible Kooperation territorialer und funktionaler Jurisdiktionen
Discussant: Prof. Dr. Fritz W. Scharpf, Max-Planck-Institut für Gesellschafts-
forschung, Köln
Prof. Dr. Michael Zürn, Universität Bremen
Postnationale Politik – Entscheidungsfindung und
-umsetzung in denationalisierten Kontexten
Discussant: Prof. Dr. Beate Kohler-Koch, Universität Mannheim

Plenum zum Tag der Deutschen Einheit (Dienstag, 3.10.2000, 9 – 12 Uhr):


»10 Jahre Deutsche Einheit«
Eröffnungsvortrag
Das Ende der Abgrenzung
Dr. Reinhard Höppner, Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt
Gastvortrag
Prof. Dr. Janusz Reiter, Centre of International Relations, Warschau
Discussants: Prof. Dr. Michael Brie, Rosa-Luxemburg-Stiftung
Prof. Dr. Hans-Dieter Klingemann, Wissenschaftszentrum Berlin
Prof. Dr. Anne Marie LeGloannec, Centre Marc Bloch, Berlin
Gastvorträge
Prof. Dr. Saskia Sassen, University of Chicago
The State and the New Geography of Power
Montag, 2.10.2000, 18 – 19 Uhr
Prof. Dr. Claus Offe, Humboldt-Universität zu Berlin
Wessen Wohl ist das Gemeinwohl? Die Entgrenzung der Politik
und die Maßstabsveränderung der »politischen Gemeinschaft«
Dienstag, 3.10.2000, 18 – 19 Uhr
Prof. Dr. John G. Ruggie, Assistant Secretary-General United Nations (angefragt)
Mittwoch, 4.10.2000, 12 – 13 Uhr

Weiterhin finden Diskussionsveranstaltungen der Sektionen, Arbeitskreise und Ad-


hoc-Gruppen statt. Anmeldungen sollen bis zum 1. September erfolgen. Für weitere
Informationen: DVPW, c/o Universität Osnabrück, FB 1 – Sozialwissenschaften,
49069 Osnabrück, Telefon 0541.9 69-62 64, Telefax 0541.9 69-62 66,
E-Mail: dvpw@uos.de, http://www.dvpw.de
Die Mitglieder der DVPW erhalten die Programmübersicht als Faltblatt zugesandt.

ZIB 1/2000 223


Mitteilungen der Sektion

Beiträge der Sektion Internationale Politik beim DVPW-Kongreß in Halle


Die Sektion »Internationale Politik« veranstaltet ein Panel gemeinsam mit der Sek-
tion »Staatslehre und Politische Verwaltung« zum Thema »Globalisierung und Poli-
tische Steuerung/Globalization and Domestic Governance« (Montag, 2.10.2000,
14.00-17.30 Uhr).
Eine zweite Panelveranstaltung wird durchgeführt zum Thema »10 Jahre neue deut-
sche Außenpolitik« (Mittwoch, 4.10.2000, 14.00-17.30 Uhr).
Es findet ferner ein Round-Table statt zum Thema »Perspektiven der Lehre in den In-
ternationalen Beziehungen« (Donnerstag, 5.10.2000, 9-12 Uhr).
Das detailliert Programm ist über die Homepage der Sektion zugänglich.

