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Qualitative Forschung

in der Sozialpädagogik
Cornelia Schweppe (Hrsg.)

Qualitative Forschung
in der Sozialpädagogik

Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2003


Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

ISBN 978-3-8100-3165-5 ISBN 978-3-663-11215-0 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-663-11215-0

© 2003 Springer Fachmedien Wiesbaden


Ursprünglich erschienen bei Leske + Budrich, Opladen 2003

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung
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Inhalt

Einleitung ............................................................................................ '" 7

I. Sozialpädagogik und qualitative Forschung:


theoretische und methodologische Grundfragen
Andreas Hanses
Biographie und sozialpädagogische Forschung ..................................... 19

Wem er Thole
"Wir lassen uns unsere Weitsicht nicht verwirren". Rekonstruktive,
qualitative Sozialforschung und Soziale Arbeit - Reflexionen über
eine ambivalente Beziehung ................................................................... 43

Hans-Jürgen v. Wensierski
Rekonstruktive Sozialpädagogik im intermediären Feld eines
Wissenschaft-Praxis-Diskurses. Das Beispiel Praxisforschung.............. 67

II. Qualitative Verfahren in sozialpädagogischen


Forschungsfeldem
Sozialpädagogische Institutionenforschung

Thomas Klatetzki
Skripts in Organisationen. Ein praxistheoretischer Bezugsrahmen
für die Artikulation des kulturellen Repertoires sozialer Einrichtungen
und Dienste ..................................................................................... ,....... 93

Eric van SanteniMike Seckinger


Kooperation in der Kinder- und Jugendhilfe: zwischen Anspruch und
Wirklichkeit. Eine qualitative Feldstudie ... ... ...... ... ... .... .............. .... ...... 119
6

Professionelles Handeln in der Sozialpädagogik

Cornelia Schweppe
Wie handeln Sozialpädagoglnnen?
Rekonstruktionen der professionellen Praxis der Sozialen Arbeit ......... 145

Klaus Kraimer
Zwischen Disziplin und Profession.
Ein Beitrag zur faIlrekonstruktiven Erforschung der
professionalisierten Praxis am Beispiel der "Hilfen zur Erziehung" ...... 167

Eberhard Nölke
Klinische Sozialarbeit. Annäherungen mittels qualitativer Forschung... 185

Karin Bock
Erleidensprozesse im Berufsalltag eines Sozial beamten .. ...................... 207

Adrienne S. Chambon
SociaIly Committed Discourse Analysis and Social Work Practice ....... 225

Sozialpädagogische AdressatInnenforschung

Hansjoerg Sutter
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen
in einem demokratisierten JugendstrafvoIlzug ....................................... 245

Bernhard Haupert
Die Genogrammanalyse als qualitatives Verfahren zur Rekonstruktion
von Deutungsmustern. Eine Fallstudie über "Familiengeheimnisse"
im Bergarbeitermilieu ............ ......... ..................................... ................... 279

Sozialpädagogische Evaluationsforschung

Christian Lüders/Karin Haubrich


Qualitative Evaluationsforschung .......................................................... 305

Stephan WoljJ/Thomas SchejJer


Begleitende Evaluation in sozialen Einrichtungen ................................. 331

Die Autorinnen und Autoren .................................................................. 353


Einleitung

Die Diagnosen über die Entwicklung und den gegenwärtigen Stand der sozial-
pädagogischen Forschung sind nicht immer eindeutig. So konstatieren Rau-
schenbachffhole (1998) ein geringes Ausmaß des derzeitigen sozialpädagogi-
schen Forschungsvolumens, während Jakob (1997) resümiert: ,,Der Eindruck
eines generellen Forschungsdefizits in der Sozialpädagogik, der sowohl inner-
halb der Disziplin selbstkritisch angemerkt als auch aus der Außenperspektive
formuliert wird, lässt sich angesichts der entfalteten Forschungsaktivitäten m.E.
nicht mehr aufrechterhalten. Insbesondere die neuere Entwicklung zeigt die
Vielfalt bearbeiteter Fragestellungen und die Bedeutung der empirischen Er-
gebnisse für den fachlichen und wissenschaftlichen Diskurs" (S. 127). Sicher-
lich besteht kein Zweifel daran, dass die Forschungsaktivitäten in der Sozial-
pädagogik in den letzten Jahren einen erheblichen Aufschwung erfahren haben.
Vielfältige Fragestellungen in zahlreichen Arbeits- und Forschungsfeldern der
Sozialen Arbeit wurden mithilfe eines breiten Spektrums unterschiedlicher
Methoden bearbeitet. Allerdings sind die Forschungsaktivitäten in den rele-
vanten Bereichen der Sozialpädagogik ungleich verteilt. Die Jugendhilfefor-
schung ist weiter fortgeschritten als die Altenhilfeforschung, Forschungsakti-
vitäten im Bereich des professionellen HandeIns ausdifferenzierter als im Be-
reich der sozialpädagogischen Adressatlnnen- oder Institutionenforschung.
Letztendlich lassen sich aber verlässliche Aussagen weder über das Ausmaß
und das Volumen sozialpädagogischer Forschung noch über die Frage, was in
der Sozialen Arbeit mittels Forschung beobachtet und nicht beobachtet worden
ist, kaum treffen (Rauschenbachffhole 1998). Denn eine Forschung über die
sozialpädagogische Forschung, die dazu beitragen könnte, auch diese Fragen
zu klären, ist bislang kaum zu erkennen. Läge diese vor, müsste vielleicht fest-
gestellt werden, dass die sozialpädagogische Forschung doch weiterentwickel-
ter ist, als ihr Ruf vermuten lässt.
Qualitative Forschungsbemühungen, d.h. jener Teil, der das Feld mithilfe
qualitativer Forschungsmethoden erfasst, nehmen innerhalb der sozialpäd-
agogischen Forschung ein großes Segment ein und können mittlerweile auf
eine lange Geschichte zurückblicken. Begrenzt man die qualitative sozial-
pädagogische Forschung nicht vorschnell auf die neuere sozialwissenschaft-
8 Einleitung

lich orientierte Sozialforschung lassen sich rekonstruktive, interpretativ-ver-


stehende Zugänge seit den Anfängen einer wissenschaftlichen Analyse und
Reflexion sozialpädagogischer Handlungsfelder ausmachen (vgl. v. Wen-
sierski 1997). Mit der Konsolidierung und Ausdifferenzierung der qualitati-
ven Forschung in den Sozialwissenschaften seit den 70er und 80er Jahren ha-
ben qualitative Forschungsbemühungen in der Sozialpädagogik zudem einen
erheblichen Aufschwung erfahren. Das Themenspektrum und das Gesamt-
volumen haben sich seit diesem Zeitpunkt erheblich vergrößert und ausdiffe-
renziert. Dabei ist der wichtigste Einfluss dieser Entwicklung wohl von den
zahlreichen methodologischen Ansätze im Rahmen des Interpretativen Para-
digmas ausgegangen, die mittlerweile auch im Vordergrund qualitativer For-
schungsbemühungen innerhalb der Sozialpädagogik stehen. Eine qualitativ
angelegte Forschung ist innerhalb der Sozialpädagogik gegenwärtig häufiger
anzutreffen als eine quantitative. Insgesamt scheint sich die sozialpädagogi-
sche Forschung eher subjekt-, milieu- und lebens weltlich orientierten Verfah-
ren zuzuwenden (vgl. Rauschenbachffhole 1998, S. 22).
Die lange Tradition und das Übergewicht qualitativer Zugänge innerhalb
der sozialpädagogischen Forschung sind sicherlich kein Zufall, sondern stehen
in engem Zusammenhang mit den historischen Entwicklungen und den theore-
tischen und professionsbezogenen Fundamenten der Sozialpädagogik. Durch
lebensweltliche Konzepte der Sozialen Arbeit, die nach den subjektiven Bewäl-
tigungs- und Handlungsmustern der Adressatinnen und sozialer Problemlagen
fragen und hinsichtlich der sozialpädagogischen Forschung die Bedeutung von
Lebensweltanalysen, von lebensweltlichen Voraussetzungen und Potenzialen
sowie von Verstehensprozessen herausstellen, durch die Prozesshaftigkeit und
Fallförmigkeit sozialer Problemlagen und sozialpädagogischen HandeIns sowie
die Bedeutung von Bildungsprozessen und biographischen Dimensionen inner-
halb der Sozialpädagogik lässt sich eine gewisse Nähe der sozialpädagogischen
Forschung zu qualitativen Verfahren erklären. Allerdings ist es unzulässig, aus
dieser Nähe die immer wieder zu findende Schlussfolgerung einer spezifischen
Affinität der sozialpädagogischen Forschung zu qualitativen Verfahren, gar
Prädestination qualitativer Methoden zu ziehen. So überzeugend die Gründe für
den Einsatz qualitativer Methoden in der sozialpädagogischen Forschung auch
sein mögen und so sehr qualitative Verfahren für bestimmte Fragestellungen,
Forschungsgegenstände und -felder der richtige und geeignete Weg sind, so
problematisch und unzulässig ist es, sozialpädagogische Forschung mit quali-
tativer Forschung gleichzusetzen. Zum einen können qualitative Verfahren
immer nur einen Ausschnitt sozialpädagogisch relevanter Forschungsfragen
und -gegenstände abdecken. Zum zweiten würde aber über die These der Affi-
nität sozialpädagogischer Forschung zu qualitativen Verfahren das Spezifikum
sozialpädagogischer Forschung über methodische Zugänge definiert. Dieses
konstituiert sich jedoch nicht über spezifische methodische Verfahren, sondern
kann sich nur aus einer inhaltlich-disziplinären, sozialpädagogisch begründeten
Forschungskonzeption und entsprechenden Forschungsfragen ergeben (vgl.
Einleitung 9
Lüders 1998). Zum dritten würde über die Affinitäts-These die Wahl des me-
thodischen Vorgehens von vornherein entschieden, anstatt sie aus der entwik-
kelten Fragestellung und den zu ihrer Beantwortung notwendigen Daten zu
bestimmen (vgl. LüderslRauschenbach 2001, S. 567).
Obwohl die qualitative sozialpädagogische Forschung auf eine lange Ge-
schichte zurückblicken und ein wachsendes Volumen aufweisen kann, lässt
sich allerdings gleichzeitig - wie für die sozialpädagogische Forschung ins-
gesamt - feststellen, dass dies bislang kaum zu einer innerdisziplinären, auf-
einanderbezogenen Kommunikation und Verständigung über die qualitative
sozialpädagogische Forschung als Teil der sozialpädagogischen Forschungs-
landschaft geführt hat. Die Forschungsaktivitäten sind bislang oft nicht aus
dem Status singulärer Einzelforschungen hinausgekommen und lassen bis-
lang kaum einen inneren Zusammenhang erkennen. Sie sind oft unverbunden
und wenig aufeinander bezogen, vernetzt oder zu Forschungsschwerpunkten
gebündelt worden. Und obwohl sich für die qualitative sozialpädagogische
Forschung in Ansätzen eine methodologische Diskussion erkennen lässt (v gl.
Lüders 1998), bleiben grundlegende theoretische und methodologische Fra-
gen ungeklärt. Über welche theoretischen bzw. methodologischen Konzepte
lässt sich eine originäre, qualitativ angelegte sozialpädagogische Forschung
überhaupt fassen? Was macht die Spezifizität qualitativer sozialpädagogi-
scher Forschung überhaupt aus? Worin liegen ihre Erkenntnismöglichkeiten
und ihre Grenzen? Welche Gegenstände und Forschungsfragen kann sie im
Rahmen der sozialpädagogischen Forschung abdecken und beantworten?
Wie gestalten sich fachlich vertretbare Forschungsdesigns und gegenstands-
angemessene Forschungszugänge (vgl. Rauschenbachrrhole 1998)? Was
sind die Gütekriterien einer qualitativen sozialpädagogischen Forschung?
Das vorliegende Buch nimmt seinen Ausgangspunkt in diesem Mangel
innerdisziplinärer Verständigung. Sein wesentliches Ziel besteht darin, qua-
litative Forschungsbemühungen in der Sozialpädagogik (erstmalig) zu bün-
deln, die Bedeutung und den Erkenntnisgewinn des qualitativen Forschungs-
paradigmas für die sozialpädagogische Forschung und seinen Ertrag für den
fachlichen und wissenschaftlichen Diskurs sichtbar zu machen und über die
Zusammenführung der in diesem Buch bearbeiteten Forschungsfragen und
-konzepte und der dargestellten Forschungsprojekte Impulse zur Entwicklung
eines eigenständigen Diskurses und einer innerdisziplinären Kommunikation
über die theoretischen und methodologischen Grundfragen und Grundlagen,
die Spezifizität, den Gegenstandsbereich, die Erkenntnismöglichkeiten, die
Gütekriterien, aber auch die Grenzen und Schwierigkeiten der qualitativen
sozialpädagogischen Forschung zu geben und so zur Entwicklung eines ei-
genständigen, qualitativ angelegten sozialpädagogischen Forschungsfeldes
beizutragen.
Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil wendet sich theoreti-
schen und methodologischen Grundfragen der qualitativen sozialpädagogi-
schen Forschung zu und beleuchtet sie aus unterschiedlichen Blickwinkeln.
10 Einleitung

Hanses wendet sich der (bislang ungeklärten) Frage zu, über welche
theoretischen bzw. methodologischen Konzepte sich eine originäre, qualitativ
angelegte sozialpädagogische Forschung fassen lässt und greift diesbezüglich
das Konzept der Biographie auf. Er arbeitet vier Dimensionen heraus, die in
biographischen Selbstthematisierungen eingelagert sind, nämlich den Zu-
sammenhang von Subjekt und Struktur, die Bedeutung des Körpers und des
Leibes, die Relevanz von Prozess- bzw. Leidensstrukturen sowie institutio-
nelle und professionelle Interaktionsordnungen und diskutiert, ob und inwie-
weit diese Dimensionen sinnvolle heuristische Kategorien im Hinblick auf
eine qualitative sozialpädagogische Forschung darstellen. Er kommt zu dem
Schluss, dass der Biographieforschung keineswegs die Bedeutung des Kö-
nigsweges in der sozialpädagogischen Forschung beigemessen werden kann,
Biographie sich aber als ein wesentliches Rahmenkonzept und eine Kernka-
tegorie zur Konstituierung einer sozialpädagogischen Forschung erweist und
die Frage nach der Eigenständigkeit sozialpädagogischer Forschung ein we-
sentliches Stück weiterbringen könnte.
Auch Thole wendet sich methodologischen Grundfragen einer sozialpäd-
agogischen Forschung zu. Er bettet die qualitative sozialpädagogische For-
schung in den Gesamtzusammenhang des "sozialpädagogischen Projektes"
(Theorie, Praxis, Ausbildung und Forschung) ein und wendet sich der Frage
zu, über welchen Zuschnitt und welches Profil sich eine mit dem Etikett "so-
zialpädagogisch" versehene Forschung im Rahmen des sozialpädagogischen
Gesamtprojektes legitimiert und inwieweit die Sozialpädagogik bislang auf
eine systematische, methodisch abgesicherte und über allgemeine Standards
fundierte Forschungspraxis verfügt. Ein kritischer Blick hinter die bisherige
qualitative Forschungspraxis in der Sozialpädagogik führt ihn zur Notwen-
digkeit der Formulierung von Qualitätsstandards, ohne die nicht nur die Pro-
filierung qualitativer Ansätze innerhalb der sozialpädagogischen Forschung
zur Debatte stehe, sondern auch ihr Beitrag zur Weiterentwicklung der Sozi-
alpädagogik insgesamt und insbesondere ihrer Theorieentwicklung.
V. Wensierski greift die die sozialpädagogische Forschung schon lange be-
gleitende Frage nach dem Verhältnis von Forschung und Praxis auf. Auf dem
Hintergrund des historisch engen Bezugs (qualitativer) sozialpädagogischer
Forschungsbemühungen zur sozialpädagogischen Praxis und den vielfältigen
konzeptionellen Überlegungen, die auch heute Forschung und Praxis zusam-
menführen und Forschung als Instrument zur Optimierung von praktischen
Handlungsproblemen verstehen, ist es in der Forschungstradition der Sozialen
Arbeit bis in die Gegenwart hinein oftmals zu einer unreflektierten bzw. unbe-
fangenen Vermischung der Ebenen von wissenschaftlicher Forschung und so-
zialpädagogischer Praxis und der mangelnden Beachtung struktureller Diffe-
renzen zwischen wissenschaftlichen und handlungspraktischen Strukturlogiken
gekommen. V. Wensierski negiert diese Differenzen keineswegs. Er geht aber
davon aus, dass es eine Schnittmenge zwischen sozialpädagogischer Praxis und
Forschung gibt, zumal es sich in bei den Fällen um Kommunikationsgemein-
Einleitung 11

schaften handele, die strukturell aufeinander angewiesen und deshalb um


wechselseitige Verständigung bemüht seien. Diese von v. Wensierski als in-
termediäres Feld bezeichnete Schnittmenge, zu deren Entwicklung qualitativen
und rekonstruktiven Verfahren eine herausgehobene Bedeutung zukommen,
versteht er als ein soziales Interaktionsfeld zwischen ForscherInnen und Prakti-
kerlnnen bzw. als Institutionalisierung eines Wissenschaft-Praxis-Diskurses.
Der Autor greift das Beispiel der Praxisforschung als Prototyp dieses interme-
diären Feldes heraus und diskutiert hieran exemplarisch dessen Struktur.
Der zweite Teil des Buches wendet sich qualitativen Forschungszugän-
gen in vier sozialpädagogischen Forschungsfeldern zu. Die ersten drei Kapi-
tel greifen die Forschungsfelder der sozialpädagogischen Institutionenfor-
schung, des professionellen HandeIns in der Sozialpädagogik und der sozial-
pädagogischen AdressatInnenforschung auf. Diese Unterteilung greift auf je-
nen Bestimmungsversuch sozialpädagogischer Forschung zurück, der vor
dem Hintergrund der zentralen sozialpädagogischen Theoriedebatten der
letzten Jahrzehnte davon ausgeht, dass das sozialpädagogische Forschungs-
feld anhand von drei Eckpunkten aufgespannt werden kann: den zuständigen
Institutionen, den in ihnen tätigen Professionellen bzw. beruflich oder ehren-
amtlich Tätigen und den AdressatInnen (vgl. Lüders 1997, 1998; Lüders/
Rauschenbach 2001; auch Flösser 1994). Dabei lassen sich diese Eckpunkte
nicht als voneinander losgelöste Dimensionen oder Einheiten verstehen, son-
dern das spezifisch Sozialpädagogische und sozialpädagogische Forschung
sind durch das vielschichtige Spannungsverhältnis zwischen ihnen gekenn-
zeichnet (vgl. Lüders/Rauschenbach 2001, S. 566). Für jedes dieser drei For-
schungsfelder werden mithilfe qualitativer Verfahren durchgeführte For-
schungsprojekte bzw. qualitative Forschungskonzepte vorgestellt, anhand de-
rer methodologische Fragen, die Einsatzmöglichkeiten, das methodische Vor-
gehen, das Erkennntispotenzial, aber auch die Grenzen und Schwierigkeiten
qualitativer Verfahren sowie deren Ertrag für den fachlichen und wissen-
schaftlichen Diskurs und die sozialpädagogische Forschung diskutiert und
sichtbar gemacht werden.
Diese drei Forschungsfelder werden im vierten Kapitel um den Bereich der
qualitativen Evaluationsforschung in der Sozialpädagogik ergänzt. Evaluation
kann mittlerweile auf eine breite Forschungspraxis in der Sozialen Arbeit zu-
rückgreifen. Sie erhält durch den zunehmenden gesellschaftlichen Druck auf
die Soziale Arbeit, differenziert und begründet Auskunft über die Effekte und
Effektivität sozialer Maßnahmen und Dienste zu geben sowie durch die staatli-
che Förderpraxis, die in den letzten Jahren Evaluation als ein wichtiges Thema
für die politische Steuerung entdeckt hat, eine besondere Brisanz (vgl. Lüders
1997). Innerhalb der Evaluationsforschung allgemein und auch in der sozial-
pädagogischen Evaluationsforschung führen qualitative Verfahren eher noch
ein Schattendasein. Eine methodologische Diskussion über die qualitative
Evaluationsforschung lässt sich bislang wenig erkennen. Diese Lücke soll zum
Anlass genommen werden, um methodologischen Fragen der qualitativen Eva-
12 Einleitung

luationsforschung nachzugehen, ihre Erkenntnispotenziale auszuleuchten und


nach tragfähigen Forschungskonzepten und -verfahren zu fragen. Zwar ließe
sich die Evaluationsforschung auch dem Bereich der sozialpädagogischen In-
stitutionenforschung zuordnen (vgl. LüderslRauschenbach 2001, S. 565). Er
wird hier aber als ein eigenständiger Forschungstyp verstanden, der einer ei-
genständigen methodologischen Diskussion bedarf (v gl. LüdersfHaubrich in
diesem Band) und deshalb in einem eigenen Kapitel diskutiert werden soll.
Das Kapitel zur sozialpädagogischen Institutionenforschung wird mit
dem Beitrag von Klatetzki eröffnet. Auf dem Hintergrund einer bislang kaum
etablierten Forschungspraxis und systematisch geführten methodologischen
Diskussion zur qualitativen Erforschung sozialer Dienste und Einrichtungen,
greift der Autor den praxistheoretischen Ansatz auf, der nach seiner Auffas-
sung die bisherige Dualität organisationstheoretischer Zugänge zu sozialen
Einrichtungen überwindet. Diese haben bislang Organisationen entweder als
soziale Systeme, als überindividuelle, objektive und determinierende Realität,
aber nicht als Träger von Sinn und Bedeutung verstanden. Oder aber sie ver-
fallen ins Gegenteil und begreifen das Sinn- und Bedeutungssystem einer Or-
ganisation als Gesamtheit individueller Sinnvorstellungen und setzen somit
am Individuum als Träger von Sinn und Bedeutung an. Der Autor stellt den
praxistheoretischen Ansatz als "dritten Weg" organisationstheoretischer Zu-
gänge zu sozialen Einrichtungen vor, indem dieser weder vom System noch
von den Individuen ausgeht, sondern von Praktiken, genauer: von Routinen
des Alltagslebens, die das Grundelement dieser theoretischen Perspektive
bilden. Klatetzki diskutiert die diesem Ansatz zugrunde liegenden Begriffe
(Routine und Wissen) und erörtert methodologische und methodische Impli-
kationen und Konsequenzen dieses Ansatzes zur qualitativen Erforschung so-
zialer Einrichtungen und Dienste.
Eine konkrete Studie zur qualitativ angelegten sozialpädagogischen In-
stitutionenforschung legen van Santen und Seckinger vor, die in die noch
junge Tradition der Ethnographien von Organisationen einzuordnen ist. Die
Studie fragt nach Kooperationen in der Kinder- und Jugendhilfe und unter-
sucht diese Frage anhand von vier Kooperationszusammenhängen in zwei
Jugendamtsbezirken. Die Autoren diskutieren ausführlich die methodische
Anlage der Studie, die mithilfe mehrerer qualitativer Verfahren, vor allem
leitfadengestützter Interviews, Beobachtungen und der Dokumentenanalyse
durchgeführt wurde, und stellen die zentralen Ergebnisse der Untersuchung
vor. Abschließend diskutieren sie den besonderen Erkenntnisgewinn des ge-
wählten methodischen Vorgehens.
Den Ausgangspunkt des Forschungsfeldes "Professionelles Handeln in
der Sozialen Arbeit" bildet die Frage nach dem Professionalisierungsgrad
und der Professionalisierbarkeit sowie der Struktur und den Kernproblemen
sozialpädagogischen HandeIns, die Schweppe, Kraimer und Nölke durch Re-
konstruktionen der beruflichen bzw. professionellen Praxis der Sozialen Ar-
beit in unterschiedlichen Arbeitsfeldern bearbeiten.
Einleitung 13

Schweppe stellt anhand einer Fallrekonstruktion Ergebnisse aus einem


Forschungsprojekt vor, das die berufliche Handlungspraxis aus der Sicht von
SozialpädagogInnen mithilfe leitfadengestützter narrativer Interviews rekon-
struiert. In den Interviews werden SozialpädagogInnen zu umfangreichen und
detaillierten Erzählungen über ihre berufliche Praxis aufgefordert, um auf
diese Weise die je eigene Sicht auf die berufliche Praxis und die je eigenen
Handlungs-, Deutungs- und Erklärungsmuster zu erfassen. Während die theo-
retisch geführte Professionalisierungsdebatte aufgrund der Entstandardisie-
rung und Offenheit der Sozialen Arbeit die Notwendigkeit des situativen
Aushandelns und die Bedeutung von Interaktion und Kommunikation und
aufgrund der vielfältigen Ambivalenzen, Riskanzen und potenziellen Fehler
sozialpädagogischen HandeIns die Bedeutung einer reflexiven Professionali-
sierung konstatiert, legen die in der Erzählung des in diesem Beitrag vorge-
stellten Falles eines in der offenen Jugendarbeit tätigen Sozialpädagogen ent-
haltenen Selbstbeschreibungen Deutungen seiner Praxis offen, in denen eine
dialogische Verständigung mit den AdressatInnen wenig zu erkennen ist,
sondern Bevormundung und Standardisierung sowie die Orientierung an un-
reflektierten und nicht hinterfragten Generalisierungen den Umgang mit ih-
nen prägen und ihr Einpassen in gesellschaftlich definierte Normalitätsent-
würfe als Perspektive entwickelt wird.
Auch das von Kraimer vorgestellte fallrekonstruktive Verfahren zielt auf
die Rekonstruktion professionellen HandeIns und die Erforschung der profes-
sionalisierten Praxis der Sozialen Arbeit und wird am Beispiel des Arbeitsfel-
des der "Hilfen zur Erziehung" konkretisiert. Im Zentrum der in diesem Beitrag
vorgestellten Fallrekonstruktion der Praxis der "Hilfen zur Erziehung" steht die
Frage nach ihrer institutionellen Ausgestaltung sowie die Analyse der in diesen
institutionellen Vorgaben eingebetteten Perspektiven der Professionellen. Die
Datengrundlage der Fallrekonstruktion bilden schriftliche Dokumente des
ASDs als Organisationseinheit der "Hilfen für Erziehung" sowie narrative Ex-
perteninterviews mit den für dieses Arbeitsfeld zuständigen Professionellen.
Als zentrales Ergebnis der Fallrekonstruktion hält Kraimer die Struktur der Bü-
rokratisierung in der Organisationseinheit ASD sowie die der professionellen
Deformation in der Ausgestaltung der Maßnahmen fest.
Im Mittelpunkt des Beitrages von Nölke stehen zwei Fallanalysen aus der
Praxis von SozialarbeiterInnen in der klinischen Sozialarbeit, die die unter-
schiedlichen Funktionen qualitativer Fallanalysen im Bereich der sozialpäd-
agogischen Praxis verdeutlichen. Das erste Beispiel basiert auf dem mithilfe
eines narrativen Interviews mit einer Sozialarbeiterin zu ihrer klinischen Ar-
beit gewonnenen Materials, aus dem rekonstruktiv die Struktur der klinischen
Tätigkeit und der Verlauf einer Intervention in der Tagesklinik einer Kinder-
und Jugendpsychiatrie erschlossen wird. Während dieser Typ der Fallanalyse
auf die wissenschaftliche Erschließung der Struktur und der Kernprobleme
des Arbeitsfeldes zielt, steht bei der zweiten Fallanalyse die weitere Profes-
sionalisierung der praktischen Tätigkeiten im Mittelpunkt. Die Fallanalyse
14 Einleitung

stammt aus einem integrierten Forschungs- und Weiterbildungsprojekt, in


dem PraktikerInnen im Rahmen von sozialwissenschaftlichen Fallanalysese-
minaren auf der Grundlage selbsterhobenen und verschriftlichten Fallmateri-
als ihr berufliches Handlungsfeld, klienteie Verläufe und institutionelle
Strukturen im Hinblick auf eine weitere Professionalisierung ihrer Arbeit
analysierten und den Hiatus zwischen sich bereits vollziehender, professio-
nalisierungsbedürftiger klinischer Praxis und Formen der distanzbildenden
rekonstruktiven Analyse dieser Praxis vermitteln sollte.
Bock wendet sich einer im Rahmen des professionellen Handeins bislang
kaum bearbeiteten Frage zu. Entgegen der gängigen Thematisierung von Lei-
densprozessen derjenigen in der Sozialpädagogik, die die AdressatInnen der So-
zialen Arbeit ausmachen, stehen dagegen im Zentrum des Erkenntnisinteresses
von Bock Leidensprozesse derjenigen, die die Hilfeleistungen in der Sozialen Ar-
beit erbringen. Welche Dynamik entsteht im beruflichen Alltag von Fachkräften
der Sozialen Arbeit, wenn ihr Leben durch biographische Krisen, Prozesse des
Erleidens und das Zusammenbrechen von Handlungsroutinen gekennzeichnet
ist? Zur Untersuchung dieser Frage greift die Autorin auf das Verlaufskurven-
konzept zurück, das sich die Sozialpädagogik sowohl in ihren Theoriedebatten
als auch im Rahmen ihrer empirischen Forschung bislang wenig zunutze ge-
macht hat und rekonstruiert die Erleidenskarriere eines mithilfe eines narrativen
Interviews erhobenen Falles eines im Sozialamt tätigen Sozialbeamten. Bock
macht deutlich, dass das Konzept der Verlaufskurve einen geeigneten for-
schungsmethodologischen Zugang für die Sozialpädagogik darstellt.
Chambon wendet sich diskursanalytischen Verfahren zur Erforschung der
sozialpädagogischen Praxis zu. Anhand von Interviews, Gesprächsmitschnitten
und Verwaltungsdokumenten analysiert sie diskursanalytisch sozialpädagogi-
sch begleitete Gruppenprozesse, therapeutische Interaktionen, sozialpädagogi-
sche Fallarbeit sowie institutionelle Rahmenbedingungen der sozialpädagogi-
schen Praxis und macht auf diese Weise den Wert von Diskursanalysen für die
Untersuchung der Bedeutung von Sprache und das Offenlegen diskursiver
Praktiken innerhalb der beruflichen Praxis von SozialarbeiterInnen deutlich.
Gleichzeitig weist sie auf Potenziale diskursanalytischer Verfahren zur Verän-
derung diskursiver Praktiken und der mit ihnen verbundenen sozialen Bezie-
hungen in der Sozialen Arbeit hin.
Forschungen zur sozialpädagogischen AdressatInnenforschung legen Sut-
ter und Haupert vor. Im Mittelpunkt des Interesses von Sutter steht die Frage
der Moralentwicklung in institutionalisierten Kontexten der Erziehung bzw.
Sozialpädagogik, die theoretisch in der sozial-kognitiven Forschungstradition
verortet und anhand der mithilfe der Objektiven Hermeneutik durchgeführten
Analyse einer Alltagsszene in einem demokratisierten Jugendstrafvollzug -
konkret: anhand einer Anfangsszene einer "Demokratischen Gemeinschafts-
versammlung" - untersucht wird. In seinen die Analyse dieser Alltagsszene ab-
strahierenden Überlegungen kommt der Autor zu dem Schluss, dass sich aus
ähnlich verlaufenden Szenen drei Lern- und Entwicklungschancen ergeben
Einleitung 15

können: die Einübung basaler Grundstrukturen demokratischen HandeIns und


die kognitive Realisierung der ihnen zugrunde liegenden Reziprozitätsformen,
die Ausbalancierung widerstreitender Normensysteme zur Realisierung sach-
lich kohärenter Problemlösungen und die bewusste Auseinandersetzung mit
den Widersprüchlichkeiten des Vollzugsalltags.
Der Beitrag von Haupert wendet sich der Frage nach der generationalen
Tradierung farnilialer Deutungsmuster zu, die der Autor anhand einer mithilfe
der Genogrammanalyse durchgeführten rekonstruktiven Fallstudie einer Fa-
milie aus einem "sozialen Brennpunkt" untersucht. Der Autor begründet die
Relevanz seiner Fragestellung für eine sozialpädagogische AdressatInnenfor-
schung mit den Erfahrungen einer häufig anzutreffenden Konsistenz generatio-
nenübergreifender sozialer Deutungsmuster sozialpädagogischer Adressatinnen
in sozialen Brennpunkten, die den Umgang der Klientlnnen mit "Ämtern" und
Professionellen als auch biographische Perspektiven prägen. Als Datenmaterial
der Fallrekonstruktion stehen biographisch-narrative Interviews mit Familien-
mitgliedern aus drei Generationen zur Verfügung, mit deren Hilfe ein Geno-
gramm über vier bzw. fünf Generationen erstellt wurde. Mit der Genogramm-
analyse greift der Autor auf ein Verfahren zurück, das als sozialwissenschaftli-
ches Forschungsverfahren bislang noch wenig entwickelt ist.
Mit der qualitativen Evaluationsforschung in der Sozialpädagogik be-
schäftigen sich die Beiträge von LüderslHaubrich und Wo lfflScheffers. In ih-
rem grundlagentheoretisch angelegten Beitrag wenden sich Lüders und Hau-
brich zentralen methodologischen Fragestellungen qualitativer Evaluations-
forschung zu. Sie fragen zunächst danach, was qualitative Evaluationsfor-
schung überhaupt ist und beschreiben sie als eigenständigen Forschungstyp.
Die AutorInnen wenden sich dann ausführlich der englischsprachigen, vor
allem nordamerikanischen Diskussion zur qualitativen Evaluationsforschung
zu, wo sich im Gegensatz zu Deutschland mittlerweile differenziert geführte
Debatten entwickelt haben. Allerdings wird auch in der nordamerikanischen
Diskussion die aus Sicht der AutorInnen zentrale methodologische Frage der
qualitativen Evaluationsforschung nicht diskutiert. Wenn ein wesentliches
Element der (qualitativen) Evaluationsforschung die Bewertung der Güte
oder des Nutzens eines Untersuchungsgegenstandes ist, dann stellt sich nach
Ansicht der AutorInnen nämlich die Frage, wie eine solche Bewertung als
Ergebnis qualitativer Forschung möglich ist und welche Gütekriterien hierfür
herangezogen werden können. Auf der Suche nach Antworten gehen die Au-
torInnen davon aus, dass die bekannten Verfahren qualitativer Sozialfor-
schung nicht ohne weiteres auf den Bereich Evaluation übertragen werden
können. Ihren Beitrag abschließend wenden sie sich dem gegenwärtigen
Stand der qualitativen Evaluationsforschung in der Sozialpädagogik zu.
Dem Beitrag von Wolfund Scheffer liegt ein Verständnis von qualitativer
Evaluation zugrunde, dessen Kernelement von ihnen mit Prozesshaftigkeit
bezeichnet wird. Prozesshaftigkeit beziehen die Autoren zum einen auf die
Absicht, Evaluationen nicht nur zum Zwecke der Wirksamkeitskontrolle so-
16 Einleitung

zialer Maßnahmen und Institutionen, sondern bereits bei der Entwicklung


und Umsetzung von (Reform)maßnahmen einzusetzen. Zum zweiten bezie-
hen sie Prozessorientierung auf die Evaluation selbst. Sie wird als Prozess
geplant und durchgeführt, in dem Kommunikation zum zentralen Medium
wird. Anhand eines Evaluationsprojektes in einem großstädtischen Jugend-
amt, das sich eine tiefgreifende Umorientierung der Hilfen zur Erziehung
zum Ziel gesetzt hatte, machen die Autoren deutlich, welche Bedeutung, me-
thodische Anforderungen und mögliche Problemkonstellationen dieses Ver-
ständnis von Evaluation für seine konkrete Umsetzung hat.

