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in der Sozialpädagogik
Cornelia Schweppe (Hrsg.)
Qualitative Forschung
in der Sozialpädagogik
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Inhalt
Wem er Thole
"Wir lassen uns unsere Weitsicht nicht verwirren". Rekonstruktive,
qualitative Sozialforschung und Soziale Arbeit - Reflexionen über
eine ambivalente Beziehung ................................................................... 43
Hans-Jürgen v. Wensierski
Rekonstruktive Sozialpädagogik im intermediären Feld eines
Wissenschaft-Praxis-Diskurses. Das Beispiel Praxisforschung.............. 67
Thomas Klatetzki
Skripts in Organisationen. Ein praxistheoretischer Bezugsrahmen
für die Artikulation des kulturellen Repertoires sozialer Einrichtungen
und Dienste ..................................................................................... ,....... 93
Cornelia Schweppe
Wie handeln Sozialpädagoglnnen?
Rekonstruktionen der professionellen Praxis der Sozialen Arbeit ......... 145
Klaus Kraimer
Zwischen Disziplin und Profession.
Ein Beitrag zur faIlrekonstruktiven Erforschung der
professionalisierten Praxis am Beispiel der "Hilfen zur Erziehung" ...... 167
Eberhard Nölke
Klinische Sozialarbeit. Annäherungen mittels qualitativer Forschung... 185
Karin Bock
Erleidensprozesse im Berufsalltag eines Sozial beamten .. ...................... 207
Adrienne S. Chambon
SociaIly Committed Discourse Analysis and Social Work Practice ....... 225
Sozialpädagogische AdressatInnenforschung
Hansjoerg Sutter
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen
in einem demokratisierten JugendstrafvoIlzug ....................................... 245
Bernhard Haupert
Die Genogrammanalyse als qualitatives Verfahren zur Rekonstruktion
von Deutungsmustern. Eine Fallstudie über "Familiengeheimnisse"
im Bergarbeitermilieu ............ ......... ..................................... ................... 279
Sozialpädagogische Evaluationsforschung
Die Diagnosen über die Entwicklung und den gegenwärtigen Stand der sozial-
pädagogischen Forschung sind nicht immer eindeutig. So konstatieren Rau-
schenbachffhole (1998) ein geringes Ausmaß des derzeitigen sozialpädagogi-
schen Forschungsvolumens, während Jakob (1997) resümiert: ,,Der Eindruck
eines generellen Forschungsdefizits in der Sozialpädagogik, der sowohl inner-
halb der Disziplin selbstkritisch angemerkt als auch aus der Außenperspektive
formuliert wird, lässt sich angesichts der entfalteten Forschungsaktivitäten m.E.
nicht mehr aufrechterhalten. Insbesondere die neuere Entwicklung zeigt die
Vielfalt bearbeiteter Fragestellungen und die Bedeutung der empirischen Er-
gebnisse für den fachlichen und wissenschaftlichen Diskurs" (S. 127). Sicher-
lich besteht kein Zweifel daran, dass die Forschungsaktivitäten in der Sozial-
pädagogik in den letzten Jahren einen erheblichen Aufschwung erfahren haben.
Vielfältige Fragestellungen in zahlreichen Arbeits- und Forschungsfeldern der
Sozialen Arbeit wurden mithilfe eines breiten Spektrums unterschiedlicher
Methoden bearbeitet. Allerdings sind die Forschungsaktivitäten in den rele-
vanten Bereichen der Sozialpädagogik ungleich verteilt. Die Jugendhilfefor-
schung ist weiter fortgeschritten als die Altenhilfeforschung, Forschungsakti-
vitäten im Bereich des professionellen HandeIns ausdifferenzierter als im Be-
reich der sozialpädagogischen Adressatlnnen- oder Institutionenforschung.
Letztendlich lassen sich aber verlässliche Aussagen weder über das Ausmaß
und das Volumen sozialpädagogischer Forschung noch über die Frage, was in
der Sozialen Arbeit mittels Forschung beobachtet und nicht beobachtet worden
ist, kaum treffen (Rauschenbachffhole 1998). Denn eine Forschung über die
sozialpädagogische Forschung, die dazu beitragen könnte, auch diese Fragen
zu klären, ist bislang kaum zu erkennen. Läge diese vor, müsste vielleicht fest-
gestellt werden, dass die sozialpädagogische Forschung doch weiterentwickel-
ter ist, als ihr Ruf vermuten lässt.
Qualitative Forschungsbemühungen, d.h. jener Teil, der das Feld mithilfe
qualitativer Forschungsmethoden erfasst, nehmen innerhalb der sozialpäd-
agogischen Forschung ein großes Segment ein und können mittlerweile auf
eine lange Geschichte zurückblicken. Begrenzt man die qualitative sozial-
pädagogische Forschung nicht vorschnell auf die neuere sozialwissenschaft-
8 Einleitung
Hanses wendet sich der (bislang ungeklärten) Frage zu, über welche
theoretischen bzw. methodologischen Konzepte sich eine originäre, qualitativ
angelegte sozialpädagogische Forschung fassen lässt und greift diesbezüglich
das Konzept der Biographie auf. Er arbeitet vier Dimensionen heraus, die in
biographischen Selbstthematisierungen eingelagert sind, nämlich den Zu-
sammenhang von Subjekt und Struktur, die Bedeutung des Körpers und des
Leibes, die Relevanz von Prozess- bzw. Leidensstrukturen sowie institutio-
nelle und professionelle Interaktionsordnungen und diskutiert, ob und inwie-
weit diese Dimensionen sinnvolle heuristische Kategorien im Hinblick auf
eine qualitative sozialpädagogische Forschung darstellen. Er kommt zu dem
Schluss, dass der Biographieforschung keineswegs die Bedeutung des Kö-
nigsweges in der sozialpädagogischen Forschung beigemessen werden kann,
Biographie sich aber als ein wesentliches Rahmenkonzept und eine Kernka-
tegorie zur Konstituierung einer sozialpädagogischen Forschung erweist und
die Frage nach der Eigenständigkeit sozialpädagogischer Forschung ein we-
sentliches Stück weiterbringen könnte.
Auch Thole wendet sich methodologischen Grundfragen einer sozialpäd-
agogischen Forschung zu. Er bettet die qualitative sozialpädagogische For-
schung in den Gesamtzusammenhang des "sozialpädagogischen Projektes"
(Theorie, Praxis, Ausbildung und Forschung) ein und wendet sich der Frage
zu, über welchen Zuschnitt und welches Profil sich eine mit dem Etikett "so-
zialpädagogisch" versehene Forschung im Rahmen des sozialpädagogischen
Gesamtprojektes legitimiert und inwieweit die Sozialpädagogik bislang auf
eine systematische, methodisch abgesicherte und über allgemeine Standards
fundierte Forschungspraxis verfügt. Ein kritischer Blick hinter die bisherige
qualitative Forschungspraxis in der Sozialpädagogik führt ihn zur Notwen-
digkeit der Formulierung von Qualitätsstandards, ohne die nicht nur die Pro-
filierung qualitativer Ansätze innerhalb der sozialpädagogischen Forschung
zur Debatte stehe, sondern auch ihr Beitrag zur Weiterentwicklung der Sozi-
alpädagogik insgesamt und insbesondere ihrer Theorieentwicklung.
V. Wensierski greift die die sozialpädagogische Forschung schon lange be-
gleitende Frage nach dem Verhältnis von Forschung und Praxis auf. Auf dem
Hintergrund des historisch engen Bezugs (qualitativer) sozialpädagogischer
Forschungsbemühungen zur sozialpädagogischen Praxis und den vielfältigen
konzeptionellen Überlegungen, die auch heute Forschung und Praxis zusam-
menführen und Forschung als Instrument zur Optimierung von praktischen
Handlungsproblemen verstehen, ist es in der Forschungstradition der Sozialen
Arbeit bis in die Gegenwart hinein oftmals zu einer unreflektierten bzw. unbe-
fangenen Vermischung der Ebenen von wissenschaftlicher Forschung und so-
zialpädagogischer Praxis und der mangelnden Beachtung struktureller Diffe-
renzen zwischen wissenschaftlichen und handlungspraktischen Strukturlogiken
gekommen. V. Wensierski negiert diese Differenzen keineswegs. Er geht aber
davon aus, dass es eine Schnittmenge zwischen sozialpädagogischer Praxis und
Forschung gibt, zumal es sich in bei den Fällen um Kommunikationsgemein-
Einleitung 11
Literatur
Flösser, G.: Soziale Arbeit jenseits der Bürokratie. Über das Management des Sozia-
len. Neuwied 1994
Jakob, G.: Sozialpädagogische Forschung. Ein Überblick über Methoden und Ergeb-
nisse qualitativer Studien in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit. In: Jakob, G./
Wensierski, H.-J. v. (Hrsg.): Rekonstruktive Sozialpädagogik. Konzepte und Me-
thoden sozialpädagogischen Verstehens in Forschung und Praxis. Weinheiml
München 1997, S. 125-160
Lüders, Chr.: Qualitative Kinder- und Jugendhilfeforschung. In: Friebertshäuser, B./
Prengel, A. (Hrsg.): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erzie-
hungswissenschaft. WeinheimlMünchen 1997, S. 795-810
Lüders, Chr.: Sozialpädagogische Forschung - was ist das? Eine Annäherung aus der
Perspektive qualitativer Sozialforschung. In: Rauschenbach, Th.rrhole, W.
(Hrsg.): Sozialpädagogische Forschung. WeinheimIMünchen 1998, S. 113-132
Lüders, Chr.lRauschenbach, Th: Forschung: sozialpädagogische. In: Otto, H.-U./
Thiersch, H. (Hrsg.): Handbuch Sozialarbeit/Sozialpädagogik. NeuwiedlKriftel
2001,2. völlig überarbeitete Auflage, S. 562-575
Rauschenbach, Th.rrhole, W.: Sozialpädagogik - ein Fach ohne Forschungskultur?
In: Rauschenbach, Th.rrhole, W. (Hrsg.): Sozialpädagogische Forschung. Ge-
genstand und Funktionen. Bereiche und Methoden. Weinheim 1998, S. 9-28
Wensierski, H.-J. v.: Verstehende Sozialpädagogik. Zur Geschichte und Entwicklung
qualitativer Forschung im Kontext der Sozialen Arbeit. In: Jakob, G.lWensierski,
H.-J. v. (Hrsg.): Rekonstruktive Sozialpädagogik. Konzepte und Methoden sozi-
alpädagogischen Verstehens in Forschung und Praxis. WeinheimIMünchen 1997,
S.77-124
Cornelia Schweppe
Frankfurt, im Sommer 2002
I. Sozialpädagogik und
qualitative Forschung:
theoretische und
methodologische Grundfragen
Andreas Hanses
1. Einleitung
ons- und fallbezogenen Diskussionen in der Sozialen Arbeit nach sich, ob-
wohl- wie Christian Lüders (1999) treffend bemerkt - beide Entwicklungs-
linien zwei Seiten der gleichen Medaille thematisieren (S. 217).
Sowohl parallel als auch quer durch beide thematische Schwerpunkte
hindurch hat der Diskurs zur Professionalisierung der Sozialen Arbeit einen
weiten Raum in der gegenwärtigen sozialpädagogischen Debatte eingenom-
men. Die Dienstleistungsdiskussionen ebenso wie der neu definierte Fallbe-
zug verleihen auf ihre je eigene Art und Weise den Debatten über die Profes-
sionalisierung der Sozialen Arbeit neue Impulse und Konturen. Dagegen se-
hen die Erörterungen zur Disziplinbildung der Sozialpädagogik und Sozialen
Arbeit relativ bescheiden aus. Diskussionen zur sozialpädagogischen For-
schung' lassen sich nur gelegentlich finden. Die "bescheidene Selbstver-
ständlichkeit" von forschungsbezogenen Beiträgen korrespondiert mit gerin-
gen Forschungsaktivitäten in den Feldern der Sozialen Arbeit. Bernd Dewe
und Hans-Uwe Otto (1996) sprechen sogar von einem "gewaltigen For-
schungsdefizit" (S. 21). Der starke Praxisbezug in der Sozialen Arbeit und
die vergleichsweise schwache disziplinäre Ausrichtung lassen eine (eigen-
ständige) sozialpädagogische Forschung zurücktreten. Haben sich in den
letzten Jahren Konzepte der Praxisforschung stärker etabliert (vgl. Müller
1998), so fehlt es dennoch an einer disziplinorientierten "anwendungsbezo-
genen Grundlagenforschung" (OUo 1998, S. 134).
Noch schwieriger wird der Sachverhalt, wenn geklärt werden soll, was
denn eine sozialpädagogische Forschung konstitutiv ausmacht, zum al Werner
Thole (1999) darauf hinweist, dass ein Teil sozialpädagogischer Forschung
entweder als "sozialpädagogische Import- oder Export-Forschung" zu verste-
hen ist. Gemeint sind also Forschungen, die sich entweder nicht auf sozial-
pädagogische Diskurse oder nicht auf sozialpädagogische Fragestellungen
beziehen. Sozialpädagogische Forschung müsste nach Thole (1999) ein De-
sign besitzen, das unterschiedliche Perspektiven zu verknüpfen vermag: Sie
müsste mit einem "sensibilisierenden Konzept" ausgestattet sein, das sowohl
,,Feld- und Bildungsbezug", "Subjekt- und Strukturperspektive" und "institu-
tionelle und personale Aspekte" erfassen kann (S. 230; auch Rauschen-
bachfThole 1998, S. 20). Sozialpädagogische Forschung erfordert somit ei-
nen multiperspektivischen Zugang zum ,,Feld"; die Problemlagen der Adres-
satInnen müssen folglich vor dem Hintergrund des lebensweltlichen Kontex-
tes und der professionellen Praxis mit ihren Interaktionsordnungen und in-
stitutionellen Rahmungen analysiert werden.
Vor dem Hintergrund der defizitären Situation sozialpädagogischer For-
schung und dem Anspruch nach Komplexitätserfassung sozialer Praxis soll in
Unter dem Begriff sozialpädagogische Forschung ist in diesem Beitrag keine im engeren
Sinne pädagogische Forschung gemeint, sondern das umfassende Repertoire sozial wissen-
schaftlicher Forschungskonzepte, wie sie im gesamten Gegenstandsbereich der Sozialen
Arbeit angewendet werden.
Biographie und sozialpädagogische Forschung 21
diesem Beitrag die Frage gestellt werden, welche Bedeutung das theoretische
und methodische Konzept ,,Biographie" für die Entwicklung und Ausgestal-
tung einer qualitativen anwendungsbezogenen Grundlagenforschung in der
Sozialen Arbeit hat. In der Soziologie und den Erziehungswissenschaften hat
die Biographieforschung ihren festen Platz im methodischen Diskurs qualita-
tiver Sozialforschung erhalten, was sich anhand vielzähliger Publikationen
hinreichend belegen lässt. Auch in der Sozialen Arbeit hat die Biographiefor-
schung Einzug in den Kanon wissenschaftlicher Methoden gehalten (vgl. v.
Wensierski 1999). Dennoch bleibt zu fragen, welche Bedeutung einer bio-
graphieorientierten Methode als ein qualitativer Ansatz hinsichtlich der Ent-
wicklung einer "originären" sozialpädagogischen Forschung zukommt. Ist
die biographische Methode nur eine mögliche Option angesichts der anvi-
sierten sozialpädagogischen Methodenpluralität? Oder ist die Biographiefor-
schung für die Soziale Arbeit - wie in anderen Diskursen zur qualitativen So-
zialforschung programmatisch formuliert - als Königsweg zu beschreiben?
Liefert Biographie als theoretisches und methodologisches Rahmenkonzept
wichtige Beiträge für eine sozialpädagogische Forschung?
Diesen Fragen wird im Folgenden nachgegangen. Zuerst werde ich an
einem Fallbeispiel explizieren, welche Kategorien sozialer Wirklichkeit in
einem biographischen Text zur Sprache kommen. Anschließend werden theo-
retische Dimensionen von Biographie vorgestellt, die für die Etablierung ei-
ner qualitativen sozialpädagogischen Forschung von hoher Relevanz sein
dürften. An diesen grundlegenden Erörterungen anknüpfend, wird abschlie-
ßend die Bedeutung der Biographie für Forschungskonzepte in der Sozialen
Arbeit diskutiert.
Wenn im Folgenden von Biographie die Rede ist, dann beziehen sich die
Erörterungen zentral auf Beobachtungen biographischer Analysen. Biogra-
phie als mögliche Kemkategorie einer sozialpädagogischen Forschung ist da-
bei immer als Konzept einer qualitativen Sozial forschung zu denken. Auf
methodische Erörterungen oder eine systematische Übersicht über biographi-
sche Forschungen in der Sozialen Arbeit wird allerdings im Rahmen dieses
Beitrags verzichtet (v gl. dazu Jakob/v. Wensierski 1997; v. Wensierski
1999). Vielmehr steht die Frage nach der heuristischen Qualität von Biogra-
phie für qualitative Forschungsstrategien in der Sozialen Arbeit im Zentrum
der folgenden Ausführungen.
Historisch lässt sich nachzeichnen, dass Biographie mit der Entwicklung der
Moderne nicht mehr nur als Lebensablauf zu beschreiben, sondern vielmehr
als eine soziale Wissens/orm zu verstehen ist (vgl. Alheit 2000, S. 152ff.).
22 Andreas Hanses
Biographie ist also nicht einfach die Summe der Lebensereignisse und -pas-
sagen, sondern vielmehr die Leistung der AkteurInnen, sich in einer moder-
nen Gesellschaft biographisch zu verorten, eine Selbstkonsistenz in der Zeit
hervorzubringen und sich nach außen hin zu präsentieren. Wir haben heute
nicht nur die Freiheit, eine Biographie zu haben. Vielmehr wird sie uns ab-
verlangt, und wir benötigen Biographie für unsere Existenz im sozialen
Raum. Biographie ist somit einerseits als "soziale Konstruktion" (Fischer/
Kohli 1987, S. 27f.) zu begreifen, und andererseits wird sie erzählerisch re-
konstruiert. Diese doppelte Konstruiertheit von Biographie - die soziale wie
die narrative Konstruktion - enthebt die Lebensbeschreibung einem ontologi-
schen Zugriff. Sie erfordert einen Zugang, der der zeitlichen (historischen)
Dimension und der Erzeugungsqualität von Biographie Rechnung trägt.
Biographie als erzählte Lebensgeschichte zu begreifen, impliziert fol-
genden Sachverhalt: Erzählen ist soziale Praxis. Die biographische Narration
bedient sich des Gegenübers, des "signifikanten Anderen", dem Biographi-
sches erzählt wird. Erzählen ist somit in konkreten Interaktionen und sozialen
Settings situiert. Es wird nicht in jeder Situation und nicht jedem Gegenüber
die gleiche biographische Selbstdarstellung präsentiert. Biographie als er-
zählte Lebensgeschichte kann als "sozialer Text" mit stark situativem Ge-
genwartsbezug betrachtet werden. Gleichzeitig ist biographische Selbstprä-
sentation - auch über die Interaktion der Gesprächssituation hinaus - nur
dann möglich, wenn ,,Erinnerungsarbeit" geleistet wird. Das erlebte Leben
wird in der gegenwärtigen Situation neu reformuliert und mittels "kognitiver
Figuren" (vgl. Schütze 1984) in einer ,,Erzählordnung" präsentiert. Wolfram
Fischer-Rosenthal (1999) spricht diesbezüglich von "biographischer Arbeit"
(S. 33ff.), in der eine "strukturelle Koppelung" zwischen kommunikativer
Situiertheit und Erinnerungsarbeit hergestellt wird.
Dabei haben lebensgeschichtliche Narrationen für die Erzählenden nicht
nur die Funktion, sich durch Erinnerungsarbeit der eigenen Lebensgeschichte
zu vergewissern, sondern aus der konkreten Erzählsituation heraus die eigene
Lebensgeschichte zu reformulieren. Das erzählerische Konstruieren der eige-
nen Biographie ist konstitutives Element einer Neuorientierung und Neuset-
zung der ProtagonistInnen. Allerdings sind Erzählungen nicht beliebig: Viel-
mehr besitzen sie eine ,,Erzähl gestalt" (vgl. Rosenthai 1995) oder "Gesamt-
formung" (vgl. Schütze 1981, 1984), mit der Erzählende ihrer biographischen
Selbstdarstellung eine innere Strukturiertheit und Sinnhaftigkeit verleihen.
Die Erzählgestalt ist im Wesentlichen der gegenwärtigen Erzählsituation wie
dem evozierten Erinnerungsstrom geschuldet. Bedeutsam an dieser "Geord-
netheit" inszenierter Neuproduktion erzählter Wirklichkeit ist, dass so der
Blick auf die den biographischen Erzählungen innewohnenden Lebenskon-
struktionen frei wird. Lebenskonstruktionen emergieren aus biographisch
aufgeschichteter sozialer Praxis und konstituieren wesentlich die weiteren
Handlungsausrichtungen und Sinnkonstruktionen der Erzählenden. Biogra-
phie als "biographische Konstruktion" (vgl. Alheit u.a. 1992; Dausien 1996;
Biographie und sozialpädagogische Forschung 23
Hanses 1996) zu begreifen, eröffnet die Perspektive auf die Strukturiertheit
wie das Strukturierende des biographischen Erzählens.
Die Frage bleibt: Welche Bedeutung kommt dieser Erkenntnisperspekti-
ve im Hinblick auf sozialpädagogische Forschung zu? Was eröffnet der so-
ziale Text biographischer Erzählung an neuen oder bedeutsamen Einsichten
in sozialpädagogische Problemstellungen? Anhand einer kurzen biographi-
schen Skizze sollen für die Soziale Arbeit relevante Dimensionen des biogra-
phischen Erzählens deutlich gemacht werden.
formieren. Biographische Erzählungen bieten sich hier als Zugang zur sozia-
len Wirklichkeit der Protagonistlnnen geradezu an. So wird in den Erzählun-
gen etwas über die Handlungen, Handlungsinitiierungen und ihre Einbettun-
gen in soziale Kontexte deutlich (vgl. Schütze 1984). Ebenso werden Prozes-
se des Erleidens, deren Ereignisverkettungen und Lösungen thematisiert (vgl.
Schütze 1981, 1999; Hanses 1999a). Darüber hinaus informieren narrative
Selbstpräsentationen nicht nur darüber, was im Leben geschehen ist, sondern
geben Auskunft, was in der eigenen Lebensgeschichte nie Wirklichkeit wer-
den konnte: eben über das "ungelebte Leben" in der Biographie (vgl. Weiz-
säcker 1956; Hanses 1996, 1999a). Autobiographische Stegreiferzählungen
sind aber vor allem Zeugnisse einer subjektiven Konstruktion eigener Wirk-
lichkeit. Die Thematisierung von Handlungen, Erleidensprozessen, die Dar-
legung von Eigentheorien und Evaluationen sind Präsentationen aus der Sub-
jektperspektive. Mit Hilfe des Zugangs zu biographischen Erzählungen erfah-
ren wir Wesentliches über die Selbstkonstitution des Subjekts.
So sehr erzählte Biographien die Perspektive auf die Konkretheit ihrer Er-
zählerInnen eröffnen, so ist doch mit Betrachtung der subjektiven Konstruktion
von Sozialwelt nur ein Aspekt von Biographie hinreichend beschrieben. So-
ziologische Theorien (vgl. Giddens 1988; Bourdieu 1994; Mead 1998) und
methodische Diskurse (vgl. Schütze 1984, 1999; Fischer/Kohli 1987; Alheit
1997, 2000; Alheit/Dausien 2000, 2000a; Oevermann 2000) zeigen nur zu gut
auf, dass die Konkretheit des Einzelfalls und das Subjektive der biographischen
Selbstpräsentation gleichzeitig Ausdruck sozialer Strukturiertheit ist. So sehr
wir in biographischen Selbstpräsentationen unsere Einzigartigkeit hervorzuhe-
ben suchen oder uns als ZuhörerIn beeindruckt von der Einzigartigkeit der ver-
nommenen Geschichte fühlen, so zeigt sich doch, dass wir diese Besonderheit
nur deshalb erzählen können, da wir auf ähnliche gesellschaftliche Erfahrungen
zurückgreifen. Die Erzählung einer Bildungskarriere oder einer beruflichen
Rehabilitation ist in ihren persönlichen Facetten in der Interaktion präsentier-
und verstehbar, weil ohne ausführliche Erklärung ein geteilter Wissensbestand
über institutionelle Erfahrungen vorausgesetzt werden kann. Damit wird aber
auch deutlich, dass unsere Erzählungen immer mehr Sinn haben, als wir expli-
zit zum Ausdruck bringen. Dieser Sinnüberschuss kann als allgemeiner, gesell-
schaftlicher Referenzrahmen verstanden werden. Unsere Biographie können
wir eben nicht jenseits der sozialen Kategorie Geschlecht, der Erfahrungen mit
unserer sozialen Lebenswelt, der kulturellen und der spezifisch zeitgeschichtli-
chen Kontexte hervorbringen. So hat Bettina Dausien sehr überzeugend aufzei-
gen können, dass biographische Erzählungen nicht nur wichtige Referenzen an
das eigene Geschlecht beinhalten. Vielmehr sind lebens geschichtliche Erzäh-
lungen gleichzeitig geschlechtstypische Selbstpräsentationen. Pointiert formu-
liert ist Geschlecht als eine soziale Kategorie nicht nur in autobiographischen
Narrationen enthalten, sondern gehen förmlich durch sie hindurch (vgl. Dausi-
en 1996, 1997, 1998).
Biographie und sozialpädagogische Forschung 27
Gleichzeitig sind die sozialen Strukturierungen biographischer Erzählun-
gen häufig nicht jener Teil der Selbstpräsentationen, der den Erzählenden refle-
xiv zur Verfügung steht. Geschlecht, soziale Lage, Kultur und Generation fun-
gieren als institutionalisierte Wissens bestände sozialer Wirklichkeit und damit
als Basisstrategien zur Bewältigung und Partizipation an sozialen Lebens- und
Alltagswelten. Die Relevanz solcher Institutionalisierungsprozesse liegt darin,
dass die Einzelnen sich ihrer nicht immer vergewissern müssen, sondern dass
sie ihnen als Basisstrategien eigenen Handeins selbstverständlich zur Verfü-
gung stehen. Aufgrund dessen sind Ressourcen frei, um neue und komplexe
Aufgaben der sozialen Praxis zu bewältigen. Die Erfahrungen der Sozialwelt
sind somit Teil eines "praktischen Bewusstseins" (Giddens 1988, S. 91 ff.), auf
das immer wieder Bezug genommen werden kann, ohne dass wir es stetig und
ausdrücklich (reflexiv) explizieren müssen. Sie sind - mit Pierre Bourdieu
(l997a) gesprochen - Ressourcen eines "praktischen Sinns", um sich in gesell-
schaftlichen ,,Feldern" bewegen zu können. Das Soziale in der Biographie
agiert somit hinter unserem Rücken, als inkorporierte soziale Praxis, als habitu-
ell verankerte Wahrnehmungs-, Handlungs- und Deutungsdisposition. Diese
Hintergründe erweisen sich nicht nur als biographische und soziale Ressourcen,
sondern gleichzeitig als Form eines einverleibten gesellschaftlichen "Unge-
wussten", das sich eigenen Reflexionen - und damit einer potenziellen Verän-
derung - verschließt. Das "Rückwärtige" des Sozialen in der Lebensgeschichte
wird zum konstitutiven Merkmal für die häufig zu beobachtende Konstanz bio-
graphischer Prozesse und Selbstthematisierungen.
Wenn Pierre Bourdieu (1998) darauf hinweist, dass der innere Zusam-
menhang von Biographie weniger auf der Sinnkonstitution der Erzählenden,
sondern auf der Abfolge von Positionen im sozialen Raum basiert, markiert
er die hohe Relevanz der sozialen Distribuierungsstrukturen auf die Ausge-
staltung von biographischen Prozessen. Dennoch trifft sein Bild, dass die
Fahrt einer U-Bahn nicht sinnvoll ohne die Struktur des Netzes zu beschrei-
ben ist, nur einen Teil von biographischen Verläufen und Prozessen (vgl.
Bourdieu 1998, S. 82). Der von Pierre Bourdieu gewählten Metapher ließe
sich entgegen halten, dass mit der Beschreibung des U-Bahn-Netzes noch
keine Aussage über die konkrete Fahrt gewonnen ist. Mit diesem Beispiel
soll auf einen weiteren Aspekt biographischer Erzählungen verwiesen wer-
den: Biographie ist bei aller Strukturiertheit selbst strukturierende Struktur.
. So zeigen beispielsweise die Analysen von Bettina Dausien (1996, 1997)
zum Zusammenspiel von Biographie und Geschlecht, dass nicht nur die so-
ziale Kategorie Geschlecht die biographischen Selbstthematisierungen
durchdringt. Genauso strukturiert das Erzählen die Geschlechterkonstituie-
rung. Doing-Gender ist nicht nur als inkorporierte soziale Praxis, sondern
gleichzeitig als biographische (Re-)konstruktionsleistung der AkteurInnen zu
verstehen. Auch in biographischen Analysen zur Krankheitsbewältigung hat
sich gezeigt, dass Krankheit nicht als life-event in das Leben der Einzelnen
"einbricht" und die Biographie bestimmt. Vielmehr wird deutlich, dass
28 Andreas Hanses
Krankheit vor dem Hintergrund lebensgeschichtlicher Etfahrungsaufschich-
tungen auch als biographische Konstruktion zu beschreiben ist (vgl. Hanses
1996, 2000; Hanses/Börgartz 200 I). Diese Beispiele verweisen auf einen we-
sentlichen Sachverhalt: Biographien sind nicht allein Ausdruck gesellschaft-
licher Determiniertheit, sondern besitzen biographischen Eigensinn und bre-
chen somit die lebensweltliche Einflussnahme auf ihre je eigene Weise, ohne
sich allerdings der Strukturiertheit durch soziale Praxis entziehen zu können.
Der konstruktivistische Ansatz der Autopoiesis, wie Humberto Maturana
und Francisco Varela (1991) ihn anhand ihrer biologischen Studien entwik-
kelt haben, mag diese Dialektik zwischen Struktur und Subjekt plausibel be-
schreiben. Entsprechend des Verhältnisses von Organismus und Umwelt lässt
sich auch die Beziehung von Subjekt und Lebenswelt durch eine "strukturelle
Koppelung" beschreiben, in der dennoch Folgen der ,,Perturbationen" nicht
aus der "Störung" selbst, sondern aus der Strukturdeterminiertheit des Sub-
jekts zu erklären sind (vgl. Maturana/Varela 1991, S. 106). Bei allen sozialen
Anpassungsprozessen ist gleichzeitig ein offener Horizont, ein nicht zu pro-
gnostizierender Rahmen gesetzt, der abhängig von biographischen Disposi-
tionen konzipiert wird.
In diesem Zusammenhang ist auf das Konzept ,,Biographizität" zu ver-
weisen. Es beschreibt die - wenn auch begrenzte - Gestaltbarkeit der eigenen
Biographie, eben die Leistungen der Subjekte, "praktisches Bewusstsein" in
"biographische Reflexivität" zu transformieren und aus dem "ungelebten Le-
ben" Handlungs- und Orientierungspotenziale zu gewinnen, ohne die Einge-
bundenheit der ProtagonistInnen in die sozialen Strukturen aus dem Auge zu
verlieren (vgl. Alheit 1995, S. 300). Biographizität kann als wichtige Schlüs-
selqualifikation des Menschen in der Modeme beschrieben werden, die eine
Anschlussfähigkeit biographischer Wissensbestände an sich verändernde Le-
benswelten ermöglicht.
Das Besondere am Konzept der Biographie ist, dass es - trotz einer vor-
dergründigen Fokussierung auf die Individualität einzelner Personen - das
Soziale in den Blick nimmt, ohne wiederum in eine strukturalistische Per-
spektive zu vetfallen. Es ist diese "soziopoietische" Qualität von Biographie
(Alheit 1997, S. 25), die sie für eine (qualitative) sozialpädagogische For-
schung so bedeutend werden lässt. Mit einem biographischen Ansatz ist die
in der sozialpädagogischen Forschung geforderte Verbindung von Subjekt-
und Strukturperspektive einzulösen. Biographie erlaubt es über den Dualis-
mus von Individuum und Gesellschaft hinauszugehen, die Perspektive für die
,,Dualität von Struktur" (Giddens 1988, S. 77) zu eröffnen. Mit dieser Ambi-
guität von Biographie ist theoretisch und methodisch ein anspruchsvolles
Konzept vorhanden, das - pointiert formuliert - nicht nur eine integrierende
Perspektive erlaubt, sondern zwingend erfordert. Biographische Analysen,
die sich auf einen Aspekt von Biographie begrenzen, drohen wichtige
Aspekte bei lebens geschichtlichen Rekonstruktionen zu vernachlässigen.
Biographie und sozialpädagogische Forschung 29
3.2 Biographie und Leib
3 Im Rahmen dieses Beitrags kann nicht auf die Differenzen zwischen Körperkonzepten, die
stark aus der angloamerikanischen, soziologischen Traditionen hervorgehen (vgl. Loenhoff
1999), und den leiborientierten Ansätzen der europäischen, phänomenologischen Strömung
eingegangen werden (vgl. Petzold 1986).
30 Andreas Hanses
ler Einverleibungen. "Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein
wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man" (Bourdieu 1997a, S. 135).
Körper und Leib übernehmen die wichtige Funktion, über den Prozess des
Inkorporierens sozialer Praxis "praktisches Bewusstsein" herzustellen, also
die Bedeutung eigenen Handeins aus der reflexiven Verfügbarkeit zu neh-
men. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich die Institutionalisierung von In-
teraktionen und rekursiv die Stabilisierung sozialer Ordnung organisieren.
Verbleibt der Leib aus dieser Perspektive als inkarnierter Speicher sozialer
Erfahrungen? Erweist sich vor diesem Hintergrund die Biographie nur als
temporäre Folie, auf der sich soziale Prozesse als Erfahrungsaufschichtung in
den Leib eingravieren?
Analysen von Lebensgeschichten kranker Menschen haben einen ande-
ren Zugang zur Leiblichkeit entwickelt. In der biographischen Erfahrung
leiblich gespürter Krisen hat sich ein Potenzial biographischer Neukonzep-
tualisierung gezeigt (vgl. Hanses 1996, 1999). Dem Leib kommt potenziell
Macht über Prozesse der Umstrukturierung und Neuordnung zu. Anders for-
muliert: Der Leib kann als "generatives Prinzip sozialen Eigensinns" be-
schrieben werden (vgl. Hanses 1999a). Laut Wolfram Fischer-Rosenthal
kommt insbesondere dem (Leib-)Erleben die Qualität zu, das in der Erfah-
rung Erarbeitete wie das Erwartete verflüssigen zu können, ohne das Kon-
struierte einer Biographie auszulöschen (vgl. Fischer-Rosenthal 1989, S. 11).
Dieser Potenzialität des leiblich Gespürten steht allerdings die Erfahrung ge-
genüber, dass nicht jede (leiblich) erlebte Krisensituation zur Veränderung,
sondern häufig zur Verfestigung von bestehenden Lebensstrategien und -pro-
blemen führt. Erst in der Verschränkung von Leib und Biographie, wenn die
leibliche Krise gleichzeitig zu einer biographischen Krise avanciert, entsteht
die Potenzialität für eine Neuordnung. In dem Moment, in dem das Affektive
des Leiberlebens in biographische Reflexivität transformiert werden kann,
entsteht die Chance, Deutungs- und Handlungsmuster zu verändern und neue
soziale Praxis zu erzeugen (vgl. Hanses 1999, 1999a).
Der Zusammenhang von Biographie und LeiblKörper lässt sich generell
als Wechselverhältnis thematisieren: "Sie stehen aneinander und durcheinan-
der, sie entwickeln jeweils autonome Strukturen, aber stets in Verbindung,
das eine stützt und irritiert das andere" (Fischer-Rosenthal 1999, S. 15f.).
Über den Leib können wir einen wichtigen Erklärungszusammenhang für den
Einlass des Sozialen in die Biographie entwickeln. Gleichzeitig ermöglicht
die Perspektive auf das Biographische, die Eingebundenheit des Leiblichen in
die biographischen Sinnhorizonte und (reflexiven) Bedeutungszuweisungen
der sozialen Kontexte zu thematisieren. Forschungsstrategisch besitzt der en-
ge Zusammenhang von Biographie und LeiblKörper für eine sozialpädagogi-
sche Forschung einen ganz eigenen Charme. Die biographische Perspektive
eröffnet eine fallorientierte Perspektive: Der leiblich vermittelte Subjekt-
Struktur-Zusammenhang kann immer wieder vor dem Hintergrund des ein-
zelnen Falles (re-)formuliert werden. Zudem eröffnet das biographische Er-
Biographie und sozialpädagogische Forschung 31
Eröffnen die Analysen von Verlaufskurven eine Perspektive auf das Leiden
an der sozialen Wirklichkeit, so ist damit keineswegs eine einseitige Patholo-
Biographie und sozialpädagogische Forschung 33
gisierung der AdressatInnen Sozialer Arbeit intendiert. Biographische Analy-
sen zeigen vielmehr, dass ein problemorientierter Blick durch eine res sour-
cenorientierte Perspektive zu ergänzen ist. Biographische Erzählungen sind
durch eine große Ambiguität gekennzeichnet: Das Kritische und die Poten-
ziale liegen in den Narrationen nah beieinander (vgl. Hanses 2000a, S. 373f.).
Die Analyse biographischer Selbstthematisierungen ermöglicht eine Antwort
auf die Frage, wie schwierige Lebenslagen und Lebenskrisen - unter Um-
ständen auf sehr eigensinnige Art und Weise - bewältigt werden, wie es zu
einem Umschlag, einem "Wandlungsprozess" (vgl. Schütze 1981, 1984)
kommen kann, wie in der Krise das Subjekt zu verschwinden droht, aber in
dem Zerreißen von Kohärenzen neue Zusammenhänge geschaffen werden
können (vgl. auch Weizsäcker 1997, S. 295ff.; Hanses 1996, 1999; Hanses/
Börgartz 2001). Krisen verweisen auf einen "qualitativen Sprung" hin zu ei-
ner Neuorganisation von Kompetenzen (vgl. Mennemann 2000, S. 224).
Sozialpädagogische Forschung benötigt ein sensibilisierendes Konzept, um
die Brüchigkeit menschlicher Existenz und die Potenziale der Subjekte wahr-
zunehmen. Hugo Mennemann (2000) fordert diesbezüglich, Krise als einen
Zentralbegriff der Sozialpädagogik zu begreifen. Krise kann als heuristisches
Konzept betrachtet werden, das es ermöglicht, die Komplexität von Lebens-
und Alltagswelten, den interaktiven Aspekt sozialer Praxen und Lebensvollzü-
ge sowie Formen des Aneignungshandelns zu untersuchen (S. 225). Biographi-
sche Erzählungen erweisen sich wiederum als zentraler Zugang zu Verlaufs-
kurven- und Bewältigungsprozessen aus der Perspektive der Subjekte. Vor al-
lem aber werden mit einem biographie- und krisenorientierten Konzept zwei
Erfordernisse sozialpädagogischer Forschung bedient. Zum einem wird mit ei-
nem solchen Konzept die Forderung, das Spannungsfeld zwischen Feld- und
Bildungsbezug zu erfassen, einlösbar. Biographie eröffnet sowohl die Perspek-
tive auf die Einlagerungen biographischer Veriaufskurven, Krisen und Bewäl-
tigungsprozesse im Kontext unterschiedlicher Felder sozialer Realität. Gleich-
zeitig ist Auskunft über die Aneignungsleistungen, die handlungsschemati-
schen Initiierungen und ihre sozialen Einbettungen zu erhalten. Mit diesem
Wissen sind Anknüpfungspunkte für einen (biographieorientierten) sozialpäd-
agogischen Bildungsbezug eröffnet (vgl. Kraimer 1994). Zum anderen illustrie-
ren biographische Analysen, dass Krisen- und Krisenveriäufe nur vor dem Hin-
tergrund der Interaktionen mit Professionellen und im institutionellen Kontext
zu verstehen sind. Damit ist ein weiterer wichtiger Bezugspunkt genannt: das
Verhältnis von Biographie und Institution.
Dennoch ist die entscheidende Frage, wie das Verhältnis von Biographie und
Institution, von sozialpädagogischen (personenbezogenen) Dienstleistungen
und ihren AdressatInnen, zu bestimmen ist. Die Relevanz des Zusammenhangs
von Biographie und Institution für sozialpädagogische Forschung möchte ich
auf drei Ebenen skizzieren:
hält (S. 129), so wäre vor dem Hintergrund der oben geführten Diskussion
Biographie zumindest als ein Konzept zu betrachten, das die Frage nach der
Eigenständigkeit sozialpädagogischer Forschung ein bedeutendes Stück wei-
ter bringen könnte. Diese Verortung würde allerdings eine theoretische Dis-
kussion erfordern, die die Trennung zwischen Dienstleitungsdebatte und fall-
orientierter Sozialpädagogik auflöst. Notwendig wäre es auch, Biographie
aus dem Bereich der ,,rekonstruktiven Sozialpädagogik" herauszuheben und
sie stärker als heuristische Zentralkategorie für den Gesamtbereich der So-
zialen Arbeit und sozialpädagogischen Forschung zu nutzen. Dessen unge-
achtet wird sich nicht über theoretische und methodologische Erörterungen
allein sozialpädagogische Forschung konstituieren lassen. Im Sinne Christian
Lüders (1998) wird es wichtig sein, die Praxis sozialpädagogischer For-
schung zu verstärken, um vor dem Hintergrund empirischer Analysen, me-
thodischer Erfahrungen und gegenstandsbezogener Theoriebildung ein Kon-
zept sozialpädagogischer Forschung zu konturieren. Wird eine solche Option
favorisiert, bedarf es aber den Mut der Sozialen Arbeit sich mit einem gewis-
sen Selbstverständnis als forschende Disziplin zu begreifen.
Literatur
Forschung hat inzwischen ihren Platz in der Sozialpädagogik. Mehr als je zu-
vor wird in der sozialpädagogischen Praxis, in der akademischen Ausbildung
und in der wissenschaftlichen Kommunikation auf empirische Daten zurück-
gegriffen. Dies trifft auch - vielleicht sogar insbesondere - auf rekonstrukti-
ve, qualitative Forschungszugänge und -ergebnisse zu, wenn auch keines-
wegs in der Exklusivität, wie zuweilen angenommen oder unterstellt wird
(vgl. u.a. Kraimer 1994). Gelegentlich drängt sich sogar der Eindruck auf,
dass mit rekonstruktiven, qualitativen Methodendesigns durchgeführte Pro-
jekte und ihre Befunde immer noch skeptisch begutachtet werden. Die Wahr-
nehmung, dass das rekonstruktive, qualitative Forschungsspektrum nicht von
allen gleichermaßen akzeptiert wird, stützt sich zum einen auf die zuweilen
bemitleidenswerte Charakterisierung derjenigen durch die disziplinäre sozi-
alpädagogische ,,zunft", die ihre Fragen mithilfe rekonstruktiver, qualitativer
Methoden aufzuklären versuchen. Leider korrespondiert diese Beobachtung
aber auch mit der gegenwärtigen Forschungsrealität. Nicht durchgängig alle
Projekte, die rekonstruktiven, qualitativen Methoden vertrauen, operationali-
sieren diese in einer Form, die den minimalsten Standards, so weit solche
überhaupt zu identifizieren sind, entsprechen. Der Beitrag stellt sich diesem
Problem und wirft einen flüchtigen Blick hinter die Fassaden der rekonstruk-
tiv qualitativen sozialpädagogischen Forschungslandschaft (Abschnitt 4).
Implizit wird damit erstens die Frage evoziert, inwieweit die Sozialpädagogik
auf eine systematische, breite und methodisch abgesicherte, über allgemeine
Standards fundierte Forschungspraxis verweisen kann (Abschnitt 2 und 5)
und zweitens wird angeregt, darüber nachzudenken, welche Rolle Forschung
im Kanon des sozialpädagogischen Gesamtprojekts spielt (Abschnitt 1).
Drittens und im Grunde zuvor ist allerdings zu klären, über welchen spezifi-
schen Zuschnitt sich eine Forschung mit dem Etikett "sozialpädagogisch" le-
gitimiert, ob also die Rede von "sozialpädagogischer Forschung" überhaupt
zurecht erfolgt und wenn ja, welches Profil diese zeigt beziehungsweise zei-
Der Titel variiert spielerisch ein Zitat des kritischen Gesellschafts- und Kunsttheoretikers
M. Raphael (vgl. Heinrichs 1989).
44 Werner Thole
gen kann (Abschnitt 2 und 3). Der Beitrag wird dementsprechend auch nach
dem methodologischen Grundgerüst einer mit dem Adjektiv "sozialpädago-
gisch" versehenen Forschung Ausschau halten. Unabhängig von der Antwort
auf diese Frage ist sicherlich leicht ein Konsens dahingehend zu erzielen,
dass - im Gegensatz beispielsweise zur sozialwissenschaftlichen Jugendfor-
schung, wo insbesondere in den 1980er Jahren eine dezidierte Methodendis-
kussion zu beobachten war und heute noch ist - die sozialpädagogische For-
schung respektive die Forschung, die sich auf die Handlungsfelder der So-
zialen Arbeit bezieht, auf eine ausgewiesene methodenorientierte Diskussion
nicht verweisen kann. Gelegentlich wird diese Diskussion sogar durch frag-
würdige Konvergenzannahmen zwischen Forschungs- und Handlungsmetho-
den überlagert beziehungsweise als wenig fruchtbar etikettiert, weil, so die
Vermutung, das rekonstruktive, qualitative Forschungsparadigma im Kon-
trast zu quantitativen Zugängen eine besondere Affinität zur Sozialen Arbeit
auszeichnet (Abschnitt 3). Der kritische Blick auf die Praxis rekonstruktiver,
qualitativer Forschung im Feld der Sozialen Arbeit wird mit einem die ge-
genwärtige Realität verlassenden kurzen Ausblick abgeschlossen (Abschnitt
5). Votiert wird hier abschließend wie auch schon in dem folgenden Ab-
schnitt für eine über empirische Befunde abgesicherte Theorie der Sozialpäd-
agogik.
• wie "sich die Migration, die Toleranz und das Untolerierbare im dritten
Jahrtausend zueinander" (Eco 1999, S. 89) verhalten, wie sich die So-
ziale Arbeit zu dem Problem positionieren kann, einerseits ImmigrantIn-
nen das Leben ihrer sozialen und kulturellen Identität auch in der ,,Frem-
de" zu ermöglichen, anderseits jedoch auch wahrnimmt, dass diese Un-
terstützungen dazu betragen, noch nicht säkularisierte Orientierungen
politisch zu radikalisieren und fundamentalistische Deutungsmuster der
Ungleichheit zu stabilisieren,
• mit welchen Folgen die Soziale Arbeit durch ihre aktiven Integrations-
und Inklusionsleistungen Subjekten nicht auch erleichtert, normative ge-
sellschaftliche Standards zu internalisieren,
• inwieweit sich die ökonomische und ökologische Neuordnung auch auf
die Soziale Arbeit auswirkt und eine Neubewertung der ,,Arbeit" in der
"flexiblen" Erwerbsarbeitsgesellschaft provoziert und
• ob und wenn in welcher Form sich die Profession der Sozialen Arbeit mit
welchen empirischen Argumenten in die sich dynamisierenden sozial-
und kulturpolitischen Diskussionen neu einzubringen vermag.
Die Sozialpädagogik ist über diese neuen wie alten Fragen herausgefordert,
sich bezüglich ihrer theoretischen Vergewisserungen und handlungsprakti-
schen Operationalisierungen wesentlich deutlicher als bislang über empiri-
sche Beobachtungen abzusichern. Damit ist in Erinnerung gerufen, dass das
Nachdenken über sozialpädagogische Forschung sich nicht auf methodische
Fragestellungen reduzieren darf. Das Neu-Denken ist zu verorten in ein
Nachdenken über die Sozialpädagogik als ein Projekt, das sich erst mit der
Durchsetzung der Moderne konstituierten konnte und jetzt, zumindest wenn
den weitreichendsten gesellschaftlichen Theoriekonzepten nicht abgesagt
wird, vor der Aufgabe steht, einen Platz in den dynamischen Prozessen hin
zur "zweiten Moderne" zu finden, . die, so scheint es, kaum zu bremsen,
gleichwohl kritisch zu reflektieren und in ihrer Entwicklungsrichtung zu be-
einflussen sind.
Relativ souverän, vielleicht sogar frech wurde bis dato von der Realität einer
sozialpädagogischen Forschung ausgegangen. Ob und wenn überhaupt mit
welchen inhaltlichen Akzentuierungen jedoch von "sozialpädagogischer For-
schung" gesprochen werden kann, ist strittiger als manche Annahmen unter-
stellen (vgl. u.a. Hornstein 1998; Lüders 1998; Mollenhauer 1998; Schulze-
Krüdener/Homfeldt 2002). Wird eine schnelle und einfache Klärung gesucht,
dann könnte sozialpädagogische Forschung einfach über die Forschungspra-
"Wir lassen uns unsere Weitsicht nicht verwirren" 49
xis der SozialpädagogInnen geortet und erkundet werden, also über jenes,
was im Rahmen der Sozialpädagogik als Forschung stattfindet. Sozialpäd-
agogische Forschung wäre dann die Forschung, die sich mit Fragestellungen
der Sozialen Arbeit im Allgemeinen und Besonderen beschäftigt oder aber
das Feld der Sozialen Arbeit als Forschungsgegenstand betrachtet. Oder wird
Forschung zu sozialpädagogischer Forschung erst durch eigenständige, spezi-
fische Fragestellungen, durch einen besonderen Gegenstandsbereich, durch
entsprechende Methoden und einen "sozialpädagogischen Blick"? Oder
kommt vielmehr erst in einer spezifischen Kombination und Verknüpfung
von Gegenstand, Fragestellung und Methode sozialpädagogische Forschung
zum Vorschein? Auch dieser Frage- und Themenkomplex ist bislang keines-
wegs klar, geschweige denn konsensual beantwortet (vgl. hierzu und zum
Folgenden RauschenbachfThole 1998). Bei genauerer Betrachtung sind min-
destens drei unterschiedliche Forschungsperspektiven auf das Feld der So-
zialen Arbeit zu erkennen. Erstens können wir eine sozialpädagogische Im-
port-Forschung entdecken. Hier liegt ein Typus von sozialpädagogischer
Forschung vor, der zwar auf ein sozialpädagogisches Interesse trifft, jedoch
wenig mit der disziplinären Fachkultur gemein hat, das heißt nicht aus sozial-
pädagogischen Diskursen heraus entwickelt und auch nicht dezidiert auf sie
rückbezogen wird. Einen solchen Typus von Forschung stellen beispielswei-
se jene Forschungsprojekte dar, die aus einer allgemein-sozialwissenschaftli-
chen, juristischen, historischen, medizinischen oder psychologischen Per-
spektive sozialpädagogisch relevante Fragestellungen und Gegenstandsberei-
che beleuchten, ohne den sozialpädagogischen Diskurs ausdrücklich im Blick
zu haben. Zweitens scheint es eine sozialpädagogische Export-Forschung zu
geben, also eine Forschung, die zwar von SozialpädagogInnen durchgeführt
wird, jedoch nicht auf sozialpädagogische Fragestellungen im engeren Sinne
bezogen ist. Dies wäre, etwas salopp formuliert, eine Art sozialwissenschaft-
liche Forschung aus dem "sozialpädagogischem Milieu". Und drittens kön-
nen wir eine sozialpädagogische Forschung im engeren Sinne erkennen, die
von sozialpädagogisch orientierten WissenschaftlerInnen zu Fragestellungen
der Sozialen Arbeit durchgeführt wird.
Im Unterschied zur sozialpädagogischen Import- und Export-Forschung
koppelt die genuin sozialpädagogische Forschung Forschungsfrage und For-
schungsgegenstand, basiert auf den Zusammenhang von sozialpädagogi-
schem Diskurs, einem daraus resultierenden "sozialpädagogischen Blick"
und dem sozialpädagogischen Beobachtungsgegenstand innerhalb des sozial-
pädagogischen Koordinatensystems. Als sozialpädagogische Forschung ist
folglich jene Forschung zu bezeichnen, die im Kern allgemeine, möglicher-
weise auch von anderen Disziplinen zu beobachtende Fragestellungen über
die Verknüpfung unterschiedlicher Aspekte, gesellschaftlicher Bereiche und
Spektren um einen der Sozialpädagogik eigenen, typischen "sozialpädago-
gischen Blick" anreichert, einen Blick, der zwischen ,,Feld- und Bildungs-
bezug", zwischen Subjekt- und Strukturperspektive, zwischen institutionellen
50 Werner Thole
Die hier vorgetragene Annahme, wonach erstens gute Argumente dafür spre-
chen, von der Existenz einer eigenständigen sozialpädagogischen Forschung
auszugehen, diese sich jedoch zweitens nicht durch eine neue Meta-Methodo-
logie in Konkurrenz zu den Sozialwissenschaften begründet, sondern über die
punktgenaue thematische Herausarbeitung und Präzisierung des jeweiligen
Forschungsgegenstandes und fundierte Wahl des methodischen Designs, aus-
gewählt aus dem Methodenreservoir der Sozialwissenschaften, ist eben genau
hinsichtlich der methodischen Repertoires zu präzisieren. Insbesondere
scheint dies angemessen, weil von "forschungsfernen", sozialpädagogischen
Konzepten immer noch ein auffälliges Unbehagen gegenüber der konventio-
nellen Sozialforschung auf Grund ihrer demonstrativen Unterstreichung stan-
dardisierter Erhebungsinstrumente signalisiert wird. Mit anderen Worten: So-
zialpädagogischer Forschung wird - zumindest in den vielen praxisorientier-
ten Projekten - eine deutliche Affinität insbesondere zu "qualitativen" Erhe-
bungsformen zugesprochen. Zuweilen wird sogar angenommen, insbesondere
die qualitative Sozialforschung erhält im Mantel der Sozialpädagogik das ihr
eigene Profil (vgl. u.a. Kraimer 1994).
Das Unbehagen gegenüber standardisierten, quantitativen Verfahren war
jedoch zu keiner Zeit Gegenstand einer ausgewiesenen fachlichen Methodenre-
flexion bzw. -debatte, obwohl - historisch betrachtet - Forschungsprojekte zu
Fragestellungen der Sozialen Arbeit im letzten Jahrzehnt deutliche Sympathien
" Wir lassen uns unsere WeItsicht nicht verwirren" 53
für qualitative, induktive Verfahren zeigten und eine wenig begründete und
ausgewiesene Skepsis gegenüber der quantitativen, hypothetisch-deduktiven
Methodologie entwickelten. In der Sozialpädagogik gibt es offensichtlich ähn-
lich wie in der Erziehungswissenschaft Gründe, über die Schwierigkeiten des
Umgangs mit der Entscheidung für oder gegen qualitative oder quantitative
Methoden nachzudenken bzw. ,,Reservate für die Entwicklung und Anwen-
dung dieser Methoden zu fordern" (Prein/Erzberger 2000, S. 344).
Erst im Zuge der sich in jüngster Zeit profilierenden sozialpädagogischen
Forschung, insbesondere als Kinder- und Jugendhilfeforschung, rücken for-
schungsmethodische Fragen dezidiert (vgl. u.a. aktuell Jakob 1997; Lüders
1997) und im Kontext oder als Resultat von konkreten Forschungsprojekten
(vgl. u.a. Haupert 1991; Helsper u.a. 1991; Thole 1991; Nölke 1994; Projekt-
gruppe Jugendhilfe im Umbruch 1994; Thole/Küster-Schapfl 1997) stärker
ins Blickfeld. Über die sich hierüber anzeigende Entwicklung ist die Frage,
inwieweit sich eine eigenständige sozialpädagogische Forschung gegenüber
Projekten und Fragestellungen in Bezug auf andere disziplinäre Forschungs-
zugänge nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch zu profilieren vermag
oder sich nur im Kontext dieser generell ausbuchstabieren lässt, neu auf die
Tagesordnung gesetzt. Gegenüber den tendenziell primär handlungs- respek-
tive aktionsorientierten und praxisevaluierenden Projekten der 1970er Jahre
und den stark an aktuelle, theoretische Fragen angekoppelten Forschungs-
projekten der 1980er Jahre sind die methodischen Vergewisserungen seit der
ersten Hälfte der 1990er Jahre möglicherweise erste Indizien für eine deutli-
chere und selbstvergewissernde Rahmung der methodischen Designs und
Verfahren der neueren Forschungen im Feld der Sozialpädagogik. Neben den
handlungsorientierten Forschungen und text- und sozialgeschichtlich ange-
legten Untersuchungen sind seit diesem Zeitpunkt verstärkt qualitativ orien-
tierte, mit narrativen Verfahren, teilnehmenden Beobachtungen, Verfahren
der Gruppendiskussion und anderen rekonstruktiven Methoden operierende
Projekte (vgl. die Übersichten bei Jakob 1997; Lüders 1997; Schefold 2002)
als auch repräsentativ angelegte, kinder- und jugendhilfeorientierte Panora-
ma- und Längsschnittstudien sowie sekundäranalytische Auswertungsverfah-
ren und kritisch aufarbeitende, theoriegeleitete, felderschließende Studien
(vgl. u.a. Thimm 2000) zu entdecken.
Obgleich ein Ende der Diskussionen um die Adäquatheit qualitativer und
quantitativer Methoden auch in den Sozialwissenschaften noch nicht gänzlich
beendet scheint, der Methodenstreit fortdauert (vgl. u.a. Esser 1987; Hitzler/
Honer 1997; Prein/Erzberger 2000), geht es doch inzwischen nicht mehr so
sehr um weitere Abgrenzungen der unterschiedlichen Forschungsstrategien,
sondern darum, die gewählte methodische Orientierung zu präzisieren und ih-
re Angemessenheit für die gewählten Fragestellungen und die Validität der
erhobenen Wissenskontingente zu belegen (vgl. Schröer 1994; HitzlerlHoner
1997). Diese Ortsbestimmung erlangt auch in der Sozialpädagogik immer
mehr Aufmerksamkeit (vgl. RauschenbachlThole 1998; Thole 1999a). In der
54 Werner Thole
Damit ist kein Defizit reklamiert, welches nur die Soziale Arbeit alleine be-
trifft. In den Erziehungswissenschaften insgesamt mangelt es an einem breit
etablierten ,,Ritus der akademischen Selbst-Initiation" (Zinnecker 2000, S.