Ad-hoc-Gruppe »Ideelle Grundlagen außenpolitischen Handelns« –


Einladung zur Mitarbeit
Ideen, Normen, Werte, Kultur oder Identitäten erfahren in letzter Zeit zunehmende Be-
achtung als Erklärungsfaktoren für staatliches Handeln in der internationalen Politik,
aber ihre Anerkennung im theoretischen IB-Diskurs setzt jeweils zunächst die Zurück-
weisung bzw. Widerlegung einer scheinbar »einfacheren« Erklärung anhand materieller
Faktoren wie Militärkapazitäten oder Wirtschaftspotentiale voraus. Aus einer kon-
struktivistischen Perspektive stellt sich dagegen die Frage, welche Bedeutung sowohl
materielle als auch nicht-materielle Faktoren für das subjektive Handlungskalkül der
jeweiligen Akteure besitzen. Indem somit den ideellen Grundlagen (außen-) politi-
schen Handelns derselbe theoretische Status wie materiellen Faktoren zukommt, eröffnet
sich ein erweitertes Erklärungspotential, nicht nur für »weiche« außenpolitische Hand-
lungsfelder wie die Entwicklungs-, Umwelt- oder Menschenrechtspolitik, sondern
auch für die Sicherheits- und Außenwirtschaftspolitik, insbesondere von demokrati-
schen Staaten, in denen der rhetorische Bezug auf Normen und Werte zur innenpoliti-
schen Legitimation außenpolitischen Handelns alltägliche Praxis ist.
Ziel dieser Ad-hoc-Gruppe ist es, die ideellen Grundlagen außenpolitischen Han-
delns von ihrem Status einer Residual-Kategorie innerhalb der IB-Theorie zu be-
freien. Hierzu erscheint es sowohl notwendig, die vorliegenden und laufenden For-
schungen in diesem Feld zusammenzuführen, um gegenseitig Anregungen und
Erfahrungen auszutauschen, als auch den Versuch zu starten, die vielfältigen Her-
angehensweisen im Hinblick auf die Entwicklung eines systematischen For-
schungsprogramms zusammenzuführen. Dabei geht es insbesondere um die folgen-
den drei Forschungsfelder:
– Analysen der Perzeptionen außenpolitischer Akteure;
– Untersuchungen von Ideen, Normen, Werten etc., die außenpolitischen Akteuren
als Grundlage ihres Handelns dienen, und deren Wirkungen;
– Untersuchungen des Zustandekommens und des Wandels der ideellen Grundla-
gen außenpolitischen Handelns.

224
Mitteilungen der Sektion

Mit der Zusammenführung dieser Themenfelder und der damit einhergehenden unter-
schiedlichen Perspektiven soll gezielt sowohl über die älteren Perzeptionsanalysen als
auch über aktuelle Engführungen (sozial-) konstruktivistischer Ansätze hinausgegriffen
werden, um die Wechselwirkungen erfassen zu können, die zwischen (außen-) politi-
schem Handeln und der ideellen Struktur der internationalen Politik bestehen. Nachdem
in soziologisch inspirierten IB-Ansätzen und der Akteur-Struktur-Debatte betont
wird, daß es sich auch beim internationalen System um eine primär soziale Struktur
handelt und sich darin Akteure und Strukturen gegenseitig konstituieren, sind die
ideellen Grundlagen außenpolitischen Handelns sowohl Motiv als auch Produkt dieses
Handelns und daher in dieser Doppelfunktion analytisch ins Auge zu fassen.
Um laufende und geplante Forschungsprojekte zu unterschiedlichen Dimensionen
der ideellen Grundlagen außenpolitischen Handelns innerhalb der DVPW zu ver-
netzen und einige Schritte im Hinblick auf eine gemeinsame Forschungsperspektive
zu unternehmen, laden wir zu einer ersten Arbeitstagung im Rahmen des DVPW-
Kongresses in Halle (5. Oktober 2000, 14 – 18 Uhr) ein. Dabei sind sowohl kriti-
sche Auseinandersetzungen mit dem aktuellen Forschungsstand, Beispiele empiri-
scher Analysen, Entwürfe für geplante Forschungsprojekte als auch theoretische
Überlegungen zu weitergehenden Forschungsperspektiven willkommen.
Für Anregungen, Rückfragen und die Planung der Arbeitstagung stehen zur Verfügung:
Dr. Cornelia Ulbert, Luisenstr. 48, 76344 Eggenstein,
E-Mail: cornelia.ulbert@t-online.de
Christoph Weller, Universität Bremen, InIIS, Postfach 330 440, 28334 Bremen,
E-Mail: chweller@uni-bremen.de

Einladung zur Mitgliederversammlung der Sektion Internationale Politik


Aus Anlaß des DVPW-Kongresses in Halle wird eine Mitgliederversammlung der
Sektion Internationale Politik stattfinden; auf der Tagesordnung steht u.a. die Neu-
wahl des Vorstands. Zeit und Ort entnehmen Sie bitte dem gedruckten Kongreßpro-
gramm. Diese Angaben und die vorläufige Tagesordnung sind nach Drucklegung
des Programms auch über die Homepage der Sektion zugänglich.

