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Qualitative Forschung

in der Sozialpädagogik
Cornelia Schweppe (Hrsg.)

Qualitative Forschung
in der Sozialpädagogik

Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2003


Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

ISBN 978-3-8100-3165-5 ISBN 978-3-663-11215-0 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-663-11215-0

© 2003 Springer Fachmedien Wiesbaden


Ursprünglich erschienen bei Leske + Budrich, Opladen 2003

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung
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Inhalt

Einleitung ............................................................................................ '" 7

I. Sozialpädagogik und qualitative Forschung:


theoretische und methodologische Grundfragen
Andreas Hanses
Biographie und sozialpädagogische Forschung ..................................... 19

Wem er Thole
"Wir lassen uns unsere Weitsicht nicht verwirren". Rekonstruktive,
qualitative Sozialforschung und Soziale Arbeit - Reflexionen über
eine ambivalente Beziehung ................................................................... 43

Hans-Jürgen v. Wensierski
Rekonstruktive Sozialpädagogik im intermediären Feld eines
Wissenschaft-Praxis-Diskurses. Das Beispiel Praxisforschung.............. 67

II. Qualitative Verfahren in sozialpädagogischen


Forschungsfeldem
Sozialpädagogische Institutionenforschung

Thomas Klatetzki
Skripts in Organisationen. Ein praxistheoretischer Bezugsrahmen
für die Artikulation des kulturellen Repertoires sozialer Einrichtungen
und Dienste ..................................................................................... ,....... 93

Eric van SanteniMike Seckinger


Kooperation in der Kinder- und Jugendhilfe: zwischen Anspruch und
Wirklichkeit. Eine qualitative Feldstudie ... ... ...... ... ... .... .............. .... ...... 119
6

Professionelles Handeln in der Sozialpädagogik

Cornelia Schweppe
Wie handeln Sozialpädagoglnnen?
Rekonstruktionen der professionellen Praxis der Sozialen Arbeit ......... 145

Klaus Kraimer
Zwischen Disziplin und Profession.
Ein Beitrag zur faIlrekonstruktiven Erforschung der
professionalisierten Praxis am Beispiel der "Hilfen zur Erziehung" ...... 167

Eberhard Nölke
Klinische Sozialarbeit. Annäherungen mittels qualitativer Forschung... 185

Karin Bock
Erleidensprozesse im Berufsalltag eines Sozial beamten .. ...................... 207

Adrienne S. Chambon
SociaIly Committed Discourse Analysis and Social Work Practice ....... 225

Sozialpädagogische AdressatInnenforschung

Hansjoerg Sutter
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen
in einem demokratisierten JugendstrafvoIlzug ....................................... 245

Bernhard Haupert
Die Genogrammanalyse als qualitatives Verfahren zur Rekonstruktion
von Deutungsmustern. Eine Fallstudie über "Familiengeheimnisse"
im Bergarbeitermilieu ............ ......... ..................................... ................... 279

Sozialpädagogische Evaluationsforschung

Christian Lüders/Karin Haubrich


Qualitative Evaluationsforschung .......................................................... 305

Stephan WoljJ/Thomas SchejJer


Begleitende Evaluation in sozialen Einrichtungen ................................. 331

Die Autorinnen und Autoren .................................................................. 353


Einleitung

Die Diagnosen über die Entwicklung und den gegenwärtigen Stand der sozial-
pädagogischen Forschung sind nicht immer eindeutig. So konstatieren Rau-
schenbachffhole (1998) ein geringes Ausmaß des derzeitigen sozialpädagogi-
schen Forschungsvolumens, während Jakob (1997) resümiert: ,,Der Eindruck
eines generellen Forschungsdefizits in der Sozialpädagogik, der sowohl inner-
halb der Disziplin selbstkritisch angemerkt als auch aus der Außenperspektive
formuliert wird, lässt sich angesichts der entfalteten Forschungsaktivitäten m.E.
nicht mehr aufrechterhalten. Insbesondere die neuere Entwicklung zeigt die
Vielfalt bearbeiteter Fragestellungen und die Bedeutung der empirischen Er-
gebnisse für den fachlichen und wissenschaftlichen Diskurs" (S. 127). Sicher-
lich besteht kein Zweifel daran, dass die Forschungsaktivitäten in der Sozial-
pädagogik in den letzten Jahren einen erheblichen Aufschwung erfahren haben.
Vielfältige Fragestellungen in zahlreichen Arbeits- und Forschungsfeldern der
Sozialen Arbeit wurden mithilfe eines breiten Spektrums unterschiedlicher
Methoden bearbeitet. Allerdings sind die Forschungsaktivitäten in den rele-
vanten Bereichen der Sozialpädagogik ungleich verteilt. Die Jugendhilfefor-
schung ist weiter fortgeschritten als die Altenhilfeforschung, Forschungsakti-
vitäten im Bereich des professionellen HandeIns ausdifferenzierter als im Be-
reich der sozialpädagogischen Adressatlnnen- oder Institutionenforschung.
Letztendlich lassen sich aber verlässliche Aussagen weder über das Ausmaß
und das Volumen sozialpädagogischer Forschung noch über die Frage, was in
der Sozialen Arbeit mittels Forschung beobachtet und nicht beobachtet worden
ist, kaum treffen (Rauschenbachffhole 1998). Denn eine Forschung über die
sozialpädagogische Forschung, die dazu beitragen könnte, auch diese Fragen
zu klären, ist bislang kaum zu erkennen. Läge diese vor, müsste vielleicht fest-
gestellt werden, dass die sozialpädagogische Forschung doch weiterentwickel-
ter ist, als ihr Ruf vermuten lässt.
Qualitative Forschungsbemühungen, d.h. jener Teil, der das Feld mithilfe
qualitativer Forschungsmethoden erfasst, nehmen innerhalb der sozialpäd-
agogischen Forschung ein großes Segment ein und können mittlerweile auf
eine lange Geschichte zurückblicken. Begrenzt man die qualitative sozial-
pädagogische Forschung nicht vorschnell auf die neuere sozialwissenschaft-
8 Einleitung