Literatur

Flösser, G.: Soziale Arbeit jenseits der Bürokratie. Über das Management des Sozia-
len. Neuwied 1994
Jakob, G.: Sozialpädagogische Forschung. Ein Überblick über Methoden und Ergeb-
nisse qualitativer Studien in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit. In: Jakob, G./
Wensierski, H.-J. v. (Hrsg.): Rekonstruktive Sozialpädagogik. Konzepte und Me-
thoden sozialpädagogischen Verstehens in Forschung und Praxis. Weinheiml
München 1997, S. 125-160
Lüders, Chr.: Qualitative Kinder- und Jugendhilfeforschung. In: Friebertshäuser, B./
Prengel, A. (Hrsg.): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erzie-
hungswissenschaft. WeinheimlMünchen 1997, S. 795-810
Lüders, Chr.: Sozialpädagogische Forschung - was ist das? Eine Annäherung aus der
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Wensierski, H.-J. v.: Verstehende Sozialpädagogik. Zur Geschichte und Entwicklung
qualitativer Forschung im Kontext der Sozialen Arbeit. In: Jakob, G.lWensierski,
H.-J. v. (Hrsg.): Rekonstruktive Sozialpädagogik. Konzepte und Methoden sozi-
alpädagogischen Verstehens in Forschung und Praxis. WeinheimIMünchen 1997,
S.77-124

Cornelia Schweppe
Frankfurt, im Sommer 2002
I. Sozialpädagogik und
qualitative Forschung:
theoretische und
methodologische Grundfragen
Andreas Hanses

Biographie und sozialpädagogische Forschung

1. Einleitung

In den letzten zehn Jahren des "Sozialpädagogischen Jahrhunderts" (vgl.


Rauschenbach 1999) sind für die Soziale Arbeit zwei wesentliche Entwick-
lungen zu benennen. Der eine Schwerpunkt betrifft das Anliegen, Soziale
Arbeit als Dienstleistung zu konzipieren (vgl. Schaarschuch 1999; Bauer
2001). Diskurse zu Non-Profit-Organisationen, Organisationsentwicklung
(vgl. Flösser/Schmidt 1999), Sozialmanagement (vgl. Luthe 1997), Qualitäts-
sicherung sozialer Dienstleistungen und die zunehmende Ökonomisierung im
Sozial- und Gesundheitsbereich (vgl. DahmelWohlfahrt 2000) bestimmen
hier die Auseinandersetzung über die Weiterentwicklung der Sozialen Arbeit.
Im Mittelpunkt der Diskussion steht die Frage, wie organisatorische und in-
stitutionelle Strukturen gestaltet werden können, damit die zur Verfügung ge-
stellten Dienstleistungen von den AdressatInnen adäquat aufgegriffen werden
können.
Parallel zu dieser organisationsbezogenen Perspektive haben sich unter-
schiedliche Ansätze einer ,,rekonstruktiven Sozialpädagogik" (vgl. Jakob/v.
Wensierski 1997) entwickelt. Hierzu gehören Diskurse und methodische
Entwicklungen zum Fallbezug (vgl. GildemeisterlRobert 1997), zur Fallana-
lyse (vgl. Kraimer 2000), zum ethnographischen Verstehen (vgl. Schütze
1994) und zur hermeneutischen Diagnose in der Sozialpädagogik (vgl. Uh-
lendorf 1997, 1997a; Peters 1999). Mit der Integration der Methoden qualita-
tiver Sozialforschung in die Soziale Arbeit bildet sich ein "hermeneutisch-
reflexiver Stil" professioneller Praxis (Schumann 1994, S. 55) aus, der zu ei-
ner wissenschaftlich fundierten Kasuistik beitragen soll. Zentrales Anliegen
dieser Ansätze ist es, für die professionelle Praxis die biographische und so-
ziale Wirklichkeit der AdressatInnen, die Kontextualität und Komplexität des
,,Falles" "methodisch kontrolliert" verstehbar zu machen: Sozialpädagogi-
sche Hilfen sollen sinnvoll an den Ressourcen und Bedürfnissen der Nutze-
rInnen ausgerichtet werden.
Die Dienstleistungsdiskussion und die Beiträge zur rekonstruktiven Sozi-
alpädagogik haben sich unabhängig voneinander entwickelt. Diese unter-
schiedlichen Entwicklungen ziehen oftmals eine Separation von organisati-
20 Andreas Hanses

ons- und fallbezogenen Diskussionen in der Sozialen Arbeit nach sich, ob-
wohl- wie Christian Lüders (1999) treffend bemerkt - beide Entwicklungs-
linien zwei Seiten der gleichen Medaille thematisieren (S. 217).
Sowohl parallel als auch quer durch beide thematische Schwerpunkte
hindurch hat der Diskurs zur Professionalisierung der Sozialen Arbeit einen
weiten Raum in der gegenwärtigen sozialpädagogischen Debatte eingenom-
men. Die Dienstleistungsdiskussionen ebenso wie der neu definierte Fallbe-
zug verleihen auf ihre je eigene Art und Weise den Debatten über die Profes-
sionalisierung der Sozialen Arbeit neue Impulse und Konturen. Dagegen se-
hen die Erörterungen zur Disziplinbildung der Sozialpädagogik und Sozialen
Arbeit relativ bescheiden aus. Diskussionen zur sozialpädagogischen For-
schung' lassen sich nur gelegentlich finden. Die "bescheidene Selbstver-
ständlichkeit" von forschungsbezogenen Beiträgen korrespondiert mit gerin-
gen Forschungsaktivitäten in den Feldern der Sozialen Arbeit. Bernd Dewe
und Hans-Uwe Otto (1996) sprechen sogar von einem "gewaltigen For-
schungsdefizit" (S. 21). Der starke Praxisbezug in der Sozialen Arbeit und
die vergleichsweise schwache disziplinäre Ausrichtung lassen eine (eigen-
ständige) sozialpädagogische Forschung zurücktreten. Haben sich in den
letzten Jahren Konzepte der Praxisforschung stärker etabliert (vgl. Müller
1998), so fehlt es dennoch an einer disziplinorientierten "anwendungsbezo-
genen Grundlagenforschung" (OUo 1998, S. 134).
Noch schwieriger wird der Sachverhalt, wenn geklärt werden soll, was
denn eine sozialpädagogische Forschung konstitutiv ausmacht, zum al Werner
Thole (1999) darauf hinweist, dass ein Teil sozialpädagogischer Forschung
entweder als "sozialpädagogische Import- oder Export-Forschung" zu verste-
hen ist. Gemeint sind also Forschungen, die sich entweder nicht auf sozial-
pädagogische Diskurse oder nicht auf sozialpädagogische Fragestellungen
beziehen. Sozialpädagogische Forschung müsste nach Thole (1999) ein De-
sign besitzen, das unterschiedliche Perspektiven zu verknüpfen vermag: Sie
müsste mit einem "sensibilisierenden Konzept" ausgestattet sein, das sowohl
,,Feld- und Bildungsbezug", "Subjekt- und Strukturperspektive" und "institu-
tionelle und personale Aspekte" erfassen kann (S. 230; auch Rauschen-
bachfThole 1998, S. 20). Sozialpädagogische Forschung erfordert somit ei-
nen multiperspektivischen Zugang zum ,,Feld"; die Problemlagen der Adres-
satInnen müssen folglich vor dem Hintergrund des lebensweltlichen Kontex-
tes und der professionellen Praxis mit ihren Interaktionsordnungen und in-
stitutionellen Rahmungen analysiert werden.
Vor dem Hintergrund der defizitären Situation sozialpädagogischer For-
schung und dem Anspruch nach Komplexitätserfassung sozialer Praxis soll in

Unter dem Begriff sozialpädagogische Forschung ist in diesem Beitrag keine im engeren
Sinne pädagogische Forschung gemeint, sondern das umfassende Repertoire sozial wissen-
schaftlicher Forschungskonzepte, wie sie im gesamten Gegenstandsbereich der Sozialen
Arbeit angewendet werden.
Biographie und sozialpädagogische Forschung 21
diesem Beitrag die Frage gestellt werden, welche Bedeutung das theoretische
und methodische Konzept ,,Biographie" für die Entwicklung und Ausgestal-
tung einer qualitativen anwendungsbezogenen Grundlagenforschung in der
Sozialen Arbeit hat. In der Soziologie und den Erziehungswissenschaften hat
die Biographieforschung ihren festen Platz im methodischen Diskurs qualita-
tiver Sozialforschung erhalten, was sich anhand vielzähliger Publikationen
hinreichend belegen lässt. Auch in der Sozialen Arbeit hat die Biographiefor-
schung Einzug in den Kanon wissenschaftlicher Methoden gehalten (vgl. v.
Wensierski 1999). Dennoch bleibt zu fragen, welche Bedeutung einer bio-
graphieorientierten Methode als ein qualitativer Ansatz hinsichtlich der Ent-
wicklung einer "originären" sozialpädagogischen Forschung zukommt. Ist
die biographische Methode nur eine mögliche Option angesichts der anvi-
sierten sozialpädagogischen Methodenpluralität? Oder ist die Biographiefor-
schung für die Soziale Arbeit - wie in anderen Diskursen zur qualitativen So-
zialforschung programmatisch formuliert - als Königsweg zu beschreiben?
Liefert Biographie als theoretisches und methodologisches Rahmenkonzept
wichtige Beiträge für eine sozialpädagogische Forschung?
Diesen Fragen wird im Folgenden nachgegangen. Zuerst werde ich an
einem Fallbeispiel explizieren, welche Kategorien sozialer Wirklichkeit in
einem biographischen Text zur Sprache kommen. Anschließend werden theo-
retische Dimensionen von Biographie vorgestellt, die für die Etablierung ei-
ner qualitativen sozialpädagogischen Forschung von hoher Relevanz sein
dürften. An diesen grundlegenden Erörterungen anknüpfend, wird abschlie-
ßend die Bedeutung der Biographie für Forschungskonzepte in der Sozialen
Arbeit diskutiert.
Wenn im Folgenden von Biographie die Rede ist, dann beziehen sich die
Erörterungen zentral auf Beobachtungen biographischer Analysen. Biogra-
phie als mögliche Kemkategorie einer sozialpädagogischen Forschung ist da-
bei immer als Konzept einer qualitativen Sozial forschung zu denken. Auf
methodische Erörterungen oder eine systematische Übersicht über biographi-
sche Forschungen in der Sozialen Arbeit wird allerdings im Rahmen dieses
Beitrags verzichtet (v gl. dazu Jakob/v. Wensierski 1997; v. Wensierski
1999). Vielmehr steht die Frage nach der heuristischen Qualität von Biogra-
phie für qualitative Forschungsstrategien in der Sozialen Arbeit im Zentrum
der folgenden Ausführungen.

2. Biographie als erzählte Wirklichkeit

Historisch lässt sich nachzeichnen, dass Biographie mit der Entwicklung der
Moderne nicht mehr nur als Lebensablauf zu beschreiben, sondern vielmehr
als eine soziale Wissens/orm zu verstehen ist (vgl. Alheit 2000, S. 152ff.).
22 Andreas Hanses

Biographie ist also nicht einfach die Summe der Lebensereignisse und -pas-
sagen, sondern vielmehr die Leistung der AkteurInnen, sich in einer moder-
nen Gesellschaft biographisch zu verorten, eine Selbstkonsistenz in der Zeit
hervorzubringen und sich nach außen hin zu präsentieren. Wir haben heute
nicht nur die Freiheit, eine Biographie zu haben. Vielmehr wird sie uns ab-
verlangt, und wir benötigen Biographie für unsere Existenz im sozialen
Raum. Biographie ist somit einerseits als "soziale Konstruktion" (Fischer/
Kohli 1987, S. 27f.) zu begreifen, und andererseits wird sie erzählerisch re-
konstruiert. Diese doppelte Konstruiertheit von Biographie - die soziale wie
die narrative Konstruktion - enthebt die Lebensbeschreibung einem ontologi-
schen Zugriff. Sie erfordert einen Zugang, der der zeitlichen (historischen)
Dimension und der Erzeugungsqualität von Biographie Rechnung trägt.
Biographie als erzählte Lebensgeschichte zu begreifen, impliziert fol-
genden Sachverhalt: Erzählen ist soziale Praxis. Die biographische Narration
bedient sich des Gegenübers, des "signifikanten Anderen", dem Biographi-
sches erzählt wird. Erzählen ist somit in konkreten Interaktionen und sozialen
Settings situiert. Es wird nicht in jeder Situation und nicht jedem Gegenüber
die gleiche biographische Selbstdarstellung präsentiert. Biographie als er-
zählte Lebensgeschichte kann als "sozialer Text" mit stark situativem Ge-
genwartsbezug betrachtet werden. Gleichzeitig ist biographische Selbstprä-
sentation - auch über die Interaktion der Gesprächssituation hinaus - nur
dann möglich, wenn ,,Erinnerungsarbeit" geleistet wird. Das erlebte Leben
wird in der gegenwärtigen Situation neu reformuliert und mittels "kognitiver
Figuren" (vgl. Schütze 1984) in einer ,,Erzählordnung" präsentiert. Wolfram
Fischer-Rosenthal (1999) spricht diesbezüglich von "biographischer Arbeit"
(S. 33ff.), in der eine "strukturelle Koppelung" zwischen kommunikativer
Situiertheit und Erinnerungsarbeit hergestellt wird.
Dabei haben lebensgeschichtliche Narrationen für die Erzählenden nicht
nur die Funktion, sich durch Erinnerungsarbeit der eigenen Lebensgeschichte
zu vergewissern, sondern aus der konkreten Erzählsituation heraus die eigene
Lebensgeschichte zu reformulieren. Das erzählerische Konstruieren der eige-
nen Biographie ist konstitutives Element einer Neuorientierung und Neuset-
zung der ProtagonistInnen. Allerdings sind Erzählungen nicht beliebig: Viel-
mehr besitzen sie eine ,,Erzähl gestalt" (vgl. Rosenthai 1995) oder "Gesamt-
formung" (vgl. Schütze 1981, 1984), mit der Erzählende ihrer biographischen
Selbstdarstellung eine innere Strukturiertheit und Sinnhaftigkeit verleihen.
Die Erzählgestalt ist im Wesentlichen der gegenwärtigen Erzählsituation wie
dem evozierten Erinnerungsstrom geschuldet. Bedeutsam an dieser "Geord-
netheit" inszenierter Neuproduktion erzählter Wirklichkeit ist, dass so der
Blick auf die den biographischen Erzählungen innewohnenden Lebenskon-
struktionen frei wird. Lebenskonstruktionen emergieren aus biographisch
aufgeschichteter sozialer Praxis und konstituieren wesentlich die weiteren
Handlungsausrichtungen und Sinnkonstruktionen der Erzählenden. Biogra-
phie als "biographische Konstruktion" (vgl. Alheit u.a. 1992; Dausien 1996;
Biographie und sozialpädagogische Forschung 23
Hanses 1996) zu begreifen, eröffnet die Perspektive auf die Strukturiertheit
wie das Strukturierende des biographischen Erzählens.
Die Frage bleibt: Welche Bedeutung kommt dieser Erkenntnisperspekti-
ve im Hinblick auf sozialpädagogische Forschung zu? Was eröffnet der so-
ziale Text biographischer Erzählung an neuen oder bedeutsamen Einsichten
in sozialpädagogische Problemstellungen? Anhand einer kurzen biographi-
schen Skizze sollen für die Soziale Arbeit relevante Dimensionen des biogra-
phischen Erzählens deutlich gemacht werden.

2.1 Biographie als (Re-)Konstruktion - Eine Falldarstellung

Die lebensgeschichtliche Erzählung von Frau Feldmann ist im Kontext einer


Untersuchung zur professionellen Praxis des Sozialdienstes im Krankenhaus
im Rahmen der biographischen PatientInnenbefragung erhoben worden (vgl.
HanseslBongartz 2001). 2 Zum Zeitpunkt des Interviews ist Frau Feldmann
gerade unzufrieden aus einer Anschlussheilbehandlung (AHB) nach Hause
zurückgekehrt. Vorausgegangenen ist die Einweisung wegen akuter Schmer-
zen im Brust- und Schulterbereich in ein Allgemeinkrankenhaus. Es wird ein
Herzinfarkt diagnostiziert, und nach einer Stabilisierung der lebensgefährde-
ten Situation wird mit Hilfe des Sozialdienstes im Krankenhaus der Übergang
in eine AHB organisiert. Vor dem Hintergrund dieser lebensgeschichtlichen
Daten könnte gefragt werden, ob es sich hier überhaupt um einen für sozial-
pädagogische Fragestellungen interessanten Fall handelt. Die gesundheitliche
Krise steht im Vordergrund der gegenwärtigen Situation der Erzählerin. Mit
dieser Perspektive erscheint Frau Feldmann erst einmal als ein Fall für die
Medizin. Dennoch wird aufgrund der Art der Selbstpräsentation von Frau
Feldmann sehr schnell deutlich, dass - neben der gesundheitlichen Situation
- noch ganz andere Strukturen sozialer Praxis den Fall konstituieren.
Der erkrankte Körper erweist sich weniger als "dysfunktionales Objekt"
einer Organmedizin. Vielmehr thematisiert die Erzählerin ihre Krankheiten
im Rahmen professioneller Interaktionen. Der Körper wird in den Narratio-
nen zum Gegenstand von Aushandlungsprozessen und Zugriffen Dritter auf
die Integrität und Autonomie der Erzählerin. Auftretende Ohnmachtsanfälle
erhalten in den Selbstbeschreibungen von Frau Feldmann die Bedeutung so-
zialer Dysfunktionalität. Für die Protagonistin führen sie zu extremen Verun-
sicherungen, und die Umwelt reagiert auf diesen situativen Ausfall mit star-
ken Sanktionen. Der erkrankte Leib wird in der Biographie der Erzählerin

2 Mit der folgenden Darlegung einer autobiographischen Selbstpräsentation kann im Rahmen


dieses Beitrages weder eine Fall- noch eine Sequenzanalyse ausgeführt werden. Die vorlie-
gende Falldarstellung soll vielmehr exemplarisch aufzeigen, welche - für eine sozialpäd-
agogische Forschung relevante - Dimensionen lebensgeschichtlicher und sozialer Realität
in einer biographischen Erzählung thematisiert werden.
24 Andreas Hanses
zur zentralen Dimension, über den soziale (Interaktions-)Prozesse ausagiert
werden.
Mit der Thematisierung des Körpers ist vielleicht schon der zentrale
Aspekt in der lebens geschichtlichen Erzählung von Frau Feldmann angedeu-
tet. Es ist die herausragende Relevanz der "signifikanten Anderen", der in-
stitutionalisierten Interaktionen, die zum leitenden biographischen Motiv in
der Erzählung von Frau Feldmann wird. Pointiert formuliert: Im Falle der
vorliegenden Erzählung führt die Interaktion in der Interviewsituation zur
Präsentation einer dramatisch erlebten Interaktionsgeschichte. Die Ge-
schichte der Erzählerin ist eine Geschichte scheiternder Hilfeerfahrungen, der
Fremdbestimmungen, durchzogen vom Gefühl nicht verstanden zu werden.
Diese Erfahrungsmuster werden von Frau Feldmann vor allem in der Begeg-
nung mit Institutionen der Arbeitswelt und des Gesundheitswesens vorge-
stellt. Die Erfahrungen mit der Sozialen Arbeit oder psychotherapeutischen
Praxis reihen sich in dieses Muster ein. Die biographische Erzählung eröffnet
somit Einsicht in die Bedeutsamkeit von professionellen Interaktionen und
ihre Auswirkungen auf die weitere Biographie der einzelnen Menschen. Si-
cherlich, die Erzählungen erlauben keinen Rückschluss auf eine irgend wie
geartete Wirklichkeit professioneller Praxis, aber dennoch dokumentieren sie
Erfahrungsräume und subjektive Evaluierungen, die weitreichende Konse-
quenzen für die Betreffenden haben können. Im Falle von Frau Feldmann ist
es vor allem die wiederholte Erfahrung, dass biographische Bedürfnisse nicht
mit professionellen Hilfsangeboten zusammenkommen. Es fehlt eine Passung
zwischen biographischen Sinnhorizonten, professionellen Wissensbeständen
und institutionell gerahmten Handlungspraxen.
Damit ist auch ein weiterer Aspekt biographischer Selbstthematisierung
in der Erzählung von Frau Feldmann angesprochen: Die biographischen Er-
fahrungen haben System. In der biographischen Selbstthematisierung der Er-
zählerin kommt es zur Erfahrungsaufschichtung destabilisierender biographi-
scher Prozesse. Scheiternde Unterstützungsangebote professioneller Systeme
prozedieren biographische Erfahrungsmuster, führen für die Protagonistin zu
einer Situation des Erschöpftseins und drohen auf einen psychosozialen und
gesundheitlichen Zusammenbruch hinzusteuern. Diese Struktur der Chronifi-
zierung scheiternder Hilfebeziehungen und ihre Folgen werden von der Er-
zählerin in einer bestimmten Erzählgestalt verankert und zum Ausdruck ge-
bracht. Erzählungen ermöglichen eine wichtige Perspektive auf die Prozesse
sozialer Destabilisierungen, ihre Hintergründe und Folgewirkungen. Natür-
lich geben sie darüber hinaus gleichzeitig Aufschluss über die Ressourcen
und Kompetenzen der Menschen, die es ihnen erlauben, mit schwierigen Le-
benslagen umzugehen.
Als möglichen Erklärungszusammenhang für ihre "Geschichte des Nicht-
Verstandenwerdens" durch andere platziert die Erzählerin gleich zu Anfang
ihrer biographischen Rekapitulation die Erfahrung, von den Eltern grundle-
gend abgelehnt zu werden: Frau Feldmann ist Zwillingskind, ihr Bruder stirbt
Biographie und sozialpädagogische Forschung 25
bei der Geburt, und ihre Mutter wirft ihr vor, dass sie lieber einen Sohn haben
wolle. Eine lebensgeschichtIiche Primäretfahrung erweist sich in ihrer Dar-
stellung als möglicher Hintergrund ihrer biographischen Struktur. Die Ableh-
nung von Frau Feldmann durch die Eltern erweist sich allerdings keineswegs
nur als persönliche Erfahrung. Die Erzählung macht gleichermaßen deutlich,
dass die Protagonistin eben als Tochter abgelehnt wird. Hinter dem persönli-
chen Drama verbirgt sich die gesellschaftliche Erfahrung der unterschiedli-
chen Bewertung von Geschlecht. Hier wird ein wesentliches Strukturelement
biographischer Selbstthematisierungen deutlich: Hinter dem Konkreten und
Einmaligen der Lebensgeschichte, hinter dem zutiefst Persönlichen verber-
gen sich oftmals das Allgemeine und die Widersprüche der Lebenswelt und
sozialen Strukturen (vgl. Bourdieu 1997, S. 656).
Mit dieser kurzen Fall skizze sind vier Dimensionen biographischer Selbst-
präsentationen illustriert worden: (a) die Dialektik von Persönlichem und All-
gemeinen, dem Zusammenhang von Subjekt und Struktur, (b) der Bedeutung
des Körpers und Leibes in biographischen und sozialen Prozessen, (c) die Re-
levanz der Prozessstrukturen biographischer Gestaltung - hier ein ,,Erleidens-
verlauf' - und (d) die Bedeutsamkeit von institutionellen und professionellen
Interaktionsordnungen für lebensgeschichtliche Entwicklungen.
Anhand theoretischer Überlegungen und empirischer Belege soll im Fol-
genden herausgearbeitet werden, ob und inwieweit mit diesen Dimensionen
sinnvolle heuristische Kategorien im Hinblick auf sozialpädagogische For-
schung vorliegen.

3. Biographie als Rahmenkonzept sozialpädagogischer


Forschung

3.1 Biographie und Sozialwelt

Auch wenn bisher kein explizites theoretisches Konzept von Biographie in


der Sozialen Arbeit existiert, so besitzt ein biographischer Bezug für die sozi-
alpädagogische Praxis eine gewisse Selbstverständlichkeit. Soziale Arbeit ist
häufig gerade durch einen konkreten Fallbezug bestimmt. Es ist das Konkrete
des Falles - beispielsweise des Jugendlichen, des kranken Menschen, der Fa-
milie oder einer Gruppe - mit dem sich Soziale Arbeit zu beschäftigen hat.
Nach Burkhard Müller (2001, S. 3f.) ist es die Singularität eines Gegenübers,
mit der es sozialpädagogische Praxis zu tun hat. Diese Fokussierung evoziert
eine Kluft zwischen Fachwissen und einem durch die Situation und Singula-
rität des Falls bedingten "Nichtwissen". Sowohl im professionellen Handeln
als auch in der (sozialpädagogischen) Forschung bedatf es Suchstrategien,
um diese Formen des Nichtwissens durch neue Erkenntnisgewinne zu trans-
26 Andreas Hanses