393) in die Forschungskultur des Faches. Solange diese sich nicht herausbil-
det, wird die Forschung insgesamt und die rekonstruktiv qualitative For-
schung im Konkreten innerhalb der Sozialen Arbeit aus einer doch mehr oder
weniger gut situierten Exotenrolle nicht herauskommen. Wünscht sie die
Würdigung zu erlangen, die die einschlägige Grundlagenforschung heute
schon genießt, ist sie angehalten, ihre grundsätzliche Skepsis gegenüber der
Qualität der erhobenen Daten nicht nur programmatisch zu bekunden, son-
dern auch belegend zu entwickeln (vgl. Honer 1993). Und dazu hat sie in der
Forschungspraxis wie -reflexion und -ausbildung ihre methodologischen
Hausaufgaben zu erledigen - sonst bleibt es bei einer fragwürdigen, unplausi-
bilisierten ,,hemdsärmeligen Praxis".
"Wir lassen uns unsere Weitsicht nicht verwirren" 61
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Hans-Jürgen von Wensierski
Das zentrale Thema der Sozialen Arbeit als Wissenschaft und Handlungssy-
stem ist die Frage: Wie und mit welchen sozialen und institutionellen Formen
und Konzepten ist eine sozialstaatlich organisierte demokratische Gesell-
schaft möglich?
Die so fokussierte ThemensteIlung macht zugleich auf das Apriori wie
auf die Zielstellung der Sozialen Arbeit aufmerksam. Sie ist als Wissen-
schafts- und Institutionensystem unauflösbar an die Existenz des modemen
und demokratischen Sozialstaats gebunden und stets auf ihn bezogen. Aller-
dings setzt sie nicht den Sozialstaat mit der Gesellschaft gleich. Der Sozial-
staat ist das Instrument zur Herstellung und Sicherung einer demokratischen
Rekonstruktive Sozialpädagogik 69
und tendenziell sozial gerechten Gesellschaft. Die in dieser Definition an-
klingende Objektstellung ist dabei wechselseitig. Der Sozialstaat ist der So-
zialen Arbeit Instrument, insofern ihre Aufgabenstellungen historisch nicht
erst durch sozialstaatliche Strukturen entstanden sind, sondern vorgängige
soziale und gesellschaftliche Problem- und Notlagen im Gefolge gesell-
schaftlicher Modernisierungsprozesse und nicht zuletzt unter dem Einfluss
sozialer Bewegungen die Soziale Arbeit im Verlauf des 19. Jahrhunderts her-
vorbrachten, institutionalisierten und professionalisierten. Im Gegenzug ist
die Soziale Arbeit aber auch das Instrument des Sozial staats, als die sozialen
Dienste im Prozess der Durchsetzung und Konsolidierung des modemen de-
mokratischen Verfassungsstaates als institutionelle Garanten einer sozialen
Ordnung zunehmend verrechtlicht und verwissenschaftlicht wurden.
Die Aufgabenstellung der Sozialen Arbeit, ihre Handlungsfelder und ihre
AdressatInnen leiten sich aus eben dieser Verwurzelung im modemen demo-
kratischen Verfassungs staat und seiner sozialen Gesellschaftsordnung ab, und
zwar auf drei Ebenen:
• Auf der Ebene der Individuen - als Frage nach den Biographien und Bil-
dungsprozessen
• Auf der Ebene der sozialen Lebenslagen - als Frage nach den sozialen
und institutionalisierten Beziehungsformen und kulturellen Ausdrucks-
formen
• Auf der Ebene der sozialstaatlichen Strukturen als Frage nach der Sozial-
ordnung und Sozialpolitik
Für jede dieser drei Ebenen rekurriert die Soziale Arbeit dabei auf eine spezi-
fische Bezugswissenschaft: für die Ebene der Individuen und die Gestaltung
ihrer Biographien und Bildungsprozesse auf die Pädagogik, für die gesell-
schaftlichen Lebenslagen auf die Soziologie und für die Ebene der sozial-
staatlichen Strukturen auf die Sozialpolitik. Für die Frage des Wissenschafts-
charakters und des Forschungsprogramms der Sozialen Arbeit bedeutet das,
dass ihr Bezugssystem interdisziplinär - eben sozialwissenschaftlich ist. Die
Eigenständigkeit und Autonomie der Sozialen Arbeit als Wissenschaftsdiszi-
plin ergeben sich auf dieser Basis gleichwohl aus ihrer exklusiven Aufgabe,
den Zusammenhang zwischen diesen drei Ebenen unter dem Gesichtspunkt
sozialer, ziviler und politischer Bürgerrechte theoretisch zu reflektieren,
Handlungsstrukturen für jede dieser drei Ebenen zu schaffen und diese in ei-
nem sozialen Netzwerk der Institutionen und Praxisfelder der Sozialen Arbeit
zusammenzubinden und untereinander zu koordinieren - und zwar im Blick
auf das Handlungssystem der Sozialen Arbeit, seine Aufgabenstellungen,
AdressatInnen, seine methodischen und institutionellen Anforderungen, seine
Systematik und Professionalität. Gegenstandsfeld der Sozialen Arbeit sind
damit nicht nur die empirisch vorfindlichen Praxisfelder, sondern die im Sin-
ne ihrer programmatischen Zielstellung notwendigen und sinnvollen.
70 Hans-Jürgen von Wensierski
Damit ist zugleich die Frage nach der Reichweite und Zuständigkeit So-
zialer Arbeit in der modernen Gesellschaft angesprochen. Soziale Arbeit ist
nicht die Metainstanz für das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft
und sie kann auch keine Allzuständigkeit für die Lebensführung in modernen
Gesellschaften schlechthin beanspruchen. Ihre Zuständigkeit leitet sich viel-
mehr aus den bürgerrechtlichen Postulaten des demokratischen Sozialstaates
ab: Es ist die Quintessenz moderner demokratischer Sozialstaaten, dass die
Garantie der Bürgerrechte und die Zivilität des gesellschaftlichen Gesamtzu-
sammenhangs auf dem Ziel der Chancengleichheit qua Bildungsprozessen,
auf der gestaltenden sozialen Sicherung der ökonomischen, sozialen und
kulturellen Partizipation pluralistischer Lebenslagen sowie auf dem gesell-
schaftlichen Interessenausgleich qua politischer Partizipation fußt.
Hervorstechendes Merkmal der Sozialen Arbeit ist heute die Entstruktu-
rierung ihrer Aufgabenfelder und institutionellen Zuständigkeiten. Die Aus-
differenzierungsprozesse moderner Gesellschaften haben mit der verfas-
sungsmäßigen Verankerung eines demokratischen Sozialstaatsgebots die öf-
fentlich verhandelten Gerechtigkeitsfragen und Gerechtigkeitsprobleme in-
nerhalb der gesellschaftlichen Organisation ungeheuer vergrößert - neben
Fragen der Armut und Marginalisierung treten zunehmend die Aspekte: Ge-
schlecht, Arbeit, Bildung, Behinderung, Krankheit, Sexualität, Ethnie, Kul-
tur, Generation, Alter, Familie, Gewaltstrukturen usw. in den Fokus gesell-
schaftlicher Debatten. Hierin vor allem - und nicht allein in den sozioökono-
mischen Individualisierungsprozessen - liegt der Grund für die parallel dazu
verlaufende Ausdifferenzierung und Entstrukturierung der Sozialen Arbeit
und ihrer Zuständigkeiten. Es ist die politische Skandalisierung und öffentli-
che Thematisierung von Gerechtigkeitsproblemen, die die Zuständigkeit und
Aufgabenstellung der Sozialen Arbeit bestimmen und tendenziell entgrenzen.
Insofern sind auch die Debatten um die Krise und den Umbau des Sozial-
staats nicht per se Ausdruck für dessen Auflösung und damit Menetekel für
ein drohendes Ende auch der Sozialen Arbeit (Winkler 1988, S. 227ff.). Im
Gegenteil sind diese Diskussionen die notwendige Konsequenz einer reflexi-
ven Modernisierung, in der die Diskussion von Gerechtigkeitsproblemen
auch auf die konzeptionellen und bürokratischen Instrumente sozialstaatli-
cher Regulative selbst bezogen werden.
Im seI ben Maße, wie solche Gerechtigkeitsprobleme durch sozialstaatli-
che Gestaltungsprozesse bearbeitbar erscheinen, verändern, verlagern, er-
weitern und vervielfältigen sich auch die Aufgabenstellungen der Sozialen
Arbeit. Das bedeutet aber keineswegs eine universelle sozialpädagogische
Rundumversorgung aller Bevölkerungsgruppen entlang des gesamten Le-
benslaufs und quer durch alle Lebenslagen. Eine Normalisierung der Sozialen
Arbeit lässt sich deshalb weniger in einem empirischen als in einem pro-
grammatischen Sinne konstatieren: Potenziell können alle Bereiche der Bil-
dung, des Sozialen und des Lebenslaufs heute zu Themen und Aufgaben-
steIlungen Sozialer Arbeit werden, insoweit in ihnen zentrale Fragen des so-
Rekonstruktive Sozialpädagogik 71
Erstens, die Ebene einer professionellen Reflexion der Praxis durch den
professionellen Sozialarbeiter im beruflichen Alltag
• Zweitens, die Ebene eines intermediären Feldes als kooperative und
handlungsbezogene Reflexion sozialpädagogischer Praxis durch Wissen-
schaft und Sozialpädagogik (wissenschaftliche Weiterbildung und Be-
gleitforschung (Praxis-, Evaluationsforschung; Planungsforschung)
Drittens, die Ebene einer wissenschaftlich-analytischen Forschung, deren
Methodologie und Gütekriterien allein den Anforderungen eines hand-
lungsentlasteten Wissenschaftssystems verpflichtet sind.
Ich will mich im Weiteren auf die mittlere Ebene beschränken und einige
Hinweise zur Struktur des intermediären Feldes am Beispiel der Praxisfor-
schung skizzieren. Das Feld der so genannten Praxisforschung innerhalb der
Sozialen Arbeit verstehe ich als einen exemplarischen Prototyp für die Struk-
tur des intermediären Feldes.
• Sozialpädagogische Praxeologie
• Sozialpädagogische Planungs- und Entwicklungsforschung
• Sozialpädagogische Begleitforschung
• Sozialpädagogische Evaluationsforschung
Unter sozialpädagogischer Praxeologie fasse ich jene Konzepte, die auf das
reflexive und erkenntnistheoretische Potenzial der forschenden Praktikerln
(PädagogInnen, SozialarbeiterIn) selber zielen. Seine Wurzeln hat dieser Zu-
gang vor allem in den Traditionen der pädagogischen Kasuistik, die auf den
systematischen Stellenwert im ,,Erfahrungsurteil des reflektierenden Prakti-
kers" (Binnenberg 1979, S. 399) setzt: D.h. er beschreibt und reflektiert ein
konkretes Stück pädagogischer Praxis und ist in der Lage, eben daraus theo-
retischen Gewinn zu ziehen - die Erfahrung des Besonderen also in die Er-
kenntnis des Allgemeinen zu überführen. Die Exklusivität dieses Zugangs
wird darin gesehen, dass es eben nur der Praktiker selber sei, der gleichsam
aus der Binnenperspektive des pädagogisch Handelnden die jeweils spezifi-
schen Entscheidungs- und Begründungszusammenhänge pädagogischer All-
tagsprozesse rekonstruieren könne (vgl. Prengel 1997; Müller 2001).
Während in einem solchen praxeologischen Verständnis der Praktiker
selbst zum Forscher wird, stellen die anderen drei Bereiche in unterschiedli-
chen Formen Kooperationsmodelle zwischen ForscherInnen und PraktikerIn-
nen dar. In großen und komplexen Studien lassen sich zudem alle drei Ebe-
nen der Planung, der Prozessbegleitung und der Evaluation ausmachen - et-
82 Hans-Jürgen von Wensierski
Biographien oder die subjektiven Sinn welten in den Alltags- und Lebens-
weltstrukturen der sozialpädagogischen Praxis gegenstandsadäquat untersu-
chen und darstellen lassen. Dabei erweist sich zugleich die fallanalytische
Struktur qualitativer Studien als methodologisches Element, das auch der
professionellen Reflexion sozialpädagogischer Praktikerlnnen entgegen-
kommt. "In ihrer beruflichen Praxis müssen PädagogInnen Kenntnisse über
die lebensweltlichen Perspektiven der AdressatInnen besitzen; ein fallbezo-
genes Vorgehen erfordert Wissensbestände über biographische Verläufe,
über subkulturelle Sinnwelten und Orientierungsmuster, die dem Handeln der
Adressaten zugrundeliegen" (Jakob 1997, S. 126). Mit teilnehmender Beob-
achtung und Interaktionsanalyse lassen sich die Handlungsschemata der Indi-
viduen herausarbeiten, in die zudem biographische Perspektiven eingelassen
sind. Mit gesprächsanalytischen Verfahren können soziale Kategorisierungen
im Alltagshandeln systematisch erfasst und untersucht werden. Narrative
biographische Konzepte rekonstruieren die systematischen Prozessstrukturen
des Lebensablaufs in den Lebensgeschichten, etwa in Gestalt kollektiver
Verlaufskurven, wie sie auch in den institutionellen Betreuungsformen der
Sozialarbeit immer wieder vorkommen. Mit Hilfe von Gruppendiskussionen
lassen sich überdies kollektive und gruppenbezogene handlungsleitende Ori-
entierungsschemata und Interaktionsstrukturen, wie sie für vielfältige cli-
quenbezogene und gruppenpädagogisch relevante Kontexte typisch sind, un-
tersucht und mit Blick auf theoretische Erklärungsmodelle gefasst werden
(vgl. Schütze 1994, S. 194f.).
In Bezug auf die vorliegenden methodologischen Diskussionen und me-
thodischen Vorschläge zur Praxisforschung lässt sich m.E. kein grundsätzli-
cher Qualitätsunterschied gegenüber den sonstigen Methodendebatten in der
sozialpädagogischen Forschung ausmachen. Dafür spricht auch, dass die ver-
schiedenen Konzepte der Praxis-, Evaluations- und Begleitforschung in allen
einschlägigen methodischen Handbüchern zu qualitativen Forschungsmetho-
den vertreten sind (Flick u.a. 1991; Friebertshäuser/Prengel 1997; Flick!
v.Kardorff/Steinke 2000). Das gesamte Spektrum der qualitativen Verfahren
zwischen ethnographischen, biographieanalytischen und hermeneutischen
Ansätzen lässt sich auch im Spektrum der Praxisforschungsdebatte aufzeigen,
wobei auch hier allerdings ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen der
puristischen Strenge methodologischer Debatten und den pragmatischen
Zwängen der Forschungspraxis in Rechnung gestellt werden muss - ein
Hiatus, der aber in gleicher Weise auch auf die übrige empirische Sozialfor-
schung zutrifft (Bohnsack 1991, S. 25).
Im Übergang von den analytischen Verfahren der empirischen Erfor-
schung sozialarbeiterischer Praxis zu den handlungsorientierten Methoden,
durch die der Transfer der Praxisforschungsergebnisse gesichert und hand-
lungsleitende Konzepte für die Praxis gestaltet werden soll, bleiben die me-
thodologischen und methodischen Vorschläge innerhalb der Praxisforschung
dann allerdings überaus vage und bisweilen auch selbstkritisch (Schone 1995,
Rekonstruktive Sozialpädagogik 85
S. 52f.). Allerdings lässt sich in diesem Zusammenhang aber auch kein
Rückbezug auf die unbefangenen Theorie-lPraxismodelle der Aktionsfor-
schung ausmachen.
Insofern scheinen mir die vorliegenden Konzepte und Vorschläge zur
Praxisforschung auf einem bisher weitgehend umeflektierten widersprüchli-
chen Fundament aufgebaut: Während die Notwendigkeit einer empirischen
Erforschung der ,,Praxis" Sozialer Arbeit methodologisch fundiert und me-
thodisch differenziert begründet wird, bleibt die Frage der Bedeutung der
ForscherIn für die Planung und Gestaltung handlungsleitender Entwürfe vor
allem ein programmatisches Postulat.
Dieser Widerspruch innerhalb des Programms der Praxisforschung lässt
sich aber vielleicht auflösen, wenn man für das Konzept der Praxisforschung
gar nicht nach einer konsistenten einheitlichen Methodologie sucht, sie also
nicht als spezifischen Forschungs- oder gar Wissenschafts typus konzipiert,
sondern Praxisforschung vor allem als einen spezifischen sozialen Ort und
einen spezifischen Interaktionszusammenhang zwischen ForscherInnen und
Praktikerlnnen betrachtet. Aus der Sicht der Wissenschaft bedeutet Praxisfor-
schung dann im Grunde einen zweistufigen Forschungsprozess, in dessen
Verlauf der Wissenschaftler seine Funktion und vor allem seine soziale Rolle
wechselt. Auf der ersten Ebene ist er Forscher, der auf der Basis seiner wis-
senschaftlichen Geltungsansprüche und der methodologischen Prämissen sei-
nes Forschungsansatzes das analytische und methodische Instrumentarium
für eine empirische Sozialforschung entwirft und bereitstellt.
Auf der zweiten Ebene ist er aber nicht mehr nur wissenschaftlicher For-
scher, sondern auch fach wissenschaftlicher Experte, Berater und ggf. gestal-
tender Akteur im Handlungskontext der sozialen Praxis. Die Geltungsbe-
gründung für seine Aussagen und Konzepte basieren hier nicht mehr auf der
Konsistenz einer widerspruchslosen Erkenntnistheorie, sondern auf der per-
sönlichen und sozialen Verantwortung als fachlicher, kritischer und enga-
gierter Zeitgenosse. Für die Ergebnisse von Praxisforschungsprojekten be-
deutet das zugleich eine Differenzierung in der Validität ihrer Produkte. Eine
Beglaubigung von Forschungsergebnissen im Sinne wissenschaftlicher Güte-
kriterien kann - auch im Selbstverständnis der Praxisforschung - eigentlich
nur für den Teil auf der Basis ausgewiesener methodologischer und methodi-
scher Standards beansprucht werden - d.h. in der Regel für die analytisch-
empirischen Erhebungen.
Die Geltungsansprüche der Handlungskonzepte basieren demgegenüber
nicht auf solchen wissenschaftsimmanenten Kategorien, sondern auf der kon-
sensuellen Übereinkunft von forschenden PraktikerInnen und planend-
gestaltenden Wissenschaftierlnnen. Die Handlungskonzepte gelten vor dem
Hintergrund des fachlichen und gewissermaßen interdisziplinären Diskurses
und in prinzipieller Anerkennung der jeweils spezifischen Ressourcen des in-
stitutionellen Kontextes als (zunächst) bestmöglicher Entwurf. Ihre Reich-
weite ist prinzipiell zunächst begrenzt auf den konkreten sozialräumlich-
86 Hans-Jürgen von Wensierski
Literatur
Thomas Klatet:d<,i
Skripts in Organisationen
Ein praxistheoretischer Bezugsrahmen für die Artikulation des
kulturellen Repertoires sozialer Einrichtungen und Dienste
Wenn man anfängt, über die Anwendung qualitativer Methoden zur Erfor-
schung sozialer Einrichtungen und Dienste nachzudenken und wenn man da-
bei davon ausgeht, dass es den interpretativen Verfahren in der sozialwissen-
schaftlichen Forschung um das Verstehen von Sinn und Bedeutung geht, und
wenn man zudem annimmt, dass soziale Einrichtungen und Dienste als Sy-
steme aufzufassen sind, dann, nun dann stößt man fast unmittelbar auf fol-
gende Problemkonstellation:
Ein Blick in jene organisationstheoretische Literatur, die soziale Einrich-
tungen und Dienste als Systeme auffasst, lässt einen schnell gewahr werden,
dass soziale Systeme dort als eine überindividuelle Realität, eine Realität sui
generis, verstanden werden und dass diese Wirklichkeit im Allgemeinen
nicht als Träger von Sinn und Bedeutung gilt. l Vielmehr wird diese überindi-
viduelle Realität als eine objektive und mit determinierender Wirkung ausge-
stattete Wirklichkeit aufgefasst. Das Vorbild für diese organisationstheoreti-
sche Richtung sind die Naturwissenschaften: Organisationen als Systemen
wird ein dinghafter Charakter zugesprochen; sie werden als soziale Tatsachen
verstanden. Das wissenschaftliche Ziel ist dann die Entdeckung kausaler Ge-
setzesmäßigkeiten zwischen sozialen Fakten (z.B.: Je größer eine Organisati-
on ist, desto differenzierter ist sie). Für die empirische Erfassung solch ob-
jektiver Realität bedarf es dann aber keines interpretativen Vorgehens, son-
dern einer an den Naturwissenschaften orientierten quantitativen Methodolo-
Eine Ausnahme ist die Systemtheorie Niklas Luhmanns, in der Totalitäten Sinn zugespro-
chen wird. Die Theorie meint allerdings, darauf verzichten zu können, den empirischen
Nachweis für ihre Aussagen anzutreten. Aus diesem Grund kann sie hier unberucksichtigt
bleiben.
94 Thomas Klatetzki
gie. 2 Eine Ontologie, die darauf besteht, dass es Totalitäten gibt, scheint so
mit einer Erkenntnismethode zusammenzuhängen, die darauf verzichten
kann, den Gegenstand zuallererst zu interpretieren, denn objektive Sachver-
halte "verstehen" ja weder sich selbst noch ihre Umwelt. Was innerhalb die-
ses Bezugsrahmens empirisch ermittelt wird, sind determinierende Systeme.
Handelnde, an Sinn orientierte Individuen sind innerhalb dieses Bezugsrah-
mens nicht von Interesse.
Für die Anwendung interpretativer Verfahren bietet somit die Auffas-
sung, dass soziale Einrichtungen und Dienste soziale Systeme mit einer Rea-
lität sui generis sind, keine Ansatzpunkte. Eine aus der Sicht qualitativer Me-
thoden attraktivere Alternative zur Erforschung von Organisationen besteht
daher darin, am Individuum anzusetzen, denn dass Individuen Träger von
Sinn und Bedeutung sind, scheint eine problemlose Annahme zu sein. Unter
dem Sinn- und Bedeutungssystem einer Organisation wäre dementsprechend
nichts weiter zu verstehen als die Gesamtheit dieser individuellen Sinnvor-
stellungen. Die verbleibende interessante Frage ist dann, auf welche Weise
die einzelnen Bedeutungswelten zu einer Ganzheit kombiniert werden kön-
nen. Die z.B. in der kognitiven Organisationstheorie präferierte Vorgehens-
weise besteht darin, die Gemeinsamkeiten bzw. Überlappungen der einzelnen
individuellen Sinnwelten herauszuarbeiten (Huff 1990; Cossette 1994), um
so das Sinnsystem der Einrichtung als Ganzheit empirisch zu erfassen. Gegen
ein solches Vorgehen ist im Prinzip nichts einzuwenden. Die mit diesem
Vorgehen verbundenen Probleme beginnen allerdings dann, wenn man fragt,
wie denn diese Gemeinsamkeiten zu Stande kommen. Zur Beantwortung die-
ser Frage liegt nun der Verweis auf eine übergeordnete Realität, die Organi-
sation als soziales System, nahe. Aber dann ist man wieder bei sozialen
Sachverhalten angekommen, die eine determinierende Wirkung haben sollen,
und man befindet sich in einem Bezugsrahmen, in dem Fragen nach Sinn und
Bedeutung keine Rolle spielen.
Wenn es also um die Untersuchung von Organisationen geht, dann
scheint man auf den ersten Blick wählen zu müssen zwischen einer atomisti-
schen Perspektive, die nur subjektiv sinnorientierte Individuen kennt, und ei-
ner holistischen Perspektive, für die es allein objektive, determinierende To-
talitäten gibt. Jeder Gegenstand - Individuen hier, Totalitäten dort - ist dabei
mit einer Erkenntnismethode liiert: qualitative, verstehende Verfahren auf der
einen, quantitative, erklärende Methoden auf der anderen Seite.
Wenn man weder die eine noch die andere Position für eine theoretische
und empirische Beschreibung von sozialen Einrichtungen und Diensten für
zufrieden stellend hält, dann stellt sich die Frage, ob es einen "dritten Weg"
gibt, um Organisationen zu konzeptualisieren. Die sich seit dem Anfang der
80er Jahre entwickelnden praxistheoretischen Ansätze (vgl. Giddens 1984;
2 Exemplarisch ist hierfür der Sammelband zur Messung von Organisations strukturen von
KubiceklWelter (1985) zu nennen.
Skripts in Organisationen 95
Ortner 1984; Swidler 1986; Schatzki 1996; Reckwitz 2000) offerieren eine
solche Variante. Die mit dem Begriff ,,Praxis" verbundene Perspektive hat
der britische Soziologe Anthony Giddens folgendermaßen beschrieben: ,,Das
zentrale Forschungsfeld der Sozialwissenschaften besteht ( ... ) weder in der
Erfahrung des individuellen Akteurs noch in der Existenz irgendeiner gesell-
schaftlichen Totalität, sondern in den über Zeit und Raum geregelten gesell-
schaftlichen Praktiken" (Giddens 1988, S. 52).
Die Idee des praxis theoretischen Ansatzes besteht also darin, weder von
Systemen noch von Individuen auszugehen, sondern von Praktiken. Praktiken
sind Aktivitäten aller Art (vgl. Ortner 1984), wobei die praxistheoretische
Perspektive aber nicht einzelne Aktivitäten zum Ausgangspunkt ihrer theore-
tischen Überlegungen nimmt, sondern "the active flow of sociallife", "series
of ongoing activities and practices" oder ,,recurrent social practices" (Gid-
denslPierson 1998, S. 76). Genauer gesagt setzen praxistheoretische Überle-
gungen an den Routinen des Alltagslebens an: "The routine (whatever is
done habitually) is a basic element of ,day-to-day' social activity. (... ) The
term encapsulates exactly the routinized character which social life has as it
stretches across time-space. The repetitiveness of activities which are und er-
taken in a like manner day after day is the material grounding of what I call
the recursive nature of sociallife" (Giddens 1984, xxiii).
Routinen, die sich über Zeit und Raum erstrecken, sind das Grundele-
ment der praxistheoretischen Perspektive. Sie bilden das Fundament für die
Entstehung größerer sozialer Konfigurationen. Durch die fortwährende Re-
petitivität ihrer sozialen Aktivitäten produzieren und reproduzieren die Indi-
viduen soziale Institutionen. Dabei weisen die sich wiederholenden Aktivi-
täten eine Doppelstruktur auf. Sie bestehen aus körperlichen Verhaltensmu-
stern und aus damit untrennbar verbundenen Sinnmustern: "Soziale Praktiken
stellen einen Komplex von kollektiven Verhaltensmustern und gleichzeitig
von kollektiven Wissensordnungen ( ... ) dar, die diese Verhaltensmuster er-
möglichen und sich in ihnen ausdrücken" (Reckwitz 2000, S. 565). Praktiken
bzw. Routinen haben also einen dualen Charakter; sie bestehen zugleich aus
(materiellen) Verhaltensweisen und (ideellen) Wissensbeständen. Das Ver-
hältnis zwischen den Wissensbeständen und den Verhaltenssequenzen lässt
sich als ein rekursives verstehen. Mittels des Wissens werden die Routinen
hervorgebracht und umgekehrt behalten die Wissensstrukturen ihre Geltung
nur durch die repetitiven Aktivitäten.
Soziale Einrichtungen und Dienste lassen sich aus einer praxistheoreti-
schen Sicht dementsprechend als ein Ensemble von ineinander greifenden
Verhaltensroutinen verstehen. Aufgabe einer qualitativ inspirierten Untersu-
chung sozialer Einrichtungen und Dienste ist die Erfassung und Erläuterung
dieses Zusammenhangs von Routinetätigkeiten. Es sind im Hinblick auf ein-
zelne Routinen (z.B. die von sozialpädagogischen MitarbeiterInnen, Haus-
wirtschaftskräften und dem Leitungspersonal) zum einen die Verhaltensmu-
ster zu ermitteln, zum anderen sind die damit verbunden Wissens be stände zu
96 Thomas Klatetzki
2. Wissen
Praxis theoretische Ansätze interessieren sich nicht für Wissen "an sich", son-
dern für das Wissen im Handeln. In einem praxistheoretischen Rahmen wird
das Individuum daher als ein "engaged actor" und nicht als ein "disengaged
subject" verstanden. Mit diesem Akteursverständnis unterscheidet sich der
praxistheoretische Ansatz von dem in den Sozialwissenschaften dominanten
rationalistisch-intellektualistischen Bild eines mental prozessierenden und
die Umwelt repräsentierenden Subjekts. Gemäß letzterer Auffassung stellt
das Subjekt zunächst Überlegungen über die äußere Realität an und interve-
niert dann höchstens in einem zweiten Schritt in die Außenwelt. Den philo-
sophischen Hintergrund für diese Ansicht bildet die cartesianische Separie-
rung zwischen dem Geist und seinen mentalen Prozessen und Strukturen auf
der einen Seite und der ,,Außenwelt" der Körper und Gegenstände auf der
anderen Seite. Das Subjekt ist in erster Linie kein ,,handelndes", sondern ein
"denkendes" Wesen. In einem praxistheoretischen Ansatz wird diese Relati-
on zwischen Mentalem und Handeln umgekehrt. Der theoretische Bezugs-
punkt sind somit nicht Meinungen, Einstellungen oder Ansichten des Sub-
jekts "an sich", sondern die repetitiv hervorgebrachten Verhaltensmuster und
die mit diesen Verhaltensroutinen untrennbar verbundenen typischen Wis-
sensmuster.
Der praxistheoretische Ansatz nimmt das mit den Verhaltensroutinen
verbundene Wissen zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen, weil es ihm
nicht darum geht zu begreifen, was das menschliche Bewusstsein bzw. eine
Sinnstruktur "an sich" ist, sondern was einen menschlichen Akteur, was des-
sen "agency", seine Handlungsfähigkeit ausmacht. An die Stelle der cartesia-
nischen Trennung von Subjekt und Objekt, von Geist und Außenwelt, tritt die
maßgeblich durch die Philosophie Martin Heideggers geprägte Vorstellung,
dass das Dasein immer schon ein "In-der-Welt-sein" ist. Das Subjekt ist stets
handelnd situiert, und das heißt zugleich, dass es notwendig ein wissendes,
verstehendes Subjekt ist (vgl. Taylor 1985).
Skripts in Organisationen 97
Um die mit diesem Subjektverständnis verbundene Auffassung von Wis-
sen zu verstehen, bietet sich eine Unterscheidung an, die der Psychologe Je-
rome Bruner (Bruner et al. 1966; Bruner 1996) eingeführt hat. Nach Bruner
lassen sich drei Arten von Wissen unterscheiden, in der die Welt, oder besser
gesagt, die Invarianzen der Erfahrung und des Handeins, die "Realität" ge-
nannt werden, repräsentiert werden. Die erste Repräsentationsweise besteht
im "enactment", d.h. dem Ausführen von Handlungen und Handlungssequen-
zen. Die zweite Repräsentationsweise ist die bildliche Vorstellung (imagery);
die dritte ist die Konstruktion von Symbolsystemen. Während vor dem Hin-
tergrund des cartesianischen Weltbildes dem symbolisch repräsentierten Wis-
sen eine übergeordnete Stellung eingeräumt wurde, nimmt ein praxistheoreti-
scher Ansatz eine solche Privilegierung nicht vor. 3 Vielmehr kann man sogar
das im "enactment" repräsentierte Wissen für das entscheidendere Wissen
halten, insofern Individuen durch ihr Verhalten in einer direkten kausalen
Beziehung zur Realität stehen.4 Für bildliche Vorstellungen oder symbolische
Repräsentationen in Form von Meinungen, Einstellungen und Auffassungen
gilt das hingegen nur mittelbar (vgl. Searle 1983; WinogradelFlores 1987).
Das im "enactment", im Hervorbringen von Handlungen repräsentierte
Wissen ist auch als ein "embodied knowledge" bezeichnet worden (Blackler
1995). Shoshana Zuboff (1988, S. 61ff.) hat dieses verkörperte Wissen durch
folgende vier Aspekte charakterisiert:
3 Diese Privilegierung lässt sich nicht mehr halten, seitdem in den Kognitionswissenschaften
der Versuch, den menschlichen Geist als einen körperlosen logischen Denkapparat zu mo-
dellieren, gescheitert ist. Neuere Modelle sehen den menschlichen Geist als "embodied
mind", der eingebettet ist in eine kulturelle und physikalische Umgebung (vgl. Clark 1997).
4 Statt Verhalten könnte auch Wahrnehmung als Ausgangspunkt genommen werden, denn
auch die Wahrnehmung von Individuen steht in einer unmittelbaren Beziehung zur äußeren
Realität. Allerdings sind Wahrnehmungen empirisch schwieriger zu erfassen als Verhal-
tensweisen.
98 Thomas Klatetzki
• wenn das "enactment" durch externe Faktoren unterbrochen wird und die
Vollendung der Handlungsroutine nicht mehr möglich ist,
• wenn die Ausführung der Handlungssequenz zu mühsam wird,
• wenn negative oder positive Erfahrungen gemacht werden, die in tief-
greifender Diskrepanz zu den Konsequenzen früherer Handlungsvollzüge
stehen,
• wenn eine neue Situation auftritt, für die kein Skript vorhanden ist.
5 Reckwitz (2000) versucht, die Gemeinsamkeit der Schemata durch den Verweis auf Ver-
haltensroutinen plausibel zu machen. Danach haben Handlungsmuster, die repetitiv auftre-
ten und bei denen es gleichgültig ist, von welchem Individuum oder welchen Individuen sie
ausgeführt werden, einen per definitionem kollektiven Charakter. Die Kollektivität ist in
der Gleichförmigkeit und Repetivität der Handlungsmuster bei verschiedenen Individuen
begründet: Weil sich verschiedene Individuen gleich verhalten, ist der Schluss auf den kol-
lektiven Charakter der konzeptuellen Strukturen gerechtfertigt - denn anders ist die Gleich-
förmigkeit des Verhaltens nicht zu erklären. Wären die Wissensschemata je individuell ein-
zigartig, ergäbe sich kein gleichförmiges Handeln.
100 Thomas Klatetv<;i
Genauer betrachtet sind es zwei Arten von Problemen, die die Ausführung
des geskripteten Verhaltens verhindern: Entweder handelt es sich um Pro-
bleme, die den Akteuren vertraut und bekannt sind, oder es handelt sich um
neue, unbekannte Probleme. Im Falle, dass es sich um typische, vertraute
Probleme handelt, ist den Handelnden der Zugriff auf zum Skriptwissen ge-
hörende Sub-Skripts, so genannte "what-ifs" (was, wenn ... ) möglich. Die Lö-
sung vertrauter Problem konstellationen besteht dann einfach darin, auf jene
Handlungssequenzen des Sub skripts umzuschalten, die für diese Fälle übli-
cherweise vorgesehen sind. Zum Verweisungszusammenhang des Skriptwis-
sens gehören also auch Wissensbestände über typische Probleme und deren
Lösung durch typische "was, wenn"-Routinen.
Wenn es sich allerdings um neue, bisher unbekannte Probleme handelt,
dann müssen die Akteure improvisieren, um Ordnung in die entstandene Un-
übersichtlichkeit zu bringen. Die Improvisation kann dazu dienen, die Unter-
brechung des Skriptvollzuges lediglich zu überbrücken, um dann zu einem
späteren Zeitpunkt die übliche Handlungssequenz wieder ausführen zu kön-
nen. Sie kann aber auch der Ausgangspunkt für eine völlig neue Form des
"enactment" und damit für die Veränderung der geskripteten Routinen sein.
3. Routinen
Der zweite praxistheoretische Begriff, der erläutert werden muss, ist der der
Verhaltensroutine. Da das (ideelle) Skriptwissen sich im "enactment" aus-
drückt~ findet es seinen Niederschlag in (materiellem) Verhalten. Praxistheo-
retische Ansätze beziehen sich vorwiegend auf jene Aktivitäten, die wieder-
holt auftreten und damit dauerhaft in der Zeit existieren. 6 Mit dem Begriff
"Routine" sind also chronisch repetitive Verhaltensweisen oder, wie Peter
Berger und Thomas Luckmann (1972) es genannt haben, Habitualisierungen
gemeint. Die Repetitivität von Verhaltensweisen bildet den Kern dessen, was
in der Soziologie mit dem Begriff ,,Institution" bezeichnet wird (vgl. Jepper-
son 1991), so dass Routinen als institutionalisierte Verhaltensweisen zu ver-
stehen sind. Routinen sorgen mithin für die Beständigkeit sozialer Realitäten
in der Zeit; deshalb kommt ihnen eine besondere theoretische Relevanz zu:
Ohne routiniertes Verhalten gäbe es aus praxistheoretischer Sicht keine so-
zialen Realitäten wie soziale Einrichtungen und Dienste. Und eben dies ist
ein wesentlicher Grund, warum Routinen für die Betrachtung von Organisa-
6 Das heißt nicht, dass praxistheoretische Ansätze sich nicht mit einmaligen Ereignissen be-
fassen. Deren Relevanz wird z.B. darin gesehen, dass sie als Kristallisationspunkte für die
Neustrukturierung von Wissensordnungen und Verhaltensweisen dienen (vgl. Sewell 1996;
Swidler 200 1).
Skripts in Organisationen 101
7 Genau genonunen wird ersichtlich, wie die eine Seite der für die Soziale Arbeit charakteri-
stischen "Gewährleistungsarbeit" erbracht wird, nämlich wie eine Entsprechung mit "all-
gemeinen Regeln und Kriterien, Ordnungs- und Wertvorstellungen" (Offe 1984, S. 295;
Hervorhebung im Original) in den Einrichtungen und Diensten bewerkstelligt wird. Der
hier beschriebene Ansatz lässt sich damit als komplementär zur "professionellen Seite" der
Gewährleistungsarbeit betrachten, der es um die Besonderheiten des "Falls" geht.
Skripts in Organisationen 103
4. Eine Untersuchungsmethode
Wie oben gezeigt, verkörpern soziale Eimichtungen und Dienste als Praxis
eine Doppelstruktur bestehend aus Verhaltensroutinen und schematischen
Wissens beständen. Aufgabe einer praxistheoretischen Erforschung sozialer
Eimichtungen und Dienste ist es, die impliziten, stillschweigenden Wissens-
vorräte, mit denen die Organisationen ihre kulturelle Reproduktionsarbeit
verrichten, durch eine reflexive Untersuchung zu artikulieren. Artikulation
meint, das in den Vordergrund und damit zu Bewusstsein zu bringen, was
sonst stillschweigend, weil wenig oder gar nicht bewusst, im Handeln voraus-
gesetzt wird, so dass theoretisch wie praktisch interessante Einsichten entste-
hen können.
Da ein praxistheoretischer Zugang das Individuum als "engaged actor"
versteht, nimmt eine solche artikulierende Untersuchung die Verhaltensrouti-
nen einer Organisation zum Ausgangspunkt für die Explikation der kulturel-
len Wissensschemata. 8 Dabei wird davon ausgegangen, dass das mit den
8 Geht man nicht von den Routinen aus, sondern setzt Z.B. an symbolischen Repräsentationen
in Form von Meinungen, Einstellungen oder Weltsichten an, dann besteht die Gefahr, dass
die Erforschung der kulturellen Wissensbestände zu einer Erforschung des kulturellen Re-
pertoires "an sich" wird. Die Verbindung der kulturellen Wissensbestände der Einrichtun-
gen zu den praktischen Aktivitäten bleibt dann obskur. Das ist eines der wesentlichen Pro-
bleme des Konzepts der Kultur bzw. Organisationskultur (vgl. Frost et al. 1985; Tricel
Beyer 1993; Brown 1995). Für eine ,,Erdung" der kulturellen Ebene sozialer Einrichtungen
und Dienste sprechen aber insbesondere organisationssoziologische Befunde: Untersuchun-
gen im Rahmen des sog. Neo-Institutionalismus haben gezeigt, dass soziale personenbezo-
gene Dienstleistungsorganisationen durch zwei weitgehend voneinander getrennte Hand-
lungsebenen gekennzeichnet sind (vgl. Meyer/Rowan 1977; Brunsson 1989). Die eine Ebe-
ne, sie wird als operative Ebene bezeichnet, betrifft den Umgang mit den Klientlnnen. Hier
geht es um konkrete Arbeit, z.B. um das gemeinsame Mittagessen mit Klientinnen, um
Freizeitaktivitäten oder Gespräche über Probleme. Die zweite Ebene, sie lässt sich als sym-
bolische Ebene bezeichnen, betrifft alle Handlungen, die der Darstellung, Legitimation und
Abstimmung der organisatorischen Aktivitäten dienen. Auf der symbolischen Ebene fmden
solche Dinge wie Dienstbesprechungen, Qualitätszirkel oder Hilfeplangespräche statt. Aus
Gründen, die auf die Schwierigkeit zurückzuführen sind, die Zweckrationalität des operati-
ven Handeins nachzuweisen, entkoppeln soziale Einrichtungen und Dienste diese bei den
Strukturebenen voneinander, d.h. sie versuchen zu vermeiden - Z.8. durch die Berufung auf
die Schwierigkeit einer Messung von Interaktionen oder die Autonomie des professionellen
Handelns -, dass eine direkte Kontrolle und Evaluation ihrer Arbeitsebene vorgenommen
wird. Um dennoch der Anforderung nachzukommen, die Rationalität ihres Operierens
nachzuweisen, entfalten die Einrichtungen auf der symbolischen Ebene eine Reihe von ze-
remoniellen Aktivitäten (z.B. persönliches Unterrichten von Jugendamtsmitarbeiterinnen
104 Thomas KlatetzJä
Dienstroutinen setzen sich wiederum aus einzelnen Szenen, wie z.B. ,,Dienst-
übergabe" oder "Teambesprechung" zusammen.
Terminologisch wird nun festgelegt, dass Skripts auf dem Abstraktions-
niveau von Szenen angesiedelt sind. 1I Szenen bzw. Skripts sind die stabilen
Elemente, aus denen sich die Organisation zusammensetzt (vgl. Weick 1985;
Mangham 1987). Szenen selbst bestehen dann wiederum aus Handlungen.
Das Drama einer sozialen Einrichtung oder eines sozialen Dienstes setzt sich
also zusammen aus unterschiedlichen DienstroutinenlMetaskripts; Dienstrou-
tinenlMetaskripts ihrerseits bestehen aus Szenen/Skripts; Szenen/Skripts wer-
den schließlich durch Handlungen gebildet.
Ansatzpunkt der Untersuchung sind die DienstroutinenlMetaskripts der
Einrichtung oder des Dienstes. Indem die MitarbeiterInnen zur Reflexion
über ihr Routinehandeln angeregt werden, sollen die auf der Ebene des prak-
tischen Bewusstseins angesiedelten Wissensbestände diskursiv zugänglich
gemacht werden. Um das Drehbuchwissen der MitarbeiterInnen zu erfassen,
wird dabei davon ausgegangen, dass sich ein Metaskript aus folgenden Ele-
menten zusammensetzt (vgl. Burke 1945; Bower et al. 1979; Bums/Flam
1987):
Szenen: Die Dienstroutine setzt sich aus einer Sequenz von Szenen zu-
sammen. Eine Szene besteht dabei aus einer Abfolge von Handlungen,
die einen Zusammenhang bilden. (So enthält z.B. die Szene der "Team-
besprechung" eine Reihe von Handlungen, die eben die als "Teambe-
sprechung" bezeichnete institutionelle Realität erzeugt.) Die Handlungen
werden von Akteuren an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten ausge-
führt. Die Szene ist mithin ein übergeordneter Wissensbestand, der sich
seinerseits zusammensetzt aus schematischem Wissen über Handlungen,
Akteure, Raum und Zeit sowie dem Sinn des ganzen Geschehens, dem
,,Plot".
• Akteure: In den Szenen treten bestimmte Handelnde ("Charaktere") auf:
Zu einer bestimmten Routine gehören bestimmte Personen (z.B. Jugend-
liche und SozialpädagogInnen) und nicht andere. In Bezug auf diese Per-
sonen besteht bei den MitarbeiterInnen der Einrichtung ein typisches
Wissen darüber, was z.B. ihre Eigenschaften, Fähigkeiten und Verhal-
tensweisen sind. Das Wissen über Akteure schliesst auch stets ein Wis-
sen über das eigene Selbst der MitarbeiterInnen ein.
lieh, dass der hier vertretene Ansatz davon ausgeht, dass die Wissensbestände des kulturel-
len Repertoires sozialer Einrichtungen und Dienste eine narrative Struktur aufweisen (vgl.
Bruner 1986, 1990; Schank 1990; SchanklAbelson 1995; Czamiawska 1997).
11 Skripts existieren, wie schematisches Wissen generell, auf allen Abstraktionsebenen (vgl.
Rummelbart 1980). Für die Untersuchung sozialer Einrichtungen und Dienste bietet es sich
an, auf einer hohen Abstraktionsebene, also dem täglichen oder wöchentlichen Dienstskript
der MitarbeiterInnen, anzusetzen und von dort aus Einzelskripts zu untersuchen, weil auf
diese Weise die Organisation in ihrer Ganzheit empirisch erfassbar wird.
106 Thomas Klatetzki
• Handlungen: Die Akteure führen in den Szenen Aktivitäten aus. Auch im
Hinblick auf diese Handlungen besteht ein schematisches Wissen: Man
weiss, was es z.B. typischerweise heisst, jemandem zu helfen oder eine
Person zu informieren. Damit bestehen zugleich auch typische Erwartun-
gen darüber, was die Charaktere in dem Stück zu tun und zu lassen ha-
ben. Diese Wissensschemata stehen im Zusammenhang mit weiteren
Wissensbeständen über das Wie, Warum und Womit des Handeins. Das
"Wie" des Handeins bezieht sich auf die normative, evaluative Kompo-
nente. Man kann Handlungen nicht irgend wie ausführen, sie müssen viel-
mehr richtig ausgeführt werden. So soll man z.B. nicht nur einfach "in-
formieren", sondern man soll "freundlich" oder "ernsthaft" informieren.
Das Wissen über das "Warum" des Handeins informiert darüber, durch
was das Tun und Unterlassen der Charaktere in dem Skript "in Gang ge-
setzt" wird. Dies sind typischerweise Motive, Absichten, Gründe, Anläs-
se, Ursachen, Ziele, Werte usw. Bestandteil des kulturellen Repertoires
von Routinen sind daher schematische Wissensbestände über Handlungs-
gründe und -ursachen. Schließlich enthält das Wissen über Handlungen
auch noch schematische Wissensbestände über Handlungsmittel: Um
Handeln zu können, bedarf es bestimmter Fähigkeiten und Ressourcen.
Das Schema der Handlungsmittel encodiert das Wissen über die notwen-
dige materielle, soziale und kulturelle. Ausstattung über die der Akteur
verfügen muss, um die Routinen ausführen zu können. 12
• Raum und Zeit: Die Handlungen von Akteuren sind räumlich und zeitlich
situiert. Mit der Anwendung der Aktivitäts- und Akteursschemata ver-
knüpft sind also schematische Wissensbestände über das "Wo" des Han-
delns. Man weiss, an welchen Orten üblicherweise welche Handlungen
ausgeführt werden. So findet im Dienstzimmer der MitarbeiterInnen ei-
ner Jugendwohngruppe üblicherweise etwas anderes statt als in der Kü-
che oder im Wohnzimmer. Man weiss dann z.B. darüber hinaus auch,
welche typischen Ausstattungen (,,Requisiten") zu diesen Örtlichkeiten
gehören. Zudem finden Handlungen nicht nur irgendwo, sondern immer
auch "irgendwann" - z.B. morgens, mittags oder abends - statt. Mit der
Verknüpfung von Handlungen zu Sequenzen sind Vorstellungen darüber
verbunden, was zuerst kommt, was danach und was zuletzt. Eine Szene
bzw. eine Routine beruht daher auch auf Wissensbeständen über die
Strukturierung von Zeit.
• Der "Plot" einzelner Szenen und der "Plot" des Metaskripts: Das Han-
deln der Akteure, die Abfolge der Aktivitäten konstituieren die Szene.
Die Sequenz der Szenen bildet das Metaskript - und bei all dem geht es
Die praxis theoretische Erforschung einer sozialen Einrichtung oder eines so-
zialen Dienstes besteht also in der Erfassung der mit den Routinen verbunde-
nen konzeptuellen Strukturen, indem das schematische Wissen über 1. Sze-
nen, 2. Akteure, 3. Handlungen, 4. Raum und Zeit, 5. die ,,Plots" von Ereig-
nissequenzen und 6. Probleme und deren typische Lösungen ermittelt wird.
Ergänzt werden kann eine solche erste Erfassung der Routinen durch teil-
nehmende Beobachtungen (vgl. Jorgensen 1989) im Arbeitsalltag der Orga-
nisation. Sichergestellt werden muss dabei allerdings, dass die von der For-
seherIn vorgenommene geskriptete Darstellung der Verhaltensroutinen mit
den Beschreibungen der MitarbeiterInnen kompatibel ist. Das eine Verfahren
kann dann dazu dienen, das andere anzureichern und zu überprüfen.
Was man durch eine solche Befragung erhält ist eine erste, "dünne" Be-
schreibung von Routinen einzelner MitarbeiterInnen,
• in der die Handlungen und Bündel von Handlungen in Gestalt von Sze-
nen benannt ist,
13 Wenn an jedem Arbeitstag dieselben Aktivitäten ausgeführt werden, ist es natürlich nicht
nötig, sich jeden Wochentag beschreiben zu lassen; dann genügt der typische Arbeitstag.
Skripts in Organisationen 109
• aus der die Abfolge der Handlungen bzw. Szenen und damit die zeitliche
Struktur der Routine ersichtlich wird,
• durch welche die in das Handeln involvierten Akteure ersichtlich werden
• und aus der Orte des Handeins hervorgehen.
Diese basalen Beschreibungen liefern eine Übersicht über das, was die Orga-
nisation in ihrem alltäglichen Handeln tut. Die Beschreibungen der Routinen
lassen sich daraufhin untersuchen, ob eine Übereinstimmung bezüglich der
Szenen und der Abfolge der Szenen zwischen den MitarbeiterInnen der Or-
ganisation besteht (vgl. LeighlReithans 1984; LeighlMcGraw 1989). Auf die-
se Weise lassen sich Anhaltspunkte im Hinblick auf das Ausmaß an Integra-
tion, Differenzierung bzw. Fragmentierung der Organisation gewinnen (vgl.
Martin 1992). Weitere Erkenntnisse ergeben sich z.B. dadurch, dass man
feststellt, welcher Anteil an Zeit für Handlungen mit KlientInnen und welche
Zeitmenge für Handlungen im Hinblick auf die Organisation selbst verwandt
wird. Damit können Aussagen über das Verhältnis von operativen zu selbst-
bezüglichen Organisationszielen gemacht werden (vgl. Mohr 1973). Weiter-
hin lassen sich mit Hilfe der beschriebenen Routinen auch sozialpädagogi-
sche Handlungskonzeptionen präziser fassen, als dass in der Praxis und
Theorie bisher der Fall ist. So kann etwa ermittelt werden, ob die untersuchte
Einrichtung eine sozialräumliche Orientierung hat oder nicht - darüber geben
die in den Routinebeschreibungen genannten Handlungstypen, Akteure und
Orte Auskunft.
Gleichwohl liefert eine solche deskriptive Darstellung der Routinen le-
diglich eine erste "dünne" Beschreibung. Der vielfältige Sinn, der mit der
ermittelten Darstellung der Routinen verbunden wird, ist noch nicht bekannt.
Das weitere Vorgehen besteht deshalb darin, diese dünne Beschreibung der
Routinen durch Leitfadeninterviews sukzessive zu "verdichten".
Der zweite Schritt dient dem Zweck, die Wissensbestände genauer zu explo-
rieren, die mit dem Routinehandeln der Organisation verbunden sind. Meta-
phorisch gesagt: Es geht darum, die Drehbücher mit Leben zu erfüllen. Die
Akteure sollen charakterisiert werden, der Sinn der Handlungen soll verdeut-
licht werden, die Ausstattung der Szenen - das Bühnenbild - ist zu beschrei-
ben, der ,,Plot" zu erzählen usw. Zu diesem Zweck erfolgt eine inhaltliche
Exploration der das Metaskript konstituierenden Wissensschemata der Ak-
teure, Szenen, Räume, Zeit, Handlungen, Plots und Probleme.
Für die empirische Erfassung dieser Elemente des kulturellen Repertoires
werden Leitfadeninterviews eingesetzt (vgl. Flick 1995). Der Einsatz eines
strukturierten Interviewverfahrens ergibt sich aus dem Umstand, dass der
110 Thomas Klatetzki
Die Auswertung der Interviews setzt auf der Ebene der Szenen an und hat
zum Ziel, die im Wissens vorrat der MitarbeiterInnen angelegten Typisierun-
gen zu rekonstruieren (vgl. SchützlLuckmann 1979). Zu diesem Zweck er-
14 Der Einsatz eines strukturierten Interviewverfahrens ist auch dadurch begIiindet, dass sich das
Erkenntnisinteresse auf einen klar defInierten Wirklichkeitsausschnitt richtet: auf die Routinen
der Einrichtung und das damit verbundene kulturelle Repertoire. In den Interviews werden die
MitarbeiterInnen als Repräsentanten der kulturellen Praxis der Einrichtung oder des Dienstes
befragt. In Bezug auf diese Praxis wird den MitarbeiterInnen ein Expertenstatus zugesprochen,
denn sie verfügen einerseits über einen privilegierten Zugang zum Hintergrundrepertoire, und
sie tragen andererseits die Verantwortung für die Ausführung der die Einrichtung konstituie-
renden institutionalisierten Handlungssequenzen (vgl. MeuserlNagei 1991). Das Interesse gilt
dem "Betriebs wissen" der Einrichtung, und das bedeutet, dass nicht die Gesamtperson der
MitarbeiterIn Gegenstand der Analyse ist und somit über den Expertenstatus hinausgehende
Erfahrungen privater Art ausgespart bleiben. Aus diesem Grunde kommen biografIsche Ver-
fahren hier nicht zum Einsatz. BiografIsche Verfahren können in einem praxistheoretischen
Ansatz aber z.B. eingesetzt werden, wenn es um die Erforschung von Selbstschemata geht. Es
muss an dieser Stelle aber auch darauf hingewiesen werden, dass sich zur Erforschung von
schematischen Wissensbeständen ebenso der Einsatz quantitativer Verfahren eignet (vgl. Hol-
landlQuinn 1987; Horowitz 1991).
Skripts in Organisationen 111
15 Dieses Vorgehen fußt auf der Vermutung, dass schematisches Wissen wahrscheinlich in
nicht-repräsentationaler Form im Gehirn abgespeichert ist, aber die Formulierung dieses
Wissens in Form von Regeln ein funktionales Äquivalent für diese nicht-repräsentationale
Form ist (vgl. Searle 1995).
112 Thomas KlatetzJä
Die so gewonnenen und aufbereiteten Ergebnisse über die Typizität von Sze-
nen, Akteuren, Handlungen, Räumen, Zeiten, Plots und Probleme werden
dann nach dem Vorbild der von Norbert Groeben et al. (1988) beschriebenen
Dialoghermeneutik mit den MitarbeiterInnen kommunikativ validiert, um die
Rekonstruktionsadäquanz der vorgenommenen Typisierungen und Regelfor-
mulierungen zu gewährleisten. Die Ergebnisse der Auswertung - die als Re-
geln formulierten Drehbücher - werden den MitarbeiterInnen der Organisati-
on daher zur Überprüfung vorgelegt. Zu diesem Zweck bekommen die Mitar-
beiterInnen die Drehbücher vorab zugesandt, damit sie sich in Ruhe und ohne
Zeitdruck mit den Ergebnissen der Untersuchung befassen können. Anschlie-
ßend erfolgt in einem Gespräch eine Auseinandersetzung mit den Ergebnis-
sen, und zwar in der Form, dass für jede Regel festgehalten wird, ob die Mit-
arbeiterIn der Regelformulierung zustimmt, sie korrigiert oder ablehnt.
Das Ausmaß an Zustimmung verweist dabei auf die Güte der geleisteten
Rekonstruktionsarbeit. Durch die Einarbeitung von korrigierten Regeln und
das Herausstreichen abgelehnter Regeln kann die Validität des Drehbuchs er-
höht werden. Allerdings sind die von den Mitarbeiterinnen vorgenommenen
Korrekturen und Ablehungen nicht umstandslos zu übernehmen, vielmehr
muss festgestellt werden, warum und an welcher Stelle im Forschungsprozess
es zu einer unvollständigen oder falschen Regelformulierung für das organi-
satorische Wissen gekommen ist. Eine solche Feststellung ist nötig, weil die
MitarbeiterInnen auf Grund des impliziten Charakters von Skripts nicht auf
Anhieb ihr Handlungswissen präzise beschreiben können - der Forschungs-
prozess ist ja aus genau diesem Grund ein Artikulationsprozess. Wenn daher
Regeln korrigiert oder abgelehnt werden, sind diese Veränderungen unter
Hinzuziehung des bereits vorhandenen Interviewmaterials begründet vorzu-
nehmen. Dabei sollten die Begründungen, eben weil der Forschungsprozess
ein Artikulationsprozess ist, sowohl für die MitarbeiterIn wie auch für die
UntersucherIn einsichtig und damit konsensfähig sein.
Skripts in Organisationen 113
6. Eine Schlussbemerkung
wird, was beim alltäglichen Gang der Dinge in Anspruch genommen wird
und was folglich bei einer eventuell angestrebten Veränderung organisatori-
scher Routinen alles zur Debatte steht.