lich orientierte Sozialforschung lassen sich rekonstruktive, interpretativ-ver-


stehende Zugänge seit den Anfängen einer wissenschaftlichen Analyse und
Reflexion sozialpädagogischer Handlungsfelder ausmachen (vgl. v. Wen-
sierski 1997). Mit der Konsolidierung und Ausdifferenzierung der qualitati-
ven Forschung in den Sozialwissenschaften seit den 70er und 80er Jahren ha-
ben qualitative Forschungsbemühungen in der Sozialpädagogik zudem einen
erheblichen Aufschwung erfahren. Das Themenspektrum und das Gesamt-
volumen haben sich seit diesem Zeitpunkt erheblich vergrößert und ausdiffe-
renziert. Dabei ist der wichtigste Einfluss dieser Entwicklung wohl von den
zahlreichen methodologischen Ansätze im Rahmen des Interpretativen Para-
digmas ausgegangen, die mittlerweile auch im Vordergrund qualitativer For-
schungsbemühungen innerhalb der Sozialpädagogik stehen. Eine qualitativ
angelegte Forschung ist innerhalb der Sozialpädagogik gegenwärtig häufiger
anzutreffen als eine quantitative. Insgesamt scheint sich die sozialpädagogi-
sche Forschung eher subjekt-, milieu- und lebens weltlich orientierten Verfah-
ren zuzuwenden (vgl. Rauschenbachffhole 1998, S. 22).
Die lange Tradition und das Übergewicht qualitativer Zugänge innerhalb
der sozialpädagogischen Forschung sind sicherlich kein Zufall, sondern stehen
in engem Zusammenhang mit den historischen Entwicklungen und den theore-
tischen und professionsbezogenen Fundamenten der Sozialpädagogik. Durch
lebensweltliche Konzepte der Sozialen Arbeit, die nach den subjektiven Bewäl-
tigungs- und Handlungsmustern der Adressatinnen und sozialer Problemlagen
fragen und hinsichtlich der sozialpädagogischen Forschung die Bedeutung von
Lebensweltanalysen, von lebensweltlichen Voraussetzungen und Potenzialen
sowie von Verstehensprozessen herausstellen, durch die Prozesshaftigkeit und
Fallförmigkeit sozialer Problemlagen und sozialpädagogischen HandeIns sowie
die Bedeutung von Bildungsprozessen und biographischen Dimensionen inner-
halb der Sozialpädagogik lässt sich eine gewisse Nähe der sozialpädagogischen
Forschung zu qualitativen Verfahren erklären. Allerdings ist es unzulässig, aus
dieser Nähe die immer wieder zu findende Schlussfolgerung einer spezifischen
Affinität der sozialpädagogischen Forschung zu qualitativen Verfahren, gar
Prädestination qualitativer Methoden zu ziehen. So überzeugend die Gründe für
den Einsatz qualitativer Methoden in der sozialpädagogischen Forschung auch
sein mögen und so sehr qualitative Verfahren für bestimmte Fragestellungen,
Forschungsgegenstände und -felder der richtige und geeignete Weg sind, so
problematisch und unzulässig ist es, sozialpädagogische Forschung mit quali-
tativer Forschung gleichzusetzen. Zum einen können qualitative Verfahren
immer nur einen Ausschnitt sozialpädagogisch relevanter Forschungsfragen
und -gegenstände abdecken. Zum zweiten würde aber über die These der Affi-
nität sozialpädagogischer Forschung zu qualitativen Verfahren das Spezifikum
sozialpädagogischer Forschung über methodische Zugänge definiert. Dieses
konstituiert sich jedoch nicht über spezifische methodische Verfahren, sondern
kann sich nur aus einer inhaltlich-disziplinären, sozialpädagogisch begründeten
Forschungskonzeption und entsprechenden Forschungsfragen ergeben (vgl.
Einleitung 9
Lüders 1998). Zum dritten würde über die Affinitäts-These die Wahl des me-
thodischen Vorgehens von vornherein entschieden, anstatt sie aus der entwik-
kelten Fragestellung und den zu ihrer Beantwortung notwendigen Daten zu
bestimmen (vgl. LüderslRauschenbach 2001, S. 567).
Obwohl die qualitative sozialpädagogische Forschung auf eine lange Ge-