formieren. Biographische Erzählungen bieten sich hier als Zugang zur sozia-
len Wirklichkeit der Protagonistlnnen geradezu an. So wird in den Erzählun-
gen etwas über die Handlungen, Handlungsinitiierungen und ihre Einbettun-
gen in soziale Kontexte deutlich (vgl. Schütze 1984). Ebenso werden Prozes-
se des Erleidens, deren Ereignisverkettungen und Lösungen thematisiert (vgl.
Schütze 1981, 1999; Hanses 1999a). Darüber hinaus informieren narrative
Selbstpräsentationen nicht nur darüber, was im Leben geschehen ist, sondern
geben Auskunft, was in der eigenen Lebensgeschichte nie Wirklichkeit wer-
den konnte: eben über das "ungelebte Leben" in der Biographie (vgl. Weiz-
säcker 1956; Hanses 1996, 1999a). Autobiographische Stegreiferzählungen
sind aber vor allem Zeugnisse einer subjektiven Konstruktion eigener Wirk-
lichkeit. Die Thematisierung von Handlungen, Erleidensprozessen, die Dar-
legung von Eigentheorien und Evaluationen sind Präsentationen aus der Sub-
jektperspektive. Mit Hilfe des Zugangs zu biographischen Erzählungen erfah-
ren wir Wesentliches über die Selbstkonstitution des Subjekts.
So sehr erzählte Biographien die Perspektive auf die Konkretheit ihrer Er-
zählerInnen eröffnen, so ist doch mit Betrachtung der subjektiven Konstruktion
von Sozialwelt nur ein Aspekt von Biographie hinreichend beschrieben. So-
ziologische Theorien (vgl. Giddens 1988; Bourdieu 1994; Mead 1998) und
methodische Diskurse (vgl. Schütze 1984, 1999; Fischer/Kohli 1987; Alheit
1997, 2000; Alheit/Dausien 2000, 2000a; Oevermann 2000) zeigen nur zu gut
auf, dass die Konkretheit des Einzelfalls und das Subjektive der biographischen
Selbstpräsentation gleichzeitig Ausdruck sozialer Strukturiertheit ist. So sehr
wir in biographischen Selbstpräsentationen unsere Einzigartigkeit hervorzuhe-
ben suchen oder uns als ZuhörerIn beeindruckt von der Einzigartigkeit der ver-
nommenen Geschichte fühlen, so zeigt sich doch, dass wir diese Besonderheit
nur deshalb erzählen können, da wir auf ähnliche gesellschaftliche Erfahrungen
zurückgreifen. Die Erzählung einer Bildungskarriere oder einer beruflichen
Rehabilitation ist in ihren persönlichen Facetten in der Interaktion präsentier-
und verstehbar, weil ohne ausführliche Erklärung ein geteilter Wissensbestand
über institutionelle Erfahrungen vorausgesetzt werden kann. Damit wird aber
auch deutlich, dass unsere Erzählungen immer mehr Sinn haben, als wir expli-
zit zum Ausdruck bringen. Dieser Sinnüberschuss kann als allgemeiner, gesell-
schaftlicher Referenzrahmen verstanden werden. Unsere Biographie können
wir eben nicht jenseits der sozialen Kategorie Geschlecht, der Erfahrungen mit
unserer sozialen Lebenswelt, der kulturellen und der spezifisch zeitgeschichtli-
chen Kontexte hervorbringen. So hat Bettina Dausien sehr überzeugend aufzei-
gen können, dass biographische Erzählungen nicht nur wichtige Referenzen an
das eigene Geschlecht beinhalten. Vielmehr sind lebens geschichtliche Erzäh-
lungen gleichzeitig geschlechtstypische Selbstpräsentationen. Pointiert formu-
liert ist Geschlecht als eine soziale Kategorie nicht nur in autobiographischen
Narrationen enthalten, sondern gehen förmlich durch sie hindurch (vgl. Dausi-
en 1996, 1997, 1998).
Biographie und sozialpädagogische Forschung 27
Gleichzeitig sind die sozialen Strukturierungen biographischer Erzählun-
gen häufig nicht jener Teil der Selbstpräsentationen, der den Erzählenden refle-
xiv zur Verfügung steht. Geschlecht, soziale Lage, Kultur und Generation fun-
gieren als institutionalisierte Wissens bestände sozialer Wirklichkeit und damit
als Basisstrategien zur Bewältigung und Partizipation an sozialen Lebens- und
Alltagswelten. Die Relevanz solcher Institutionalisierungsprozesse liegt darin,
dass die Einzelnen sich ihrer nicht immer vergewissern müssen, sondern dass
sie ihnen als Basisstrategien eigenen Handeins selbstverständlich zur Verfü-
gung stehen. Aufgrund dessen sind Ressourcen frei, um neue und komplexe
Aufgaben der sozialen Praxis zu bewältigen. Die Erfahrungen der Sozialwelt
sind somit Teil eines "praktischen Bewusstseins" (Giddens 1988, S. 91 ff.), auf
das immer wieder Bezug genommen werden kann, ohne dass wir es stetig und
ausdrücklich (reflexiv) explizieren müssen. Sie sind - mit Pierre Bourdieu
(l997a) gesprochen - Ressourcen eines "praktischen Sinns", um sich in gesell-
schaftlichen ,,Feldern" bewegen zu können. Das Soziale in der Biographie
agiert somit hinter unserem Rücken, als inkorporierte soziale Praxis, als habitu-
ell verankerte Wahrnehmungs-, Handlungs- und Deutungsdisposition. Diese
Hintergründe erweisen sich nicht nur als biographische und soziale Ressourcen,
sondern gleichzeitig als Form eines einverleibten gesellschaftlichen "Unge-
wussten", das sich eigenen Reflexionen - und damit einer potenziellen Verän-
derung - verschließt. Das "Rückwärtige" des Sozialen in der Lebensgeschichte
wird zum konstitutiven Merkmal für die häufig zu beobachtende Konstanz bio-
graphischer Prozesse und Selbstthematisierungen.
Wenn Pierre Bourdieu (1998) darauf hinweist, dass der innere Zusam-
menhang von Biographie weniger auf der Sinnkonstitution der Erzählenden,
sondern auf der Abfolge von Positionen im sozialen Raum basiert, markiert
er die hohe Relevanz der sozialen Distribuierungsstrukturen auf die Ausge-
staltung von biographischen Prozessen. Dennoch trifft sein Bild, dass die
Fahrt einer U-Bahn nicht sinnvoll ohne die Struktur des Netzes zu beschrei-
ben ist, nur einen Teil von biographischen Verläufen und Prozessen (vgl.
Bourdieu 1998, S. 82). Der von Pierre Bourdieu gewählten Metapher ließe
sich entgegen halten, dass mit der Beschreibung des U-Bahn-Netzes noch
keine Aussage über die konkrete Fahrt gewonnen ist. Mit diesem Beispiel
soll auf einen weiteren Aspekt biographischer Erzählungen verwiesen wer-
den: Biographie ist bei aller Strukturiertheit selbst strukturierende Struktur.
. So zeigen beispielsweise die Analysen von Bettina Dausien (1996, 1997)
zum Zusammenspiel von Biographie und Geschlecht, dass nicht nur die so-
ziale Kategorie Geschlecht die biographischen Selbstthematisierungen
durchdringt. Genauso strukturiert das Erzählen die Geschlechterkonstituie-
rung. Doing-Gender ist nicht nur als inkorporierte soziale Praxis, sondern
gleichzeitig als biographische (Re-)konstruktionsleistung der AkteurInnen zu
verstehen. Auch in biographischen Analysen zur Krankheitsbewältigung hat
sich gezeigt, dass Krankheit nicht als life-event in das Leben der Einzelnen
"einbricht" und die Biographie bestimmt. Vielmehr wird deutlich, dass
28 Andreas Hanses
Krankheit vor dem Hintergrund lebensgeschichtlicher Etfahrungsaufschich-
tungen auch als biographische Konstruktion zu beschreiben ist (vgl. Hanses
1996, 2000; Hanses/Börgartz 200 I). Diese Beispiele verweisen auf einen we-
sentlichen Sachverhalt: Biographien sind nicht allein Ausdruck gesellschaft-
licher Determiniertheit, sondern besitzen biographischen Eigensinn und bre-
chen somit die lebensweltliche Einflussnahme auf ihre je eigene Weise, ohne
sich allerdings der Strukturiertheit durch soziale Praxis entziehen zu können.
Der konstruktivistische Ansatz der Autopoiesis, wie Humberto Maturana
und Francisco Varela (1991) ihn anhand ihrer biologischen Studien entwik-
kelt haben, mag diese Dialektik zwischen Struktur und Subjekt plausibel be-
schreiben. Entsprechend des Verhältnisses von Organismus und Umwelt lässt
sich auch die Beziehung von Subjekt und Lebenswelt durch eine "strukturelle
Koppelung" beschreiben, in der dennoch Folgen der ,,Perturbationen" nicht
aus der "Störung" selbst, sondern aus der Strukturdeterminiertheit des Sub-
jekts zu erklären sind (vgl. Maturana/Varela 1991, S. 106). Bei allen sozialen
Anpassungsprozessen ist gleichzeitig ein offener Horizont, ein nicht zu pro-
gnostizierender Rahmen gesetzt, der abhängig von biographischen Disposi-
tionen konzipiert wird.
In diesem Zusammenhang ist auf das Konzept ,,Biographizität" zu ver-
weisen. Es beschreibt die - wenn auch begrenzte - Gestaltbarkeit der eigenen
Biographie, eben die Leistungen der Subjekte, "praktisches Bewusstsein" in
"biographische Reflexivität" zu transformieren und aus dem "ungelebten Le-
ben" Handlungs- und Orientierungspotenziale zu gewinnen, ohne die Einge-
bundenheit der ProtagonistInnen in die sozialen Strukturen aus dem Auge zu
verlieren (vgl. Alheit 1995, S. 300). Biographizität kann als wichtige Schlüs-
selqualifikation des Menschen in der Modeme beschrieben werden, die eine
Anschlussfähigkeit biographischer Wissensbestände an sich verändernde Le-
benswelten ermöglicht.
Das Besondere am Konzept der Biographie ist, dass es - trotz einer vor-
dergründigen Fokussierung auf die Individualität einzelner Personen - das
Soziale in den Blick nimmt, ohne wiederum in eine strukturalistische Per-
spektive zu vetfallen. Es ist diese "soziopoietische" Qualität von Biographie
(Alheit 1997, S. 25), die sie für eine (qualitative) sozialpädagogische For-
schung so bedeutend werden lässt. Mit einem biographischen Ansatz ist die
in der sozialpädagogischen Forschung geforderte Verbindung von Subjekt-
und Strukturperspektive einzulösen. Biographie erlaubt es über den Dualis-
mus von Individuum und Gesellschaft hinauszugehen, die Perspektive für die
,,Dualität von Struktur" (Giddens 1988, S. 77) zu eröffnen. Mit dieser Ambi-
guität von Biographie ist theoretisch und methodisch ein anspruchsvolles
Konzept vorhanden, das - pointiert formuliert - nicht nur eine integrierende
Perspektive erlaubt, sondern zwingend erfordert. Biographische Analysen,
die sich auf einen Aspekt von Biographie begrenzen, drohen wichtige
Aspekte bei lebens geschichtlichen Rekonstruktionen zu vernachlässigen.
Biographie und sozialpädagogische Forschung 29
3.2 Biographie und Leib

Leib und Körper sind keine zentralen Kategorien sozialpädagogischer Diskus-


sion, auch wenn es gegenwärtig durch die erneute Aktualität des Körpers in den
Nachbardisziplinen zur verstärkten Aufnahme der Körper- und Leibdiskurse in
der Sozialen Arbeit gekommen ist (vgl. Homfeldt 1999; Hünersdorf 1999; Be-
cker 2000). Zentraler Bezugspunkt sozialpädagogischer Aufmerksamkeit sind
die AdressatInnen in ihren sozialen und lebensweltlichen Bezügen und Abhän-
gigkeiten. Der Körper steht unter Verdacht als anthropologische Konstante in
den Bereich der Naturwissenschaften zu gehören, und dem Leib haftet zu sehr
das Phänomenologisch-Spekulative an, als dass er wirklich Aufschluss für ak-
tuelle sozialpädagogische Fragen und Aufgabenstellungen versprechen könnte.
Für die Soziale Arbeit sind - trotz einiger Annäherungsversuche - Körper und
Leib meist unattraktive Fremde geblieben.
Dabei sind Körper und Leib3 konstitutive Bestandteil eines entscheiden-
den Selbst- und Weltbezuges (vgl. Jung 1994). Mit ihnen werden die Erfah-
rung und die Vermittlung von sozialer Welt überhaupt erst möglich. Sie sind
jenes "Medium", mit dem Institutionalisierungs- und Vergesellschaftungs-
prozesse herzustellen sind. Der Körper ist die unhintergehbare Voraussetzung
für Interaktionsverhältnisse und soziale Ordnungen (vgl. Loenhoff 1999,
75f.). Der Körper ist Medium des aktiven Weltbezugs der AkteurIn und so-
mit konstitutives Element sozialer Handlung, kurz: "the body is fundamental
to any theory of action" (Turner, zit. nach Loenhoff 1999, S. 76). So wie der
"body as agent" zu begreifen ist, so ist gleichermaßen der "body as object" zu
verstehen (vgl. Strauss 1993, S. 10). Allerdings ist der Körper kein Objekt für
sich, sondern erfahrt diese Zuweisung erst über die Interaktion mit anderen.
Gesellschaft kann folglich einen Zugriff auf den Körper nehmen und Prozes-
se der Vergesellschaftung initiieren.
In welchem Ausmaß die soziale Welt Körper- und Leibprozesse struktu-
riert und organisiert, haben eine Reihe soziologischer Studien belegt. So hat
z.B. Michel Foucault (1977) in seiner Analyse "der Geburt des Gefangnisses"
gezeigt, dass die Disziplin über den "gelehrigen Körper" organisiert wird.
Die Untersuchungen Norbert Elias (1976) verweisen ausdrücklich darauf,
dass der Prozess der Zivilisation eine Geschichte veränderter Körperkultur
ist, und Pierre Bourdieu (1994) belegt in seinen Untersuchungen zum Ge-
schmack, wie soziale Distribuierungen als "praktischer Sinn" von den Akteu-
rInnen einverleibt werden und von hier aus als Handlungs-, Wahrnehmungs-
und Deutungsmuster die soziale Praxis auch in den kleinsten Räumen der
Alltagswelten strukturieren. Der Körper wie der Leib werden zum Ort sozia-

3 Im Rahmen dieses Beitrags kann nicht auf die Differenzen zwischen Körperkonzepten, die
stark aus der angloamerikanischen, soziologischen Traditionen hervorgehen (vgl. Loenhoff
1999), und den leiborientierten Ansätzen der europäischen, phänomenologischen Strömung
eingegangen werden (vgl. Petzold 1986).
30 Andreas Hanses

ler Einverleibungen. "Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein
wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man" (Bourdieu 1997a, S. 135).
Körper und Leib übernehmen die wichtige Funktion, über den Prozess des
Inkorporierens sozialer Praxis "praktisches Bewusstsein" herzustellen, also
die Bedeutung eigenen Handeins aus der reflexiven Verfügbarkeit zu neh-
men. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich die Institutionalisierung von In-
teraktionen und rekursiv die Stabilisierung sozialer Ordnung organisieren.
Verbleibt der Leib aus dieser Perspektive als inkarnierter Speicher sozialer
Erfahrungen? Erweist sich vor diesem Hintergrund die Biographie nur als
temporäre Folie, auf der sich soziale Prozesse als Erfahrungsaufschichtung in
den Leib eingravieren?
Analysen von Lebensgeschichten kranker Menschen haben einen ande-
ren Zugang zur Leiblichkeit entwickelt. In der biographischen Erfahrung
leiblich gespürter Krisen hat sich ein Potenzial biographischer Neukonzep-
tualisierung gezeigt (vgl. Hanses 1996, 1999). Dem Leib kommt potenziell
Macht über Prozesse der Umstrukturierung und Neuordnung zu. Anders for-
muliert: Der Leib kann als "generatives Prinzip sozialen Eigensinns" be-
schrieben werden (vgl. Hanses 1999a). Laut Wolfram Fischer-Rosenthal
kommt insbesondere dem (Leib-)Erleben die Qualität zu, das in der Erfah-
rung Erarbeitete wie das Erwartete verflüssigen zu können, ohne das Kon-
struierte einer Biographie auszulöschen (vgl. Fischer-Rosenthal 1989, S. 11).
Dieser Potenzialität des leiblich Gespürten steht allerdings die Erfahrung ge-
genüber, dass nicht jede (leiblich) erlebte Krisensituation zur Veränderung,
sondern häufig zur Verfestigung von bestehenden Lebensstrategien und -pro-
blemen führt. Erst in der Verschränkung von Leib und Biographie, wenn die
leibliche Krise gleichzeitig zu einer biographischen Krise avanciert, entsteht
die Potenzialität für eine Neuordnung. In dem Moment, in dem das Affektive
des Leiberlebens in biographische Reflexivität transformiert werden kann,
entsteht die Chance, Deutungs- und Handlungsmuster zu verändern und neue
soziale Praxis zu erzeugen (vgl. Hanses 1999, 1999a).
Der Zusammenhang von Biographie und LeiblKörper lässt sich generell
als Wechselverhältnis thematisieren: "Sie stehen aneinander und durcheinan-
der, sie entwickeln jeweils autonome Strukturen, aber stets in Verbindung,
das eine stützt und irritiert das andere" (Fischer-Rosenthal 1999, S. 15f.).
Über den Leib können wir einen wichtigen Erklärungszusammenhang für den
Einlass des Sozialen in die Biographie entwickeln. Gleichzeitig ermöglicht
die Perspektive auf das Biographische, die Eingebundenheit des Leiblichen in
die biographischen Sinnhorizonte und (reflexiven) Bedeutungszuweisungen
der sozialen Kontexte zu thematisieren. Forschungsstrategisch besitzt der en-
ge Zusammenhang von Biographie und LeiblKörper für eine sozialpädagogi-
sche Forschung einen ganz eigenen Charme. Die biographische Perspektive
eröffnet eine fallorientierte Perspektive: Der leiblich vermittelte Subjekt-
Struktur-Zusammenhang kann immer wieder vor dem Hintergrund des ein-
zelnen Falles (re-)formuliert werden. Zudem eröffnet das biographische Er-
Biographie und sozialpädagogische Forschung 31

zählen einen forschungspragmatischen Zugang zur Leiberfahrung und (so-


zialer) Körperlichkeit. Narrative Selbstthematisierungen erlauben eine dichte
Beschreibung des (Leib-)Erlebens, der Erfahrungsbildung, des Handeins, der
gesellschaftlichen Körperbilder und des Körperwissens sowie die durch In-
teraktionen hervorgebrachte Zuweisungen (vgl. Dausien 1999).
Ohne im Rahmen dieses Beitrages die Komplexität der Körper- und
Leibdebatten erschöpfend wiedergeben zu können, ist hoffentlich deutlich
geworden, dass Körper und Leib jene Matrix sind, in der Subjekt und Struk-
tur verhandelt werden. Angesichts dieses Verhältnisses sollte eine sozialpäd-
agogische Forschung sich diesem Bereich sozialer Wirklichkeit stärker zu-
wenden, als es bisher der Fall war. Begriffsbildungen und Forschungskon-
zepte, die die Dimensionen Leiblichkeit und Körper einschließen, könnten
neue Horizonte eröffnen: Die Frage nach der Ordnung (sozialpädagogischer)
Interaktionen und Institutionen oder der Konstitution von Lebenswelten
durch Körper( -kulturen) gehört genauso dazu wie die Frage nach der Bedeu-
tung des Körpers und des Leibes hinsichtlich der (Wieder-)Erlangung einer
,,Autonomie der Lebenspraxis".

3.3 Biographie und Erleidensprozesse

Bisher sind mit der soziopoietischen und der körperlich-leiblichen Dimension


von Biographie Verweise auf gesellschaftliche Strukturierungen geliefert wor-
den. So wichtig die Analyse des Subjekt-Struktur-Verhältnisses für sozialpäd-
agogische Forschung ist, so wenig kann sie sich allein auf diesen Aspekt be-
schränken. Konstitutives Element sozialpädagogischer Forschung sollte ein
heuristisches Konzept sein, das eine forschende Perspektive auf den Einzelfall
ermöglicht. Von Bedeutung für die Soziale Arbeit sind jene Fälle, die einen
,,Normbruch" dokumentieren. Prinzipiell ist es jedoch erst einmal unerheblich,
ob sich der Bruch mit normativen Skripten als subjektives Erleben erweist, ob
es sich um soziale Exklusionsprozesse im Kontext von Statuspassagen oder um
den Einbruch eines critical-live-events in die Lebensgeschichte handelt oder ob
eigene Lebensentwürfe und Lösungsstrategien angesichts schwieriger Lebens-
lagen so sehr mit dem Interesse anderer kollidieren, dass sozialstaatliche Inter-
ventionen notwendig werden. Soziale Arbeit hat es mit Menschen zu tun, die
sich in schwierigen finanziellen, sozialen und gesundheitlichen Problemlagen
befinden und die entweder von sich aus Hilfebedarf nach Beratung, Unterstüt-
zungsleistungen und Begleitung formulieren, oder ,,Hilfe" in Form sozialpäd-
agogischer Intervention zugewiesen bekommen. In diesem Sinne benötigt die
Praxis Sozialer Arbeit Wissen, wie sich Prozesse sozialer Destabilisierungen
entwickeln, welche Selbstsichten und Eigentheorien die Betreffenden einneh-
men und welche Ressourcen und Kompetenzen zur Bewältigung der Lebensla-
gelProblemssituation entwickelt werden können bzw. vorliegen.
32 Andreas Hanses

Mit der Einführung der Biographieforschung in die Sozialwissenschaften


hat vor allem Fritz Schütze das für die handlungstheoretisch dominierte So-
ziologie "fremde" Konzept der "Verlaufskurve" entwickelt (vgl. Schütze
1981, 1984, 1999). Die Bedeutung der von Schütze auf der Basis vielzähliger
biographischer Analysen entwickelten Prozessstrukturen des autobiographi-
schen Erzählens liegt insbesondere darin, dass krisenhaft verlaufende Verän-
derungsprozesse aus der Perspektive der Erzählenden eruiert werden können.
Folgende Aspekte sind für eine sozialpädagogische Forschung von besonde-
rer Relevanz:

(a) Biographische Erzählungen zeigen, dass die Erzählenden sich keines-


wegs immer als Handelnde und Planende ihres Lebens begreifen. Häufig
sind die Narrationen durch Erfahrungen der Fremdbestimmtheit des ei-
genen Lebens gekennzeichnet. Das Leben scheint einfach abzulaufen, es
kommt zu Ordnungszusammenbrüchen, das Vertrauen in die Welt bricht
mehr und mehr zusammen. Die eigene Lebensgestaltung gerät ins Tru-
deln (vgl. Schütze 1999, S. 216f.). Destabilisierung, Zusammenbruch der
Alltagsorganisation und Umdeutungen der eigenen Lebenssituationen
sind die Folgen. Biographische Neusetzungen organisieren sich nicht
über handlungsschematische Inszenierungen, sondern werden erlitten -
hier ist der Aspekt des ,,Pathischen" unserer Existenz angesprochen (vgl.
Weizsäcker 1956, 1997).
(b) Das Verlaufskurvenkonzept rekurriert keineswegs nur auf innere Befind-
lichkeiten und Zustandsveränderungen der Erzählenden, sondern macht
deutlich, wie Verlaufskurvenprozesse eingewoben sind in interaktive
(professionelle) Strukturen. Der Zusammenbruch der alltäglichen Erwar-
tungsfahrpläne führt zu großen Irritationen in Interaktionssituationen.
Wohlwollende interaktive Spiegelungen können verloren gehen und zu
identitätsverändernden Transformationen führen (vgl. Schütze 1999, S.
216f.).
(c) Das Erleiden des eigenen Lebens, der Zusammenbruch eigener Ordnun-
gen vollzieht sich keineswegs plötzlich, sondern besitzt System und Ge-
schichte. Mit dem Konzept "Verlaufskurve" wird gerade auf einen sich
strukturierenden Prozess verwiesen: Vor der Ausgestaltung eines Ver-
laufskurvenpotenzials setzen unterschiedliche Destabilisierungsprozesse
ein, die zwischenzeitlich durch die Entwicklung neuer labiler Gleichge-
wichte abgepuffert werden können. Allerdings kann diese ,,zwischenlö-
sung" in eine neue Verlaufskurvendynamik übergehen. In diesem Falle
kommt es zum gänzlichen Zusammenbruch der biographischen Organi-
sation und Orientierung, der die Interventionen professioneller Hilfesy-
steme erfordern (vgl. Schütze 1999, S. 201).

Eröffnen die Analysen von Verlaufskurven eine Perspektive auf das Leiden
an der sozialen Wirklichkeit, so ist damit keineswegs eine einseitige Patholo-
Biographie und sozialpädagogische Forschung 33
gisierung der AdressatInnen Sozialer Arbeit intendiert. Biographische Analy-
sen zeigen vielmehr, dass ein problemorientierter Blick durch eine res sour-
cenorientierte Perspektive zu ergänzen ist. Biographische Erzählungen sind
durch eine große Ambiguität gekennzeichnet: Das Kritische und die Poten-
ziale liegen in den Narrationen nah beieinander (vgl. Hanses 2000a, S. 373f.).
Die Analyse biographischer Selbstthematisierungen ermöglicht eine Antwort
auf die Frage, wie schwierige Lebenslagen und Lebenskrisen - unter Um-
ständen auf sehr eigensinnige Art und Weise - bewältigt werden, wie es zu
einem Umschlag, einem "Wandlungsprozess" (vgl. Schütze 1981, 1984)
kommen kann, wie in der Krise das Subjekt zu verschwinden droht, aber in
dem Zerreißen von Kohärenzen neue Zusammenhänge geschaffen werden
können (vgl. auch Weizsäcker 1997, S. 295ff.; Hanses 1996, 1999; Hanses/
Börgartz 2001). Krisen verweisen auf einen "qualitativen Sprung" hin zu ei-
ner Neuorganisation von Kompetenzen (vgl. Mennemann 2000, S. 224).
Sozialpädagogische Forschung benötigt ein sensibilisierendes Konzept, um
die Brüchigkeit menschlicher Existenz und die Potenziale der Subjekte wahr-
zunehmen. Hugo Mennemann (2000) fordert diesbezüglich, Krise als einen
Zentralbegriff der Sozialpädagogik zu begreifen. Krise kann als heuristisches
Konzept betrachtet werden, das es ermöglicht, die Komplexität von Lebens-
und Alltagswelten, den interaktiven Aspekt sozialer Praxen und Lebensvollzü-
ge sowie Formen des Aneignungshandelns zu untersuchen (S. 225). Biographi-
sche Erzählungen erweisen sich wiederum als zentraler Zugang zu Verlaufs-
kurven- und Bewältigungsprozessen aus der Perspektive der Subjekte. Vor al-
lem aber werden mit einem biographie- und krisenorientierten Konzept zwei
Erfordernisse sozialpädagogischer Forschung bedient. Zum einem wird mit ei-
nem solchen Konzept die Forderung, das Spannungsfeld zwischen Feld- und
Bildungsbezug zu erfassen, einlösbar. Biographie eröffnet sowohl die Perspek-
tive auf die Einlagerungen biographischer Veriaufskurven, Krisen und Bewäl-
tigungsprozesse im Kontext unterschiedlicher Felder sozialer Realität. Gleich-
zeitig ist Auskunft über die Aneignungsleistungen, die handlungsschemati-
schen Initiierungen und ihre sozialen Einbettungen zu erhalten. Mit diesem
Wissen sind Anknüpfungspunkte für einen (biographieorientierten) sozialpäd-
agogischen Bildungsbezug eröffnet (vgl. Kraimer 1994). Zum anderen illustrie-
ren biographische Analysen, dass Krisen- und Krisenveriäufe nur vor dem Hin-
tergrund der Interaktionen mit Professionellen und im institutionellen Kontext
zu verstehen sind. Damit ist ein weiterer wichtiger Bezugspunkt genannt: das
Verhältnis von Biographie und Institution.

3.4 Biographie und Institution

Institutionen können als intermediäre Struktur zwischen Sozialwelt und ihren


Akteurlnnen betrachtet werden. Sie fungieren als zentrale Instanzen der Insti-
tutionalisierung und der Vergesellschaftung (vgl. BergerlLuckmann 1999).
34 Andreas Hanses

Dennoch ist die entscheidende Frage, wie das Verhältnis von Biographie und
Institution, von sozialpädagogischen (personenbezogenen) Dienstleistungen
und ihren AdressatInnen, zu bestimmen ist. Die Relevanz des Zusammenhangs
von Biographie und Institution für sozialpädagogische Forschung möchte ich
auf drei Ebenen skizzieren:

(a) In der Modeme fungieren Institutionen als Biographiegeneratoren. Institu-


tionen der Alltagswelt fordern Akteurlnnen auf, biographisches Wissen als
soziale Basisressource über sich zu erzeugen, das in unterschiedlichen in-
stitutionellen Kontexten abgefragt wird. Auch wenn mit der institutionellen
Aufforderung zur Generierung biographischen Wissens eine Machtsituati-
on gegenüber den AkteurInnen beschrieben ist, handelt es sich hier nicht
ausschließlich um determinierende Strukturen. Insbesondere Ergebnisse
der Lebenslaufforschung zu Statuspassagen haben gezeigt, dass bei glei-
chen strukturellen Bedingungen, der Umgang mit (labilen) Übergangssi-
tuationen seitens der Akteurlnnen unterschiedlich ausfällt. Gesellschaftli-
che Rahmenbedingungen, institutionelle "gatekeeper", situative Umstände
und Gelegenheitsstrukturen allein erklären nicht den Umgang mit und
Verlauf der Statuspassagen. In diesem Zusammenhang hat Walter Heinz
(2000) den Begriff der "Selbstsozialisation" geprägt. Mit diesem Begriff
wird der Versuch unternommen, aus der Perspektive der Lebenslauffor-
schung den Blick auf die Aneignungsleistung biographischer Akteurlnnen
zu eröffnen. Jene bündeln ihr Erfahrungswissen zu Handlungsmodi, um
Übergänge im Lebenslauf entsprechend eigener Interessen zu meistem.
Wenn auch das Konzept der Selbstsozialisation nicht explizit auf biogra-
phietheoretischen Annahmen beruht, so liefert diese Perspektive doch den
entscheidenden Hinweis auf die soziopoietische Dimension von Biogra-
phie und Institution. Für die sozialpädagogische Forschung ergeben sich
hier wichtige Optionen: Die Entwicklung von Arbeitslosigkeits-, Armuts-
und Sozialhilfe-Karrieren ist weder als Scheitern des Subjekts noch als Zu-
richtungsprozess institutionspolitischer Vorgaben einseitig aufzulösen. Sie
sind vielmehr als integrativer und emergierender Prozess zwischen Biogra-
phie und Institution nachzuvollziehen. Der explizite Rückbezug auf ein
biographisch sensibilisierendes Konzept im Kontext institutionsbezogener
Analysen besitzt zudem gesellschaftspolitische Relevanz. Durch die ge-
genwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen zeichnet sich ein zuneh-
mendes "institutional lag" ab, und Institutionen verlieren ihre Funktion als
Stichwortgeber für die Individuen. Die Akteurlnnen müssen in viel höhe-
rem Maße qua biographischen Wissens die Gestaltung ihrer Lebenslagen
und -verläufe selbst übernehmen (vgl. Schaarschuch 1999, S. 546; Alheit
2000, S. 158ff.).
(b) Sozialpädagogische Forschung wird über diese grundlegenden Überle-
gungen eines biographieorientierten Bezugs institutioneller Analysen ih-
ren Schwerpunkt auf Institutionen des Bildungs-, Sozial- und Gesund-
Biographie und sozialpädagogische Forschung 35
heitsbereiches legen müssen, Bereiche, in denen Soziale Arbeit als pro-
fessionelle Praxis von Relevanz ist. Sie wird sich mit der Frage beschäf-
tigen müssen, wie Institutionen und ihre professionellen Angebote sei-
tens der AdressatInnen an- und aufgenommen werden. Die Debatte über
das Dienstleistungskonzept Sozialer Arbeit setzt NutzerInnen und Kun-
dInnen voraus, die über ein autonomes Potenzial hinsichtlich des Zu-
griffs auf Angebotsstrukturen verfügen (vgl. Schaarschuch 1999, S. 552).
Jedoch zeigen empirische Untersuchungen, dass der Sachverhalt zwi-
schen einem personenbezogenen Zugang zu Dienstleistungsangeboten
und der professionellen Praxis im institutionellen Kontext nicht einfach
auf die Frage einer rationalen Inanspruchnahme von Angebot und Nach-
frage zu reduzieren ist. So hat Gerhard Riemann (1987) anband der
Analyse biographischer Erzählungen überzeugend deutlich machen kön-
nen, dass institutionelle Rahmungen gravierende Eingriffe in die Fähig-
keit zur "autonomen Lebenspraxis" nach sich ziehen können. Institutio-
nalisierung kann zu einem ,,Fremd werden der eigenen Biographie" füh-
ren und auf diese Weise biographische Potenziale als Wissensbasis zur
Aneignung von Hilfeleistungen zerstören. Aber nicht nur auf der Ebene
"totaler Institutionen" (vgl. Goffman 1973), sondern auch in weniger ra-
dikalen institutionellen Rahmungen professioneller Praxis zeigt sich eine
fehlende Passung zwischen biographischen Sinnborizonten und Wis-
sensbeständen der AdressatInnen auf der einen und höhersymbolischen
Wissensstrukturen und Handlungspraxen der Professionellen auf der an-
deren Seite. Anband der Analyse biographisch-narrativer Interviews, die
mit körperlich und seelisch erkrankten Menschen geführt wurden (vgl.
Hanses 1996,2000; Hanses/Börgartz 2001), konnte gezeigt werden, dass
in professionellen (sozialpädagogischen) Kontexten biographische Sinn-
setzungen, Ressourcen und Bedürfnisse der AdressatInnen nicht oder un-
genügend wahrgenommen werden. Statt dessen werden professionelles
Handeln und Unterstützungs leistungen aus der Logik institutioneller
Rahmungen und professioneller Wissensbestände entwickelt. Die Miss-
achtung der biographischen Dimensionen führt häufig dazu, dass die not-
wendige Aneignung der Hilfeangebote nicht leistbar ist. Folge ist, dass
die Angebote kontraproduktiv verpuffen. Die Unterstützung suchenden
Menschen befinden sich weiterhin in schwierigen gesundheitlichen und
sozialen Lebenslagen; in einigen Fällen kommt es sogar zu weiteren De-
stabilisierungen und einer Zuspitzung der problematischen Lebenssitua-
tion (Verlaufskurvenentwicklung). Die empirischen Belege veranschau-
lichen, dass ein heuristisches Konzept von Institution benötigt wird, mit
dem eine forschende Perspektive auf das (aktiv erzeugte) Passungsver-
hältnis zwischen Institution und AdressatInnen möglich wird. Es muss
ein Wissen darüber entwickelt werden, wie sich professionelle Praxis
über eine Interaktionsordnung (vgl. Goffman 1994) sozial situiert und
wie die biographischen Erfahrungen, Sinnborizonte und Ressourcen die
36 Andreas Hanses
Interaktion ihrerseits entscheidend mitbestimmen (vgl. Hanses 2002).
Das Konzept Biographie gibt sozialpädagogischer Forschung ein sensi-
bilisierendes Konzept an die Hand, das eine Analyse der Prozesse der In-
stitutionalisierung, der Herstellung einer Interaktionsordnung und Pas-
sung sowie der Übernahme (Aneignung versus Prozedierung) von pro-
fessionellen Unterstützungsangeboten ermöglicht (vgl. Hanses/Börgartz
2001).
(c) Der Begriff Institution verweist auf die (Vor-)Strukturierung des sozialen
Raumes und auf die Existenz einer dem individuellen Handeln gegenüber
fortdauernden Struktur: Gemeint ist hier die "longue dun~e" der institu-
tionellen Zeit (vgl. Giddens 1988, S. 89). Gleichzeitig dokumentieren
empirische Studien, dass das Strukturierende von Institutionen Begren-
zungen unterliegt. Nicht nur die soziale Praxis in Institutionen wird durch
eine "negotiated order" (Strauss 1993, S. 248ff.) generiert, auch die Insti-
tutionen selbst unterliegen zu einem nicht unerheblichen Maße einer
"Biographisierung". Jochen Kade und Wolfgang Seitter (1998) haben am
Beispiel von Weiterbildungs institutionen aufzeigen können, dass sich die
institutionell-organisatorische Ebene durch die Biographien der Erwach-
senenbildnerInnen sowie durch die sich verändernden biographischen
Bedürfnisse und Erwartungen ihrer KundInnen modifiziert haben (S.
171ff.). Ergo konstituieren Biographien - zu einem nicht unwesentlichen
Teil - Institutionen- und Organisationstransformationen (vgl. Seitter
1999) - Überlegungen, die bisher in Analysen zu sozialpädagogisch rele-
vanten Institutionen kaum eingeflossen sind.

Biographie erweist sich angesichts der ausgeführten Aspekte als sinnvolles


wie notwendiges heuristisches Konzept im Rahmen sozialpädagogischer In-
stitutionenforschung, um die Dichotomie IndividuumlInstitution aufzuheben.
Es ist die gegenseitige Konstituierung institutioneller Prozesse, professio-
neller Praxis und Aneignungsoptionen der AdressatInnen, die durch eine bio-
graphieorientierte Forschung konstruktiv ins Blickfeld rückt. Mit einer sol-
chen sozialpädagogischen Forschungspraxis wäre auch die leidvolle Tren-
nung zwischen Subjekt- und Dienstleistungsdiskursen in der Sozialen Arbeit
sinnvoll zu überwinden.