4. Gemeinsame Tagung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft


(DVPW), der Österreichischen Gesellschaft für Politikwissenschaft (ÖGPW)
und der Schweizerischen Vereinigung für Politische Wissenschaft (SVPW) am
8. und 9. Juni 2001 in Berlin zum Thema: »Der Wandel föderativer Struktu-
ren« – Call for Papers
Für die insgesamt 9 vorgesehenen Arbeitsgruppen bitten die Veranstalter bis zum
31.10.2000 um Vorschläge für Konferenzbeiträge. Nähere Informationen und eine
Kurzfassung des vorläufigen Konferenzprogramms erhalten Sie über die DVPW-
Geschäftsstelle, Tel. 0541/9 69-6264 oder E-Mail: dvpw@uos.de

ZIB 1/2000 225


Mitteilungen der Sektion

5. Internet-Forum Deutsche Außenpolitik


Das deutsche-aussenpolitik.de-Projekt (ehemals Germ@n-Net-Projekt) wurde 1998
von Mitgliedern des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen und Außenpolitik
(Professor Hanns W. Maull) an der Universität Trier etabliert. Ziel ist es, dem zu-
nehmenden Interesse an Deutschlands Außenpolitik in einem sich integrierenden
Europa durch den innovativen Einsatz des Internets gerecht zu werden, um so einen
Beitrag zur Verbesserung von Lehre, Forschung und praxisbezogener Analyse im
Bereich der vergleichenden Außenpolitikforschung zu leisten. Den theoretischen
Hintergrund des Projekts bilden die Rollentheorie sowie die generelle Annahme,
daß Eigen- und Fremderwartungen das außenpolitische Verhalten Deutschlands
prägen. Das Projekt will aber nicht nur auf eine steigende Nachfrage nach Informa-
tionen zur deutschen Außenpolitik mit einem möglichst wertvollen und – wie es
dem Medium Internet entspricht – möglichst aktuellen Angebot reagieren. Es ver-
steht sich darüber hinaus auch als Diskussionsforum, das den Dialog zwischen For-
schern, Beratern, Entscheidungsträgern und der interessierten Öffentlichkeit über
deutsche Außenpolitik zu intensivieren sucht. Mittelfristiges Ziel ist es, deutsche-
aussenpolitik.de als zentrale Informations-, Dokumentations- und Diskussionsplatt-
form im Internet zu etablieren.
Ende Februar 2000 wurde das Projekt unter der gleichnamigen, prominenteren
URL http://www.deutsche-aussenpolitik.de neu lanciert. Neben dem neuen Design
wurden den bereits bestehenden Angeboten (Publikationen, Bibliografien, Link-Liste,
Experten-Netzwerk) zwei neue hinzugefügt, eine wöchentliche Zusammenfassung
wichtiger Ereignisse im Bereich der deutschen Außenpolitik in Form einer kom-
mentierten Link-Liste, sowie einen vierteljährlich erscheinenden Newsletter mit
Beiträgen aus unterschiedlichen nationalen Perspektiven zu je einem zentralen Thema
deutscher Außenpolitik. Die beiden Angebote sind selbstverständlich kostenlos zu
abonnieren. Das Projekt wird von der ASKO Europa-Stiftung unterstützt. Weitere
Informationen sind auf der Homepage zu finden oder zu erhalten unter E-Mail:
info@deutsche-aussenpolitik.de, Tel: +49-651-2013165, Fax: +49-651-2013821.

