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Noah Bubenhofer: Visuelle Linguistik.

Zur Genese, Funktion und Kategorisierung von


Diagrammen in der Sprachwissenschaft. Berlin/Boston: De Gruyter 2020 (= Linguistik –
Impulse & Tendenzen. Bd. 90), 348 Seiten (ISBN: 978-3-11-069873-2, PDF)

Das zu besprechende Buch von Bubenhofer widmet sich den Diagrammen und ihrer Verwendung
in der Sprachwissenschaft, die zum ersten Mal thematisiert werden. Die Diagramme werden in
Bubenhofers Studie vom diagrammatischen, praktischen, Handlungs- und technischen Aspekt
betrachtet, wobei die Typen der Diagramme in der Linguistik, ihre Operation sowie
gegenstandskonstituierenden Effekte im Vordergrund stehen. Ziel dieser Studie besteht nicht nur
in der Untersuchung der Diagramme und ihrer Praxis in der Linguistik, sondern darin, vor
wissenschaftskulturellem Hintergrund die linguistische diagrammatische Methodologie zu
reflektieren und neue Ideen für zukünftige diagrammatische Praxis zu suchen.
In der kurzen Einführung werden neben der Forschungsfrage und dem Aufbau dieser Studie (Kap.
1.1) noch die diagrammatische Perspektive auf Sprache (Kap. 1.2) sowie Diagrammatik (Kap. 1.3)
als Hintergrund beleuchtet. Im Anschluss daran wird das Buch in drei Abschnitte gegliedert,
nämlich „Grundlagen“, „Praktiken“ und „Fazit“.
Der erste Abschnitt „Grundlagen“ enthält insgesamt vier Kapitel. In Kapitel 2 mit dem Titel
„Diagrammatik und Wissen“ befasst er sich nach der Vorstellung der Fragestellung (Kap. 2.1)
zunächst mit den Grundlagen zu Diagrammen, Sybille Krämers Diagrammatik sowie den
einhergehenden Definitionen (Kap. 2.2). Im Rahmen von Krämers Diagrammatik (2009) werden
Diagramme von anderen Bildern durch ihre operative Bildlichkeit unterscheidet. Zwischen den
zwölf grundlegenden Eigenschaften der Diagramme nach Krämer (2016) legt Bubenhofer den
größten Wert auf die Operationalität, weil sie die Diagramme ermöglicht, Werkzeuge zu werden,
„um damit zu operieren und zu neuen Einsichten zu gelangen“ (25). Unter diesem Gesichtspunkt
merkt Bubenhofer an, dass Diagramme in ihrer medialen Umgebung, den sogenannten „Coding
Cultures“ und zusammen mit Praxis betrachtet werden sollen (vgl. 29–30).
Anschließend daran wird auf die Besonderheiten von Diagrammen im wissenschaftlichen Kontext
diskutiert (Kapitel 2.3). Es wird mit Beispielen gezeigt, dass diagrammatische Darstellungen nicht
bloße Informationen illustrieren, sondern ein wichtiges Instrument sind, Wissen darzustellen und
zu ordnen. Sie bilden nicht nur die Wirklichkeit ab, sondern konstituieren und vermitteln auch
Wissen und Erkenntnis aus Sprache, Bild und Text. Zudem werden wissenschaftliche
Visualisierungen in Praxis und als Popularisierungen betrachtet.
Im Kapitel 2.4 geht es um eine empirische Untersuchung zu Diagrammen in der
Sprachenwissenschaft, wobei alle Diagramme in der Buchreihe „Reihe Germanistische
Linguistik“ analysiert werden, um einen systematischen Überblick über die Verwendung von
Diagrammen in der germanistischen Sprachenwissenschaft zu erhalten. Insgesamt 3870
Diagramme in 303 Bänden (240 Monografien, 60 Sammelbände, drei Wörterbücher) von 1975 bis
2016 werden hierbei ausgewertet und zwischen 18 Diagrammtypen und vier Grundtypen
unterscheidet, nämlich Tabellen, Graph- und graphähnliche Diagramme, Achsendiagramme und
eine Mischgruppe. Der Anzahl der Bände, in denen verschiedene Diagrammtype vorkommen,
sowie die zeitliche Entwicklung der Diagrammtypen werden zusammengefasst und mit
Diagrammen präsentiert. Am häufigsten werden Tabellen, Graphdarstellungen, insbesondere
Baumgraphen und die Gruppe der Transkripte/Dialoge/Textbelege verwendet, während der Anzahl
der Bände, in denen Tabellen, Netzgraphen, Dreieckgraphen, Balken-, Linien- und
Punktdiagramme, Karten, Transkripte/Dialoge/Textbelege sowie Keyword in Context auftreten, in
dem geforschten Zeitraum zunimmt (vgl. S. 66–68). Danach werden die Diagrammtypen in
Abhängigkeit von ihren Funktionen ermittelt. Auffällig ist, dass empirische Rohdaten vor allem in
Texttabellen und Transkripten/Dialogen/Textbelegen dargestellt, während aggregierte Daten
hauptsächlich in Tabellen, Balken- und Liniendiagramme zu repräsentieren sind (vgl. 72). Zudem