4. Biographie als Kernkategorie sozialpädagogischer


Forschung - abschließende Erörterungen

Wenn - wie eingangs schon hervorgehoben - sozialpädagogische Forschung


weder auf einer bestimmten Methode fußt noch einen irgendwie gearteten
eindimensionalen Gegenstandsbezug aufweisen soll, sondern auf der Ver-
Biographie und sozialpädagogische Forschung 37

knüpfung unterschiedlicher Perspektiven - Integration eines ,,Feld- und Bil-


dungsbezugs", einer "Subjekt- und Strukturperspektive" sowie "institutio-
neller und personeller Aspekte" - basieren soll, dann erweist sich Biographie
als ein wesentliches Rahmenkonzept zur Konstituierung einer sozialpädago-
gischen Forschung. Die vorangegangenen Ausführungen zu den unterschied-
lichen Dimensionen von Biographie - so skizzenhaft sie im Rahmen dieses
Beitrags auch bleiben müssen - haben doch einen sehr zentralen Aspekt her-
vorgehoben: die Ambiguität von Biographie. Biographie ist eben nicht ein-
fach eine Nacherzählung von Lebensgeschichte, sie eröffnet nicht nur einen
Subjektbezug oder eine Fallorientierung. Ihre außerordentliche Relevanz liegt
darin, dass sie in ihrer Doppelheit als sozialer Konstruktion und gleichzeitig
narrativer Rekonstruktion immer Akteursperspektive, soziale sowie institu-
tionelle Strukturierung enthält. Sie ist Fallbezug und Lebensweltorientierung
gleichermaßen. Die erzählten Selbstpräsentationen geben also nicht nur Aus-
kunft über die soziale Eingebundenheit des ,,Erstpersönlichen" , sondern in-
formieren gleichzeitig, wie diese lebensweltlichen und institutionellen Rah-
mungen subjektiv - d.h. mit Eigensinn behaftet - gebrochen werden und
durch das narrative Präsentieren einer stetigen Umdeutung unterliegen. Bio-
graphie eröffnet nicht nur den Blick für die Formen sozialpädagogischer Pra-
xis, sondern bietet - aufgrund der in ihr liegenden Ressource ,,Biographizi-
tät" (vgl. Alheit 1995, S. 300) - darüber hinaus viele Ansatzpunkte für einen
"Bildungsbezug" sozialpädagogischer und sozialarbeiterischer Tätigkeit. Mit
anderen Worten: Biographie ist für die Konstituierung sozialpädagogischer
Forschung als theoretisches wie heuristisches Konzept von zentraler Bedeu-
tung. Insbesondere die vorgestellten Dimensionen der Biographie, ihre sozio-
poietische Qualität, ihr Leib- und Körperbezug, die fallbezogene Krisentheo-
rie und der Zugang zu institutionellen Rahmenbedingungen professioneller
Praxis erweisen sich als sinnvolle Kategorien eines sensibilisierenden Kon-
zeptes einer qualitativen Sozialforschung für die unterschiedlichen Felder der
Sozialen Arbeit. .
Dennoch wäre es vermessen, der Biographieforschung den Status des
Königswegs in der sozialpädagogischen Forschung verleihen zu wollen.
Auch wenn mittels biographischer Analysen Aussagen über soziale Struktu-
ren, institutionelle sowie lebensweltliche Prozesse zu gewinnen sind, so kann
mit biographischer Forschung nicht jede Dimension sozialer Wirklichkeit
hinreichend beschrieben werden. Ethnographische Ansätze zur Erfassung so-
zialer Praxis, sozialstrukturelle Analysen zur Beschreibung von organisatori-
schen und sozialpolitischen Rahmen, tradierte quantitative Forschungsansät-
ze zur Ermittlung von gesellschaftlichen Verteilungsphänomenen gehören
genauso zur sozialpädagogischen Forschung. Dennoch ist die Dimension
Biographie mit ihrer theoretischen und heuristischen Qualität und Ambigui-
tätsstruktur als Kernkategorie sozialpädagogischer Forschung anzusehen.
Auch wenn Christian Lüders (1998) in seiner Analyse die Definition ei-
ner genuin sozialpädagogischen Forschung gegenwärtig nicht für möglich
38 Andreas Hanses

hält (S. 129), so wäre vor dem Hintergrund der oben geführten Diskussion
Biographie zumindest als ein Konzept zu betrachten, das die Frage nach der
Eigenständigkeit sozialpädagogischer Forschung ein bedeutendes Stück wei-
ter bringen könnte. Diese Verortung würde allerdings eine theoretische Dis-
kussion erfordern, die die Trennung zwischen Dienstleitungsdebatte und fall-
orientierter Sozialpädagogik auflöst. Notwendig wäre es auch, Biographie
aus dem Bereich der ,,rekonstruktiven Sozialpädagogik" herauszuheben und
sie stärker als heuristische Zentralkategorie für den Gesamtbereich der So-
zialen Arbeit und sozialpädagogischen Forschung zu nutzen. Dessen unge-
achtet wird sich nicht über theoretische und methodologische Erörterungen
allein sozialpädagogische Forschung konstituieren lassen. Im Sinne Christian
Lüders (1998) wird es wichtig sein, die Praxis sozialpädagogischer For-
schung zu verstärken, um vor dem Hintergrund empirischer Analysen, me-
thodischer Erfahrungen und gegenstandsbezogener Theoriebildung ein Kon-
zept sozialpädagogischer Forschung zu konturieren. Wird eine solche Option
favorisiert, bedarf es aber den Mut der Sozialen Arbeit sich mit einem gewis-
sen Selbstverständnis als forschende Disziplin zu begreifen.

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WemerThole

"Wir lassen uns unsere WeItsicht nicht verwirren"l


Rekonstruktive, qualitative Sozialforschung und Soziale Arbeit -
Reflexionen über eine ambivalente Beziehung

Forschung hat inzwischen ihren Platz in der Sozialpädagogik. Mehr als je zu-
vor wird in der sozialpädagogischen Praxis, in der akademischen Ausbildung
und in der wissenschaftlichen Kommunikation auf empirische Daten zurück-
gegriffen. Dies trifft auch - vielleicht sogar insbesondere - auf rekonstrukti-
ve, qualitative Forschungszugänge und -ergebnisse zu, wenn auch keines-
wegs in der Exklusivität, wie zuweilen angenommen oder unterstellt wird
(vgl. u.a. Kraimer 1994). Gelegentlich drängt sich sogar der Eindruck auf,
dass mit rekonstruktiven, qualitativen Methodendesigns durchgeführte Pro-
jekte und ihre Befunde immer noch skeptisch begutachtet werden. Die Wahr-
nehmung, dass das rekonstruktive, qualitative Forschungsspektrum nicht von
allen gleichermaßen akzeptiert wird, stützt sich zum einen auf die zuweilen
bemitleidenswerte Charakterisierung derjenigen durch die disziplinäre sozi-
alpädagogische ,,zunft", die ihre Fragen mithilfe rekonstruktiver, qualitativer
Methoden aufzuklären versuchen. Leider korrespondiert diese Beobachtung
aber auch mit der gegenwärtigen Forschungsrealität. Nicht durchgängig alle
Projekte, die rekonstruktiven, qualitativen Methoden vertrauen, operationali-
sieren diese in einer Form, die den minimalsten Standards, so weit solche
überhaupt zu identifizieren sind, entsprechen. Der Beitrag stellt sich diesem
Problem und wirft einen flüchtigen Blick hinter die Fassaden der rekonstruk-
tiv qualitativen sozialpädagogischen Forschungslandschaft (Abschnitt 4).
Implizit wird damit erstens die Frage evoziert, inwieweit die Sozialpädagogik
auf eine systematische, breite und methodisch abgesicherte, über allgemeine
Standards fundierte Forschungspraxis verweisen kann (Abschnitt 2 und 5)
und zweitens wird angeregt, darüber nachzudenken, welche Rolle Forschung
im Kanon des sozialpädagogischen Gesamtprojekts spielt (Abschnitt 1).
Drittens und im Grunde zuvor ist allerdings zu klären, über welchen spezifi-
schen Zuschnitt sich eine Forschung mit dem Etikett "sozialpädagogisch" le-
gitimiert, ob also die Rede von "sozialpädagogischer Forschung" überhaupt
zurecht erfolgt und wenn ja, welches Profil diese zeigt beziehungsweise zei-

Der Titel variiert spielerisch ein Zitat des kritischen Gesellschafts- und Kunsttheoretikers
M. Raphael (vgl. Heinrichs 1989).
44 Werner Thole

gen kann (Abschnitt 2 und 3). Der Beitrag wird dementsprechend auch nach
dem methodologischen Grundgerüst einer mit dem Adjektiv "sozialpädago-
gisch" versehenen Forschung Ausschau halten. Unabhängig von der Antwort
auf diese Frage ist sicherlich leicht ein Konsens dahingehend zu erzielen,
dass - im Gegensatz beispielsweise zur sozialwissenschaftlichen Jugendfor-
schung, wo insbesondere in den 1980er Jahren eine dezidierte Methodendis-
kussion zu beobachten war und heute noch ist - die sozialpädagogische For-
schung respektive die Forschung, die sich auf die Handlungsfelder der So-
zialen Arbeit bezieht, auf eine ausgewiesene methodenorientierte Diskussion
nicht verweisen kann. Gelegentlich wird diese Diskussion sogar durch frag-
würdige Konvergenzannahmen zwischen Forschungs- und Handlungsmetho-
den überlagert beziehungsweise als wenig fruchtbar etikettiert, weil, so die
Vermutung, das rekonstruktive, qualitative Forschungsparadigma im Kon-
trast zu quantitativen Zugängen eine besondere Affinität zur Sozialen Arbeit
auszeichnet (Abschnitt 3). Der kritische Blick auf die Praxis rekonstruktiver,
qualitativer Forschung im Feld der Sozialen Arbeit wird mit einem die ge-
genwärtige Realität verlassenden kurzen Ausblick abgeschlossen (Abschnitt
5). Votiert wird hier abschließend wie auch schon in dem folgenden Ab-
schnitt für eine über empirische Befunde abgesicherte Theorie der Sozialpäd-
agogik.

1. Sozialpädagogische Forschungskultur im Zeitalter der


Modernisierung

Das sozialpädagogische Projekt hat gegenwärtig mindestens vier Aufgaben zu


bewältigen: Erstens sind die theoretischen Grundvokabeln weiterhin offen, zu-
mindest zu überprüfen und fortzuschreiben. Zudem ist es zweitens mit ständig
sich verändernden und potenzierenden Risiko- und Problemlagen konfrontiert
und darüber herausgefordert, die der Sozialen Arbeit eigenen praktischen Un-
terstützungs- und Hilfsleistungen, Interventionen und Bildungsangebote weiter
zu entwickeln. Drittens ist es durch die Veränderungen der sozialpädagogi-
schen Praxis - durch die Rationalisierungen ihrer institutionellen Organisati-
onsformen, durch Problemverschiebungen innerhalb der alten und neuen Ad-
ressatInnengruppen, durch veränderte Professionalisierungsansprüche und ge-
setzliche Rahmenstrukturen - konfrontiert mit neuen Forschungsfragen. Letzt-
endlich ist viertens die Aufgabe zu bewältigen, das Qualifizierungssystem für
Berufe der Sozialen Arbeit insgesamt strukturell und inhaltlich zu reformieren.
Schnell sind bezüglich dieser AufgabensteIlungen Diagnosen zur Hand,
die dem sozialpädagogischen Projekt angesichts der diversen offenen Fragen
und Aufgaben "ein" Scheitern vorhalten. Sicherlich tut sich die Sozialpäd-
agogik schwer, auf die doch einschneidenden gesellschaftlichen Modemisie-
" Wir lassen uns unsere Weitsicht nicht verwirren" 45
rungen mit adäquaten theoretischen Überlegungen zu reagieren. Beiträge zur
Theoriebildung werden schnell mit scharfer Zunge kritisiert - häufig aller-
dings etwas zu schnell und unbedacht, denn in schnelllebigen Zeiten haben
theoretische Überlegungen einen schweren Stand, sind vielleicht zuweilen
sogar eher Opfer der Geschwindigkeit des strukturellen Wandels der Gesell-
schaft als das Resultat unvollständiger, vorschneller Diagnosen. Vergleichba-
res lässt sich auch für die ebenfalls zuweilen heftig ausfallenden Kritiken ge-
genüber der Praxis festhalten. Auch diese versucht, den neuen Problem lagen
und Risikobelastungen zu entsprechen, vielleicht nicht immer gelungen, aber,
und dies ist keineswegs abwertend gemeint, wenigstens bemüht. Zumindest
ist zu beobachten, dass das sozialpädagogische Interventionsrepertoire an Ei-
genständigkeit gewinnt und diese auch gegenüber anderen Disziplinen zu-
nehmend deutlicher kundtut. Und trotz aller auch hier angemerkten und vor-
getragenen Skepsis gegenüber dem sozialpädagogischen Forschungsprojekt
hat sich dieses im letzten Jahrzehnt entwickeln und weiter profilieren können.
Die Soziale Arbeit scheint sich langsam von ihrer Empiriefeindlichkeit (vgl.
Niemeyer 1992b, S. 462) zu verabschieden.
Genauere Betrachtungen des sozialpädagogischen Projektes lassen aber
auch erkennen, dass die Entwicklungen, Fortschritte und Bemühungen, mit den
Veränderungen der Modeme Schritt zu halten, in den vier hier genannten Be-
reichen Theoriebildung, Praxisentwicklung, Forschung und Qualifizierung sehr
disparat und wenig aufeinander bezogen verlaufen. Dies ist einerseits selbstver-
ständlich eine Auswirkung gestiegener Komplexität und Unübersichtlichkeit
der jeweiligen Aufgaben- und Problemstellungen, andererseits sicherlich auch
der Expansion des Faches sowie dem internen Differenzierungsgrad zuzu-
schreiben. Ein die Entwicklungen wieder fokussierendes theoretisches Zentrum
fehlt, und auch keine der vorliegenden theoretischen Konzepte scheint hierfür
bereitzustehen, zumal einige theoretische Orientierungen in der Sozialpädago-
gik einen starken praxisreflektierenden - wenn nicht gar praxisorientierten -
"drive" aufweisen. Wenn zudem noch berücksichtigt wird, dass aufgrund der
feinen gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozesse und der damit verbun-
denen Komplexitätszunahmen die erkenntnisgewinnenden Möglichkeiten von
eindimensionalen "Supra-Theorien" erschöpft sind, dann sind unter einem
theoretisch-pragmatischen Blickwinkel reflexive, mehrdimensionale, nicht uni-
forme, partikulare Entwürfe der Sozialen Arbeit und verstehende Wissenskon-
zepte zu bevorzugen. Möglicherweise kann hier die Theorie der reflexiven
Modernisierung - in der Sozialpädagogik in unterschiedlichen Mixturen (vgl.
Niemeyer 1992a; Winkler 1995; Dewe/Otto 1996) und für die Soziologie aktu-
ell von U. Beck, B. Holzer und A Kieserling (2001) in einem neuen Gewand
und mit viel Esprit vorgetragen - helfen, die wenig aufeinander bezogenen
Diskurse und Entwicklungen in den einzelnen sozialpädagogischen Segmenten
zu bündeln. Zumindest bietet eine reflexive Modernisierungstheorie strukturell
das Potenzial, die Entwicklungen in der sozialpädagogischen Praxis wie auch
die der noch pubertären Forschungskultur mit zu beobachten und zu integrie-
46 Werner Thole

ren. Ohne mit der Schwäche gesellschaftstheoretischer Beliebigkeit zu koket-


tieren, kann die modernisierungstheoretische Konzeption mit dem Vorteil hau-
sieren, gegenüber anderen, gegenwärtig gehandelten theoretischen Vorschlägen
beobachtend und damit offen angelegt zu sein. Eine reflexiv ausgerichtete mo-
dernisierungstheoretische Grundlegung der Sozialpädagogik korrespondiert mit
den je spezifischen Aufgaben des - für viele magischen - sozialpädagogischen
"Vierecks": Theoriebildung, Praxisentwicklung, Ausbildungssystem und For-
schung,

• klassifiziert aber die zu beobachtende Erosion beziehungsweise Meta-


morphose sozialer Klassen und Schichten, Milieus, Lebenslagen, fami-
lialer und lebensweltlicher Strukturen nicht als Vereinzelungs- und Ent-
solidarisierungstendenzen, also quasi als individuell gesteuerte Verschie-
bungen der strukturellen Grundkonstanten der Gesellschaft, sondern als
Ergebnis der sukzessiven Implementierung eines neuen Ver gesell schaf-
tungsmodus unter dem analytischen Term der Individualisierung,
diagnostiziert aber beispielsweise die teilweise skurril anmutenden, nicht
immer auf Gleichheit und Gerechtigkeit abzielenden, xenophob ischen
und nationalistisch geprägten, wertekonfusen Deutungs- und Handlungs-
muster ihrer Adressatinnen nicht ausschließlich und primär als Folge ei-
nes gesellschaftlichen Werte- und Normenzerfalls, sondern als Ausdruck
veränderter Risiko- und Belastungslagen und damit einhergehender Un-
sicherheiten des Verstehens und Verhaltens,
• analysiert die nach mehr Effizienz und Effektivität trachtende Durchra-
tionalisierung des organisatorischen und institutionellen Netzwerkes So-
zialer Arbeit nicht ausnahmslos als eine "natürliche" Folge gesellschaft-
licher Ausdifferenzierungsprozesse, sondern auch als Resultat eben der
grundlegenden strukturellen Umwandlungsprozesse der modemen, indu-
striekapitalistischen Gesellschaften, also als Ergebnisse der Durchset-
zung neuer Rationalitätsmodi (vgl. Thole/Cloos 2000) und
• versteht die gegenwärtig zu beobachtenden Dequalifizierungstendenzen
der sozialpädagogischen Praxis und Diversifizierungstendenzen der Aus-
bildungslandschaft nicht als ein isoliertes Problem Sozialer Arbeit - aus-
gelöst entweder durch die "Inkompetenz" der im Feld der sozialpädago-
gischen Praxis Tätigen, durch institutionelle Blockaden gegenüber einer
professionelleren Ausbuchstabierung der sozialen Hilfe- und Bildungssy-
steme oder aber durch eine unzureichende, nicht auf der Höhe der Zeit
sich bewegende Qualifizierungslandschaft -, sondern begreift sie vor
dem Hintergrund einer generellen Unsicherheit der modemen Gesell-
schaft im Umgang mit den abrufbaren Wissensressourcen; neben dem
fundierten Fachwissen wird in neueren Studien das Erfahrungswissen als
notwendiger Wissenstypus qualifizierter Fachkräfte inzwischen wieder
deutlicher herausgestellt (vgl. Böhle u.a. 2001; auch Beck 1986).
" Wir lassen uns unsere Weitsicht nicht verwirren" 47

Sicherlich kommt der Forschung auch in anderen sozialpädagogischen Theo-


riekonzeptionen eine bedeutende Stellung zu. Die exklusive Rolle der For-
schung liegt im Kontext einer modernisierungstheoretischen Grundorientie-
rung jedoch in ihrer direkt theoriebildenden - allerdings keineswegs hierauf
reduzierten - Funktion. Für die Sozialpädagogik besteht nun die Aufgabe da-
rin, die Annahme einer Differenz zwischen erster und zweiter Moderne sozi-
alpädagogisch zu kontextualisieren, die Theorie der reflexiven Modernisie-
rung, die behauptet, "ein neues Spielregelsystem des Sozialen und Politi-
schen sei im Entstehen, das es sozialwissenschaftlich zu begreifen, zu be-
schreiben und zu erklären gilt" (BeckIBonß 2001, S. 13f.), in Bezug auf das
sozialpädagogische Themenspektrum zu drehen und in Forschungsfragen
empirisch zu operationalisieren. Die schon vorliegenden adressatInnen-, in-
stitutions-, methoden-, ausbildungs- und professionsbezogenen Fragestellun-
gen ergänzend ist im Wesentlichen und ungeachtet der schon vorliegenden
Befunde unter anderem dahingehend aufklärungsbedürftig,

ob und wenn wie sich die Globalisierungsströme und Individualisie-


rungsbewegungen auf die Soziale Arbeit auswirken - inwieweit die Lage
der AdressatInnen, aber auch die institutionalisierten Settings sozialer
Kontrolle und Disziplinierung auf der einen und der Hilfe, Unterstützung
und Bildung auf der anderen Seite die Soziale Arbeit nicht nur anregen,
sondern auch anhalten, sich neu zu positionieren - und
• ob sich nicht jenseits der Metamorphose sozialer Lebenswelten und -la-
gen neue Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern, Generationen,
zwischen und innerhalb unterschiedlicher Ethnien und Nationen, zwi-
schen "arm" und ,,reich", körperlich, kulturell und sozial am gesellschaft-
lichen Leben "voll" Teilnehmenden und den gänzlich oder partiell hier-
von ,,Ausgeschlossenen" nicht nur herausbilden, sondern auch die So-
ziale Arbeit herausfordern,
ob und wenn in welcher Form die Verwissenschaftlichung der Sozialen
Arbeit und die formale Hierarchisierung zwischen verberuflichten Ex-
pertInnen und Laien wieder in Richtung einer Stärkung beruflich nicht
professionalisierter sozialpädagogischer Handlungs- und Interventions-
formen gedreht wird und zu einer Neubewertung des so genannten Erfah-
rungs- und Orientierungswissens führt,
ob und wenn mit welchen Folgen ein soziales Europa die bisher gültigen
rechtlichen und institutionalisierten Standards sozialer Absicherungen
aufweicht,
inwieweit die Soziale Arbeit an dem Projekt der institutionalisierten Neu-
konstitution sozialer Lebenswelten mitwirken kann bzw. möchte, also
auch einen Beitrag zur Nebenfolgenkompensation der Erosion ständisch
gefärbter Lebensmuster und Identitätsentwürfe leisten kann,
48 Werner Thole

• wie "sich die Migration, die Toleranz und das Untolerierbare im dritten
Jahrtausend zueinander" (Eco 1999, S. 89) verhalten, wie sich die So-
ziale Arbeit zu dem Problem positionieren kann, einerseits ImmigrantIn-
nen das Leben ihrer sozialen und kulturellen Identität auch in der ,,Frem-
de" zu ermöglichen, anderseits jedoch auch wahrnimmt, dass diese Un-
terstützungen dazu betragen, noch nicht säkularisierte Orientierungen
politisch zu radikalisieren und fundamentalistische Deutungsmuster der
Ungleichheit zu stabilisieren,
• mit welchen Folgen die Soziale Arbeit durch ihre aktiven Integrations-
und Inklusionsleistungen Subjekten nicht auch erleichtert, normative ge-
sellschaftliche Standards zu internalisieren,
• inwieweit sich die ökonomische und ökologische Neuordnung auch auf
die Soziale Arbeit auswirkt und eine Neubewertung der ,,Arbeit" in der
"flexiblen" Erwerbsarbeitsgesellschaft provoziert und
• ob und wenn in welcher Form sich die Profession der Sozialen Arbeit mit
welchen empirischen Argumenten in die sich dynamisierenden sozial-
und kulturpolitischen Diskussionen neu einzubringen vermag.

Die Sozialpädagogik ist über diese neuen wie alten Fragen herausgefordert,
sich bezüglich ihrer theoretischen Vergewisserungen und handlungsprakti-
schen Operationalisierungen wesentlich deutlicher als bislang über empiri-
sche Beobachtungen abzusichern. Damit ist in Erinnerung gerufen, dass das
Nachdenken über sozialpädagogische Forschung sich nicht auf methodische
Fragestellungen reduzieren darf. Das Neu-Denken ist zu verorten in ein
Nachdenken über die Sozialpädagogik als ein Projekt, das sich erst mit der
Durchsetzung der Moderne konstituierten konnte und jetzt, zumindest wenn
den weitreichendsten gesellschaftlichen Theoriekonzepten nicht abgesagt
wird, vor der Aufgabe steht, einen Platz in den dynamischen Prozessen hin
zur "zweiten Moderne" zu finden, . die, so scheint es, kaum zu bremsen,
gleichwohl kritisch zu reflektieren und in ihrer Entwicklungsrichtung zu be-
einflussen sind.

2. Forschung als Gegenstand im Feld der Sozialen Arbeit

Relativ souverän, vielleicht sogar frech wurde bis dato von der Realität einer
sozialpädagogischen Forschung ausgegangen. Ob und wenn überhaupt mit
welchen inhaltlichen Akzentuierungen jedoch von "sozialpädagogischer For-
schung" gesprochen werden kann, ist strittiger als manche Annahmen unter-
stellen (vgl. u.a. Hornstein 1998; Lüders 1998; Mollenhauer 1998; Schulze-
Krüdener/Homfeldt 2002). Wird eine schnelle und einfache Klärung gesucht,
dann könnte sozialpädagogische Forschung einfach über die Forschungspra-
"Wir lassen uns unsere Weitsicht nicht verwirren" 49
xis der SozialpädagogInnen geortet und erkundet werden, also über jenes,
was im Rahmen der Sozialpädagogik als Forschung stattfindet. Sozialpäd-
agogische Forschung wäre dann die Forschung, die sich mit Fragestellungen
der Sozialen Arbeit im Allgemeinen und Besonderen beschäftigt oder aber
das Feld der Sozialen Arbeit als Forschungsgegenstand betrachtet. Oder wird
Forschung zu sozialpädagogischer Forschung erst durch eigenständige, spezi-
fische Fragestellungen, durch einen besonderen Gegenstandsbereich, durch
entsprechende Methoden und einen "sozialpädagogischen Blick"? Oder
kommt vielmehr erst in einer spezifischen Kombination und Verknüpfung
von Gegenstand, Fragestellung und Methode sozialpädagogische Forschung
zum Vorschein? Auch dieser Frage- und Themenkomplex ist bislang keines-
wegs klar, geschweige denn konsensual beantwortet (vgl. hierzu und zum
Folgenden RauschenbachfThole 1998). Bei genauerer Betrachtung sind min-
destens drei unterschiedliche Forschungsperspektiven auf das Feld der So-
zialen Arbeit zu erkennen. Erstens können wir eine sozialpädagogische Im-
port-Forschung entdecken. Hier liegt ein Typus von sozialpädagogischer
Forschung vor, der zwar auf ein sozialpädagogisches Interesse trifft, jedoch
wenig mit der disziplinären Fachkultur gemein hat, das heißt nicht aus sozial-
pädagogischen Diskursen heraus entwickelt und auch nicht dezidiert auf sie
rückbezogen wird. Einen solchen Typus von Forschung stellen beispielswei-
se jene Forschungsprojekte dar, die aus einer allgemein-sozialwissenschaftli-
chen, juristischen, historischen, medizinischen oder psychologischen Per-
spektive sozialpädagogisch relevante Fragestellungen und Gegenstandsberei-
che beleuchten, ohne den sozialpädagogischen Diskurs ausdrücklich im Blick
zu haben. Zweitens scheint es eine sozialpädagogische Export-Forschung zu
geben, also eine Forschung, die zwar von SozialpädagogInnen durchgeführt
wird, jedoch nicht auf sozialpädagogische Fragestellungen im engeren Sinne
bezogen ist. Dies wäre, etwas salopp formuliert, eine Art sozialwissenschaft-
liche Forschung aus dem "sozialpädagogischem Milieu". Und drittens kön-
nen wir eine sozialpädagogische Forschung im engeren Sinne erkennen, die
von sozialpädagogisch orientierten WissenschaftlerInnen zu Fragestellungen
der Sozialen Arbeit durchgeführt wird.
Im Unterschied zur sozialpädagogischen Import- und Export-Forschung
koppelt die genuin sozialpädagogische Forschung Forschungsfrage und For-
schungsgegenstand, basiert auf den Zusammenhang von sozialpädagogi-
schem Diskurs, einem daraus resultierenden "sozialpädagogischen Blick"
und dem sozialpädagogischen Beobachtungsgegenstand innerhalb des sozial-
pädagogischen Koordinatensystems. Als sozialpädagogische Forschung ist
folglich jene Forschung zu bezeichnen, die im Kern allgemeine, möglicher-
weise auch von anderen Disziplinen zu beobachtende Fragestellungen über
die Verknüpfung unterschiedlicher Aspekte, gesellschaftlicher Bereiche und
Spektren um einen der Sozialpädagogik eigenen, typischen "sozialpädago-
gischen Blick" anreichert, einen Blick, der zwischen ,,Feld- und Bildungs-
bezug", zwischen Subjekt- und Strukturperspektive, zwischen institutionellen
50 Werner Thole

und personellen Aspekten seinen Horizont entwickelt. Sozialpädagogische


Forschung unterscheidet sich von der soziologischen und psychologischen
Forschung also nicht nur durch einen eigenen thematischen Gegenstandsbe-
reich, sondern insbesondere durch die Verknüpfung unterschiedlicher Per-
spektiven. Sie interessiert sich, um das gemeinte beispielhaft zu illustrieren,
nicht nur für die Freizeitinteressen von Jugendlichen und für die habituellen
Profile, die die Jugendlichen in ihren Freizeitpraxen artikulieren, sondern
auch und insbesondere für die Institutionalisierungen dieser Praxen im Kon-
zert der sozialpädagogischen Angebote, für die Interaktionskonstellationen
zwischen sozialpädagogischem Personal und den AdressatInnen und für die
Wirkungen der sozialpädagogischen Nomenklatura auf die Alltagsgestaltun-
gen beispielsweise von Kindern und Jugendlichen (vgl. Lüders 1998; Rau-
schenbachffhole 1998; Thole 1999a).
Diese zum einen enge wie zugleich auch weite Dimensionierung des so-
zialpädagogischen Forschungsblicks ist in Bezug auf die gegenwärtig er-
kennbaren, allerdings nur wenig diskutierten methodologischen Konzepte
und Profilierungen sowie hinsichtlich der Methoden einer sozialpädagogi-
schen Forschung zu vertiefen. Nicht nur das, was sozialpädagogisch For-
schung sein kann oder könnte, auch die Funktion, die der Forschung im Feld
der Sozialen Arbeit übertragen wird, ist different. Sehen die einen sozialpäd-
agogische Forschung als Medium zur Effektivierung der Praxis Sozialer Ar-
beit, wünschen andere mit ihr das Theorie-Praxis-Problem zu lösen oder be-
trachten sie als Medium der Reflexion sozialpädagogischer Problem- und
AufgabensteIlungen, definieren gar die Praxis selbst als immanenten For-
schungsprozess, präjudizieren die qualitative Forschungsmethodologie zum
Kern sozialpädagogischer Erkundungen, und letztendlich stehen andere em-
pirischen Untersuchungen aus sozialpädagogischer Perspektive sogar skep-
tisch gegenüber, weil die Sozialpädagogik noch nicht die begriffliche Präzi-
sion erfahren hat, die notwendig ist, um Forschungsfragen und -aufgaben
theoretisch klar definieren zu können (vgl. u.a. Hornstein 1998). Die theoreti-
schen und forschungsbezogenen Diskussionen der Sozialpädagogik fokussie-
ren in den einzelnen Konzepten weniger direkt methodologische als pro-
grammatische Aspekte. Unterschiedlich ausgefächert platzieren sie ihre kon-
zeptionellen Überlegungen an der Schnittstelle zwischen Disziplin, Wissen-
schaft und Theorie auf der einen und Praxis und Profession auf der anderen
Seite oder begründen ihren Vorschlag und ihre Perspektive forschungsme-
thodisch beziehungsweise begriffstheoretisch. Im Kern können drei unter-
schiedliche Forschungskonzepte unterschieden werden (vgl. Engelke 1992;
Dtto 1998; Thole 1999a):

• Erstens ist eine handlungsorientierte Praxisforschung zu lokalisieren, der


die Aufgabe angetragen wird, die Nahtstelle zwischen sozialpädagogi-
scher Theoriebildung, Ausbildung und Handlungspraxis über erkundende
" Wir lassen uns unsere Weitsicht nicht verwirren" 51

Beobachtungen der Letzteren zu schließen. Diesem Konzept geht es pri-


mär um eine handlungsorientierte Optimierung der Praxis.
• Zweitens ist eine professionsorientierte, ret1exive Forschung als Typus
zu lokalisieren, die sich dem Ziel verpt1ichtet fühlt, die Handlungspraxis
über explorative Studien zu erschließen, um hierüber diese zu professio-
nalisieren. Dieser Forschungstypus setzt auf die angeleitete Ret1exion so-
zialpädagogischer Praxis und sucht nach generalisierbarem Professions-
wissen, zielt aber zugleich auch darauf, das Potenzial der Erkundungen
theoretisch aufzuarbeiten.
Und drittens ist neben diesen beiden, eher anwendungsbezogenen For-
schungstypen eine grundlagenorientierte Forschung zu lizensieren, also ei-
ne wissenschaftliche, grundlagenbezogene Disziplinforschung. Im Kern
zielt diese Perspektive darauf ab, ,,Erkenntnisse systematisch zueinander in
Beziehung zu setzen und einer theoriegeleiteten Interpretation zu unter-
ziehen, um Aussagen mit generalisierender Tendenz zu gewinnen" (Otto
1998, S. 134). Die Filtrierung von neuem, wissenschaftlichem Wissen steht
hier im Zentrum, also die Generierung von theoretischen Wissensbestän-
den im Feld der Sozialen Arbeit. Der direkte Praxisbezug, also die Er-
kenntnisproduktion von unmittelbar verwertbarem Praxiswissen, steht in
der sozialpädagogischen Grundlagenforschung nicht an erster Stelle.