Verantwortlich für die Zusammenstellung dieser Rubrik ist der


Vorstand der Sektion Internationale Politik der DVPW:
Prof. Dr. Monika Medick-Krakau, Dresden (Geschäftsführung)
Prof. Dr. Hanns W. Maull, Trier
Prof. Dr. Thomas Risse, Florenz
Homepage der Sektion: http://www.tu-dresden.de/phfipo/intpol/DVPW.html

226
Abstracts

Gerald Schneider / Julia Schiller


Goethe is not everywhere
An Empirical Analysis of the Locational Decisions in the
Foreign Cultural Policy of Germany

ZIB, Vol. 7, No. 1, pp. 5-32

This article examines whether the locational decisions of the Goethe Institute fol-
low the official mission to advance German culture or whether they are rather influ-
enced by competing societal interests. Our macro-quantitative evaluation clearly
shows that power and economic considerations largely explain the world-wide pre-
sence of this organisation which plays a central role in official German foreign cul-
tural diplomacy. The Goethe Institute largely focuses its activities on economically
developed and trade-oriented states. By contrast, development criteria and the hu-
man rights record of the host countries have almost no influence on the distribution of
the branches. The recent closure decisions were largely determined by the desire to
minimize conflict, since the reductions were mainly undertaken in countries where
the organisation is currently represented by more than one branch. This reduction is at
odds with the mission of the Institute, according to which, logically, reductions
should be made in small countries rather than in some of the targeted states.

Reinhard Wolf
What Makes Victorious Allies Stick Together?
Comparing the Influence of Power Politics,
International Institutions and Domestic Variables

ZIB, Vol. 7, No. 1, pp. 33-78

The cohesion and disintegration of victorious alliances primarily depend on the


compatibility of state preferences arising out of the parochial interests of domestic co-
alitions. Research on four historical cases demonstrates that the degree of interna-
tional institutionalization hardly influenced the aftermath of wars between great po-
wer, whereas the distribution of power affected it only to the extent that
international capabilities were concentrated on few powers with antagonistic dome-
stic systems. Accordingly, the interests and alignments of domestic actors appear to
have the greatest impact on the most fundamental configuration of international po-
litics, that is, the pattern of great power relations. This finding increases the plausibi-
lity of liberal IR theory. It weakens the credibility of realism and questions at least

ZIB 1/2000 227


Abstracts

those variants of institutionalism which contend that international norms and rules
strongly affect national preferences. For political practitioners these findings imply
that they should not take the disintegration of victorious great power coalitions for
granted. Rather, they are well advised to take active measures to preserve successful
security partnerships. To that end they should not so much focus on building inter-
national institutions, but rather aim at the spread of democracy while giving support
to foreign elites which favor international cooperation.

Sven Behrendt
The Israeli-Palestinian Secret Negotiations in Oslo 1993
A Constructivist Interpretation

ZIB, Vol. 7, No. 1, pp. 79-107

In September 1993, the Middle East peace process witnessed a historic break
through when the PLO and the State of Israel mutually accepted one another and
signed a Declaration of Principles (DOP). The mutual acceptance and the DOP
were the result of a secret negotiation process between Israelis and Palestinians in
Oslo from January to September 1993. But how can one explain negotiations lea-
ding to mutual acceptance, if mutual acceptance itself is a pre-condition for negotia-
tions? This contribution argues that the first phase of the Oslo secret negotiations
can be defined as a discursive process which served to establish the rules of the sub-
sequent bargaining process between the two sides. After a comparison with other
channels of communication between Israel and the PLO, the article concludes that the
existence of a discursive process in Oslo was an important, if not necessary condition
for the success of the negotiations.

Thomas Faist
Beyond National and Post-National Models
Trans-state Spaces and Citizenship

ZIB, Vol. 7, No. 1, pp. 109-144

Trans-state spaces are pluri-local and cross-border sets of relatively dense, conti-
nuous and stable ties between and among persons, networks, communities and non-
state organizations. There are various forms of trans-state spaces, such as kinship
groups, issue networks, trans-state companies and diasporas. Ties of immigrants in
trans-state spaces are an important point of departure for understanding member-
ship in a mobile world. So far, the discussion on multiple membership has been do-
minated by the »national« and »post-national« models. On the one hand, we find
national models that tie citizenship more or less exclusively to membership in one na-
tion-state. According to this view, citizenship requires the eternal loyalty of a citizen

228
Abstracts

to a state, and thus rules out polygamy. On the other hand, post-national understan-
dings of membership in polities try to show that important human, social and civil
rights are guaranteed by supra- and international institutions. However, neither model
deals with the problem of how to conceptualize the various cross-border ties of im-
migrant applicants to citizenship. The concept of trans-state spaces helps us to un-
derstand the nature and extent of interstitial ties entertained by immigrants. A detailed
analysis shows that the potential costs and benefits for the main actors involved are
distributed thus: high benefits for immigrants and emigration states, and negligible
costs for immigration states.