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Eric van SanteniMike Seckinger
Bis heute ist die fachliche Entwicklung in der Sozialen Arbeit geprägt von
Prozessen, die sich mit den Begriffen Pluralisierung, Differenzierung, Diver-
sifikation und Spezialisierung von Hilfsangeboten beschreiben lassen. Diese
Entwicklung ist unter anderem zu verstehen als eine Reaktion auf die in mo-
dernen Gesellschaften entstandene Vielfalt von Lebensformen und damit
verbunden auch mit einer Vielfalt von Problemlagen. Andere Gründe sind in
der Professionalisierung der Sozialen Arbeit und den daraus entstehenden
Dynamiken, etwas Neues und Besseres zu entwickeln, zu sehen. Diese Pro-
zesse führen auch in der Sozialen Arbeit zu einer großen Unübersichtlichkeit
des Angebotes Sozialer Arbeit und oftmals großer Lebensweltferne einzelner
Spezialdienste (vgl. FilsingerlBergold 1993). Durch Kooperationen zwischen
den verschiedenen Angeboten soll die Anschlussfähigkeit der Hilfsangebote
an die sich immer stärker ausdifferenzierenden gesellschaftlichen Subsyste-
me hergestellt werden. V. Kardorff (1998) formuliert in diesem Zusammen-
hang für das gesamte psychosoziale Arbeitsfeld: "In dieser Entwicklung zeigt
sich nicht nur der erhebliche Bedarf an Abstimmung, sondern auch, dass sich
Kooperation, Koordination und Vernetzung zu einem eigenständigen Bereich
mit eigenen ,,Brücken-", ,,Drehscheiben-" oder "intermediären" Instanzen
mit den Aufgaben interinstitutioneller, interdisziplinärer, interprofessioneller
und intersektoraler Verknüpfungen ausdifferenziert sowie zur Entwicklung
eines bislang noch nicht systematisierten Praxiswissens von KoordinatorIn-
nen und VernetzerInnen entwickelt hat. Diese Entwicklung ist durch eine
Vielzahl von Erfahrungsberichten, Begleituntersuchungen und wissenschaft-
lichen Analysen breit und von einem Einzelnen kaum noch überblickbar, wo-
bei theoretische Überlegungen sowie Untersuchungen zur Wirksamkeit und
zur Qualität von Kooperation und Vernetzung bislang weitgehend fehlen
(Literaturübersichten: vgl. Bergold/Filsinger 1993a; DewelWohlfahrt 1991)"
(S. 205). Für den wirtschaftswissenschaftlichen Bereich werden ähnliche
Lücken formuliert: "Bis heute (werden) ( ... ) bezogen auf das Management
interorganisationaler Beziehungen mehr Fragen aufgeworfen als Antworten
gegeben (... )" (SydowlWindeler 1997, S. 1).
120 Eric van Santen/Mike Seckinger
Die Rufe nach Kooperation, die in regelmäßigen Abständen die Diskus-
sion in der Sozialen Arbeit beherrschen - man denke aktuell an die intensiv
diskutierten Modelle zur Zusammenarbeit von Polizei und Jugendarbeit zur
Kriminalitätsprävention oder an die Diskussion über eine Kombination am-
bulanter und stationärer Versorgungsangebote in der Altenhilfe - stoßen im
Allgemeinen nicht zuletzt aufgrund ihrer Effizienz- und Effektivitätsver-
sprechen auf breite Akzeptanz. Inwieweit diesen Diskussionen auf der Ebene
von Eimichtungen, Trägem und Initiativen jedoch veränderte Handlungs-
strategien folgen, bleibt dabei eher diffus. Man rekurriert auf einen Konsens
in der Sozialen Arbeit, der Kooperation als Querschnittsaufgabe begreift und
in Qualifikationen wie Kommunikationsfähigkeit, kooperativem Verhalten
und gegenseitiger Unterstützung unabdingbare Grundlagen für die eigene
Arbeit erkennt. Kooperation nimmt damit die Position eines implizit immer
mitgedachten, quasi ressourcenlosen Allzweckmittels ein, das keiner spezi-
ellen Voraussetzungen bedarf. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass
Kooperation keine Auswirkungen auf ein angestrebtes Ergebnis hat. Unklar
ist jedoch, ob und welche Bedingungen für gelingende Kooperationen erfüllt
sein müssen. Die Forderungen nach Kooperation unterliegen so der Gefahr,
inhaltsleer zu werden. Kooperation als Handlungskonzept droht dabei in
Beliebigkeit zu versinken und seine eigentliche Stärke zu verspielen.
Zu wenig hinterfragt und problematisiert erscheint uns die Handhabung
des Kooperationsgedankens in programmatischen Entwürfen. Kooperation ist
quasi per Definition positiv besetzt. Wer möchte schon von sich behaupten,
unkooperativ zu sein? Kooperation wird deshalb leichtfertig als ein für jeden
Zweck geeignetes Mittel angesehen. Die Vielzahl von Kooperationsempfeh-
lungen in der Kinder- und Jugendhilfe, die auf Bundesebene und Länderebe-
ne existiert, zeugt hiervon. Kooperation findet jedoch nicht im kontextfreien,
enthierarchisierten Raum statt, sondern soll oftmals dort praktiziert werden,
wo Abläufe sich verfestigt haben, Positionen besetzt und verteidigt werden
und professionelle Herangehensweisen unterschiedlicher Institutionen eben
nicht so einfach auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind.
Es besteht also ein erheblicher Bedarf, die Voraussetzungen für Ko-
operation, die "Wetterfestigkeit" dieses Verfahrens unter realen Bedingungen
des Alltags der Kinder- und Jugendhilfe unter die Lupe zu nehmen und sich
einer Antwort auf die Frage zu nähern, ob und unter welchen Bedingungen
Kooperation die an sie gestellten Erwartungen erfüllen kann. Kurz gefasst
geht es also um die Frage, wie sich Mythos und Praxis von Kooperation zu-
einander verhalten.
Kooperation in der Kinder- und Jugendhilfe 121
Eine ausführliche Beschreibung des Gesamtprojektes findet sich in Seckinger u.a. 1998
oder auch im Internet (www.dji.de).
2 Die Ergebnisse der quantitativen Kooperationsstudien sind Seckinger u.a. 1998 sowie
Secldnger 1998, 1999 zu entnehmen.
122 Eric van SantenJMike Seckinger
sowie den regionalen Kontext nicht vernachlässigen. Die gewählte Form der
Regionalstudie ermöglicht es, beide Bedingungen zu erfüllen. Für die Unter-
suchung zur Kooperation wurde vor dem Hintergrund der Komplexität des
Forschungsgegenstandes eine Vielzahl qualitativer Verfahren zur Datengene-
rierung im Rahmen der in zwei Jugendamtsbezirken durchgeführten Regio-
nalstudien eingesetzt. Diese qualitativen Studien sind in die noch junge Tra-
dition von Ethnographien von Organisationen (vgl. Mouly/Sankaran 1995)
einzuordnen. Eines der Kennzeichen ethnographischer Studien ist es, "mög-
lichst viele und vielfältige aktuelle und sedimentierte Äußerungs- und Voll-
zugsformen einer zu rekonstruierenden (Teil-)Wirklichkeit" (Honer 1989, S.
299) zu erfassen, die Innenperspektive wenigstens näherungsweise zu verste-
hen und für Interpretationen zugänglich zu machen.
In einem ersten Schritt zur Bearbeitung der Forschungsfrage wurde eine
Heuristik entwickelt, die zentrale Perspektiven, Dimensionen und Fragestel-
lungen in Bezug auf das Thema Kooperation enthält und dazu diente, die
Forschungsfrage zu strukturieren und erste Anhaltspunkte für eine Operatio-
nalisierung der Forschungsfrage zu liefern. Der zweite Schritt bestand darin,
die Jugendamtsbezirke zu bestimmen, in denen die Regionalstudien durchge-
führt werden sollten. Zum einen wurden Gespräche mit JugendhilfeplanerIn-
nen oder der Jugendamtsleitung verschiedener Jugendämter geführt, da ange-
nommen wurde, dass diese Personen infolge ihrer Funktion einen guten
Überblick über die Jugendhilfeszene in dem betreffenden Jugendamtsbezirk
haben und noch am ehesten in der Lage sind, über die verschiedenen Formen
der vorhandenen Kooperationen Auskunft zu geben. Zum anderen wurden
Jugendhilfeausschusssitzungen besucht und daran anschließend Informa-
tionsgespräche geführt, in denen, wie auch bei den Gesprächen mit der Ju-
gendamtsleitung bzw. den JugendhilfeplanerInnen, eine eventuelle Bereit-
schaft zur Mitarbeit an einer Feldstudie sondiert wurde. Es wurden zwei Re-
gionen ausgewählt. In diesen Regionen bestand nach unserer Ansicht eine
hohe Bereitschaft, sich konstruktiv, offen und unterstützend auf eine Zusam-
menarbeit mit der Forschungsgruppe einzulassen. Dies ist eine wichtige
Grundlage, um einen ethnographischen Ansatz umsetzen zu können. Nur
wenn die Chance besteht, "insider" zu werden, also als teilnehmender Beob-
achter akzeptiert und involviert zu werden, gibt es die Möglichkeit, genügend
Material für eine sinnverstehende Analyse zu erhalten.
Der nächste Schritt bestand darin, sich im Feld mit dem spezifischen Ju-
gendhilfesetting vertraut zu machen und vorhandene Kooperationsbeziehun-
gen detaillierter, als dies in den ersten Gesprächen möglich war, zu inventari-
sieren. Zu diesem Zweck wurden Jugendhilfeausschusssitzungen und mehre-
re Treffen von anderen vorhandenen Kooperationsgremien besucht sowie
eine Reihe von tonbandprotokollierten Interviews mit Personen geführt, die
aus unserer Sicht für Kooperationsbeziehungen als zentral angesehen wurden
bzw. über einen guten Überblick über Kooperationsbeziehungen verfügten
(Jugendamtsleitung, Leitung Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD), Jugend-
Kooperation in der Kinder- und Jugendhilfe 123
hilfeplanerIn, VertreterIn vom Jugendring, VertreterInnen von Wohlfahrts-
verbänden). Besonders wichtig war es in dieser Phase des Forschungspro-
jekts, das Vertrauen der Akteure in den Regionen zu gewinnen. Die Qualität
und die Reichweite der erhebbaren Daten hängen wesentlichen davon ab, wie
gut dieses "getting in" gelingt (vgl. Schwartzman 1993, S. 48ff.; LaulWolff
1983).
Ziel unserer Beobachtungen in den ausgewählten Regionen war es, in die
regionalen Diskussionsprozesse so weit eingebunden zu werden, dass die
dabei entstehenden Kooperationen zwischen den unterschiedlichen Akteuren
von uns sowohl in den öffentlichen wie in den informellen Dimensionen
verstanden werden konnten. Bei einem solchen Forschungsansatz kann es
nicht ausbleiben, dass wir mit unserer ganzen Person gefordert wurden. Er-
staunlichweise gelang in relativ kurzer Zeit der Zugang zu Informationsebe-
nen, die zu erreichen wir bei der Anlage der Studie zwar als wünschenswert,
aber doch als unrealistisch eingestuft hatten.
Ein ethnographischer Forschungsansatz bedingt nicht nur zahlreiche Rei-
sen in die zu beobachtende Region, sondern erfordert auch den Aufbau von
Netzwerken, die einem die Tür zu den "inner circles" öffnen. Dies gelingt
nicht, ohne selbst - neben persönlichen sozialen Kompetenzen - seine eige-
nen fachlichen Ressourcen anderen zugänglich zu machen. In unserem Fall
hieß das, sowohl die Moderation einer Podiumsdiskussion, organisiert von
einem unserer "Brückemenschen" zu übernehmen, Literaturrecherchen für
JugendamtsmitarbeiterInnen anzustellen sowie bei der Beantwortung von
methodischen Fragen bei der Durchführung von regionalen Befragungen zur
Seite zu stehen als auch einfach nur ein offenes Ohr für Alltagsprobleme zu
haben. Greift man die alte Diskussion wieder auf, dass ein zentrales Kriteri-
um wissenschaftlichen Arbeitens in der Wahrung der Distanz zum Untersu-
chungsobjekt liegt, gilt es hier zu zeigen, dass für ein tatsächliches Verstehen
komplexer sozialer Kommunikationen ein Mindestmaß an Involviertheit
unumgänglich ist.
Risiken dieses methodologischen Zugangs sind hinreichend beschrieben
worden (vgl. Lüders 1995). Zwei Aspekte möchten wir hier jedoch besonders
betonen, weil sie in diesem Fall die für einen ethnographischen Zugang not-
wendige Balance zwischen Nähe und Distanz immer wieder erschwert haben:
Erstens: Als Forscher wird man häufig in der Rolle als Jugendhilfeexperte
gefordert, der wichtige Impulse und Anregungen für die Entwicklung der
Organisationen, in unserem Fall der regionalen Jugendhilfe, geben soll. Gäbe
man diesem Drängen nach, so würde man die Haltung, ein Lernender zu sein,
aufgeben und die Haltung des ,,Mehr-Wissenden" einnehmen. Damit wäre
für dieses konkrete Vorhaben die Ethnographie gescheitert. Zweitens: In den
Regionen wird versucht, die Person des Forschers für Einzelinteressen zu
instrumentalisieren. Im "Tausch" für exklusive Informationen, für Zugänge
in nicht-öffentliche Bereiche oder Ähnliches wurde manchmal ein Einsatz
der ForscherInnen für die Durchsetzung von Partikularinteressen einzelner
124 Eric van SanteniMike Seckinger
Datenbasis
3 Außer den Autoren waren Andreas Marker! und Nicole Weigel an der Studie beteiligt.
Kooperation in der Kinder- und Jugendhilfe 125
wurde eine dokumentenanalytische Herangehensweise gewählt. Sitzungs-
protokolle, Jahresberichte, andere Formen der Selbstdarstellungen und - so-
weit vorhanden - Satzungen und andere Formen der schriftlichen Fixierung
der Kooperation wurden gesammelt, ausgewertet und mit den anderen Da-
tenquellen in Verbindung gebracht.
Ein vierter Feldzugang half uns Hintergründe zu verstehen. Bei jedem
Besuch in den Regionen wurden Informationsgespräche mit zentralen Perso-
nen der Jugendhilfeszene zu gegenwärtigen Entwicklungen der Jugendhilfe
geführt, die es zusätzlich ermöglichten, die erforschten Kooperationszusam-
menhänge in ihrem jeweils spezifischen Kontext der Außenbeziehungen und
der Umwelt zu sehen und zu verstehen. Diese als informell zu bezeichnenden
Gespräche wurden danach in Form von Feldnotizen in unseren Reiseberich-
ten dokumentiert. Insgesamt handelt es sich dabei um 25 Reiseberichte, die
jeweils einen Zeitraum von ein bis drei Tagen umfassen. Sich durch erste
Auswertungen der Daten ergebende Lücken wurden - sofern möglich - durch
gezielte Nachfragen und Recherchen bei den anschließenden Besuchen in der
Region geschlossen.
4 Eine ausfiilrrliche Darstellung des methodischen Vorgehens findet sich in van Santenl
Seckinger 2002.
126 Eric van SanteniMike Seckinger
Auswertung
Die Auswertungsstrategie lässt sich als ein an die grounded theory (vgl.
Strauss/Corbin 1996) angelehntes Modell beschreiben. Nachdem die theoreti-
schen Vorannahmen der Beteiligten der Forschungsgruppe expliziert und
darauf aufbauend ein heuristisches Modell entwickelt wurde, fand eine Kon-
zentration auf das empirische Material statt: Innerhalb der ersten Feldphase
wurden nach der Methode des theoretical samplings sowohl die Regionen als
auch die einzelnen Kooperationszusammenhänge ausgewählt. Während des
zweiten Teils der Feldphase wurde dann, angeregt durch die theoretischen
Vorannahmen und geleitet von den Wegen und Impulsen der konkreten Ko-
operationen, eine Vielzahl von Daten erhoben, die es uns im Rahmen eines
ethnographischen Herangehens erlaubte, ein Verständnis der ausgewählten
Kooperationen zu entwickeln. Die in dieser Phase geführten Interviews, ge-
schriebenen Beobachtungsprotokolle und gesammelten Dokumente wurden
in einem ersten Schritt inhaltlich zusammengefasst und paraphrasiert. Kon-
kret wurde für jedes Interview zuerst kurz der Kontext des Interviews be-
schrieben. Hier wurde festgehalten, wer an dem Interview beteiligt war, wo
das Interview stattgefunden hat und das Verhalten der Interviewten während
des Interviews dokumentiert. Anschließend wurden die im Interview er-
wähnten Kooperationspartner mit Verweis auf die entsprechenden TextsteI-
len aufgezählt. In einem nächsten Schritt wurde das Interview mit Angaben
der jeweiligen TextsteIlen in der Chronologie des Interviews und über die ge-
samte Länge des Interviews zusammengefasst und paraphrasiert. Die Ge-
sprächssequenzen, die für das Forschungsthema relevante Aussagen enthal-
ten, wurden als Zitat im Auswertungstext wiedergegeben. Interpretationen
oder auch bei der Interpretation auftauchende Fragen dieser Sequenzen wur-
den durch Kursivschrift kenntlich gemacht. Dieses Vorgehen erlaubte es zum
einen, den Gesamtkontext der Aussagen zu erhalten und zum anderen, eine
klare Unterscheidung zwischen Tatsachendarstellungen der Interviewten und
Deutungen des Textes seitens der Forscher sichtbar zu machen. Bei der Inter-
pretation der TextsteIlen erhielten die Fragen nach der Bezugsebene der Aus-
sage eine besondere Relevanz. In manchen Interviews wurde nämlich sehr
deutlich sowohl zwischen eigener Praxis und Programmatik als auch zwi-
schen eigenen Einstellungen und Erwartungen hinsichtlich Kooperation und
denen der Organisation, für die man arbeitet, unterschieden. Die Aufmerk-
samkeit am Text wurde durch theorieunabhängige so genannte W-Fragen
(was, wer, wie, wo, warum, wozu, womit) geleitet, die helfen, den Text für
mögliche Interpretationen zu erschließen. Die Aufmerksamkeit auf und Inter-
pretation des Textes erfolgte derart, dass die in der Heuristik entwickelten
und explizierten theoretischen Vorannahmen nicht in den Vordergrund ge-
stellt wurde. Es handelt sich dabei aber um eine relative Unabhängigkeit von
der Heuristik, da diese sowohl fragengenerierend als auch den Blick für be-
Kooperation in der Kinder- und Jugendhilfe 127
obachtungen hatten nicht nur die Funktion Daten eigener Art zu generieren,
sondern lieferten vor allem Kontextwissen, das es zu einem erlaubte, das
Interviewmaterial über die Interviewsituation und den Interviewtext hinaus
besser zu kontextualisieren und zum anderen half, in den Interviews zielge-
nauere Fragen zu formulieren.
Die Kategorien, die aus dem Datenmaterial eines Kooperationszusam-
menhanges entwickelt wurden, wurden miteinander in Beziehung gesetzt und
hieraus wurden Arbeitshypothesen gebildet. Die einzelnen Kategorien bilde-
ten für die Auswertung das Bindeglied zwischen den verschiedenen Daten-
quellen. Die Belegstellen und Interpretationen aus den jeweiligen Datenquel-
len zu einem Kooperationszusammenhang zu den einzelnen Kategorien wur-
den auf ihre Stimmigkeit in Bezug auf die Arbeitshypothesen überprüft. Da-
tenmaterialübergreifende dissonante Interpretationen führten zum Verzicht
von einzelnen Arbeitshypothesen, sofern daraus kein multiperspektivischer
Erkenntnisgewinn zu ziehen war. Konkordante oder kompatible Interpreta-
tionen führten zu einer Aufrechterhaltung bzw. Konkretisierung einzelner Ar-
beitshypothesen.
Die Auswertung des Datenmaterials für die einzelnen Kooperationszu-
sammenhänge erfolgte zunächst ohne einen bewussten5 weiteren Abgleich
mit möglichen Interpretationsweisen, die bei der Analyse anderer Kooperati-
onszusammenhänge entstanden sind. Dies führte einerseits zu Redundanzen,
die zur Validierung am Datenmaterial genutzt werden konnten, und anderer-
seits auch zur weiteren Spezifizierung des Bedingungsgefüges von Koopera-
tion sozialer Dienste und somit einer insgesamt größeren Anzahl von Katego-
rien und Arbeitshypothesen.
Der letzte Auswertungsschritt - ein systematischer Vergleich der Ähn-
lichkeiten und Unterschiede der verschiedenen Kooperationszusammenhänge
- ergab schließlich Hinweise auf Zusammenhänge, die abhängig oder unab-
hängig von den untersuchten Kooperationskonstellationen und deren (regio-
nalen) Rahmenbedingungen existieren.
Der systematische Vergleich bezog sich einerseits auf die empirischen
Befunde der quantitativen Erhebungen und die einzelnen Fallstudien, die auf
Unterschiede und Ähnlichkeiten hin verglichen wurden, um so für Koopera-
tionen typische und von einzelnen regionalen Begebenheiten relativ unab-
hängige Faktoren herauszufinden, andererseits auf aus der Heuristik entwik-
kelten Annahmen sowie auf Ergebnissen anderer empirischer Kooperations-
studien. Die zwei letztgenannten Vergleichsebenen schränken die Gefahr ein,
bedingt durch das eigene empirische Material, wichtige Aspekte von Koope-
rationsbeziehungen in der Auswertung unberücksichtigt zu lassen.
5 Selbstverständlich kann eine unbewusste Lenkung der Aufmerksamkeit auf Kategorien, die
in anderen Kooperationszusammenhängen herausgearbeitet wurden, nicht vollständig aus-
geschlossen werden.
Kooperation in der Kinder- und Jugendhilfe 129
Ausgewählte Ergebnisse
Die Studie zielt aufbauend auf den vier ethnographisch orientierten Fallana-
lysen von Kooperationszusammenhängen sowie den Ergebnissen von Frage-
bogenerhebungen darauf ab, generalisierbare Aussagen über die Umsetzbar-
keit fachlicher und sozialer Erwartungen, die mit dem Mythos Kooperation
verbunden sind, zu treffen und so einen realistischen Blick auf die damit für
die Jugendhilfe verbundenen Chancen zu ermöglichen.
Mit den qualitativen Regionalstudien zur Kooperation wollten wir exem-
plarisch aufzeigen, unter welchen Bedingungen kooperiert wird, Anregungen
für Veränderungen geben und übertriebene Erwartungen an Kooperation, die,
bleiben sie unreflektiert, eine Überforderung der Praxis darstellen können,
auf realisierbare Anteile reduzieren. 6
Kooperationsmotivationen
Institutionen der Jugendhilfe und ihre VertreterInnen sehen sich immer mal
wieder vor die Frage gestellt, ob sie eine Kooperation mit anderen eingehen
sollen oder nicht. Anhand des Interviewmaterials haben wir rekonstruiert,
wie eine Entscheidung für oder gegen Kooperation zustandekommt. In vielen
Interviews wurde die Einschätzung vermittelt "Kooperation ist viel Arbeit".
Die Arbeitsintensität von Kooperation wird oft als Argument angeführt, war-
um man nicht kooperiert bzw. keine weiteren Kooperationsbeziehungen
aufbauen kann: Es fehle Zeit, und wenn mehr Zeit verfügbar wäre, dann
würde man auch mehr und intensiver kooperieren. Zum einen wird an dieser,
in den Interviews zum Ausdruck gebrachten Argumentation deutlich, dass
Kooperation nicht als eigentliche Aufgabe verstanden wird, und zum anderen
verweist sie auf eine Aufwand-Nutzen-Abwägung, in der der Zeitaufwand als
unangemessen hoch im Verhältnis zur Ergebniserwartung bewertet wird.
Denn sonst würde man Wege finden, die häufig als entwicklungsfähig be-
schriebene Kooperation auszubauen, auch wenn dies zulasten anderer Ar-
beitsbereiche ginge. In keinem der Interviews wird jedoch konkret erläutert,
was man sich von Kooperation verspricht oder welche fachlichen Standards
der Entscheidung zu kooperieren oder nicht zu kooperieren zugrunde liegen.
Solange Kooperation nicht als "professionelle Verpflichtung" (Mutschier
1998, S. 49) akzeptiert wird, sondern immer als etwas Zusätzliches gedacht
wird, erscheint es zweifelhaft, ob in die implizite Aufwand-Nutzen-Überle-
gung alle Faktoren einfließen. Diese Faktoren können sowohl kurzfristige
wie langfristige fachliche Bezüge zu der anstehenden Entscheidung als auch
6 Die hier dargestellten Ergebnisse stellen eine Auswahl dar; einen Überblick über weitere
Ergebnisse fmdet sich in van Santen/Seckinger 2002; Pluto u.a. 200 I; Seckinger 200 I.
130 Eric van Santen/Mike Seckinger
Eine zentrale Frage, die sich bei der Untersuchung von interinstitutionellen
Kooperationsbeziehungen stellt, ist die nach der fachlichen Weiterentwick-
lung und der Verbesserung der Qualität der Leistungen durch Kooperation.
Dies könnte beispielsweise durch eine gemeinsame Konzeptarbeit, durch eine
optimierte Abstimmung der einzelnen .Angebote innerhalb der Hilfeketten
oder durch die Entwicklung von neuen Angeboten für Bedarfslagen, die bis-
her aufgrund der spezifischen Sichtweisen der einzelnen Institutionen unbe-
arbeitet blieben, geschehen. Angeregt durch die Thematik der Befragung
haben viele Interviewte ihre Alltagspraxis von dem Gedanken der Kooperati-
on geleitet dargestellt. Einige der Handlungsabläufe wurden mit dem Etikett
Kooperation versehen, obwohl es sich beispielsweise um einseitige, gesetz-
lich vorgeschriebene Verpflichtungen zur Informationsweitergabe handelt. In
der Regel werden vor allem Kontakte zu anderen Organisationen und Perso-
nen thematisiert, die sich unmittelbar aus der Fallbearbeitung ergeben. Meta-
kommunikation über die Arbeitsabläufe mit dem Ziel einer Evaluation und
Verbesserung der Zusammenarbeit findet in der Regel nicht statt. Auch bei
den in den untersuchten Regionen vorhandenen Arbeitskreisen mit Bezug zur
Einzelfallbearbeitung ist keine erfolgreiche, systematische fachliche Weiter-
qualifikation der Praxis erkennbar. Hier scheitert der Anspruch an mangel-
haften Rückkopplungsprozessen in die Herkunftsorganisationen: Auch wenn
sich einzelne TeilnehmerInnen solcher Arbeitskreise fachlich qualifizieren,
132 Eric van SanteniMike Seckinger
Rückkopplungsprozesse
7 Die Position von VertreterInnen des DPWV in Kooperationsgremien stellt sich in diesem
Zusammenhang als besonders schwierig dar. Die Struktur und Identität der Organisation
DPWV verhindern eigentlich, dass der DPWV stellvertretend für seine Mitgliedsorganisa-
tionen in Kooperationsgremien agieren kann, weil er keinen Einfluss auf Mitgliedsorgani-
sationen nehmen kann. Das heißt die Struktur der Organisation DPWV macht Zielkongru-
enz unmöglich bzw. nicht mehr steuerbar (vgl. Merchel 1989, S. 229).
8 Eine Ausnahme bilden zum Beispiel BergoldlFilsinger (l993b), die ausdrucklich auf die
Prozesshaftigkeit von Kooperation hinweisen, wenn sie die Relevanz der Herausbildung ei-
nes ideellen Milieus oder die Entwicklung von wechselseitigem Vertrauen für Kooperatio-
nen betonen.
138 Eric van Santen/Mike Seckinger
sene Lösung darstellt und nicht für jede Aufgabe die ideale Lösungsstrategie
ist (vgl. Schweitzer 1998). Deshalb scheint es sinnvoll, von Zeit zu Zeit diese
Perspektiven innerhalb eines Kooperationszusammenhanges einzunehmen
und mit allen Konsequenzen und möglichst unvorbelastet zu Ende zu denken.
Ein weiteres Indiz dafür, dass Kooperationszusammenhänge unterschied-
liche Phasen durchlaufen, ist zum Beispiel in dem Einfluss zu sehen, den
Quer- oder Neueinsteiger auf eine bestehende Kooperation haben können. Es
besteht zwar die Möglichkeit, dass neue Mitglieder zu einer Vergewisserung
der Kooperationsziele beitragen, aber gleichwohl ist auch der Zeitpunkt für
die Integration neuer Mitglieder nicht immer gegeben. Nicht jede Phase er-
fährt eine positive Ergänzung und Weiterentwicklung durch die Impulse
neuer Mitglieder. Zu beobachten sind auch hemmende Effekte durch den
Aufwand, der mit der Einarbeitung verbunden ist.
Neben dieser beschriebenen prozessualen Perspektive auf Kooperations-
beziehungen ist es für eine Kooperation nicht nur wichtig, die Zielsetzungen
im Auge zu behalten, sondern auch die praktischen Probleme der Umsetzung
in Bezug auf die zeitliche Dimension mitzubedenken. Um der Gefahr einer
schleichenden Veränderung oder gar Auflösung eines Kooperationsgremiums
zu entgehen, scheint es nicht nur sinnvoll, eine Annäherung in den jeweiligen
Zielsetzungen anzustreben, sondern diese darüber hinaus in Zwischenziele
mit konkret angehbaren und in absehbarer Zeit umsetzbaren, praktischen
Handlungsschritten zu transformieren, da sonst wiederum schnell das Gefühl
der Überforderung entstehen kann. Im Vordergrund sollte dabei eine realisti-
sche Vergegenwärtigung dessen stehen, was alle Beteiligten als möglich an-
sehen. Dass dabei Umwege und Verirrungen dazu gehören bzw. nicht immer
vermeidbar sind, sollte den Beteiligten bewusst sein und von ihnen akzeptiert
werden.
Es können sich also innerhalb eines Kooperationszusammenhanges deut-
liche Differenzen zwischen einer zeitlich sehr weitreichenden und nicht mehr
verbindlichen Perspektive einerseits und einem einengenden und überfor-
dernden Zeitrahmen, der keinen Freiraum für die Entfaltung eines "ideellen
Milieus" (vgl. BergoldlFilsinger 1993b) lässt, andererseits ergeben. Es sind
deshalb nicht nur verschiedene Phasen kennzeichnend für Kooperationen und
unterschiedliche Kriterien zur Beurteilung der Effektivität von Kooperation
anzulegen, sondern es muss bei den Beteiligten auch die Bereitschaft beste-
hen, Spannungen zwischen Unsicherheit und Offenheit der Kooperation auf
der einen Seite und der konkreten und formalen Umsetzung auf der anderen
Seite auszuhalten. Ist man sich in den jeweiligen Kooperationszusammen-
hängen einer solchen Spannung bewusst, so erscheint es eher möglich, sich
von den statischen und zumeist mit ausschließlich positiven Erwartungen
besetzten Kooperationsforderungen zu lösen und zu realistischeren und ein-
lösbaren Erwartungen auch hinsichtlich zeitlicher Vorstellungen und Ergeb-
nisse überzugehen.
Kooperation in der Kinder- und Jugendhilfe 141
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Professionelles Handeln in der Sozialpädagogik
Cornelia Schweppe
Einleitung
2 Dabei sind insbesondere die Studien von Thole/Küster-Schapfl (1997) zu nennen, die nach
den berufs biographischen Hintergründen sowie dem Wissen und Können von Sozialpäd-
agoglnnen fragt, von Ackermann (1999) und Ackermann/Seeck (1999) zur Fachlichkeit
und zum beruflichen Habitus sowie von Nagel (1997), Gildemeister (1983) und Wagner
(1993), die spezifischen Spannungsfeldem sozialpädagogischen Handelns (Distanz und
Nähe, Engagement und reflektierte Distanz) nachgehen. Die Studien von Nölke (1996) und
Riemann (2000) rekonstruieren unterschiedliche Handlungsfelder der Sozialpädagogik: der
Heimerziehung wendet sich Nölke (1996), der Familienberatung Riemann (2000) zu.
Wie handeln Sozialpädagoglnnen? 147
Im Folgenden wird ein Teil einer im Rahmen dieser Studie erstellten Fall-
analyse dargestellt. Dabei handelt es sich um jenen Teil des Interviews, in
dem der Interviewte dazu aufgefordert wurde, über eine konkrete Situation
aus seiner beruflichen Praxis zu erzählen.
Es geht um Bert Twellbeck, 45 Jahre, der seit 7 Jahren Leiter eines offe-
nen Jugendzentrums und Lehrbeauftragter an einer Fachhochschule ist. Bert
Twellbeck hat nach seiner Lehre und mehrjährigen Berufspraxis als Hand-
werker 1990 den Abschluss des Diplom-Sozialpädagogen an einer Fachhoch-
schule erlangt.
3 An der Datenerhebung und -auswertung waren Ulla Englert und Ilona Klein beteiligt.
Wie handeln Sozialpädagoglnnen? 151
das Mädchen bzw. die Folgen des Messerstichs für das Mädchen sind, die das
Problem der vorgefundenen Situation ausmachen, sondern vielmehr die Re-
gelverletzung des Vaters, seine Tochter durch einen Messerstich zu verletzen.
Bert Twellbeck erzählt, dass er, nachdem ihm das Mädchen von dem Vorfall
berichtet hat, eine Kollegin bittet, mit dem Mädchen zum Arzt zu gehen, was
eher darauf hinweist, dass es sich bei der Wunde doch nicht nur um eine leichte
Verletzung handelt. Bert Twellbeck dagegen "kümmert" sich darum, "welche
Mittel können wir jetzt einschreiten über Sozialen Dienst, Polizei und wieweit
man gehen kann das ist ja nicht ganz einfach (.. .) also in solche Sachen kann
man ja nicht alles lösen, sondern ich halt es dann wichtig bestimmte Stellen
einzuschalten ja". Bert Twellbecks Überlegungen hinsichtlich des Umgangs
mit der vorgefundenen Situation bestehen im Einschalten anderer Institutionen,
weil er sich nicht imstande sieht, diesen Fall allein zu lösen. Indem er sagt, dass
er überlegt habe, welche Mittel wir jetzt "einschreiten" können , über andere
Institutionen' und er andere Stellen "einschalten" will, scheint diese Hilfe
weniger in einer Konsultation anderer KollegInnen zu bestehen, sondern viel-
mehr in der Beteiligung Dritter an der Bearbeitung des Falles bzw. der Über-
tragung des Falles an andere. An dieser Stelle des Interviews wird nicht deut-
lich, warum und mit welchem Ziel Bert Twellbeck gerade den Sozialen Dienst
oder die Polizei einschalten will. Ebenso wenig geht aus dem Interview hervor,
ob er diese Überlegungen entwickelt, nachdem ihm genauere Informationen
über die vorgefundene Situation zur Verfügung standen. In der Erzählung er-
wähnt er diese nicht. Da seine Erzählung unmittelbar in die Überweisung an
einen Arzt mündet, nachdem er von dem Vorfall des Messerstichs erfahren hat,
und er während des Arztbesuches des Mädchens seine Überlegungen hinsicht-
lich des Einschaltens anderer Institutionen vornimmt, ist es deshalb nicht aus-
zuschließen, dass ihm genauere Informationen über die Hintergründe des Mes-
serstiches nicht zur Verfügung standen und er aus der Tatsache des Messer-
stichs das Einschalten des Sozialen Dienstes oder der Polizei als sinnvoll bzw.
notwendig erachtet. Seine Überlegungen würde er damit relativ situations- bzw.
fallunabhängig entwickeln.
Die Erzählung geht dann in seine Entscheidung über, den Sozialen
Dienst anzurufen, um "die dort erst mal in Kenntnis zu setzen hoppla ist in
ner Familie in B is was passiert, was für Euch wichtig ist, also erst mal zu
registrieren wie man dann reagiert ist erst mal ne andre Geschichte ja". Die
Intention seines Anrufes, die Bert Twellbeck hier darlegt, zielt auf das ,Regi-
strieren' der vorgefundenen Situation beim Sozialen Dienst, d.h. die Weiter-
leitung der ihm mitgeteilten Informationen. Entsprechend der o.g. Überle-
gungen, andere an diesem Fall zu beteiligen, scheint dies über die Inkenntnis-
152 Cornelia Schweppe
setzung möglich zu werden. Die konkrete Hilfe oder Unterstützung in diesem
Fall sind sekundär, denn" wie man dann reagiert ist erst mal ne andre Ge-
schichte ja ".
Bert Twellbeck "erwischt" jedoch niemanden beim sozialen Dienst und
ruft seinen Chef an: "und hab' ihm gesagt man was soll ich jetzt machen ".
Das klingt hilflos. Bert Twellbeck scheint mit der Situation überfordert und
hinsichtlich ihrer Bearbeitung ratlos zu sein, nachdem er niemanden beim
Sozialen Dienst erreicht hat.
Er berichtet nicht weiter über den Gesprächsverlauf mit seinem Chef,
sondern erzählt, dass er dann den älteren Bruder des Mädchens kontaktieren
wollte, weil dieser, im Gegensatz zu den Eltern des Mädchens, gut deutsch
spreche. Die Deutschkenntnisse werden so zum ausschlaggebenden Grund
der Wahl des Gesprächspartners. Obwohl aus der Erzählung nicht deutlich
wird, mit welchem Ziel er den Bruder sprechen will, könnte die Kontaktauf-
nahme nach dem gescheiterten Telefonat zum Sozialen Dienst und vielleicht
auch durch das Telefongespräch mit seinem Chef kaum herbeigeführte Klä-
rung des einzuschlagenden Weges ein weiterer Versuch des Einschaltens
bzw. der Konsultation Dritter sein. Ob er überhaupt dazu berechtigt ist, die
von dem Mädchen dem Jugendzentrum zur Verfügung gestellten Informatio-
nen an den Bruder weiterzugeben und mögliche Konsequenzen, die das Ein-
schalten des Bruders zur Folge haben können, scheint Bert Twellbeck nicht
zu bedenken.
Vor der Kontaktaufnahme mit dem Bruder kommt das Mädchen vom Arzt
zurück. So wie sich Bert Twellbeck bisher nicht über die Befindlichkeiten
des Mädchens geäußert hat, berichtet er auch an dieser Stelle nicht über die
Diagnose oder Behandlung des Arztes, sondern erzählt, dass ihm das Mäd-
chen mitgeteilt habe, auf jeden Fall wieder nach Hause zu wollen, man es ja
nicht daran hindern könne und" insofern war auch klar das erst mal mit der
Polizei und so, oder in ein Heim oder so das erst mal nicht der Knackpunkt
ist". Der weitere Umgang mit der vorgefundenen Situation ist somit vom
geäußerten Wunsch des Mädchens, wieder nach Hause zu wollen, abhängig,
den Bert Twellbeck akzeptiert, aber auch nur akzeptieren kann, weil die Al-
ternative für ihn die Verhinderung des Wunsches des Mädchens ist, was
seiner Meinung nach aber nicht möglich ist und somit nur die Akzeptanz des
Wunsches übrig bleibt. Für Bert Twellbeck scheinen dritte Wege des Um-
ganges mit dem Wunsch des Mädchens nicht möglich zu sein. Damit ver-
schließt er sich auch der Möglichkeit des kommunikativen Umgangs mit dem
Wunsch, sodass für ihn Akzeptanz die bedingungslose und unhinterfragte
Akzeptanz des Wunsches zu bedeuten scheint. Obwohl die Akzeptanz des
Wunsches des Mädchens zunächst als Akzeptanz seiner Autonomie interpre-
Wie handeln Sozialpädagoglnnen? 153
tiert werden könnte, birgt Bert Twellbecks Verständnis von Akzeptanz, das
weder das Hinterfragen der Gründe des Wunsches noch das Aufzeigen von
Alternativen, das die Erweiterung von Handlungsperspektiven für das Mäd-
chen ermöglichen könnte, noch das Nachdenken über die Konsequenzen, die
das Nachhausegehen für das Mädchen haben könnte, zu implizieren scheint,
die Gefahr des Gegenteils in sich. Auf dem Hintergrund, dass Bert Twellbeck
in seiner Erzählung weiterhin keine genaueren Informationen weder über den
Hergang des Vorfalls noch über die spezifische Familiensituation noch über
die Situation, die das Mädchen antrifft, wenn sie wieder nach Hause geht,
vermittelt, und der Wunsch u.U. unabhängig von diesen Kenntnissen akzep-
tiert wird, könnte diese Gefahr an Brisanz gewinnen.
Warum Bert Twellbeck meint, dass das Einschalten von Polizei oder Ju-
gendamt nicht erforderlich sei, wenn das Mädchen den Wunsch äußert, wie-
der nach Hause zu wollen, wird aus der Erzählung nicht deutlich. Eine Erklä-
rung könnte darin liegen, dass er den Wunsch des Mädchens, wieder nach
Hause zu wollen, als Entschärfung der Situation deutet, sozusagen als Signal,
dass für sie keine Gefahr besteht, da sie sonst diesen Wunsch nicht geäußert
hätte. Im Umkehrschluss würde dies bedeuten, wenn das Mädchen nicht nach
Hause wollte, er diesen Wunsch dahingehend interpretiert, dass die Situation
so unerträglich oder gar gefährlich für das Mädchen ist, dass das Einschalten
der Polizei oder des Jugendamtes zum Schutz des Mädchens bzw. aufgrund
einer Unterbringung in einem Heim erforderlich ist. Damit ständen Bert
Twellbecks anfängliche Überlegungen hinsichtlich des Einschaltens der Poli-
zei und des Jugendamtes im Zusammenhang mit der Frage einer möglichen
Herausnahme des Mädchens aus der Familie, ohne dass jedoch aus der Er-
zählung hervorgeht, dass er diese Überlegungen auf genaueren Informationen
über die vorgefundene Situation basiert. Die Erwägung einer möglichen He-
rausnahme des Mädchens aus dem Elternhaus wurde somit aufgrund des Vor-
falls des Messerstichs und weitgehend ohne Kenntnisse über seine Hinter-
gründe vollzogen.
Die Fokussierung auf die Familie bzw. den Vater stellt jedoch nur den Be-
ginn seiner Überlegungen dar. Bert Twellbeck führt dann eine neue Dimension
der Problemanalyse ein, die darin besteht, dass er den Messerstich des Vaters in
Zusammenhang mit dem ,Problememachen des Mädchens' bringt: "mal zu
sagen, also so kann das nicht gehen, also das die daheim, wir wissen zwar
selber das diese Jugendliche Probleme macht, das ist uns auch bekannt". Of-
fensichtlich will Bert Twellbeck signalisieren, dass das Mädchen nicht ganz
unbeteiligt an der entstandenen Situation ist. Diesen Zusammenhang führt er
im Folgenden aus. Er sagt: "oder wo's wahrscheinlich daheim entzündet hat
der Konflikt das sie die Schule schwänzt im Moment weil sie ist auf ne Sonder-
schule gekommen damit ist sie nicht einverstanden aber unsere Recherchen
haben dazu geführt das das nicht von heute auf morgen passiert ist, sondern
ein Prozess von Jahren, wo die Schule immer wieder auf Defizite Hinweise
gemacht hat auch ja äh, ja Angebote gemacht hat das das besser wird aber gut
sie auch nicht so wahrgenommen jetzt und das auch zu ziemlich erheblichen
Konflikten daheim in dieser Familie führt ja, ja was wohl auch mit so ein Aus-
löser war. " Bert Twellbeck erklärt, dass der Konflikt in der Familie "wohl"
mit dem Schulwechsel des Mädchens auf eine Sonderschule verbunden sei.
Allerdings ist dieser Schulwechsel seiner Meinung nach wohl angemessen,
denn man habe der Jugendlichen immer wieder Angebote zur Verbesserung
ihrer Leistungen und zur Verhinderung des Schulwechsels gemacht, die sie
aber nicht angenommen habe. In Bert Twellbecks Erklärung ist es das Mäd-
chen, das die ihr gebotenen Chancen nicht aufgreift und identifiziert sie letzt-
endlich als diejenige, die den. Schul wechsel zur Sonderschule verantworten
muss. Die Perspektive des Mädchens, warum sie diese Angebote nicht ange-
nommen hat, erwähnt Bert Twellbeck nicht und findet bei der Problemanalyse
keine Berücksichtigung. Die Frage nach der Angemessenheit der Angebote
bleibt ausgespart; die Schwierigkeiten werden auf das Mädchen verlagert, die
sich diesen Angeboten widersetzt. Die Gründe, die zum Schwänzen der Schule
führen, erwähnt Bert Twellbeck ebenso wenig. Er konstruiert also einen Erklä-
rungszusammenhang, in dem das Mädchen schlechte Schulleistungen aufweist,
ihr Hilfsangebote gemacht werden, die sie nicht wahrnimmt, dies den Schul-
wechsel zur Sonderschule und das Schwänzen der Schule zur Folge hat, was
wiederum die konflikthafte Situation in der Familie" wohl entzündet" hat. In-
dem er sagt, dass sich hierdurch die Konflikte in der Familie" wohl entzündet
haben" verstärkt er die O.g. angedeutete Beteiligung des Mädchens an der Pro-
blementstehung insofern, als er den Schulproblemen bzw. dem Schuleschwän-
zen des Mädchens einen ursächlichen Grund für die eskalierte Situation zu-
weist. Während in Bert Twellbecks Erzählung zunächst das eigentliche Pro-
blem in der Regelverletzung des Vaters bestand und dadurch der Vater als Kern
des Problems identifiziert wurde, wird hierdurch das Verhalten des Vaters
letztendlich lediglich als Reaktion auf das Verhalten des Mädchens erklärt, die
jedoch zu weit gegangen ist und unterbunden werden muss. Das eigentliche
Problem liegt in dem Verhalten des Mädchens, das Probleme macht.
Wie handeln Sozialpädagoglnnen? 155
Nachdem das Mädchen nach Hause gegangen ist, kommt ihr mittlerer Bruder
ins Jugendzentrum, dem Bert Twellbeck erzählt, dass das Mädchen von sei-
nem Vater geschlagen worden sei. Warum er dies dem Bruder mitteilt, erklärt
er nicht. Bert Twellbeck scheint davon auszugehen, den Vorfall dem Bruder
des Mädchens mitteilen zu dürfen; ein Nachdenken über mögliche Konse-
quenzen wird in der Erzählung nicht ersichtlich.
Der mittlere Bruder verlässt das Jugendzentrum. Daraufhin kommt der
ältere Bruder des Mädchens, nachdem Bert Twellbeck diesen angerufen hat-
te, und erzählt ihm, dass der mittlere Bruder seine Schwester geschlagen
habe, weil das Mädchen den Familienkonflikt dem Jugendzentrum, d.h. Bert
Twellbeck, mitgeteilt habe. Bert Twellbecks Reaktion: "also zu der Sache
weiß ich noch nichts, aber ich weiß das dein Vater ... sag ich das hat keinen
Sinn das die nicht im Moment nicht brav ist, sondern komm mal hier her, da
müssen wir mal einiges klären, das es so nicht geht selbst wenn die Tochter
Schwierigkeiten bereitet das es andere Wege geben muss". Bert Twellbeck
erwähnt nicht, dass er mit daran beteiligt war, vielleicht sogar ursächlich das
Schlagen des Bruders zu verantworten hat, denn es ist er, der den mittleren
Bruder die ihm von dem Mädchen zur Verfügung gestellten Informationen
über den Familienkonflikt mitgeteilt hat. Ebenso auffällig ist, dass Bert
Twellbeck wiederum nicht nach dem Befinden des Mädchens fragt, zumin-
dest dies nicht erwähnt. Auch auf die durch das Schlagen des mittleren Bru-
ders veränderte und U.u. sich für das Mädchen zuspitzende Situation geht
156 Cornelia Schweppe
Bert Twellbeck nicht ein und bleibt bei seinen folgenden Überlegungen unbe-
rücksichtigt. Er hält an der o.g. Idee fest, durch eine Art rationalen Appell an
die Familie die Übergriffe des Vaters zu unterbinden.
Der ältere Bruder verabschiedet sich von Bert Twellbeck. Bert Twellbeck teilt
ihm noch mit, dass er noch mal anrufen solle, ob "das daheim glatt geht", d.h.
ob nichts passiert, und fügt hinzu, dass, sollte "der Vater das nicht einsehen",
d.h. dem Mädchen keine Gewalt mehr zuzufügen, "dann ist für uns ganz klar,
dass wir die Polizei rufen werden, und sie dann abgeholt wird und in ein Ju-
gendheim muss, also in der Nacht zumindest". Während bei der Mitteilung
seines Interventionsplanes an den Bruder dessen Rolle unklar blieb, wird er nun
fast zum Verantwortlichen für den weiteren Verlauf der Bearbeitung des Falles,
und zwar in mehrfacher Hinsicht. Die Mitteilung an den Bruder impliziert eine
Art Drohung, die lautet könnte: ,Wenn die Übergriffe des Vaters nicht unter-
bunden werden, dann wird deine Schwester durch die Polizei abgeholt und
kommt in ein Heim'. Dadurch beteiligt Bert Twellbeck den Bruder zum einen
zumindest indirekt an der intendierten Gewaltabwendung des Vaters. Zum
zweiten hängt es von der Information des Bruders ab, ob es zu Hause "glatt
geht" oder nicht, ob Bert Twellbeck die Polizei anruft und das Mädchen in ein
Heim kommt. Damit überträgt er dem Bruder die Entscheidung, ob die Situati-
on zu Hause als "glatt" einzuschätzen ist als auch die Entscheidung, dies Bert
Twellbeck mitzuteilen oder nicht. Bert Twellbecks weiteres Vorgehen ist somit
stark vom Bruder abhängig, das jedoch in der o.g. Alternative Polizei und
Heim oder nichts machen gefangen bleibt und offensichtlich nicht vorsieht,
beim etwaigen erneuten Übergriffen sich zunächst die spezifische Situation an-
zuschauen, um Interventionen entsprechend zu entwickeln. Diese stehen schon
vor der eingetretenen Situation fest.
Bert Twellbeck begründet, warum er im wiederholten Falle der Gewalt-
anwendung die Polizei einschalten würde: "also ich sag da haben wir einen
Schutzauftrag also das dem Mädchen heut Nacht nix daheim passieren darf".
Sein Handeln wird hier durch den institutionellen Auftrag seiner Institution,
d.h. die Sicherstellung des Schutzauftrages, damit ihm bzw. seiner Institution
kein Versäumnis vorgeworfen werden kann, geleitet. Ebenso fällt die zeitli-
che Begrenzung (heute Nacht) auf, wann dem dem Mädchen nichts passieren
darf. Begründet sich dies dadurch, dass Bert Twellbeck heute von dem Vor-
fall erfahren hat, wodurch er heute den Schutzauftrag dem Mädchen gegen-
über erfüllen muss? Ist Bert Twellbeck morgen nicht mehr zuständig? Viel-
leicht liegt es auch in diesem Schutzauftrag begründet, dass er dem Fall in
seinen anfänglichen Überlegungen durch das Einschalten von Jugendamt
oder Polizei bzw. der Unterbringung in einem Heim begegnen will. Dass er
im o.g. Zitat hinsichtlich des Einschaltens des Sozialen Dienstes sagt, er
wollte den Vorfall dort "registrieren", könnte diese Lesart unterstreichen.
Indem er den Fall dort bekannt macht, kann er sich zumindest der alleinigen
Verantwortung hinsichtlich seines Schutzes entziehen. Das würde bedeuten,
158 Cornelia Schweppe
dass auch die anfängliche Darstellung seines Handeins durch den Schutzauf-
trag seiner Institution geleitet war und könnte u.u. erklären, warum er weni-
ger aus der Analyse der spezifischen Situation notwendig erscheinende Inter-
ventionsmöglichkeiten entwickelt, denn es geht weniger um die Frage, was
im vorliegenden Fall sinnvoll ist, sondern vielmehr darum, wie der Schutz-
auftrag der Institution abgesichert werden und ihr und ihm kein Versäumnis
vorgeworfen werden kann.
Bert Twellbeck erzählt dann, dass er dem Mädchen am nächsten Tag mitge-
teilt habe, was sie" vorhaben ", nämlich die Organisation des o.g. ,runden
Tisches'. Aber die Jugendliche" lehnt ab", und zwar meint Bert Twellbeck
aus folgenden Gründen: "sie möchte nicht weil sie natürlich halt auch sehen
würd, äh das für sie auch bestimmte Auflagen raus, also Auflagen nicht in
dem Sinne dass sie gezwungen würd in die Schule zu gehen das kann sie eh
niemand aber, äh ja das vielleicht dann auch da ein bisschen geguckt wird
oder so. " Bert Twellbeck unterstellt dem Mädchen seinen Interventionsplan
zu durchschauen und ihn deshalb ablehnt, weil es die damit verbundenen
Regeln und Kontrollen nicht wolle. So wie sie die Hilfsangebote in der
Schule ablehnt, lehnt sie nun auch das Hilfsangebot des Jugendzentrums ab.
Bert Twellbeck verlagert somit die Gründe des Nicht-Zustandekommens sei-
nes Interventionsplanes auf das Mädchen, das sich offensichtlich allen (gut
gemeinten) Hilfsangeboten entzieht. Allerdings scheint die Erklärung der Ab-
lehnung des Mädchens wieder auf Bert Twellbecks eigenen Erklärungsmu-
stern zu basieren, denn auch hier scheint er das Mädchen selbst nicht nach
ihren Gründen der Ablehnung zu fragen, zumindest erwähnt er dies nicht in
seiner Erzählung. Die Ablehnung des Mädchens wird aus der eigenen Sicht
dargestellt.
Nachdem der von Bert Twellbeck entwickelte Vorschlag bei dem Mädchen
auf Ablehnung trifft, sagt er: "wie das jetzt weitergeht weiß man auch nicht".
Bert Twellbeck bringt hier Rat- und Hilflosigkeit zum Ausdruck. Er entwik-
kelt ein Hilfsangebot, das jedoch auf Ablehnung des Mädchens stößt. Dies
zur Folge hat, dass Bert Twellbeck nicht weiß, wie es weitergehen soll. Die
Diskrepanz, dass das Mädchen offensichtlich nicht das gleiche will wie Bert
Twellbeck, führt zu Rat- bzw. Hilflosigkeit.
Bert Twellbeck sagt dann, dass man ihr ,jetzt nur noch so ein Gespräch
anbieten könne', in dem ihr klar gemacht werden solle, dass, wenn sie weiter
nicht zur Schule gehe, sie ,vor das Jugendamt gezogen würde': "Das ist ganz
Wie handeln Sozialpädagoglnnen? 159
logisch" und ,die Eltern 'ne saftige Geldstrafe bekämen und wenn das auch
nicht funktioniere Arbeitstunden kriegen würde'. Bert Twellbeck will etwas
klar machen, d.h. er geht davon aus, dass dem Mädchen die Konsequenzen,
die das Schuleschwänzen haben, nicht klar sind. Sind ihr diese klar, so Bert
Twellbecks Logik, gäbe es Chancen, dass sie das Schuleschwänzen unterlie-
ße bzw. zumindest bereit wäre, Hilfsmaßnahmen anzunehmen. Auffallend ist
auch, dass die Konsequenzen, auf die Bert Twellbeck das Mädchen aufmerk-
sam machen will, auf der Annahme basieren, dass das Schuleschwänzen
weitere abweichende Karrieremuster zur Folge hat. Er geht von einem allge-
mein gültigen Karrieremuster aus, nach dem ein Regelverstoß, in diesem Fall
das Schuleschwänzen, in einen abweichenden Lebensverlauf mündet. Hier-
unter subsumiert er auch den Lebensverlauf des Mädchens. So gesehen kon-
struiert er eine Problemdefinition im vorliegenden Fall, die aus dem Messer-
stich, der dem Mädchen zugefügt wird, die schwierige Jugendliche macht,
die die Schule schwänzt, und das Schuleschwänzen möglicherweise der Be-
ginn einer abweichenden Karriere ist.
Um diesen Werdegang des Mädchens zu verhindern, meint Bert Twell-
beck, sei es besser dem vorzubeugen, aber "man kann Jugendliche ja nicht
dazu zwingen". Dass man Jugendliche nicht zu etwas zwingen kann, signali-
siert Bert Twellbecks Dilemma. Er entwickelt, ohne dass aus der Erzählung
die Beteiligung der Betroffenen ersichtlich wird, ein Hilfsangebot, von dem
er ausgeht, dass es eine Verbesserung der Situation herbeiführen kann, das
jedoch von der Jugendlichen abgelehnt wird. Diese Ablehnung führt nicht zur
Überprüfung des entwickelten Hilfsangebotes oder zur Entwicklung von
Alternativen, sodass Bert Twellbeck nur auf das bereits entwickelte Angebot
zurückgreifen kann, von dem er jedoch ausgeht, dass die Annahme nicht er-
zwungen werden könne. Indem Bert Twellbeck nur auf ein Hilfsangebot zu-
rückgreifen kann, das entweder angenommen oder abgelehnt wird, werden
ihm seine Handlungsmöglichkeiten im Falle einer Ablehnung entzogen. In-
dem Bert Twellbeck sagt: "da stehst du erstmal da und man sagt das ist
eigentlich doch ganz klasse wenn jemand so ein Angebot kriegt oder so aber
das ist erst mal nicht so das die Jugendlichen das so sehen und das ist das
Schwere auch glaub ich in der offenen Jugendarbeit oder auch zu lernen das
muss man erst mal so akzeptieren, wir können Jugendlichen nicht zu etwas
zwingen" wird dieses Dilemma noch mal besonders deutlich. Allerdings
kommen auch Hilflosigkeit und Unverständnis zum Ausdruck, die sich dar-
aus erklären, dass Bert Twellbeck von der Richtigkeit und Angemessenheit
des von ihm entwickelten Angebots überzeugt ist und er nicht nachvollziehen
kann, dass ein Hilfsangebot, das auf die Abwendung von Lebensschwierig-
keiten der Jugendlichen angelegt ist, nicht angenommen wird. Hilflosigkeit
und Unverständnis erklären sich letztendlich dadurch, dass ,die Jugendlichen
das nicht so sehen wie er selbst'. Bert Twellbeck meint, lernen zu müssen,
diese Ablehnungen zu akzeptieren und dass die von ihm entwickelten Hilfs-
angebote nicht erzwungen werden können. Der Umgang mit den Ablehnun-
160 Cornelia Schweppe
gen der Jugendlichen zielt somit nicht auf die Reflexion der Ablehnungen
oder eine reflexive Wende und Überprüfung des eigenen Handeins, sondern
auf die unhinterfragte Akzeptanz der Ablehnungen. So gesehen verhindert
die Annahme, man müsse lernen, die Ablehnungen zu akzeptieren, sowohl
die Entwicklung von neuen Handlungsperspektiven als auch die Überprüfung
oder Veränderung bisherigen Handeins. Denn das o.b. Vorgehen, in dem Bert
Twellbeck ein Angebot entwickelt, ohne dass dabei aus der Erzählung die
Beteiligung der Jugendlichen ersichtlich wird, und das im Falle der Ableh-
nung dieses Angebotes zur Handlungsstagnation führt, wird durch die un-
hinterfragte Akzeptanz von Ablehnungen gerade nicht hinterfragt. Den Kreis-
lauf der durch die Erfolglosigkeit seines Tuns erzeugten Gefühle der Hilflo-
sigkeit und des Unverständnisses sowie die Diskrepanz zwischen seinen Vor-
stellungen und dem Verhalten der Jugendlichen kann Bert Twellbeck nicht
durchbrechen. Da die Akzeptanz der Ablehnung nicht auf die Reflexion der
Ablehnung und des entwickelten Hilfsangebotes zielt, birgt dies darüber
hinaus die Gefahr in sich, die Ursachen für das Scheitern der Intervention als
auch für eine mögliche Problemstagnation oder -verschärfung den Adreassa-
tInnen zuzuweisen, denn nach diesem Erklärungsmodell sind es nicht die
entwickelten Interventionsmodalitäten, die zum Scheitern der Intervention
geführt haben, sondern die Adressatinnen, die das auf ihre Lebensverbesse-
rung zielende Angebot nicht annehmen. Schließlich kann das Akzeptieren der
Ablehnungen auch das Zurückgeworfensein der Adressatinnen auf sich selbst
zur Folge haben, da die Ablehnung bzw. das Scheitern von Maßnahmen die
Hilflosigkeit hinsichtlich der Entwicklung weiterer oder veränderter Maß-
nahmen nach sich zieht.