Unabhängig von den einzelnen forschungsmethodologischen Profilen hat ei-


ne sich als sozialpädagogisch verstehende Forschung Fragen im Kontrast zu
soziologischen, pädagogischen und betriebswirtschaftlichen Forschungszu-
gängen zu formulieren und unter Rückgriff auf das Reservoir sozialwissen-
schaftlicher Forschungsmethoden zu operationalisieren. Die Eigenständigkeit
sozialpädagogischer Forschung liegt dabei im thematischen Zugriff, in der
Vernetzung von adressatInnen-, institutions- und professionsbezogenen Fra-
ge- und Problemstellungen. Eine solcherart operationalisierte Forschung ist
nicht identisch mit psychologischen oder soziologischen, betriebswirtschaft-
lichen oder juristischen Forschungsorientierungen. Selbstverständlich be-
schäftigen sich auch die Soziologie, Psychologie und partiell immer wieder
auch die Rechtswissenschaft sowie neuerdings die Betriebswirtschaft mit
Fragestellungen der Sozialen Arbeit. In der Mehrheit der Fälle sind die hier-
bei erarbeiteten Befunde allerdings im Kern nicht "sozialpädagogisch", son-
dern entsprechen der hier referierten Differenzierung zufolge tendenziell dem
Typus einer "Import-Forschung", präsentieren also von der Sozialpädagogik
zwar rezipierbares empirisches Wissen, sind aber keineswegs genuin sozial-
pädagogisch verfasst. Mit dem Typ einer genuin sozialpädagogischen For-
schung würden sie dann übereinstimmen, wenn sie im Prozess der Forschung
selbst einen sozialpädagogisch kanonisierten Blick auf das Feld entfalten und
hierüber einen erkennbaren und als solchen ausgewiesenen Beitrag zur Beob-
achtung von sozialpädagogischer Praxis, zur disziplinären Ausbuchstabie-
rung, also zur Theorieentwicklung und wissenschaftlichen Fundierung, oder
52 Werner Thole

zur professionellen Entfaltung und damit auch zur reflexiven Selbstbeobach-


tung der Sozialpädagogik akzentuieren. Hiermit wird nicht einer neuen Hier-
archisierung das Wort geredet. Soziologische oder psychologische empiri-
sche Beobachtungen kommen im konkreten Fall möglicherweise nicht weni-
ger Relevanz für das sozialpädagogische Projekt zu als manchen Einzelbe-
funden sozialpädagogischer Forschungen. Dennoch erfüllen diese empiri-
schen Ergebnisse nur dann die Merkmale einer sozialpädagogischen For-
schung, wenn sie bewusst und deutlich herausgebildet zur professionellen
und disziplinären Fassung und Aufklärung der Sozialpädagogik beitragen.
Aber: Die weitere professionelle Profilierung der Sozialpädagogik als wis-
senschaftliche Disziplin wie auch als berufliches Handlungssystem wird nicht
von ihrer Fähigkeit abhängen, Forschungsbefunde zu lesen, sondern wird we-
sentlich darüber bestimmt, ob und inwieweit es gelingt, den Typus einer "so-
zialpädagogisch" prononcierten Forschung schärfer als bisher herauszubilden
und zu etablieren.

3. Die Forschungsfrage, nicht das eigene "Können"


beantwortet die Methodenfrage - Plädoyer für
methodologische Pluralität und Offenheit

Die hier vorgetragene Annahme, wonach erstens gute Argumente dafür spre-
chen, von der Existenz einer eigenständigen sozialpädagogischen Forschung
auszugehen, diese sich jedoch zweitens nicht durch eine neue Meta-Methodo-
logie in Konkurrenz zu den Sozialwissenschaften begründet, sondern über die
punktgenaue thematische Herausarbeitung und Präzisierung des jeweiligen
Forschungsgegenstandes und fundierte Wahl des methodischen Designs, aus-
gewählt aus dem Methodenreservoir der Sozialwissenschaften, ist eben genau
hinsichtlich der methodischen Repertoires zu präzisieren. Insbesondere
scheint dies angemessen, weil von "forschungsfernen", sozialpädagogischen
Konzepten immer noch ein auffälliges Unbehagen gegenüber der konventio-
nellen Sozialforschung auf Grund ihrer demonstrativen Unterstreichung stan-
dardisierter Erhebungsinstrumente signalisiert wird. Mit anderen Worten: So-
zialpädagogischer Forschung wird - zumindest in den vielen praxisorientier-
ten Projekten - eine deutliche Affinität insbesondere zu "qualitativen" Erhe-
bungsformen zugesprochen. Zuweilen wird sogar angenommen, insbesondere
die qualitative Sozialforschung erhält im Mantel der Sozialpädagogik das ihr
eigene Profil (vgl. u.a. Kraimer 1994).
Das Unbehagen gegenüber standardisierten, quantitativen Verfahren war
jedoch zu keiner Zeit Gegenstand einer ausgewiesenen fachlichen Methodenre-
flexion bzw. -debatte, obwohl - historisch betrachtet - Forschungsprojekte zu
Fragestellungen der Sozialen Arbeit im letzten Jahrzehnt deutliche Sympathien
" Wir lassen uns unsere WeItsicht nicht verwirren" 53
für qualitative, induktive Verfahren zeigten und eine wenig begründete und
ausgewiesene Skepsis gegenüber der quantitativen, hypothetisch-deduktiven
Methodologie entwickelten. In der Sozialpädagogik gibt es offensichtlich ähn-
lich wie in der Erziehungswissenschaft Gründe, über die Schwierigkeiten des
Umgangs mit der Entscheidung für oder gegen qualitative oder quantitative
Methoden nachzudenken bzw. ,,Reservate für die Entwicklung und Anwen-
dung dieser Methoden zu fordern" (Prein/Erzberger 2000, S. 344).
Erst im Zuge der sich in jüngster Zeit profilierenden sozialpädagogischen
Forschung, insbesondere als Kinder- und Jugendhilfeforschung, rücken for-
schungsmethodische Fragen dezidiert (vgl. u.a. aktuell Jakob 1997; Lüders
1997) und im Kontext oder als Resultat von konkreten Forschungsprojekten
(vgl. u.a. Haupert 1991; Helsper u.a. 1991; Thole 1991; Nölke 1994; Projekt-
gruppe Jugendhilfe im Umbruch 1994; Thole/Küster-Schapfl 1997) stärker
ins Blickfeld. Über die sich hierüber anzeigende Entwicklung ist die Frage,
inwieweit sich eine eigenständige sozialpädagogische Forschung gegenüber
Projekten und Fragestellungen in Bezug auf andere disziplinäre Forschungs-
zugänge nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch zu profilieren vermag
oder sich nur im Kontext dieser generell ausbuchstabieren lässt, neu auf die
Tagesordnung gesetzt. Gegenüber den tendenziell primär handlungs- respek-
tive aktionsorientierten und praxisevaluierenden Projekten der 1970er Jahre
und den stark an aktuelle, theoretische Fragen angekoppelten Forschungs-
projekten der 1980er Jahre sind die methodischen Vergewisserungen seit der
ersten Hälfte der 1990er Jahre möglicherweise erste Indizien für eine deutli-
chere und selbstvergewissernde Rahmung der methodischen Designs und
Verfahren der neueren Forschungen im Feld der Sozialpädagogik. Neben den
handlungsorientierten Forschungen und text- und sozialgeschichtlich ange-
legten Untersuchungen sind seit diesem Zeitpunkt verstärkt qualitativ orien-
tierte, mit narrativen Verfahren, teilnehmenden Beobachtungen, Verfahren
der Gruppendiskussion und anderen rekonstruktiven Methoden operierende
Projekte (vgl. die Übersichten bei Jakob 1997; Lüders 1997; Schefold 2002)
als auch repräsentativ angelegte, kinder- und jugendhilfeorientierte Panora-
ma- und Längsschnittstudien sowie sekundäranalytische Auswertungsverfah-
ren und kritisch aufarbeitende, theoriegeleitete, felderschließende Studien
(vgl. u.a. Thimm 2000) zu entdecken.
Obgleich ein Ende der Diskussionen um die Adäquatheit qualitativer und
quantitativer Methoden auch in den Sozialwissenschaften noch nicht gänzlich
beendet scheint, der Methodenstreit fortdauert (vgl. u.a. Esser 1987; Hitzler/
Honer 1997; Prein/Erzberger 2000), geht es doch inzwischen nicht mehr so
sehr um weitere Abgrenzungen der unterschiedlichen Forschungsstrategien,
sondern darum, die gewählte methodische Orientierung zu präzisieren und ih-
re Angemessenheit für die gewählten Fragestellungen und die Validität der
erhobenen Wissenskontingente zu belegen (vgl. Schröer 1994; HitzlerlHoner
1997). Diese Ortsbestimmung erlangt auch in der Sozialpädagogik immer
mehr Aufmerksamkeit (vgl. RauschenbachlThole 1998; Thole 1999a). In der
54 Werner Thole

rekonstruktiven, nicht standardisierten qualitativen wie auch der quantitati-


ven, standardisierten, auf Massendaten vertrauenden Sozialforschung ist ne-
ben einer Spezialisierung der methodischen Verfahren auch eine Annäherung
der beiden Paradigmen zu erkennen, forciert insbesondere über die zuneh-
mend von hypothesengenerierenden Methoden abstrahierende und stärker re-
konstruktive, ethnographische Zugänge integrierende und damit Totalitätszu-
sammenhänge herausarbeitende quantitative Sozialforschung. Gleichwohl ist
das Plädoyer für eine ,,Entideologisierung der Methoden" (vgl. PreinJErz-
berger 2000) zu vertiefen und im Kontext von konkreten Forschungsprojek-
ten und den hier entwickelten Fragen zu thematisieren.
Vielleicht etwas unorthodox wird hier die Zu schreibung ,,rekonstruktiv"
nicht als exklusive Codierung für qualitativ orientierte Projekte reserviert und
damit Abschied genommen von der Vorstellung, dass auf quantitative Me-
thoden gestützte Verfahren immer normativ-analytisch und rekonstruktiv-
qualitative Studien orientierte empirisch-analytisch angelegt sind (vgl. Ha-
bermas 1973). Rekonstruktiv benennt Forschungszuschnitte, die der "gesell-
schaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit" (BergerlLuckmann 1980) nach-
spüren, also die Latenzen sowie interne und gesellschaftliche Logik der un-
tersuchten Sachverhalte herausarbeiten, diese - idealtypisch - unter einer
zweifachen Perspektive dechiffrieren und einerseits die gesellschaftlichen
Strukturbedingungen und Vergesellschaftungsformen in den erhobenen Be-
funden zu identifizieren versuchen ohne gleichzeitig - andererseits - zu ver-
gessen, dass sich diese system ischen Parameter auch in den "innersten Zellen
der Subjektivität" (Dubiel 1983) mitteilen. Eine kritische, gesellschaftsanaly-
tische Empirie wird keinen Anlass finden, begründet hinter diese anstrengen-
de Anforderung zurückzufallen, es sei denn, sie befriedigt sich mit der Rolle
affirmativer Akklamation des Beobachteten (vgl. Krügerrrhole 1998).
Gleichwohl ist ihre Realisation im Kontext der konkreten Forschungspraxis
abhängig von den jeweiligen Fragestellungen und methodischen Zugängen
sowie von den Kontingenzen des forschenden Prozesses selbst - deutlicher:
Die forschungs empirische Operationalisierung wird auch bestimmt durch die
jeweils gegebenen forschungsintentionalen und -pragmatischen Möglichkei-
ten und Grenzen, denn es ist unrealistisch, die angedeuteten Dimensionen in
jedem Projekt und bezüglich jeder Fragestellung in aller Breite zu erfassen.
Sekundäranalytische Auswertungen von statistischen Daten ermöglichen
vielleicht noch, die in den Daten sich manifestierende gesellschaftliche Wirk-
lichkeit strukturell zu vergegenwärtigen. Die Verfasstheit der die Daten pro-
duzierenden Subjekte ist jedoch auf Grund der Materialqualität in diesem Fall
nicht rekonstruierbar. Die Datenbasis relativiert die Potenzialität der Rekon-
struktionsebenen und -tiefe forschungsprojektbezogen pragmatisch.
Unbedeutend ist es bezüglich dieses Anspruches, ob die Daten und Mate-
rialien mithilfe quantitativer "Massenuntersuchungen" oder qualitativ erho-
bener Einzelfallstudien gewonnen werden. Rekonstruktiv ist somit kein Sig-
net für einen bestimmten methodischen Forschungszuschnitt, sondern für ei-
" Wir lassen uns unsere Weitsicht nicht verwirren" 55
ne die Totalität der Sache zu erfassen suchende, die gesellschaftlichen Struk-
turbedingungen mit reflektierende und nicht nur auf Oberflächenphänomene
schauende, faktenorientierte Hermeneutik. Deutlicher formuliert, um nicht
missverstanden zu werden: Hiermit ist nicht gemeint, dass etwa Deutungs-
und Handlungsmuster, mit deren Hilfe AkteurInnen ihren Alltag organisieren
und ihre Lebenswelt konstituieren, jetzt plötzlich verteilungsorientiert unter
Verwendung quantitativer Verfahren aufgeschlüsselt werden sollen und kön-
nen. Ebenso wenig ist es andererseits beispielsweise möglich, die gesell-
schaftlichen Ungleichheitsbedingungen und ihre regionale Verteilung mit
qualitativen Methoden in aller Breite zu erheben. Die jeweiligen Fragestel-
lungen operationalisieren die Forschungsmethoden und die hermeneutischen
Intentionen haben zu dokumentieren, inwieweit den Ansprüchen einer rekon-
struktiven Totalitätsperspektive entsprochen wird. Ob sich jedoch rekon-
struktive Zugänge in der quantitativen Sozialforschung durchzusetzen ver-
mögen, ist ungewiss.
Um keine utopischen Botschaften als Wirklichkeit zu stilisieren, können
nach dem bisherigen Stand der Dinge auch zukünftig die traditionell-klassi-
schen Unterschiede zwischen den beiden Paradigmen nicht übersehen wer-
den: Das quantitative Paradigma favorisiert tendenziell eine statische, auf die
Konstitution des Gegenstandes ausgerichtete, das rekonstruktive, qualitative
eine prozess bezogene, dynamische, betroffenenbezogene Realitätssicht; die
Deutung des erhobenen Materials vollzieht sich in der quantitativen Perspek-
tive generalisierend, deduktionistisch und mit dem Ziel der Objektivität, in
der qualitativen verstehend interpretativ, konkret bezogen auf das Material,
induktiv und um die Subjektivität der Deutung wissend; die Forschungsper-
spektive des quantitativen Paradigmas ist distanziert und die Untersuchungs-
perspektive ist auf die Eruierung von Kausalzusammenhängen und Tatsachen
gezielt, im qualitativen Paradigma dominiert eine die Deutungs- und Lebens-
muster der Beforschten verstehend rekonstruierende Forschungsintention und
ein die Totalität des Gegenstands beobachtendes, ganzheitliches Untersu-
chungsziel; und letztlich ist die Theoriegenerierung in der quantitativen Sozi-
alforschung vom empirischen Prozess insofern unabhängig, als dass der For-
schungsprozess lediglich Hypothesen zu verifizieren bzw. falsifizieren, nicht
jedoch zu entwickeln hat, im Gegensatz zur qualitativen, wo die empirische
Feldarbeit selbst Teil der Theorieproduktion ist und theoretische Bezugs-
punkte allenfalls als Forschungshintergrund, nicht jedoch als hypothetische
Konstanten fungieren. Aber - und dieser Aspekt sollte hier herausgeschält
werden - in der quantitativen Methodologie sind Bewegungen in die Rich-
tung offener Fragestellungen und damit partiell rekonstruktiver Perspektiven
zu erkennen (vgl. u.a. Bonß 1982; Thole 1999b; PreinlErzberger 2000). Im
Kern geht es demzufolge um die Stärkung des Profils der jeweiligen metho-
dischen Designs und Paradigmen ohne generalisierende Abwertung des je-
weils anderen Zugriffs, also um die Reklamierung einer gemeinsamen Auf-
klärungshoffnung unter ausgewiesener Akzentuierung der Divergenz, wenn
56 Werner Thole

dem Ziel zugesprochen wird, das sozialpädagogische Forschungsprojekt ins-


gesamt zu stärken. Dieses Diktum impliziert und erfordert allerdings auch,
sich der gegenwärtigen Praxis der quantitativ orientierten und ebenso der
qualitativ ausgerichteten Forschungsbemühungen kritisch zu nähern.

4. Zwischen Selbstblockierung und Hemdsärmligkeit -


Blick in die Praxis

In dem Maße, indem rekonstruktive, qualitative empirische Verfahren inner-


halb der Sozialwissenschaft an Akzeptanz gewinnen, scheinen sie im engeren
disziplinären Diskurs der Sozialpädagogik an Anerkennung und Bedeutung
zu verlieren. Die Suche nach so genannten "brute facts", scheinbar objekti-
vierbaren Daten und Befunden, gewinnt in den fachlichen Diskussionen an
Relevanz, auch um die, insbesondere der Praxis der Sozialen Arbeit zuge-
schriebene Krisenhaftigkeit im öffentlichen Diskurs zu widerlegen. Zuweilen
sprechen sogar gerade diejenigen, die rekonstruktive, qualitative Methoden
bevorzugen, den Ergebnissen quantitativer Studien eine größere Objektivität
zu als den selbst erhobenen Daten, gleichwohl damit einher kein Ausbau der
auf quantitativ-,,harte Empirie" setzenden Projekte zu beobachten ist, sondern
im Gegenteil ein vermehrtes "Setzen" auf rekonstruktive, qualitative Vorha-
ben, auch weil unterstellt wird, sie seien einfacher zu handeln. Übersehen
wird dabei, dass auch quantitativ erhobene Befunde nicht immer Resultat ei-·
ner methodisch sauber und durchplausibilisierten Forschungspraxis sind und
im Kern nicht weniger subjektiven Deutungen unterliegen als die so genann-
ten "weichen" Befunde der rekonstruktiv-qualitativen Empirie.
Gleichwohl soll hier der Blick auf die Grenzen und Schwächen des rekon-
struktiven, qualitativen Forschungsparadigmas beschränkt bleiben. Die vieler-
orts wahrzunehmende Auffassung, rekonstruktive, qualitative Methoden seien
einfacher zu operationalisieren, erforderten weniger an handwerklichem Kön-
nen und wissenschaftstheoretischem Wissen, entzögen sich einer deutlich
konturierten methodischen Standardisierung und seien insgesamt flexibler zu
handhaben, konstituierte eine Forschungskultur in der Sozialen Arbeit - und
nicht nur hier -, die zu methodischen "Unsauberkeiten" neigt und der erhobe-
nen Datenqualität nicht einmal selbst durchgängig vertraut. Diese Bewertung
trägt wesentlich dazu bei, dem quantitativen gegenüber dem rekonstruktiven,
qualitativen Methodenzugang ein höheres Maß an Objektivität zuzusprechen -
vielleicht spielt auch bewusst oder unbewusst eine Rolle, dass nach dem Motto
"wir lassen uns unsere Weitsicht nicht verwirren ... " empirische Erkundungen
nicht durchgehend ergebnisoffenen durchgeführt werden. Die ,,Beobachtung
der Beobachter" (Gängler 1995) - in der Praxis der Forschung, in der Rede
" Wir lassen uns unsere WeItsicht nicht verwirren" 57
über Forschung und der Ausbildung für die Forschung - tendiert in die Rich-
tung einer Bekräftigung dieses Befundes:

• In Bezug auf die aktuelle Forschungspraxis ist ohne denunziatorische,


diskreditierende Absicht - die Verunsicherungsqualität scharfer Kritik
(vgl. u.a. Fritze/Gredig/Wilhelm 2000), zumal wenn sie als überzogen
oder als unberechtigt empfunden wird, ist ebenso bekannt wie das Wohl-
gefühl nach positiven Bezugsetzungen (vgl. Wigger 2000) - festzustel-
len, dass schon die Ortung der Differenz und Komplementarität von Deu-
tungsmuster- und Habitusanalysen, der Unterschied, ob nach den Sinn-
strukturen oder nach den lebensweltlichen Orientierungen, nach dem
biographischen Weg oder nach lebenslaufstützenden Orientierungen ge-
fragt wird beispielsweise entscheidend für die Wahl der rekonstruktiv,
qualitativen Forschungsmethode ist. Die Entscheidung, ob ethnographi-
sche, beobachtende oder phänomenologisch lebensweltbezogene, biogra-
phieanalytische, narrative oder problemzentrierte Interviewtechniken,
Einzel- oder Gruppenbefragungen, Gruppendiskussionen oder Rollen-
spiel gestützte Verfahren zur Anwendung gelangen, hängt von der Pro-
blem- und Fragestellung des Forschungsvorhabens ab. Gleichwohl fällt
die Wahl auf diese oder jene Methode zuweilen willkürlich: Gültigkeits-
kriterien werden missachtet oder mit Bezug auf das konkrete Material
erweitert, narrativ-biographische Zugänge erfolgen in einer standardi-
sierten Form, Auswertungsmethoden werden willkürlich gewählt, ohne
zu prüfen, ob sie in Bezug auf das erhobene Material überhaupt eine Re-
levanz besitzen. Dass Fragen nach der gewählten Auswertungsmethode
zuweilen nur mit "interpretativ" oder "qualitativ" beantwortet werden
und weitere Nachfragen unbeantwortet bleiben, kann nur wenige ver-
wundern und ist nur darüber zu erklären, dass die Unterschiede - aber
auch Gemeinsamkeiten - zwischen phänomenologischen, also tendenzi-
ell dokumentierenden und sinnverstehenden, soziale Handlungsstruktu-
ren rekonstruierenden, also reflektierenden und deutungs-, handlungs-
und tiefenstrukturgenerierenden Auswertungsverfahren (vgl. u.a. Lüdersl
Reicherts 1986; FlicklKardorff/Steinke 2000) unbekannt sind oder aber
als nicht relevant klassifiziert werden. Manchmal drängt sich gar der
Eindruck auf, dass in einer Art Selbstblockierung und Angst vor der ei-
genen Forschungsfrage die Fragestellung über die anvisierte Methode
und nicht die empirische Forschungsmethode über die Fragestellung ge-
steuert wird, also quasi die Methoden die Fragen und Fragerichtungen
einengen, kontrollieren und instrumentalisieren.
Bezüglich des rekonstruktiv-qualitativen Methodemepertoires stehen die
wissenschaftlichen Reflexionen vor dem Problem, erkenntnisleitende
Schneisen in eine noch wenig ausbuchstabierte und durchforstete metho-
denorientierte Diskussionslandschaft zu legen. Das gelingt anscheinend
mit wachsendem Erfolg, denn generell ist wahrzunehmen, dass die me-
58 Werner Thole

thodologischen Reflexionen zunehmend Fragen in den Blick nehmen, die


bis dato auf der Ebene der allgemeinen Forschungspraxis als gelöst gal-
ten. Partiell jedoch stützt die wissenschaftliche Rede über die Forschung
immer noch eine "hemdsärmelige" Forschungspraxis und scheint so den
laxen Umgang mit der Methodenfrage zu fördern. Ethnographische Me-
thoden und Gruppendiskussionsverfahren werden beispielsweise als
"ausgewählte Methoden der Datenerhebung" der Biographieforschung
vorgestellt (vgl. Marotzki 1999, S. 115) oder aber die Ethnographiefor-
schung wird mit dem gesamten, vielfältig strukturierten Feld der rekon-
struktiven, qualitativen Forschung gleichgesetzt (vgl. Knoblauch 2001, S.
123) - trotz der vielfach kommunizierten Erkenntnis, "dass mit den Be-
griffen Ethnographie und Biographieforschung ( ... ) doch zwei sehr unter-
schiedliche methodische Welten umrissen werden" (Lüders 1999, S.
136). Vor diesem Hintergrund tragen methodologische Reflexionen
möglicherweise zu der zuvor beklagten Herausbildung einer nicht immer
methodensicheren Forschungspraxis bei.
• Die Defizite in der forschungsmethodologischen Ausbildung - auch hin-
sichtlich der Einübung qualitativ-rekonstruktiver Verfahren - sind allge-
mein bekannt, so dass die hier erneute Feststellung, dass die methodische
Ausbildung in den erziehungs wissenschaftlichen und sozialarbeitsfeldbe-
zogenen Studiengängen keineswegs durchgängig und überall eine wich-
tige Rolle spielt (vgl. u.a. Zinnecker 1993; Krüger 1996; Jacobi 1998),
kaum Verwunderung hervorrufen wird. In gewisser Weise stehen hierfür
die Diskussionen um das erziehungswissenschaftliche Kerncurriculum
exemplarisch. In einem Beitrag zur "gegenwärtigen Situation des Aus-
bildungswissens" diskutiert L. Wigger (1999) beispielsweise die Unbe-
stimmtheit des anzueignenden Wissens, die Unverbindlichkeit des Lehr-
angebots und die Rolle der ins Studium eingelagerten Praktika, nicht aber
die Relevanz der Einübung empirischer Verfahren. Dabei ist die Situati-
on nicht einmal den curricularen, in den Prüfungs- und Studienordnun-
gen fixierten Rahmenstrukturen zu überantworten. In den erziehungswis-
senschaftlichen Hauptfachstudiengängen werden in den inzwischen 15
Jahre alten, aber seitdem nicht reformierten Erläuterungen zur Rahmen-
prüfungsordnung für das Grundstudium vier Semesterwochenstunden
Statistik und weitere sechs Semesterwochenstunden für die Einübung
empirischer Methoden unter pädagogischen Fragestellungen empfohlen.
Im Hauptstudium sollen je zwei Methodenseminare allgemeiner Art und
in der gewählten Studienrichtung weitere vier Semesterwochenstunden
zu forschungsmethodologischen Fragen von den Studierenden belegt
werden können. An den Universitäten - und neuerdings auch in den Prü-
fungs- und Studien ordnungen vieler sozialpädagogischer Fachhochschul-
studiengänge - findet die Ausbildung in empirischen Forschungsmetho-
den strukturell also schon eine Verankerung. Die Praxis zeigt allerdings
ein anderes Bild. Lehrveranstaltungen in empirischen Forschungsmetho-
" Wir lassen uns unsere Weitsicht nicht verwirren" 59
den werden in vielen erziehungswissenschaftlichen Hauptfachstudien-
gängen nur im Grundstudium verpflichtend vorgeschrieben, und allge-
mein realisieren diese kaum mehr als die Möglichkeit, mit dem Spektrum
empirischer Methodologie einführend bekannt zu werden (vgl. u.a. Abel
1995). Diese Realität wird auch in den sozialpädagogischen Studien-
schwerpunkten nicht gebrochen, im Gegenteil sogar noch unterlaufen.
Auch wenn vielerorts der Einführung in die Methodologie empirischer
Verfahren mehr Aufmerksamkeit zuteil wird, allgemein die Bedeutung
der Einübung von Erhebungs- und Auswertungsverfahren betont wird,
bleibt deren konkrete Implementierung in den Studiengängen auf einem
unterkomplexen Niveau. Dies betrifft auch und insbesondere rekonstruk-
tive, qualitative Methoden. Die Komplexität und Vielfalt der rekonstruk-
tiv-qualitativen Methodologie werden beispielsweise dann, wenn Studie-
rende in ihrer Studienabschlussphase mit ihr konfrontiert werden, nicht
gesehen. Sogar bei Dissertationsprojekten wird der forschungsmethodi-
schen Absicherung der Fragestellungen nur wenig Aufmerksamkeit ge-
schenkt. Wer kennt nicht den Hinweis, und wenn auch nur als Flurge-
sprächsfloskel, "Wenn Sie keine Forschungserfahrungen haben, dann
machen Sie das doch qualitativ ... ?" Fragen nach einer angemessenen
methodologischen Operationalisierung der Forschungsfrage werden im
hochschulischen Alltag zuweilen damit beantwortet, dass die Methoden-
frage
sich bei einer soliden Fragestellung von selbst löst,
• von den wesentlich wichtigeren, theoretischen Implikationen ablenkt,
• doch nur der Legitimation dient oder
aber egal ist, weil auf Grund des "subjektiven" Status der rekonstruk-
tiven, qualitativen Verfahren diese sowieso nicht von Relevanz ist.
Die Antworten werden von Studierenden gerne gehört, befreien diese sie
doch häufig von einer bis in die Studienendphase hinein verschobenen, in-
tensiveren Beschäftigung mit empirischen Verfahren. Sie dokumentieren
aber auch die rudimentäre Aufmerksamkeit gegenüber der methodischen
Absicherung empirischer Untersuchungen. Die Einführung und die Ein-
übung in forschungsmethodologische Fragestellungen im Kontext des so-
zialpädagogischen Kernangebotes an Universitäten und Fachhochschulen
sind über weite Strecken katastrophal und werden auch über die Wahl-
pflicht-, Ergänzungs- und studierten Zweitfächer kaum ausgeglichen. Die
geringe Zahl in Forschungsmethoden qualifizierter KollegInnen kann so
kaum verwundern. In der disziplinären Zunft der Sozialpädagogik erfährt
das Problem der forschungsmethodologischen Absicherung kaum Beach-
tung, gleichwohl auf den offiziellen Bühnen niemand öffentlich eingeste-
hen würde, dass ihn die Diskussion und Beschäftigung mit den methodi-
schen Grundlegungen empirischer Arbeiten keinesfalls ebenso intellektuell
fordert wie die Frage nach dem richtigen theoretischen Grundparadigma
für die Sozialpädagogik. In der Regel sind es, wenn überhaupt, jüngere
60 Werner Thole

KollegInnen, die den ,,Nachwuchs" auf forschungsmethodische Problem-


stellungen ihrer Qualifizierungsprojekte hinweisen oder diese mit ihren
immer neuen Hinweisen auf methodische Uneindeutigkeiten der Projekte
,,nerven". Wenn diese Eindrücke aus dem Hochschulalltag nicht an der
Wirklichkeit vorbeizielen, bliebt nur zu konstatieren, dass einerseits Unsi-
cherheit darüber besteht, welche Fragestellung mit welcher empirischen
Methode bestmöglich beantwortet werden kann, und andererseits das Di-
lemma einer nicht vollständig ausgebildeten, hemdsärmelig gestrickten
Methodenkompetenz weiterhin existiert.

Die Herausbildung einer breiten sozialpädagogischen und erziehungswissen-


schaftlichen Forschungslandschaft bedarf einer methodenreflexiveren Anlage
der Forschungsprojekte und eines zuweilen methodenvertrauteren, auch über
einzelne Projekte fundierten, interdisziplinär ausgerichteten Methodendiskur-
ses. Unabdingbar hierfür ist die Intensivierung der forschungsmethodologi-
schen Ausbildung im Kontext der für die pädagogischen Handlungsfelder
qualifizierenden akademischen Studiengänge (vgl. Zinnecker 1993; Krüger
1996; Jacobi 1998; Otto 1998), also beispielsweise eine

verlässliche, qualifizierte Einführung und Einübung in rekonstruktive,


qualitative, aber auch in quantitative Methoden,
kompetente Aufklärung über die Möglichkeiten und Grenzen der unter-
schiedlichen quantitativen und rekonstruktiven, qualitativen Verfahren
sowie
Informationen über die innere Differenzierung des rekonstruktiven, qua-
litativen, aber auch quantitativen Methodenspektrums.