werden Graphdarstellung häufig verwendet, um komplexe Zusammenhänge wie theoretische
Modelle zu verdeutlichen (vgl. 72–73). Außerdem kommen oft Kombinationen verschiedener
Diagrammtypen vor (vgl. 73). Insgesamt ist festzustellen, dass Diagramme in der Buchreihe
„Reihe Germanistische Linguistik“ bezüglich sowohl ihrer Anzahl als auch ihrer Funktionen eine
bedeutende Rolle tragen.
Im Kapitel 3 mit dem Titel „Diagramme als Transformationen“ werden zuerst auf Diagramme als
ein transkriptives Verfahren anhand eines Gesprächstranskripts und dessen Gebrauchsbedeutung
als Beispiel eingegangen. Danach wird mit dem Einbezug von Ludwik Flecks Denkstil-Konzept
die Rolle der Diagramme in wissenschaftlichen Disziplinen, insbesondere in der Linguistik
diskutiert. Damit ist aufzuzeigen, dass Diagramme sowohl kommunikatives Handeln als auch Teil
wissenschaftlicher Infrastruktur sind (vgl. 92). Sie sind nicht nur Zeugen der wissenschaftlichen
Praktiken, tragen sondern auch zur Konstruktion der jeweiligen Disziplin bei und sind Ausdruck
vom entsprechenden Denkstil (vgl. 92–94). Die Visualisierungspraxis wird durch den
diagrammatischen Kanon jeweiliger Disziplin eingeschränkt, hat aber auch das Potenzial,
Denkstile jeweiliger Disziplin durchzubrechen (vgl. 94–96).
Kapitel 4 handelt von der technischen Seite der diagrammatischen Praktiken, nämlich der
Verdatung der Sprache, wobei der Computer als „diagrammatische Maschine“ angesehen wird. Es
zeigt sich, dass der Verdatungsprozess gegenstandskonstituierend auswirkt und gleichzeitig von
technischen und kulturellen Faktoren beeinflusst wird. Dabei werden der Terminus „Coding
Cultures“ eingebettet, der nach Bubenhofer als „eine Kultur von Praktiken des Programmierens“
(120) verstehen wird. Es wird davon ausgegangen, dass die Entscheidung für eine
Programmiersprache und einen Algorithmus abhängig von den Coding Cultures steht (vgl. ebd.).
Um dies klar zu machen, sind auf einer Seite die Praxis des Programmierens und auf anderer Seite
konkrete Software und Programmiersprachen Excel, R, Javascript, Perl und Python auszuführen.
Kapitel 5 ist den diagrammatischen Grundfiguren gewidmet. Bubenhofer schlägt fünf
diagrammatische Grundfiguren vor, die in der Linguistik zur Verarbeitung der Sprachdaten
wichtig sind, nämlich Listen, Karten, Partituren, Vektoren und Graphen. Ihre grafische Geschichte
und ihre Übernahme in die Linguistik werden skizziert. Graphen werden hier als Schwerpunkt
dargestellt und zwischen Baumgraphen und Netzwerkgraphen unterschieden. Die
Netzwerkgraphen haben einerseits das Potenzial, „die in ein Diagramm transferierten Daten und
durch die Operationen mit dem Diagramm einen neuen Blick auf die Daten zu erhalten und neue
Erkenntnisse gewinnen zu können“ (S. 184), anderseits sind sie trotz der Komplexität ihrer
zugrunde liegenden Algorithmen ästhetisch attraktiv (vgl. 184–185). Daran schließen sich die vier
Effekte, die die diagrammspezifischen Transformationen auf sprachliche Daten ausüben:
Rekontextualisierung, Desequanzialisierung, Dimensionsanreicherung und Rematerialisierung.
Danach wird auf die Visualisierungsprinzipien eingegangen, bei den es um ein Muster oder eine
Regelsammlung geht, die sich aus der Zusammenwirkung von Daten, diagrammatischer
Grundfigur und Coding Cultures ergibt. Solche Prinzipien regeln nicht nur Visualisierungen,
eröffnen sondern auch einen Möglichkeitsraum für Visualisierungsvariationen und -erweiterungen
(vgl. 202).
Der Abschnitt „Praktiken“ befasst drei Fallbeispiele, die Visualisierungen sprachlicher Daten in
linguistischen Untersuchungen präsentiert. Ziel dieser Fallstudien ist, einerseits konkrete
linguistische Fragestellungen als Ausgangspunkt genommen, Methoden für deren Beantwortung
zu suchen und anderseits „[...] die methodologische Praxis zu reflektieren, also den Weg zur
Entwicklung eines Analysetools als auch die Arbeit damit zu beschreiben und zu analysieren.“ (S.
206)
Die erste Studie (Kap. 6) bezieht sich auf Geokollokationen. Dabei werden die diagrammatischen
Grundfiguren Karte und Liste verwendet, um Sprachgebrauch und Ort zu verknüpfen. Diese
Visualisierungsprozesse führen zu Dimensionsanreicherung, Rekontextualisierung sowie