Bert Twellbeck sagt, dass der "glücklichste Fall wäre, wenn die Jugend-
lichen das machen würden, was wir für gut heißen ". Auf dem Hintergrund,
dass in jenem Fall, ,wenn die Jugendlichen nicht das machen, was wir für gut
heißen', die O.g. Gefühle der Frustration, des Unverständnisses, der Erfolglo-
sigkeit und Hilflosigkeit erzeugt werden, ist dies in Bert Twellbecks Logik
nachvollziehbar. "Wenn die Jugendlichen das machen würden, was wir für
gut heißen" würde bedeuten, dass er das in der Erzählung immer wieder
angeklungene Vorgehen, nämlich die Entwicklung von Interventionsstrategi-
en auf der Basis eigener Problemdefinitionen und eigener Problemlösungen,
unverändert fortsetzen könnte, ohne dass dies allerdings mit den o.g. nega-
tiven Gefühlen verbunden wäre, die durch die Ablehnung von Hilfsangeboten
durch die Adressatinnen hervorgebracht werden, denn nach diesem Modell
machen die Jugendlichen das, was die SozialarbeiterInnen für gut heißen und
lehnen ihre Hilfsangebote nicht ab. Das ideale Modell sozialpädagogischen
Handeins besteht für Bert Twellbeck in einem (Experten)handeln, nach dem
SozialarbeiterInnen die Rolle zugewiesen wird zu wissen, was gut für die
Adressatinnen ist und die Adressatinnen in die Rolle gedrängt werden, das
auszuführen, was die SozialarbeiterInnen für sie entwickelt haben. Eine dia-
logische Verständigung zwischen SozialarbeiterIn und Adressatin entfällt.
Wie handeln Sozialpädagoglnnen? 161
Zusammenfassung
Fasst man Bert Twellbecks Erzählung zusammen, lassen sich vor allem fol-
gende Aspekte herauskristallisieren. Bert Twellbeck nimmt in seiner Erzäh-
lung eine Problemdefinition vor, in der aus dem Mädchen, dem Leid zuge-
fügt wird, ein Mädchen wird, das Schwierigkeiten gebreitet und welches
letztendlich hierdurch das ihm zugefügte Leid zu verantworten hat. Der
Übergriff des Vaters wird als Reaktion auf das ,,Problememachen" des Mäd-
chens interpretiert. Das ,,Problememachen" des Mädchens wird LW. als Bre-
chen gesellschaftlich positiv sanktionierter Normalitätsmuster definiert. Die
Berücksichtigung von Bedingungen der Lebensumwelt wird bei der Pro-
blemdefinition kaum erkennbar. Angesichts der getroffenen Problemdiagnose
wird es vielleicht nachvollziehbar, dass Bert Twellbeck an keiner Stelle des
Interviews die Befindlichkeiten des Mädchens erwähnt und die Folgen und
Bedeutung des Messerstichs für das Mädchen weitgehend unberücksichtigt
lässt. Denn würde er sich mit den Befindlichkeiten des Mädchens beschäfti-
gen, müsste der Blickwinkel auf die Situation geändert, zumindest erweitert
werden. Aus dem Schwierigkeiten bereitenden Mädchen könnte ein Mädchen
werden, das eigene Gefühle, Belastungen oder Schmerz zum Ausdruck
bringt, was Bert Twellbecks bisheriges Gedankengerüst aber deutlich irritie-
ren könnte. Er müsste sich mehr mit den Problemen, die dem Mädchen zuge-
fügt werden und den Problemen, die für das Mädchen dadurch entstehen,
beschäftigen, anstatt auf die Schwierigkeiten, die das Mädchen bereitet, zu
fokussieren.
Hinsichtlich der Problemdefinition und -analyse werden in der Erzählung
weder genauere Informationen über den Hergang oder die Verursachung des
Problems noch Prozesse der kommunikativen Verständigung mit dem Mäd-
chen oder seinen Familienmitgliedern erkennbar. Die subjektive Sicht des
Mädchens bzw. seiner Familie auf das entstandene Problem bleibt außer
Acht. Die Erzählung schließt nicht aus, dass Bert Twellbeck die Problemdefi-
nition und -analyse auf bruchstückhaften Informationen, die ihm über die Le-
benssituation des Mädchens schon vor dem eingetretenen Vorfall zur Verfü-
gung stehen, basiert. Diese setzt er durch den Rückgriff auf alltagsweltliche
Erklärungsmuster, Generalisierungen und Klischees zu einer Problemdefini-
tion zueinander in Beziehung. Die Problemanalyse bleibt dadurch nicht nur
in seiner eigenen Sicht und im Spekulativen verhaftet, sondern läuft auch die
Gefahr, seine Interventionsvorstellungen kaum auf die konkrete Situation be-
ziehen zu können. Veränderungen der Situation, die Z.B. durch das Schlagen
des Bruders entstanden sind, verändern seine ursprünglich gestellte Problem-
definition nicht.
Hinsichtlich der Problembearbeitung greift Bert Twellbeck in seiner Er-
zählung im Wesentlichen auf zwei Mittel zurück. Ein Mittel besteht in der
Beteiligung anderer bzw. der Übertragung der Verantwortung auf andere: auf
162 Comelia Schweppe
den Sozialen Dienst bzw. die Polizei oder den älteren Bruder. Obwohl die
Regeln, die die Suche nach Dritten leiten, nicht immer ganz deutlich werden,
ergeben sie sich im Hinblick auf den Sozialen Dienst und die Polizei auch
aus institutionellen Erwägungen, nämlich die Sicherstellung des Schutzauf-
trages des Jugendzentrums und im Hinblick auf den älteren Bruder aufgrund
seiner guten Deutschkenntnisse aus pragmatischen Gründen. In beiden Fällen
ergibt sich somit die Suche nicht unbedingt aus den Notwendigkeiten bzw.
Eigenheiten der vorgefundenen Situation.
Zum zweiten greift Bert Twellbeck auf das Mittel rationaler Appelle und
das Setzen von Regeln zurück. Sie zielen auf die individuelle Verhaltensver-
änderung und Verhaltensanpassung an jene gesellschaftlichen Normalitäts-
muster, die die Klientin bzw. der Vater durchbrochen haben und Bert Twell-
beck als Kern der Problemverursachung ansieht. Bedingungen der Lebens-
umwelt bleiben unberücksichtigt und unberührt.
So wie bei der Problemdefinition keine kommunikative Verständigung
mit den AdressatInnen zu erkennen ist, wird bei den Vorstellungen hinsicht-
lich der Problembearbeitung in der Erzählung eine Auseinandersetzung und
eine dialogische Verständigung mit den AdressatInnen nicht sichtbar. Ihnen
wird im Prozess der Problembearbeitung die Rolle des Befolgers der von
Bert Twellbeck entwickelten Intervention zugewiesen. Übernehmen sie diese
Rolle nicht, d.h. lehnen sie die geplante Intervention ab, führt dies bei Bert
Twellbeck zu Unverständnis, Hilflosigkeit und Ratlosigkeit hinsichtlich wei-
terer Interventionen. Im Umgang mit diesen Gefühlen entwickelt er eine
Strategie, die die Reflexion des eigenen Handeins be- und verhindert und die
Gefahr in sich birgt, die Gründe von gescheiterten Interventionen den Adres-
satinnen zuzuschreiben.
Fragt man nach den allgemeinen Mustern, die in der Erzählung dargestellten
Handlungspraxis zum Tragen kommen, lässt sich sagen, dass die vorgefunde-
nen und zu bearbeitenden Situationen und Problemkonstellationen wenig in
ihrer jeweiligen Singularität beschrieben und analysiert werden, sondern hierzu
auf fallunabhängige, alltagsweltliche, generalisierende und z.T. klischeebehaf-
tete Erklärungs- und Deutungsmuster zurückgegriffen wird, unter die der kon-
krete Fall subsumiert wird. Eine dialogische Verständigung mit den Adressa-
tInnen ist wenig erkennbar. Kompetenzen, das Wissen und die Perspektiven der
AdressatInnen kommen kaum zum Tragen. Die beschriebene Beziehungsstruk-
tur zwischen SozialpädagogIn und Klientln ist hierarchisch, in der die Sozial-
pädagogIn vorgibt, wie was zu erklären, was zu tun und was richtig ist. Eine
Wie handeln Sozialpädagoglnnen? 163
Perspektivenpluralität bei den entwickelten Erklärungs- und Deutungsmustern
und Interventionsstrategien lässt sich nicht erkennen. Den AdressatInnen wird
die Rolle des Befolgers der entwickelten Maßnahmen zugewiesen. Falls sie
diese Rolle nicht übernehmen, bleibt ihnen die Zurückweisung der Maßnahmen
als Alternative.
Die entwickelten Maßnahmen werden kontextunabhängig und individua-
listisch verkürzt beschrieben. Sie basieren auf Problemdefinitionen, die erfah-
rene Problemlagen und Leidensprozesse den AdressatInnen durch das Bre-
chen gesellschaftlich sanktionierter Normalitätsmuster anlasten und welche
durch das Setzen von Regeln, die sich an gesellschaftlich definierten Norrna-
litätsentwürfen orientieren, behoben werden sollen. Bei der Beschreibung der
Entwicklung und Durchführung der Maßnahmen werden mitlaufende Prozes-
se der Selbstthematisierung und Eigenkontrolle wenig erkennbar. Das Schei-
tern von Maßnahmen führt auf Seiten des Sozialpädagogen zur Akzeptanz
ihrer Erfolglosigkeit und ist mit Gefühlen von Hilflosigkeit, Frustration und
Unverständnis verbunden; auf Seiten der AdressatInnen kann es das Zurück-
geworfensein auf sich selbst zur Folge haben.
Wenn, wie am Anfang des Aufsatzes ausgeführt, die theoretisch geführte
Professionalisierungsdebaue aufgrund der Entstandardisierung und Offenheit
der Sozialen Arbeit die Notwendigkeit des situativen Aushandelns und die
Bedeutung von Interaktion und Kommunikation und aufgrund der vielfälti-
gen Ambivalenzen, Riskanzen und potenziellen Fehler die Bedeutung einer
reflexiven Professionalisierung konstatiert, so scheint sich dies auf der empi-
rischen Ebene anhand des Falles Bert Twellbeck quasi ins Gegenteil zu keh-
ren. Bevormundung und Standardisierung treten an die Stelle situativen Aus-
handeins und der dialogischen Verständigung und die Orientierung an unref-
lektierten und nicht hinterfragten Generalisierungen an die Stelle von Refle-
xion. Nicht das Ansetzen an den jeweiligen subjektiven, individuellen und
sozialen Ressourcen und Potenzialen und dem je eigenwilligen Lebensent-
wurf, um selbstbestimmte und autonome Lebenspraxen zu ermöglichen, steht
im Vordergrund, sondern das Einpassen in gesellschaftlich definierte Norma-
litätsentwürfe, das im Falle des Scheiterns oder der Zurückweisung zum
Alleingelassenwerden der AdressatInnen führen kann.
Welche Bedeutung diese Diskrepanzen zwischen Theorie und Empirie
für die weitere Professionalisierungsdebatte innerhalb der Sozialen Arbeit
haben könnte und inwieweit die anhand des Falles Bert Twellbeck darge-
stellte berufliche Praxis ein Nachdenken über die bisherige Aus- und Weiter-
bildung der Sozialen Arbeit herausfordert, sind Fragen, die sich aus diesem
Fall für die Soziale Arbeit stellen.
164 Cornelia Schweppe
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Wie handeln Sozialpädagoglnnen? 165
1. Einleitung
In diesem Beitrag wird am Beispiel des Praxisfeldes der "Hilfen zur Erzie-
hung" ein fallrekonstruktives Verfahren vorgestellt. Dieser Zwischenbericht
aus einem laufenden Forschungsprojekt soll einen Einblick in die qualitativ-
rekonstruktive Forschungspraxis geben, die von Fall zu Fall voranschreitet.
Zugleich soll die Bedeutung der notwendigen Verinnerlichung theoretischer
Wissensbestände und professionstheoretischer Ideale für eine gelingende so-
zialpädagogische Praxis deutlich werden.
Um die Ausgangsposition zu bestimmen, die den theoretischen Hinter-
grund für dieses Projekt zur Erforschung der professionalisierten Praxis bil-
det, wird zunächst die zugrunde liegende Sichtweise auf die Struktur der So-
zialpädagogik l als Disziplin und als Profession dargelegt.
Die disziplinäre Ebene der theoretischen Sozialpädagogik ist dabei durch
ein Spannungsfeld zwischen dem Dabeisein (dem geistigen Schauen) und der
Abstraktion, in der ein Praxisgeschehen theoretisch durchdrungen wird, ge-
kennzeichnet. Der Forschung kommt eine reflexive Aufgabe zu, in welcher
Erkenntnisse über die Erziehung und deren Störung systematisch zueinander
in Beziehung gesetzt werden.
Die theoretische Perspektive wird dabei beispielsweise auf das Phäno-
men typischer Störungen der Erziehung fokussiert und zielt auf die Rekon-
struktion von Maßnahmen der sozialpädagogischen Praxis (Profession), um
eine je aktuell werdende Vollzugsform - etwa die der Ausgestaltung von
Die Sozialpädagogik wird als eigenständiger - vorrangig auf Bildung und Erziehung bezo-
gener - Zweig der Sozialen Arbeit verstanden.
168 Klaus Kraimer
W issenschajtlichen Professionellen
Erkenntnissen Eifordemissen
re konstruktives
Anamnestik Diagnostik
Vorgehen
I
Profession (Praxis)
Das Praxisfeld der "Hilfen zur Erziehung" ist - wie andere typische sozial-
pädagogische Maßnahmen einer professionalisierten Praxis - zwischen Dis-
ziplin und Profession angesiedelt.
Für die Disziplin der Sozialpädagogik zeigt sich in der fallrekonstrukti-
ven Vorgehensweise eine Fortführung der Tradition der Kasuistik, aus der
die analogische Methode bekannt ist, die Aristoteles begründet hat. Diese
lässt Korrespondenzen zwischen Allgemeinem und Besonderem, zwischen
Einheit und Vielfalt erkennen und ermöglicht gültige Erkenntnisse, die "am
Fall" gewonnen werden.
Die kasuistische Fallorientierung erfuhr in den sechziger und siebziger
Jahren eine stetige methodische Weiterentwicklung und findet ihre Fortset-
zung in den sozialwissenschaftlichen Konzepten der Fallrekonstruktion, in
denen Theorie und Praxis jeweils in ihrer unterschiedlichen Struktur erkenn-
bar werden, unterscheidbar bleiben und nicht verwischt oder vermischt sind.
Die fallrekonstruktive Forschung bezeichnet in der Regel - in Abgren-
zung zu einer Tradition der "quantitativen Forschung" - diejenige For-
schungslogik, die ein Interesse an der Erforschung von Sinnzusammenhän-
gen hat. Aus der Sicht des Nestors der objektiven Hermeneutik erweist sich
die Abgrenzung zwischen "qualitativ" und "quantitativ" allerdings nicht als
trennscharf: Oevermann (2000, S. 61) bezeichnet die entscheidende Dimen-
sion der Unterscheidung von Forschungslogiken als die Differenz zwischen
subsumtionslogischen und rekonstruktionslogischen Verfahren.
Das quantifizierende Subsumtionsverfahren ordnet gewissermaßen nach
Zwecken und forscherischem Kalkül von "außen" die Wirklichkeit und passt
diese vorgefertigten Kategorien an. Demgegenüber ermöglicht es die Fallre-
konstruktion, die durch die Sequenzanalyse methodisch grundgelegt ist, den
"naturwüchsigen" Verlauf einer Fallstruktur von "innen" in ihrer Fallstruk-
turgesetzlichkeit zu erfassen und zur Basis einer Strukturgeneralisierung wer-
den zu lassen (vgl. Oevermann 2000).
3 "Soziale Arbeit" verwende ich als Oberbegriff für die jeweils spezifischen Bereiche der So-
zialpädagogik und der Sozialarbeit; vgl. Kraimer 1994.
4 Sie begründeten eine sozialwissenschaftliche Tradition, die als investigative bekannt ge-
worden ist. In den von Jane Addams herausgegebenen Hull House Maps and Papers (A
Presentation of Nationalities and Wages in a Congested District of Chicago - With Com-
ments and Essays on Problems Growing out of the Sodal Conditions, by Residents of Hull
House Chicago) veröffentlichte sie im Jahre 1895 regionalsoziologische und soziographi-
sche Untersuchungen, in denen Sozial wissen und Sozialstruktur minuziös erhoben,analy-
siert und dokumentiert wurden. Auf diese Weise konnte u.a. gezeigt werden, dass die Gene-
se sozialer Probleme nicht in individuellen Schwächen begründet ist, sondern mangelhafte
soziale Verhältnisse wie schlechte Arbeits- und Lebensbedingungen deren charakteristische
Verursacher sind. Mary Richmond arbeitete 30 Jahre später auf der Grundlage personenbe-
zogener Daten aus der Familienfürsorge ebenfalls sachangemessene Gründe heraus, die
Armut und Hilfsbedürftigkeit bedingen; vor allem unfreiwillige Arbeitslosigkeit, Arbeits-
unfälle und Niedrigstlöhne (Richmond 1917).
5 Vgl. HörsterIMüller 1996, S. 620ff., die sich mit der Kompetenz zur Herstellung von An-
fängen in der sozialen Bildung befassen.
Zwischen Disziplin und Profession 173
Für die Anlage einer fallrekonstruktiven Forschung ergeben sich aus de-
ren Tradition Grundsätze, die an dieser Stelle nur kurz Erwähnung finden
(vgl. GarzlKraimer 1994). Dies sind vier generelle Merkmale der Auffas-
sung,
In der Sozialen Arbeit stellt die Fallrekonstruktion ein Verfahren dar, nach
welchem relevantes Ausdrucksmaterial mit Blick auf eine zugrunde liegende
Strukturlogik hin untersucht werden kann (vgl. HaupertlKraimer 1991; Krai-
mer 2000). In dieser Forschungspraxis findet eine Verknüpfung und Weiter-
entwicklung von Ideen und Verfahrensweisen aus den Theorietraditionen der
Fallrekonstruktion und der Sozialphänomenologie statt, die beispielsweise in
der Idee des typologischen Verstehens zum Ausdruck gelangt. Fallrekon-
struktionen werden in theoriebildender Absicht auf die zentralen Bereiche der
Profession der Sozialen Arbeit gerichtet, die auch die Kerngebiete der For-
schung sind: Soziale Auffälligkeit (,,Deklassierung"), Soziale Probleme und
Soziale Intervention. 6
Das hier lediglich in der Anlage und einigen Teilergebnissen vorgestellte
Forschungsprojekt zielt insgesamt auf die Rekonstruktion der Interventions-
praxis in Jugendämtern, in Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD) oder in
Neuordnungsprozessen der sozialen Dienste (NOSD) im Kontext einer über-
greifenden Rekonstruktion professionellen Handeins in unterschiedlichen
Praxisfeldern der Sozialen Arbeit und steht im Zusammenhang mit der gene-
rellen Erforschung der Frage nach dem ,,Professionalisierungsgrad" bzw. der
Professionalisierbarkeit der Sozialen Arbeit. In dem vorliegenden Fall ist
damit einejorschungspragmatische Einstellung verbunden, die äußeres Kon-
textwissen in die Analyse einbezieht, um die Struktur eines Falles in einer
abkürzenden Weise aufzudecken.
In diesem Teilprojekt steht
6 Die "Residualkategorie" Deklassierung bezeichnet eine Vielzahl von Personen, die von In-
stitutionen abhängig, durch "Merkmale des Verlustes" wie Arbeits-, Obdach- oder Hilflo-
sigkeit charakterisiert, von der Sozialpolitik vernachlässigt oder vom Sozialrecht strukturell
benachteiligt sind (vgl. v. Kardorff 1991).
7 Die Daten stammen aus einem Projekt, welches ich seit 1997 zur Rekonstruktion der "Hil-
fen zur Erziehung" in verschiedenen Bundesländern durchflihre. Alle TextsteIlen sind an-
onymisiert. Die Transkription von Interviewmaterial wird flir die Veröffentlichung mas-
kiert, um die erforderliche Anonymität zu wahren. Dies gilt ebenso flir die Dokumentation
objektiver Daten. Inhalte bleiben davon unberührt.
Zwischen Disziplin und Profession 175
Zur Aufbereitung des Datenmaterials wird wie folgt gearbeitet8 : Zunächst er-
folgt in einem ersten Schritt die Bestimmung des Falles und des Interaktions-
zusammenhangs.
Auch wird geklärt, ob eine Intervention geplant werden soll, die eine ent-
sprechende Bestimmung des Handlungsproblems erforderlich macht. Dies ist
immer dann notwendig, wenn eine wissenschaftlich inspirierte, in Daten und
Theorien gegründete praktische Intervention erfolgen soll.
In diesem Projekt fällt die Entscheidung darüber, welcher Einzelfall ana-
lysiert werden soll so aus, dass das Dokument als Repräsentant der Organi-
sationseinheit ASD und die befragten Experten als Repräsentanten der pro-
fessionellen Orientierung herangezogen werden.
Der Interaktionszusammenhang besteht in der Beziehung zwischen Orga-
nisation und Profession. Dabei geht es um die Rekonstruktion der Art und
Weise der Ausgestaltung von Maßnahmen der "Hilfen zur Erziehung".
Die Bestimmung des relevanten Ausdrucksmaterials (zweiter Schritt) -
das die Grundlage für die Fallrekonstruktion bildet - liegt in diesem Fall in
der Entscheidung
a) für die Analyse der für die ,,Hilfen zur Erziehung" zugrunde gelegten
schriftlichen Dokumente in der Institution,
b) für die Erhebung und Analyse narrativer Experteninterviews (vgl. Meu-
serlNagel 1991) mit dort tätigen Professionellen, deren Daten zur Berufs-
biographie ebenfalls erhoben wurden. 9
In einem dritten Schritt wird die erste Sequenz aus den objektiven Daten in-
terpretiert. Die objektiven Daten der untersuchten Institution sind in diesem
Fall eine Materialsammlung zur "Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII mit Ar-
beitshilfe" (Teil I) und "Handreichung für den praktischen Einsatz im ,All-
gemeinen Sozialen Dienst''' (Teil 11) sowie der Anhang (Teil III).
Zur Analyse der ersten Sequenz lO aus der Materialsammlung (',Hilfepla-
nung nach § 36 SGB VII mit erläuternder Arbeitshilfe"):
"Die Aufgabenerfüllung im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASO) ist geprägt von der ganz-
heitlichen und einheitlichen Hilfe. (... ) Grundlage ( ... ) ist die gesetzlich zugewiesene Funk-
tion der behördlichen Sozialarbeit."
8 Vgl. die Dokumentation der einzelnen Schritte in Kraimer 2000, S. 36ff. In diesem Projekt
steht der Schritt der Fallkontrastierung für Teil a) der Fragestellung noch bevor, so dass
noch keine übergreifende Typen- bzw. Theoriebildung erfolgte.
9 Dieses Material wird hier nicht herangezogen.
10 Die Darstellung erfolgt in einer stark abgekürzten Weise.
176 Klaus Kraimer
Tätigkeit zeigt sich eine ausschließliche und umfängliche Orientierung an ge-
setzlichen und institutionellen Bestimmungen. Die Maßnahmen werden zu-
vorderst als Delegation an einen Auftragnehmer auf einer rechtlich-behördli-
chen Grundlage, nicht aber auf einer professionellen Grundlage mit rechtli-
cher Legitimation wahrgenommen. Eine Funktion beschreibt eine Verrich-
tung mit einem klar umrissenen Tätigkeitsprofil innerhalb eines größeren Zu-
sammenhangs, die als behördliche Sozialarbeit gedeutet wird, wobei deren
amtlicher Charakter und somit die Zugehörigkeit zu einem Verwaltungsorgan
mit festem Sitz zum Ausdruck kommt. Mit der ausschließlichen Subsumtion
der Sache selbst (',Hilfen zur Erziehung") unter die verwalterische Hoheit
wird die sozialpädagogische Aufgabe in eine ausschließlich verwaltungs-
technisch-rechtliche Aufgabe umgedeutet.
Bereits diese kurze Analyse der ersten Sequenz aus der Materialsamm-
lung (Teil I), die sich in der ,,Präambel" der hausinternen Materialsammlung
zur Hilfeplanung findet, zeigt den Charakter der Ausgestaltung der ,,Hilfen
zur Erziehung" aus der Perspektive der Organisationseinheit ASO auf, die in
der folgenden Fallstrukturhypothese in einem vierten Schritt festgehalten
wird: Es ergibt sich die Struktur der jloskelhajten Komplexitätsreduktion in
der Logik des VerwaltungshandeIns, die eine problemadäquate Professiona-
lisierung nicht erkennen lässt.
Deutlich wird diese dilettantische Dokumentation eines Machbarkeits-
denkens noch zusätzlich, wenn man die Sequenz mit dem äußeren Kontext-
wissen zu den objektiv gegebenen komplexen Problemlagen und Aufgaben-
bereichen des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASO) und den aktuellen ge-
sellschaftlichen Ansprüchen an den ASO konfrontiert: Umfassende Famili-
enhilfe zum Wohl des Kindes, Hilfen zur Selbsthilfe aktivieren, Notlagen und
Probleme ämterübergreifend überwinden helfen, Informationen gezielt ge-
ben, Hilfen zur Überwindung von Lebensproblemen ebenso kompetent lei-
sten wie präventive Arbeit, Stigmatisierung vermeiden und Sozialräume ge-
stalten sind Beispiele dafür. ll
Die weitere sequenzielle Analyse der Dokumente (fünfter Schritt) - die
hier nicht im einzelnen erfolgt - zeigt durchgängig eine (verwaltungs-)techni-
sche Attitüde in Verbindung mit einer unqualifizierten, schlagwortartigen An-
einanderreihung von Begrifflichkeiten. "Anwendung der gesetzlichen Bestim-
mungen für die Hilfe", "Vorgaben der berufsspezifischen Geheimhaltung"
und "methodische Umsetzung der Hilfe" sind einige Beispiele aus dem fol-
genden Text. Inhaltlich werden diese Begrifflichkeiten nicht expliziert und
bleiben insgesamt einem Amtsjargon verhaftet. Für das Verfahren, in dem
das grundsätzliche Vorgehen für den institutionell gewünschten Verlauf der
,,Hilfen zur Erziehung" festgelegt ist, wird sodann beschrieben, welche
Formblätter auszufüllen und welche (hierarchischen) Wege einzuhalten
ll Eine Kennzeichnung der Aufgabenfelder des ASDs wird hier zur Veranschaulichung ledig-
lich angedeutet.
Zwischen Disziplin und Profession 177
14 Dies kann hier lediglich für die Interviews aus dieser Fallreihe, nicht aber für die Analyse
der Dokumente geleistet werden.
Zwischen Disziplin und Profession 179
5. Schlussbemerkungen
Aus der Perspektive der Sozialpädagogik sind "Hilfen zur Erziehung" theo-
retisch reflektiert und praktisch engagiert wahrzunehmen, um erzieherische
Mängel zu erkennen und zu kompensieren. Lebensprobleme sollen dabei in
einer spezifisch sozialpädagogischen Weise so verstanden und verständlich
gemacht werden, dass notwendig werdende Interventionen die Selbsttätigkeit
einer gestörten Lebenspraxis anregt.
Als Zwischenergebnis zeigt sich für die hier untersuchte Form der "Hil-
fen zur Erziehung" in der Organisationseinheit ASD die Struktur der Büro-
kratisierung und in der Ausgestaltung der Maßnahme die Struktur der profes-
sionellen Deformation.
Die bürokratische Reduktion der ,,Hilfen zur Erziehung" auf Verwal-
tungshandeln - so lässt sich zusammenfassen - führt zu ritualisierten Arbeits-
weisen einer deformierten professionellen Praxis; eine Vielzahl formaler
Richtlinien verhindert die professionelle sozialpädagogische Tätigkeit und
lässt die Ausformung einer primär sozialpädagogischen Hilfe nicht zu.
Im Projektverlauf wird nunmehr darauf abgezielt, zusätzliche Repräsen-
tanten der Organisationseinheit ASD und der Profession in die Analyse einzu-
beziehen. Dabei soll die Bedeutung der beruflichen Sozialisation für die Aus-
gestaltung der professionellen Berufspraxis differenziert herausgearbeitet wer-
den. Einer der Schwerpunkte ist dabei die Untersuchung der biographischen
Identifikation mit "der Berufsratio (der) Profession und mit ihren Werten"
180 Klaus Kraimer
(Schütze 1996, S. 192). Die von Schütze (1992) in diesem Zusammenhang ent-
wickelten Kategorien zeigen auf, dass Professionelle in der Sozialen Arbeit
"mehr noch als andere Professionelle den Handlungsrestriktionen der organi-
satorischen (verwaltungsmäßigen, rechtlich-kontrollierenden, ökonomischen)
Zwänge ausgeliefert sind, die professionelle Entwicklung und Autonomie emp-
findlich behindern" (S. 147). Im Falle des bürokratischen Exekutors wird die
vollständige Unterordnung und versuchte Aufgabenbewältigung durch Verwal-
tungshandeln besonders deutlich, der psychologisierend-entmündigende Typ
verstrickt sich in systematische Handlungsfehler, und der nahezu resignierte
sozialpädagogische Typ kämpft - analog zu der von Schütze (1996) beschrie-
benen Form "aus einer biographisch verinnerlichten beruflichen Identität her-
aus gegen Einschränkungen und Übergriffe der Organisation, in deren Rahmen
er arbeiten muss. (... ) Hieraus entsteht mitunter ein hartnäckiger Abwehrkampf
des Professionellen gegen die Organisation" (S. 193).
In der hier rekonstruierten Praxis zeigt sich bei dem sozialpädagogisch
orientierten Typ ein Kampf gegen bürokratische Verblendungszusammen-
hänge. Im Vergleich mit empirischen Ergebnissen aus anderen Studien (vgl.
z.B. Kraimer/Müller-Kohlenberg 1990) zeigt sich auch hier eine ,,Logik des
Scheiterns" (vgl. Dörner 1989), die mit einer ,,Logik der falschen Informati-
on" korrespondiert (vgl. Bahrs u.a. 1994). Folgen des Interventionstyps der
Dominanz einer bürokratischen Kontrolle zeigen sich in Prozedierungskar-
rieren, die mit einem wachsenden Verlust an Autonomie auf Seiten des
Klienteis einhergehen (vgl. HaupertlKraimer 1991; Helsper u.a. 1991; Nö1ke
1994).
Für das Studium der Sozialarbeit und Sozialpädagogik - soviel lässt sich
abschließend als wünschenswert festhalten - ist die Stärkung derjenigen
Kompetenzen unabdingbar, die es ermöglichen, die ,,hartnäckigen Dauerpro-
bleme" (Schütze 1992, 147) zu erkennen und zu bearbeiten, die sich auch in
der hier untersuchten Form der "Hilfen zur Erziehung" zeigen. Die systema-
tische Erschließung der professionalisierten Praxis mit Hilfe der fallrekon-
struktiven Sozialforschung liefert langfristig - so steht zu hoffen - einen Bei-
trag dazu, den ,,Erleidensprozess der beruflichen Fremdbestimmtheit"
(Schütze 1994, S. 15) in einen Prozess der disziplinären Unterstützung einer
professionellen Selbstbestimmung umzuwandeln. An die Stelle der bürokra-
tischen Kontrolle hat die professionelle Selbstkontrolle zu treten, da sich "die
spezifischen Leistungen von Professionen (... ) weder durch den Markt noch
administrativ kontrollieren lassen; sie erfordern eine kollegiale, auf die Ver-
innerlichung professionsethischer Ideale angewiesene Selbstkontrolle" (Oe-
vermann 1996, S. 70). Der zu Beginn benannte "Seiltanz zwischen Hilfe und
Kontrolle" könnte auf diese Weise zu Gunsten einer professionell verant-
worteten ,,Hilfe zur Erziehung" in der Wiederherstellung einer autonomen fa-
milialen Lebenspraxis vollzogen werden, die eindeutig zu Lasten einer Kon-
trolle geht, die der Logik des Verwaltungshandelns geschuldet ist.
Zwischen Disziplin und Profession 181
In den Handlungsfeldern und Institutionen der Sozialpädagogik steht ei-
ne Veränderung gegebener Perspektiven oftmals im Mittelpunkt der Inter-
vention. So ist z.B. eine erzieherische Haltung von Eltern zunächst zu rekon-
struieren, die als "natürliche Einstellung" in der ,,Lebenswelt des Alltags"
verankert ist (vgl. SchützlLuckmann 1983). Dies geschieht in der gemeinsa-
men Kommunikation zwischen Professionellen und Klientel, um die "Gram-
matik der Lebenswelt" (Winkler 1995, S. 53) zu erschließen. Hilfen zur
Sinnauslegung und Bedeutungsbildung sind dabei in der Unterstützung von
Menschen in (erzieherischen) Notsituationen zentral.
In eine sachhaltige Rekonstruktion "des Sozialen" haben die fallrekon-
struktiv ausgerichtete Anamnestik und Diagnostik in der sozialpädagogischen
Praxis die Perspektive des Klienteis und die der beteiligten Institutionen und
Organisationen einzubeziehen, etwa um vorhandenes Sozialwissen oder ver-
schiedene Interessenslagen zu erkunden. Dazu zählen im Feld der "Hi1fen zur
Erziehung" insbesondere die Erziehungsvorstellungen der Eltern, die Einbe-
ziehung von Interessen der Kinder und Jugendlichen sowie die der beteiligten
Professionellen. Zudem sind sozialstrukturelle und sozialräumliche Verhält-
nisse zu rekonstruieren, in die der jeweilige Fall eingebettet ist. Diejenigen
Faktoren können beispielsweise identifiziert und beeinflusst werden, die die
Autonomie behindern oder fördern. Mögliche Ressourcen können entdeckt
und in eine Lebensweltorientierung integriert werden.
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Eberhard Nölke
Klinische Sozialarbeit
Annäherungen mittels qualitativer Forschung
1. Theoretische Hinführung
Nach Stichweh (1996) operiert die Sozialarbeit "in mehreren verschiedenen Funktionssy-
stemen (Gesundheitssystem, Rechtssystem, Erziehungssystem). Entsprechend diffus ist der
diesem Beruf zugeordnete Problembezug - ,Soziale Probleme' -, der gewissermaßen die
Kehrseite jenes professionstypischen Imperativs ,professional purity' ist" (Stichweh 1996,
S. 63; vgl. auch Bommes/Scherr 2000; Nölke 2000, S. 23f.).
2 Zur Fallanalyse im Kontext zugehender Altenberatung vgl. Schütze 1993 sowie im Kontext
mobiler medizinischer Versorgung und Beratung von Obdachlosen vgl. Nö1ke u.a. 1998.
3 Vgl. Schütze 1982; DewelRadtke 1989; Oevermann 1990; Hildenbrand 1998. "Der strikte
Fallbezug begrenzt die klinische Soziologie auf Deutungen ex post. Die Fälle - unabhängig
davon, ob es sich um mikrologische Interaktionssequenzen, berufspraktische Krisen oder
ganze biographische Verläufe handelt - müssen ,vorgefallen' sein" (Dewe/Radtke 1989, S.
51). Alle Konzepte betonen dabei den strikten Einzelfallbezug einer sequenziellen Rekon-
struktionslogik, die auf Erkenntnisse zielt über die jeweilige "Fallstrukturgesetzlichkeit"
(Oevermann) oder die "sequenzielle Ordnung von Ereignisformen (insbes. Verlaufskurven)
186 Eberhard Nölke
bracht, vielmehr findet sie ihren Ort in zahlreichen Einrichtungen der medi-
zinischen und psychosozialen Versorgung im Sinne eines institutionalisierten
Angebots. 6
Psychotherapeut oder Heilpraktiker voraus. In einigen Bundesländern ist der ElWerb der
Genehmigung zur berufsmäßigen Ausübung der Heilkunde ohne Approbation auf dem be-
grenzten Gebiet der Psychotherapie möglich (sog. "Kleiner Heilpraktikerschein"). Meist
firmiert dieser Personenkreis unter dem Titel "Heilpraktiker für Psychotherapie", worunter
auch zahlreiche SozialarbeiterInnen zu finden sind.
6 Eine selbstständige Berufstätigkeit, wie sie in den USA gerade für das Case Management
im Gesundheits- und Sozial wesen durch ca. 100.000 Personen ausgeübt wird, beginnt sich
in Deutschland erst keirnhaft zu entfalten (vgl. Wendt 1997, S. 22ff.).
7 Im wörtlichen Sinne ,,rohe Fakten" oder sinngemäß soziale Tatsachen.
8 Im wörtlichen Sinne die "versenkten Kosten" oder sinngemäß die in die Institution bereits
investierten Kosten, die ihren "Wert" markieren.
188 Eberhard Nölke
9 Dieser Begriff stammt von Fritz Schütze. Institutionelle Ablaufmuster und -erwartungen
des Lebenslaufs kennzeichnen einen präformierten lebenszyklischen Erwartungsfahrplan
im Zusammenhang gesamtgesellschaftlicher oder bereichsspezifischer Institutionalisierun-
gen, wie familienzyklische oder ausbildungs- und berufsspezifische Phasen und Stufen.
Entgegen ihrer normativen Verbindlichkeit und institutionell verbürgten Wirksamkeit treten
sie in aller Regel als Hintergrundfolie umfassender lebenszyklischer Normalformerwartun-
gen in den Selbstdarstellungen weniger in Erscheinung (vgl. auch Nölke 1994, S. 56).
10 Einen solchen Bestimmungsversuch aus Sicht des klinischen Psychologen unternimmt
Feinbier (1997).
II Demgemäss erfolgen theoretische Aussagen gleichsam empiriegesättigt auf der Folie einer
strikten Einzelfallrekonstruktion gemäß einer nicht subsumtionslogischen abduktiven Er-
kenntnislogik. Dem abduktiven Verfahren liegt eine erkenntnisgenerierende Forschungslo-
gik zugrunde, die auf eine "Neugenerierung von Theoriebeständen" (Schütze 1987, S. 258)
zielt und gemäß der sich die theoretischen und begrifflichen Dimensionen und das zunächst
nur vage Verständnis der Zusammenhänge des Forschungsfeldes in einem Erkundungs-,
Entdeckungs- und Explikationsprozess am konkreten Material zunehmend verdichtet, kon-
kretisiert und differenziert (vgl. auch Strauss/Corbin 1996).
Klinische Sozialarbeit 189
bieten sich hier für Untersuchungen über Problemstellungen, das Orientie-
rungswissen und die Arbeitsroutinen der klinischen Praktikerlnnen an. 12
Des Weiteren ließen sich so die biographischen Entwicklungen und Le-
benslagen der Klientlnnen in den Feldern klinischer Sozialarbeit rekonstruieren
und hinsichtlich der berufs typischen AufgabensteIlungen reflektieren. Hierzu
gibt es bereits eine Reihe von grundlegenden, klientelspezifischen Studien, wie
Untersuchungen zu biographischen Verläufen und Prozessierungen psychiatri-
scher Patienten (Riemann 1987), zu den Krankheitsverlaufskurven und sozialen
Bewältigungsformen von Personen, die durch Herzinfarkt, Querschnittsläh-
mung oder Schlaganfall chronisch erkrankten (CorbiniStrauss 1993), zu den
Biographien und Lebenssituationen von seit Geburt oder früher Kindheit Be-
hinderten (Pieper 1993) sowie familienbiographische und milieuspezifische
Rekonstruktionen von schizophren Erkrankten (Hildenbrand 1987).
Darüber hinaus lassen sich die institutionellen Rahmenbedingungen, die
arbeitsförmigen Organisationsstrukturen und die alltäglichen Routineprakti-
ken 13 untersuchen, etwa im Hinblick auf Fragen der Zuständigkeit angesichts
einer komplexen Fallstruktur (Müller 1993; Schütze 1993), der Interdiszipli-
narität, der fachlichen und dienstlichen Hierarchisierung im Klinikalltag
(Garms-HomolovaiSchaeffer 1990) oder der Bildung und Abgrenzung einer
spezifischen Fachkultur klinischer Sozialarbeit in der Praxis durch Initiierung
und Organisation von Arbeitskreisen oder Mitgliedschaft in Fachgesellschaf-
ten, die einen Bezug zu aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen gewähr-
leisten. Ein weiteres Untersuchungsfeld stellt die selbstreflexive Bearbeitung
beruflicher Handlungsprobleme in supervisor ischen Settings klinischer Sozi-
alarbeit dar (Müller 1996). Neben den so genannten Fallkonferenzen, wie sie
für Klinikteams typisch sind, könnten Fallanalysen zu einer weiteren Fundie-
rung klinischer Erkenntnis beitragen (Hildenbrand 1998).
15 VgJ. hierzu die Analyse der Paradoxien öffentlicher Erziehung am Beispiel des Kinderdorf-
Modells Nölke 1996.
16 Gerade systemtheoretische Konzepte der Familientherapie sehen die Symptomatiken der
PatientInnen gleichsam als Ausdruck einer latenten konflikthaften Sinnstruktur im Kontext
familialer bzw. familienbiographischer Konstellationen, in denen der sog. Indexpatient eine
für die Aufrechterhaltung der Homöostase wichtige Funktion einnimmt oder auf ein unter-
schwelliges generationenspezifisches Konfliktmuster verweist (vgJ. Hildenbrand 1998).
Klinische Sozialarbeit 193
,,n' einfaches aber schönes Haus mit großem Garten, wo für die Kinder (.)
Spielgeräte waren, Haus gebaut war, so mit sehr viel Liebe für die Kinder
gemacht war, in dem die beiden Töchter spielen konnten."
Man vereinbart, dass das Mädchen täglich in die Tagesklinik kommen
soll, um dort therapeutisch betreut und unterrichtet zu werden. Als das Mäd-
chen das erste Mal von der Mutter in die Klinik gebracht wird, habe es einen
kleinkindartigen Eindruck gemacht. Mit der Verabschiedung der Mutter
durch Frau Bunt wird der institutionalisierte Übergang in eine stellvertreten-
de Zuständigkeit markiert und der heikle Moment der Trennung von der fa-
milialen Bezugsperson bearbeitet. Eine Hürde für die Möglichkeit, mit dem
Mädchen im Rahmen des Klinikarrangements zu arbeiten, hat in den
,,schwierigkeiten, sie zu Hause wegzukriegen", bestanden, da sich das Mäd-
chen zunächst weigerte, das Haus zu verlassen und in den Wagen des Arbei-
ter-Samariter-Bundes einzusteigen. In einer Art Ferntherapie telefoniert Frau
Bunt fast täglich mit der Mutter und bestärkt sie in der notwendigen Konse-
quenz einer Haltung, "dass das Kind trotz Weinen und Sonstwas mitgehen
muss". Nach "einer gewissen Zeit" sei die Tochter schließlich gekommen,
weil es der Mutter dann doch gelungen sei, "das Kind gehen zu lassen".
In der Anfangsphase flieht das Kind mehrmals aus der Tagesklinik und
Frau Bunt muss es aus einer anderen Abteilung der Klinik wieder abholen.
Da das Mädchen sich geweigert habe, mit ihr zu gehen, habe sie es fest-
gehalten und sei schließlich ,,so" mit ihr zur Tagesklinik zurückgegangen.
Dabei habe sie dem Kind gesagt: ,,Du pass mal auf, das wird jetzt ganz
schwer für dich, diese Zeit die du hier sein musst, aber ich werd . ich werd
sie mit dir durchstehen. Ich kann das nicht erklären, es war einfach so'n
Gefühl: jetzt isses mein Bezugskind und ja, wir werden es durchstehen." Mit
dieser strengen Fokussierung und dem Versprechen, sich dem Mädchen voll
zu widmen, sei plötzlich, so Frau Bunt, ,,Beziehung übergesprungen" und das
Gefühl, ,jetzt isses mein Bezugskind und ja, wir werden es durchstehen."
Im Handlungsbereich des Klinikalltags und in der Schule wird die Sozi-
alarbeiterin wie die leibliche Mutter umfassend in Auseinandersetzungen um
den Schulbesuch hineingezogen. So muss Frau Bunt in einem fortwährenden
Kampf und bis an den Rand der Erschöpfung das Mädchen immer wieder in
die Schule zurückbringen. Zeitweilig bittet sie einen Kollegen, diese Aufgabe
zu übernehmen, da sie den Eindruck gewonnen hatte, "ich schaff' seinfach
nicht mehr, also sie hat mich wirklich an meine Grenzen gebracht, es gab
auch körperliche Auseinandersetzungen mit ihr". Bei den Schularbeiten ent-
wickelt sich der gleiche Kampf. Sie habe sich schließlich "vor die Zimmertür
gestellt und gesagt: Du bleibst hier drin!". Das körperliche Gerangel ist Aus-
druck einer konfliktgeladenen Auseinandersetzung wie auch des, teils hilflos
anmutenden, Bemühens um den jungen Menschen. Dabei gerät die Sozialar-
beiterin in eine moralische Legitimationskrise hinsichtlich der Frage nach der
Angemessenheit körperlicher Auseinandersetzungen mit einem Kind, dem sie
zunehmend Sympathien entgegenbringt. Sie kommentiert diesen Zwiespalt
194 Eberhard Nölke
resümierend mit den Worten: ,jch denk ich hab mit ihr gekämpft, und ich hab
um sie gekämpft".
Im zweiten zentralen Bereich ihrer Tätigkeit, der Spieltherapie, haben
sich vier Phasen unterscheiden lassen, die Frau Bunt als "klassisch" bezeich-
net.
Zu Beginn habe das Mädchen "über lange Strecken Baby gespielt", sich
"versorgen lassen" und den Vorrat an ,,Milch, Kakao und Haferflocken im
Spielzimmer mit. die hat sie immer gänzlich aufgebraucht". Nach einer
zweiten Phase, in der recht aggressive Spiele im Mittelpunkt standen, deren
Attacken sich auch gegen die Sozialarbeiterin richteten, wurde in einer drit-
ten Phase Frau Bunt selbst in die Rolle des zu versorgenden Kindes gedrängt
und gefüttert. Schließlich habe eine "lange Phase der Loslösung" stattgefun-
den, die ihren symbolischen Ausdruck auch darin fand, dass das Mädchen sie
aufforderte, sie auf der Treppe einzuholen und zu "fangen". Während das
Mädchen sich anfangs nur auf den unteren Stufen "fangen" ließ, gelang dies
zunehmend auf immer höheren Ebenen und vollzog sich zuletzt im oberen
Stockwerk. Die Sozialarbeiterin deutet diesen therapeutischen Interaktions-
modus ganz im metaphorischen Sinne eines nachholenden Durchlebens zen-
traler Entwicklungsstufen und bilanziert dabei ihre therapeutische Arbeit
durchaus positiv.
Der dritte zentrale Tätigkeitsbereich umfasst die so genannten "Famili-
engespräche"17, zu deren Zustandekommen die Sozialarbeiterin immer wie-
der organisatorische Anstrengungen unternehmen muss. So gelingt es ihr, ei-
nen Freigang für den zwischenzeitlich wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss
verurteilten und kurzfristig inhaftierten Vater für die Zeit der Familienge-
spräche zu erwirken. Da dieser trotzdem an einigen der vereinbarten Treffen
nicht teilnimmt, werden die anderen Teilnehmer der Familie trotz ihres lan-
gen Anfahrtsweges wieder nach Hause geschickt. Diese Form einer erzieheri-
schen Maßnahme mag in der Absicht geschehen, den Vater einem zuneh-
menden Druck seitens der Familie auszusetzen, sein Verhalten zu ändern und
sich an Absprachen zu halten. Obwohl die Sozialarbeiterin und ihre Kolle-
gInnen den Sinn einer solch harten Maßnahme auch in Zweifel zogen, habe
gerade ihre Klientin dem Vater nach solchen Momenten ,,schon sehr einge-
heizt".
Nachdem das Mädchen wieder regelmäßig zur Schule geht, wird auch
die Behandlung in der Klinik gemäß Beschluss in der Teamsitzung beendet.
Die Sozialarbeiterin bietet den Eltern weitere Gespräche an, die sie jedoch
nicht annehmen. Zum Ende der Behandlung bemerkt Frau Bunt, dass das
Mädchen zwei Wochen vor der Entlassung ihre Periode bekommen habe. Sie
nimmt dieses lebenszyklische Datum als positives Symbol, als Hinweis so-
17 Dass die Erzählerin nicht wie in ihren allgemeineren Ausführungen von Familientherapie
spricht, mag dem Umstand geschuldet sein, dass das für Therapie konstitutive Moment der
Freiwilligkeit als Basis eines Arbeitsbündnisses eingeschränkt ist.
Klinische Sozialarbeit 195
wohl auf den Abschied von einer Kindheitsphase als auch auf den Abschluss
der Arbeit mit ihr.
Frau Bunt berichtet weiter, dass sie später einmal von ihrer Patientin an
einer Bushaltestelle angesprochen worden sei. Die ehemalige Patientin hatte
ihr kleines Baby bei sich gehabt. Sie erzählte, dass sie sich jetzt, als Mutter
eines eigenen Mädchens, immer gerne an die Situationen im Spielzimmer
erinnere. An dieser Stelle im Interview zeigt sich die Sozialarbeiterin tief be-
wegt über diesen klaren Hinweis auf die Langzeitwirkung ihrer Arbeit bzw.
der mütterlichen Zuwendung in der Spieltherapie.
Zusammenfassend lassen sich hier drei Felder klinischer Sozialarbeit in
der Kinder- und Jugendpsychiatrie benennen, die einen je spezifischen Fokus
haben: Zum einen ist die klinische Sozialarbeiterin zuständig für die Leitung
der Gruppe in der Tagesklinik und besonders für einzelne Kinder, was ihren
Arbeitsalltag insofern bestimmt, als sie die Kinder und Jugendlichen betreut
und disziplinierend eingreift. Dabei begleitet und lenkt sie insbesondere ihr
Bezugskind im Klinikalltag und wird von diesem so als ganze Person heraus-
gefordert, dass sie phasenweise überfordert ist und kollegiale Unterstützung
in Anspruch nehmen muss. Hannelore Bunt hat hier die seltene Möglichkeit,
als Sozialarbeiterin im klinischen Bereich die von ihr so genannte "Knochen-
arbeit" an der Basis kennen zu lernen, was vielen ÄrztInnen, PsychologInnen
und FunktionstherapeutInnen verwehrt ist. Das hier in einem zufälligen Ver-
teilungsmodus entstehende BezugsbetreuerInnensystem forciert eine umfas-
sende Zuständigkeit und Verantwortungsübernahme auch für solche Kinder
und Jugendliche, die sich in der gemeinsamen Arbeit aggressiv distanzieren.
Das Misslingen einer solchen Beziehung kann das Gefühl eines professio-
nellen Scheiterns zur Folge haben, vor dem sich Professionsangehörige auf
einer höheren Statusstufe, wie ÄrztInnen und PsychologInnen, emotional und
kognitiv insofern besser zu schützen vermögen, als sie Konflikte der thera-
peutischen Interaktion vorrangig als immanente Entwicklung von PatientIn-
nen ansehen. Im Alltag klinischer SozialarbeiterInnen werden die institutio-
nellen Abläufe von den spezifischen Interaktionsmustern der Kinder und Ju-
gendlichen jedoch so modifiziert, dass sich darin zentrale Strukturmuster und
Analogien zu familialen Konflikttypen und Szenen wiederfinden. In dem
Maße, wie es der Sozialarbeiterin gelingt, die übertragene emotionale Kon-
fliktstruktur zu erkennen, anzunehmen und praktisch zu bearbeiten, wird sie
dieser schwierigen Aufgabe auch im Klinikalltag gerecht.
Des Weiteren besteht die klinische Aufgabe von Hannelore Bunt in der
Arbeit mit den Familien sowie den einzelnen Kindern und Jugendlichen in
den stärker kontrollierbaren therapeutischen Settings. Während sie im alltäg-
lichen Handlungszusammenhang den institutionellen und gruppenförmigen
Ablaufmustern und ihren Ziel- und Zeitvorgaben, wie dem schulischen Inte-
grationsprozess, gerecht werden muss, kann sie hier als Spiel- und Familien-
therapeutin die Intensität und den Umfang der Intervention eigenständig pla-
nen und gestalten. Komplementär zu ihrer Funktion als fordernde Bezugsper-
196 Eberhard Nölke
son beim Schulbesuch und bei den Anforderungen des Alltags hält und füttert
sie ihr Bezugskind in der Einzeltherapie, stellt sich mit Empathie und Zutrau-
en in die konstruktiven Selbstheilungskräfte als Übertragungsobjekt im szeni-
schen Spiel zur Verfügung und handelt zudem im familientherapieanalogen
Setting als unparteiische und Perspektiven vermittelnde Moderatorin.
Neben den Aufgaben der Problemeinschätzung und Kooperationsverein-
barung mit Kind und Eltern muss die Problembearbeitung mit den institutio-
nellen Ablaufmustern in Einklang gebracht werden. Dies erfordert eine fall-
bezogene Strukturierungskompetenz hinsichtlich der räumlich/zeitlichen Be-
dingungen. Die klinische Arbeit erfolgt auf verschiedenen Ebenen der Pro-
blembearbeitung, die sich einerseits sinnvoll ergänzen, andererseits die klini-
schen SozialarbeiterInnen in eine zu balancierende Spannung versetzen ange-
sichts der verschiedenen Positionen, die sie gegenüber den Kindern bzw. Ju-
gendlichen und ihren Bezugspersonen im jeweiligen Setting einnehmen. Der
klinische Fallbezug bleibt im vorliegenden Fall auf die Besserung der be-
grenzten Ausgangssymptomatik einer Schulverweigerung beschränkt.
Das folgende Beispiel stellt eine weitere Funktion der qualitativen Fallanaly-
se klinischer Sozialarbeit vor. Klinische SozialarbeiterInnen bearbeiten dabei
in so genannten Fallanalyseseminaren unter Leitung von Sozialwissen-
schaftlerlnnen das von ihnen dokumentierte Material der Arbeit mit Klien-
tInnen, wie Protokolle, familienbiographische Daten oder Arbeitskonzepte
unter Verwendung sozialwissenschaftlicher Rekonstruktionsverfahren. Im
Gegensatz zu dem im ersten Fallbeispiel vorgestellten Typus wissenschaftli-
cher Forschung stellt sich hier für die PraktikerInnen ein zu vermittelnder
Hiatus zwischen sich bereits vollziehender, professionalisierungsbedürftiger
klinischer Praxis und Formen der distanzbildenden rekonstruktiven Analyse
dieser Praxis ein.
Frau Peters war vor ihrer klinischen Arbeit mehrere Jahre in der Jugendar-
beit und Jugendberufshilfe tätig und hatte an einer zweijährigen berufsbeglei-
tenden Weiterbildung für MitarbeiterInnen, die mit arbeitslosen und randstän-
digen Jugendlichen arbeiten, teilgenommen. Bestandteile dieses integrierten
Forschungs- und Weiterbildungsprojektes waren neben Theorievermittlung,
Selbsterfahrung und Gruppensupervision auch Seminare zur sozial wissen-
schaftlichen Fallanalyse (vgl. Nölke u.a. 1992). Hier wurden insbesondere Bio-
graphien von Jugendlichen mit den Analyseverfahren der objektiven Herme-
neutik, der Biographieanalyse sowie der Tiefenhermeneutik analysiert. Wäh-
rend der Weiterbildung wechselten einige TeilnehmerInnen in neue Berufsfel-
der der Sozialen Arbeit. Sie nutzten dabei neben der Gruppensupervision gera-
de die Fallanalyseseminare zur Klärung von Fragen zu klientelen, institutio-
Klinische Sozialarbeit 197
nellen und professions spezifischen Problemen. Hierzu wurde auch selbst erho-
benes und verschriftlichtes Fallmaterial eingebracht. Frau Peters hatte kurz vor
Ende der Weiterbildung die Stelle einer Sozialarbeiterin in einem Projekt zur
Versorgung und Betreuung aidsinfizierter Kinder und deren Eltern übernom-
men. Hier sah sie sich damit konfrontiert, die nur allgemein vorgegebenen Auf-
gabenstellungen dieser klinischen Tätigkeit praktisch umzusetzen. Unspezifi-
sehe Aufgabenstellungen können dann von Vorteil sein, wenn es dem/der klini-
schen SozialarbeiterIn gelingt, das Arbeitsfeld mit Hilfe erworbener Methoden
eigenständig zu eruieren, die Tätigkeiten selbst zu definieren und somit flexibel
auf einzelfallspezifische Erfordernisse zu reagieren. Die qualitative Fallanalyse
fungiert hier im Zusammenhang einer praxisbegleitenden Konzeptentwicklung.
Frau Peters arbeitet seit drei Monaten in der Ambulanz der Universitäts-
Kinderklinik im Rahmen der modellhaften medizinischen und psychosozia-
len Versorgung von aidsinfizierten Kindern. Neben der medizinischen Be-
handlung durch ÄrztInnen und Krankenschwestern besteht ihre Aufgabe in
der psychosozialen Betreuung der Kinder sowie der Unterstützung der Be-
zugspersonen, vor allem der Eltern und Angehörigen, bei der Auseinander-
setzung mit HlV und Aids. Da die Krankheit nicht heilbar ist, geht es primär
um die Milderung der psychischen und sozialen Folgen der Erkrankung. Frau
Peters suchte Unterstützung im o.g. Forschungs- und Weiterbildungsprojek-
tes bei der Konzipierung und Durchführung ihrer Arbeit vor dem Hintergrund
eines nicht hinreichend genauen Arbeitsauftrages sowie der nach ihrer Ein-
schätzung unklaren Position innerhalb des Klinikteams. Die Klientel waren
vor allem Familien mit HlV -infizierten Kindern. Überwiegend handelte es
sich um jugendliche Frauen, die ihr erstes Kind bekommen hatten. Frühere
oder akute Drogenabhängigkeit war ein Merkmal vieler dieser jungen Eltern.