Damit ist kein Defizit reklamiert, welches nur die Soziale Arbeit alleine be-
trifft. In den Erziehungswissenschaften insgesamt mangelt es an einem breit
etablierten ,,Ritus der akademischen Selbst-Initiation" (Zinnecker 2000, S.
393) in die Forschungskultur des Faches. Solange diese sich nicht herausbil-
det, wird die Forschung insgesamt und die rekonstruktiv qualitative For-
schung im Konkreten innerhalb der Sozialen Arbeit aus einer doch mehr oder
weniger gut situierten Exotenrolle nicht herauskommen. Wünscht sie die
Würdigung zu erlangen, die die einschlägige Grundlagenforschung heute
schon genießt, ist sie angehalten, ihre grundsätzliche Skepsis gegenüber der
Qualität der erhobenen Daten nicht nur programmatisch zu bekunden, son-
dern auch belegend zu entwickeln (vgl. Honer 1993). Und dazu hat sie in der
Forschungspraxis wie -reflexion und -ausbildung ihre methodologischen
Hausaufgaben zu erledigen - sonst bleibt es bei einer fragwürdigen, unplausi-
bilisierten ,,hemdsärmeligen Praxis".
"Wir lassen uns unsere Weitsicht nicht verwirren" 61

5. Plädoyer für die Formulierung von Qualitätsstandards -


Schlussbemerkung

Die Profilierung des sozialpädagogischen Forschungsprojekts und der unter-


schiedlichen Forschungsmethoden ist an konkrete Forschungsprojekte ge-
bunden (vgl. Thole 1999a). Der methodische Zuschnitt vieler Projekte ist
bislang in der Breite noch sehr undifferenziert und zufällig und zuweilen
wird die beobachtete und rekonstruktiv erschlossene Wirklichkeit noch als
reale und nicht als interpretativ erschlossene identifiziert. Dass empirische
Blicke keine eindeutigen Wirklichkeiten hervorbringen, weil Prozesse gesell-
schaftlicher Empirieproduktion, wenn auch nicht beliebig, so doch zumindest
mehrdeutig sind (vgl. Bonß 1982, S. 54), ist als Wissen innerhalb der Sozial-
pädagogik zu revitalisieren und könnte die Methodendiskussion entpolarisie-
ren und in ihrer Rationalität stärken. In diesem Zusammenhang ist auch die
Frage nach den Standards, der Güte und den Gütekriterien (Qualitätskriteri-
en) zu dynamisieren. Ohne normativen und standardisierenden Operationali-
sierungen den Weg zu ebnen, spricht vieles dafür, sozialpädagogischen For-
schungsprojekten mit einem rekonstruktiven, qualitativen Zuschnitt zu emp-
fehlen - wenn nicht sogar aufzuerlegen -, mindestens

• ihre Gültigkeit zu explizieren und den Nachweis vorzulegen, für welchen


Beobachtungsbereich die erhobenen Befunde von Relevanz sind, also
präzise zu berichten, für welchen Gegenstands- und sozialpädagogischen
Feldbereich die referierten Ergebnisse eine Geltung beanspruchen - und
das heißt gegebenenfalls auch auszuweisen, dass die Forschung zu gene-
ralisierenden Perspektiven keinen Anlass bietet,
das erhobene Material zu dokumentieren und die Plausibilität und
Glaubwürdigkeit der hermeneutischen, interpretativen beziehungsweise
rekonstruktiven Aufarbeitungsschritte zu belegen und sich darüber für
kritische Nachfragen zu öffnen und diese auch zu provozieren,
• ihre forschungsmethodologische Zuständigkeit, Kompetenz sowie An-
gemessenheit in Bezug auf die Fragestellung und das Erhebungsfeld
deutlich herauszustellen, das heißt auch, zu dokumentieren und zu disku-
tieren, dass sich die Wahl der Forschungsmethoden in einer dem Gegen-
stand angemessenen und zutreffenden Art und Weise begründet,
das Material authentisch zu repräsentieren, also die in den Blick genom-
menen Subjekte in der Monographisierung der Ergebnisse in einer ange-
messenen Form zu präsentieren und "sprechen" zu lassen, die Subjekte der
Forschung also nicht zu Objekten der wissenschaftlichen Selbstdarstellung
zu verfremden,
• die Relevanz der Befunde im Kontrast zu anderen, auch widersprechen-
den Diskursen und Ergebnissen komparativ und forschungskritisch zu
diskutieren sowie
62 Werner Thole

• die Limitation der Beobachtung deutlich auszuweisen und nicht spekula-


tiv zu erweitern und damit ihrer Authentizität, Gültigkeit, Glaubwürdig-
keit und Plausibilität zu enteignen, aber auch anzuzeigen, inwieweit die
Befunde geeignet sind, theoretisch verdichtet zu werden und das Projekt
der Entwicklung einer sozialpädagogischen Theorie fruchtbar abfedern.

Im Kern plädieren diese Mindeststandards für eine souveräne, die Kompetenz


sozialpädagogischer, rekonstruktiv qualitativer Beobachtungen deutlicher und
kritischer kommunizierende, die Diskursmöglichkeiten stärker kooperativ nut-
zende und auf selbstabschottende Eitelkeiten verzichtende sozialpädagogische
Forschung. Generell ist damit allerdings die Frage nicht von der Tagesordnung
abgesetzt, die thematisiert, ob und inwieweit sich eine eigenständige sozialpäd-
agogische Forschung gegenüber Projekten und Fragestellungen in anderen
pädagogischen Handlungsfeldern und anderen disziplinären Forschungstradi-
tionen inhaltlich und methodisch profilieren kann oder sich nur im Kontext ei-
ner generellen pädagogischen beziehungsweise sozialwissenschaftlichen For-
schung ausbuchstabieren lässt.
Das Selbstverständnis sozialpädagogischer Forschung und insbesondere
jenes rekonstruktiv-qualitativen Provenienz steht weiterhin auf wackligem
Grund und ist trotz der durchaus erkennbaren, unbestreitbaren Fortschritte
entwicklungsbedürftig. Ihre Ausbaufähigkeit wird sie beschleunigen können,
wenn sie lernt, ihre Weitsicht auch durch empirische Befunde zu irritieren.
Gleichwohl wird sie aber ein Kunstbegriff bleiben, wenn es ihr nicht gelingt,
sich nach Innen in die sozialpädagogischen Diskussionen mit einem eigen-
ständigen Blick auf die Wirklichkeit rational und mit plausiblen empirischen
Argumenten noch stärker einzumischen und sich nach Außen als kompeten-
ter, also kommunikationsfähiger Diskutant im Konzert der sozialwissen-
schaftlichen Diskurse darzustellen.

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Hans-Jürgen von Wensierski

Rekonstruktive Sozialpädagogik im intermediären Feld


eines Wissenschaft -Praxis-Diskurses
Das Beispiel Praxisforschung

Die qualitative Forschung kann innerhalb der Sozialarbeit und Sozialpädago-


gik auf eine lange Tradition zurückblicken. Seit den Anfängen einer wissen-
schaftlichen Analyse und Reflexion sozialpädagogischer Handlungsfelder
lassen sich solche fallanalytischen und interpretativ-verstehenden Zugänge
ausmachen. Im Gefolge der erfolgreichen Renaissance insbesondere der sozi-
alwissenschaftlichen Ansätze qualitativer Forschung im Kontext von oral hi-
story, Biographieforschung und ethnographischen Verfahren seit Ende der
70er Jahre haben sich auch innerhalb der Sozialarbeit und Sozialpädagogik
die methodologischen Debatten und empirischen Studien in diesem Bereich
vervielfacht. Auffällig ist dabei, dass in diesem Zusammenhang die qualitati-
ve Methodologie innerhalb der Sozialen Arbeit nicht nur im Kontext von
Forschungsmethoden empirischer Sozialforschung reges Interesse fand. Im
Anschluss an die einschlägigen Professionalisierungsdebatten insbesondere
der 80er Jahren erschien es auch lohnend zu fragen, ob sich die fachlichen
und methodischen Verfahren, Kenntnisse und Kompetenzen des Sinnverste-
hens, der Fallanalyse und des ethnographischen Fremdverstehens, wie sie in
der Ausbildung als Sozialforscher Anwendung finden, nicht auch erfolgver-
sprechend für die sozialpädagogische Praxis nutzen lassen. Der Hintergrund
für diese Frage ergab sich insbesondere aus dem Befund struktureller Analo-
gien zwischen dem qualitativen Forschungszugang und der sozialarbeiteri-
schen Praxis, wobei mit dieser These keineswegs die prinzipiell unterschied-
lichen Handlungslogiken im Wissenschaftssystem einerseits und im Hand-
lungsfeld Sozialer Arbeit andererseits negiert wurden (vgl. Lüders 1999).
Burkhard Müller (2001) hat jüngst noch einmal in systematischer Form die
These von der Wahlverwandtschaft zwischen Sozialforschung und pädago-
gischer Praxis diskutiert (vgl. Müller 2001).
Unter dem Begriff ,,Rekonstruktive Sozialpädagogik" haben Jakob/v.
Wensierski (1997) die bis dahin bereits in vielschichtigen Facetten vorliegen-
den Arbeiten und Konzepte in einem Sammelband zusammengebunden. Dabei
ging es nicht nur darum, auf den historischen Kontext, die Entwicklungslinien
und die interdisziplinären Traditionen dieses Zusammenhangs von rekonstruk-
tiven Methoden und Sozialer Arbeit hinzuweisen. Vielmehr bietet sich unter
68 Hans-Jürgen von Wensierski

dem Begriff der "Rekonstruktiven Sozialpädagogik" ein vielversprechender


Diskurs an, der einerseits eingebettet ist in die Diskussion um Profession und
Disziplinentwicklung der Sozialpädagogik, andererseits aber auch anschlussfä-
hig ist an die empirische sozialpädagogische Forschung und deren Methoden-
diskussion wie auch an die Weiterentwicklung des beruflichen Methodenset-
tings der Sozialen Arbeit im Bereich der diagnostischen, fallanalytischen,
(selbst)evaluativen und selbstreflexiven Anforderungen in den sozialpädagogi-
schen Handlungsfeldern (vgl. Jakob/v. Wensierski 1997).
Vor dem Hintergrund einer so skizzierten Vielschichtigkeit des Begriffs
ist allerdings gleich zu Beginn meiner Darstellung eine Selbstbegrenzung
durch eine Einordnung des Konzepts in den Gesamtkontext sozialpädagogi-
scher Forschung angezeigt. Die qualitativen Forschungsstrategien bedeuten
für die Aufgabenfelder, die Problemstellungen, die sozialen Prozesse und die
Konzeptentwicklung der Sozialen Arbeit einen zentralen und unhintergehba-
ren Fokus sozialpädagogischer Forschung. Gleichwohl bilden sie nur einen
begrenzten Ausschnitt der sozialen Wirklichkeit in der Sozialen Arbeit ab.
Ausgeblendet werden hier sowohl makrosoziologische Prozesse und gesamt-
gesellschaftliche Entwicklungen, die sich insbesondere in der quantitativen
Verteilung sozialer Einheiten (Armutsentwicklung, Einkommensentwick-
lung, Verteilungsgerechtigkeit, soziale Ungleichheiten) widerspiegeln ebenso
wie die makrosoziologischen Strukturzusammenhänge gesellschaftlicher Mo-
demisierungsprozesse: etwa demographische Prozesse, ökonomische und
politische Globalisierungsprozesse oder der Strukturwandel sozialstaatlicher
Steuerungsinstrumente. Ausgeblendet werden im Kontext qualitativer For-
schung nicht zuletzt auch historische Prozesse im Zusammenwirken von
Struktur-, Sozial- und Kulturgeschichte und ihre Auswirkungen auf den So-
zialen Wandel im Kontext der Sozialen Arbeit.

Soziale Arbeit als Gegenstandsfeld einer rekonstruktiven


Sozialpädagogik

Das zentrale Thema der Sozialen Arbeit als Wissenschaft und Handlungssy-
stem ist die Frage: Wie und mit welchen sozialen und institutionellen Formen
und Konzepten ist eine sozialstaatlich organisierte demokratische Gesell-
schaft möglich?
Die so fokussierte ThemensteIlung macht zugleich auf das Apriori wie
auf die Zielstellung der Sozialen Arbeit aufmerksam. Sie ist als Wissen-
schafts- und Institutionensystem unauflösbar an die Existenz des modemen
und demokratischen Sozialstaats gebunden und stets auf ihn bezogen. Aller-
dings setzt sie nicht den Sozialstaat mit der Gesellschaft gleich. Der Sozial-
staat ist das Instrument zur Herstellung und Sicherung einer demokratischen
Rekonstruktive Sozialpädagogik 69
und tendenziell sozial gerechten Gesellschaft. Die in dieser Definition an-
klingende Objektstellung ist dabei wechselseitig. Der Sozialstaat ist der So-
zialen Arbeit Instrument, insofern ihre Aufgabenstellungen historisch nicht
erst durch sozialstaatliche Strukturen entstanden sind, sondern vorgängige
soziale und gesellschaftliche Problem- und Notlagen im Gefolge gesell-
schaftlicher Modernisierungsprozesse und nicht zuletzt unter dem Einfluss
sozialer Bewegungen die Soziale Arbeit im Verlauf des 19. Jahrhunderts her-
vorbrachten, institutionalisierten und professionalisierten. Im Gegenzug ist
die Soziale Arbeit aber auch das Instrument des Sozial staats, als die sozialen
Dienste im Prozess der Durchsetzung und Konsolidierung des modemen de-
mokratischen Verfassungsstaates als institutionelle Garanten einer sozialen
Ordnung zunehmend verrechtlicht und verwissenschaftlicht wurden.
Die Aufgabenstellung der Sozialen Arbeit, ihre Handlungsfelder und ihre
AdressatInnen leiten sich aus eben dieser Verwurzelung im modemen demo-
kratischen Verfassungs staat und seiner sozialen Gesellschaftsordnung ab, und
zwar auf drei Ebenen:

• Auf der Ebene der Individuen - als Frage nach den Biographien und Bil-
dungsprozessen
• Auf der Ebene der sozialen Lebenslagen - als Frage nach den sozialen
und institutionalisierten Beziehungsformen und kulturellen Ausdrucks-
formen
• Auf der Ebene der sozialstaatlichen Strukturen als Frage nach der Sozial-
ordnung und Sozialpolitik

Für jede dieser drei Ebenen rekurriert die Soziale Arbeit dabei auf eine spezi-
fische Bezugswissenschaft: für die Ebene der Individuen und die Gestaltung
ihrer Biographien und Bildungsprozesse auf die Pädagogik, für die gesell-
schaftlichen Lebenslagen auf die Soziologie und für die Ebene der sozial-
staatlichen Strukturen auf die Sozialpolitik. Für die Frage des Wissenschafts-
charakters und des Forschungsprogramms der Sozialen Arbeit bedeutet das,
dass ihr Bezugssystem interdisziplinär - eben sozialwissenschaftlich ist. Die
Eigenständigkeit und Autonomie der Sozialen Arbeit als Wissenschaftsdiszi-
plin ergeben sich auf dieser Basis gleichwohl aus ihrer exklusiven Aufgabe,
den Zusammenhang zwischen diesen drei Ebenen unter dem Gesichtspunkt
sozialer, ziviler und politischer Bürgerrechte theoretisch zu reflektieren,
Handlungsstrukturen für jede dieser drei Ebenen zu schaffen und diese in ei-
nem sozialen Netzwerk der Institutionen und Praxisfelder der Sozialen Arbeit
zusammenzubinden und untereinander zu koordinieren - und zwar im Blick
auf das Handlungssystem der Sozialen Arbeit, seine Aufgabenstellungen,
AdressatInnen, seine methodischen und institutionellen Anforderungen, seine
Systematik und Professionalität. Gegenstandsfeld der Sozialen Arbeit sind
damit nicht nur die empirisch vorfindlichen Praxisfelder, sondern die im Sin-
ne ihrer programmatischen Zielstellung notwendigen und sinnvollen.
70 Hans-Jürgen von Wensierski

Damit ist zugleich die Frage nach der Reichweite und Zuständigkeit So-
zialer Arbeit in der modernen Gesellschaft angesprochen. Soziale Arbeit ist
nicht die Metainstanz für das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft
und sie kann auch keine Allzuständigkeit für die Lebensführung in modernen
Gesellschaften schlechthin beanspruchen. Ihre Zuständigkeit leitet sich viel-
mehr aus den bürgerrechtlichen Postulaten des demokratischen Sozialstaates
ab: Es ist die Quintessenz moderner demokratischer Sozialstaaten, dass die
Garantie der Bürgerrechte und die Zivilität des gesellschaftlichen Gesamtzu-
sammenhangs auf dem Ziel der Chancengleichheit qua Bildungsprozessen,
auf der gestaltenden sozialen Sicherung der ökonomischen, sozialen und
kulturellen Partizipation pluralistischer Lebenslagen sowie auf dem gesell-
schaftlichen Interessenausgleich qua politischer Partizipation fußt.
Hervorstechendes Merkmal der Sozialen Arbeit ist heute die Entstruktu-
rierung ihrer Aufgabenfelder und institutionellen Zuständigkeiten. Die Aus-
differenzierungsprozesse moderner Gesellschaften haben mit der verfas-
sungsmäßigen Verankerung eines demokratischen Sozialstaatsgebots die öf-
fentlich verhandelten Gerechtigkeitsfragen und Gerechtigkeitsprobleme in-
nerhalb der gesellschaftlichen Organisation ungeheuer vergrößert - neben
Fragen der Armut und Marginalisierung treten zunehmend die Aspekte: Ge-
schlecht, Arbeit, Bildung, Behinderung, Krankheit, Sexualität, Ethnie, Kul-
tur, Generation, Alter, Familie, Gewaltstrukturen usw. in den Fokus gesell-
schaftlicher Debatten. Hierin vor allem - und nicht allein in den sozioökono-
mischen Individualisierungsprozessen - liegt der Grund für die parallel dazu
verlaufende Ausdifferenzierung und Entstrukturierung der Sozialen Arbeit
und ihrer Zuständigkeiten. Es ist die politische Skandalisierung und öffentli-
che Thematisierung von Gerechtigkeitsproblemen, die die Zuständigkeit und
Aufgabenstellung der Sozialen Arbeit bestimmen und tendenziell entgrenzen.
Insofern sind auch die Debatten um die Krise und den Umbau des Sozial-
staats nicht per se Ausdruck für dessen Auflösung und damit Menetekel für
ein drohendes Ende auch der Sozialen Arbeit (Winkler 1988, S. 227ff.). Im
Gegenteil sind diese Diskussionen die notwendige Konsequenz einer reflexi-
ven Modernisierung, in der die Diskussion von Gerechtigkeitsproblemen
auch auf die konzeptionellen und bürokratischen Instrumente sozialstaatli-
cher Regulative selbst bezogen werden.
Im seI ben Maße, wie solche Gerechtigkeitsprobleme durch sozialstaatli-
che Gestaltungsprozesse bearbeitbar erscheinen, verändern, verlagern, er-
weitern und vervielfältigen sich auch die Aufgabenstellungen der Sozialen
Arbeit. Das bedeutet aber keineswegs eine universelle sozialpädagogische
Rundumversorgung aller Bevölkerungsgruppen entlang des gesamten Le-
benslaufs und quer durch alle Lebenslagen. Eine Normalisierung der Sozialen
Arbeit lässt sich deshalb weniger in einem empirischen als in einem pro-
grammatischen Sinne konstatieren: Potenziell können alle Bereiche der Bil-
dung, des Sozialen und des Lebenslaufs heute zu Themen und Aufgaben-
steIlungen Sozialer Arbeit werden, insoweit in ihnen zentrale Fragen des so-
Rekonstruktive Sozialpädagogik 71

zialstaatlichen Gerechtigkeitsproblems zum Gegenstand öffentlicher Ver-


handlung werden.
Mit dieser faktischen Entstrukturierung ihrer Zuständigkeit ist allerdings
de facto keine ungebremste Inflation sozialarbeiterischer Institutionen oder
Handlungsfelder verbunden. Die gleichermaßen politisch wie fachlich ge-
führte kritisch-selbstreflexive Vergewisserung über die Struktur und Reich-
weite des Sozialstaats und seiner Handlungsinstrumente zeigt vielmehr die
Existenz auch von immanenten Korrektiven auf. Gleichzeitig bedeutet Ent-
strukturierung der Sozialen Arbeit komplementär dazu aber auch strukturelle
Veränderungen in den angrenzenden Teilsystemen des Erziehungs-, Bil-
dungs-, Gesundheits-, Sozial- und Politiksystems. Die fachliche und politi-
sche Thematisierung sozialstaatlicher Gerechtigkeitsfragen für den gesamten
Bereich der modernen Lebensführung hat hier die einzelnen bisher weitge-
hend voneinander getrennten Bereiche zunehmend miteinander verzahnt.
Sichtbar wird daran insbesondere, dass die historisch im Zuge von Industria-
lisierung und Erster Moderne gewachsene traditionelle institutionelle Struk-
tur von Staat und Gesellschaft sich zunehmend verflüssigt. Das Beispiel des
Erziehungs- und Bildungssystems mit den traditionellen Säulen Familie,
Schule, Berufsbildung und Sozialpädagogik lässt schon heute sichtbar wer-
den, wie sich unter dem Eindruck von institutionellen Strukturproblemen und
sozialstaatlichen Gerechtigkeitsfragen diese Erziehungs- und Bildungsinstan-
zen mit ihren ursprünglich deutlich unterschiedlichen Aufgabenstellungen
zunehmend miteinander verzahnen. Stichworte sind hier etwa: Sozialpädago-
gische Schule, Schulsozialarbeit, Jugendberufshilfe, Jugendsozialarbeit, Ju-
gendbildung, Erziehungs- und Familienhilfen.
Was bedeuten diese Befunde für eine rekonstruktive Sozialpädagogik?
Der komplexe Gesamtzusammenhang der Sozialen Arbeit als Wissenschafts-
und Handlungssystem lässt sich heute kaum noch in ein einheitliches Theo-
riegebäude fassen, das einerseits eingebettet ist in eine umfassende Gesell-
schaftstheorie, andererseits ein umfassendes Konzept von den sozialpädago-
gischen Problemen, Begriffen und dem sozialpädagogischen Handeln ent-
wirft.
Auch sind heute keine makrotheoretischen Gesellschaftsentwürfe mehr
vorstellbar, die sich bis auf die Ebene der lokalen Lebenswelten, der sozialen
Interaktionsprozesse und der sozialen Sinnwelten der Individuen hinunterde-
klinieren lassen. Gesellschaftstheoretischen Entwürfen wie auch einer diszi-
plinspezifischen Theorie kommt heute mehr denn je der Charakter makro-
theoretischer Rahmenentwürfe zu, deren Evidenz sich stets an dem patch-
workartigen Eklektizismus empirischer Mikrostudien von allenfalls mittlerer
Reichweite bewähren muss. Gerade die Heterogenität, Widersprüchlichkeit
und Empirieabstinenz der systemtheoretischen Bemühungen für die Soziale
Arbeit belegen seit einiger Zeit eindrucksvoll, dass sich die Qualität und
Funktionalität gesellschafts- und makro theoretischer Entwürfe auch in der
Sozialen Arbeit heute nicht mehr an der widerspruchslosen Stimmigkeit eines
72 Hans-Jürgen von Wensierski

überkomplexen Begriffsinstrumentariums erweist, als vielmehr an der Fähig-


keit, plausible Deutungs- und Erklärungsmuster zur Verfügung zu stellen, die
sich an der empirischen Wirklichkeit sozialer Lebenswelten überprüfen las-
sen und die gleichzeitig offen sind für Irritationen durch die Eigensinnigkeit
sozialer und subjektiver SinnweIten und damit auch offen für die Kontingenz
sozialer Prozesse und sozialen Wandels.
Hier setzen die Verfahren einer rekonstruktiven Sozialpädagogik an, und
zwar sowohl auf der Ebene einer theoriegenerierenden empirischen For-
schung wie auch auf der Ebene einer kritischen Selbstreflexion der sozialar-
beiterischen Praxis und des sozialarbeiterischen Handeins.

Zum Begriff der rekonstruktiven Sozialpädagogik

,,Der Begriff der Rekonstruktiven Sozialpädagogik zielt auf den Zusammen-


hang all jener methodischen Bemühungen im Bereich der Sozialen Arbeit,
denen es um das Verstehen und die Interpretation der Wirklichkeit als einer
von handelnden Subjekten sinnhaft konstruierten und intersubjektiv vermit-
telten Wirklichkeit geht" (v. WensierskilJakob 1997, S. 9). Die empirische
Wirklichkeit der Sozialen Arbeit gilt in dieser Perspektive als soziale Welt,
deren Strukturen wesentlich durch die Sinnkonstruktionen der in ihr handeln-
den Menschen bestimmt sind. Rekonstruiert werden also die strukturellen
Voraussetzungen, die Verfahren, die Regeln und die Konstitutionsbedingun-
gen, mit denen die Menschen als Akteure in sozialen Situationen und Inter-
aktionen Wirklichkeit herstellen und behaupten. Gegenstandsbereiche der re-
konstruktiven Sozialpädagogik sind die Analysen der sozialen Räume, der
sozialen Handlungen und der sozialen Prozesse im Kontext sozialpädagogi-
scher Themen und Handlungsfelder. Auch wenn Biographien mit ihren le-
bensgeschichtlichen Prozessstrukturen, ihren Bildungsprozessen und der
Herausbildung biographischer Identität de facto einen Schwerpunkt dieses
empirischen Forschungsbereichs bilden, sind die Gegenstände einer solchen
rekonstruktiven Perspektive keineswegs auf biographische Dimensionen be-
schränkt. Rekonstruktive Verfahren erfassen vielmehr ein umfassendes
Spektrum alltäglicher und lebensweltlicher Sozialstrukturen, sozialer und
kultureller Wissenssysteme, professioneller Wissens- und Handlungskon-
zepte sowie die institutionalisierten Strukturen sozialer Handlungsräume.
Sieht man sich das Spektrum der theoretischen und methodologischen
Zugänge innerhalb einer solchen rekonstruktiven und fall analytischen Sozia-
len Arbeit an, dann lässt sich ein vielschichtiges Spektrum an Verfahren
ausmachen. Systematisch sind dabei wohl vier Traditionslinien unterscheid-
bar: Die psychoanalytische Pädagogik, die sozialpädagogische und sozialar-
beiterische Kasuistik, die Aktions- und Handlungsforschung sowie die ver-
Rekonstruktive Sozialpädagogik 73
schiedenen Strömungen aus dem Kontext des so genannten Interpretativen
Paradigmas (vgl. v. Wensierski 1997, S. 77ff.). Auch wenn bisweilen die Plu-
ralität und Interdisziplinarität dieser forschungsmethodischen Bezüge als In-
diz .für das Fehlen einer disziplinspezifischen sozialpädagogischen Metho-
dologie beklagt wird, so scheint mir im Blick auf die Forschungsgeschichte
der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, dass offenbar erst die Pluralität der
forschungsmethodischen Zugänge auch der Vielschichtigkeit des ausdiffe-
renzierten Wissenschafts- und Handlungsfeldes der Sozialen Arbeit gerecht
zu werden vermag. Allerdings fallt die Bedeutung der einzelnen Linien für
den Gesamtzusammenhang einer rekonstruktiven Sozialpädagogik jeweils
spezifisch aus. So haben sich die psychoanalytischen Zugriffe in der Sozial-
pädagogik weniger als empirische Forschungsansätze durchsetzen können,
als dass sie insbesondere fruchtbar waren für die professionelle Reflexion
unbewusster Strukturen in der Erziehungssituation oder im Arbeitsbündnis
zwischen KlientIn und SozialarbeiterIn. Auch theoretische Modelle zur Pro-
fessionalisierung der sozialarbeiterischen Berufsrolle wurden von hier nach-
haltig beeinflusst (vgl. Müller 1991). Ähnliche Befunde lassen sich für die
sozialpädagogische Kasuistik konstatieren. Einerseits bleibt ihr Konzept über
die Jahrzehnte methodisch diffus, erscheint gleichsam pragmatisch als die
Summe der professionellen Fallbeobachtungen, Fallsammlungen, Fallanaly-
sen und Fallarbeit in der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Andererseits zieht
sich wie ein roter Faden durch die sozialpädagogische Kasuistik gerade das
Bemühen um eine professionelle Selbstreflexion des pädagogischen und so-
zialarbeiterischen Entscheidungshandelns in der Konkretheit des Einzelfalls.
Die aktuelle Bedeutung dieser Kasuistik liegt denn auch vor allem in ihrem
Beitrag zur Debatte um Professionalisierung und Fachlichkeit des beruflichen
Handeins. Der bleibende methodische und theoretische Ertrag der Aktions-
und Handlungsforschung, manchmal als Fossil der 70er Jahre betrachtet, liegt
m.E. in drei Aspekten begründet: Erstens war sie ein bedeutender Katalysator
für die Etablierung qualitativer Methoden innerhalb der sozialpädagogischen
Forschung. Zweitens hat gerade die kritische Auseinandersetzung mit ihren
allzu unbefangenen Versuchen, die strukturelle Differenz zwischen Wissen-
schaft und Praxis zu überspringen, dauerhaft den Blick für die unterschiedli-
chen Strukturlogiken zwischen sozialpädagogischer Forschung und sozial-
pädagogischer Praxis geschärft. Damit war drittens aber gleichzeitig auch die
Frage nach neuen methodischen und institutionellen Schnittstellen zwischen
Forschung und Praxis aufgeworfen. Letztlich hat dieser Diskurs um die Akti-
ons- und Handlungsforschung wesentlich zur Etablierung eines intermediären
Feldes zwischen Wissenschaft und pädagogischer Praxis beigetragen, in dem
sich ein System von Vermittlungsinstanzen entwickelt hat: Praxisforschung,
Begleitforschung, Evaluationsforschung, Supervision, Weiterbildung usw.
Der wichtigste Einfluss für eine elaborierte qualitative sozialpädagogi-
sche Forschung ging aber zweifellos von den vielfältigen methodologischen
Ansätzen im Kontext des Interpretativen Paradigmas aus, die entscheidend
74 Hans-Jürgen von Wensierski

zur Etablierung einer methodenpluralistischen Forschungslandschaft in der


Sozialen Arbeit beigetragen haben. Als Folge davon hat sich nicht nur die
Anzahl und das Themenspektrum der qualitativen sozialpädagogischen Stu-
dien deutlich vergrößert (vgl. Jakob 1997). Anders als noch in den 60er und
70er Jahren steht heute auch ein großes Spektrum an elaborierten rekonstruk-
tiven Forschungsmethoden für jeweils spezifische Untersuchungsgegenstän-
de zur Verfügung. Zudem lassen sich zwischen den verschiedenen methodi-
schen Ansätzen - nicht nur für die forschungspragmatische Ebene der empi-
rischen Projekte - Annäherungen beobachten, die über die Grenzen der
Fachdisziplinen von Soziologie, Psychologie und Pädagogik hinwegreichen:
Die Bezüge zwischen sozialpädagogischer Kasuistik und Objektiver Herme-
neutik, zwischen narrativem Interview und sozialpädagogischem Fallverste-
hen, zwischen Psychoanalyse und Sozialforschung oder Psychoanalyse und
sozialpädagogischer Kasuistik (vgl. v. Wensierski 1997) belegen dies.