Desequenzialisierung der Daten. Zudem wird die Weiterentfaltung des Visualisierungsprinzips
überlegt. Die zweite Studie (Kap. 7) fokussiert sich auf Sprachgebrauch und Sequenz, wobei die
Geburtsberichte von Müttern visuell transformiert werden. In deren Vordergrund steht die Frage,
wie Sequenzialität der narrativen Muster visualisiert werden. Die letzte Studie (Kap. 8) wird die
traditionelle diagrammatische Form der interaktionalen Linguistik bzw. der Gesprächslinguistik,
nämlich der Transkript, kritisch reflektiert. Fraglich ist, ob ein Gesprächstranskript in der Lage ist,
die gesprochene Sprache angesichts der Komplexität der kommunikativen Situation umfassend zu
visualisieren. Hierbei werden Partiturdarstellungen mit Boxplot, grafische Abbreviaturen von
Gesprächsdynamik, Jahresringe sowie Kombinationen verschiedener Darstellungsarten als
Alternativen vorgeschlagen, um Zeitlichkeit und Sozialität von Gesprächen besser visuell
darzustellen.
Im letzten Abschnitt „Fazit“ (Kap. 9) wird eine integrierte diagrammatische Methodologie
skizziert, die „[...] als Orientierungsrahmen verstanden werden, mit dem die linguistische
diagrammatische Praxis besser reflektiert werden kann.“ (299) Zunächst wird der Prozess der
diagrammatischen Transformationen noch mal überlegt. Es wird davon ausgegangen, dass bei
diesem Prozess, in dem die Daten entweder präsentiert oder exploriert werden, spielen die
Visualisierungsprinzipien eine wichtige Rolle. Mit reichen Visualisierungsprinzipien können
Kanons und Denkstile durchgebrochen werden, sonst bleiben die diagrammatischen Praktiken im
Kanon und im Denkstil der Disziplin (vgl. 301). Anschließend merkt Bubenhofer aufgrund des
Verhältnisses von maschinellen Analysen und Interpretation an, dass es bei
geisteswissenschaftlichen Forschungen wichtig abzuschätzen ist, ob die in anderen Disziplinen
wie Statistik, Informatik und Computerlinguistik entwickelten Transformationsmethoden geeignet
für das Untersuchungsinteresse sind (vgl. 306). Schließlich werden im Ausblick neue
Möglichkeiten für diagrammatiko-linguistische, transsemiotische Perspektiven auf
Sprachgebrauch sowie eine transsemiotische Linguistik diskutiert, wobei Coding Cultures,
Technikkulturen, Praktiken und Gender auch überlegt werden. Damit ist hervorzuheben, dass in
diagrammatischen Praktiken das Visualisierungsprinzip nach den in der vorliegenden Arbeit
ausgeführten Aspekte möglichst ausreizt werden muss.
Bubenhofers Buch schafft eine umfassende Betrachtung über diagrammatische Praktiken in der
Linguistik. Einerseits werden die Genese, Funktionen und Kategorisierung von Diagrammen in
der Linguistik aus historischer und praktischer Sicht grundsätzlich geforscht, wobei die
gegenstandskonstituierenden Effekte der Diagramme betont werden, anderseits wird der
Verdatungsprozess der Diagramme vor wissenschaftskulturellem Hintergrund berücksichtigt,
wobei Code Cultures herangezogen werden. Darüber hinaus ist die methodologische Reflexion
sowie das Nachdenken über die Ausschöpfung der Visualisierungsprinzipien aufschlussreich für
zukünftige Visualisierungspraxis in der sprachwissenschaftlichen Forschungen. Allerdings besteht
ein Schönheitsfehler darin, dass in der empirischen Untersuchung im Kapitel 2.4, die eigentlich
zum Argumentieren der Bedeutung von Diagrammen in der Linguistik und Legitimation des
Themas dient, lediglich die Arbeiten aus germanistischer Linguistik als Korpus analysiert werden.
Um zwar haben die fünf vorgeschlagenen diagrammatischen Grundfiguren im Kapitel 5 keinen
direkten Bezug zum Ergebnis der empirischen Untersuchung. Dennoch lässt sich insgesamt
festhalten, dass Bubenhofers Buch mit einem gelungenen Auftakt für Visualisierungsforschungen
in der Linguistik sowie einer wegweisenden Impulse für zukünftige Visualisierungspraktiken sehr
lesenswert ist.

Literatur

Krämer, Sybille (2009): »Operative Bildlichkeit. Von der ,Grammatologie‘ zu einer


,Diagrammatologie‘?« In: Heßler, Martina/Mersch, Dieter (Hg.): Logik des Bildlichen. Zur
Kritik der ikonischen Vernunft. Bielefeld (Metabasis, 2), S.94–123.

Krämer, Sybille (2016): Figuration, Anschauung, Erkenntnis: Grundlinien einer


Diagrammatologie. Frankfurt am Main.

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