Daneben hatte sie mit Pflege- und Adoptiveltern zu tun in Fällen, wo die
leiblichen Eltern ihr Kind z.B. wegen Krankheit oder akuter Drogenabhän-
gigkeit nicht selbst betreuen konnten.
Frau Peters bemängelte, dass die Aufgabenstellung nur allgemein vorge-
geben sei und Unklarheit darüber herrsche, wie sie die damit verknüpften
Ziele in der Praxis erreichen solle. Sie habe die Stelle in der Klinik gerne an-
genommen, wisse aber nicht genau, was sie machen solle. Sie müsse sich
völlig neu orientieren, da sie zuvor einige Jahre in der offenen Jugendarbeit
tätig war und ihr der Bereich noch fremd sei. In der klinischen Praxis nähmen
die Eltern, überwiegend die Mütter, mit ihren Kindern meist nur die medizi-
nische Behandlung wahr, sie sitze in ihrem Arbeitszimmer und warte gleich-
sam auf Arbeit. Zwar nehme sie an den Behandlungen teil, spreche mit den
Eltern und spiele mit den Kindern, so gut es gehe, ansonsten" machen" die
Ärzte das meiste. Die Arbeit sei belastend, da Kinder und Eltern nicht nur
aufgrund der Behandlung leiden, sondern auch die gesamte Perspektive der
Beteiligten meist hoffnungslos sei. Das belaste sie auch oft bis zur Erschöp-
fung. Sie habe manchmal keine Lust mehr, zur Arbeit zu gehen. In den ge-
meinsamen Konferenzen wisse sie oft nicht, was sie zur jeweiligen Proble-
198 Eberhard Nölke
matik beitragen könne, vieles komme ihr "banal" vor angesichts der klaren
Aussagen der Mediziner, die genauer wüssten, was im Rahmen der Behand-
lung zu tun sei.
Wenn man diese Ausgangssituation betrachtet, dann kann man in erster
Annäherung drei Ebenen unterscheiden: Neben einem beruflichen Orientie-
rungsproblem, das sich aus dem Zusammenspiel professionsadäquater Bil-
dungsprozesse, institutionsspezifischer Rahmenbedingungen sowie berufs-
biographischer Formierungen ergibt (vgl. Nölke 2000), existiert eine kom-
plexe Problem- bzw. Erleidenssituation von Kindern und Eltern 18 , der mit ei-
nem entsprechenden medizinischen Behandlungs- und sozialpädagogischen
Betreuungsangebot unter den institutionsspezifischen Besonderheiten der
Ambulanz des Krankenhauses begegnet werden soll. Im Sinne einer praxis-
nahen Fallarbeit hat sie ihre Tätigkeit beschrieben, Fallmaterial gesammelt,
systematisch ausgewertet und auf dieser Basis ein Konzept entwickelt, mit
dessen Hilfe es ihr gelungen ist, ihre Arbeit klarer und fallbezogener zu
strukturieren und auch die kleinen, scheinbar unbedeutenden Arbeitsvollzüge
als notwendige Bestandteile eines größeren Arbeitsbogens zu sehen.
Folgende praktischen Arbeitsvollzüge und Tätigkeitsfelder im Kontext
der klinischen Arbeit ließen sich bestimmen:
Die Sozialarbeiterin begleitet den medizinischen Untersuchungs- und Be-
handlungsprozess. Dabei hilft sie den Einstieg in die medizinische Untersu-
chung und Behandlung zu erleichtern, steht den Eltern und Angehörigen
während der Behandlungsprozedur bei und nimmt mit den Kindern spieleri-
schen Kontakt auf. Zugleich ist damit die Möglichkeit der teilnehmenden Be-
obachtung der Interaktionen zwischen den Kindern und ihren Bezugsperso-
nen gegeben sowie eine Einstiegsmöglichkeit für anschließende Gespräche.
Hier lassen sich wiederum drei Phasen unterscheiden, die Frau Peters zwar
vollzogen, aber kaum beachtet und in ihrer Wichtigkeit eher als gering einge-
schätzt hatte.
In der ersten Phase (vor der Behandlung), die meist als reine Wartezeit
verbucht wird, fanden oft informelle Gespräche mit den Patientlnnen statt, in
denen die Betroffenen kurze Rückmeldungen zum eigenen und zum Befinden
des Kindes sowie Andeutungen über die Problematik der derzeitigen Lebens-
situation machten.
Eine zweite Phase stellte die Untersuchung und Behandlung selbst dar,
die sich von dreißig Minuten bis zu zwei Stunden Dauer erstrecken konnte.
18 Vgl. hierzu insbesondere das Konzept der Verlaufskurve, wie es von Fritz Schütze im An-
schluss an Strauss und Glaser in Deutschland auch durch zahlreiche empirische Arbeiten
fruchtbar gemacht wurde. Im Gegensatz zu biographischen Handlungsschemata, die für den
Prozess der vorwiegend intentionalen Steuerung stehen, kennzeichnen Verlaufskurven se-
quenziell geordnete Prozessstrukturen des Erleidens, die das Subjekt der Dominanz hetero-
gener sozialer Prozesse unterwirft, Formen der Selbstentfremdung forciert und die eigene
Kompetenz zum planvollen und kontrollierten Handeln nachhaltig untergräbt (vgl. Cor-
binlStrauss 1993; Schütze 1999).
Klinische Sozialarbeit 199
Den von ihr geleisteten Beistand während der Behandlung stufte Frau Peters
meist als geringfügig ein, da Ärztinnen und Krankenschwestern hier im Zen-
trum stünden. Gegenüber dieser Selbsteinschätzung erweist sich die klinische
Tätigkeit der Sozialarbeiterin aus der Sicht der Betroffenen als durchaus hilf-
reich. Sie spielt mit den Kindern und ist oft "nur da". In diesen Momenten
übernimmt sie Funktionen, zu deren Wahrnehmung die Eltern aufgrund ihrer
emotionalen Betroffenheit angesichts der schmerzhaften Behandlung ihres
Kindes momentan nicht in der Lage sind. So kann sie diejenigen, die die Be-
handlung des Kindes nicht ertragen, hinausbegleiten und ermutigen, ihnen
zuhören und sie trösten. Diese Anteile einer Gefühlsarbeit wurden von Frau
Peters selbst als unbedeutend eingeschätzt, obwohl sich der Aufbau einer
vertrauensvollen Zusammenarbeit gerade angesichts einer Erleidenssituation
praktisch bewährt.
Eine dritte Phase stellt schließlich die Zeit nach der Untersuchung und
Behandlung dar. Während einige Eltern mit ihren Kindern so schnell wie
möglich die Ambulanz verließen, gebe es andere, die das Angebot von Frau
Peters, sich nach der Behandlung noch in ihrem Zimmer zu treffen, aufgrif-
fen und sie fachlich in Anspruch nähmen, zum Beispiel hinsichtlich zentraler
sozialarbeiterischer Fragen wie Möglichkeiten der Arbeitsbeschaffung, der
Schuldenregulierung, einer finanziellen Unterstützung für Mutter und Kind
oder der Aufnahme des Kindes in eine Betreuungseinrichtung.
Diese drei Phasen klinischer Arbeit zeichnen sich durch kleine Arbeits-
schritte innerhalb einer zeitlich begrenzten Arbeitseinheit aus, an denen eine
konstitutive soziale Komponente der Tätigkeit hervortritt: die praktische Her-
stellung und Aufrechterhaltung einer für die Arbeitsbeziehung notwendigen
Vertrauensgrundlage, die begleitende Gefühlsarbeit im Sinne des empathi-
schen Beistands angesichts des notwendigen und mit Schmerzen einherge-
henden arbeitsteiligen Behandlungsprozesses. Zugleich verbindet diese klei-
neren Arbeitsschritte im Kernbereich der Behandlung innerhalb der Klinik
ein Anfang und ein vorläufiges Ende.
In den Phasen zwischen den Behandlungen hält Frau Peters den Kontakt
zu anderen Klientlnnen mittels Telefongesprächen und teilweise direkten Be-
ratungskontakten aufrecht. Hier kommen die Klientlnnen entweder zu ihr in
die Klinik, oder sie bietet nach Absprache Hausbesuche an. Die Gespräche
drehen sich meist um Fragen der materiellen und finanziellen Versorgung
oder um eine Beratung zur Erziehung und Förderung der Kinder, etwa bei
Problemen der Integration des HIV-infizierten Kindes in die Kindertages-
stätte oder der Organisation des Alltags, insbesondere bei der Entlassung aus
stationärer Versorgung.
Frau Peters hat nicht nur im Kernbereich der medizinischen Behandlung
eine wichtige Funktion inne, sondern ist insbesondere mit den außerklini-
schen Alltagsproblemen dei Klientlnnen befasst. Gerade hier eröffnet sich
eine eigene sozialarbeiterische Perspektive auf den jeweiligen Fall, wobei ein
zeitlich weit reichender Bogen gespannt wird. Nicht selten dauern die Ar-
200 Eberhard Nölke
beitsbeziehungen mehrere Jahre, die etwa durch Rückfallphasen in die Dro-
genabhängigkeit unterbrochen sein können. Es wird also ein weit gespannter
Arbeitsbogen eröffnet, der über die mit der Krankheitsbehandlung im Zu-
sammenhang stehenden Schritte hinausreicht und die sozialen Lebensum-
stände und wichtige biographische Entwicklungsschritte umfasst. Insoweit ist
sie in ihrer klinischen Arbeit in besonderer Weise mit den lang gestreckten
Erleidensprozessen ihrer KlientInnen, deren körperlicher und sozialer Ver-
fasstheit und den Möglichkeiten ihrer Bearbeitung befasst.
Für eine explorative Fallarbeit besteht dabei die Möglichkeit, das eigene
praktische berufliche Handeln zu protokollieren und zur Datengrundlage ei-
ner Systematisierung zu machen, etwa indem man eine tagebuchartige Auf-
zeichnung der Arbeitsschritte und -abläufe vornimmt und diese zur Grundla-
ge einer systematischen Analyse heranzieht.
Neben dieser beruflichen Orientierung war die Sozialarbeiterin auch mit
der Erkundung der genaueren Lebensumstände und der Hilfestellung bei der
akuten Problemlage der KlientInnen befasst. So muss etwa dem drohenden
Rückfall in die Drogenabhängigkeit durch das Erkunden einer Substitutions-
möglichkeit durch Methadon begegnet oder die Sicherstellung der Versor-
gung und Erziehung der Kinder organisiert werden. Unvermeidlich musste
Frau Peters auf die akute Problematik ihrer KlientInnen reagieren - und dies
in Kooperation mit anderen Institutionen, wie Jugendamt, Sozialamt, Bera-
tungsstellen. Für eine systematischere Fallanalyse und Angebotsplanung fehl-
te ihr oft die nötige Zeit. Frau Peters begann nun die ihr bereits vorliegenden
Daten nicht nur zu sammeln, sondern auch hinsichtlich der sozialen Proble-
matik der KlientInnen chronologisch zu ordnen und zu rekonstruieren. So er-
arbeitete sie biographische Porträts der KlientInnen, die sie fortlaufend ak-
tualisierte. Die Biographien der meist jungen Eltern, insbesondere jugendli-
cher Mütter, waren meist durch Maßnahmen der Jugendhilfe geprägt: Infolge
früher Vernachlässigung, sexuellen Missbrauchs oder traumatischer Tren-
nungs- und Verlusterfahrungen von den Eltern waren Fremdunterbringung in
Pflegefamilien und Heimen, zeitweilige Aufenthalte in der Kinder- und Ju-
gendpsychiatrie sowie der häufige Wechsel der Institutionen und Personen
ein wesentlicher Bestandteil ihrer Entwicklung.
Frau Peters erstellte fortlaufend Protokolle ihrer Arbeit und ergänzte ihre
Daten, so dass eine schriftliche Chronologie der Ereignisverkettungen und ih-
rer Interventionen vorhanden war. Diese Protokolle sowie Daten, wie die bio-
graphischen Daten der KlientInnen, dienten fortan als Grundlage für die Re-
konstruktion und Planung weiterer Maßnahmen. Gleichermaßen waren die
sich stellenden praktischen Probleme in ihrer Vielschichtigkeit zu bearbeiten.
So heißt es im Protokoll des fünften Klinikbesuchs des Kindes Jamila
und ihrer Mutter: "Unterstützende Behandlung bei der ärztlichen Behand-
lung, vor allem beim Stechen des Kindes. Jamila ist adipös und hat schlecht
aujfindbare Venen. Es ist immer eine Herausforderung für alle Beteiligten.
Man muss sie oft festhalten. Nach dem Fixieren der Infusion ist Spielen mit
Klinische Sozialarbeit 201
Mutter und Kind die nahe liegendste Handlung. Es entwickelt sich allmählich
ein Bezug zur Mutter. Sie berichtet von der plötzlichen Erkrankung ihrer
Mutter, es bestehe der Verdacht, dass sie an Krebs erkrankt sei. Zudem habe
sie eine Anzeige wegen Diebstahls erhalten. Sie habe mit einer Freundin in
einer Boutique Kleider mitgehen lassen. Sie fragt nach einem Anwalt, und ich
sage ihr zu, mich um einen Anwalt zu kümmern."
Hier zeigt sich der allmähliche Aufbau einer Arbeitsbeziehung, die von
zunehmendem Vertrauen geprägt ist. Die Handlungsschritte der klinischen
Arbeit werden durch die komplexen Verlaufskurven auf Seiten der Klientin
gleichsam vorgegeben. Als solche werden Prozessstrukturen des Erleidens
gekennzeichnet, welche die eigene Planungs-, Entfaltungs- und Kontrollkom-
petenz nachhaltig untergraben und die Betroffenen in einen Prozess des Rea-
gierens auf die widrigen Umstände einbinden. Es entsteht ein Gefühl des Ge-
triebenseins, der zunehmenden Hilflosigkeit und Inkompetenz. In dieser mul-
tiplen Krisensituation begleitet Frau Peters ihre Klientin, sie tröstet, hört zu
und übernimmt in anwaltschaftlicher Perspektive stellvertretend Handlungen,
welche die Klientin nicht auszuführen vermag. Als die Mutter der jungen
Frau stationär aufgenommen wird und als Bezugsperson für das Kind aus-
fällt, muss diese jetzt allein für ihr Kind sorgen. Frau Peters drückt im nach-
folgenden Protokoll ihre Befürchtung aus, diese könne damit "überfordert"
sein. In der Tat zieht die Mutter zu ihrem Freund, dem Vater ihres Kindes.
Dieser lebt überwiegend bei seiner marokkanischen Familie. Er handelte
selbst mit Drogen und geht nunmehr einer Hilfstätigkeit nach. Der Familie
hat er die Erkrankung des Kindes bislang verschwiegen, nach Aussagen der
Mutter befürchtet er, dass die Familienmitglieder eine solche Erkrankung
nicht tolerieren werden. Damit wird die Sozialarbeiterin im Rahmen ihrer
klinischen Arbeit auch in besonderer Weise mit kulturellen Deutungsmustern
dieser Erkrankung und ihrer subkulturellen Transformation konfrontiert. In
dieser Situation des labilen Gleichgewichts ruft die Klientin Frau Peters häu-
figer an und klagt über die Situation in ihrer Beziehung und die Angst vor
dem Verlust der Mutter. Über vier Monate hinweg bleibt die Situation nahezu
unverändert labil. Nach wie vor lebt die Klientin von Sozialhilfe und konsu-
miert Drogen.
Angesichts der Problemlagen ihrer KlientInnen entwickelte Frau Peters
folgende weitere Angebote:
Ausgehend von der Tatsache, dass viele der Mütter sozial isoliert sind,
richtete sie einen offenen Gesprächskreis ein. Zu diesem Zweck fand sie mit
Hilfe einer früheren Kollegin einen Raum in einer Bildungseinrichtung, den
sie am späten Nachmittag nutzen konnte. Nach dem ersten Treffen, an dem
fünf Mütter teilnahmen, schrumpfte die Zahl bei den beiden nächsten Termi-
nen auf zwei. Frau Peters führte dies auf die nicht nur entlastende, sondern
auch belastende Situation durch die Darstellung der massiven Probleme der
anderen in der Gruppe zurück. Um hier Abhilfe zu schaffen, erweiterte sie ihr
Setting. Sie bot den Teilnehmerinnen auch Möglichkeiten einer kreativen,
202 Eberhard Nölke
nicht verbalen Ausdrucksform an. Sie stellte Zeichen- und Malmaterial sowie
Ton zur Verfügung, zeigte deren Verwendungsmöglichkeiten und wandelte
den Gesprächskreis zu einer Art kreativen Werkstatt. Die Teilnehmerinnen
hatten neben dem verbalen Austausch hier auch die Möglichkeit einer indi-
rekten Bearbeitung ihrer Problematik über das Material. Des Weiteren plante
sie eine Wochenend-Freizeit für Eltern und Kinder, wobei sie die Eltern an
der Organisation und Durchführung beteiligte. Die Angebote sollten dazu
beitragen, dass die Betroffenen auch ohne ihre Anwesenheit Kontakte auf-
bauen und sich gegenseitig helfen konnten.
Diese Angebote wurden in ihrer zeitlichen und inhaltlichen Struktur im-
mer wieder den Gruppenprozessen gemäß modifiziert. Die aus der Reflexion
der praktischen Arbeit mit den KlientInnen gewonnenen Erkenntnisse inte-
grierte Frau Peters in die bestehende Konzeption ihrer Tätigkeit. Dies diente
sowohl der Binnenorientierung für das eigene berufliche Handeln als auch
der Außendarstellung.
Im Binnenbereich ging es vor allem um die Akzentuierung einer eigen-
ständigen sozialarbeiterischen Fallperspektive im interdisziplinären Team. So
konnte sie auf der Grundlage ihrer eigenen Aufzeichnungen und Analysen
insbesondere die jeweiligen sozialen Lebensumstände aufzeigen und das Leid
der KlientInnen im Zusammenhang ihrer biographischen Gesamtentwicklung
vorstellen. Hinsichtlich der Außendarstellung hatte das Konzept eine weitere
Funktion: Es wurde vor Gremien, Kostenträgern und anderen Institutionen
der Drogenarbeit vorgestellt. Insbesondere die Hervorhebung der Bedeutung
eines sozialarbeiterischen Angebots bei den Kostenträgern der Sozialen Ar-
beit trug zur Sicherung der klinischen Arbeit von Frau Peters bei. Darüber
hinaus nutzte sie die Möglichkeiten der Öffentlichkeitsarbeit offensiv: Es er-
schienen Artikel über ihre Arbeit im Regionalteil der Zeitung, und sie gab ein
Interview im regionalen Rundfunk. Ziel war hierbei auch die Herstellung öf-
fentlicher Aufmerksamkeit sowohl hinsichtlich der besonderen Problematik
der KlientInnen als auch dieses besonderen Hilfsangebots.
3. Abschließende Bemerkungen
Literatur
Lebens- und/oder biographische Krisen, Prozesse des Erleidens und das Zu-
sammenbrechen von Handlungsroutinen werden im sozialpädagogischen Dis-
kurs meist an den (vielfältig gelagerten) schwierigen sozialen Problemlagen
der Adressatinnen Sozialer Arbeit aufgezeigt. Häufig wird dann darauf insi-
stiert, dass RatsuchendelKlientlnnenlAdressatinnen auf professionelle Hilfe
(gewollt oder ungewollt) angewiesen sind bzw. ihnen Hilfe- und Unterstüt-
zungsleistungen bereitgestellt werden müssen, um die meist schwerwiegen-
den Lebenslagen, in denen sie stecken, abzuwenden und die Lebenssituation
der Adressatinnen zu verbessern. Neuerdings wird auch der Begriff der Krise
wieder im Diskurs der (Sozial-)Pädagogik aufgegriffen und für mögliche
Kriseninterventionsstrategien diskutiert (vgl. bspw. Mennemann 2000).
Doch was passiert, wenn diejenigen, die für die Bereitstellung der Unter-
stützungsleistungen als Professionelle in Ämtern und/oder sozialpädagogi-
schen Einrichtungen tätig sind, selbst in Erleidensprozesse geraten, wenn ihre
alltäglichen Handlungsroutinen "schleichend" zusammenbrechen, die sie sich
im Umgang mit Adressatinnen in schwierigen Lebenslagen angeeignet ha-
ben? Welche Dynamik entsteht dann im beruflichen Alltag?
Diese Fragen möchte ich an der Erleidenskarriere eines Sozialbeamten
genauer beleuchten, die - in der hier gebotenen Kürze - zusammengefasst
dargestellt wird (4.). Zuvor werde ich das theoretische Konzept der Verlaufs-
kurve des Erleidens skizzieren (2.) und kurz den forschungsmethodischen
Zugang zum Fallmaterial beschreiben (3.). Schließlich möchte ich auf dieser
Grundlage am Ende diskutieren, inwiefern das Konzept der Verlaufskurve
einen geeigneten Zugang innerhalb des sozialpädagogischen Diskurses dar-
stellen könnte (5.).
208 Karin Bock
Als Hintergrundfolie für die Frage nach denjenigen Prozessen, in denen all-
tägliche Handlungsroutinen zusammenbrechen und bisherige bewährte Mu-
ster nicht mehr funktionieren, bietet sich das von Anselm Strauss, Gerhard
Riemann, Thomas Reim, Fritz Schütze u.a. ausgearbeitete Ablaufmodell für
Verlaufskurvenprozesse an (vgl. hierzu und im Folgenden Schütze 1999, S.
20 lfV In diesem Ablaufmodell wurden diejenigen Stadien und Mechanis-
men auf der Grundlage zahlreicher Untersuchungen zu Erleidensprozessen
herausgearbeitet, die bei der Entfaltung von Verlaufskurven regelhaft sind. 2
Der Kern des Ablaufmodells von Verlaufskurvenprozessen ist die Ent-
stehung und allmähliche Wirkung eines Verlaujskurvenpotenzials, das seine
ihm innewohnende Dynamik nach und nach entfaltet (Verlaujskurvendyna-
mik):
Gegenwärtig liegt eine kaum noch überschaubare Anzahl anderer theoretischer Konzepte
als das hier favorisierte ,,Ablaufsmodell der Verlaufskurve" von Strauss/Schütze u.a. aus
unterschiedlichen Forschungs- und Theorietraditionen vor, die die Frage nach Krisen in
biographischen Zusammenhängen bearbeitet haben. Die Entscheidung für das Ablaufsmo-
dell von Verlaufskurvenprozessen als Hintergrundfolie ergibt sich einmal aus dem for-
schungsmethodischen Zugang (vgl. 3.) und zum zweiten, weil die anderen vorliegenden
Konzepte nicht explizit im Hinblick auf biographische Prozesse des Erleidens formuliert
worden sind. Vgl. zu ausgewählten Konzepten der Krise die resümierende Darstellung von
Hugo Mennemann 2000, der die makrosoziologischen und psychologischen Ansätze sowie
psychoanalytische Zugänge zum Begriff der Krise rezipiert und auch ausgewählte sozial-
pädagogische Ansätze in den Blick nimmt, allerdings sozialisationstheoretische wie lem-
und bildungstheoretische Zugänge ausspart und auch den strukturtheoretisch-
rekonstruktiven Zugang der ,,nicht-zufälligen Erzeugung des Neuen aus der Krisenbewälti-
gung" von Ulrich Oevermann (1996) auslässt.
2 Diese Stadien müssen jedoch nicht immer zwangsläufig und ausschließlich nach diesem
Modell ablaufen, sondern können variieren (vgl. Schütze 1999, S. 202).
Erleidensprozesse im Berufsalltag eines Sozialbeamten 209
(b) Wirksamwerden des Verlaufskurvenpotenzials als Schockerjahrung:
Wirksam wird dieses Verlaufskurvenpotenzial mit Fallentendenz schließ-
lich durch eine "plötzliche Grenzüberschreitung" (Schütze 1999, S. 201),
d.h. es dynamisiert und konkretisiert sich durch die Verkettung äußerer
Einflüsse. Die Betroffenen können nun ihren gewohnten Lebensalltag
nicht mehr aktiv nach den gewohnten handlungsschematischen Routinen
gestalten, sondern stehen den Ereignissen oft ohnmächtig gegenüber.
Verwirrung, Schock- und Desorientierungserfahrungen sind hier bei den
Betroffenen vorherrschend.
(c) Aufbau eines labilen Gleichgewichts als Reaktion auf die Schockerjah-
rung: Nachdem diese ersten Verwirrungen überwunden sind, versuchen
die Betroffenen, ein labiles Gleichgewicht aufzubauen, um ihren Alltag
weiterhin bewältigen zu können. Gleichwohl bleiben diese neuen Arran-
gements der Alltagsbewältigung instabil unter dem starken Eindruck des
Verlaufskurvenpotenzials, "weil die eigentlichen Determinanten des Ver-
laufskurvenpotentials - angesichts des Fehlens einer wirksamen Hand-
lungskompetenz bei den Betroffenen - nicht bearbeitet und unter Kon-
trolle gebracht werden können" (Schütze 1999, S. 201).
(d) "Entstabilisierung des labilen Gleichgewichts der Alltagsbewältigung
(, Trudeln ')" (Schütze 1999, S. 201): Schließlich geraten die Betroffenen
ins "Trudeln", da sie sich durch die übermäßigen Anstrengungen zur
Herstellung des labilen Gleichgewichts als Reaktion auf die Schocker-
fahrungen selbst fremd werden. Sie "verstehen sich selbst nicht mehr",
weil die einst gewohnten Handlungsroutinen nicht mehr greifen, sondern
nur noch unter größter Anstrengung aufrechterhalten werden können:
,,Die Überfokussierung auf den einen Aspekt der Problemlage bewirkt
die Vernachlässigung anderer Problemaspekte, die sich mehr oder weni-
ger unkontrolliert weiter entfalten können" (Schütze 1999, S. 201). In
dieser Phase tritt häufig mindestens ein zusätzliches Ereignis hinzu, dass
die Betroffenen stark belastet und die ohnehin schwierige Alltagsbewäl-
tigung noch problematischer werden lässt.
(e) "Zusammenbruch der Alltagsorganisation und der Selbstorientierung"
(vgl. Schütze 1999, S. 202): Schließlich brechen die Betroffenen unter
dem nunmehr übermächtig werdenden Druck zusammen. Die massiv
wirkenden Alltagsprobleme und der Verlust routinierter Handlungswei-
sen werden derart übermächtig, so dass sie sich "zu dem alles umfassen-
den Zweifel" (Schütze 1999, S. 202) steigern - die Betroffenen verlieren
endgültig das Vertrauen in die eigenen Kompetenzen und zweifeln an
sich selbst als auch an ihren "signifikanten anderen". Sie erleben sich
selbst als unfähig, irgendeine Handlung ausführen zu können oder ir-
gendeine soziale Beziehung aufrechtzuerhalten; das Misstrauen in die ei-
gene Person wird begleitet durch Hoffnungslosigkeit, Ablehnung und
Orientierungslosigkeit.
210 KarinBock
(f) theoretische Verarbeitungsversuche des Orientierungszusammenbruchs:
Durch die Erfahrungen aus dem Zusammenbruch werden die Betroffenen
gezwungen, ihre Lebenssituation radikal neu zu definieren. In diesen De-
finitionen versuchen die Betroffenen, den Erleidensprozess theoretisch
zu bearbeiten, in dem sie das Zustandekommen erklären und einschätzen
sowie die Auswirkungen auf das bisherige, gegenwärtige und zukünftige
Leben ausformulieren. Die theoretische Bearbeitung kann authentisch
und selbstgeleitet (z.T. mit professioneller Unterstützung und Hilfe durch
signifikante andere) oder fremdgeleitet (schablonenhafte Übernahme
fremder Erklärungen) sein.
(g) Praktische Bearbeitungs- und Kontrollversuche der Verlaufskurve und!
oder die Befreiung aus den Verlaufskurvenfesseln: Bei den Versuchen,
die Verlaufskurve praktisch zu bearbeiten, lassen sich nach Schütze drei
Handlungsformen unterscheiden: (1) Versuche, aus der Lebenssituation
zu flüchten, um der Verlaufs kurve zu entkommen (allerdings ohne das
Verlaufskurvenpotenzial kontrollieren zu können); (2) der Versuch, das
Leben systematisch mit der Verlaufskurve zu organisieren (z.B. bei einer
chronischen Erkrankung); (3) der Versuch, das Verlaufskurvenpotenzial
systematisch aus dem Leben zu beseitigen.
3 Dieses Forschungsprojekt entwickelte sich im Rahmen eines Seminars, dass ich im Winter-
semester 2000/2001 an der Universität Dortmund mit Studierenden aus dem Diplompäd-
agogikstudiengang durchgeführt habe. Die folgende Fallanalyse wäre ohne die Studieren-
den nicht zustandegekommen. Bei ihnen möchte ich mich für die gemeinsame Arbeit bei
der Erhebung und Auswertung der Fälle ganz herzlich bedanken, insb. bei Petra Tautorat
und Anne Quill, die mit mir zusammen den "Fall Bartholomäus" bearbeitet haben.
212 Karin Bock
Das Interview wurde im Winter 2000 durchgeführt und fand in der Ein-
richtung statt, in der der Befragte zum Zeitpunkt des Interviews angestellt
war. Nach der Erzählaufforderung begann er sofort mit seiner Lebensge-
schichte, in der er die einzelnen Stationen seines bisherigen Lebens unter-
schiedlich gewichtet: Während er seine Kindheit, die Jugend, die Schulzeit,
den Zivildienst und die Ausbildungszeit sehr knapp umreißt, nimmt der Ar-
beitsalltag einen sehr großen Raum im Interview ein: Hier schildert er aus-
führlich die Erleidensprozesse bis zum völligen Zusammenbruch, und hier
werden auch die unterschiedlichen Verarbeitungsversuche nach dem Zu-
sammenbruch deutlich, die zu seinem "biographischen Thema" werden. 4
Biographische Rahmendaten
4 Das Interviewtranskript beträgt 82 Seiten, so dass ich mich im Folgenden leider auf die we-
sentlichen Aussagen des Befragten beschränken muss.
5 Das Synonym Bartholomäus wählte'sich der Befragte beim Ausfüllen des Datenbogens am
Ende des Leitfadeninterviews selbst. Einen genaueren Verweis auf das Synonym gibt er je-
doch nicht. Wahrscheinlich hatte der Sozialbeamte den heiligen Apostel Bartholomäus bei
seiner Suche nach einem Synonym im Sinn, der in der christlichen Kirche als einer der
zwölf Apostel Jesu gilt (Neues Testament, Markus 3,14-19) und der in vielen Ländern mis-
sionarisch tätig gewesen sein soll, u.a. auch in Indien das Evangelium gepredigt haben soll,
wo er angeblich eine hebräische Abschrift des Matthäusevangeliums hinterließ. Als Tag des
heiligen Bartholomäus wird in der römisch-katholischen Kirche sowie in der Kirche von
England der 24. August, in der orthodoxen Kirche der 11. Juni gefeiert (vgl. Encarta 1999,
CD I).
Erleidensprozesse im Berufsalltag eines Sozialbeamten 213
In seiner Freizeit war Bartholomäus sportlich sehr aktiv. Neben den wö-
chentlichen Fußballspielen mit seinen Freunden ging er regelmäßig zur
Leichtathletik und trainierte später selbst Jugendgruppen. Über die Zeit in der
Schule, den Zivildienst und die Ausbildung verliert Bartholomäus nur wenige
Worte:
B.: hab die klassische Schullautbahn durchlebt. ganz hübsche Pubertät erlebt. mit allen
Facetten (Pause) tja was gibts großartig zu erzählen. ich find mein Leben .. Leben bisher ..
bis auf die letzten drei vier Jahre is relativ normal verlaufen
Nach dem Abschluss des Abiturs nahm Bartholomäus ein Studium der Volks-
wirtschaft an einer Fachhochschule in der Nähe seiner Heimatstadt auf, das er
nach vier Jahren erfolgreich abschließen konnte. Obwohl er bis dahin "n' paar
Katastrophen" in seinem Leben meisterte - etwa die Trennungen von seinen
bisherigen Freundinnen oder die schwierigen Situationen mit seinem Bruder,
der kurz vor dem Suizid stand und den Bartholomäus mit viel Überzeugungs-
kraft wieder zum Leben bewegen konnte ist dies aus seiner Sicht "nich so der
Rede wert". Bis zum ersten Arbeitstag resümiert Bartholomäus sein Leben als
" eigentlich total normal ".
Obwohl ihm seine Kollegen in dieser Zeit "Knüppel zwischen die Beine" zu
werfen versuchen, nimmt Bartholomäus alle Widrigkeiten in Kauf - die zwar
abgesprochenen, aber nicht eingehaltenen Urlaubstermine, das permanente
Weghören des Vorgesetzten oder die Bearbeitung der Fälle anderer Kollegen,
die die "Hardcorelinie" fahren:
B.: seine Leute und Kunden kamen dann lieber zu mir und haben gefragt ,is er noch hier'
könn wir noch was machen hier und da . das is natürlich auch nich gut wenn ich eine total
andere Linie fahr
Mit einem seiner Kollegen freundet sich Bartholomäus in dieser Zeit an, der
ihn und seine Freundin zu unverbindlichen Familientreffen einlädt. Voll-
kommen konzentriert auf die scheinbare ,Chance', die er in dieser Freund-
schaft sieht, beginnt Bartholomäus, seinen übrigen Freundeskreis zu ver-
nachlässigen. Er geht kaum noch zum Sport und trifft sich nur noch dann mit
seinen "Kumpels", wenn sein Arbeitskollege keine Zeit für ihn hat. Bei die-
sen immer seltener werdenden Treffen mit seinen Freunden lenkt er das Ge-
spräch immer wieder auf seine beruflichen Probleme, die seine Gedanken
vollkommen auszufüllen scheinen. Erst irritiert, dann hilflos und schließlich
genervt von dieser Problemlast beginnen die Freunde Bartholomäus' Nähe zu
meiden.
Eines Tages bemerkt Bartholomäus, dass ihm sein befreundeter Kollege "an
die Karriere pinkeln" will. Daraufhin beendet er abrupt die freundschaftli-
chen Beziehungen zu seinem Kollegen und konzentriert sich fortan auf seine
Freundin, die während dieser Zeit "selber Stress hatte im Studium". Doch
alle gut gemeinten Versuche, sie bei der Lösung dieser Probleme zu unter-
stützen, schlagen fehl:
B.: bloß das war dann halt nen bisschen zu viel ich hab sie eingeengt ich hab ihr .. sie sel-
ber sacht die Selbständigkeit genommen was mir erst später bewusst geworden ist als das
Kind schon in den Brunnen gefallen is und ich hab alles auf mich bezogen und gesacht ja
isses das. isses das nich warum die andere hat schuld . ich war es einfach nich , aber in
sonner Situation wo man niemanden mehr hat klammert man sich an die Freundin und ver-
sucht ihr zu helfen sie zu unterstützen Mensch da hast du deine Aufgabe da kannste was
machen anstatt anstatt an sich selber zu arbeiten
Die ertragenen Ungerechtigkeiten und die" stumpfsinnige" Tätigkeit im Amt -
verknüpft mit der scheinbaren Hoffnungslosigkeit, weder seiner Freundin tat-
sächlich beistehen zu können noch für die AdressatInnen des Sozialamtes einen
Weg aus ihren schwierigen Lebenslagen zu finden - führen schließlich dazu,
Erleidensprozesse im Berujsalltag eines Sozialbeamten 217
dass sich Bartholomäus selbst fremd wird und jegliches Vertrauen in seine ei-
genen Handlungsroutinen verliert. Obwohl - oder gerade weil - er verzweifelt
nach Anerkennung sucht, findet er sie nirgendwo:
Als eines Tages seine Freundin die Beziehung beendet, kommt es zum tota-
len Zusammenbruch:
B: das is nen verdammt harter Prozess zu sehen dass man mh . das halt .. äh nicht mehr
schafft .. und man hat das Gefühl. man sitzt in einem Kreis und jeder prügelt auf einen ein
. so wie damals das dieses Gassenlaufen im Preußenturn . einer macht nen Fehler und dann
muss er durch die Gasse der ganzen Kollegen durch und jeder prügelt drauf ein als Strafe.
es warn Fall ins Bodenlose ich wusste nich ein noch aus mh .. tzz .. mit anderen Worten ich
hab meinen Frust damals nachdem sich meine Freundin von mir getrennt hat im Alkohol
ertränkt ich war nur draußen. ich hab Party gemacht. ich hab jeden damit genervt
Zusammen mit einer nahe stehenden Freundin, die ihn nach der Zeit seines
Zusammenbruchs häufig besucht, buchstabiert er nach und nach die Etappen
seiner Erleidenskurve aus. Gemeinsam betrachten die beiden jede Situation
und diskutieren über die möglichen Handlungsalternativen, die Bartholomäus
hätte ergreifen können. Nach und nach wird ihm klar, wie sich der Verlaufs-
kurvenprozess vollzogen hat und er begibt sich auf die Suche nach den Grün-
den für den Erleidensprozess, die letztlich zu seinem Zusammenbruch geführt
haben:
B.: Ich bin hinterher zu einem Punkt gekommen wo ich sach . ich hab alles probiert weg-
zukommen dass ich mir nen Attest besorgt hab. dass ich nich mehr mit diesem stressigen
Publikum in Verbindung in Kontakt trete dass ich daraufuin nen Versetzungsantrag gestellt
habe aufgrund der Tatsache dass ich keinen Publikumsverkehr mehr machen möchte weil
es mich psychisch zu stark belastet das hat sich dadurch gezeigt dass ich halt völlig ver-
stummt bin
6 Auch Bartholomäus' Bruder spielte einmal mit dem Gedanken des Freitodes. Inwieweit
hier die Dynamik der Herkunftsfamilie ein potenzierendes Verlaufs kurven potenzial in sich
birgt, lässt sich jedoch nicht in Bartholomäus' Lebensgeschichte ausmachen, da er nur zu
Anfang des Interviews von seinen Eltern und seinem Bruder kurz berichtet. Um die Famili-
endynamik gesichert - und nicht nur spekulativ - in die Interpretation einbeziehen zu kön-
nen, wäre ein anderer Forschungszugang notwendig (vgl. Bock 2000).
Erleidensprozesse im Berufsalltag eines Sozialbeamten 219
Bartholomäus hält sich an seine neuen Vorsätze: Er bleibt auf seiner redu-
zierten Stelle, studiert weiter und besteht auf seinem Versetzungsantrag. Als
Bartholomäus erfährt, dass er fortan in der Sachbearbeitung eingesetzt wird,
fühlt er sich endlich (vorerst) von seinen Fesseln befreit:
B.: und als ich das erfahren hab ging es mir schlagartig besser. ich kam morgens irgend wie
hoch hab meinen Kaffee getrunken. ich hab gelacht . ich hab rumgefrozzelt und da kam
von verschiedenen Arbeitskolleginnen und Kollegen ,du kannst ja wieder lachen' ich sach
is euch das aufgefallen ,ja' sacht er 'haben wir alle im Durchschnitt gesacht' .. ok es ist ein
Gutachten geschrieben wie das ausgefallen ist. weiß ich nicht es wird sich in Schweigen
gehüllt wie immer in (diesem Amt) . im Endeffekt sind wir Sachbearbeiter nur ein Spiel-
ball für die oberen Ebenen ich weiß es nich
8 Bei der Interpretation der jeweiligen Textsequenzen kam die Frage auf, ob Bartholomäus
nicht lieber hätte Sozialarbeit/Sozialpädagogik studieren sollen. Der Einwand hat etwas für
sich und wäre zudem quasi-kongruent zum inzwischen zu einiger Berühmtheit gelangten
Fall des Hermann, der "Maler" (Anstreicher) geworden ist, obwohl er "Maler" (Künstler)
werden wollte (vgl. Schütze 1995, 1999). Doch bei genauerer Betrachtung ist der Fall Bar-
tholomäus etwas anders gelagert: Er leidet ja genau unter den Geschichten, die in der sozi-
alpädagogischen Arbeit (zumindest in der sozialpädagogischen Arbeit mit AdressatInnen)
zum beruflichen Alltag gehören.
222 Karin Bock
Literatur
9 M.E. gehen diese Fragen über die Diskussion um die "Pädagogische Professionalität"
(Combe/Helsper 1996) hinaus, da hier bisher lediglich die "Antinomien professionellen
HandeIns" (vgl. Schütze 1996) bzw. Fragen nach "Scheitemsprozessen bei AdressatInnen"
(vgl. Oevermann 1996) in den Blick genommen worden sind. Eine Zusammenführung bei-
der Diskurse steht bisher (noch) aus.
224 Karin Bock
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Znaniecki, F./Thomas, W.: The Polish Peasant in Europe and America. Nachdruck (2.
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Adrienne S. Chambon
Derrida's statement stays with me: "Je n'ai qu'une langue et ce n'est pas la
mienne" ("I have but one language and it is not mine"). In Le Monolinguisme
de l'Autre (1996), Derrida pointed to the disjuncture between a language
spoken and loved, and anational identity that had been historically denied.
Taking up that phrase differently, social workers are growing incredulous
about the way they speak in social work, how they engage with language, and
what they do for a living. Laura Epstein (1994, 1999) pointed out the mys ti-
fying use of language in social work that masks the agenda that social work-
ers fulfill (as did earlier Rojek, Peacock & Collins, 1988). Epstein insisted on
making visible the historical tensions between the language and the profes-
sion's overt claims. Drover and Kerans (1992) have tried to redefine the main
objectives of social policy as the making (or constructing) of claims, wh ich
presupposes stretching and reordering language to create new social realities.
Whose language are we speaking, writing, negotiating in social work? What
kinds of dispossessions, translations are we conducting?
Social work, and helping professions in general, rely on language. Yet, to
wh at extent do we ex amine and reflect on the statements we make in social
work (Rodger, 1991; Stenson, 1993; Chambon, 1994)? This paper attempts to
address some of these questions: How do social workers and clients speak
when they meet? What is spoken and what is written in social work? Where
do such statements and repertoires come from and how do they come to be?
What do the practices of social work achieve in language terms: create a new
language, arrive at new statements for the clients about their lives, develop
new policy arrangements, foster societal options?
In this paper, I focus on a selected number of discursive phenomena I
have examined, so me of wh ich are currently the object of doctoral theses.
These examples are far from exhaustive. I progress through a range of ques-
tions and describe so me of the principles and concrete ways for conducting
discourse-based analyses grounded in social work interactions. I want to
identify a number of mechanisms to track and objectify the kinds of language
use that are common in social work in order to "de-naturalize" them, with the
226 Adrienne S. Chambon
BI. They left me always, absolutely free, utterly free since I can remember
B2. (... ) because she didn't love me, she didn't care about uso We left horne. We got
kicked out.
In these segments, the speakers make distinct uses of what seems to be the
same source word, a notion that is part of a complex expression: "leaving me
free". Their statements diverge to reach opposing conclusions. They present
contrastive pictures of family relations, one wished for, the other abhorred.
This example illustrates that close attention must be paid to the way words
are used in analyzing discourse. It is not enough to indicate that a common
theme, idea or value has been adressed. It is important to describe what each
speaker does with the expression; how s/he carries it forward.
Not only lexical choices but the syntactical structure of statements can be
revealing. The relative positions of subjects and objects make a vast differ-
ence. Who is the "agent" or recipient of the action or decision can lead to
contrasted meanings, as argued for instance by Michael Halliday (1973) in a
linguistic perspective, and by Roy Schafer (1992) from a psychoanalytic
viewpoint. Compare:
(a) I am free I (b) she made me free, left us free, wanted me free
The statements correspond respectively to claiming one's freedom versus
being allocated one's freedom. The difference is immense in personal and
political senses.
Additional discursive means are used to shape meaning. Thus, for exam-
pIe, markers of subjectivity modulate the core notion by indicating the per-
spective of the speaking subject (Bruner, 1990). Chambon & Simeoni (1998)
have called those "modophorics:'. They range from open, tentative forms
such as "somewhat free" "so free", to closed forms worded in absolute
wording such as "utterly free", "absolutely free." Group members who used
the open form indicated their joyfulness, while those who used the closed
forms expressed a sense of constraint and pain. "Utterly free" meant having
"no choice, we were kicked out...". However, the phrase itself, "utterly free",
removed from its context, cannot tell us what the speaker intends. We need
Socially Committed Discourse Analysis and Social Work Practice 229
the additional information from the context of the associated phrases to fill in
the picture.
Speakers tend to expand upon their thought in subsequent clause(s) or
sentence(s) that are part of the relevant discursive context. It is worth noting
that these associated segments are not necessarily uttered sequentially by the
speaker, nor do they always contain the initial key word. In this analysis,
where neither the A 11A2 nor the B IIB2 statements were contiguous, they had
to be pasted together to "make sense".
Speaking often involves a struggle that is manifested in the process of
retelling and transformation. Indeed, there will be many tellings and re-
tellings, forged through corrections, adjustments, reappropriations within an
utterance or set of utterances. Each statement displaces the previous one, at
times through increased affirmation. In the group, what was told emerged
gradually through statements that progressively affirmed a complex situation
of being free while being cast away. One can think of the particular kind of
freedom of youths on the street. Retelling in a group would be an interesting
area to pursue.
Statements are further located within story genres that cast the language
used within a particular set of social relations, or cast of characters - to use a
narrative framework. In the previous group example, the notion of freedom is
staged in the context of the "the family romance," a core story genre in ther-
apy. What happens when group members slip into talking about work situa-
tions? Does the term "freedom" then mean the same thing? This raises a new
question: Are certain story lines encouraged or discouraged in the group by
reference to an expected story genre? Therapists exercise their influence by
what they pick up and what they leave out (Hare-Mustin, 1994; Madigan &
Law, 1998; White, 1993). And group members do as weil.
The exchange discussed above can be analyzed in many ways. What
needs to be specified are the surrounding statements, or discursive context,
and the social situation and conditions that produced those statements. The
extent of specification is left to the appraisal of the researcher. In a protocol
of discourse analysis of that type, nothing is given. The same words change
meaning and value. It is unlikely an analysis can lend itself productively to
automatic machine treatment.
logue, when the topical content of the exchange seems apparently open, yet
the practitioner may be shaping a peculiar form of talk by the client. Strate-
gies are not so readily apparent until we ex amine the statements themselves. 1
will now describe a pattern in which the practitioner directs the client to pro-
duce self-reflective statements.
Carl Rogers has been characterized as an empathic practitioner who is
genuinely client-centered and whose mode of intervention aims to enhance
client speech and minimize the worker's influence. His statements, often
caricatured for their abundance of "hmm-hhm" utterances, have been inter-
preted as Rogers' way of refusing to put words into clients' mouth. Yet, the
commonly-held assumption about Rogers' lack of directivity is inaccurate
when examined discursively. 1 draw here from an analysis of Rogers' inter-
views with "Gloria" as part of Shostrom's series of professional interviews
(Chambon & Simeoni, 1998).
A discourse analysis reveals that Rogers intervenes little upon the topics
being discussed. However, he produces strikingly atypical syntactic arrange-
ments. These statements fall within the range of acceptability of contempo-
rary English language, and can be understood by English speakers. Yet,
though they are not technically incorrect, they are unusual, and they influence
the speech of the client. Basically, Rogers acts on the level of syntactic
structures to modify how the client positions her/himself; how s/he claims her
voice and stance.
Rogers has a systematic way of eliciting statements from clients and up-
holding their view while downplaying his own position. His opening state-
ments position Gloria center-stage asking for her perceptions, her beliefs, her
thoughts and representations, and discourage statements about others, which
clients invariably make. Regardless of the topical content, the therapist' s
utterances direct the client to formulate utterances that are organized around
self-centered statements, particularly of the type: "I feei", "I think", "I wish",
"I wonder". Rogers' initial statement is:
.. .1 wonder I whether I we couldll
we have half an hour together
we ... whatever concems you
Gradually, the client picks up upon the repeated cues, and pro duces the same
statements on her own. When Gloria falls back upon her earlier pattern of
focusing upon significant others in her life (in this instance making state-
ments about her daughter), Rogers intervenes by reformulating her statement,
as illustrated schematicaBy below:
(1) It is ... what is happening to her,
(2) you wonder, how that would affect your relationship ..
(3) this is so important to you.
Socially Committed Discourse Analysis and Social Work Practice 231
The therapist' s reformulation shifts the focus from (l) an action or event
statement (happening) about the client's daughter, to (2,3) focus on the client
herself and her processing of thoughts and feelings by using the epistemic
values of "wonder how .. " and "this is important to you" (implied: you be-
lieve/think). This is a complex strategy which does two things. It redirects the
focus onto the client, and invites reflective statements. Such choices encour-
age the discursive activity of "working through" or insight as a positive tech-
nique of self (trans)formation - what Foucault (1988) has called a 'technol-
ogy of self' typieal of therapeutic activity.
As the above example shows, utterances are created for the occasion and
emerge out of the creativity of the speaker and the necessity of the stakes. A
discourse analysis can elucidate mechanisms that encourage new tellings.
More generally, a discourse focus can highlight the improvisational nature of
speech while underscoring its strategie function. Variation is continuously
assumed in analyzing statements (Potter & Whetherell, 1994), and emphasis
is placed on the productive power of utterances.
graphical stake for the client is the potential rupture away from living in the
protection of one's horne to living in a protected environment. The nature of
the decision is definitive. For the institution, there are financial and organiza-
tional interests.
A number of interviews held in this setting brought out differences be-
tween experienced and beginning social workers, and provided an opportu-
nity to revisit the question of how the practice wisdom of experienced social
workers becomes manifest. What sets apart an experienced practitioner from
a novice in how they attend to conversations with clients? Is it the questions
they ask, the answers they give, how they engage in the conversation? Dis-
course analysescan document some of these strategies and show that (sorne)
experienced practitioners engage with complex stakes in conducting a profes-
sional exchange. It is the art of the craft. I found that such findings were
helpful in the development of training.
In two separate interviews, one held between a beginning social worker
and client, another between an experienced social worker and a different
client, each of the clients swerved off in the middle of the conversation to
discuss respectively (a) a piece of music she enjoyed and had recently heard
at a concert in the community, and (b) a book she had read, meant to read,
enjoyed but partly read, that was tied to her past and her circle of friends.
Straying from the agenda is a common phenomenon but it creates tension and
undecidability in the conversation between the participants.
What was the client doing when she interrupted the sequence of ques-
tions initiated by the worker, and attempted to spend the time on an appar-
ently unrelated topic while an important decision needed to be made? In each
instance, the mental ability of the client was not in question. Let us consider
the meaning of going "off-topic" in terms of actions, stakes and strategies in
these particular instances. As a move away jrom knowing, the digression was
used by the client as a strategy to buy time. As a move towards knowledge,
the digression was a strategy that embraced nostalgia, with the speaker refer-
ring to an object presenting a sustained link to her past. It implied that
changing circumstances would threaten such a continuity. This was also a
digression away from discomfort into pleasure, or a mixed sensation, pleas-
ure and fear of the loss of pleasure. In interaction terms, these digressive
moves constituted a strategy of influence on the part of the client that chal-
lenged the worker to follow her agenda with the implicit query: Are you
following me there? Would the worker accept the invitation and join the
client in this other discursive space?
The two workers responded differently. The experienced worker took up
the client's invitation, and expressed her own pleasure with such material.
The turn in the conversation became the occasion for the expression of shared
interest. What became clearer in the interaction is that the choice of content
carried a significant stake, the acknowledgment of a cultural repertoire repre-
sented by a political book, a well-known novel or collection of poems. Such
Socially Committed Discourse Analysis and Social Work Practice 233
an orientation is most often at odds with that of medically-based institutions
which function along a different cultural model. It was the dient who made
the cultural distance manifest between community and institutional living
arrangements.
In this instance, talking about recreational activities can be thought of as
a topical digression only if the frame of the exchange is defined around
physical mobility and competence. Once we expand that frame, activities
such as reading, going to a concert, are very much at the COfe of the decision-
making process. Far from being haphazard, the persistence by dients to
"stray" from an expected agenda is indicative of an important query: In what
fundamental ways will my life stray from its course? By interrupting the
expected course of talk led by the worker, dients signal the deep break that a
decision of institution al living represents for them. They express what Art
Frank (1995) has named "interruptions in the autobiographical narrative".
This raises the question of the frontiers of speech in the social work dia-
logue, and whether social workers take upon themselves the unnecessary task
of policing restricted boundaries (Foote & Frank, 1999). Social work talk is a
highly sophisticated activity that weaves the everyday and the institution al
into many "folds", to use Deleuze's words. The more experienced worker can
hold on to disparate ways of relating and corresponding shifts in emotional
involvement, as so many "keys" offered to the dient (Goffman, 1974).
Lacking familiarity with such shifts of frame, the novice social worker froze
as the dient digressed, and her professional questions were less and less
addressed. Eventually, the dient cut her off and the worker saw the line of
decision-making recede from them.
The experienced worker, whose speech was most carefully analyzed,
adopted a particular strategy. She followed upon the sequence of shared cul-
tural interest. No direct questions were asked that required a commitment
from the dient one way or the other. The worker did not obtain an assent, but
neither was she left with a "no". The worker backtracked from apremature
decision and the corresponding language of action into a world of pre-
questions, even though there wasn't much time and adecision needed to be
made. The worker spoke in the language of musing, wondering out loud what
they - worker and dient - would need to think about in the next while. As
they puzzled together, the worker encouraged the dient to start formulating
half-thoughts, and become familiar with the questions. The worker said
things like:
SW2, a: Before you even get to ask yourself that question, you might want to attend the
Wednesday aftemoon club activity. 1'11 talk to so and so.
The question of becoming part of an institution was attended to through do-
ing. Talking about it would come later. The time frame was mentioned in
passing, as if it was not tied to the decision:
234 Adrienne S. Chambon
SW2, b: It would be preferable to decide while there are rooms available at this time ... If
not, it will be in a few months.
The worker's statement removed the sense of pressure and urgency, and
attempted to elicit adesire.
In that conversation, nothing happened much on the surface, while a
large stake was at hand. Multiple moves were made to respond to the client' s
concerns, expanding upon areas of exchange. The situation came to be rede-
fined as a "before-decision". This can be seen as a highly sophisticated form
of power that produces discursive wanderings needed in the context of bio-
graphical and institutional stakes. This type of response does not trivialize the
"straying" of the client, and recognizes the client' s power to shape and break
the conversation. Analyzing discourse in that sense requires being alert to
sudden and/or subtle shifts of frames that are captured by the third ear of the
experienced practitioner. That is often what social workers mean by the ex-
pression "attending to process".
I wish now to broaden the range of situations examined and apply the discur-
sive lens to such administrative texts that increasingly proliferate and shape
the conduct of interactions between clients and workers (Smith, 1990). The
following illustration is drawn from the highly structured organizational
environment of child protection where clients are in large part involuntary.
In the province of Ontario, in recent years, child protection agencies have
adopted a set of standardized procedures, largely text-based, that are being
implemented across the province. Partly in response to a number of highly
mediatized deaths of children in care (Ontario Child Mortality Task Force,
1997), such changes were greatly facilitated by deep transformations in the
funding and management of social services in Canada. Since 1995, the finan-
cial responsibility and management accountability of core programs have
shifted from the Canadian federal govemment to the provinces (Mendelson,
1995). Modifications to the Child and Family Services Act (CFSA) were
swiftly put in place and a mandatory "funding formula" was implemented
that set a uniform standard for the delivery of units of service in child-
protection agencies across the province.
I wish to focus on one administrative document that contributes to this
implementation. The Ontario Child Welfare Manual: Eligibility Spectrum
(1997) is a key reference text that provides detailed guidelines for "investi-
gating" potential cases of child abuse and neglect. The manual serves as a
mechanism of assessment that monitors service to clients and thereby docu-
ments the work of the staff. I am drawing here on the doctoral work of Hemy
Socially Committed Discourse Analysis and Social Work Practice 235
strategy of resistance to the dominant discourse of the time, and its corre-
sponding counter-claims, engendered new social relations, but also estab-
lished new constraints.
Another approach to showing diversity through discourse consists in
documenting clashes in voices and perspectives, and putting on an equal
footing discursive productions that are generally kept staunchingly apart. I
will briefly mention two such transformative attempts at polyphonic juxtapo-
sitions that are taken from different registers of social work practice.
Concluding Comments
opening the way for articulating alternative social relations within and, hope-
fully, beyond social work.
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Sozialpädagogische AdressatInnenforschung
Hansjörg Sutter
kussion seit den späten siebziger, frühen achtziger Jahren von Autoren wie
DöbertJHabermaslNunner-Winkler (1977), Edelstein/Keller (1982), Haber-
mas (1974, 1983), Krappmann (1969, 1985,2000), Oevermann (1976, 1979,
1991, 1993, 2000a), Mil1er (1986) und Kel1erlEdelstein (1993) vertreten
wird.
Ausgehend von der entwicklungspsychologischen Einsicht in die aktive
Konstruktionstätigkeit des sich bildenden Subjekts geht es al1gemein um die
Frage, in welcher Weise soziale, kulturelle und gesellschaftshistorische Fak-
toren auf die Entwicklung des Einzelnen einwirken. Wie entfalten unter-
schiedliche Sozialwelten (der Familie, Freundschaften, Peers, der sozialen
Netzwerke und gesel1schaftlichen Institutionen), vermittelt über die Kommu-
nikation der Akteure, ihre sozialisatorische Wirkung? Wie lässt sich erklären,
dass deren jeweilige lebensweltliche Ausprägung nicht nur die Abfolge onto-
genetischer Entwicklungsschritte konstituiert, sondern auch maßgeblich dar-
über entscheidet, welche individuel1en Entwicklungspfade dem sich bilden-
den Subjekt biographisch offen stehen?3
In erziehungswissenschaftlicher Perspektive ist dabei von besonderem
Interesse, wie pädagogische Handlungssituationen und Settings sozialisato-
risch wirken, die Entwicklung des Einzelnen befördern oder aber systema-
tisch einschränken. Um die Wechselwirkung zwischen sozialer Strukturie-
rung des Erfahrungsangebots auf der einen und individuel1er Handlungs- und
Erfahrungsstrukturierung auf der anderen Seite untersuchen zu können, be-
darf es komplexer Forschungsdesigns, die objekttheoretisch Forschungszu-
gänge der sozial-kognitiven Forschungstradition, der Biographieforschung
und der soziologisch-strukturtheoretischen Sozialisationsforschung aufeinan-
der beziehen (vgl. Sutter 2002, S. 199ff.). Pädagogische Model1versuche, de-
ren Ziel die Institutionalisierung so genannter ,,lust Communities" bzw.