Das intermediäre Feld eines Wissenschaft-Praxis-Diskurses


in der Sozialen Arbeit

Lässt man diese historische Analyse der fallanalytischen und rekonstruktiven


Verfahren in der Sozialen Arbeit Revue passieren, dann fällt auf, dass es in
der Forschungstradition der Sozialen Arbeit bis in die Gegenwart hinein oft-
mals zu einer unreflektierten oder unbefangenen Vermischung der Ebenen
von wissenschaftlicher Forschung und pädagogischer Praxis gekommen ist.
Lüders (1998, 1999) hat hier in Bezug auf die qualitative sozialpädagogische
Forschung zu Recht wiederholt auf diesen Aspekt der Verwechselung von
wissenschaftlicher und handlungspraktischer Strukturlogik hingewiesen. Al-
lerdings scheint es ihm nicht nur um das Einklagen nachprüfbarer wissen-
schaftlicher Standards für die sozialpädagogische Forschung zu gehen. Viel-
mehr wendet er sich generell gegen das Konzept rekonstruktiver Sozialpäd-
agogik, soweit es auch Strukturvorschläge zum Verhältnis von wissenschaft-
licher Produktion und sozialpädagogischer Praxis konzipiert (Lüders 1998,
1999). Auch wenn die Kritiken an einzelnen Ansätzen und Forschungsbei-
spielen in diesem Kontext berechtigt sind, erscheint doch der bloße Rückzug
auf diese strukturellen Differenzen unbefriedigend. Ein solcher Blick blendet
nicht nur die zunehmenden Prozesse einer wissenschaftlich fundierten Pro-
fessionalität der SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen aus, er ignoriert
auch die vielschichtige wissenschaftliche Durchdringung sozialarbeiterischer
Praxis im Bereich ihrer Methoden- und Konzeptentwicklung, Begriffsent-
wicklung, im Bereich von Planung und Evaluation. Vor allem blendet die
Behauptung einer unüberbrückbaren Kluft zwischen wissenschaftlicher For-
schung und sozialpädagogischer Praxis das vielschichtige Spektrum von An-
Rekonstruktive Sozialpädagogik 75
wendungs-, Praxis- und Begleitforschung aus, das heute einen gewichtigen
Teil der Wissenschafts beratung für die Praxis ausmacht.
Notwendig erscheinen daher Strukturmodelle, die diesen unterschiedli-
chen Prämissen Rechnung tragen. Einerseits gilt es in der Konsequenz der
verschiedenen wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzungen um die
Handlungs- und Aktionsforschung der 70er Jahre, der professionstheoreti-
schen und verwendungstheoretischen Diskurse der 80er Jahre sowie der jün-
geren Diskussionen um pädagogische und sozialpädagogische Forschung
(vgl. RauschenbachfThole 1998) deutlich zu machen und darauf zu beharren,
dass sozial wissenschaftliche Forschung des handlungsentlasteten analyti-
schen Raums bedarf und sich ihre Ergebnisse nicht ohne Weiteres zur Hand-
lungsanweisung sozialer und pädagogischer Praxis eignen. Soziale Praxis
zeichnet sich demgegenüber immer durch die widersprüchliche Einheit von
Begründungs- und Entscheidungszwang aus, d.h. sie ist immer Entschei-
dungshandeln an konkreten und singulären Fällen und Situationen und steht
unter dem Handlungs- und Erfolgsdruck der unmittelbaren Alltagssituation
und ihrer sozialen Strukturen.
Andererseits stehen sich Wissenschaft und sozialarbeiterische Praxis aber
auch nicht völlig unverbunden und strukturlos gegenüber. Zum einen sind es
die sozialen Sinnstrukturen, alltäglichen Deutungsmuster und professionellen
Handlungsmuster, die über eine empirisch rekonstruktive Sozialforschung ih-
rerseits Eingang finden in den wissenschaftlichen Diskurs und die analytische
Sprache und Kategorienbildung sozialpädagogischer Theoriebildung. Zum
anderen ist es heute nicht allein der professionelle Habitus der wissenschaft-
lich ausgebildeten PraktikerInnen im Gefolge der erfolgreichen Akademisie-
rung der Sozialen Arbeit, der für eine durchgreifende Verwissenschaftlichung
sozialarbeiterischer Praxis sorgt. Es sind vielmehr die vielfältigen Ebenen ei-
ner praxisbegleitenden Wissenschaftsberatung, Weiterbildung, Methodenre-
flexion, wissenschaftlicher Planungs-, Entwicklungs- und Evaluationsinstru-
mente sowie entsprechender Begleit- und Praxisforschung, die deutliche In-
dizien dafür sind, dass das Verhältnis von Praxis und Wissenschaft komple-
xer und vielschichtiger gedacht werden muss, als in der bloßen Dichotomie
unvereinbarer Strukturlogiken.
Ein strukturelles Modell in diese Richtung ist das Konzept eines inter-
mediären Feldes, das sich als Ergebnis der zunehmenden Verwissenschaftli-
chung der Sozialen Arbeit in den letzten Jahrzehnten sukzessive herausgebil-
det hat. Intermediäres Feld bezeichnet dabei ein soziales Interaktionsfeld
zwischen ForscherInnen und PraktikerInnen - also gewissermaßen die Insti-
tutionalisierung eines Wissenschaft-Praxis-Diskurses.
Die Herausbildung eines solchen intermediären Feldes scheint mir eines
der zentralen konstruktiven Ergebnisse aus den vielfältigen Theorie-Praxis-
Diskursen seit Ende der 60er Jahre zu sein. Dabei kam den qualitativen und
rekonstruktiven Ansätzen in diesem Prozess stets eine herausgehobene Be-
deutung zu. Gleich, ob es um die Diskussionen im Kontext der Aktions- und
76 Hans-Jürgen von Wensierski

Handlungsforschung, der Professionalisierungsdebatte, der Debatte um die


sozialwissenschaftliche Verwendungsforschung oder um Praxisdiskussionen
im Zusammenhang mit Methodisierung, Evaluation, Selbstevaluation oder
Verwissenschaftlichung sozialpädagogischen Handeins ging, stets standen
die phänomenologischen, lebensweltorientierten, hermeneutischen, biogra-
phischen oder kasuistischen Erkenntnisansätze im Fokus des Bemühens um
eine kritische Praxisforschung bzw. um eine gegenstandsadäquate Methoden-
entwicklung. Die Entwicklung solcher fachlich-selbstreflexiver analytischer
Instrumente für die Praxis und Praxisforschung entsprachen dabei dem Be-
mühen, auf der Basis einer alltags- und lebensweltorientierten Sozialpädago-
gik (Thiersch) Professionalisierungskonzepte zu formulieren, die den Dimen-
sionen der Alltäglichkeit und der Subjektivität in der Klientln-Sozialarbeite-
rIn-Interaktionen entsprachen, ohne aber diese Arbeitsbeziehungen in exper-
tokratischer Therapeutisierung oder in einem professionalisierten Betroffen-
heitskult aufgehen zu lassen. Mit dem vielschichtigen methodischen Kanon
der qualitativen Forschung stand der Sozialpädagogik ein differenziertes
methodisches Instrumentarium zur kritischen Analyse des Alltags, der Le-
benswelten und der subjektiven Sinnstrukturen in der sozialpädagogischen
Praxis zur Verfügung - ein Instrumentarium, dass nicht mehr nur Klientlnnen
als quantifizierbare Sozialindikatoren verobjektivierte, sondern insbesondere
auch die professionellen Handlungsstrukturen und die Orientierungs- und
Deutungsmuster der SozialarbeiterInnen und die Wechselbeziehungen zwi-
schen den Handlungsbeteiligten in die wissenschaftliche Reflexion mit ein-
bezog.
Die Ausweisung dieses Diskurses als intermediäres Feld soll darauf auf-
merksam machen, dass es sich hier um ein Zwischenfeld, gleichsam um ein
strukturelles Moratorium handelt, in dem die jeweils unterschiedlichen Sy-
stemlogiken von Wissenschaft und Praxis nicht negiert oder aufgehoben sind,
wohl aber im Sinne eines Experimentierraums eingeklammert bleiben. Damit
sind weder die strengen wissenschafts theoretischen und methodologischen
Prinzipien wissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung außer Kraft ge-
setzt noch sind die Praktikerlnnen von den Handlungs- und Erfolgszwängen
ihrer Berufspraxis befreit. Wohl aber entsteht in den institutionellen und me-
thodischen Instrumenten des intermediären Feldes, wie sie sich etwa in der
Weiterbildung, Praxisberatung, Methodenausbildung, in Forschungswerk-
stätten, in Workshops, Begleitforschung, Praxisevaluation darstellt, ein Mög-
lichkeitsraum mit eigenen sozialen Regeln:

• Es gibt keinen unmittelbaren Verwertungszwang.


• Praxisprobleme können auf der Basis virtualisierter Deutungsmuster und
Handlungskonzepte untersucht werden.
• Es gibt einen Zwang zur Übersetzung der jeweils eigenen Strukturlogik
in eine gemeinsame Sprache als Voraussetzung für gemeinsame Ver-
ständigung.
Rekonstruktive Sozialpädagogik 77
• Es existiert ein struktureller Zwang zum ethnographischen Fremdverste-
hen des jeweils anderen Feldes.
Es bleibt aber bei dem strukturellen Spannungsverhältnis, das die wech-
selseitigen Geltungsbegründungen von Praxiszwängen und Handlungs-
entlastetheit tendenziell infrage stellt.

Diese Konstruktion macht darauf aufmerksam, dass die sozialarbeiterische


Praxis und sozialwissenschaftliche Forschung zwar unterschiedlichen Struk-
turlogiken folgen, denen auch jeweils spezifische soziale Strukturen entspre-
chen. Gleichwohl handelt es sich in beiden Fällen um Kommunikationsge-
meinschaften, die strukturell aufeinander verwiesen und deshalb um wechsel-
seitige Verständigung bemüht sind. Jede Anmeldung zur Weiterbildung, jede
Initiierung eines Praxisforschungsprojekts, jede wissenschaftliche Beratung
markiert auf Seiten sozialarbeiterischer Institutionen und PraktikerInnen die
Bereitschaft und die zwanglose Anerkennung der Notwendigkeit, wissen-
schaftliche Deutungsmuster, Begriffe und Modelle für die Reflexion und
Weiterentwicklung des eigenen Praxisfeldes einzusetzen.
Im Gegenzug ist es ja der konstitutive Sinn empirischer Sozialforschung
soziale Wirklichkeit - in diesem Fall der Sozialen Arbeit - zum Gegenstand
wissenschaftlicher Reflexion und Theoriebildung zu machen. Im Fall der
qualitativen Sozialforschung geht es zudem darum, diese soziale Wirklichkeit
in ihren alltagsnahen, kulturell-symbolischen, lebensweltlichen und biogra-
phischen Sinnstrukturen aufzugreifen und im Rahmen rekonstruktiver For-
schung auf der Basis "ethnographischen Fremdverstehens", als "Konstruktio-
nen 2. Grades" (Alfred Schütz), als "latente Sinnstrukturen" (Ulrich Oever-
mann), als "biographische Prozessstrukturen" (Fritz Schütze), also auf der
wissenschaftsanalytischen Ebene einer höheren Abstraktion zu rekonstruie-
ren. Methodologische Voraussetzung für die rekonstruktive Sozialforschung
ist dabei, dass die alltagsnahen Sinnmuster und Zeichensätze im Kontext des
Forschungsprozesses erkennbar bleiben - eine wesentliche Anforderung an
das wissenschaftliche Gütekriterium einer kommunikativen Validierung als
Voraussetzung einer intersubjektiven Überprüfbarkeit wissenschaftlich-empi-
rischer Aussagesätze im Kontext qualitativer Verfahren.
Die Beziehungen der Wissenschaft zur Alltagspraxis der Sozialen Arbeit
sind dabei doppelt strukturiert: Zum einen geht es um den forschenden und
analytischen Zugang zu den sozialen Strukturen und Sinnwelten der Sozialen
Arbeit. Zum anderen geht es auch um die Rückkoppelung der Ergebnisse an
die Praxis im Sinne einer wissenschaftlich rationalisierten Aufklärung über
die Zusammenhänge und Prozesse der sozialen Praxis. Die Funktion solcher
empirischer und theoretisch-analytischer Forschungen liegt dabei zwar nicht
in einem unmittelbaren Verwertungszusammenhang, allerdings ist das Spezi-
fikum aller sozialwissenschaftlicher Forschung in handlungswissenschaftli-
chen Kontexten (z.B. Pädagogik, Soziale Arbeit), dass ihre Relevanz und
Geltung sich stets an der empirischen Wirklichkeit ihrer Handlungspraxis
78 Hans-Jürgen von Wensierski

messen lassen muss. Die Mindesterwartung aller SozialforscherInnen ist da-


bei, dass die eigenen Forschungsergebnisse und wissenschaftlichen Kon-
struktionen eingehen in einen Diskurs aus Wissenschaft und Praxis und dabei
sichtbare Spuren hinterlassen.
Während den Praktikerlnnen die unbefangene Adaption und Verwertung
wissenschaftlicher Produkte dabei keinerlei struktureIIe Probleme zu bereiten
scheinen, steIlt sich auf Seiten der WissenschaftIerInnen dieser Transfer als
struktureIIes Problem dar. Ihre Produkte verlieren auf dem Weg in die Praxis
nahezu aIIe Gütesiegel, die aIIein erst ihren Wert als wissenschaftliche Aus-
sagen ausmachen. Paradoxerweise wird dieser Transformationsprozess von
Seiten der Wissenschaft unter einer defizittheoretischen Perspektive vor al-
lem als Verlustprozess an Wissenschaftlichkeit interpretiert, während das ei-
gene wissenschaftstheoretische Selbstverständnis doch gleichzeitig - wie Lü-
ders (1999) zu Recht beharrt - auf einer grundsätzlich unterschiedlichen
Strukturlogik basiert. Hier liegt also offenbar ein noch weitgehend unreflek-
tiertes Selbstrnissverständnis auf Seiten der wissenschaftlichen Sozialpäd-
agogik vor, wenn davon ausgegangen wird, die fachliche Reflexion der Prak-
tikerlnnen über die eigene Praxis erfolge auf der Basis ganzheitlicher wissen-
schaftlicher Sätze und fachtheoretischer ModeIIe. Dabei hatten Beck/Bonß
(1989) in ihrem Resümee über die Verwendungs forschung schon darauf hin-
gewiesen, dass angesichts der struktureIlen Differenz zwischen Wissenschaft
und Praxis die Praxis "sich Wissenschaft nur dann zu eigen machen (kann),
wenn die jeweiligen ,,Ergebnisse" bzw. Interpretationsangebote ihrer wissen-
schaftlichen Identität entkleidet werden" (S. 11). Rekonstruktive Verfahren,
die nach solchen Mustern verwissenschaftlichter und professionalisierter
Praxis suchen, müssen sich entsprechend darauf einlassen, die eigenwilligen
und komplexen Handlungsregeln solcher Praxis im Kontext ihrer AIItags-
welt, ihrer eigenen Sprachcodes und im Respekt vor der Interpretations- und
Handlungsautonomie der Profis zu entziffern. Eben darin liegt zugleich die
besondere Bedeutung rekonstruktiver Verfahren. Ihr theoriegenerierender
Zugang auf der Basis aIItagsnaher faIlanalytischer und ethnographischer Stu-
dien rekonstruiert Sozialarbeit bereits als "professioneIle Anwendung von
Sozialwissenschaft", die der Sozialwissenschaft im Umkehrschluss zudem
"fortlaufend empirisches Problemmaterial für neue Analysen und Theoriege-
nerierungen liefert" (Schütze 1993, S. 196).
Die traditioneIIen ModeIle einer Wissenschaft-Praxis SchnittsteIIe, wie
sie etwa in ProfessionsmodeIlen vorgesteIIt werden, helfen hier nicht weiter.
Sie thematisieren zwar die Transformation wissenschaftlichen Wissens über
den wissenschaftlichen Ausbildungsprozess in das berufspraktische Können
des ProfessioneIlen, klären aber nicht, was das für die Methodologie von
Praxisforschung oder für die institutionalisierten Modelle der Selbstreflexion
einer verwissenschaftlichten Praxis bedeutet.
Die Position einer unüberbrückbaren Kluft zwischen Wissenschaft und
Praxis vernachlässigt damit die Frage der Verwertung wissenschaftlicher Er-
Rekonstruktive Sozialpädagogik 79
gebnisse, obwohl ein wesentliches Kennzeichen handlungswissenschaftlicher
Forschung die Rückkopplung wissenschaftlicher Erkenntnis an die Praxis ist.
Hornstein (1998) fordert im Blick auf ein breites, aber diffuses Feld von Pra-
xisforschung und wissenschaftlicher Praxisberatung deshalb zu Recht eine
Debatte mit Kriterien für eine "spezifische Form von Wissenschaftlichkeit
und Forschung" (S. 62).
Notwendig erscheint mir vor diesem Hintergrund zunächst einmal die
verschiedenen Ebenen zu unterscheiden, in denen jeweils spezifische Struk-
turlogiken konstatiert werden müssen:

Erstens, die Ebene einer professionellen Reflexion der Praxis durch den
professionellen Sozialarbeiter im beruflichen Alltag
• Zweitens, die Ebene eines intermediären Feldes als kooperative und
handlungsbezogene Reflexion sozialpädagogischer Praxis durch Wissen-
schaft und Sozialpädagogik (wissenschaftliche Weiterbildung und Be-
gleitforschung (Praxis-, Evaluationsforschung; Planungsforschung)
Drittens, die Ebene einer wissenschaftlich-analytischen Forschung, deren
Methodologie und Gütekriterien allein den Anforderungen eines hand-
lungsentlasteten Wissenschaftssystems verpflichtet sind.

Ich will mich im Weiteren auf die mittlere Ebene beschränken und einige
Hinweise zur Struktur des intermediären Feldes am Beispiel der Praxisfor-
schung skizzieren. Das Feld der so genannten Praxisforschung innerhalb der
Sozialen Arbeit verstehe ich als einen exemplarischen Prototyp für die Struk-
tur des intermediären Feldes.

Praxisforschung und Soziale Arbeit

Um die Bedeutung und Gestalt der Praxisforschung innerhalb der Sozialen


Arbeit differenziert bestimmen zu können, ist zunächst ein Rückbezug auf
die historische Entwicklung der rekonstruktiven Verfahren innerhalb der So-
zialen Arbeit sinnvoll, wie sie oben mit Hinweis auf die vier Traditionslinien
beschrieben wurde (vgl. v. Wensierski 1997, S. 77ff.). Sichtbar wird daran,
dass das Bemühen um rekonstruktive Erkenntnisverfahren die Sozialarbeit
und Sozialpädagogik von ihren Anfängen an bestimmt hat und das meint ins-
besondere forschungsorientierte Verfahren, die insbesondere auch von Prak-
tikerlnnen mit dem Ziel einer zunehmenden Verwissenschaftlichung ihres
Feldes eingesetzt wurden. Der Kontext der psychoanalytischen Sozialpäd-
agogik ist dafür ebenso ein Beispiel, wie etwa die frühen empirischen Ansät-
ze im Kontext der "Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit",
etwa die Studie von SalomonlBaum (1930) zum ,,Familienleben in der Ge-
80 Hans-Jürgen von Wensierski

genwart". Nach den heutigen methodologischen und methodischen Standards


für sozial wissenschaftliche Forschung handelt es sich hier um noch unbehol-
fene Gehversuche einer empirischen Sozialarbeit.
Die weitere Entwicklung dieser Traditionslinien belegt aber eine zuneh-
mende Auseinandersetzung mit und Orientierung an elaborierten methodi-
schen Forschungsstandards, ohne dass sich aber im Gegenzug die Nachfrage
und Orientierung an einer spezifisch mit der pädagogischen und sozialarbei-
terischen Praxis verflochtenen forschenden Reflexionsinstanz erübrigt hätte.
Man kann also sagen, dass sich aus den verschiedenen methodologischen
Ansätzen der psychoanalytischen Pädagogik, Kasuistik, Aktionsforschung
und der Interpretativen Soziologie innerhalb der Sozialen Arbeit zunehmend
ein methodenpluralistischer qualitativer Forschungsbereich auf der Basis ela-
borierter Forschungsmethoden herausgebildet hat, dem gleichzeitig aber auch
ein sozialpädagogisch spezifischer Bereich der so genannten Praxisforschung
gegenübersteht. Die Existenz dieser explizit so genannten Praxisforschung ist
also kein Beleg für die praxeologische Verwässerung sozialwissenschaftli-
cher Methodologie in der Sozialen Arbeit. Im Gegenteil erscheint sie mir - in
historischer Perspektive - zum einen als Referenzinstanz, an der die sozial-
pädagogische Forschung ablesen kann, wie weit ihre Entwicklung als eigen-
ständige wissenschaftliche Forschungsdisziplin bereits vorangeschritten ist.
Zum anderen bleibt sie eine kritische Instanz auch für das Selbstverständnis
einer wissenschaftlich-analytischen Sozialarbeitsforschung, indem sie eine
kritische Anfrage an die Relevanz und Evidenz von Forschungsergebnissen
für die Soziale Wirklichkeit und den Sozialen Wandel der Sozialen Arbeit ist.
Insbesondere eine der interpretativen Sozialforschung verpflichteten
Methodologie müsste es deshalb darum gehen, die soziale Bedeutung dieses
faktisch existierenden und offenbar einflussreichen Bereichs der Praxisfor-
schung für die Versozialwissenschaftlichung der Sozialen Arbeit und die
Entwicklungsprozesse ihrer Institutionalisierung und Professionalisierung
aufzuklären und ihr Verhältnis zur wissenschaftlich-analytischen Forschung
systematisch zu bestimmen.
Mit dem Begriff der Praxisforschung fasse ich hier den Zusammenhang
verschiedener Forschungstypen und -bereiche, die sich dadurch auszeichnen,
dass sie die eigene Methodologie und das eigene Forschungsprogramm in der
Regel explizit in Distanz gegenüber einer wissenschaftlich-analytischen For-
schung formulieren (Heiner 1988; Fuchs 1995; Moser 1995; Schone 1995).
Als Ausgangspunkt für diese Programmatik gilt dabei zum einen die Annah-
me einer besonderen Verbundenheit der ForscherInnen mit der sozialen Pra-
xis in den verschiedenen Handlungsfeldern und zum anderen Anforderungen
an die Forschungspraxis, Forschungsmethodik und Forschungsziele, die die
VertreterInnen dieser Richtung durch die universitäre Forschung in der Regel
nicht gedeckt sehen. Die Distanz zur wissenschaftlich-analytischen For-
schung erstreckt sich dabei nicht bloß auf das Postulat einer eigenen Metho-
dologie, sondern lässt sich wissenschaftssoziologisch auch an anderen Fakto-
Rekonstruktive Sozialpädagogik 81
ren festmachen: den Institutionen, den Personen, den Auftraggebern. So liegt
der Schwerpunkt der Praxisforschung vor allem im außeruniversitären Be-
reich. Ihre theoretischen und methodischen Konzepte entstehen vor allem im
Kontext der Fachhochschulen, aber auch aus den Erfahrungen in außeruni-
versitären Instituten der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Ähnliches lässt
sich auch für die Durchführung der Praxisforschungsprojekte selber sagen:
Hier dominieren Auftragsforschungen aus dem Kontext der Sozialen Dienste,
der Verbände und der politischen Verwaltung, die vor allem von Fachhoch-
schulwissenschaftlerlnnen oder von den zahlreichen hochschulunabhängigen
Instituten und Akademien durchgeführt werden. Gleichwohl gibt es auch
universitäre VertreterInnen, die sich um eine spezifische Praxisforschung für
die Soziale Arbeit bemühen (vgl. Heiner 1988; v. Kardorff 1988; Müller
1988, 1998).
Die spezifische Verzahnung der Praxisforschung mit der Praxis wird in-
nerhalb dieses Segments keineswegs einheitlich definiert: Die Praxisbezo-
genheit umfasst vielmehr wahlweise die Ebenen: (1) Forschung durch Prakti-
kerInnen, (2) Forschung zur Planung und Initiierung von Praxis, (3) For-
schung zur Veränderung der Praxis und (4) Forschung zur Evaluation der
Praxis. Entsprechend lassen sich m.E. unter dem Dach der Praxisforschung
vier unterschiedliche Forschungsbereiche differenzieren:

• Sozialpädagogische Praxeologie
• Sozialpädagogische Planungs- und Entwicklungsforschung
• Sozialpädagogische Begleitforschung
• Sozialpädagogische Evaluationsforschung

Unter sozialpädagogischer Praxeologie fasse ich jene Konzepte, die auf das
reflexive und erkenntnistheoretische Potenzial der forschenden Praktikerln
(PädagogInnen, SozialarbeiterIn) selber zielen. Seine Wurzeln hat dieser Zu-
gang vor allem in den Traditionen der pädagogischen Kasuistik, die auf den
systematischen Stellenwert im ,,Erfahrungsurteil des reflektierenden Prakti-
kers" (Binnenberg 1979, S. 399) setzt: D.h. er beschreibt und reflektiert ein
konkretes Stück pädagogischer Praxis und ist in der Lage, eben daraus theo-
retischen Gewinn zu ziehen - die Erfahrung des Besonderen also in die Er-
kenntnis des Allgemeinen zu überführen. Die Exklusivität dieses Zugangs
wird darin gesehen, dass es eben nur der Praktiker selber sei, der gleichsam
aus der Binnenperspektive des pädagogisch Handelnden die jeweils spezifi-
schen Entscheidungs- und Begründungszusammenhänge pädagogischer All-
tagsprozesse rekonstruieren könne (vgl. Prengel 1997; Müller 2001).
Während in einem solchen praxeologischen Verständnis der Praktiker
selbst zum Forscher wird, stellen die anderen drei Bereiche in unterschiedli-
chen Formen Kooperationsmodelle zwischen ForscherInnen und PraktikerIn-
nen dar. In großen und komplexen Studien lassen sich zudem alle drei Ebe-
nen der Planung, der Prozessbegleitung und der Evaluation ausmachen - et-
82 Hans-Jürgen von Wensierski

wa im Zusammenhang mit umfassenden Modellprojekten. Gleichwohl ist es


sinnvoll, die drei unterschiedlichen Forschungsperspektiven innerhalb der
Praxisforschung analytisch voneinander zu trennen, da sich auf jeder dieser
Ebenen spezifische Anforderungen und Probleme an die Methodik und Vali-
dierung des Forschungsprozesses stellen. Bei der Planungs- und Entwick-
lungsjorschung geht es um projektive, also zukunfts gerichtete Entwürfe und
Entscheidungen. Aufgabe wissenschaftlicher Instrumente ist hier vor allem
die differenzierte Analyse gegenwärtiger sozialer, institutioneller und metho-
discher Strukturprobleme und die empirische Bestandsanalyse vor dem Hin-
tergrund der bisherigen und künftig absehbaren Dynamik sozialer Prozesse.
Vor dem Hintergrund von fachlichen, politischen oder hypothetischen Ziel-
oder Prozessvorgaben können dann auf der Basis der empirischen Bestands-
und Prozessanalysen hypothetisch alternative Struktur- und Handlungsmo-
delle entworfen werden. Die Frage der Wirksamkeit und Validierung solcher
Entwicklungs- und Planungsmodelle kann dann aber selbst nicht mehr durch
die Planungs- und Entwicklungsforschung beantwortet werden, sondern ist
Ergebnis eines praktischen Versuchs - z.B. eines Modellprojekts.
Der Begriff der Begleitforschung wird oftmals missverständlich ge-
braucht, insofern er bisweilen als Synonym für alle Formen einer Praxisfor-
schung verwendet wird. Diese begriffliche Ungenauigkeit provoziert die
Auseinandersetzung um den wissenschaftlichen Charakter und Stellenwert
der Praxisforschung, weil sie die Begleitforschung als undifferenzierte und
diffuse Einheit aus projektiven Handlungs- und Planungsentwürfen, empiri-
scher Prozessanalyse und retrospektiver Wirkungsanalyse erscheinen lässt -
und damit gewissermaßen als strukturelle Entsprechung zur Alltagspraxis als
unauflösliche Einheit aus Begründungs- und Entscheidungshandeln entwirft.
Die hier vorgenommene Differenzierung weist demgegenüber Begleit-
forschung als spezifische Form der wissenschaftlichen Analyse der Praxis-
prozesse Sozialer Arbeit aus. Im Unterschied zur Planungs- und Entwick-
lungsforschung geht es hier nicht um die Untersuchung zukünftiger Prozesse
und Entwicklungen. In der Begleitforschung steht vielmehr die Untersuchung
aktueller, realer und empirisch beobachtbarer sozialer Prozesse und profes-
sioneller Handlungsvollzüge im Vordergrund. Begleitforschung umfasst die
Untersuchung der sozialen Wirklichkeit als offenen und unabgeschlossenen
Prozess. Ihr Gegenstand sind nicht nur die professionellen Handlungsstrate-
gien, sondern gerade auch die komplexen, unplanbaren und nicht-intendierten
Wechsel wirkungen in sozialen Systemen, Beziehungsformen und Interakti-
onsprozessen, die gleichwohl in entscheidender Weise die soziale Praxis be-
stimmen und prägen. Dazu gehören sowohl die vielfältigen Formen und Fra-
gestellungen der Adressatenforschung, der Sozialarbeiter-Klient-Interaktio-
nen, der professionellen Handlungsstrategien wie auch der institutionellen
und konzeptionellen Wechselwirkungen im Feld.
Im Unterschied zu den beiden erstgenannten Verfahren zeichnet sich
Evaluationsjorschung vor allem durch ihre retrospektive Perspektive aus.
Rekonstruktive Sozialpädagogik 83

Evaluationsforschung in der Sozialen Arbeit beschreibt dabei einen systema-


tischen Beurteilungsprozess sozialen Handeins und sozialer Prozesse auf der
Basis reflektierter und klar definierter Evaluationskriterien, nachvollziehbarer
(d.h. intersubjektiv überprüfbarer) Informationssammlung, ausgewiesener
Analysemethoden und einer adäquaten Dokumentation der einzelnen Schritte
des Evaluationsprozesses (vgl. Grohmann 1997, S. 201ff.). Ihre Beurteilung
richtet sich auf die nachweisbaren Zusammenhänge von professionellen und
institutionalisierten Handlungsprozessen und entsprechend geplanten oder
gewünschten Wirkungen und sozialen Bedeutungen im jeweils untersuchten
sozialen Setting.