Christian Joerges
Transnational Deliberative Democracy or Deliberative Supranationalism?
Comments on Rainer Schmalz-Bruns’ Conceptualisation of Legitimate Governance
Beyond the Nation-State

ZIB, Vol. 7, No. 1, pp. 145-161

The essay contrasts two conceptualisations of legitimate governance beyond the


constitutional state, which both use the label of »deliberative supranationalism«.
Whereas Rainer Schmalz-Bruns, who envisages a non-state, non-national form of
constitutionalism and a reflexive institutional politics, presents his approach as a sy-
stematic elobaration of the concepts of deliberative democracy based in particular
on recent contributions by Joshua Cohen, Michael Dorf and Charles Sabel, the author
of this contribution has, in collaboration with Juergen Neyer, presented a recon-
struction of institutional innovations and decision-making practices as observed in
the European market-building project. Contrary to the perceptions and critique of
Schmalz-Bruns, this reconstruction was not intended to defend some sort of techno-
cratic paternalism; it should rather be understood as an alternative to Giandomenico
Majone’s conceptualisation of Europe as a »regulatory state« governed by non-ma-
joritarian institutions. The innovative and normative qualities of this project, it is ar-
gued here, can only be identified and preserved if one takes its experimental status se-
riously, i.e. if one recognises the need for, and the possibility of, institutional
innovations, grants the autonomy such processes require and intervenes only on the
basis of (new) experiences.

ZIB 1/2000 229


Abstracts

Frank Biermann / Udo E. Simonis


Institutional Reform of Global Environmental Politics?
The Political Debate on the Establishment of a »World Environmental Organisation«

ZIB, Vol 7, No. 1, pp. 163-183

The idea of establishing a »world environment organisation« has gained ground


among the scientific and political communities in North America, Europe and Japan.
The establishment of a new special organisation of the United Nations has been called
for by – to name a few – the Executive Director of the World Trade Organisation, the
French President and the German Government, first under Kohl and now under
Schroeder. This article elaborates and supports the argument for a World Environ-
ment and Development Organisation within the United Nations system that would in-
tegrate the UN Environment Programme, the Commission on Sustainable Develop-
ment and the secretariats of the major environmental conventions. The article also
suggests a possible organisational structure. It is hoped that the paper will help to
carry the debate from politics to political science by stirring up some controversy –
how could students of International Relations respond, based on their theories and em-
pirical knowledge, to the proposal of establishing a global environmental organisation?

Thomas Gehring / Sebastian Oberthuer


World Environment Organisation: What on Earth for?
Co-operation Theory and the Debate on the Institutional Re-organisation
of International Environmental Politics

ZIB, Vol. 7, No. 1, pp. 185-211

The article responds to proposals to overcome the institutional fragmentation of in-


ternational environmental co-operation by establishing a world environment organi-
sation, at the same time solving several major problems that plague international
environmental co-operation. To this end, international organisations are conceptua-
lised as governance institutions characterised by their particular decision-making
processes. In this perspective, important existing international environmental regi-
mes have already crossed the threshold of becoming »organisations«. Furthermore, it
is argued that the fragmented framework characteristic of international environ-
mental co-operation as compared to other policy areas is a result of the specific
structural conditions of international politics on the environment. Subsequently, the
two central dimensions of the argument, i.e. organisation of collective decision-ma-
king procedures and delimitation of the issue areas governed, are merged to derive
three models of a potential world environment organisation. The concluding assess-
ment shows that such an organisation, from the view of co-operation theory, cannot
be expected to contribute significantly to solving the major problems of international
environmental politics.