4 Deren pädagogische Programmatik zielt auf die Förderung sozial-kognitiver und sozio-
moralischer Lernprozesse. Mit VeIWeis auf psychologische und soziologische Theorien der
Moralentwicklung werden hierzu die institutionellen Rahmenbedingungen pädagogischer
Settings so variiert, dass sich eIWeiterte Handlungsspielräume und Partizipationsmöglich-
keiten ergeben. In entwicklungspsychologischer Perspektive stellen Veränderungen des
Themenspektrums wie des Thematisierbaren fUr den Einzelnen eine kognitive Herausforde-
rung dar, die es sachlich und emotional zu bewältigen gilt. Abhängig von der Erfahrungsge-
schichte des Einzelnen kann dies zur Herausbildung neuer Handlungsmuster und kognitiver
Konzepte des Selbst- und Weltverständnisses fUhren. In sozialisationstheoretischer Per-
spektive wirken sich Veränderungen des Themenspektrums wie des Thematisierbaren auf
die eingespielten Kommunikationsmuster und Beziehungsverhältnisse aus, die unter diesen
Bedingungen einem hohen Veränderungsdruck unterliegen - mit der Folge, dass die sozia-
len Mechanismen der Reproduktion und Transformation eingespielter Interaktionsverhält-
nisse offener zu Tage treten als dies unter Bedingungen eingespielter Handlungspraxen der
Fall ist. In erziehungswissenschaftlicher Perspektive interessiert schließlich nicht nur der
Zusammenhang zwischen lebensgeschichtlich eIWorbenen sozial-kognitiven Bewusstseins-
strukturen, praktischen Handlungsvollzügen und Teilhabechancen (in institutionellen Kon-
texten der Erziehung) sowie den (institutionell) mehr oder weniger eingespielten Praxis-
und Kooperationsformen. Von Interesse ist auch das Verhältnis zwischen pädagogischer
Programmatik und konkret realisierten ..Erziehungsverhältnissen", m.a.W.: die Frage, in-
wieweit die pädagogische(n) Programmatik(en) (des Modellversuchs wie auch der verant-
wortlichen Akteure) die institutionell vermittelten Bildungs- und Erziehungsprozesse in ei-
ner entwicklungspsychologisch und sozialisationstheoretisch gehaltvollen Weise repräsen-
tiert (bzw. repräsentieren).
5 Zur Differenzierung zweier Varianten des Just-Community-Ansatzes siehe Kapitel 1.2.
6 In Kohlbergs Entwicklungspsychologie, den Just-Community-Ansatz sowie den For-
schungsstand führen ein: Higgins 1991; Oser/Althof 1992; Garz 1996 und Kuhmerker/
GielenlHayes 1996. Zu Konzeption und Analyse des in diesem Beitrag thematisierten Mo-
dellversuchs vgl. BrumliklSutter 1996; Sutter 1996, 2002; Brumlik 1998 und Sutter/Baader/
Weyers 1998; zur deutschsprachigen Rezeption des Just Community-Ansatzes (in Schulen)
ferner: Oser/Fatke/Hoffe 1986; Lind/Raschert 1987 und Edelstein u.a. 200 1.
248 Hansjörg Sutter
Fokus: Fokus:
Moralische Qualität sozialer Interaktion Soziale Dynamik der Aushandlungsprozedu-
ren demokratischer Selbstbestimmung
und Interessensvertretung
Gerechtigkeitsorientierung Verfahrensorientierung
("Just Community") ("Demokratische Gemeinschaft")
nen. Akteure müssen immer beides zugleich bewältigen: die im Sinne allge-
mein geltender Regel-, Normen- und Wissenssysteme abstrahierbaren Hand-
lungserfordernisse der Situation ebenso wie jene Herausforderungen, die aus
den spezifischen Bedingungen einer sozial eingespielten, ggf. institutionell
vermittelten Kooperationspraxis resultieren. 11
Begreifen wir (im Sinne der Mead-/Oevermann-Tradition) die sprachlich
vermittelte Sinnstrukturiertheit sozialer Abläufe als materialen Gegenstand
der aktiven Konstruktionstätigkeit des sich bildenden Subjekts (vgl. Sutter
1997), so eröffnet die sequenzanalytische Rekonstruktion sozialer Abläufe
verschiedene Forschungsperspektiven (und deren systematische Verknüp-
fung). Bei der struktural-hermeneutischen Analyse sozialisatorisch relevanter
Situationen sind dabei minimal vier Analyseebenen zu unterscheiden (vgl.
Sutter 2002): 1. die soziale Strukturierung und Konstituierung des Erfah-
rungsangebotes l 2, die ihrerseits auf Kontexte und Ökologien der Sozialisati-
on l3 verweisen; 2. die individuelle Handlungsstrukturierung ausgewählter
Akteure auf der Folie von deren sozial vermittelten Partizipationschancen; 3.
deren (retrospektiverhebbare) individuelle Erfahrungsverarbeitung und ko-
gnitive Strukturierung des Handlungsfeldes; und schließlich 4. die hand-
lungspraktisch realisierbaren, situativ jedoch nicht zwingend handlungslei-
tenden kognitiven Strukturen sozio-moralischen Verstehens und Urteilens auf
Seiten der beteiligten Akteure. 14 Die entwicklungspsychologischen wie die
II Vgl. hierzu auch Schütze (1987), insbesondere den Abschnitt "Die aktuelle Interaktionssi-
tuation als Ort der Herstellung von sozialer Ordnung, der Einsozialisation der Gesell-
schaftsmitglieder in sie und der Herstellung von kontextuellem, situationsbezogenen Sinn".
12 Die potenziell entwicklungsbedeutsame Sinnstrukturiertheit eines sozialen Ablaufs wird
methodologisch in Begriffen "latenter Sinn strukturen" (Oevermann) rekonstruiert. Die Be-
griffswahl "latent" rekurriert dabei auf den Umstand, dass der - nach Maßgabe sprach-
theoretisch rekonstruierbarer Regeln nachweisbaren - "objektiven" Sinnstrukturiertheit so-
zialer Abläufe auf Seiten der beteiligten Akteure nicht auch zwingend entsprechende men-
tale Repräsentationen korrespondieren müssen.
Die Sinnstrukturiertheit praktischer Handlungsabläufe lässt sich konstitutionstheoretisch
weder auf das sich bildende Subjekt zurückführen noch auf entsprechende Handlungsinten-
tionen konkret beteiligter sozialisierter Bezugspersonen. Sie emergiert in der von Mead
(1973) beschriebenen triadischen Struktur des sozialen Aktes und wird konstituiert durch
bedeutungsgenerierende Regeln unterschiedlicher Geltungsreichweite. Dies begründet die
Redeweise von der sozialen Strukturierung und Konstituierung des Erfahrungsangebots.
13 Zu den hierbei zu berücksichtigenden Analyseebenen einer sozialökologischen Sozialisati-
onsforschung vgl. Grundmann u.a. 2000.
14 Methodologisch erfordern Analysen der sozialen Strukturierung des Eifahrungsangebots
sowie die der individuellen Handlungsstrukturierung sequenzanalytische Rekonstruktionen
,,natürlicher" Interaktionen (im jeweils interessierenden pädagogischen Setting). In der se-
quenzanalytischen Rekonstruktion sozialer Abläufe in Begriffen latenter Sinnstrukturen
werden erst jene Daten erzeugt, die entwicklungspsychologisch und sozialisationstheore-
tisch relevante Rückschlüsse auf situativ geltende Regel-, Norrnen- und Wissenssysteme,
deren handlungspraktische Realisierung sowie kognitiven Repräsentanz zulassen. Die her-
meneutische Rekonstruktion reflexiv verfügbarer kognitiver Strukturen setzt klinische In-
terviews in der PiagetlKohlberg-Tradition voraus und die Analyse der individuellen Eifah-
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen 253
soziologisch-sozialisationstheoretischen Erklärungsansätze innerhalb des Ge-
netischen Strukturalismus unterstellen dabei, wie Krappmann (2000, S. 129)
für die Sozialisationsforschung allgemein formuliert, dass das Ziel entspre-
chender Analysen nicht sein kann, eine lückenlose Kausalkette aufzudecken,
sondern allenfalls Entwicklungschancen und -risiken abzuschätzen. Ent-
wicklungspsychologisch ist dies in der aktiven Konstruktionstätigkeit des
sich bildenden Subjekts begründet und in dem Umstand, dass die soziale
Strukturierung des Erfahrungsangebots immer abhängig vom jeweils erreich-
baren Kompetenzniveau wahrgenommen und von diesem ausgehend zum
Anlass einer (Re-)Konstruktion kognitiver Bewusstseinsstrukturen wird. Als
weiterer Einflussfaktor, der die differenzielle Aneignung sozialisatorisch re-
levanter Erfahrung erklärt, sind schließlich Fragen der subjektiven wie bio-
graphischen Bedeutsamkeit entsprechender Erfahrungszusammenhänge zu
berücksichtigen. Entwicklungs- und Sozialisationsprozesse lassen sich in die-
ser Perspektive nur rekonstruktiv verstehen, wobei die theoretische Modell-
bildung auf die fallrekonstruktive Explikation allgemeiner, entwicklungs-
psychologisch wie sozialisationstheoretisch relevanter Strukturmerkmale so-
zialer Praxis- und Kooperationsformen zielt.
16 Das Konzept der "Demokratischen Gemeinschaft" sieht vor, dass Insassen und Bedienstete
des jeweiligen Vollzugsbereichs Fragen des Alltagslebens bis hin zu Disziplinarfragen de-
mokratisch entscheiden. Die "Demokratische Gemeinschaftsversammlung" tagt hierzu wö-
chentlich und beschließt die Satzung sowie die Regeln des Zusammenlebens. Das Lei-
tungskomitee, in das zwei Insassen gewählt werden, bereitet die wöchentlichen Versamm-
lungen vor und leitet diese. Zwei Insassen und ein Bediensteter werden in das Faimessko-
mitee gewählt. Dessen Aufgabe,ist es, in Streitfällen und sonstigen Konflikten zu vermit-
teln. Laut Satzung soll hierbei eine konsensfähige Lösung gefunden werden, der auch die
beteiligten Konfliktparteien zustimmen können. Das Verhältnis zwischen ,,Demokratischer
Gemeinschaft" und Anstaltsleitung ist schließlich so geregelt, dass dem juristisch unab-
dingbaren "Vetorecht" des Anstaltsleiters ein ,,Anhörungsrecht" auf Seiten der Demokrati-
schen Gemeinschaft korrespondiert. Dies gewährleistet, dass im Falle eines Vetos, die in
der Regel juristischen Gründe öffentlich in der Versammlung diskutiert und mögliche
Kompromisse ausgehandelt werden können.
17 Kognitiv-strukturelle Entwicklungsprozesse wurden im pre-post-test-Vergleich mittels kli-
nischer Interviews zu moralischen Konfliktsituationen (vgl. Colby/Kohlberg 1987) erho-
ben.
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen 255
im Vollzug funktional ist und - demokratisch legitimiert - zahlreiche Ei-
gentümlichkeiten über alle von uns beobachteten Phasen hinweg beibehielt.
Die restriktiven Bedingungen der Vollzugspraxis lassen eine sozialisa-
tionstheoretische Erklärung der sozio-moralischen Lern- und Entwicklungs-
prozesse, die auf die intendierte moralische Selbstbindung an gemeinschaft-
lich beschlossene Regelungen verweist, als wenig plausibel erscheinen. Ein
entsprechender Erklärungsansatz wird fragwürdig, wenn die Regelungen sich
allein oder vorrangig aus den Funktionserfordernissen des Strafvollzugs oder
aus Erziehungsvorstellungen der Verantwortlichen heraus erklären lassen und
dabei nicht mit lebensweltlichen Hintergrundannahmen der jugendlichen In-
sassen konvergieren. IR
Interessant ist nun, dass die Jugendlichen selbst im Kontext ,,Demokrati-
scher Gemeinschaftsversammlungen" diese Regelsysteme kaum infrage steI-
len, deren Aushandlung mit Verweis auf die geltende Satzung und die von
Anstaltsleitung wie Hauskonferenz l9 explizit gewünschte Demokratie nicht
konsequent einfordern und ihre Interessen und Weltsichten nicht selbstbe-
wusst und/oder provokativ artikulieren. Dies geht so weit, dass die Infrage-
stellung des Regelsystems und der vorgesehenen Sanktionsmechanismen ge-
legentlich auch dann als unpopulär gelten, wenn plausible Gründe der Infra-
gestellung angeführt werden können. 2o Ein möglicher Grund könnte darin be-
stehen, dass die hieraus resultierenden ergebnisoffenen Aushandlungsprozes-
se nicht nur die vollzugliehe Ordnung, sondern auch die subkultureIl gelten-
den Orientierungssysteme und die in dieser Perspektive vorhandenen ,,Frei-
heitsspielräume" innerhalb des Vollzugssystems infrage stellen (würden).
Sobald Regelformulierungen und Regelübertretungen zum Gegenstand
(vollzugs-)öffentlicher Debatten werden, in denen jeder gehalten ist, sich mit
Gründen zu positionieren, wird auch die kollektive Geltung der handlungs-
leitenden Orientierungssysteme potenziell infrage gestellt. Dies erklärt die
21 In manchen Fällen eröffnet es bzw. würde es auch Möglichkeiten der Unterwanderung ein-
gespielter Strategien sozialer Kontrolle eröffnen. Würden beispielsweise vollzugliche An-
ordnungen, deren Geltungsgründe bzw. konkrete Durchsetzung für "Außenstehende" (wis-
senschaftliche BeobachterInnen wie neu eingewiesene Insassen) zunächst fraglich bleiben,
immer in der Einstellung verständigungsorientierter Rede kommuniziert, könnte das ent-
sprechende Wissen auch zu einer Effektivierung der Bemühungen genutzt werden, bei Re-
gelübertretungen nicht erwischt zu werden. Auch das ist ein mögliches Motiv für die - vor
allem vor Einführung des Modellversuchs beobachtbare - Vermeidung diskursiver Aus-
handlungsprozesse bei Fragen der Durchsetzung vollzuglicher Ordnungsvorstellungen.
22 Zum Verhältnis von sozialer Strukturierung des Erfahrungsangebots, individueller Hand-
lungsstrukturierung und kognitiven Kompetenzen aus der Perspektive der Piagetschen Ent-
wicklungspsychologie vgl. Edelstein 1993, 1999; Seiler 1991,1994; Hoppe-Graff 1993 und
zur sozialkognitiven und soziomoralischen Entwicklung ferner: Nunner-Winkler 1996,
1999; GrundmannlKeller 1999; zur komplementären sozialisationstheoretischen Rekon-
struktion von Sozialwelten exemplarisch Krappmann 1991, 2001.
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen 257
zialer Abläufe objektiviert deren - für das Interaktionssystem der beteiligten
Akteure - fallspezifische Inanspruchnahme (s. Kapitel 2). Die struktural-her-
meneutische Rekonstruktion der situativ vermittelten, objektiven (nicht zwin-
gend subjektiv-intentional realisierten) Handlungserfordernisse sowie der tat-
sächlich realisierten Koordinierungsleistungen der Akteure eröffnet schließ-
lich methodologisch die Möglichkeit, in entwicklungs- und sozialisations-
theoretischer Perspektive Lernchancen und Entwicklungsmöglichkeiten zu
abstrahieren, die das soziale Setting unter den gegebenen sozialen Bedingun-
gen eröffnet (s. Kapitel 3).23
Mit dieser Äußerung setzt eine auf den ersten Blick unscheinbare Alltagssze-
ne ein. 15 Personen sitzen an einer Art Konferenztisch. Es handelt sich mehr-
heitlich um männliche, junge Erwachsene im Alter von etwa 17-25 Jahren.
Vier der Anwesenden sind deutlich älter. Der Sprecher, ich nenne ihn im
Folgenden Patrick, ist einer der jungen Männer. Er sitzt am oberen Ende des
Konferenztisches und obwohl die Äußerung für alle Anwesenden vernehm-
bar ist, lässt sich nicht zweifelsfrei klären, ob sich der Sprecher mit der Frage
an eine konkrete Person oder aber an alle Anwesenden wendet.
Betrachten wir die Äußerung in einer sprachsoziologischen Perspektive 25,
so fallt auf, wie voraussetzungsreich die Frage "Sind alle da? Dann fangen
wir an" ist. Weil es nicht eigens thematisiert wird, wird unterstellt, der oder
die Angesprochenen wüssten schon, um was für eine Praxis es sich im Fol-
genden handelt, was das gemeinschaftliche Anliegen der Anwesenden ist und
dass es - so die Äußerung - zunächst keiner weiteren Erklärung bedarf, sich
dieser Praxis im Folgenden zuzuwenden. Unterstellt wird ferner, dass die er-
fragte Vollzähligkeit für das Folgende notwendig und sinnvoll ist.
In der konkreten Situation könnte sich die Äußerung "Sind alle da?
Dann fangen wir an." auf eine anstehende Besprechung der Anwesenden
oder eine Art Mitgliederversammlung beziehen. Beides wiese auf eine formal
strukturierte Handlungspraxis mit verteilten Rollen, die im Folgenden auszu-
handeln wären oder aber im Sinne einer eingespielten Praxis als geltend und
handlungsleitend unterstellt werden - zumindest bis zum Erweis des Gegen-
teils.
Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Versammlung, eine "De-
mokratische Gemeinschaftsversammlung" , wie es in der Satzung heißt, die
Monate vor der interpretierten Szene diskutiert und mit einer Zweidrittel-
mehrheit beschlossen wurde. In der Satzung ist festgelegt, zu welchem
Zwecke sich die Akteure wöchentlich treffen und welche Ver-
fahrensprozeduren hierbei zu berücksichtigen sind. Was darunter im Einzel-
nen formal zu verstehen ist, interessiert im Folgenden nicht. Es genügt zu
wissen, dass es diese Satzung gibt und dass in ihr demokratische Verfahrens-
prinzipien zur Klärung von Alltagsfragen und Konflikten unterschiedlichster
Art festgeschrieben sind.
Laut Satzung gibt es neben den wöchentlichen Versammlungen zwei
Komitees: das Leitungskomitee, dessen Aufgabe es unter anderem ist, die
wöchentlichen Versammlungen vorzubereiten und zu leiten, und das Fair-
nesskomitee, dessen Aufgabe es ist, Konflikte im Alltag zu schlichten. Die
Analyse abkürzend führe ich als weitere Information ein, dass Patrick einer
der gewählten Vertreter des Leitungskomitees ist. Aber schauen wir nicht in
die Satzung, sondern betrachten wir die Alltagsszene: Was passiert da? Wel-
che Aushandlungsprozesse lassen sich schon zu Beginn der Versammlung
ausweisen? Wie definieren die Akteure in ihren Redebeiträgen die konkrete
Situation und den jeweils anderen? Was charakterisiert in dieser Szene den
Alltag - den Alltag einer ,,Demokratischen Gemeinschaft", dieser Gemein-
schaft?
Als ausschlaggebendes Kriterium für den Beginn der Versammlung er-
weist sich Patricks Eingangsfrage zufolge die Anwesenheit aller und nicht ei-
ne möglicherweise vereinbarte Uhrzeit. Die Frage lässt an dieser Stelle noch
offen, ob eine formale Eröffnung der Versammlung unmittelbar anschließen
wird oder ob diese Eröffnung mit Patricks Nachsatz "dann fangen wir an ((3
sek.))" bereits vollzogen wird. Der Nachsatz unterstellt, dass der Sprecher
25 Vgl. Oevennann 2000b; zu den moral theoretisch besonders interessierenden Aspekten vgl.
Sutter 2002.
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen 259
zur Eröffnung der angekündigten Praxis legitimiert ist, sobald die gestellte
Frage ("Sind alle da?") entsprechend beantwortet ist. Denn der Hinweis,
dass man dann anfange, wird nicht als Vorschlag formuliert, sondern als
Feststellung. Patrick sagt nicht im Sinne eines Vorschlags: "Wenn alle da
sind, dann könnten wir doch anfangen", sondern: "Sind alle da? Dann fan-
gen wir an ", um dann kurz innezuhalten, um eine Gelegenheit zur Beant-
wortung der Frage einzuräumen.
2 ((Gemurmel; Einzelgespräche werden beendet)))
3 Lentz 1 (((Herr Lentz spricht noch mit einer Mitarbeiterin des Forschungspro-
jekts)))
4 Amend 1: Alles da, ja.
5 Flaig 1: Fang an.
Zum Zeitpunkt der Äußerung 1 Patrick 1 führen die meisten der Anwesenden
angeregte Gespräche mit ihren Tischnachbarn. Diese werden im zeitlichen
Zusammenhang mit Patricks Frage beendet; nur eine der älteren Personen,
hier Herr Lentz genannt, spricht noch deutlich vernehmbar mit seiner Tisch-
nachbarin. Wir haben damit einen ersten Hinweis dafür, dass die rekonstru-
ierten Präsuppositionen, die stillschweigenden Voraussetzungen der Äuße-
rung Patricks im Sinne eines kollektiv geteilten Wissens akzeptiert, zumin-
dest öffentlich nicht infrage gestellt werden.
Nach einer kurzen, etwa drei Sekunden dauernden Pause antwortet Herr
Amend auf die gestellte Frage: "Alles da, ja. " und HeiT Flaig fügt an: "Fang
an. " Was bringen diese Äußerungen für einen unbeteiligten Hörer zum Aus-
druck? Wie lassen sie sich in sprachsoziologischer Perspektive deuten, in ei-
ner Perspektive also, die nicht danach fragt, was ein Sprecher wohl sagen
wollte und mit seiner Rede meinte, sondern stattdessen zu rekonstruieren
sucht, was die Äußerung bedeuten könnte, wenn man sie ausschließlich unter
Bezugnahme auf unser sprachliches Regelwissen analysiert?
"Alles da, ja. " - der Ältere, Herr Amend, beantwortet die Eingangsfrage
des Jüngeren. Seine Äußerung unterstellt damit bis zum Erweis des Gegen-
teils, dass Patricks Frage zum jetzigen Zeitpunkt sinnvollerweise zu klären ist
und dass der Jüngere aus welchen Gründen auch immer dazu legitimiert ist,
den Beginn einer gemeinsamen Besprechung oder Versammlung zu markie-
ren und sich so zugleich als Gesprächsleiter, Versammlungsführer oder Gast-
geber zu präsentieren.
Amend lässt den Äußerungen von Patrick offensichtlich eine erhöhte
Aufmerksamkeit zukommen. Am anderen Tischende sitzend, reagiert er un-
mittelbar auf diese, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch Einzelgespräche lau-
fen, auf die er sich ebenso hätte beziehen können bzw. in die er selbst noch
involviert war als Zuhörer oder Gesprächsteilnehmer.
Auffallend ist auch die deutlich vernehmbare Wendung "alles da". Blieb
bei Patricks Frage aus grammatikalischen Gründen offen, ob es sich bei dem
Gemeinten um Sachgegenstände oder aber Personen handelt, ist nun dem
260 Hansjörg Sutter
Wortlaut zufolge von Gegenständen die Rede, deren Verfügbarkeit bestätigt
wird: "Alles da, ja. "Es handelt sich - wie der weitere Verlauf zeigt - um ei-
nen Versprecher, demzufolge es sich bei der fraglichen Anwesenheit von
Personen sinngemäß um die Anwesenheit von etwas gegenständlich Ver-
fügbaren handele.
Bemerkenswert ist auch Flaigs Aufforderung: "Fang an. " Die Aufforde-
rung teilt mit den vorangegangen, dass es zum jetzigen Zeitpunkt angemes-
sen sei, mit der Versammlung zu beginnen. Sie unterstellt ferner, und das
unterscheidet sie von der Äußerung Amends, dass der Sprecher, Herr Flaig,
nicht nur legitimiert ist, den Beginn der gemeinsamen Praxis festzusetzen,
sondern auch, seinen Vorredner Patrick hierzu anzuweisen. Da er nicht ge-
wählter Vertreter des Leitungskomitees ist, könnten wir ihn, dem Anspruch
seiner Rede folgend, als eine Art informellen ,,Führer" ansehen, wobei offen
bleibt, ob sich diese informelle ,,Führerschaft" mit der Generationendifferenz
oder aber mit den beruflichen Funktionen des Akteurs motivieren lässt.
Wie könnte es nun weitergehen? Ich nenne vier vorstellbare Handlungs-
verläufe: (1) Nach einer kurzen, durch die interpretierten, deutlich vernehm-
baren Äußerungen motivierte Unterbrechung der Tischgespräche, werden
diese wieder aufgenommen, aus welchen Gründen auch immer. (2) Eine wei-
tere Person meldet sich zu Wort und korrigiert bzw. widerspricht den Vorred-
nern. (3) Möglich ist auch, dass die mit der ersten Äußerung Patricks bereits
vollzogene Eröffnung einer neuen Handlungspraxis durch eine formelle Re-
dewendung bekräftigt wird (z.B. mit den Worten: ,,Hiermit ist die Sitzung er-
öffnet"). (4) Insofern Letzteres pragmatisch nicht erforderlich ist, kann mit
dem folgenden Interakt aber auch gleich zum ersten Gesprächspunkt überge-
leitet werden.
Das Letztere ist der Fall. Retrospektiv betrachtet wird mit den Worten
"Sind alle da? Dannjangen wir an" somit dreierlei realisiert: Ein komplexes
soziales Geschehen, eine Versammlung, deren Ablauf durch formale Regeln
und Verfahren bestimmt ist, wurde eröffnet. Die Äußerung sichert dem Spre-
cher angesichts der lebhaften Einzelgespräche nicht nur die notwendige
Aufmerksamkeit in einer vergleichsweise großen Runde von 15 Personen, sie
führt auch zur Klärung einer wesentlichen Bedingung der Versammlung,
nämlich der Frage, ob alle da seien. All dies verweist auf eine pragmatisch
gelungene Versammlungseröffnung. Die Äußerung kann somit als ein Indi-
kator für eine kompetente und zugleich habitualisierte, routinisiert verfügbare
Handlungspraxis angesehen werden, mit der der Sprecher sich in der kon-
kreten Situation als Versammmlungsleiter präsentiert und Aufmerksamkeit
und Handeln der Anwesenden auf das nun Folgende richtet.
Erwartbar ist nun die Einführung des ersten Tagesordnungspunktes. Der
Redepragmatik zufolge obliegt es Patrick, diesen einzuführen bzw. zu diesem
überzuleiten. In der dokumentierten Szene leistet dies die wiederum sehr
knappe und zudem abgebrochene Formulierung: "Da, komm..! [. .. }".
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen 261
26 Letzteres würde beispielsweise mit den Worten erfolgen: .,Als erstes befassen wir uns heute
mit dem Thema xy. Peter Schmidt stellt uns zunächst den Sachverhalt dar. Bitte, Peter, Du
hast das Wort."
262 Hansjörg Sutter
Der Wortlaut der zweiten Satzhälfte ist nicht zweifelsfrei feststellbar und
kann im Folgenden unberücksichtigt bleibenY Klar ist, dass Peter mit deut-
lichen Worten zur Ordnung gerufen wird: "Reiß Dich zusammen ... ". Eine
solche Zurechtweisung ist wenige Sekunden nach der formlosen Versamm-
lungseröffnung weder sachlich erforderlich noch legitimierbar. Auch die Vi-
deo aufzeichnung lässt kein kritisierbares Verhalten Peters erkennen, das ei-
ner sachorientierten Vorgehensweise im Rahmen der Versammlung entge-
genstünde. Wie reagiert Peter? Ich zitiere die nächsten Sekunden der Ver-
sammlung.
8 Peter 1: «(nickt))) Ah ja .. also erst mall
Nachdem Peter das Rederecht erteilt wurde, bringt das einleitende "ah ja"
Peters zum Ausdruck, dass er hiervon einerseits überrascht wird 28, anderer-
seits mit dem "ja" (und der folgenden Äußerung) das Ansinnen von Patrick
sogleich akzeptiert. Überraschend scheint für Peter somit in erster Linie der
Zeitpunkt der Erteilung des Rederechts zu sein.
Die folgende Interpretation versucht nun unter anderem zu erkunden,
welche Rückschlüsse sie auf die Handlungskoordination Peters angesichts
der Reaktionen anderer zulässt. Gelingt es Peter in ähnlich routinisierter Wei-
se, basale Grundstrukturen demokratischen Handeins zu realisieren, wie sei-
nem Vorredner Patrick mit dessen Eröffnung der Versammlung? Was hat
Peter in der konkreten Situation alles zu beachten, welche Probleme muss er
bewältigen? Gelingt auch ihm die Sicherung der Aufmerksamkeit auf das,
was er sagt?
Nach einer kurzen Planungspause leitet Peter mit den Worten "also erst
mall" eine Reihung ein. Was kann das bedeuten? Mit einem einleitenden
"also" wird allgemein etwas Vorausgegangenes zusammengefasst oder wei-
tergeführt. Bei Berücksichtigung der sequenziellen Einbettung dieser Äuße-
rung kann sich dies entweder auf den Vollzug der Versammlungseröffnung
beziehen oder aber auf die gedanklich vorweggenommene Thematik, zu der
Peter das Rederecht erteilt wurde.
27 Die nicht eindeutig transkribierbare Äußerung " ... stell (dein Ding) vor" bezieht sich (im-
plizit) auf den Anlass, der die Erteilung des Rederechts situativ begIiindet. Peter soll etwas,
das mit zwei, drei Worten näher bezeichnet wird, vorstellen. Die Äußerung unterstellt auf-
grund des kurzen Hinweises auf etwas Vorliegendes, dass Peter um die hieraus resultieren-
de AufgabensteIlung bzw. seine Rolle im weiteren Handlungsverlauf weiß. Die entspre-
chende, spontane Reaktion im folgenden Interakt legt dabei entweder nahe, dass es sich im
Folgenden um eine sozial eingespielte Praxis mit verteilten Rollen handelt oder aber dass es
eine entsprechende Absprache vor Beginn der Versammlung gab.
28 Vergleiche im Unterschied hierzu ein einleitendes "äh", das eine Planungspause indiziert.
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen 263
(a) Im erstgenannten Fall käme es zu einer pragmatisch nicht erforderli-
chen Doppelung des bereits Vollzogenen. Die (wiederholte) Versammlungs-
eröffnung würde zudem in eine Abfolge eingereiht ("also erst mal"), was
pragmatisch unangemessen erscheint. Denn mit einer Versammlungseröff-
nung wird ein Handlungsrahmen gestiftet, innerhalb dessen erst eine Abfolge
von Themen behandelt werden kann. Die explizite Situierung der Versamm-
lungseröffnung in einer Abfolge macht pragmatisch nur Sinn im Bezugs-
rahmen der Antizipation bzw. Planung einer Versammlung ("Als erstes er-
öffne ich die Sitzung, dann besprechen wir die Themen und dann beschließe
ich die Sitzung").
(b) Angenommen die Äußerung bezöge sich - so eine zweite Lesart - auf
die gedanklich vorweggenommene Thematik des nächsten Gesprächpunktes.
In diesem Fall bestünde die Schwierigkeit, dass mit Peters Äußerung nicht
gewährleistet ist, dass alle Anwesenden darum wissen, um was es im Fol-
genden genau geht.
Für beide Lesarten 29 gilt, dass die Äußerung an dieser Stelle eher Aus-
druck der eigenen Handlungsplanung ist als einer pragmatisch erwartbaren,
sachorientierten Überleitung in das erste Versammlungsthema. Letzteres wä-
re in sozialisationstheoretischer Perspektive als ein Indikator für eine kompe-
tente, routinisiert verfügbare Handlungspraxis interpretierbar. Ersteres kann
Ausdruck einer sozialisatorisch relevanten Lernsituation sein, in der entspre-
chende Handlungsschemata (mit den damit einhergehenden Unsicherheiten)
ko-konstruiert werden. Es kann aber auch der sozialen Situation oder kontin-
genten Bedingungen geschuldet sein, sofern es sich nicht als wiederkehren-
des Merkmal der Handlungspraxis erweisen sollte.
Mit den folgenden Äußerungen wird Peter sogleich unterbrochen:
9 Tobias 1: Herr Lentz, Ruhe.
10 Lentz 2: (Ah.)
11 Achim 1: (((Peter imitierend:») Ah ja. (((Lachen»)
29 Vorstellbar wäre an dieser Sequenzposition allerdings, dass der Sprecher fortfährt: "also,
erst 'mal: Um was geht es heute eigentlich".
30 Angenommen, es liegt tatsächlich ein Siez-Verhältnis vor, dann lässt sich 7 Tobias 1 in sei-
ner Unmittelbarkeit als Statusübergriff interpretieren: Der Angesprochene wird als Erwach-
sener wie ein unfolgsamer Schüler zur Ordnung gerufen, weil er sich - so könnte gefolgert
werden - nicht zu benehmen weiß (Lesart a). Ein anschließendes "bitte" würde diese Kon-
notationen bereits abschwächen. Die pragmatisch erforderliche "Ruhe" könnte kontrastiv
zu der dokumentierten Äußerung beispielsweise aber auch mit folgender Äußerung herge-
stellt werden: "Herr Lentz, bitte, wir wollen anfangen." Eine solche Äußerung würde prä-
264 Hansjörg Sutter
supponieren, dass Herr Lentz durchaus darum weiß, was situativ erforderlich ist und ent-
sprechend auch von ihm erwartet wird. In diesem Fall ließe sich der Äußerung kein Status-
übergriff zuschreiben. Als Bitte käme der Äußerung in der konkreten Situation auch nicht
die Konnotation einer Maßregelung zu.
Die Äußerung kann aber auch ironisierend gemeint sein, wenn Sprecher und Adressat sich
ansonsten duzen: in dem übertragenen Sinn, dass der Adressat wohl einer formalen Extra-
Einladung bedürfe, damit er sich (wie die anderen auch) erwartungsgemäß verhalte (Lesart
b).
31 Sieht man von der Zuschreibung "imitierend" ab, kann sich dieser Interakt auch auf 8 Tobi-
as I beziehen: In dem Sinne, dass es richtig sei, auch Herrn Lentz zur Ordnung zu rufen.
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen 265
lungsbezüge auf der Folie des situativ Möglichen charakterisieren - abhängig
von der Erfahrungsbiographie des Einzelnen - die potenzielle sozialisatori-
sche Relevanz entsprechender Szenen.
Unter diesem Gesichtspunkt zeigt sich, dass leitende Handlungsthemen,
wie das Aushandeln von Macht und Status, die originärer Weise nicht mit der
idealen Konstruktion einer ,,Demokratischen Gemeinschaft" mitgedacht sind,
auch an deren Orten Thema sind. Werden sie im hier analysierten Sinne zum
Thema, werden sie aufgrund der sozialen Rahmung Gegenstand der eigenen
Handlungspraxis: Im Kontext der Versammlung müssen sie fortlaufend be-
achtet, gedeutet und aufgrund des Versammlungskontextes auch versprach-
licht werden. Dies zu meiden hieße zugleich, keine Rolle zu spielen.
Eine Rolle zu spielen heißt in der konkreten Situation, unterschiedlichen
Handlungslogiken verpflichtet zu werden; das deutet sich schon nach weni-
gen Sekunden an. Verpflichtet in dem Sinne, dass auf sie in irgendeiner Wei-
se reagiert werden muss. Das Gelingen eigenen Handeins entscheidet dabei
immer auch über Anerkennung und Bewährung. In einer sehr allgemeinen
und vorläufigen Weise lassen sich die widerstreitenden Handlungslogiken
folgendermaßen typisieren: als das Aushandeln von Rangpositionen und da-
mit von Macht und Status in den unterschiedlichsten Kontexten (hier: des
Vollzugs) einerseits und der Orientierung an demokratischen Verfahrensprin-
zipien, die auf wechselseitige Anerkennung und die Logik des besseren Ar-
guments zielen, andererseits. Letzteres gilt zumindest für die institutionali-
sierten und veralltäglichten Kontexte der ,,Demokratischen Gemeinschaft":
die wöchentlichen Versammlungen und die Komiteesitzungen.
Was dies unter dem Gesichtspunkt sozio-moralischer Lem- und Entwick-
lungsprozesse bedeutet, wird in dem ,,Modell entwicklungsrelevanter Erfah-
rungsabläufe im Kontext einer Demokratischen Gemeinschaft" (Sutter u.a.
1998, S. 39lf.) differenzierter entfaltet, als es anhand der exemplarischen
Analyse weniger Interakte gezeigt werden kann. Aber auch der weitere Ver-
lauf der hier interpretierten Szene liefert weitere Hinweise, wie dies in der
Praxis vorzustellen ist.
Nach wie vor ist es Peter, dem die Strukturierung der Versammlung ob-
liegt. Sein erster Interakt ("Ah ja .. also erst mall") wurde sogleich unterbro-
chen und bedarf nun der Fortsetzung. Mit Bezug auf das ausgewiesene impli-
zite Leitthema des Aushandelns und Bestätigens von Rangpositionen zeigt
sich nun, dass die ihm zugeschriebene Position schwierig ist. So wurde er zu
Beginn durch Patricks zweite Äußerung eher schroff zur Ordnung gerufen
(,,[. .. ] reiß dich zusammen [. .. ]"). Und mit Tobias Äußerung wird - gewis-
sermaßen stellvertretend für ihn - die erforderliche Ruhe hergestellt: als ob er
es nicht selbst könne (so eine mögliche Lesart). Mit Achims Beitrag schließ-
lich wird seine unsicher erscheinende erste Äußerung unmittelbar im Tonfall
imitiert und zum Anlass eines kurzen Auflachens. In diese Situation hinein
beendet Peter seinen zuvor unterbrochenen Satz:
266 Hansjörg Sutter
12 Peter 2: also die Sitzung ist eröffnet ../ (((zeigt währenddessen auf Patrick»)
Dem Wortlaut zufolge wird die Versammlung ein zweites Mal, nun mit einer
formaleren Wendung eröffnet. Dekontextualisiert betrachtet, also ohne Be-
rücksichtigung der zuvor erfolgten formlosen Versammlungseröffnung und
der Unterbrechungen, indizieren Peters Äußerungen eine umständliche, we-
nig souveräne Form der Versammlungseröffnung ("also erst mal: (also,) die
Sitzung ist eröffnet"). Wird der sequenzielle Ablauf berücksichtigt, wirkt die
Äußerung wie eine ausgesprochene Vergegenwärtigung dessen, was sich ge-
rade ereignet hat und worauf sich nun das eigene Handeln ausrichten muss.
Dies kann in dreierlei Hinsicht motiviert sein: (1) Aus einer Unsicherheit
heraus oder aufgrund mangelnder Versammlungserfahrungen wird die eigene
Handlungsplanung versprachlicht (anstelle eines "äh" oder einer Planungs-
pause), (2) Der Handlungsvollzug und die darin implizierten Rollenzuteilun-
gen - so eine zweite Lesart - werden mit ihrer Versprachlichung gewisser-
maßen zelebriert oder, so die dritte Lesart (3), die Thematisierung eines
Sachverhalts (ggf. der Tagesordnung) wird angesichts der noch nicht voll-
ständig hergestellten Ruhe abgebrochen und der Sprecher will der - in seiner
Sicht noch nicht geglückten - Versammlungseröffnung nochmals Gehör ver-
schaffen.
Peters Gestik, die sich der Videoaufzeichnung entnehmen lässt und aller-
dings nur mit Vorbehalten objektivierbar ist, liefert weitere Hinweise, die im
Sinne der zweiten und dritten Lesart interpretiert werden können. Während
und im Anschluss seiner ersten Äußerung ("Ah ja ... also erst mal/") voll-
zieht Peter mit seinen leicht erhobenen Händen eine einladende Geste und
nickt den Anwesenden - in Richtung Kamera und Herrn Lentz - mehrmals
zu und zeigt dann zu den Worten " also, die Sitzung ist eröffnet" auf sein Ge-
genüber Patrick. 32 Das im Gestus "wohlwollend" wirkende, mehrmalige Nik-
ken bei gleichzeitig erhobenen Händen kann in einem Gefühl der besonderen
Bedeutsamkeit der Situation und damit auch der eigenen Person motiviert
sein. Mit Blick auf das noch nicht abgeschlossene Gespräch zwischen Herrn
Lentz und der Forschungsmitarbeiterin kann die Gestik und Rede aber auch
darin motiviert sein, dass er moderat für die nun notwendige Aufmerksamkeit
sorgen will. Allen Lesartvarianten gemeinsam ist ein zum Ausdruck kom-
mendes Bemühen um situationsangemessenes Agieren. Für Letzteres spricht
auch der Umstand, dass Peter - wie sich später zeigen wird - vorbereitet in
die Versammlung kommt und sich bei seinen späteren Redebeiträgen auf die
mitgebrachten Notizen stützen wird.
Die Kommentierung des Interakts durch Patrick folgt prompt:
13 Patrick 4: Schon passiert.
32 Da die Gestik einer Person nur mit Vorbehalten objektiviert werden kann, dienen entspre-
chende Informationen nur der Generierung bzw. Präzisierung von Lesarten, nicht zu deren
Ausschluss.
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen 267
14 Thomas 1: //(Das macht er nicht)//(Das mag er nicht)//
Die Sitzungsverläufe liefern immer wieder Hinweise darauf, dass die Akteure
fortlaufend im Schnittfeld bzw. in Auseinandersetzung mit mindestens drei
theoretisch idealisierbaren "Sozialwelten" agieren: der "Sozialwelt" der Ju-
stizvollzugsanstalt im Sinne der formell wie informell geltenden Vollzugs-
ordnung, der "Sozialwelt" der Insassen-Subkultur sowie der "Sozialwelt" ei-
ner demokratischen Gemeinschaft bzw. einer durch Kameraaufzeichnungen
und wissenschaftliche Beobachter repräsentierten "Öffentlichkeit". In der
analysierten Eröffnungsszene zeigt sich dies beispielsweise an der impliziten
Orientierung an zwei Handlungslogiken: dem Aushandeln von Rangpositio-
nen einerseits und der Orientierung an demokratischen Verfahrensprozeduren
andererseits. Hinweise darauf finden sich auch in Peters Überleitung zum er-
sten Versammlungsthema, wenn man sie mit den allgemeinen pragmatischen
Erfordernissen der Situation kontrastiert, nun das erste Thema der Versamm-
lung benennen und in die Thematik einführen zu müssen.
15 Peter 3: Und z war .. das Fairnesskomitee hat! gestern war das, gell? (((schaut zu
Gerd, der daraufuin nickt)))
(((Lentz und Gerd antworten gleichzeitig:)))
16 Gerd 1: Haja.
17 Lentz 3: Ja.
Die Wendung "und zwar" leitet allgemein "eine genauere oder verstärkende
Angabe zu dem zuvor Gesagten ein" (Der Duden 1985, S. 790). Bei Berück-
sichtigung der sequenziellen Einbettung dieser Äußerung würde sich der
Sprecher damit auf Interakt 12 Peter 2 beziehen: "also, die Sitzung ist eröff-
net" (Lesart 1). Was dies heißt, bedarf jedoch weder einer weiteren Spezifi-
268 Hansjörg Sutter
33 Das Thema wird nicht als "mehrmals" oder "wie immer" zu Besprechendes angekündigt.
34 Der Duden (1985, S. 336) führt zu "hier" aus: "an dieser Stelle. diesem Punkt; nicht dort ...
Sinnverwandt: da, hierzulande, in diesem Land, an diesem Ort" und zu "drüben": "auf der
anderen. gegenüberliegenden Seite: drüben am Ufer; da. dort drüben; von drüben (von jen-
seits des Ozeans. der Grenze) kommen. Sinnverwandt: jenseits." (ebd .• S. 188). - Die Ört-
lichkeiten. auf die sich Peters Begriffswahl bezieht, sind dadurch gekennzeichnet, dass die
wöchentlichen Versammlungen nicht in der Unterbringungseinheit. sondern in einem ge-
genüberliegenden. wenige Meter entfernten Gebäude stattfmden. In sprachsoziologischer
Perspektive ist erklärungsbedürftig, dass die Wortwahl nicht mit Bezugnahme auf sprachli-
ches Regelwissen konstruierbar ist, weil semantisch Unvereinbares zusammengedacht wird.
"Hier drüben" ist daher als Ausdruck einer faIIspezifischen (Ko-)Konstruktion sozialer
Wirklichkeit zu interpretieren.
270 Hansjörg Sutter
35 Die sprachlich angemessenen Varianten lauten dann: "Herr Lentz war der Meinung, wir
sprechen's hier 'mal an", " ... wir sprechen es heute 'mal an" oder " ... wir sprechen's in der
Versammlung 'mal an".
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen 271
vollzüge wie das Eröffnen und Leiten einer Versammlung, deren Beschlie-
ßung, das Aushandeln kontroverser Positionen, die Verständigung auf ein-
deutige Absprachen oder Beschlussvorlagen, deren Abstimmung in formal
organisierten Wahlverfahren usw. In lebensgeschichtlicher Perspektive müs-
sen entsprechende Handlungsvollzüge und die zugrunde liegenden Regel-
und Normensysteme irgend wann einmal erprobt und durch Anwendung ein-
geübt und ausdifferenziert werdenY Die praktische Aneignung und Habitua-
lisierung der basalen Grundstrukturen demokratischen HandeIns bedeutet da-
bei immer auch, dass die komplexen Koordinierungsleistungen, die diesen
zugrunde liegen, kognitiv realisiert und über die Ausbildung kognitiver
Schemata dann auch in anderen Situationen selbsttätig organisiert werden
können: nicht im Sinne eines Reiz-Reaktionsschemas, sondern immer auch
abhängig davon, wie sie sich aus Sicht des Akteurs in konkreten Situationen
wie auch lebens geschichtlich bewähren.
Im Schnittfeld bzw. in Auseinandersetzung mit drei theoretisch ideal i-
sierbaren ,,sozialwelten" (der Justizvollzugsanstalt im Sinne der formell wie
informell geltenden Vollzugsordnung, der Insassen-Subkultur sowie der ,,De-
mokratischen Gemeinschaft" bzw. einer durch Kameraaufzeichnungen und
wissenschaftliche Beobachter repräsentierten "Öffentlichkeit") können die
Akteure zweitens lernen, die Ausbalancierung widerstreitender Normensys-
teme angesichts konkreter Erfordernisse auszuhalten, um eine sachlich ko-
härente Problemlösung realisieren zu können. Für die Insassen impliziert dies
die aktive Realisierung von Problemlösungen angesichts der doppelten Loya-
lität gegenüber der Insassen-Subkultur und dem Demokratie-Projekt, für die
Bediensteten die Realisierung von Problemlösungen angesichts der Loyalität
gegenüber der formellen und informellen Anstaltsordnung und dem Demo-
kratie-Projekt. Im Alltag verkompliziert sich dies, wenn die Akteure darüber
hinaus in wechselseitiger Rollenübernahme die jeweiligen Perspektiven der
"anderen" Seite, also der Insassen (aus Bedienstetensicht) oder der Be-
diensteten (aus Insassensicht) mitreflektieren und -berücksichtigen.
Als Lernchance ist schließlich drittens die bewusste Auseinandersetzung
mit den hieraus resultierenden Widersprüchlichkeiten des Vollzugsalltags zu
nennen, die durch deren sprachliche Objektivierung in den Versammlungen
befördert wird. Dies ermöglicht im günstigsten Fall die Ausbildung eines
potenziell autonomen Standpunktes gegenüber den Normen der Insassen-
Subkultur wie der formellen und informellen Anstaltsordnung. Beides kann
als Voraussetzung für ein selbst verantwortliches Leben in Freiheit angese-
hen werden.
Literatur
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276 Hansjörg Sutter
Professionelle der Sozialen Arbeit berichten, dass häufig in Familien aus "so-
zialen Brennpunkten" generationenübergreifende soziale Deutungsmuster
festzustellen seien, die eine bemerkenswerte zeitliche Konsistenz aufzuwei-
sen scheinen. Diese Muster scheinen sowohl den Umgang der Klientlnnen
mit den ,,Ämtern", mit den Professionellen als auch eine familieninterne Tra-
dierung biographischer Perspektiven zu betreffen. Insbesondere scheinen
emergente Strukturen sozialer Benachteiligung generativ "sozial vererbt" zu
werden und sich damit über Generationen hinweg zu reproduzieren. Es deutet
sich somit ein dialektisches Verhältnis zwischen Strukturen objektiver Be-
nachteiligung, familientypischen Strukturen der Lebenspraxis und deren ge-
nerativer Reproduktion an.
In der Sozialen Arbeit mit Familien scheint angesichts der komplexen
Verflechtung von Familien, -mitgliedern und -milieu eine umfassendere, faII-
typische und fallanalytische Zugangsweise zum Verständnis der je spezifi-
schen familialen Notlagen dringend erforderlich. Familien bilden ein Ge-
flecht von "diffusen Sozialbeziehungen" (Oevermann 1996, S. 111) aus, wo-
durch der Interaktions- und Kommunikationszusammenhang Familie zentral
definiert ist (vgl. AIIert 1998; Hildenbrand 1999). Familie wird zum einen
zum Ort der sozialisatorischen Interaktion und zum anderen zum "Verwei-
sungszusammenhang von milieutypischen Selbstverständlichkeiten der Welt-
und Selbstauffassung" (Hildenbrand 1999, S. 12) verstanden. Im Zusammen-
wirken von sozialisatorischer Interaktion und Milieu entsteht ein "kollektives
Familiengedächtnis" (Hildenbrand 1999), das u.a. durch das Erzählen von
generationenübergreifenden Familien-Geschichten begründet und aufrechter-
halten wird. Dieses Gedächtnis hält soziale Deutungsmuster genauso bereit
wie familienspezifische Orientierungsmuster im sozialen Raum.
Entscheidend für die Logik des Deutungsmusterkonzepts ist dessen dop-
pelte Bestimmung als eigenständige Dimension der Konstitution sozialer
Realität, als "faits sociaux", die "den Handelnden objektiv gegenübertreten"
(Oevermann 1973, S. 11; vgl. Oevermann 2000) und des funktionalen Be-
280 Bemhard Haupert
zugs objektiver Handlungsprobleme. In diesem Sinne stellen Deutungsmuster
"eine kulturelle, kollektiv bzw. überindividuell (re-)produzierte Antwort auf
objektive, Handlungsprobleme aufgebende, gesellschaftliche Bedingungen
dar ( ... ). Für das Individuum sind Deutungsmuster zugleich Wahrnehmungs-
und Interpretationsform der sozialen Welt, Schemata der Erfahrungsauford-
nung und Horizont möglicher Erfahrungen sowie Mittel zur Bewältigung von
Handlungsproblemen" (MeuserlSackmann 1992, S. 16). Für die immer wie-
derkehrenden Problemstellungen der Lebenspraxis benötigt "das Bewusstsein
einer krisenfahigen Lebenspraxis feststehende, voreingerichtete Interpretati-
onsmuster, um auf einem Grundstock von Überzeugungen auffußend mit ei-
ner je eigenen Problemlösung beginnen zu können oder um von vornherein
die Krise gar nicht erst als Krise aufkommen zu lassen. Deutungsmuster sind
also krisenbewältigende Routinen, die sich in langer Bewährung eingeschlif-
fen haben und wie implizite Theorien verselbständigt operieren, ohne dass
jeweils ihre Geltung neu bedacht werden muss" (Oevermann 2000, S. 5).
Deutungsmuster sind "demnach einerseits historisch-epochale Gebilde, die
jeweils den Zeitgeist gültig ausdrücken, andererseits aber auch Gebilde, die
universellen Bedingungen der Gültigkeit genügen müssen" (Oevermann
2000, S. 5; vgl. Haupert 2000).
Die hier kurz skizzierten Fragen sollen mit der im Folgenden dargestell-
ten familienrekonstruktiven Fallstudie untersucht werden. Dabei soll das re-
konstruktive Verfahren der Genogrammanalyse systematisch angewandt
werden. Die biographisch-generative Perspektive einer Familie aus einem
"sozialen Brennpunkt" wird rekonstruiert und zugleich die Frage nach den
Wechselwirkungen zwischen generativen Reproduktionsmustern und dem
jeweiligen Sozialmilieu bearbeitet. Als Datenmaterial stehen biographisch-
narrative Interviews mit vier Familienmitgliedern (drei Generationen) zur
Verfügung, die im Rahmen einer Diplomarbeit l erhoben wurden und mit de-
ren Hilfe anschließend ein Genogramm 2 über vier bzw. fünf Generationen er-
stellt wurde. Formal scheint über sechs Generationen hinweg ein einheitli-
ches Strukturschema erkennbar zu sein.
Das Material entstammt einer Diplomarbeit (BlaesylHoff 2000), die an der Katholischen
Hochschule für Soziale Arbeit Saarbrücken erstellt wurde. Die Daten wurden in der Saar-
brücker Forschungswerkstatt zur Sozialforschung, auszugsweise auch im Rahmen des
Sommerkurses "Interpretation und Verstehen" des Inter University Centers Dubrovnik,
analysiert. Alle Namen und Ortsangaben wurden anonymisiert.
2 Das vorliegende Genogramm (Familienstammbaum) wurde von Sonja Blaesy und Nora
Hoff (vgl. BlaesylHoff 2000) auf der Basis der Interviews im Rahmen ihrer Diplomarbeit
erstellt. Die präsentierte Analyse steht in der fallrekonstruktiven Tradition, wie sie an der
Katholischen Hochschule für Soziale Arbeit in Saarbrücken in Anlehnung an die Theorie-
tradition der Objektiven Hermeneutik betrieben wird. Der grundlagentheoretischen Per-
spektive der Objektiven Hermeneutik wird dabei eine professionstheoretisch-fallrekon-
struktive Wendung gegeben, um angehende Professionelle der Sozialen Arbeit für Empirie
zu sensibilisieren und zugleich Fallanalysefähigkeiten zu entwickeln.
Die Genogrammanalyse als qualitatives Veifahren 281
Der Aufsatz ist so gegliedert, dass zunächst das Verfahren der Geno-
grammanalyse im Kontext einer fallrekonstruktiven Perspektive vorgestellt
und dessen Bedeutung für eine professionelle Soziale Arbeit (vgl. Kraimer
2000) erläutert wird. Im Anschluss steht die Fallstudie der Familie Meier im
Mittelpunkt. Es wird zunächst eine erste milieutheoretische Fallstrukturhypo-
these formuliert, die durch die Analyse des Genogramms der Familie Meier
ergänzt wird. Die Fallstudie zeigt die Effizienz der Kombination unterschied-
licher qualitativer Strategien: der Fallrekonstruktion, Milieu- und Geno-
gramm analyse auf.
3 Trotz der weiten Verbreitung der Genogrammarbeit insbesondere bei Ärztinnen und Fami-
lientherapeutinnen existiert bis heute keine allgemein anerkannte Methode zur Erstellung
und Analyse von Genogrammen (vgl. McGoldrickiGerson 2000, S. 13).
Die Genogrammanalyse als qualitatives Verfahren 283
in der Siedlung. Interviews wurden mit Anton und dessen Ehefrau Emma, ih-
rer gemeinsamen Tochter Angelika und deren Schwiegertochter Lisa durch-
geführt. Lisas Ehemann Armin war bei dem Interview mit seiner Frau anwe-
send; er äußerte sich aufgrund seiner Sprachstörung jedoch nicht (vgl. Blae-
sylHoff 2000).
Die Obdachlosen siedlung ,,Beim Bergwerk" liegt an einem Nordhang
von X-stadt. Durch die geographische Lage ist eine direkte Sonneneinstrah-
lung stets nur für kurze Zeit am Tag gegeben. Im Gefolge des industriellen
Niedergangs der Montanindustrie im Saarland in den 60er und 70er Jahren
entwickelte sich die Siedlung ,,Beim Bergwerk" zu einem "sozialen Brenn-
punkt" der saarländischen Bergarbeiterstadt X-stadt. 5 Diese Zu schreibung
kann mit der geographischen Randlage der Siedlung, dem niedrigen bauli-
chen Standard, der Überbelegung der Wohnungen, der hohen Zahl Erwerbs-
loser und dem geringen Bildungsniveau der BewohnerInnen begründet wer-
den. Bereits in den 50er Jahren wurde die Siedlung als kommunales Ob-
dachlosenwohngebiet geplant, unter der Prämisse der sozialen Aussonderung
und Kasernierung von "asozialen Elementen" (vgl. BlaesylHoff 2000, S. 46).
In den Sitzungsprotokollen des Bau- und Finanzausschusses der Stadt
X-stadt werden die ,,Motive" für die Errichtung der Siedlung schonungslos
mitgeteilt. "Finanziell" war die Errichtung dadurch motiviert, weil die Stadt
sonst für die Miete von wesentlich teureren Sozialwohnungen hätte aufkom-
men müssen. ,,Erzieherisch" sollte sie im Hinblick auf die ,,Abschreckung
der (noch) nicht obdachlosen Bevölkerung und in Bezug auf die Bewohner"
selbst wirken, die angehalten werden sollen, ihr Leben möglichst rasch wie-
der unabhängig von solchen Maßnahmen zu gestalten (BlaesylHoff 2000, S.
45). ,,Das erzieherische Konzept beinhaltete vor allem eine möglichst primi-
tive Gestaltung der Wasch- und Abortgelegenheiten." Bäder wurden erst in
den späten 80er Jahren angebaut. Was häufig fehlt, sind Zentralheizungen,
die zwar geplant, aber aufgrund fehlender kommunaler Mittel bisher noch
nicht realisiert wurden. Bei der Siedlung handelt es sich um ein räumlich und
sozial abgeschlossenes Wohngebiet, welches aus insgesamt neun zweistöcki-
gen Wohnhäusern besteht, die sich durch ihre bauliche Substanz und durch
ihre gleichförmige, einfache Beschaffenheit von den Wohnhäusern der um-
liegenden Gebiete unterscheiden. Ende der 90er Jahre lebten rund 160 Be-
wohnerInnen in der Siedlung. Lediglich knapp 20% der Haushalte verfügten
über ein Arbeitseinkommen, knapp 50% lebten von Arbeitslosengeld und/
oder Sozialhilfe. Etwa 30% bezogen ihre Einkünfte vorwiegend aus Renten-
mitteln (vgl. BlaesylHoff 2000, S. 46).
5 X-stadt liegt inmitten des östlichen saarländischen Industriegürtels, der sich von Neunkir-
chen nach Saarbrücken erstreckt.