Praxisforschung - Zum Konzept der "angewandten


Wissenschaft"

Zentrale begriffliche Grundlage für diesen Bereich der angewandten Wissen-


schaft ist der Begriff ,,Praxis", wobei auffällt, dass der Praxisbegriff selbst in
den einschlägigen Büchern zur Praxisforschung kaum Gegenstand methodo-
logischer Reflexionen wird (vgl. Heiner 1988; Fuchs 1995; Moser 1995;
Schone 1995). Er wird in diesem Kontext gewissermaßen als unhinterfragba-
res apriori vorausgesetzt. Als Praxis gilt mithin das, was in den Handlungs-
feidern der Sozialen Arbeit durch PraktikerInnen geschieht. Für die Frage der
Praxisforschung ist dieses kategoriale Defizit insofern ein unreflektiertes
Problem, als es hier zu einer stillschweigenden Gleichsetzung zwischen der
Praxis als empirischer sozialer Wirklichkeit und Praxis als projektiver Hori-
zont normativer Zukunftsplanung und normativen Zukunftshandelns kommt.
Dieser Indifferenz entsprechen auch die methodologischen und methodi-
schen Konzepte zur Praxisforschung. Sieht man sich die verschiedenen for-
schungsmethodischen Vorschläge zur Methodenausstattung der Praxisfor-
schung an, dann fällt auf, dass es durchaus differenzierte und wissenschaft-
lich elaborierte Bezüge zu den sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden
empirischer Sozialforschung gibt, soweit es dabei um das Spektrum analyti-
scher Forschungsmethoden geht. Dabei beschränkt sich das Spektrum der
Forschungszugänge keineswegs nur auf qualitative Verfahren. Allerdings
dominieren doch deutlich die Anleihen im Bereich der rekonstruktiven Sozi-
alforschung, in denen offenbar eine besondere Affinität zum geforderten
"ganzheitlichen Blick" auf die soziale Praxis der entsprechenden Handlungs-
felder gesehen wird. Es sind eben in besonderer Weise die rekonstruktiven
und sinnverstehenden Ansätze der biographischen, ethnographischen und in-
haltsanalytischen Verfahren, mit denen sich die Komplexität sozialer und
pädagogischer Prozesse und pädagogischen Handeins, die Interaktionsbezie-
hungen zwischen Professionellen und KlientInnen, die Verlaufsformen von
84 Hans-Jürgen von Wensierski

Biographien oder die subjektiven Sinn welten in den Alltags- und Lebens-
weltstrukturen der sozialpädagogischen Praxis gegenstandsadäquat untersu-
chen und darstellen lassen. Dabei erweist sich zugleich die fallanalytische
Struktur qualitativer Studien als methodologisches Element, das auch der
professionellen Reflexion sozialpädagogischer Praktikerlnnen entgegen-
kommt. "In ihrer beruflichen Praxis müssen PädagogInnen Kenntnisse über
die lebensweltlichen Perspektiven der AdressatInnen besitzen; ein fallbezo-
genes Vorgehen erfordert Wissensbestände über biographische Verläufe,
über subkulturelle Sinnwelten und Orientierungsmuster, die dem Handeln der
Adressaten zugrundeliegen" (Jakob 1997, S. 126). Mit teilnehmender Beob-
achtung und Interaktionsanalyse lassen sich die Handlungsschemata der Indi-
viduen herausarbeiten, in die zudem biographische Perspektiven eingelassen
sind. Mit gesprächsanalytischen Verfahren können soziale Kategorisierungen
im Alltagshandeln systematisch erfasst und untersucht werden. Narrative
biographische Konzepte rekonstruieren die systematischen Prozessstrukturen
des Lebensablaufs in den Lebensgeschichten, etwa in Gestalt kollektiver
Verlaufskurven, wie sie auch in den institutionellen Betreuungsformen der
Sozialarbeit immer wieder vorkommen. Mit Hilfe von Gruppendiskussionen
lassen sich überdies kollektive und gruppenbezogene handlungsleitende Ori-
entierungsschemata und Interaktionsstrukturen, wie sie für vielfältige cli-
quenbezogene und gruppenpädagogisch relevante Kontexte typisch sind, un-
tersucht und mit Blick auf theoretische Erklärungsmodelle gefasst werden
(vgl. Schütze 1994, S. 194f.).
In Bezug auf die vorliegenden methodologischen Diskussionen und me-
thodischen Vorschläge zur Praxisforschung lässt sich m.E. kein grundsätzli-
cher Qualitätsunterschied gegenüber den sonstigen Methodendebatten in der
sozialpädagogischen Forschung ausmachen. Dafür spricht auch, dass die ver-
schiedenen Konzepte der Praxis-, Evaluations- und Begleitforschung in allen
einschlägigen methodischen Handbüchern zu qualitativen Forschungsmetho-
den vertreten sind (Flick u.a. 1991; Friebertshäuser/Prengel 1997; Flick!
v.Kardorff/Steinke 2000). Das gesamte Spektrum der qualitativen Verfahren
zwischen ethnographischen, biographieanalytischen und hermeneutischen
Ansätzen lässt sich auch im Spektrum der Praxisforschungsdebatte aufzeigen,
wobei auch hier allerdings ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen der
puristischen Strenge methodologischer Debatten und den pragmatischen
Zwängen der Forschungspraxis in Rechnung gestellt werden muss - ein
Hiatus, der aber in gleicher Weise auch auf die übrige empirische Sozialfor-
schung zutrifft (Bohnsack 1991, S. 25).
Im Übergang von den analytischen Verfahren der empirischen Erfor-
schung sozialarbeiterischer Praxis zu den handlungsorientierten Methoden,
durch die der Transfer der Praxisforschungsergebnisse gesichert und hand-
lungsleitende Konzepte für die Praxis gestaltet werden soll, bleiben die me-
thodologischen und methodischen Vorschläge innerhalb der Praxisforschung
dann allerdings überaus vage und bisweilen auch selbstkritisch (Schone 1995,
Rekonstruktive Sozialpädagogik 85
S. 52f.). Allerdings lässt sich in diesem Zusammenhang aber auch kein
Rückbezug auf die unbefangenen Theorie-lPraxismodelle der Aktionsfor-
schung ausmachen.
Insofern scheinen mir die vorliegenden Konzepte und Vorschläge zur
Praxisforschung auf einem bisher weitgehend umeflektierten widersprüchli-
chen Fundament aufgebaut: Während die Notwendigkeit einer empirischen
Erforschung der ,,Praxis" Sozialer Arbeit methodologisch fundiert und me-
thodisch differenziert begründet wird, bleibt die Frage der Bedeutung der
ForscherIn für die Planung und Gestaltung handlungsleitender Entwürfe vor
allem ein programmatisches Postulat.
Dieser Widerspruch innerhalb des Programms der Praxisforschung lässt
sich aber vielleicht auflösen, wenn man für das Konzept der Praxisforschung
gar nicht nach einer konsistenten einheitlichen Methodologie sucht, sie also
nicht als spezifischen Forschungs- oder gar Wissenschafts typus konzipiert,
sondern Praxisforschung vor allem als einen spezifischen sozialen Ort und
einen spezifischen Interaktionszusammenhang zwischen ForscherInnen und
Praktikerlnnen betrachtet. Aus der Sicht der Wissenschaft bedeutet Praxisfor-
schung dann im Grunde einen zweistufigen Forschungsprozess, in dessen
Verlauf der Wissenschaftler seine Funktion und vor allem seine soziale Rolle
wechselt. Auf der ersten Ebene ist er Forscher, der auf der Basis seiner wis-
senschaftlichen Geltungsansprüche und der methodologischen Prämissen sei-
nes Forschungsansatzes das analytische und methodische Instrumentarium
für eine empirische Sozialforschung entwirft und bereitstellt.
Auf der zweiten Ebene ist er aber nicht mehr nur wissenschaftlicher For-
scher, sondern auch fach wissenschaftlicher Experte, Berater und ggf. gestal-
tender Akteur im Handlungskontext der sozialen Praxis. Die Geltungsbe-
gründung für seine Aussagen und Konzepte basieren hier nicht mehr auf der
Konsistenz einer widerspruchslosen Erkenntnistheorie, sondern auf der per-
sönlichen und sozialen Verantwortung als fachlicher, kritischer und enga-
gierter Zeitgenosse. Für die Ergebnisse von Praxisforschungsprojekten be-
deutet das zugleich eine Differenzierung in der Validität ihrer Produkte. Eine
Beglaubigung von Forschungsergebnissen im Sinne wissenschaftlicher Güte-
kriterien kann - auch im Selbstverständnis der Praxisforschung - eigentlich
nur für den Teil auf der Basis ausgewiesener methodologischer und methodi-
scher Standards beansprucht werden - d.h. in der Regel für die analytisch-
empirischen Erhebungen.
Die Geltungsansprüche der Handlungskonzepte basieren demgegenüber
nicht auf solchen wissenschaftsimmanenten Kategorien, sondern auf der kon-
sensuellen Übereinkunft von forschenden PraktikerInnen und planend-
gestaltenden Wissenschaftierlnnen. Die Handlungskonzepte gelten vor dem
Hintergrund des fachlichen und gewissermaßen interdisziplinären Diskurses
und in prinzipieller Anerkennung der jeweils spezifischen Ressourcen des in-
stitutionellen Kontextes als (zunächst) bestmöglicher Entwurf. Ihre Reich-
weite ist prinzipiell zunächst begrenzt auf den konkreten sozialräumlich-
86 Hans-Jürgen von Wensierski

fachlichen Kontext der leitenden Projektfragestellung und des Forschungsge-


genstandes. Die Gültigkeit solcher Praxiskonzepte erweist sich entsprechend
nicht an der kritisch-reflexiven Prüfung des methodisch-kontrollierten For-
schungsprozesses, sondern schlicht an der Wirksamkeit ihrer Instrumente im
Praxiseinsatz - oder, wie die Mediziner angesichts ähnlicher epistemologi-
scher Probleme sagen: "Wer heilt, hat Recht."
Eine solche Wirksamkeitsprüfung lässt sich dann allerdings retrospektiv
wieder wissenschaftlich kontrolliert durchführen - etwa im Rahmen einer
Evaluationsstudie. Eine solche systematische Evaluationsforschung von Pra-
xisforschungsprojekten liegt bisher erst in Ansätzen vor. In ihr können nicht
nur die potenziellen Diskrepanzen zwischen den programmatischen Ansprü-
chen von Praxisforschung und der Forschungspraxis sichtbar gemacht wer-
den, sie können auch Aufschluss geben, inwieweit handlungsorientierte Pra-
xisforschung tatsächlich nachhaltigen Einfluss auf die Planung und Gestal-
tung sozialer Praxis zu nehmen vermag oder ob auch hier viele gute Kon-
zepte ihre Grenzen an den strukturellen Zwängen externer Einflussfaktoren
(z.B. Finanzen, Trägerstrukturen, Politik) erfahren, die selbst in solch praxis-
nahen Planungskontexten nicht ohne weiteres beherrschbar sind. Einen wich-
tigen und systematischen Ansatz in diese Richtung liefert insbesondere die
Studie von Grohmann (1997).
Resümiert man diese Befunde über die Strukturmerkmale der Praxisfor-
schung, dann erscheint dieser Bereich vor allem als ein institutioneller Lö-
sungsvorschlag zum Transferproblem von sozialwissenschaftlicher Erkennt-
nisproduktion und professionalisierter und verwissenschaftlichter Praxisent-
wicklung. Entgegen mancher programmatischen Rhetorik in diesem Kontext
lässt sich aber keineswegs eine neuartige Methodologie ausmachen, in der
etwa die unterschiedlichen Strukturlogiken von Wissenschaft und Praxis auf-
gehoben wären. Vielmehr stehen Praxisforschung und wissenschaftlich-
analytische Forschung in der Sozialen Arbeit in einem Prozess wechselseiti-
ger Versozialwissenschaftlichung. Hatten die verschiedenen Formen von
Praxisforschung bis in die 60er Jahre hinein wesentlich zu einer sukzessiven
empirischen Orientierung in der Sozialen Arbeit beigetragen, Sozialarbeit
und Sozialpädagogik ihre methodischen-empirischen Bezüge also weitge-
hend aus diesem Feld der Praxisforschung bezogen, so kehrt sich im Gefolge
der realistischen Wende seit Ende der 60er Jahren dieses Verhältnis zuneh-
mend um. Die methodologischen und methodischen Forschungsdebatten in
der Sozialpädagogik werden zunehmend aus dem Kanon der empirischen So-
zialforschung, insbesondere durch die soziologischen Methoden bestimmt.
Als Drehscheiben für diesen Perspektivenwechsel erscheinen mir dabei vor
allem der Diskurs um die Aktions- und Handlungsforschung sowie die nach-
haltigen Einflüsse des Symbolischen Interaktionismus. Praxisforschung ist in
der Folge nicht mehr der Schrittmacher für eine empirisch-wissenschaftliche
Fundierung der Sozialen Arbeit, sondern wird zum Synonym des Transfer-
problems einer künftig gleichermaßen sozial wissenschaftlich-analytisch und
Rekonstruktive Sozialpädagogik 87
-empirisch orientierten universitär etablierten Sozialpädagogik. Ihr for-
schungsmethodisches Leitbild bezieht die Praxisforschung seitdem ebenfalls
zunehmend aus dem Kanon der empirischen, vor allem qualitativen, Sozial-
forschung, allerdings ohne gleichzeitig dafür adäquate forschungspraktische
Ressourcen zur Verfügung zu haben.
Die Ansprüche an eine fortschreitende Verwissenschaftlichung der So-
zialen Arbeit, die vor allem auch durch die sich parallel vollziehende Aka-
demisierung der sozialarbeiterischen und sozialpädagogischen Studiengänge
an den Fachhochschulen repräsentiert ist, konstituieren in der Folge nämlich
eine bis heute wirksame strukturelle Antinomie im wissenschaftlichen Sy-
stem der Sozialen Arbeit. Während die universitäre Sozialpädagogik bedingt
durch den Prozess ihrer durchgreifenden Versozialwissenschaftlichung zu-
nehmend mit ihrem strukturellen Theorie-Praxis-Transferproblem konfron-
tiert ist (und zwar sowohl auf den Ebenen von Methodologie, Professionali-
sierung und Theorieakzeptanz wie auch in Bezug auf das Berufsbild ihrer
Absolventlnnen), stellt sich das Transfer-Problem in einer zunehmend wis-
senschaftlich-rationalisierten Praxis und an den Fachhochschulen vor allem
als strukturelle Abkoppelung von den institutionellen, materiellen und perso-
nellen Ressourcen einer wissenschaftlichen und fachdisziplinären Forschung,
Theoriebildung und Wissenschaftsreproduktion dar. - Ironisch zugespitzt
könnte man vielleicht auch sagen, die Situation der Sozialen Arbeit in
Deutschland besteht erstens aus einer Handlungswissenschaft ohne eigenes
berufliches Handlungsfeld und zweitens aus einer Handlungswissenschaft
ohne eigene Wissenschaftsdisziplin.
Konzepte für Praxisforschung und Sozialarbeitswissenschaft zum einen,
sozialpädagogisch-disziplinäre Selbstvergewisserungsrituale, Professional i-
sierungsdebaUen und eine gewisse zwanghafte Leidenschaft für Berufsver-
bleibsstudien zum anderen scheinen mir der Preis für diese unstrukturierte
Doppelstruktur der Sozialen Arbeit als Wissenschaftssystem in Deutschland.
Das Feld der Praxisforschung ist Ausdruck dieses strukturellen Dilem-
mas und zugleich ein organisatorisch-pragmatischer Versuch der Überwin-
dung. Ihre große Verbreitung und ihr offensichtlicher Einfluss auf die Orga-
nisations- und Konzeptentwicklung der Sozialen Arbeit scheinen mir ein
deutlicher Hinweis darauf, die Nachfrage nach solcher Wissenschaftsbera-
tung und solchen Transferstrukturen ernst zu nehmen und die Auseinander-
setzung damit nicht vom Katheder methodologischer Unfehlbarkeit aus zu
führen. Das Strukturmodell eines intermediären Feldes für den Zusammen-
hang von Wissenschaftssystem und Handlungspraxis lässt vielmehr deutlich
werden, dass die Anforderungen an tragfähige Transferstrukturen zwischen
Wissenschaft und Praxis in der Sozialen Arbeit weder zum Aufweichen wis-
senschaftstheoretischer und methodologischer Standards führen noch das En-
de einer kritischen handlungsentlasteten und unabhängigen Forschung ein-
läuten. Es macht allerdings auch deutlich, dass die Vermittlungsaufgaben ei-
ner Wissenschaft der Sozialen Arbeit in einer zunehmend versozialwissen-
88 Hans-Jürgen von Wensierski

schaftlichten Praxis sich nicht allein in der Ausbildung wissenschaftlich aus-


gebildeter PraktikerInnen sowie in der Produktion wissenschaftlicher Publi-
kationen erschöpft. Zu ihren wesentlichen Strukturmerkmalen gehört offen-
bar auch ein unmittelbarer Diskurs und Interaktionszusammenhang zwischen
Wissenschaft und Praxis, wie er sich in solchen institutionellen Kontexten
wie den verschiedenen Konzepten der Praxisforschung, der Wissenschaftsbe-
ratung und in der Weiterbildung manifestiert.

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11. Qualitative Verfahren in
sozialpädagogischen
Forschungsfeldem
Sozialpädagogische Institutionenforschung

Thomas Klatet:d<,i

Skripts in Organisationen
Ein praxistheoretischer Bezugsrahmen für die Artikulation des
kulturellen Repertoires sozialer Einrichtungen und Dienste

1. Praxis als Forschungsgegenstand

Wenn man anfängt, über die Anwendung qualitativer Methoden zur Erfor-
schung sozialer Einrichtungen und Dienste nachzudenken und wenn man da-
bei davon ausgeht, dass es den interpretativen Verfahren in der sozialwissen-
schaftlichen Forschung um das Verstehen von Sinn und Bedeutung geht, und
wenn man zudem annimmt, dass soziale Einrichtungen und Dienste als Sy-
steme aufzufassen sind, dann, nun dann stößt man fast unmittelbar auf fol-
gende Problemkonstellation:
Ein Blick in jene organisationstheoretische Literatur, die soziale Einrich-
tungen und Dienste als Systeme auffasst, lässt einen schnell gewahr werden,
dass soziale Systeme dort als eine überindividuelle Realität, eine Realität sui
generis, verstanden werden und dass diese Wirklichkeit im Allgemeinen
nicht als Träger von Sinn und Bedeutung gilt. l Vielmehr wird diese überindi-
viduelle Realität als eine objektive und mit determinierender Wirkung ausge-
stattete Wirklichkeit aufgefasst. Das Vorbild für diese organisationstheoreti-
sche Richtung sind die Naturwissenschaften: Organisationen als Systemen
wird ein dinghafter Charakter zugesprochen; sie werden als soziale Tatsachen
verstanden. Das wissenschaftliche Ziel ist dann die Entdeckung kausaler Ge-
setzesmäßigkeiten zwischen sozialen Fakten (z.B.: Je größer eine Organisati-
on ist, desto differenzierter ist sie). Für die empirische Erfassung solch ob-
jektiver Realität bedarf es dann aber keines interpretativen Vorgehens, son-
dern einer an den Naturwissenschaften orientierten quantitativen Methodolo-

Eine Ausnahme ist die Systemtheorie Niklas Luhmanns, in der Totalitäten Sinn zugespro-
chen wird. Die Theorie meint allerdings, darauf verzichten zu können, den empirischen
Nachweis für ihre Aussagen anzutreten. Aus diesem Grund kann sie hier unberucksichtigt
bleiben.
94 Thomas Klatetzki

gie. 2 Eine Ontologie, die darauf besteht, dass es Totalitäten gibt, scheint so
mit einer Erkenntnismethode zusammenzuhängen, die darauf verzichten
kann, den Gegenstand zuallererst zu interpretieren, denn objektive Sachver-
halte "verstehen" ja weder sich selbst noch ihre Umwelt. Was innerhalb die-
ses Bezugsrahmens empirisch ermittelt wird, sind determinierende Systeme.
Handelnde, an Sinn orientierte Individuen sind innerhalb dieses Bezugsrah-
mens nicht von Interesse.
Für die Anwendung interpretativer Verfahren bietet somit die Auffas-
sung, dass soziale Einrichtungen und Dienste soziale Systeme mit einer Rea-
lität sui generis sind, keine Ansatzpunkte. Eine aus der Sicht qualitativer Me-
thoden attraktivere Alternative zur Erforschung von Organisationen besteht
daher darin, am Individuum anzusetzen, denn dass Individuen Träger von
Sinn und Bedeutung sind, scheint eine problemlose Annahme zu sein. Unter
dem Sinn- und Bedeutungssystem einer Organisation wäre dementsprechend
nichts weiter zu verstehen als die Gesamtheit dieser individuellen Sinnvor-
stellungen. Die verbleibende interessante Frage ist dann, auf welche Weise
die einzelnen Bedeutungswelten zu einer Ganzheit kombiniert werden kön-
nen. Die z.B. in der kognitiven Organisationstheorie präferierte Vorgehens-
weise besteht darin, die Gemeinsamkeiten bzw. Überlappungen der einzelnen
individuellen Sinnwelten herauszuarbeiten (Huff 1990; Cossette 1994), um
so das Sinnsystem der Einrichtung als Ganzheit empirisch zu erfassen. Gegen
ein solches Vorgehen ist im Prinzip nichts einzuwenden. Die mit diesem
Vorgehen verbundenen Probleme beginnen allerdings dann, wenn man fragt,
wie denn diese Gemeinsamkeiten zu Stande kommen. Zur Beantwortung die-
ser Frage liegt nun der Verweis auf eine übergeordnete Realität, die Organi-
sation als soziales System, nahe. Aber dann ist man wieder bei sozialen
Sachverhalten angekommen, die eine determinierende Wirkung haben sollen,
und man befindet sich in einem Bezugsrahmen, in dem Fragen nach Sinn und
Bedeutung keine Rolle spielen.
Wenn es also um die Untersuchung von Organisationen geht, dann
scheint man auf den ersten Blick wählen zu müssen zwischen einer atomisti-
schen Perspektive, die nur subjektiv sinnorientierte Individuen kennt, und ei-
ner holistischen Perspektive, für die es allein objektive, determinierende To-
talitäten gibt. Jeder Gegenstand - Individuen hier, Totalitäten dort - ist dabei
mit einer Erkenntnismethode liiert: qualitative, verstehende Verfahren auf der
einen, quantitative, erklärende Methoden auf der anderen Seite.
Wenn man weder die eine noch die andere Position für eine theoretische
und empirische Beschreibung von sozialen Einrichtungen und Diensten für
zufrieden stellend hält, dann stellt sich die Frage, ob es einen "dritten Weg"
gibt, um Organisationen zu konzeptualisieren. Die sich seit dem Anfang der
80er Jahre entwickelnden praxistheoretischen Ansätze (vgl. Giddens 1984;

2 Exemplarisch ist hierfür der Sammelband zur Messung von Organisations strukturen von
KubiceklWelter (1985) zu nennen.
Skripts in Organisationen 95
Ortner 1984; Swidler 1986; Schatzki 1996; Reckwitz 2000) offerieren eine
solche Variante. Die mit dem Begriff ,,Praxis" verbundene Perspektive hat
der britische Soziologe Anthony Giddens folgendermaßen beschrieben: ,,Das
zentrale Forschungsfeld der Sozialwissenschaften besteht ( ... ) weder in der
Erfahrung des individuellen Akteurs noch in der Existenz irgendeiner gesell-
schaftlichen Totalität, sondern in den über Zeit und Raum geregelten gesell-
schaftlichen Praktiken" (Giddens 1988, S. 52).
Die Idee des praxis theoretischen Ansatzes besteht also darin, weder von
Systemen noch von Individuen auszugehen, sondern von Praktiken. Praktiken
sind Aktivitäten aller Art (vgl. Ortner 1984), wobei die praxistheoretische
Perspektive aber nicht einzelne Aktivitäten zum Ausgangspunkt ihrer theore-
tischen Überlegungen nimmt, sondern "the active flow of sociallife", "series
of ongoing activities and practices" oder ,,recurrent social practices" (Gid-
denslPierson 1998, S. 76). Genauer gesagt setzen praxistheoretische Überle-
gungen an den Routinen des Alltagslebens an: "The routine (whatever is
done habitually) is a basic element of ,day-to-day' social activity. (... ) The
term encapsulates exactly the routinized character which social life has as it
stretches across time-space. The repetitiveness of activities which are und er-
taken in a like manner day after day is the material grounding of what I call
the recursive nature of sociallife" (Giddens 1984, xxiii).
Routinen, die sich über Zeit und Raum erstrecken, sind das Grundele-
ment der praxistheoretischen Perspektive. Sie bilden das Fundament für die
Entstehung größerer sozialer Konfigurationen. Durch die fortwährende Re-
petitivität ihrer sozialen Aktivitäten produzieren und reproduzieren die Indi-
viduen soziale Institutionen. Dabei weisen die sich wiederholenden Aktivi-
täten eine Doppelstruktur auf. Sie bestehen aus körperlichen Verhaltensmu-
stern und aus damit untrennbar verbundenen Sinnmustern: "Soziale Praktiken
stellen einen Komplex von kollektiven Verhaltensmustern und gleichzeitig
von kollektiven Wissensordnungen ( ... ) dar, die diese Verhaltensmuster er-
möglichen und sich in ihnen ausdrücken" (Reckwitz 2000, S. 565). Praktiken
bzw. Routinen haben also einen dualen Charakter; sie bestehen zugleich aus
(materiellen) Verhaltensweisen und (ideellen) Wissensbeständen. Das Ver-
hältnis zwischen den Wissensbeständen und den Verhaltenssequenzen lässt
sich als ein rekursives verstehen. Mittels des Wissens werden die Routinen
hervorgebracht und umgekehrt behalten die Wissensstrukturen ihre Geltung
nur durch die repetitiven Aktivitäten.
Soziale Einrichtungen und Dienste lassen sich aus einer praxistheoreti-
schen Sicht dementsprechend als ein Ensemble von ineinander greifenden
Verhaltensroutinen verstehen. Aufgabe einer qualitativ inspirierten Untersu-
chung sozialer Einrichtungen und Dienste ist die Erfassung und Erläuterung
dieses Zusammenhangs von Routinetätigkeiten. Es sind im Hinblick auf ein-
zelne Routinen (z.B. die von sozialpädagogischen MitarbeiterInnen, Haus-
wirtschaftskräften und dem Leitungspersonal) zum einen die Verhaltensmu-
ster zu ermitteln, zum anderen sind die damit verbunden Wissens be stände zu
96 Thomas Klatetzki

erfassen. Es ist dann weiterhin festzustellen, wie diese Routinen ineinander


greifen, so dass sich ein Ensemble von Praktiken ergibt, das sich - auf Grund
seines Handeins und des damit verbunden Wissens - mehr oder weniger
deutlich von anderen Praxen abgrenzt.
Das theoretische Verständnis von Organisation als Praxis beruht also auf
den Begriffen Wissen und Routine. Diese beiden Begriffe beschreiben ein
und denselben Sachverhalt aus zwei unterschiedlichen Perspektiven. Wie
diese Begriffe zu verstehen sind, soll nun genauer erläutert werden.

2. Wissen

Praxis theoretische Ansätze interessieren sich nicht für Wissen "an sich", son-
dern für das Wissen im Handeln. In einem praxistheoretischen Rahmen wird
das Individuum daher als ein "engaged actor" und nicht als ein "disengaged
subject" verstanden. Mit diesem Akteursverständnis unterscheidet sich der
praxistheoretische Ansatz von dem in den Sozialwissenschaften dominanten
rationalistisch-intellektualistischen Bild eines mental prozessierenden und
die Umwelt repräsentierenden Subjekts. Gemäß letzterer Auffassung stellt
das Subjekt zunächst Überlegungen über die äußere Realität an und interve-
niert dann höchstens in einem zweiten Schritt in die Außenwelt. Den philo-
sophischen Hintergrund für diese Ansicht bildet die cartesianische Separie-
rung zwischen dem Geist und seinen mentalen Prozessen und Strukturen auf
der einen Seite und der ,,Außenwelt" der Körper und Gegenstände auf der
anderen Seite. Das Subjekt ist in erster Linie kein ,,handelndes", sondern ein
"denkendes" Wesen. In einem praxistheoretischen Ansatz wird diese Relati-
on zwischen Mentalem und Handeln umgekehrt. Der theoretische Bezugs-
punkt sind somit nicht Meinungen, Einstellungen oder Ansichten des Sub-
jekts "an sich", sondern die repetitiv hervorgebrachten Verhaltensmuster und
die mit diesen Verhaltensroutinen untrennbar verbundenen typischen Wis-
sensmuster.
Der praxistheoretische Ansatz nimmt das mit den Verhaltensroutinen
verbundene Wissen zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen, weil es ihm
nicht darum geht zu begreifen, was das menschliche Bewusstsein bzw. eine
Sinnstruktur "an sich" ist, sondern was einen menschlichen Akteur, was des-
sen "agency", seine Handlungsfähigkeit ausmacht. An die Stelle der cartesia-
nischen Trennung von Subjekt und Objekt, von Geist und Außenwelt, tritt die
maßgeblich durch die Philosophie Martin Heideggers geprägte Vorstellung,
dass das Dasein immer schon ein "In-der-Welt-sein" ist. Das Subjekt ist stets
handelnd situiert, und das heißt zugleich, dass es notwendig ein wissendes,
verstehendes Subjekt ist (vgl. Taylor 1985).
Skripts in Organisationen 97
Um die mit diesem Subjektverständnis verbundene Auffassung von Wis-
sen zu verstehen, bietet sich eine Unterscheidung an, die der Psychologe Je-
rome Bruner (Bruner et al. 1966; Bruner 1996) eingeführt hat. Nach Bruner
lassen sich drei Arten von Wissen unterscheiden, in der die Welt, oder besser
gesagt, die Invarianzen der Erfahrung und des Handeins, die "Realität" ge-
nannt werden, repräsentiert werden. Die erste Repräsentationsweise besteht
im "enactment", d.h. dem Ausführen von Handlungen und Handlungssequen-
zen. Die zweite Repräsentationsweise ist die bildliche Vorstellung (imagery);
die dritte ist die Konstruktion von Symbolsystemen. Während vor dem Hin-
tergrund des cartesianischen Weltbildes dem symbolisch repräsentierten Wis-
sen eine übergeordnete Stellung eingeräumt wurde, nimmt ein praxistheoreti-
scher Ansatz eine solche Privilegierung nicht vor. 3 Vielmehr kann man sogar
das im "enactment" repräsentierte Wissen für das entscheidendere Wissen
halten, insofern Individuen durch ihr Verhalten in einer direkten kausalen
Beziehung zur Realität stehen.4 Für bildliche Vorstellungen oder symbolische
Repräsentationen in Form von Meinungen, Einstellungen und Auffassungen
gilt das hingegen nur mittelbar (vgl. Searle 1983; WinogradelFlores 1987).
Das im "enactment", im Hervorbringen von Handlungen repräsentierte
Wissen ist auch als ein "embodied knowledge" bezeichnet worden (Blackler
1995). Shoshana Zuboff (1988, S. 61ff.) hat dieses verkörperte Wissen durch
folgende vier Aspekte charakterisiert:

1. Empfindsamkeit: Das körperliche Hervorbringen von Handlungen basiert


auf Empfindungen aller Art, d.h. das Wissen beruht auf der Verarbeitung
von Informationen aus der sozialen und physikalischen Umwelt (cues).
2. Handlungsabhängigkeit: Das "embodied knowledge" entwickelt sich
durch praktische Ausführungen. Obwohl die Kompetenzen, in denen sich
das Wissen zeigt, im Prinzip sprachlich formuliert werden können, blei-
ben sie typischerweise implizit und unartikuliert.
3. Kontextabhängigkeit: Das Wissen hat stets nur Sinn und Bedeutung in-
nerhalb eines Kontextes, in dem die dazugehörigen physischen Aktivitä-
ten auftreten können.
4. Personalität: Es ist stets ein individueller Körper, durch dessen Verhalten
sich das Wissen repräsentiert. Aus diesem Grund wird ein Zusammen-
hang zwischen dem Wissenden und Gewussten angenommen.

3 Diese Privilegierung lässt sich nicht mehr halten, seitdem in den Kognitionswissenschaften
der Versuch, den menschlichen Geist als einen körperlosen logischen Denkapparat zu mo-
dellieren, gescheitert ist. Neuere Modelle sehen den menschlichen Geist als "embodied
mind", der eingebettet ist in eine kulturelle und physikalische Umgebung (vgl. Clark 1997).
4 Statt Verhalten könnte auch Wahrnehmung als Ausgangspunkt genommen werden, denn
auch die Wahrnehmung von Individuen steht in einer unmittelbaren Beziehung zur äußeren
Realität. Allerdings sind Wahrnehmungen empirisch schwieriger zu erfassen als Verhal-
tensweisen.
98 Thomas Klatetzki

Will man dieses handlungsabhängige, auf Umweltinformationen angewiese-


ne, kontextspezifische und personale Wissen nun sprachlich repräsentieren,
so bietet sich zu seiner Beschreibung das aus der kognitiven Psychologie
(vgl. Schank/Abelson 1978), aber auch aus der dramaturgischen Soziologie
(vgl. Mangham 1978; ManghamlOverington 1983) stammende Skriptkonzept
an. Ein Skript ist ein Ereignisschema, das eine Sequenz von Ereignissen oder
Verhaltensweisen beschreibt, die für einen bestimmten Kontext angemessen
sind. Ein Skript setzt sich zusammen aus einer Reihe von Szenen, die ihrer-
seits aus einer Abfolge von Handlungen bestehen. Das Skriptwissen hat dabei
eine schematische Form; es ist ein Rezeptwissen über den typischen Verlauf
von Ereignissen. Skripts werden oft auch als ein "knowledge how" (Ryle
1949) oder "knowledge of acquaintance" (James 1950), also als ein prozes-
suales Wissen bezeichnet. Damit wird verdeutlicht, dass Skripts eine tempo-
rale Struktur aufweisen, die sich in der Abfolge der Szenen bzw. Handlungen
ausdrückt.
In der sozial wissenschaftlichen Literatur ist der Besuch eines Restaurants
ein viel bemühtes Beispiel, um das den Routinen zugrunde liegende Skript-
wissen zu illustrieren. Das Restaurantskript enthält die Szenen des Eintretens
in die Gaststätte, des sich an einen Tisch Setzens, des Bestellens, des Essens,
des Bezahlens und des Verlassens des Restaurants. Jede einzelne Szene be-
steht dabei wieder aus einer Reihe von Einzelhandlungen, wie z.B. das Su-
chen nach einem freien Tisch beim Betreten des Restaurants, das Hervorho-
len des Portemonnaies für das Bezahlen etc.
Ein solches Rezeptwissen in Form eines Skripts ermöglicht es, sich bei
einem Restaurantbesuch angemessen zu verhalten. So weiß man, dass man
sich nach dem Betreten des Restaurants zunächst einen Platz suchen muss,
dass man dann etwas bestellen kann und dass zum Schluss bezahlt werden
muss. Das Skript ist also eine Anleitung, die das Hervorbringen von Hand-
lungssequenzen ermöglicht. Zudem ermöglicht das Skript aber auch das Ver-
stehen von Situationen. Wenn uns z.B. ein Freund erzählt, er habe sich ge-
stern im Restaurant die Krawatte bekleckert, so wissen wir, womit er die
Flecken wahrscheinlich verursacht hat - und zwar ohne dass unser Freund
uns das explizit mitteilen muss. In das Ereignisschema ,,Restaurantbesuch"
ist das Schema ,,Essen und Trinken" eingebettet, und dieses Schema ermög-
licht die Schlussfolgerung, dass die Kleckerei mit Flüssigkeit entweder mit
einem Getränk (typischerweise Rotwein), mit Soßen oder mit Suppen zustan-
de gekommen ist. Zugleich verweist das Restaurant-Schema auf andere
schematische Wissensbereiche und gibt damit Einblick in weitere Aspekte
unseres Wissensnetzwerkes. So wissen wir z.B., dass das Restaurant einen
Eigentümer hat und somit können wir einen Zusammenhang zu den Konzep-
ten des Unternehmers und der Wirtschaft herstellen. Wir wissen auch, dass
wir die Rechnung mit Geld begleichen müssen und dass Geld etwas mit Ein-
kommen, Banken und Steuern zu tun hat. Und von der Steuer ergeben sich
Verbindungen zu Staat, den Parteien, dem Bundeskanzler usw. Dieser Ver-
Skripts in Organisationen 99
weisungszusammenhang macht verständlich, auf welche Weise ein Hinter-
grundwissen in Form von Ansichten, Meinungen oder Einstellungen mit dem
Skriptwissen verbunden ist und wie gedankliche Schlussfolgerungen vorge-
nommen werden können.
Skripts werden in einer praxistheoretischen Perspektive als kollektive
Wissensschemata aufgefasst, und zwar in dem Sinne, dass diese Perspektive
sich für diejenigen konzeptuellen Strukturen inter