230
Autorin und Autoren dieses Hefts

Gerald Schneider Professor für Politikwissenschaft, Fachbereich für Politik-


und Verwaltungswissenschaft, Fach D 86; 78457 Konstanz,
E-Mail: gerald.schneider@uni-konstanz.de

Julia Schiller Dipl.Verw.wiss., Alte Heerstrasse 18, 35282 Rauschenberg,


E-Mail: julia.schiller@firemail.de

Reinhard Wolf Dr., Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft der


Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 06099 Halle,
E-Mail: wolf@politik.uni-halle.de

Sven Behrendt Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centrum für ange-


wandte Politikforschung an der Universität München, Maria-
Theresia-Str. 21, 81675 München,
E-Mail: sven.behrendt@uni-muenchen.de

Thomas Faist PhD, Privatdozent am Institut für Interkulturelle und Interna-


tionale Studien (InIIS) der Universität Bremen, Postfach
33 04 40, 28334 Bremen, E-Mail: tfaist@uni-bremen.de

Christian Joerges Professor für Wirtschaftsrecht am Europäischen Hochschulin-


stitut, Abteilung Rechtswissenschaft, Via Boccaccio 121,
I-50133 Florenz, E-Mail: joerges@iue.it

Frank Biermann Dr. phil. LL.M.; Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Geschäfts-


stelle des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung
Globale Umweltveränderungen (WBGU) sowie des Potsdam-
Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), Postfach 60 12 03,
14412 Potsdam, E-Mail: frank_biermann@hotmail.com

Udo E. Simonis Dr. sc. pol., Professor für Umweltpolitik am Wissenschafts-


zentrum Berlin, Reichpietschufer 50, 10785 Berlin,
E-Mail: simonis@medea.wz-berlin.de

Thomas Gehring Dr. habil., Privatdozent am Fachbereich Politik- und Sozial-


wissenschaften der Freien Universität Berlin, Ihnestr. 21,
14195 Berlin, E-Mail: tgehring@zedat.fu-berlin.de

Sebastian Oberthür Dr. phil., Projektleiter bei Ecologic, Gesellschaft für Interna-
tionale und Europäische Umweltforschung, Pfalzburger Str.
43-44, 10717 Berlin, E-Mail: oberthuer@ecologic.de

ZIB 1/2000 231


Zeitschrift für feministische
Politik-Wissenschaft

Heft 1/2000  „Das Private ist international“ – Feministische


Ansätze in den Internationalen Beziehungen
(Cilja Harders u. a.)
 Material, relational, global – feministische
Feministische Theorie und Praxis internationaler Politik
Ansätze (Uta Ruppert)
 Militär, Gender und „Peacekeeping“
in den (Christine Eifler)
Internationalen  Zur Geschlechterstruktur präventiver
Diplomatie (Margret Birckenbach)
Beziehungen  Zur gesellschaftlichen Anerkennung des
Vergewaltigungstraumas in der BRD
(Jutta Brandewiede)
 Violence against Women – State Sponsored
Violence (Navanethem Pillay)
 Romantisierung des Sozialen und
Globalisierung (Marianne Braig)
Redaktion femina politica  Weltbilder. Die geographische Konstruktion
c/o Freie Universität Berlin des Inter-Nationalen (Birgit Weiss)
FB Politik- und Sozialwissenschaften
Ihnestr. 21, D-14195 Berlin
Telefon/Fax: (+49) 030/838-52369
Vorschau
e-mail: fempol@gmx.de
 2/00 Arbeitsmarktpolitik im internationalen
Informationen und Bestellungen: Vergleich
http://www.femina-politica.de  1/01 Politische Partizipation im Wandel

Einzelheft: 28,- DM
Abonnement: 60,- /40,- DM (ermäßigt)
Bereits erschienene Hefte
Förderabonnement: 75,- DM
2/99 Die Politisierung des Körpers
1/99 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland
2/98 Europäische Integration aus
feministischer Perspektive
femina politica ist Trägerin des 1/98 Staats- und Demokratietheorien
Margherita-von-Brentano-Preises 2/97 Feministische Politikberatung?!
1999 der Freien Universität Berlin. 1/97 Erfahrung(en) mit Methode(n)

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