Die Genogrammanalyse als qualitatives Verfahren 285
3.2 Das Bergarbeitermilieu im Transjormationsprozess Ende des 20.
Jahrhunderts
Der Name des Wohngebietes weist auf den Kohlenbergbau und damit auf das
spezifisch-proletarische Milieu der saarländischen Bergarbeiter hin. Der
Bergbau bot nicht nur vielen Menschen Arbeit, er besaß auch einen hohen
identitätsstiftenden und milieubildenden Charakter. Der Bergarbeiterberuf
war a) mit hohem Ansehen und aufgrund der Gefährlichkeit der Arbeit unter
Tage auch b) mit einem besonderen Ehrenkodex ausgestattet. In den Bergar-
beiterfamilien, -dörfern und -siedlungen schuf dieser Beruf Traditionen und
Alltagsrituale. Heranwachsende Generationen wurden entsprechend soziali-
siert und mit den typischen familialen, beruflichen und milieuspezifischen
Deutungsmustern ausgestattet. Die Liaison zwischen familienbiographischen
und industriestrukturellen Traditionen war für Traditions- und Biographie-
brüche parallel zum Niedergang des Kohlebergbaus verantwortlich, denn die
Menschen verloren nicht nur die Arbeit, sondern auch das identitätsstiftende
Element ihrer Existenz. Dieses milieuspezifische Selbstverständnis wurde in
den sozialen Wandlungsprozessen der 70er und 80er Jahre in einen "moder-
nen Typ" des ungleichzeitigen Bewusstseins transformiert, welches die poli-
tisch-sozialen Deutungsmuster der BewohnerInnen der ehemaligen Kohlere-
gion noch heute prägt, und zwar umso mehr, als nach dem Niedergang des
Bergbaus keine alternativen Orientierungsmuster vorhanden waren und aktu-
ell die Bergbau-Vergangenheit idealisiert und mythologisiert wird.
Die BewohnerInnen der Siedlung ,,Beim Bergwerk" befinden sich dar-
über hinaus zusätzlich in einer strukturellen Falle dergestalt, dass alle An-
strengungen, das Leben autonom zu gestalten, durch die beschriebenen struk-
turellen Bedingungen der Berufs-, Wohn- und Lebenssituation eingeschränkt
werden, letztlich also ein Verlassen der Siedlung kaum mehr möglich wird,
die Siedlung zudem gegenüber dem ,,Draußen" materielle und soziale Sicher-
heit und Geborgenheit garantiert, wodurch die Familien jedoch zusätzlich in
den restriktiven Strukturen der Siedlung gefangen sind, diese sich mit den
Jahren verfestigen und letztlich alle Lebensbereiche dominieren.
Identitätsstiftender und stabilisierender Fixpunkt des saarländischen
Bergarbeitermilieus war und ist zum einen die Mehrgenerationenfamilie und
zum anderen die Zugehörigkeit zur Katholischen Kirche, letztere verbunden
mit einer tiefen Volksfrömmigkeit. Die Mehrgenerationenfamilie des Bergar-
beitermilieus6 war und ist weniger durch Intimität und Nähe geprägt, wie es
in vergleichbaren bürgerlichen Milieus der Fall ist, als durch proletarische
Arbeitsvollzüge, im Marx'schen Sinn, durch die materielle Reproduktion und
deren Kohäsionsverpflichtung. Die Integration in konkrete Arbeitsvollzüge
verdrängt Intimität. Die Mehrgenerationenfamilie garantiert und reguliert den
ihrem Schicksal überlassen, der emotionalen - und in der Kriegszeit auch der
materieIlen - Verwahrlosung überantwortet. Dieses Muster wiederholt sich -
in modifizierter Form - dann zwei Generationen später bei Armin und Fabi-
an. Es handelt sich hierbei um das Strukturmuster der Verwahrlosung und der
Erziehungs- und Bildungslosigkeit. Dieses Muster wird sich familien intern
als Grundmuster der "Überforderung am Sozialen" reproduzieren.
Die Kriegsjahre 1942 und 1943 verbringt der verwundete Vater in Schle-
sien in einem Lazarett. Hier wird er von seiner Ehefrau wiederholt besucht,
die über längere Zeiträume hinweg - Anton spricht von Monaten - bei ihrem
Mann in Schlesien bleibt und die zahlreichen Kinder im Saarland in der Ob-
hut Antons zurücklässt, der nun über längere Zeiträume allein für die Versor-
gung seiner jüngeren Geschwister zuständig wird. Nach Aussagen von Anton
kehrt dessen Mutter nach Gesundung des Vaters nicht umgehend zu den Kin-
dern ins Saargebiet zurück, sondern sie verweilt bis kurz vor Weihnachten
des Jahres 1944 im Osten, sodass die Kinder im Herbst 1944 kurzfristig in
ein katholisches Waisenheim eingewiesen werden. Diese Notsituation stärkt
zum einen die Kohäsion zwischen den Geschwistern, schädigt jedoch zum
anderen das Vertrauen in die Eltern, insbesondere in die Mutter. Die Abwe-
senheit des Vaters wird familienintern, wie übrigens auch gesamtgesell-
schaftIich, mit dem Muster des ,,Dienstes am Vaterland" geschönt und von
daher nicht als krisenhaft geschildert: ,,Er war eben im Krieg und wurde dort
verwundet!" Er kehrt also material als "verwundeter Krieger" zurück, auf den
die daheim Gebliebenen besondere Rücksicht zu nehmen haben.
Die Struktur dieser Familienepisode könnte beschrieben werden als
"Großfamilie ohne anwesende Eltern-Dyade" und Selbst- bzw. Fremdsoziali-
sation der Kinder. Die Rückkehr des invaliden Vaters erzwingt eine Neuord-
nung der Familienkonstellation und eine erneute Etablierung kohäsiver Hand-
lungen, da die Kinder nunmehr mit dem quasi unbekannten Vater konfron-
tiert werden. Dieser ist einerseits für den zeitweisen Verlust der Mutter ver-
antwortlich, andererseits nun jedoch für sie - zumindest materiell - sorgen
wird. Hildenbrand (2000) beschreibt diese neue Familienstruktur als ,,Präsenz
des Paares als Paar, während die Eltern-Kind-Beziehung nicht existent ist"
(S. 174). Damit wird zunächst auf der strukturellen Ebene die affektive Soli-
darität nicht etabliert, strukturell also die Eltern-Kind-Dyade nicht aufgebaut,
letztlich die sozialisatorische Interaktion nicht gefestigt.
Die Pflegebedürftigkeit des Vaters verlangt über die Krise der Kriegs-
verletzung hinweg einen gesteigerten Familienzusammenhalt, um die auftre-
tenden materiellen Schwierigkeiten, die Pflege des Vaters und die Erziehung
der jüngeren Geschwister bewältigen zu können. Dies erfordert die Mithilfe
aller Familienmitglieder, verlangt die Zurückstellung von Individuierungsan-
strengungen bei den älteren Geschwistern und unterdrückt latent die Mög-
lichkeit der Austragung von familieninternen Konflikten. Die fortlaufende
Reproduktion der Familie im Kontrast zur Kriegsverletzung des Vaters (min-
destens drei Geschwister werden nach Kriegsende geboren) verweist a) auf
Die Genogrammanalyse als qualitatives Verfahren 291
ein traditionelles Verständnis von Familie, b) auf ein stabiles, nicht planen-
des, kollektives, wenig individuiertes Familienmilieu und c) auf die sexuelle
Orientierung der Eltern. In diesem Zusammenhang ist bedeutsam, dass der
Vater, der in der traditionellen Bergarbeiterfamilie des 20. Jahrhunderts das
autoritäre und normative Führungszentrum markiert, seine Aufgaben nicht
vollständig wahrnehmen kann, sondern durch den ältesten Sohn bzw. die
Ehefrau ersetzt wird. Im Zentrum der Familie als Kohäsionsmedium steht
nun nicht die Mutter, sondern der "invalide" Vater, wodurch sich das Famili-
engleichgewicht verschiebt. Erst mit dem Tod des Vaters im Jahre 1986 ist es
familienintern nicht länger notwendig die individuellen Bedürfnisse zugun-
sten des Familienwohls zurückzustellen. Hieraus ergeben sich dann verstärkt
Geschwisterkonflikte und letztlich ein (verspäteter) Zerfall der Familienko-
häsion.
Anton kann somit weder auf positive (gelungene) väterliche noch müt-
terliche Vorbilder zurückgreifen, obwohl er strukturell (erzwungen durch die
Abwesenheit von Vater und Mutter) zum Vater seiner jüngeren Geschwister
und in der Zeitabfolge dann zum strukturellen Vater (Ausfall der Eltern!) sei-
nes Enkels und seiner Großenkel, der Kinder von Lisa und Armin wird. An-
ton, dessen Geschwister, Kinder und Enkelkinder sind nicht in der Lage, die
komplexe und historisch ambivalente Struktur einer Familie in ihren Trans-
formationsprozessen zu beherrschen: Das kontinuierliche Ausbalancieren von
"Nähe und Distanz, Verlässlichkeit und Flüchtigkeit, Einschluss von Bezie-
hungen und Ausschluss von Beziehungen (... ) konnte er aufgrund seiner be-
sonderen Familiensituation" (Hildenbrand 2000, S. 176) nicht erleben. Damit
befinden sich die Kinder permanent in einem Beziehungsdilemma, welches
prinzipiell nicht lösbar ist. Dieses Dilemma und die darunter liegende Struk-
tur objektiver Verwahrlosung werden nun strukturell durch die (latente) Ein-
führung des Familiengeheimnisses gelöst.
Die analysierte Familienstruktur verweist auf das "ungleichzeitige"
Bergmannsbauernmilieu des 19. Jahrhunderts. Dieses transformiert seine
(Oberflächen-)Struktur in den Modernisierungsschüben des 20. Jahrhunderts
(1. Weltkrieg, Nationalsozialismus, Nachkriegszeit). Material manifestieren
sich diese Transformationsprozesse in der Struktur der Mutterposition. Im
traditionellen Milieu übernahm die Frau weitgehend auch die Reproduktions-
funktion des abwesenden Mannes. Die Kinder, "uneheliche" Kinder waren
bis weit ins 19. Jahrhundert nicht selten, wuchsen in aller Regel, wie bei An-
ton der Fall, ohne "anwesend-realen", aber mit dem "abwesend-irrealen"
Vater und einer omnipotenten Mutter auf. Diese Familienstruktur, die sich in
Antons Familie reproduziert, belegen die vorliegenden Interviews, denn der
Person des Vaters wird weder von Anton noch von dessen Ehefrau Bedeu-
tung beigemessen. Der Vater ist im sprichwörtlichen und tatsächlichen Sinn
Erzeuger und Ernährer und erfüllt im Familienverbund keine darüber hinaus-
gehenden Funktionen. Diese (sub-)proletarische Familienstruktur zerbricht
und wird kritisch in solch einem Fall, in dem die Mutter die ihr zugewiesene
292 Bernhard Haupert
Position nicht wahrzunehmen in der Lage ist. Dies ist der Fall in Antons Her-
kunftsfamilie und reproduziert sich in seiner eigenen.
a) Einmal könnten die Beziehungen zur Mutter durch die permanente Ab-
wesenheit in den 40er Jahren relativ schwach gewesen und nur durch die
Rückkehr des Vaters kurzfristig aufrechterhalten worden sein. Die Ab-
wesenheit der Mutter kann von den Kindern zum einen als Vernachlässi-
gung, als "Sitzen lassen" in schwerer Zeit gedeutet worden sein, zum an-
deren aber auch so, dass diese sich in schwerer Zeit "nur" um sich und
ihr Wohlergehen gekümmert hat. Das würde darauf hindeuten, dass die
Kinder zwar zur Welt, aber nicht in die Welt gebracht worden sind, d.h.
die Kinder waren notwendiges Übel der eigenen Befreiung, die es zu
versorgen galt, die aber nicht geliebt wurden.
b) Eine andere, wenn auch strukturell vergleichbare Möglichkeit wäre es,
dass die Mutter, die den Hauptteil ihres Lebens damit verbrachte, Kinder
zu gebären, diese zu erziehen, einen kranken Mann zu pflegen, nach dem
Tode ihres Mannes im Jahre 1986 aus dem Familienverband ausgebro-
chen ist, um ihre Rente und ihren Lebensabend zu genießen. Ihre Rente
als Bergmannswitwe wird eine durchaus ansehnliche gewesen sein. In
diesem Fall könnte das Streben nach verspäteter Unabhängigkeit und ei-
nem höheren Lebensstandard bei den Kindern Ängste ausgelöst haben,
die sich sowohl auf das Auseinanderbrechen der Familienkohäsion als
auch auf finanzielle Aspekte (Verringerung des Erbes) bezogen haben.
c) Eine weitere Lesart könnte in Individuierungstendenzen auf Seiten der
Kinder liegen, die sich nach dem Tode des Vaters aus dem Familienver-
Die Genogrammanalyse als qualitatives Veifahren 293
band ausgliedern wollen, um sich den eigenen Familien zuzuwenden,
sich die Mutter dadurch zurückgesetzt, im Stich gelassen und nach dem
Tode ihres Mannes überflüssig fühlt. Diese Tendenz könnte durch den
beginnenden ,,Altersstarrsinn" der Mutter unterstützt worden sein.
Netz von Sozialbeziehungen einzubetten, wäre auch die durch den Brand
ausgelöste Wohnungskrise mittelfristig überwunden worden.
Anton und Emma gehören der Generation an, die in der Zeit des National-
sozialismus sozialisiert wurde und deren Adoleszenzkrise in der unmittelbaren
Nachkriegszeit lag (vgl. Bude 1987; Schelsky 1957). Identisch sind sich die Ju-
gendlichen dieser Generation in dem, was Schelsky "Suche nach Verhaltenssi-
cherheit" (Schelsky 1984, S. 38) nennt - eine Tatsache, welche die Jugendpha-
se generell beschreibt. Für die im Nationalsozialismus im ,,Führerkult" aufge-
wachsenen Jugendlichen ist jedoch Verhaltenssicherheit nach ,,Auflösung" des
,,Führerkults" und des "Kameradschaftskults" ein zentrales Moment der (Rück-)
Gewinnung von Autonomie. Diese Suche wird etwa durch frühe Familiengrün-
dungen, die Integration in die Berufs- und Arbeitswelt und den Aufbau stabiler
Sozialbeziehungen beendet. Zugleich führt die "Suche nach Verhaltenssicher-
heit" jedoch auch dazu, dass die zurückliegenden Kriegsjahre verdrängt, insge-
samt nicht reflektiert und psychisch wie moralisch bearbeitet werden. In An-
tons und Emmas Fall bedeutet dies, dass ihre frühe Familiengründung spontan,
quasi unreflektiert, wenig zukunftsorientiert erfolgt. Damit reproduzieren sie -
einer doppelten Dialektik folgend - das Strukturmuster ihrer Generation. In ih-
rem Familienkontext wiederholen sie jedoch zugleich das traditionelle Famili-
enmuster ihres Herkunftsmilieus.
min wird im Jahre 1974 "nichtehelich" geboren; der Vater des Kindes ist
nicht der verunglückte Verlobte, dessen Bruder Egon Angelika im September
des Jahres 1978 ehelicht. Der Vater von Armin ist der Familie nicht bekannt.
Im Interview bezeichnet Angelika Armins Vater als "Trösterli". Angelika
gelingt es nicht, Unterhalt für ihr erstes Kind vor Gericht zu erstreiten, da die
eindeutige Vaterschaft nicht nachgewiesen werden kann. Armin wächst bei
seinen Großeltern auf. In der Person von Armin wiederholt sich nun die Fa-
miliendramatik. Anton erzählt:
"Unser Armin ist der Älteste von den Enkeln, den haben wir selbst groß gezogen. Der ist
hier bei uns auf die Welt kumm, das heischd in Y-stadt im Krankenhaus. Und den haben
wir seit der Geburt, seit der Geburt haben wir den schon in Obhut. Und der ist halt, mir
sind für den wie Vadder und Mudder. (...) Es ist halt eben wie mein eigenes Kind. Er hat
seinen Beruf gelernt und hat auch seine Arbeit und ist wirklich sehr in Ordnung. Komme
mit dem Kind sehr gut zurecht."
Nach dem ersten Scheitern der Familiengründung unternimmt Angelika dann
große Anstrengungen, um letztlich doch noch zur Familiengründung zu gelan-
gen. Sie verlobt sich mit Egon, einem gleichaltrigen Bergmann, der ebenfalls in
der Siedlung "Beim Bergwerk" aufgewachsen ist. Wie sie im Interview be-
richtet, ist sie erst nach der förmlichen Verlobung bereit, mit Egon ,,richtig se-
xuell zu verkehren". Im sechsten Monat schwanger, heiratet sie dann mit 22
Jahren Egon. Nach der Heirat verbleibt der vierjährige Armin weiterhin im
Haushalt seiner Großeltern und wird nicht in Angelikas neue Familie integriert.
Angelika gründet eine eigene Familie, ohne Armin - die ,,Frucht" der vorange-
gangenen und gescheiterten Familiengründung - in die neue Familie zu inte-
grieren und letztlich zu akzeptieren. Sie beginnt ihren eigenen Familienzyklus
damit ,jungfräulich". Angelika bringt dann 1979, 1981 und 1986 Armins Halb-
geschwister zur Welt, zu denen Armin kaum Kontakt hat.
An dieser Stelle stellen sich zwei Fragen, einmal danach, warum Angeli-
ka so früh ihre Herkunftsfamilie verlassen will und zum zweiten die Frage
nach der Ablehnung von Armin. Angelika will ihre Familie unter allen Um-
ständen verlassen, um einen eigenen Haushalt zu gründen und autonom zu
sein oder auch um sozial aufzusteigen. Im Verhältnis zwischen Angelika und
Armin wiederholt sich die Geschichte ihrer Großmutter, mit dem Unter-
schied, dass Angelika Armin nicht aufziehen muss, sondern ihn bei ihren El-
tern in Verwahrung geben kann. Somit gelingt ihr die Lösung von der Her-
kunftsfamilie nur ungenügend, da sie in unmittelbarer räumlicher und sozia-
ler Nähe, ja im selben Haus verbleibt. In der Person von Armin, Angelikas
erstem Sohn, materialisiert sich nun die Familientragödie. Armin stottert seit
seinem vierten Lebensjahr (Zeitpunkt der Heirat seiner Mutter mit Egon).
Seine starke Sprechstörung (Stottern) dürfte das Ergebnis einer tiefgreifenden
Störung der Mutter-Kind-Beziehung sein:
298 Bernhard Haupert
a) Zu Beginn der ödipalen Phase heiratet die Mutter Egon. Armin ist somit
nicht nur mit einem "neuen" Vater und einer neuen Familienkonstellation
konfrontiert, sondern auch mit einem neuen Konkurrenten um die Auf-
merksamkeit der Mutter, die Armin wegen des "neuen" Vaters tatsäch-
lich "sitzen lässt".
b) Armin verliert den Konkurrenzkampf mit dem übermächtigen Vater und
bleibt als ,,Pfand" zurück in den Händen seiner Großeltern.
c) Zusätzlich wird diese Situation für Armin durch die erneute Schwanger-
schaft seiner Mutter erschwert. Sein Halbbruder wird in die neue Familie
integriert. Armin wächst ohne Familie auf.
Armin erlernt gleichfalls den Beruf des Bergmanns und ist dann in einem
Saarberg Tochterunternehmen beschäftigt. Im Alter von 24 Jahren heiratet er
im Jahre 1998 die zwanzigjährige Lisa, die bei ihrer Großmutter aufgewach-
sen ist und zu ihrem Vater - wie Armin - keinen Kontakt hat. Obwohl Lisa
einen mittleren Schulabschluss erreicht hat, gelingt ihr vorläufig die Integra-
tion in den Arbeitsmarkt nicht. Im weiteren Verlauf berichtet Angelika von
weiteren ,,Problemen", die sie mit ihren Söhnen hat. Neben Armin, der stot-
tert, ist der 19jährige Peter in einer rechtsorientierten Gruppe Jugendlicher
aktiv, beim mittlerweile 14jährigen Fabian wiederholt sich die Familienge-
schichte der Verwahrlosung und Auffälligkeit. Im Kindergarten reagiert Fa-
bian regressiv, zieht sich von Kameraden zurück, ist Bettnässer und nicht in
der Lage, den Stuhlgang zu kontrollieren. Fabian fällt, wie Armin sprachlich,
verhaltensspezifisch in die Artikulationsformen eines Dreijährigen zurück.
"Ich fange ganz von vorne an. Ich bin 1932 geboren, als Kind eines Bergmanns. Und hab
dann die Schule besucht, also als es soweit war erst mal zur Kommunion gang und dann
zur Schule gegangen, normale Volksschule."
Der Rückgriff auf die Anfangssequenz des Interviews mit Anton zeigt, dass
es sich bei der Familienproblematik - jedenfalls in der familieninternen
Wahrnehmung - um den Typus ,ger "sozialen Überforderung" auf Seiten der
Mutter gehandelt haben muss. Anton verkörpert die berufliche Identität des
Bergmanns, ohne aber über dessen soziale und milieuspezifische Besonder-
heiten und Integrationsmöglichkeiten zu verfügen. Stattdessen wird er durch
die Umstände, das Schicksal und die Familiendramatik in eine Obdachlosen-
siedlung einquartiert, so dass die Erinnerung an die berufliche Vergangenheit
allemal positiver ist als die Konfrontation mit der unerfreulichen Gegenwart.
Der Beginn des Interviews verweist jedoch latent bereits auf die Familien-
dramatik. Anton wurde nicht als Sohn eines, seines Vaters, geboren, sondern
Die Genogrammanalyse als qualitatives Veifahren 299
als Sohn eines, irgendeines Bergmanns. Hier deutet sich eines der "sozialen
Überforderungselemente" der Mutter an: Sie unterhielt in jungen Jahren se-
xuelle Beziehungen mit verschiedenen Männern, sodass den Kindern die
Väter nicht eindeutig zuzuordnen sind; dies gilt gesichert für Anton. Famili-
enintern wird die "Überforderung" der Mutter als solche nicht thematisiert,
sondern als "Verfehlung" behandelt, über die bis zum Tod des Vaters ein
,,Mantel des Schweigens" gebreitet wird. Mit dessen Tod zerbricht nun die
Familienkohäsion, da nun keine Rücksichten mehr zu nehmen sind.
Die Mutter von Anton hat sich aber neben der "unbekannten, geheimen
Tat" noch mindestens einer weiteren Verfehlung schuldig gemacht: Sie hat
die Kinder in der extremen Notzeit des Krieges sich selbst überlassen und be-
suchte, wie dargestellt, ihren Ehemann im Lazarett in Schlesien. Dieses Ver-
halten war nicht nur für die Kriegszeit außerordentlich ungewöhnlich und be-
darf innerfamilial besonderer Anstrengungen, um dieses Verhalten zu er-
klären. Möglicherweise wurde es auch nie gekittet, sondern lediglich bis zum
Tod des Vaters unterdrückt, um dann in seiner ganzen Dramatik aufzubre-
chen. Der Mutter wird von daher, mittelbar, die Verantwortung für den Tod
von drei Geschwistern zugeschrieben.
"Meine Geschwister hab ich groß gezogen, das war - der Vater war auch nie da, und die
Mutter, die war ständig beim Vater, der wo also Kriegsverletzungen hatte, teilweise mona-
telang in Schlesien. Und ich hab allein mit den Kindern, also mit meine Geschwister ge-
haust ( ... ) Wir sind klaue gang und alles mögliche gemacht, nur damit meine Kinder, also
mein Geschwister sag ich mal, dass die zu essen hatten. Drei davon sind tot, also zwei töd-
lich verunglückt, eine, die Schwester ist damals gestorben an Lungenentzündung."
Die skizzierte Struktur der Verwahrlosung und Überforderung weist auf in-
teraktionelle Muster innerhalb der Familie Meier hin, die aus anderen Unter-
suchungen (vgl. Hantel-Quitmann 1996, S. 283) bekannt sind und Struktur-
muster von Verwahrlosung und ,,Misshandlung" andeuten. Die Vorfälle müs-
sen schwerwiegend gewesen sein, um einen derart tiefgreifenden Bruch von
Normalität herbeizuführen, ohne Möglichkeit diesen Bruch über den Tod der
Mutter hinaus zu heilen. Offensichtlich fand keine "Versöhnung am Grab"
und damit die Schließung der Familienkrise statt. Dieses Versäumnis wird in
die späteren Generationen hineinwirken, da die Mutter, Großmutter und Ur-
großmutter nicht nur ohne die Begleitung der Angehörigen von Fremden zu
Grabe getragen wurde, sondern die Nachkommen wissen noch nicht einmal
(sie wollen es nicht wissen), wo ihre Stammmutter beerdigt liegt. Die Mutter
muss sich an ihren Kindern so schwer "versündigt" haben, dass der Bruch
von allen Geschwistern vollzogen und eine Versöhnung bis zum Tode und
über den Tod hinaus nicht mehr möglich war und ist. Für die Kinder bedeutet
die nicht zustandegekommene Versöhnung mit der Mutter die Quelle erheb-
licher Schuldgefühle, die strukturell nicht (mehr) zu bewältigen sind, da der
Familienkonflikt mit in den Tod genommen wurde.
300 Bernhard Haupert
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1995
Sozialpädagogische Evaluationsforschung
Qualitative Evaluationsforschung
Einleitung
Obwohl in den letzten Jahren der Ruf nach Evaluationen und Evaluationsfor-
schung immer lauter wurde und mittlerweile auch alle pädagogischen Praxis-
felder erreicht hat, lässt sich bis heute im deutschsprachigen Raum von allen
Beteiligten eine vornehme Zurückhaltung hinsichtlich der Frage beobachten,
was dies eigentlich für die qualitative Sozialforschung bedeutet. Die Mehrheit
der im engeren Feld der Evaluationsforschung Tätigen scheint - gemessen an
ihren Publikationen - eher quantifizierenden Verfahren zuzuneigen. Die weni-
gen vorliegenden deutschsprachigen Methodenhandbücher aus jüngerer Zeit,
die sich explizit auch auf Evaluation beziehen, haben ihren Schwerpunkt im
Bereich quantifizierender Verfahren (vgl. z.B. Wottawaffhierau 1998; Bortz/
Döring 2002); qualitative Sozial forschung kommt dabei nur am Rande vor,
zumal die entsprechenden Kapitel nicht immer von gründlichen Kenntnissen
zeugen. In den Veröffentlichungen, Handbüchern und Journalen der deutsch-
sprachigen qualitativen Sozialforschung sucht man nach methodologischen
Beiträgen zur qualitativen Evaluationsforschung - sieht man einmal von dem
jüngst erschienenen Handbuch-Beitrag von E. v. Kardorff (2000) ab - verge-
bens. Jüngere einschlägige Überblicksdarstellungen zu Evaluation bzw. Eva-
luationsforschung scheinen schließlich davon auszugehen, dass methodologi-
sche Fragen selbst keine eigenen Kapitel wert und nur im Kontext von Projekt-
darstellungen zu erörtern seien (vgl. Heiner 1998; HollingiGediga 1999; Mül-
ler-KohlenberglMünstermann 2000; Stockmann 2000a; HeillHeinerlFeldmann
2001).
Dieser dürftigen Diskussionslage gegenüber steht eine breite, diffuse und
schon länger nicht mehr überschaubare Forschungspraxis, die sich zunehmend
gerne mit dem Begriff Evaluation schmückt. Dies gilt auch für die verschiede-
nen pädagogischen Forschungsfelder. Verantwortlich dafür ist nicht zuletzt ei-
ne staatliche Förderpraxis, die in den letzten Jahren Evaluation als ein wichti-
ges Thema für die politische Steuerung entdeckt hat, ohne jedoch selbst ein an-
gemessenes Verständnis von Evaluation und den möglichen Ergebnissen zu
306 Christian LüderslKarin Haubrich
haben. Diffus ist die auf diese Weise entstandene Praxis vor allem deshalb,
weil mittlerweile in begrifflicher und konzeptioneller Hinsicht erhebliche Ver-
wirrung herrscht. Dies beginnt schon bei der Frage, was eigentlich unter Eva-
luation verstanden werden soll. Das Angebot an Antworten und Konzepten ist
reichlich. M.Q. Patton (1997) z.B. listet allein knapp 60 Typen von Evaluation
auf (S. 192ff.) und verwendet dabei nur das eine Unterscheidungskriterium der
jeweiligen Zielsetzung des Ansatzes. Im deutschsprachigen Raum ist die Dis-
kussion durch vielfältige fließende Übergänge geprägt. Oft muss man zweimal
hinsehen, ob Z.B. die Begriffe ,,Evaluation", "wissenschaftliche Begleitung",
,,Evaluierung", ,,Evaluationsforschung" synonym gebraucht werden oder ob
sich dahinter unterschiedliche Konzeptionen, Aufgaben, Rollenverständnisse,
Zugänge etc. verbergen. Im Zusammenhang mit Ansätzen der Qualitätsent-
wicklung bzw. des Qualitätsmanagements wird immer wieder von Evaluation
gesprochen, ohne dass sofort erkennbar ist, ob damit etwas anderes bezeichnet
werden soll als Berichterstattung oder - was wiederum etwas anderes wäre -
Controlling. In der pädagogischen Praxis fungiert Evaluation derzeit als Aus-
weis professioneller Fortschrittlichkeit, sodass nahezu alles, was früher als
Teamsitzung, Nachbereitung, Reflexion und Auswertung bezeichnet wurde,
nun als Evaluation auftritt. Und wie sich Evaluation zur Forschung verhält, wä-
re noch eine ganz eigene Frage.
Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden der Versuch unternommen
werden, zunächst qualitative Evaluationsforschung einerseits als einen eigen-
ständigen Typus qualitativer bzw. rekonstruktiver Sozialforschung und ande-
rerseits als eine voraussetzungsvolle Form von Evaluation zu beschreiben (1).
Darauf aufbauend soll in einem zweiten Schritt kurz der Stand der methodo-
logischen Diskussion zusammengefasst werden (2 und 3), um daran an-
schließend sich abzeichnende konzeptionelle und methodologische Heraus-
forderungen qualitativer Evaluationsforschung zu skizzieren (4). Im Schluss-
kapitel soll dann auf den Stand der Dinge im engeren Zusammenhang der
Sozialpädagogik eingegangen werden (5).
betont zunächst, dass Evaluation ,,( ... ) nichts weiter als ,Bewertung' meint
( ... )" (Kromrey 1995, S. 313) und grenzt Evaluation in einem fachsprachli-
chen Sinne zunächst durch vier Momente ein: Evaluiert werden Programme,
Maßnahmen, gelegentlich auch ganze Organisationen; sie werden durchge-
führt von Sachverständigen oder ,,( ... ) Experten für die zu bewertenden Sach-
verhalte (... )". Das Urteil erfolgt nach Kriterien, die ,,( ... ) explizit auf den zu
bewertenden Sachverhalt bezogen sein und vorher präzise festgelegt (... )"
sein müssen und schließlich ist das Verfahren zu objektivieren, d.h. ,,( ... ) im
Detail zu planen und in einem ,Evaluations-Design' verbindlich für alle Be-
teiligten festzuschreiben ( ... )" (1995, S. 313f.). Bei dieser Definition werden
keine Weltverbesserungsansprüche formuliert. Zwar begreift auch H. Krom-
rey (1995) Evaluationen als "anwendungsorientierte empirische Sozialfor-
schung" (S. 315): ,,Für sie gilt jedoch als ,hinderliche' Bedingung, dass im
Mittelpunkt nicht die Logik einer auf Erkenntnisgewinnung, Verallgemeine-
rung und Übertragbarkeit ausgerichteten Wissenschaft steht, sondern die
Handlungslogik eines auf ,Erfolg' seines Tuns ausgerichteten Praxisprojek-
tes, häufig eines staatlich-administrativen oder von sozialen Organisationen
getragenen Interventionsprogramms" (Kromrey 1995, S. 315). Was von den
einen also als konstitutives Moment von Evaluation ausgewiesen wird, er-
scheint aus anderer Perspektive als hinderlicher Faktor, wenn es um die Ein-
lösung von wissenschaftstheoretischen Ansprüchen geht.
Ein weiterer Zugang ergibt sich, wenn man den schon angesprochenen
Aspekt, dass Evaluation forschungsbasiert sei, aufnimmt und sich dem Ver-
hältnis von Evaluation und Evaluationsforschung zuwendet. Auch hier
herrscht keineswegs Einigkeit vor. So unterscheidet eine ganze Reihe von
Autoren und Autorinnen seit E. Suchmans 1967 erschienenem Buch ,,Eva-
luative Research" zwischen Evaluation und Evaluationsforschung (vgl. z.B.
RossilFreeman 1993, S. 5ff.; Wottawaffhierau 1998, S. 13ff.) - im Gegen-
satz etwa zu Ansätzen, die die Begriffe explizit oder de facto synonym ver-
wenden (vgl. z.B. Shaw 1999; Clarke 2000; Stockmann 2000b, S.ll). Eva-
luationsforschung bezeichnet dabei jede Evaluation, bei der (sozial)wissen-
schaftliche Forschungsmethodologien angewendet werden. Bei sonstigen
Evaluationen können dagegen auch andere Bewertungsmethoden eingesetzt
werden. Beispiele hierfür wären die verschiedenen Formen der Berichterstat-
tung, des Teamgesprächs und des Erfahrungsaustausches.
In der jüngeren deutschsprachigen Diskussion wurde mit der Erstellung
der Standards für Evaluation durch die Deutsche Gesellschaft für Evaluation
(DeGEval) insofern eine etwas anders gelagerte Unterscheidung zwischen
Evaluation und Evaluationsforschung getroffen, als - aus unserer Sicht irri-
tierender Weise - Evaluationsforschung mit Forschung über Evaluation
gleichgesetzt wird (Deutsche Gesellschaft für Evaluation 2002, S. 36).
Schon diese wenigen Zitate und Anmerkungen indizieren, auf welch
vielschichtiges, diffuses und gelegentlich auch heikles Feld man sich begibt,
wenn man von qualitativer Evaluationsforschung spricht. Da es in der Eva-
Qualitative Evaluationsforschung 309
luationsdebatte keine weithin favorisierte Definition von Evaluation gibt,
hilft nur noch die Flucht nach vorn. In einer ersten Annäherung scheint es uns
zunächst einmal hilfreich auf die von Suchman (1976) eingeführten Unter-
scheidung zwischen Evaluation und Evaluationsforschung zurückzugreifen.
Evaluation beinhaltet eine Vielzahl von Konzepten und Strategien, um
Verfahren, Maßnahmen, Programme und Organisationen bzw. Institutionen
etc. zu beschreiben und bewerten. Eine Form z.B. sind die verschiedenen An-
sätze der Selbstevaluation (vgl. z.B. v. Spiegel 1993; Liebald 1998); eine an-
dere Form sind bspw. sozialwissenschaftliche, forschungsbasierte Evaluatio-
nen, die meist aus der externen Perspektive erfolgen. Unter Evaluationsfor-
schung fassen wir dabei diejenigen Evaluationen, die sozialwissenschaftliche
Forschungsverfahren als Mittel der Erkenntnisgewinnung einsetzen und sich
an Standards der empirischen Sozialforschung orientieren. Der qualitativen
Evaluationsforschung wären dann jene Studien und Methodologien zuzuord-
nen, die auf primär qualitativen bzw. rekonstruktiven Verfahren der Sozial-
forschung und den entsprechenden Standards basieren und in deren Mittel-
punkt evaluative Fragestellungen und entsprechende Gegenstände stehen.
Dieses Verständnis bindet Evaluation und Evaluationsforschung nicht
unmittelbar an wie auch immer geartete praktische Optimierungsinteressen.
Zwar kann man sich die Frage stellen, ob es Sinn macht, Ressourcen für
Evaluationen aufzuwenden, wenn man danach nichts aus den Ergebnissen
lernen möchte. Aber erstens wäre darauf hinzuweisen, dass zumindest im
Alltag genau dies allzu häufig geschieht. Würde man Evaluation eng an Ver-
besserungs- oder etwas allgemeiner formuliert: Veränderungsabsichten kop-
peln, käme man angesichts dieser Fälle in konzeptionelle Schwierigkeiten.
Wichtiger - aus systematischen Gründen - ist uns aber eine zweite Überle-
gung: Die Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Verwendungsforschung
(vgl. Beck/ Bonß 1989; Lüders 1993) haben unmissverständlich deutlich ge-
macht, dass die Praxis sozialwissenschajtliches Wissen autonom nutzt. Auto-
nome Nutzung bedeutet, dass der Umgang mit wissenschaftlichem, d.h. theo-
riegeleitet gewonnenem und methodisch geprüftem Wissen den Eigenlogiken
der Praxis folgt und dass der praktische Umgang mit dem sozialwissen-
schaftlichen Wissen nicht von Seiten des Wissenschaftssystems plan-,
vorhersag- und steuerbar ist. Schließlich hat sich gezeigt, dass die Frage, ob
und unter welchen Bedingungen sozialwissenschaftliches Wissen praktisch
wird, offensichtlich nicht unbedingt von der Qualität dieses Wissens abhängt.
Es gibt keinen Grund, warum dies nicht auch für die Evaluationsforschung
gelten sollte.
Dies hat zur Konsequenz, dass ein Verständnis von Evaluation z.B. im
Sinne von W. Bewyl oder M.Q. Patton unvermeidlich in unauflösbare ver-
wendungstheoretische Probleme führt (vgl. hierzu auch HaubrichlLüders
310 Christian Lüders/Karin Haubrich
• Ein erster Zugang besteht darin, dass die Autorinnen und Autoren sich
auf ein spezifisches Anwendungsfeld von Evaluation (wie Programm-
evaluation, Politikevaluation, Personalevaluation) konzentrieren, um
dann die unterschiedlichen Forschungsverfahren in diesem Zusammen-
Man kann die strategische Bedeutung dieses Arguments gar nicht oft genug betonen ange-
sichts einer Diskussionslage, bei der der weit überwiegende Teil aller einschlägigen Auto-
rinnen und Autoren regelmäßig die Nutzungsorientierung, die Anwendungsperspektive, die
Entscheidungsrelevanz u.ä. als wesentliche Besonderheiten von Evaluation bzw. Evaluati-
onsforschung ausweisen. Ein exemplarisches Beispiel für diese Position sind die Formulie-
rungen von H. Kromrey: ,,zur Evaluation wird empirische Wissenschaft somit nicht durch
die Methode, sondern durch ein spezifisches Erkenntnis- und Verwertungsinteresse"
(Kromrey 2000, S. 22; Hervorh. im Orig.). H. Kromrey (2000) spricht vom ,,Primat der
Praxis". In diesem Sinne sei das Ziel von Evaluation, ,,( ... ) wissenschaftliche Verfahren
und Erkenntnisse einzubringen, um sie für den zu evaluierenden Gegenstand nutzbar zu
machen. Wissenschaft liefert hier - ähnlich wie im Ingenieurwesen - Handlungswissen für
die Praxis" (Kromrey 2000, S. 23; Hervorh. im Orig.).
2 Als ein anregender Versuch in diese Richtung für den Bereich schulbezogener vergleichen-
der Leistungsstudien vgl. Terhart 2002.
Qualitative Evaluationsjorschung 311
hang zu diskutieren. Qualitative Verfahren der Sozialforschung haben in
einer Reihe dieser Darstellungen einen festen, wenn auch - je nach Per-
spektive der Autorinnen und Autoren - unterschiedlich umfänglichen
bzw. systematischen Platz. Charakteristische Beispiele aus dem Bereich
der Programmevaluation sind z.B. der Sammelband von W.R. Shadish
Jr., Th.D. Cook und Laura C. Leviton (1991) mit dem Beitrag von RE.
Stake (1991), der Beitrag von S.L. Caudle (1994) in dem Handbuch von
J.S. Wholey, H.P. Hatry und K.E. Newcomer (1994) und das Kapitel
"Collecting, Analyzing, and Interpreting Qualitative Information" in dem
Grundlagenwerk von B.R Worthen, J.R Sanders und J.L. Fitzpatrick zur
Programmevaluation (1997, S. 371ff.). Als ein weiteres Beispiel für die-
sen Zugang wäre aus der Perspektive der Politikevaluation die Monogra-
phie von W. Bussmann, U. Klöti und P. Knoepfel (1997) aus dem
deutschsprachigen Raum zu nennen.
• Ein zweiter Zugang besteht über die Forschungsdisziplinen bzw. die For-
schungsfelder. In dem hier anstehenden Zusammenhang interessieren
dabei vor allem die erziehungswissenschaftlichen und sozialpädagogi-
schen bzw. sozialarbeiterischen Perspektiven. Da sich im englischspra-
chigen Bereich erziehungswissenschaftliche Forschung zu wesentlichen
Teilen auf Schule und Hochschule bezieht und zugleich Evaluation eine
selbstverständliche Komponente nahezu aller Programme darstellt, liegen
hierzu auch die meisten Arbeiten vor (vgl. z.B. Fetterman 1984, 1988;
LeComptelPreissleffesch 1993). Einen guten Überblick über die Para-
digmen im Bereich qualitativ angelegter erziehungswissenschaftlicher
Evaluationsforschung liefern nach wie vor M.A. PitmanlJ.A. Maxwell
(1992). Einen exemplarischen Überblick über die Diskussion in der So-
zialarbeit gibt der Reader von I. Shaw und J. Lishman (1999). Anwen-
dungsbeispiele qualitativer und quantitativer Methoden in den Bereichen
Kriminalitätsprävention, Gesundheitspflege und Schulen finden sich bei
A. Clarke und R Dawson (2000). Im deutschsprachigen Raum wurden
v.a. in der Reihe ,,Materialien zur Qualitätssicherung in der Kinder- und
Jugendhilfe" des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend Anwendungsbeispiele qualitativer Methoden überwiegend im
Kontext der Selbstevaluation dokumentiert.
• Ein dritter Zugang ergibt sich, wenn man die qualitativen Methodologien
der Evaluationsforschung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellt.
Da dieser Zugang für die qualitative Methodologiediskussion von zen-
tralem Interesse ist, sollen im Folgenden die Positionen der beiden ge-
genwärtig wichtigsten Autoren vorgestellt werden.
312 Christian Lüders/Karin Haubrich
3 Auch in den Standards des Joint Committee on Standards for Educational Evaluation fmdet
diese Position ihren Niederschlag: "Die Verfahren zur Infonnationsgewinnung sollten so
gewählt oder entwickelt und dann umgesetzt werden, dass die Gültigkeit der gewonnenen
.nterpretationen fur den gegebenen Zweck sichergestellt ist" (G5 Valide Infonnationen)
(Joint Committee 1999, S. 175) und ,,( ...) dass die Zuverlässigkeit der gewonnenen inter-
pretationen für den gegebenen Zweck sichergestellt ist" (06 Reliable Infonnationen) (Joint
Committee 1999, S. 183). Dabei wird weder den qualitativen noch den quantitativen Ver-
fahren ein Vorrang eingeräumt; für die Analyse gewonnener Infonnationen wurde vielmehr
fur qualitative und quantitative Verfahren jeweils ein eigener Standard (G8 und G9) fonnu-
liert. In den Erläuterungen zu den Standards wird deutlich, dass eine Mischung unter-
schiedlicher Verfahren als das Ideal angesehen wird: ,,Die Verwendung einer Kombination
von Verfahren erhöht die Validität, da die Stärken eines Ansatzes die Schwächen eines an-
deren ausgleichen können" (Joint Committee 1999, S. 176). Auch in den deutschen Stan-
dards wurde diese Position übernommen: "Die Verfahren zur Gewinnung von Daten sollen
so gewählt oder entwickelt und dann eingesetzt werden, dass die Zuverlässigkeit der ge-
wonnenen Daten und ihre Gültigkeit bezogen auf die Beantwortung der Evaluationsfrage-
stellungen nach fachlichen Maßstäben sichergestellt sind. Die fachlichen Maßstäbe sollen
sich an den Gütekriterien quantitativer und qualitativer Sozialforschung orientieren" (Deut-
sche Gesellschaft für Evaluation 2001, S. 23). Für die Auswahl der adäquaten Erhebungs-
und Analyseverfahren ,,( ... ) sollen Vorlieben der auswertenden Personen keine Rolle spie-
len" (Joint Committee 1999, S. 25).
Qualitative Evaluationsforschung 313
cion remains, however, that in a world of sunny days and dry evaluation race
courses the methods of choice are those wh ich will promise us firm informa-
tion ab out outcomes, effects and efficiency. While qualitative evaluation will
do when the course is soft, the ground will sooner or later dry out and it will
become possible and desirable to find out whether programmes, policies or
projects have had any measurable effect" (Shaw 1999, S. 2). Qualitative
Methoden seien aus dieser Perspektive gerechtfertigt, wenn noch keine Klar-
heit über die angestrebten und möglichen Ergebnisse bestünde und die Studi-
en eher explorativ angelegt werden müssten.
Demgegenüber - und im Unterschied zu M.Q. Patton - argumentiert I.
Shaw (1999), dass qualitative Methoden angesichts der spezifischen Heraus-
forderungen und Beschränkungen, mit denen Evaluationen konfrontiert seien,
in der Regel zur Methodologie der Wahl werden: "The particular challenges
and constraints facing evaluation will usually require qualitative evaluation
as the methodology of choice" (S. 5). Er bezeichnet dies als eines seiner
,,Leitmotive" seiner Argumentation und bezieht sich dabei auf eine Reihe von
Entscheidungskriterien für den Einsatz eines qualitativen Evaluationszugan-
ges, die von D.D. Williams (1986) ausgearbeitet wurden:
Die Standards für die Beurteilung der Qualität einer qualitativen Studie hän-
gen dementsprechend von der jeweiligen Zwecksetzung ab. Leistungen von
Forschung und Evaluation werden daher an jeweils anderen Kriterien gemes-
sen. M.Q. Patton (2002) benennt als Beurteilungsstandards für
4 Aus dem Zusammenhang des Zitates wird deutlich, dass mit ,,research" hier auch "evalua-
tion research" gemeint ist.
Qualitative Evaluationsforschung 317
Es fällt auf, dass nur bei der so genannten Grundlagen- und Anwendungsfor-
schung die Rigorosität der Methoden als Beurteilungsstandard explizit ge-
nannt und bei der summativen Evaluation mit Generalisierbarkeit ein Stan-
dard der Forschung postuliert wird. Nützlichkeit und tatsächliche Nutzung
von Evaluationsergebnissen innerhalb des "settings", das evaluiert wird, sind
dagegen Standards, die keine Entsprechung in der Wissenschaft finden.
Gleichwohl würde M.Q. Patton - ebenso wie I. Shaw - wohl zustimmen,
dass wissenschaftliche Gütekriterien auch bei der Evaluationsforschung, die
mit wissenschaftlichen Methoden arbeitet, anzuwenden sind.5 In den deut-
schen und amerikanischen Standards für Evaluation wird ebenfalls betont,
dass die eingesetzten Instrumente und gewonnenen Informationen den Güte-
kriterien wissenschaftlicher Forschung, insbesondere Validität und Reliabili-
tät, unterliegen und daran zu messen sind. Es besteht also ein weithin akzep-
tierter Konsens, dass auch an Evaluationen - sofern sie mit wissenschaftli-
chen Methoden arbeiten - die entsprechenden wissenschaftlichen Gütekrite-
rien angelegt werden müssen. 6
Der Beurteilung der Güte und Qualität einer Evaluationsstudie werden
damit jedoch zwei vollkommen verschiedene Bewertungssysteme zugrunde
gelegt: Während auf der einen Seite Evaluationsforschung den Anforderun-
gen der wissenschaftlichen Forschung zu entsprechen hat, soll sie auf der an-
deren Seite die Erwartungen hinsichtlich einer Weiterentwicklung der Praxis
erfüllen. Diese unterschiedlichen Standards können aber zu Widersprüchen
führen. Obwohl von M.Q. Patton, I. Shaw und vielen anderen Evaluations-
forschern gesehen wird, dass der Einsatz qualitativer Methoden in Evaluatio-
nen in aller Regel anderen Bedingungen unterliegt als in dem, was üblicher-
weise Grundlagenforschung genannt wird, vermeidet man zu thematisieren,
welche Widersprüche das Anlegen unterschiedlicher Standardsysteme an
M.Q. Patton (2002) betont, dass obwohl jedes dieser Kriteriensysteme in sich
kohärent ist und anderen zum Teil widerspricht, ,,( ... ) many researcher mix
and match approaches" (S. 551). Auch im Hinblick auf die Kombination un-
terschiedlicher Kriteriensysteme dominiert in seiner Argumentation eine
pragmatische und "utilization-focused" Orientierung: ,,As an evaluator, I
have worked with and mixed criteria from all five frameworks to match par-
ticular designs to the needs and interests of specific stakeholders and clients"
(Patton 2002, S. 551). Er sieht zwar, dass dadurch Widersprüche aufgeworfen
werden: ,,Mixing and combining criteria means dealing with the tensions
between them" (patton 2002, S. 551). Er geht aber nicht näher darauf ein,
dass jede Evaluation per se, sobald sie auf wissenschaftlichen Methoden be-
ruht, den Widerspruch zwischen mindestens zwei Kriteriensystemen bein-
haltet. Denn jede Evaluation kann an den Standards für Evaluation gemessen
werden, gleichzeitig beruht die Wahl der Methoden - folgt man M.Q. Patton
- auf einem der vier "philosophischen Bezugssysteme": traditionelle wissen-
schaftliche Forschung, konstruktivistische, evokative oder kritische For-
schungsansätze. Das Spannungs verhältnis zwischen der Beantwortung der
Frage nach Wahrheit und nach Nützlichkeit ist damit in der Evaluationsfor-
schung immer präsent - und keine Folge davon, Ansätze und Bezugssysteme
zu mischen und zu kombinieren. Denn wahre und sozialwissenschaftlich gül-
tige Ergebnisse müssen noch lange nicht praktisch hilfreich oder für die Nut-
zer akzeptabel sein. Und umgekehrt können im Sinne von Nützlichkeit und
Verwendung angestrebte Ergebnisse zwar relevant sein für Entscheidungen,
die die Verantwortlichen bereit sind zu treffen, nicht aber für solche, die
vielleicht vor dem Hintergrund einer fachlichen Debatte angemessener wären
(vgl. auch HaubrichlLüders 2001).
Qualitative Evaluationsforschung 319
4. Herausforderungen
7 Die Gegenposition hierzu würde z.B. behaupten, dass ,,( ... ) keine prinzipiellen Unterschiede
(... ) zwischen Evaluations- und Grundlagenforschung im Hinblick auf die Auswahl des
Untersuchungsgegenstandes sowie die Verwendung von Datenerhebungs- und Analyse-
methoden zur Identifizierung von Wirkungen und die Bearbeitung der Kausalitätsfrage zu
erkennen (sind)" (Stockmann 2000b, S. 12; vgl. ähnlich Kromrey 2000, S. 22). Indem die
meisten Autoren und Autorinnen bei ihren Darstellungen und Einführungen in den Bereich
"Qualitative Evaluation" die aus der allgemeinen Diskussion um qualitative Sozialfor-
schung bekannten Paradigmen, qualitativen Methodologien und Methoden einfach über-
nehmen, gehen sie implizit von der gleichen Annahme aus, ohne diese jedoch eigens zu
diskutieren.
8 Rein theoretisch gibt es eine dritte Möglichkeit: Man betreibt wie gewohnt empirische So-
zialforschung und überlässt die Bewertung Dritten, also der Fachdiskussion, den Auftrag-
gebern, letztendlich allen Leserinnen und Lesern. Weil damit aber der Begriff Evaluations-
forschung vollständig entgrenzt würde, werden wir diese Möglichkeit nicht weiter diskutie-
ren.
320 Christian Lüders/Karin Haubrich
gemessen kennen und einschätzen können. Dies können die Akteure der
Maßnahmen, des Programms bzw. die Angehörigen der Organisation
selbst sein, dies können programmexterne Expertinnen und Experten sein
und dies können schließlich auch die betroffenen Adressatinnen und
Adressaten oder die Nutzerinnen und Nutzer sein. Selbstverständlich
können diese auch beobachtet werden, und es können entsprechende Do-
kumente oder Materialien analysiert werden. In diesen Fällen besteht die
Evaluation in der systematisierenden Beschreibung bzw. Rekonstruktion
der Bewertungen der Beteiligten und es ist Aufgabe der Evaluationsfor-
schung, die unterschiedlichen Einschätzungen sichtbar zu machen (a).
• Die Alternative hierzu wäre, dass der Evaluator bzw. die Evaluatorin
Daten erhebt, die ausreichend Informationen über den Gegenstand ent-
halten, um diesen dann selbst zu bewerten. Dabei ist es zunächst gleich-
gültig, woher die Kriterien der Bewertung stammen. Entscheidend ist aus
methodologischen Gründen zunächst, dass Forschung die übliche Positi-
on der distanzierten Beschreibung und Analyse ausdrücklich verlässt und
selbst explizit zur wertenden Instanz wird (b).
In vielen Fällen - auch weil die beiden Alternativen oft nicht präzise genug
auseinander gehalten werden - findet in Evaluationsprojekten beides, nicht
selten implizit, statt. Evaluatorinnen und Evaluatoren nutzen dann die Analy-
sen der Bewertungen der Beteiligten, um ihre eigenen Einschätzungen zu be-
gründen und umgekehrt. Aus methodologischer Sicht ist allerdings von zen-
traler Bedeutung, dass beide Zugänge je spezifische, bislang weitgehend un-
gelöste und undiskutierte Herausforderungen enthalten, sodass in einem
zweiten Schritt diese genauer unter die Lupe zu nehmen sind.
Ad (a): Akzeptiert man zunächst das Postulat der Gegenstandsangemes-
senheit von qualitativen Methoden, also die Einsicht, dass Forschungsverfah-
ren, Fragestellung und Untersuchungsgegenstand in einem gegenseitigen
Passungsverhältnis stehen müssen bzw. - konstruktivistisch gesprochen -
sich gegenseitig konstituieren, so ergibt sich daraus, weil Bewertungen ein
spezifischer Analysegegenstand sind und die entsprechenden Fragestellungen
besondere Antworten erfordern, dass auch die dafür notwendigen Verfahren
diesen Besonderheiten "gerecht" werden müssen.
Wenn nun qualitative Evaluationsforschung ihre Aussagen wesentlich
auf den Bewertungen der Beteiligten basieren möchte, muss sie akzeptieren,
dass sie es - so unsere These - mit einem spezifischen Analysegegenstand zu
tun hat. Da tragfähige Theorien, die diese These plausibel machen könnten,
soweit zu sehen, nicht zur Verfügung stehen, helfen wir uns mit einer argu-
mentativen Hilfskonstruktion. Wir greifen dazu auf das Konzept der kommu-
nikativen Gattungen zurück (vgl. Luckmann 1986). Kommunikative Gattun-
gen in diesem Sinne sind gesellschaftlich verfestigte Handlungs- bzw. Kom-
munikationsmuster. ,,Die allgemeine Funktion dieser Gattungen der allge-
meinen Kommunikation besteht darin, dass in und mit ihnen Ereignisse,
Qualitative Evaluationsforschung 321
Sachverhalte und allgemein: intersubjektive Erfahrungen der Lebenswelt
unter verschiedenen Sinnkriterien in mehr oder weniger verbindlichen For-
men thematisiert, bewältigt, vermittelt und tradiert werden" (Bergmann 1999,
S; 40). In diesem Sinne gehen wir davon aus, dass auch Bewerten - im weite-
ren Sinne - eine derartige spezifische Kommunikations-, Interaktions- bzw.
Handlungsform darstellt.
Erleichtert wird die dafür notwendige Beweisführung durch die Ergeb-
nisse des Konstanzer DFG-Forschungsprojektes ,,Moral. Formen der kommu-
nikativen Konstruktion von Moral. Gattungsfamilien der moralischen Kom-
munikation in informellen, institutionellen und massenmedialen Kontexten",
dessen wesentliche Ergebnisse in beiden von J. Bergmann und Th. Luckmann
herausgegebenen Bänden "Kommunikative Konstruktion von Moral" (Berg-
mannlLuckmann I 999a,b) veröffentlicht wurden. Obwohl die Autorinnen
und Autoren selbst nicht von Bewerten als einer eigenen kommunikativen
Gattung sprechen, belegen eine ganze Reihe von Untersuchungsergebnissen,
dass kommunikative Handlungsformen wie Z.B. Klagen, Vorwerfen, Sich-
Entrüsten, Beschwerden u.ä. unterschiedliche Formen der Bewertung bzw.
Einschätzung von Sachverhalten, Ereignissen, Entwicklungen und Erfahrun-
gen darstellen, implizieren und voraussetzen (vgl. z.B. Christman 1999;
ChristmannlGünther 1999; Günther 1999a!b ). Kennzeichnend für die Kon-
stanzer Analysen ist, dass sie Moral nicht im Sinne eines substanzhaften Re-
gel- oder Kriteriensystems denken, sondern versuchen nachzuzeichnen, wie
im Prozess der Kommunikation Moral fortlaufend konstituiert wird. ,,Ent-
scheidendes Kriterium für moralische Kommunikation ist (dabei), dass es zu
einer Moralisierungshandlung kommt, also zu sozial wertenden Stellungnah-
men, die sich auf Handlungen oder Personen beziehen und geeignet sind, das
Ansehen, das Image, die Ehre oder den Ruf der benannten oder identifizier-
baren Personen zu beeinträchtigen oder zu steigern" (BergmannlLuckmann
1999c, S. 23). Anders formuliert: Im Zentrum der Untersuchungen stehen
"Bewertungsleistungen", die sich auf Akteure beziehen (BergmannlLuck-
mann 1999c, S. 25ff.).
Damit ist ein wesentlicher Teil alltäglicher evaluativer Praxis in den
Blick genommen. Aus der Perspektive der Evaluationsforschung müssten
zwei Aspekte ergänzt werden:
studien dar. Daneben gibt es aber eine ganze Reihe weiterer Bezugssy-
steme und Relevanzkriterien. Maßnahmen, Programme, Strukturen und
Organisationen können Z.B. auch unter fachlichen, ökonomischen, recht-
lichen, funktionalen u.a., nicht zuletzt auch unter subjektiven Akzeptanz-
und Zufriedenheitsaspekten bewertet werden.
Wenn diese Argumentation plausibel ist, ergibt sich daraus, dass die systema-
tische Anregung und Analyse von "Bewertungsleistungen" spezifischer me-
thodischer Schritte bedarf. Genau an dieser Stelle beginnen die Probleme.
Die Anregung und Auswertung evaluativer Textpassagen, z.B. in Interviews
oder Gruppengesprächen, werden üblicherweise nicht zum Thema gemacht
und stehen meist eher am Rand der methodologischen Aufmerksamkeiten.
Nicht zuletzt durch die Arbeiten von F. Schütze wurde die Aufmerksamkeit
vor allem der deutschsprachigen qualitativen Methodologiedebatte auf die
Gewinnung und Analyse von Sachverhaltsdarstellung und narrative Beschrei-
bungen gelenktY Aus der Perspektive eines Zuganges, der sich jedoch expli-
zit für die Bewertungen der Beteiligten eines Programmes, die zugrunde lie-
genden Bewertungsmuster, -regeln und -kriterien interessiert, gewinnen je-
doch gerade jene Passagen - z.B. in Interviews - an Bedeutung, in denen die
Befragten explizit und implizit Stellung gegenüber dem Evaluationsgegen-
stand beziehen.
Um das Problem auf die Spitze zu treiben, wäre darauf hinzuweisen, dass
man zwar in jedem offenen Interview und in jeder Gruppendiskussion eva-
luative Passagen findet. Es liegt jedoch nahe, gerade wenn man häufiger
Evaluationsforschungsprojekte durchzuführen hat, zu überlegen, ob man die-
se Äußerungen nicht gezielt anregen könnte. Doch für diesen Fall schweigt
sich die Forschungsliteratur vornehm aus. Weder haben wir bislang Hinweise
gefunden, wie man kunstvoll z.B. in Interviews bewertungsgenerierende Im-
pulse setzt, noch wie "evaluative Interviews" sachgerecht geführt werden
könnten. lO Sicher ist nur, dass Antworten wie "das finde ich gut", "das gefällt
mir nicht" für eine qualitative Analyse wenig hilfreich sind.
Ein zweites Problem wird sichtbar, wenn man sich die Frage stellt, wie
derartige Passagen eigentlich ausgewertet werden sollen. In keinem Hand-
9 Die Dominanz dieses Blickes lässt sich erahnen, wenn F. Schütze (1983) als ersten Schritt
der Analyse biographischer Inte~iews die formale Textanalyse fordert, die darin bestünde,
,,( ... ) zunächst einmal alle nicht-narrativen Textpassagen zu eliminieren und sodann den
,bereinigten' Erzähltext auf seine formalen Abschnitte hin zu segmentieren" (S. 286). Da
vor allem explizit bilanzierende, bewertende, verurteilende oder ähnliche Äußerungen un-
strittig nicht als narrative Textpassagen verstanden werden können, impliziert diese Emp-
fehlung, dass diese Passagen nicht mehr Gegenstand der Analyse wären.
10 Eine Ausnahme hierzu bilden die Ausführungen von M.Q. Patton, die zum Teil auf die be-
sonderen Anwendungsbedingungen qualitativer Methoden in Evaluationen eingehen und
punktuell solche Hinweise geben. "Opinion and values Questions" (Patton 2002, S. 350)
werden von ihm als ein eigenständiger Fragetypus beschrieben - ohne jedoch auf die Aus-
wertungsfragen näher einzugehen.
Qualitative Evaluationsjorschung 323
kehrt fällt auf, dass im Bereich der Sozialpädagogik die sonst üblichen Fi-
nanziers für Drittmittelprojekte - wie vor allem die Deutsche Forschungsge-
meinschaft, aber auch die Stiftungen (sieht man einmal von der Stiftung Ju-
gendmarke ab) - bislang kaum auftreten.
Einschränkend muss allerdings festgehalten werden, dass in besonderer
Weise für dieses Forschungsfeld gilt, dass ein Großteil der Studien das Licht
der breiteren Fachöffentlichkeit nie erblickt, sodass es derzeit kaum möglich
ist, den tatsächlichen Stand der Forschungspraxis angemessen zu beschreiben.
Sowohl von Seiten der einzelnen Einrichtungen, Träger und Dachverbände als
auch von Seiten der Fachhochschulen - weniger der Universitäten - erhält
man, wenn man einmal in die Verteiler kommt, immer wieder graue Papiere
mit Projektberichten und -ergebnissen, ohne dass diese jemals in einer Fach-
zeitschrift oder in Buchform publiziert werden. Wer geduldig ist und weiß, wo
er suchen muss, findet gelegentlich im Internet den einen oder anderen Bericht.
Man mag darüber spekulieren, was der Grund für diese Öffentlichkeits-
scheu ist; in jedem Fall spiegelt sie getreu den Stand der Dinge in diesem
Feld wider. Denn auch gemeinsame Fachtagungen für den Erfahrungsaus-
tausch oder entsprechende Fachforen gibt es bislang nicht, geschweige denn,
dass man systematisch die Erfahrungen aus anderen ähnlich gelagerten For-
schungsfeldern, wie z.B. der Schulevaluationsforschung, der Therapiefor-
schung oder der Evaluation von Arbeitsmarktprogrammen (vgl. z.B. Schmidl
O'Reilly/Schömann 1996), aufarbeiten würde. Immerhin sind innerhalb der
Deutschen Gesellschaft für Evaluation (DeGEval) erste Schritte unternom-
men worden, den internen Erfahrungsaustausch zu verbessern. I I
Vielleicht liegt ein Grund für diese unbefriedigende Situation darin, dass
innerhalb der Sozialpädagogik die Diskussion um Evaluation noch immer
eng im Zusammenhang mit der Qualitätsdiskussion geführt wird (vgl. Z.B.
Heiner 1996; BrunnerIBauerNolkmar 1998; Bundesvereinigung kulturelle
Jugendbildung 1998; IrskensNogt 2000). Dies hat zwar den Vorteil, dass die
Einsicht in die fachliche Notwendigkeit von Evaluationen gestiegen ist und
auch die Frage nach der Bewertung pädagogischer Praxis eine thematisierba-
re Form angenommen hat 12 ; zugleich hat die Fachszene sich aber vornehm-
lich auf die eher "weichen" Konzepte von Evaluation konzentriert. Dadurch
wurde nicht nur ein Boom im Bereich der Selbstevaluation ausgelöst (vgl.
ll Informationen über den Arbeitskreis "Soziale Dienstleistungen" findet man auf der Home-
page der DeGEval (http://www.degeval.de/).
12 Die sozialpädagogische Qualitätsdiskussion hat trotz vieler Probleme im Detail insofern aus
unserer Sicht einen wesentlichen Fortschritt gebracht, als nun die Antworten auf die Frage,
wie man eigentlich die Strukturen, Prozesse und Effekte pädagogischer Praxis beschreiben
kann, ein Stück näher gerückt sind. Zwar sind die alten grundSätzlichen Bedenken, vor al-
lem die Einsicht in die fehlenden Technologien und das daraus sich ergebende Problem der
Zurechnung von beobachtbaren Effekten auf "verursachende" Faktoren nicht gelöst (vgl.
Lüders 1998, S. 28); doch zugleich kann man nicht umhin, zuzugeben, dass zumindest dis-
kutierbare Annäherungen in den letzten Jahren vorgelegt worden sind.
326 Christian Lüders/Karin Haubrich
Heiner 1988, 1994; ebenso die einschlägigen Hefte aus der Reihe "Materiali-
en zur Qualitätssicherung in der Kinder- und Jugendhilfe" des Bundesmini-
steriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, z.B. Nr. 19; v. Spiegel
1993 und die entsprechenden Beiträge in ReillHeinerlFeldmann 2001), son-
dern immer wieder auch eine Neigung zu Strategien der dialogischen und
kommunikativen Validierung provoziert. Ergebnisse von Studien gelten in
diesem Sinne als gültig, wenn die Betroffenen die Ergebnisse kommunikativ
validiert haben. Auf diese Weise feierten methodologisch schon lange erle-
digt geglaubte und gegenstandstheoretisch problematische Validierungsstra-
tegien fröhliche Urstände.
Zugleich ahnt man wohl aber, dass diese Ergebnisse und Erfahrungen im
günstigen Fall eher lokale Gültigkeit beanspruchen können. Sie helfen die ei-
gene Praxis weiterzuentwickeln, sind aber meistens nicht von überregionaler
fachlicher Bedeutung. Vor diesem Hintergrund kann man sich dann auch die
Mühen einer Veröffentlichung sparen.
Dabei verweisen die verschiedenen Verfahren der kommunikativen Vali-
dierung von Evaluationsergebnissen auf ein methodologisch und konzeptio-
nell offenes Problem. Wenn es zutrifft, dass Sozialpädagogik - wie alle ande-
ren sozialen Dienstleistungen auch - als Koproduktion zwischen den Fach-
kräften und den Adressatinnen und Adressaten begriffen werden muss, wenn
also die Qualität und die ,,Ergebnisse" pädagogischen HandeIns nur als Re-
sultate koproduktiven Agierens verstanden werden können, stellt sich die
Frage, was dies eigentlich für die Evaluation eben dieser sozialpädagogischen
Praxis bedeutet. Dabei liegt es nahe, die These zu vertreten, dass die Evalua-
tion die in die Koproduktion eingegangenen Perspektiven zu berücksichtigen
hat. Dies würde bedeuten, dass - streng genommen - Evaluationen sozial-
pädagogischer Praxis, wenn sie die Qualität pädagogischen Randelns in den
Blick nehmen, ohne den Einbezug der Adressatinnen und Adressaten kaum
möglich erscheinen. Dies würde jedoch die oben skizzierten Probleme bei der
empirischen Analyse von Bewertungsleistungen von Adressatinnen und
Adressaten, weil nun systematisch unverzichtbar, in einem neuen Licht er-
scheinen lassen.
All dies belegt: Qualitative Evaluationsforschung ist eine Forschungs-
praxis, die sich derzeit größter fachöffentlicher und politisch-administrativer
Beliebtheit erfreut, die aber bislang wenig über sich selbst, ihre Vorausset-
zungen, ihre Möglichkeiten und. Grenzen weiß.
Qualitative Evaluationsforschung 327
Literatur
Nach einer Flaute in den 80er Jahren erlebt die Evaluation ab Mitte der 90er
Jahre einen neuen Aufschwung. Es haben sich neue Betätigungsfelder eröff-
net: in den Hochschulen, in der Wirtschaft, im Gesundheitswesen und durch
die Modernisierungsbemühungen im Öffentlichen Dienst. Man spricht wieder
über Evaluation und stellt verstärkt konzeptuelle Überlegungen an. In diesem
Zusammenhang erfährt auch die qualitative Evaluationsforschung einen be-
merkenswerten Popularitätszuwachs (vgl. v. Kardorff 2000).
Qualitative Evaluation ist weder theoretisch noch von den verwendeten
Methoden her ein klar definiertes Unterfangen. Weder erscheint es sinnvoll
die qualitative Evaluation als Ergänzung oder als Korrektur "quantitativer
Ansätze" zu positionieren noch mit der Verwendung qualitativer Verfahren
gleichzusetzen. Eher schon ließe sich von einem alternativen Paradigma der
Evaluation sprechen. Der gedankliche Zielpunkt verschiebt sich von der Wis-
sensakkumulation (bezüglich der Resultate von Veränderungsprogrammen)
auf den organisatorischen Wandlungsprozess selbst. Kriterium für den Ein-
satz der jeweiligen Methoden wäre dann deren Gegenstandsangemessenheit
und Anpassungsfähigkeit im Hinblick auf die praktischen Umstände des je-
weiligen Reformprozesses. Das bedeutet: Die Wahl der Methoden erfolgt im
Hinblick auf Gesichtspunkte wie situative Nutzbarkeit, Glaubwürdigkeit oder
"politische Relevanz" der betreffenden Daten. Von daher kann der gelegent-
liche Einsatz quantitativer Verfahren bzw. die Erstellung und Verwendung
quantitativer Kennwerte auch im qualitativen Verständnis angemessen und
wünschenswert (und für die Akzeptanz des Gesamtprojekts äußerst hilfreich)
sein. Qualitative Ansätze zur Evaluation eint bei aller Unterschiedlichkeit
(vgl. als Überblick Shaw 1999, S. 19ff.) die Absicht, nicht nur bei der Wirk-
samkeitskontrolle, sondern schon im Prozess, d.h. bei der Entwicklung und
Umsetzung entsprechender Reformmaßnahmen mitzuwirken.
Diese Prozessorientierung bezieht sich konsequenterweise auch auf die
Evaluation selbst. Sie sollte gleichfalls als (Kommunikations-)Prozess struk-
Der folgende Text greift Argumente aus einer ftiiheren Arbeit des ersten Autors auf (vgl.
FreundlieblWolff 1999).
332 Stephan WoljffThomas Schejfer
turiert sein. Es findet also eine Akzentverschiebung von der Suche nach all-
gemeinen Programmeffekten zu kurzfristigen Kontrollen und zu erfahrungs-
gestützten Korrekturen ablaufender Prozesse statt. Zur qualitativen Evaluati-
on gehört die regelmäßige Rückmeldung über den Zustand des zu verändern-
den Systems an die verschiedenen Beteiligtengruppen, sei es als Nachweis
für Zielerreichung und Zielverfehlung oder als Anregung für Neuanpassun-
gen und weitergehende Überlegungen. Die qualitative Evaluation bemüht
sich also um einen direkten und kontinuierlichen Anwendungsbezug.
Ein derartiges Vorgehen eignet sich insbesondere für Veränderungspro-
zesse im Rahmen komplexer, lose verkoppelter Organisationen und bei tur-
bulenten Umwelten, die sukzessives Vortasten verbunden mit fallweisen Ent-
scheidungen über das weitere Vorgehen erfordern. Qualitative Evaluation be-
gleitet Abläufe in natürlichen Settings. Die Untersuchungen finden in dem-
selben zeitlichen, räumlichen und sozialen Kontext statt, den die Evaluatoren2
sich zu verstehen vorgenommen haben. Die Evaluation wird damit selbst zu
einem Element des Feldes und hat sich reflexiv und praktisch darauf einzu-
stellen. Die beobachtenden Evaluatoren werden kritisch beobachtet und müs-
sen dies in ihr Vorgehen einplanen. Allein schon deshalb weiß man als Eva-
luator nie genug, wenn man ins Feld geht. Die qualitative Evaluation macht
aus dieser Not eine Tugend: Evaluatoren verstehen und verhalten sich grund-
sätzlich als Lernende, allerdings als solche, die gelernt haben, wie Lernpro-
zesse strukturiert und angeregt werden können. Von daher wird auch ver-
ständlich, warum qualitative Evaluationen meist die Form von Fall-Studien
mit einer Vielzahl verschiedener Typen von (Zwischen-)Ergebnissen anneh-
men.
Die qualitative Evaluation geht davon aus, dass die verschiedenen Betei-
ligten(-grup-pen) und Interessenten von unterschiedlichen Situationsdefini-
tionen ausgehen und sich danach in ihrem Handeln ausrichten. Man hat es
somit grundsätzlich mit multiplen Realitäten zu tun. Defizitanalysen, Pro-
grammziele und Erfolgskriterien können sich je nach den beteiligten "Stake-
holders" eminent unterscheiden. Es gibt so gesehen keine abstrakten und
kontextfreien Evaluationskriterien. Die qualitative Evaluation kann sich auf
diese Situation dadurch einstellen, indem sie die Übereinstimmungen und
Widersprüche der verschiedenen Vorstellungen von Effektivität und Effi-
zienz markiert und entsprechende Vereinbarungen der Beteiligten einfordert.
Einigkeit unter qualitativen Evaluatoren besteht darüber,
dass nicht nur die Außensicht, sondern auch die Selbstbewertung der
evaluierten Einrichtungen und Personen zu berücksichtigen ist,
2 Wir verwenden in diesem Text aus Lesbarkeitsgründen und vor allem, weil wir uns aus-
führlich auf ein Evaluationsprojekt beziehen, in dem nur ein Evaluator beteiligt war, durch-
gängig die männliche Form.
Begleitende Evaluation in sozialen Einrichtungen 333
• dass Evaluationen responsiv sein, d.h. auf die Bedürfnisse des Feldes
antworten sollten,
• dass sie eher Prozesse begleiten und Lernen unterstützen als deren Re-
sultate beurteilen oder gar richten sollten und vor allem,
• dass Evaluatoren nicht in der Position eines neutralen, außen stehenden
Beobachters verharren sollen (und können), der hin und wieder einmal
,,hereinschneit", sondern in einer professionell disziplinierten Weise in-
volviert und beteiligt sein müssen.
Wir möchten versuchen, dieses neue Verhältnis von Evaluation und Organi-
sation sowie die sich daraus ergebenden Folgerungen an einem Beispiel
schlaglichtartig zu beleuchten. Wir beziehen uns dabei auf ein komplexes
Evaluationsprojekt, das über einen Zeitraum von zwei Jahren von einem der
Autoren (T.S.) in einem großstädtischen Jugendamt Süddeutschlands durch-
geführt wurde. Mit diesem sog. ,,HzE-Projekt" (Hilfen zur Erziehung) sollte
eine tiefgreifende Umsteuerung der angebotsorientierten Erziehungshilfe er-
reicht werden (vgl. Früchtel u.a. 2001). Aus der standardisierten, Fälle pro-
duzierenden, die teure Fremdunterbringung fördernden und die Beziehungen
zum Umfeld kappenden Hilfe, sollte eine "partizipative, flexible, ressourcen-
orientierte Hilfe" werden, die sich primär an der Nachfrage der Hilfesuchen-
den orientiert. Das Vorgehen der Evaluation war methodisch stark am Modell
der teilnehmenden Beobachtung (vgl. Wolff 2000) orientiert.
Der Evaluator stieg als Fachfremder zu einem Zeitpunkt in diesen Re-
formprozess ein, als die ersten Umsetzungen der Projekt-Philosophie bereits
Fuß fassten. In einem Bezirk waren vier sog. "Stadtteilteams" installiert, die
sich einerseits aus Mitarbeitern des einen gebietszuständigen Erziehungshil-
feträgers und andererseits aus den Sozialen Diensten des Jugendamtes (All-
gemeiner Sozialer Dienst plus wirtschaftliche Hilfen) zusammensetzten. Die
Teams arbeiteten organisations- und professionsübergreifend, was einerseits
den Reiz und andererseits die zentrale Herausforderung des Projektes aus-
machte. Unter den Mitarbeitern wurde "das Experiment" bereits angeregt dis-
kutiert. Es herrschte eine gewisse Aufbruchstimmung, zugleich aber bestan-
den anhaltende Zweifel an seiner Durchführbarkeit hinsichtlich der zu gewär-
tigenden Verwerfungen und generell bezüglich seiner Praxistauglichkeit. Die
Mitarbeiter hatten sich mit neuen Rollendefinitionen, Formularen, Hilfeplan-
verfahren, Arbeitsnachweisen und ungewohnten (flexiblen) Hilfe-Settings
auseinander zu setzen bzw. diese selbst erst noch zu erfinden.
Etablierte Strukturen waren mit Vehemenz aufgebrochen worden. Die
bestehenden Tagesgruppen (sowie andere feste Angebote) hatte man aufge-
löst, um die nötigen Aufnahmekapazitäten für die einzelfallspezifischen,
nachfrageorientierten Hilfen freizusetzen. Stationäre Gruppen öffneten sich
für Familienhilfen, während Familienhelfer stärker als bisher in Teamstruktu-
ren und Fachöffentlichkeiten eingebunden wurden. In den Stadtteilteams dis-
Begleitende Evaluation in sozialen Einrichtungen 335
kutierten die Fachleute ihre Fälle, und zwar nach festgelegten Ablaufsche-
mata, welche die "Ressourcenschau" und den Blick auf das zu nutzende Le-
bensumfeld ins Zentrum rücken sollten. Das Projekt war also bereits in vol-
lem Gange, auch wenn das Gros der Praxisprobleme sowie die möglichen
Bearbeitungsweisen erst noch ins Blickfeld geraten sollten.
Im folgenden lassen wir den Evaluator, Thomas Scheffer, selbst zu Wort
kommen:
Ich startete meine Amtszeit mit zwei je einmonatigen Hospitationen beim ASD und bei ei-
nem Erziehungshilfeträger. Wie ein teilnehmender Beobachter saß ich in den Amtsstuben,
kam mit auf Hausbesuche, verfolgte die Sprechstunden, nahm teil an den Teamsitzungen,
war in der Spielgruppe dabei, bei der Schulaufgabenhilfe, bei Hilfekonferenzen in Heimen
"weit draußen". Zusätzlich führte ich an Arbeitssituationen anknüpfende Expertengesprä-
che, um mir ein Bild von den betreffenden Arbeitsweisen zu machen. Ich partizipierte
schließlich in einem Stadtteilteam und nahm über den Zeitraum eines Jahres an den Fallbe-
sprechungen teil. Ich lernte durch die Fall-Debatten das "sozialarbeiterische Denken" ken-
nen, d.h. die Formen und Methoden, in denen Probleme identifiziert, zugeschnitten, darge-
stellt und angegangen werden. Ich wurde über den gesamten Zeitraum von 2 Jahren mit
den Stadtteil team-Protokollen aller Teams und mit allen Hilfekontrakten versorgt. Dies
versetzte mich in die Lage, Fälle in ihrer Entwicklung zu verfolgen, die Bandbreite der Ar-
beitsweisen und Problemlösungen zu beobachten, sowie festzustellen, ob und wenn, in
welche Richtungen sich die Teams nach und nach entwickelten bzw. verselbstständigten.
Ich lernte Erziehungshilfe-Fälle nicht nur persönlich kennen, sondern gewann auch Ein-
blick in deren sozialarbeiterische und amtliche Repräsentation in Akten und Sitzungen
(vgl. Scheffer 200lb).
Ich wurde mehr und mehr ins Feld verwickelt und erfuhr auf diese Weise die Potenziale
und Restriktionen des Reformprojektes hautnah. Mir wurden Probleme zugetragen und
Anpassungsschwierigkeiten anvertraut. Die Rede war von Ängsten, Unsicherheiten und
Zumutungen (etwa: wiederholte interne Arbeitsplatzwechsel). Mitarbeiter erläuterten mir
die Vorteile gegenüber der herkömmlichen Erziehungshilfe und schwärmten von den neu-
en Freiheiten und Gestaltungsmöglichkeiten. Ich vernahm die unterschiedlichsten Deutun-
gen, worum es sich bei dem Projekt "eigentlich" handele: vom (politischen) "wieder ne
Idee, Geld zu sparen", zum (humanitären) "endlich das Kind in den Mittelpunkt stellen!"
bis hin zur (coolen/effizienten) "Professionalisierung der Sozialen Arbeit".
Meine begleitende Evaluation war durch einen vielschichtigen Dialog zwischen mir und
den Fachkräften vor allem des mittleren Managements und des sog. "Bodenpersonals" ge-
prägt. Der Dialog zwischen dem Feld und mir wurde in den folgenden Gremien und auf
folgenden Ebenen institutionalisiert. (I) Durch die Teilnahme an den Stadtteilteams, bei
denen die "von oben" kommenden Anforderungen und Probleme bearbeitet wurden. (2)
Durch die Einrichtung einer AG-Evaluation, die mich vor allem beim Einsatz von Erhe-
bungsinstrumenten (von der teilnehmenden Beobachtung bis zur Klientenbefragung) und
bei der Vermittlung der Resultate beriet. (3) Bei den teilnehmenden Beobachtungen selbst,
welche die Grundlage für persönliche Beziehungen mit Fachkräften vor Ort und für deren
kritische Rückmeldungen von neuen Projektprogrammen oder meinen Ergebnissen schu-
fen. (4) Bei den Evaluationsworkshops, Trainings und Plenumveranstaltungen, bei denen
die Sorgen, Nöte und Zweifel der Basiskräfte zur Sprache kamen und Vorschläge zur Flan-
kierung des Projektes gemacht wurden sollten. (5) Durch die Teilnahme an den Leitungs-
sitzungen, bei denen die kritischen Punkte des Projektes explizit (oder doch zumindest im-
plizit) behandelt wurden. Hier erwarb ich Einblicke in die komplexe Erziehungshilfeland-
336 Stephan WolfflThomas Scheffer
schaft und lernte die "Philosophie" des Projektes sowie jene Ideen kennen, die hinter den
diversen Steuerungsversuchen standen.
Erst nach einem halben Jahr konnte ich mich mit dem ersten von insgesamt sechs Evaluati-
onsberichten zuriickmelden. Über eine Art "Evaluationsbeirat" stellte ich meine Ergebnisse
(der erste Bericht diskutierte die bislang wenig erbaulichen Versuche "fallunspezifischer
Arbeit im Lebensfeld") in einem Workshop den Mitarbeitern und danach im Leitungsgre-
mium zur Diskussion. Es folgten turnusmäßige Berichte zu den Fallbesprechungen im
Stadtteilteam (mit Vorschlägen zu ihrer möglichen Rolle für die Hilfeplanung) (vgl. Schef-
fer 2001c), zum Sinn und Unsinn der gängigen Fall-Dokumentation (mit Vorschlägen zur
Informationspolitik), zur Ausgestaltung der Hilfekontrakte (mit Vorschlägen zur Rollen-
verteilung und zur kollegialen Selbst-Hilfe), zur Messbarkeit der Qualität geleisteter Hilfen
(mit Vorschlägen zum Controlling und einem Leistungsbonussystem) und zur Arbeitsver-
teilung beim ASD (mit Überlegungen z.B. von Strassen- auf Teamzuständigkeit umzu-
schalten).
Ein Evaluator, der länger bleibt, stellt für eine Organisation und ihre Mitglie-
der eine ungewohnte Zumutung dar. Er produziert nicht, sondern beobachtet
zunächst nur. Er löst keine Probleme, sondern erfindet möglicherweise zu-
sätzliche. Er ist von oben geschickt, um - keiner weiß es genau - die Regel-
befolgung zu kontrollieren. Er hilft nicht bei der Arbeit, sondern verursacht
eher noch zusätzliche. Er beantwortet keine drängenden Fragen, sondern
stellt immer nur noch neue. Der Evaluator sieht sich daher schon beim Ein-
stieg mit gewichtigen Legitimationsproblemen konfrontiert. Dazu gesellt sich
die notorische Neigung vieler Organisationsmitglieder, sich selbst für ausrei-
chend reflektiert und "fachlich" zu halten, um die Evaluation gleich mit erle-
digen zu können.
Zum Amtsantritt legte mir ein Arbeitskreis "Evaluation" (dies war ein Kreis von Interes-
sierten in Schlüsselpositionen) eine Reihe bereits fertiger Evaluationskonzepte und -sche-
mata vor. Abgefragt werden sollten alle möglichen Eigenschaften des Falles und seiner Be-
handlung, um so zu einer "Kritik der Hilfe" zu gelangen. "All das muss nur mal gemacht
werden!", hieß es erwartungsvoll. Die Vorstellung des Arbeitskreises war eindeutig: End-
lich haben wir den Mann, der alles das ausarbeitet, wofür uns in der Praxis neben all den
anderen Aufgaben keine Zeit bleibt.
Im Vergleich zu den angelsächsischen Ländern fällt in der deutschen Evalua-
tionsdiskussion innerhalb der Sozialen Arbeit die starke Betonung der Selbst-
evaluation auf (vgl. Heiner 1998). Dies wird nicht selten verbunden mit einer
Stilisierung des Gegensatzes zwischen Selbstevaluation als dem Inbegriff
methodischen Arbeitens auf der einen und professioneller Evaluation als ei-
ner von außen kommenden, im Grunde entfremdenden Tätigkeit auf der an-
deren Seite. Die Selbstevaluation gilt im Vergleich zur Fremdevaluation als
die angemessenere, sensiblere und für die Bedürfnisse der Mitarbeiter aufge-
Begleitende Evaluation in sozialen Einrichtungen 337
4. Der Anwendungsbezug
3 Dabei agiert die Selbstevaluation in der Praxis - oft notgedrungen aufgrund von Zeit- und
Kompetenzmängeln - mit standardisierten und pauschalisierenden Formen der Datenerhe-
bung, die eher an das Berichtswesen als an eine fokussierte Evaluation erinnern.
4 Trotz einiger Forschungserfahrung im Bereich sozialer Organisationen und ihrer Verfah-
rensweisen (vgl. Scheffer 1995, 2001a) und eines entsprechend ausgerichteten sozialwis-
senschaftlichen Studiums fehlte mir doch der spezifische professionelle "Stallgeruch" eines
Pädagogen oder Sozialarbeiters.
5 Die Evaluation nimmt immer auch, ob gewollt oder nicht, ob explizit oder nur in der Phan-
tasie der Beteiligten, eine Kontrollfunktion wahr. Dies gilt womöglich gerade für unsere
Form der begleitenden Evaluation, insoweit sie detaillierte Einblicke in den Projektalltag
möglich macht.
338 Stephan Wolff/Thomas Schejfer
die Wirkungen der jeweiligen Arbeitsschritte im Hilfeprozess deutlich werden: An wel-
chem Punkt finden Eltern oder Jugendliche mit ihrem Anliegen beim ASD Gehör? Wann
gibt der ASD-Mitarbeiter den Fall ins Team und wann hält er ihn zurück? Wann gilt ein
Fall als ausreichend besprochen? Wie werden die Besprechungsergebnisse in die späteren
"Hilfekontraktgespräche" transportiert? In der Praxis fanden sich taugliche Prototypen, die
sich als Vorbilder der Problembearbeitung zur Konzeptentwicklung eigneten - und die in
dieser Weise nie und nimmer geplant werden könnten.
Ein Aspekt der Anwendungsbezogenheit von Evaluation besteht darin, dass
professionelle Evaluatoren im Auftrag primärer Projektbeteiligter und damit
als Dienstleister tätig werden. Als solche können sie keineswegs nach Gut-
dünken zweckfreie oder parteiliche Forschung betreiben. In Analogie etwa zu
einer Organisationsberatung ist zur Abwicklung einer Evaluationsmaßnahme
die Installierung eines eigenen Handlungssystems notwendig, für das zwi-
schen den Evaluatoren, den Auftraggebern und Beteiligten verbindliche Re-
gelungen, Absprachen und Zeithorizonte zu vereinbaren sind.
Gerade eine relativ unstandardisierte Form von Evaluation bedarf solcher
Formen, um Verlässlichkeit und Erwartungssicherheit zu gewährleisten. Die
Abnehmer müssen wissen, was sie wann zu erwarten haben - und was nicht.
Es gilt sich möglichst frühzeitig auf eine detaillierte Liste an Evaluationsthe-
men und auf einen verbindlichen Zeitplan zu einigen, um so nicht nur für die
nötige Transparenz zu sorgen, sondern zugleich auch unrealistische Ansprü-
che hinsichtlich der Möglichkeiten der Evaluation frühzeitig abzuwehren. Es
muss für alle Beteiligten klar sein und bleiben, was dem Evaluator zugemutet
werden kann. Es muss zudem geklärt werden, wie viel Evaluation die Orga-
nisation zu kommunizieren und verarbeiten bereit ist. Daraus folgt übrigens,
dass die Sicherstellung der Nutzbarkeit der Evaluation und ihrer Ergebnisse
zu einem nicht unerheblichen Teil in der Verantwortung der Auftraggeber
bzw. Abnehmer verbleibt.
Auch wenn es paradox klingt, ein wesentlicher Schritt zur Verselbständigung der Evaluati-
on bestand darin, ihren Fortgang konsequent von Gremienentscheidungen abhängig zu ma-
chen. Als Evaluator legte ich nach einer Orientierungszeit von zwei Monaten im Praxisfeld
ein Evaluationskonzept vor, das im Wesentlichen aus einem noch relativ allgemeinen Un-
tersuchungsdesign bestand. Ich zeigte meinen Zugangs- und Materialbedarf an und entwik-
kelte didaktische Überlegungen, wie ein Austausch zwischen Evaluation und den Prakti-
kern erfolgen könnte. Schrittweise wurde das Konzept dann um Themen und eine Termin-
planung erweitert.
Ein wichtiger Effekt der Diskussion des Evaluationskonzeptes bestand in der Vereinbarung
eines Verfahrens zur Beauftragung des Evaluators. Es wurde eine feste Themenliste verab-
schiedet, was spontane Beauftragungen durch Vorgesetzte verunmöglichte. Neue Themen
konnten nur vom Evaluator oder durch das Leitungsgremium eingebracht werden. Im Falle,
dass man sich gemeinsam entscheiden sollte, ein zusätzliches Thema anzugehen, musste
ein anderes Thema dafür weichen. Festgelegt wurde außerdem, wie Ergebnisse zurückzu-
melden sind. So wurde beschlossen, dass die Resultate sowie Ort, Zeit und Form ihrer Prä-
sentation zunächst mit den begleiteten Praktikern diskutiert und erst danach projektöffent-
lich gemacht werden sollten. Auf diesem Wege konnten meine Missdeutungen korrigiert
und den Leitungsgremien erste praktische Lösungsvorschläge oder Einschätzungen zur
Begleitende Evaluation in sozialen Einrichtungen 339
Machbarkeit vorgelegt werden. Die "AG Evaluation" organisierte diesen Einspeisungspro-
zess - und sorgte ganz nebenbei für die wirkungsvolle Interessensvertretung der Evaluation
auf den verschiedenen Hierarchieebenen der beteiligten Organisationen.
Gerade weil ihnen das Prinzip der Offenheit und Transparenz so am Herzen
liegt, tendieren qualitative Evaluatoren dazu die Empfänger ihrer Botschaften
mit Daten zu überhäufen. Diese Form der gut gemeinten ,,Ehrlichkeit" fördert
aber vielfach weniger die Aufklärung, als sie Frustration, Widerstand oder
zumindest ironische Bemerkungen über die Unerfahrenheit des betreffenden
Evaluators in organisatorischen Belangen provoziert. Eine realistische Ein-
schätzung der Verarbeitungskapazität des Projektes sowie der Organisation
hinsichtlich der Informationen der Evaluation, ist die zentrale Voraussetzung
dafür, dass der Evaluator nicht vergebens produziert. In unserem Fall verlän-
gerte sich der Rhythmus der Präsentationen von anfangs drei über vier auf
schließlich fünf Monate.
Auf der anderen Seite muss der Evaluator ein Interesse daran haben,
Themen zügig zu erledigen und zurückzugeben. Dies hilft ihm, sich von or-
ganisationsinternen Auseinandersetzungen und ihrer Dynamik abzukoppeln
und klarzustellen, dass die Verantwortung für die Umsetzung der Projekter-
gebnisse bei den zuständigen Leitungskräften liegt und eben nicht still-
schweigend der Evaluation zu- bzw. dorthin abgeschoben werden kann.
• der Ebene der Projektgruppen, die durch Moderatoren bzw. Berater an-
geleitet werden. Hier bringen Protokolle, Seminarbewertungen, ,,Blitz-
6 Wir sprechen von Eigen-Evaluation und nicht von Selbst-Evaluation, um deutlich zu ma-
chen, dass die allgemeine Funktion der Evaluation in Projekten grundSätzlich in verschie-
dener und zum Teil funktional äquivalenter Weise wahrgenommen werden kann. Der Be-
griff der Selbstevaluation bezieht sich demgegenüber auf eine bestimmte Vorstellung von
fachlich qualifiziertem und reflektiertem Arbeiten in der Sozialen Arbeit. Selbstevaluation
wird als "systematische Nach-Denk- und Bewertungs-Hilfe" verstanden, die "Handeln in
Situationen reflektierbar, diskutierbar und somit auch kontrollierbar" machen soll (v. Spie-
gel 1993, S. 124).
340 Stephan WolfflThomas Schejfer
Für jede dieser Ebenen lassen sich freilich auch die Grenzen der Eigen-
Evaluation aufzeigen, deren Berücksichtigung und Reflexion für das Funk-
tionieren des Projekts wie für den Erfolg der begleitenden Evaluation von
entscheidender Bedeutung sind.
Die vier Stadteilteams aus Sozialem Dienst (des Jugendamtes) und Erziehungshelfern (des
gebietszuständigen Trägers) mussten über fallunabhängige Aktivitäten im Stadtteil, über
Anregungen zu neuen Projektregelungen sowie vordringlich über die "Falleigenschaft" von
individuellen, familialen oder schulischen Problem lagen entscheiden?
Ein wesentliches Mittel der Eigen-Evaluation bestand hier in der Protokollführung, die
wiederum den Diskussionsgang anleiten und abbilden sollte. Gleich einem Leitfaden wurde
das Team mit "Fragen an sich selbst" durch die Fallbearbeitung geführt. Das Protokoll -
und damit auch die Diskussion - musste bestimmte Angaben enthalten, um als angemessen
zu gelten: Aussagen zu den Stärken der Familienmitglieder, zu den Ressourcen im Lebens-
umfeld, zum Fokus der Hilfe (mit dem Kind, mit dem Vater, mit der Lehrerin etc.), zu den
Grenzen des Hilfeeinsatzes usw. Der Diskussionsgang sollte für Anschlusssitzungen sowie
für die Fallverantwortlichen nachvollziehbar sein. Diese Anforderung wurde allerdings
bald als Zumutung empfunden und somit nur selten als Chance zur Qualifizierung der ei-
genen Arbeit genutzt.
Ein anderes Mittel der Eigen-Evaluation ging mit Sonderrollen in den Teams einher. Neben
der Diskussionsleitung sollte in jedem Team ein Mitglied aus der Projektleitung als "Pro-
jektanwalt" vertreten sein. Diese "Wächter" sollten den "Geist des Projekts" repräsentieren
und immer wieder an die Projektziele sowie an den Sinn und Zweck der ganzen Unterneh-
mung erinnern. Um eine Abnutzung dieser Rolle zu verhindern und die betreffenden Per-
sonen nicht zu stark dem Druck der Gruppensolidarität auszusetzen, wurde die Rotation der
Projektanwälte zwischen den Teams vereinbart.
Das konsequente Beharren auf der Differenz zwischen der professionellen
Evaluation einerseits (d.h. den Personen und Institutionen, die dies betreiben,
und deren Maßnahmen) und der Evaluationsfunktion im Projekt andererseits
stellt ein wichtiges Element der Projektsteuerung dar. Das Verhältnis zwi-
schen Eigen-Evaluation und professioneller Evaluation sollte immer wieder
überprüft und bedarfsgerecht austariert werden. Es ist ein wesentliches
Merkmal professioneller Arbeit immer präzise angeben zu können, für was
man sich nicht oder nicht mehr zuständig fühlt. Gerade die oftmals hoch en-
7 Mit der Falleigenschaft ist die Übergabe vom Verfahren-verantwortlichen ASD zum Hilfe-
verantwortlichen Träger verbunden.
Begleitende Evaluation in sozialen Einrichtungen 341
• Szenario 1: Die Eigenevaluation ist fragil, sie braucht Führung und Orga-
nisation (die professionelle Evaluation erfüllt dann Management-Funk-
tionen).
Szenario 2: Die Eigenevaluation ist eher fragil und benötig deshalb pro-
zessorientierte Unterstützung (die professionelle Evaluation erfüllt hier
Katalysator- und Beratungsfunktionen).
• Szenario 3: Die Eigenevaluation ist eher stabil, aber sie ist nicht ausrei-
chend systematisch und selbstreflexiv (die professionelle Evaluation er-
füllt dann die Funktion der wissenschaftlichen Begleitung und Supervisi-
on).
geber und Aufsichtsbehörden ebenso wie für Kollegen, die selbst nicht im
Projekt involviert sind. Gerade dieses Schaffen von (Organisations-)Öffent-
lichkeit macht Evaluation bei den Evaluierten verdächtig und unter Umständen
sogar gefürchtet - als eine Art des Ausspionierens "von uns hier unten"Y Eine
solche Ambivalenz findet sich gleichermaßen im Hinblick auf die Rezeption
von Evaluationsergebnissen, die oft zwischen positiver Neugier und dezidierter
Abwehr schwankt.
Ein und derselbe Bericht löste völlig konträre Reaktionen aus. In einem Gebiet wurde er
von vornherein als Chance wahrgenommen, über Schwachstellen im Konzept und über
Unvereinbarkeiten mit bzw. in der Praxis nachzudenken. Im anderen Gebiet ging es dage-
gen um Fragen des individuellen Scheiterns. Die Reaktionen wechselten entsprechend zwi-
schen Verteidigung ("Andere machen das aber auch so!" oder "So was wie im Bericht
steht, gibt es bei uns nicht!"), Rückzug ("Soll der doch schreiben!") und konstruktiver
Nachdenklichkeit ("Das kann auch uns passieren! Aber, wie kommen wir damit zurecht?").
Die Evaluationsergebnisse wurden nur dort als Lernmittel genutzt, wo Fehlerfreundlichkeit
und Veränderbarkeitswillen glaubhaft von Seiten der Leitung und relevanter Multiplikato-
ren propagiert wurden. Der direkte Gebietsvergleich unterstrich für mich, dass ich das Ein-
speisen des Berichts selbst, d.h. den zeitlichen Vorlauf, die Strukturierung des Präsentati-
onsworkshops und die Präsentation selbst, viel ernster nehmen musste.
Neben der gesteigerten Aufmerksamkeit (aufgrund von Neugier oder allerlei
Befürchtungen) findet sich auch die gegenteilige Erfahrung. Evaluatoren müs-
sen häufig erkennen, dass relevante Mitspieler an ihren Diensten kein son-
derliches Interesse zeigen. Die Evaluation wird mitunter schlicht vergessen. Für
eine solche Miss-Achtung lassen sich verschiedene Gründe anführen.
(l) Zum einen haben die beteiligten Insider gelernt, der Rhetorik von Or-
ganisationsreformen zu misstrauen. Sie wissen aus Erfahrung, dass entspre-
chende Verlautbarungen meist ein zu einfaches Bild der Realität, ihrer Ver-
änderbarkeit und der FeststeIlbarkeit entsprechender Ergebnisse zeichnen.
Im Erziehungshilfeprojekt wurden anfangs recht plakative Formeln bemüht, um das neue
Verfahren der Hilfeplanung und seine Ausrichtung begreiflich und attraktiv zu machen.
Statt "Konfektionsware von der Stange" sollten nun "Maßanzüge" geschneidert werden;
nicht "Nachfrageorientierung", sondern "Angebotsorientierung" sollte dominieren; statt der
Einrichtung sollte jetzt das "Lebensfeld" in den Mittelpunkt rücken. Gegen diese holz-
schnittartigen Gegenüberstellungen regte sich bald Widerstand: "Früher war nicht alles
verkehrt", hieß es, und "Was wissen diese Planer überhaupt schon, was wir vor Ort gelei-
stet haben!"
In Wirklichkeit sind, wie jeder weiß,1O Reformen keine linearen Prozesse, die
von der Planung und Entscheidung bis zur Durchführung gradlinig auf das
9 So wurde ich des öfteren gebeten, Teile von Berichten zurückzuziehen, weil diese oder jene
Beschreibung die lokale Praxis in ein falsches Licht rücke. Diesbezüglich half es auch
nichts, dass ich darauf hinwies, dass alle Beschreibungen über Fallbearbeitungen anonymi-
siert und als Lehrbeispiele konstruiert seien. Im Gegenteil: Meine Beteuerungen waren nur
Anlass zu weiteren Vermutungen und Irritationen.
10 Oder bei Autoren wie Luhmann (2000) oder BrunssoniOlsen (1993) nachlesen kann.
Begleitende Evaluation in sozialen Einrichtungen 343
vorgezeichnete Ziel hin verlaufen. Sobald eine Reformabsicht bekannt wird,
wird die Situation bekanntlich schon unübersichtlich. Es kommt zu Stellung-
nahmen dafür und dagegen, zu Festlegungen und zu Vorwegnahmen der ver-
schiedensten Art. Es treten Verzögerungen auf und es stellt sich ein Hin und
Her zwischen alten und neuen Vorstellungen ein. Die Reformabsicht muss in
Anpassung an die sich ändernden Situationen immer wieder neu beschrieben
und dabei oft unter der Hand modifiziert werden. Zudem operieren Reformer,
wie erwähnt, schon aus Gründen des Projekt-Marketings mit holzschnittarti-
gen Gegenüberstellungen von Mängeln und Verbesserungsmöglichkeiten und
tun so, als ginge es nur noch um Änderung oder Nichtänderung eindeutig un-
haltbarer in Richtung auf ebenso eindeutig wünschbare Zustände. Insoweit zu
befürchten ist, dass sich die Evaluation eher an der Reformrhetorik als an der
Reformwirklichkeit orientiert, lässt sich nachvollziehen, warum manche Be-
teiligte einem Evaluationsvorhaben mit Ablehnung, Skepsis oder zumindest
mit einem Schuss Zynismus begegnen.
(2) Ein zweiter struktureller Grund für die Miss-Achtung der Evaluation
besteht in einem eigenartigen Paradox von Reformen in Organisationen. Eine
erfolgreiche Reform zeichnet sich aus einer übergeordneten Perspektive näm-
lich vielmehr dadurch aus, dass sie ihre Ziele erreicht oder verfehlt, als da-
durch, dass sie Bereitschaft und Bedarf für weitere Veränderungen schafft
oder doch zumindest nicht gefährdet. Dies wiederum hat zur Voraussetzung,
dass man allzu dezidierte Feststellungen zu den einzelnen Reform-Ergebnis-
sen vermeidet und sich bei jedem neuen Versuch nicht allzu intensiv an den
Umstand erinnert, dass und mit welchen Resultaten ähnliche Versuche schon
früher unternommen worden waren. Evaluationsvorhaben, welche die Rheto-
rik der Reform zu wörtlich nehmen, gefährden so gesehen möglicherweise
einen späteren Neuanfang oder schränken zumindest die verfügbaren Optio-
nen ein.
(3) Die gelegentliche Missachtung der Evaluation hat auch damit zu tun,
dass Verwaltungsmodernisierung eben nicht jenes klinisch reine, rationale
Verfahren ll ist, wie sie möglicherweise bei der Lektüre von KGST-Papieren
erscheint. Solche Modernisierungsprozesse lassen sich vermutlich treffender
als eine Folge von Wettspielen beschreiben, wo sich verschieden zusammen-
gesetzte Mannschaften auf unterschiedlichen Feldern treffen und nach wech-
selnden und nicht ganz eindeutigen Regeln um die Durchsetzung ihrer z.T.
sehr unterschiedlichen Ambitionen kämpfen: die Politiker im Rat, die Ver-
waltungsspitzen, die Amtsleiter, die Personalvertretungen, das mittlere Ma-
nagement, die Beschäftigten an der Basis, die institutionellen Kooperations-
partner und last but - oft - least die betroffenen Bürger. Kompliziert wird das
Bild noch durch schwer berechenbare Akteure von außerhalb, zu denen ne-
ben Organisationsberatern und Evaluatoren die KGST und andere interes-
11 Gerne verwandt wird in diesem Zusammenhang die Metapher des "Experiments" oder des
"Modellversuchs".
344 Stephan WoljflThomas Schejfer
sierte Öffentlichkeiten zählen, bei denen bisweilen nicht klar ist, ob sie als
Zuschauer, Spieler oder Schiedsrichter fungieren. All diese verschiedenen
Perspektiven zu vereinen mag vielleicht der Traum mancher hoch gestimmter
qualitativer Evaluatoren (und Projektmanager) sein. An der praktischen Um-
setzung dieses Traums besteht aber auf Seiten der "Stakeholders", wenn
überhaupt, dann nur ganz selten wirkliches Interesse.
(4) Ein weiterer Grund für die Vernachlässigung von Evaluation mag
schließlich darin zu suchen sein, dass viele Praktiker bereits zwiespältige Er-
fahrungen mit Evaluationen gesammelt haben. Tatsächlich gibt es viele Bei-
spiele arbeitsintensiver und gleichwohl unergiebiger Evaluationen, die Er-
nüchterung bis hin zur habitualisierten Abwehrhaltung zur Folge haben. Zu
viele zu groß angelegte Evaluationen (vor allem summativer Art) haben dem
Glauben an einen Lerngewinn durch Evaluation Abbruch getan. Potenziell
bereitet jede aktuelle den Boden für eine nachfolgende Evaluation - oder ent-
zieht ihr denselben. Entsprechend haben Evaluatoren eine Verantwortung der
eigenen Zunft gegenüber, aber auch einen "allgemeinen Bildungsauftrag"
hinsichtlich dessen, was professionelle Evaluation ausmacht.
Im Jugendamt waren die Vorstellungen bei Management und Basis darüber, was und wie
evaluiert werden sollte, für die begleitende Evaluation wenig hilfreich. Dies lag nur zu ei-
nem geringeren Teil an mangelnden forschungsmethodischen Kenntnissen. Wichtiger war
das Unverständnis hinsichtlich der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten evaluativen Vor-
gehens überhaupt. In einigen Unterprojekten entstanden Disproportionen durch die Suche
nach "großenI' Kausalitäten. Man setzt sich z.B. das Ziel herauszufinden: "Warum sind die
Langzeitfälle so geworden?", statt kleiner zu fragen: "Welche Funktionen übernehmen wir
Sozialarbeiter in langen Hilfebeziehungen im Familiensystem (und wollen wir diese wahr-
nehmen)?" Typisch war der Wille, ein möglichst umfassendes Wissen über den jeweiligen
Fall zu sammeln, ohne die jeweilige Relevanz der Daten anzugeben. 12 Vielfach wurden
Fragen formuliert ohne sich Gedanken über Möglichkeiten ihrer Operationalisierbarkeit
und forschungspraktischen Umsetzung zu machen. In einem hausinternen Projekt zur ge-
zielten Sprachförderung wurden Erzieher/innen per Fragebogen befragt: "Wie war das
Sprachverhalten des Kindes vor und nach der Förderung?". Eigen-Evaluation von Projek-
ten zeichneten sich häufig durch einen starken politischen Impetus aus. Es wurden Fragen
passend zu den Projekt-Motiven gestellt, um durch Eigen-Lob eine weitere Projektförde-
rung sicherzustellen. Ein weiteres Merkmal unergiebiger Evaluation ist das bloße Aufzäh-
len der beschlossenen Maßnahmen. Es wird auf Nachfrage "von oben" lediglich der Voll-
zug gemeldet, ohne näher auf die Art und Weise einer (möglichen) Umsetzung der Ergeb-
nisse einzugehen.
12 Diese Art des Umgangs mit Informationen ist im Übrigen ein in Organisationen durchaus
typisches Verhalten (vgl. FeldmanlMarch 1981).
Begleitende Evaluation in sozialen Einrichtungen 345
7. Wirkungs grenzen
13 Eine solche Tendenz beobachten wir etwa bei der unter qualitativen Evaluationsforschem -
zumindest programmatisch - recht populären "empowennent evaluation" (vgl. Fettennan
u.a. 1996).
346 Stephan WolfflThomas Scheffer
mand so recht weiß, was lernende Organisationen eigentlich sind und wie bzw.
wo Lernen in Organisationen genau zu verorten ist. Wir wollen gar nicht erst
versuchen, den Flickenteppich der aktuellen theoretischen Angebote auszu-
breiten. Da in Organisationen gleichzeitig ganz verschiedene Lernprozesse ab-
laufen, mit unterschiedlichem Tempo und unterschiedlichen Effekten, ist eine
allgemeine und gleichzeitig instruktive Lerntheorie der Organisation auch gar
nicht zu erwarten. Vieles, was die Intelligenz einer Organisation, aber auch was
die Kompetenz ihrer Mitglieder ausmacht, ist zudem implizites Wissen, das sich
nicht durch dezidiertes Lernen, sondern eher über den allmählichen Erwerb ei-
ner bestimmten Sprache, Praxis und Organisationskultur aneignen lässt. Gerade
in sozialen Einrichtungen und professionalisierten Berufen wird der Novize erst
im Verlauf einer Art ,,Lehrzeit" zum anerkannten Mitglied einer "community
of practice" (BrownJ Duguid 1996). Das, worauf es dabei ankommt, ist nur
zum Teil in Köpfen, Lehrbüchern oder Qualitätshandbüchern verortet und von
dort abrufbar. Vieles manifestiert sich vielmehr darin, wie Kommunikations-
prozesse ablaufen und welche Geschichten erzählt werden, in einem bestimm-
ten Habitus oder auch darin, wie sich eine Organisation und ihre Mitglieder
durch Entwicklungen innerhalb und außerhalb der Organisationen überraschen,
irritieren und faszinieren lassen.
In einem solch komplexen Verständnis von organisatorischem Lernen
kommt der Evaluation durchaus eine strategische Rolle zu: nicht so sehr hin-
sichtlich ihrer konkreten Ergebnisse bezüglich, wohl aber bezüglich der Art
und Weise ihres Vorgehens. Grundsätzlich spielt gerade eine begleitende
Evaluation - anders als die Ergebnisevaluation - bei der Veralltäglichung der
Projektarbeit eine wichtige Rolle. Einerseits setzt eine lernende Organisation
ein einigermaßen intaktes Verhältnis zur Evaluationsfunktion voraus, wonach
Evaluationsergebnisse nicht als Kritik oder gar Angriff, sondern als Reflexi-
onsangebot aufgefasst werden. Andererseits ist die begleitende Evaluation
anschlussfähig an systemeigene Mechanismen der Kontrolle und der Eigen-
evaluation. Da die professionelle Evaluation in der Regel zeitlich mit der
Projektphase verknüpft ist, müssen sich begleitende Evaluatoren die Frage
stellen, welche Möglichkeiten bestehen, schon während der Zeit der prakti-
schen Arbeit zur Förderung evaluativen Denkens und Handeins in der Orga-
nisation beizutragen. Lernbereitschaft und Reflexionskultur können auf ver-
schiedenen Wegen durch den Evaluator gefördert werden: durch Hilfestel-
lungen bei projekteigenen Evaluationen, durch Anregung von selbst-
evaluativen Prozessen bei den Auftraggebern oder durch die Sicherstellung
der Öffentlichkeit des Vorgehens und der Ergebnisse der Evaluation.
Im HzE-Projekt bestand der letzte Bericht aus solchen Verfahrensvorschlägen. Behandelt
wurde u.a., wie in der Folge ein effektives Qualitätsmanagement und Qualitäts-Früh-Wam-
system installiert werden könnten. Es ging mir darum zu zeigen, wie Evaluation im Über-
gang vom Projekt zur Organisations entwicklung überflüssig gemacht oder zumindest von
bisherigen ThemensteIlungen entlastet werden kann. An die Stelle der Evaluation treten
dann routinisierte Formen von Selbst-Beobachtung: das allgemeine Controlling (aufge-
348 Stephan WolfflThomas Scheffer
hängt an den wahrgenommenen Terminen bzw. Leistungsstunden der Helfer), die einzel-
fallbezogene Revision (aufgehängt an den quartalsweisen Hilfekontrakten mit den Famili-
en), das gruppenvergleichende Benchmarking (aufgehängt an den Dokumentationen, an
Klientenbefragungen und an Controlling-Daten) sowie eine leistungsbezogene Budgetie-
rung. Als Konsequenz und Folge der Evaluation sollten, so lautete der Vorschlag, - ge-
meinsam mit anderen Kräften im Qualitätsmanagement - standardisierte, aber gleichwohl
flexible Instrumente der Begutachtung und Intervention entwickelt werden.
Der Beitrag der begleitenden Evaluation zur organisatorischen Lernkultur re-
duziert sich also nicht auf die von ihr vorgelegten inhaltlichen und schnell an
Aktualität verlierenden Ergebnisse. Er beruht vor allem in dem, was Michael
Patton (1997) als Prozessnutzen bezeichnet. Von zentraler Bedeutung dafür
sind das konsequente Einfordern und Einüben einer Maßnahmeorientierung.
Alle Projektbeteiligten werden an den Schnittstellen zur wissenschaftlichen
Begleitung dazu angehalten, ihre gestaltenden Aktivitäten, d.h. die Interven-
tionen der Projektleitung wie die Programm-Umsetzungen der Projektgrup-
pen, konsequent als Maßnahmen zu verstehen. Dazu sind Ziele, Vorgehens-
weisen, Fristen, personelle und sachliche Ressourcen sowie Zielerreichungs-
kriterien von vorneherein klar zu formulieren und zu dokumentieren. Für die-
ses Vorgehen spricht:
Die Frage der Qualität betrifft nicht nur die Projektarbeit oder die Organisati-
onsentwicklung. Sie betrifft auch die Evaluation selbst. Ohne Anspruch auf
Vollständigkeit wollen wir deshalb noch auf einige Maßnahmen der Quali-
tätssicherung von Evaluationen hinweisen, die sich aus unserer Sicht als hilf-
reich erwiesen haben:
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lung. In: Früchtel, F. (Hrsg.): Umbau der Erziehungshilfe. Von den Anstrengun-
gen, den Erfolgen und den Schwierigkeiten bei der Umsetzung fachlicher Ziele in
Stuttgart. WeinheimIMünchen 2001b, S. 167-175
Scheffer, Th.: Wozu dienen die Fallbesprechungen der Stadtteilteams in der Hilfepla-
nung. In: Früchtel, F u.a. (Hrsg.): Umbau der Erziehungshilfe. Von den Anstren-
gungen, den Erfolgen und den Schwierigkeiten bei der Umsetzung fachlicher
Ziele in Stuttgart. WeinheimIMünchen 2001c, S. 175-191
Shaw, I.F.: Qualitative Evaluation. London 1999
Spiegel, H. v.: Aus Erfahrung lernen. Qualifizierung durch Selbstevaluation. Münster
1993.
Wolff, St: Wege ins Feld und ihre Varianten. In: Flick, U./Kardorff, E. v./Steinke, I.
(Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek 2000, S. 334-349
Die Autorinnen und Autoren
Chambon, Adrienne, Jg. 1949, Ph.D., M.A.; Professorin an der Fakultät für
Sozialarbeit der University of Toronto; Arbeitsschwerpunkte: Soziologie der
Sozialen Arbeit, Verhältnis von Subjektivität und Institutionen, Soziale Ar-
beit mit MigrantInnen, Flüchtlingen und Folteropfern.
Lüders, Christian, Jg. 1953, Dr. phi!., Diplom-Pädagoge; Leiter der Abtei-
lung Jugend und Jugendhilfe am Deutschen Jugendinstitut in München; Ar-
beitschwerpunkte: Kinder- und Jugendhilfe, Sozialpädagogik, qualitative So-
zialforschung, Evaluationsforschung.
Nölke, Eberhard, Jg. 1953, Dr. phi!., M.A., Psychotherapeut (KJP); Professor
für Theorie der Sozialen Arbeit am Fachbereich Sozialpädagogik der Fach-
hochschule Darmstadt; Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Methoden der So-
zialen Arbeit, hermeneutische Sozialforschung.
SchejJer, Thomas, Jg. 1967, Dr. phi!.; Research Fellow im Rahmen des Em-
my-Noether-Stipendiums der DFG an der University ofLancaster, Faculty of
Sociology, England. Arbeitsschwerpunkte: Mikrosoziologie, Wissenschafts-
forschung, Rechtssoziologie.
Wolff, Stephan, Jg. 1947, Dr. rer. pol. habil., M.A.; Professor für Sozialpäd-
agogik am Institut für Sozialpädagogik und wissenschaftlicher Leiter des
Weiterbildungsstudiengangs "Organization Studies" der Universität Hildes-
heim; Arbeitsschwerpunkte: angewandte Organisationsforschung, Rechtsso-
ziologie, qualitative Sozialforschung, Ethnomethodologie.