schichte zurückblicken und ein wachsendes Volumen aufweisen kann, lässt
sich allerdings gleichzeitig - wie für die sozialpädagogische Forschung ins-
gesamt - feststellen, dass dies bislang kaum zu einer innerdisziplinären, auf-
einanderbezogenen Kommunikation und Verständigung über die qualitative
sozialpädagogische Forschung als Teil der sozialpädagogischen Forschungs-
landschaft geführt hat. Die Forschungsaktivitäten sind bislang oft nicht aus
dem Status singulärer Einzelforschungen hinausgekommen und lassen bis-
lang kaum einen inneren Zusammenhang erkennen. Sie sind oft unverbunden
und wenig aufeinander bezogen, vernetzt oder zu Forschungsschwerpunkten
gebündelt worden. Und obwohl sich für die qualitative sozialpädagogische
Forschung in Ansätzen eine methodologische Diskussion erkennen lässt (v gl.
Lüders 1998), bleiben grundlegende theoretische und methodologische Fra-
gen ungeklärt. Über welche theoretischen bzw. methodologischen Konzepte
lässt sich eine originäre, qualitativ angelegte sozialpädagogische Forschung
überhaupt fassen? Was macht die Spezifizität qualitativer sozialpädagogi-
scher Forschung überhaupt aus? Worin liegen ihre Erkenntnismöglichkeiten
und ihre Grenzen? Welche Gegenstände und Forschungsfragen kann sie im
Rahmen der sozialpädagogischen Forschung abdecken und beantworten?
Wie gestalten sich fachlich vertretbare Forschungsdesigns und gegenstands-
angemessene Forschungszugänge (vgl. Rauschenbachrrhole 1998)? Was
sind die Gütekriterien einer qualitativen sozialpädagogischen Forschung?
Das vorliegende Buch nimmt seinen Ausgangspunkt in diesem Mangel
innerdisziplinärer Verständigung. Sein wesentliches Ziel besteht darin, qua-
litative Forschungsbemühungen in der Sozialpädagogik (erstmalig) zu bün-
deln, die Bedeutung und den Erkenntnisgewinn des qualitativen Forschungs-
paradigmas für die sozialpädagogische Forschung und seinen Ertrag für den
fachlichen und wissenschaftlichen Diskurs sichtbar zu machen und über die
Zusammenführung der in diesem Buch bearbeiteten Forschungsfragen und
-konzepte und der dargestellten Forschungsprojekte Impulse zur Entwicklung
eines eigenständigen Diskurses und einer innerdisziplinären Kommunikation
über die theoretischen und methodologischen Grundfragen und Grundlagen,
die Spezifizität, den Gegenstandsbereich, die Erkenntnismöglichkeiten, die
Gütekriterien, aber auch die Grenzen und Schwierigkeiten der qualitativen
sozialpädagogischen Forschung zu geben und so zur Entwicklung eines ei-
genständigen, qualitativ angelegten sozialpädagogischen Forschungsfeldes
beizutragen.
Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil wendet sich theoreti-
schen und methodologischen Grundfragen der qualitativen sozialpädagogi-
schen Forschung zu und beleuchtet sie aus unterschiedlichen Blickwinkeln.
10 Einleitung

Hanses wendet sich der (bislang ungeklärten) Frage zu, über welche
theoretischen bzw. methodologischen Konzepte sich eine originäre, qualitativ
angelegte sozialpädagogische Forschung fassen lässt und greift diesbezüglich
das Konzept der Biographie auf. Er arbeitet vier Dimensionen heraus, die in
biographischen Selbstthematisierungen eingelagert sind, nämlich den Zu-
sammenhang von Subjekt und Struktur, die Bedeutung des Körpers und des
Leibes, die Relevanz von Prozess- bzw. Leidensstrukturen sowie institutio-
nelle und professionelle Interaktionsordnungen und diskutiert, ob und inwie-
weit diese Dimensionen sinnvolle heuristische Kategorien im Hinblick auf
eine qualitative sozialpädagogische Forschung darstellen. Er kommt zu dem
Schluss, dass der Biographieforschung keineswegs die Bedeutung des Kö-
nigsweges in der sozialpädagogischen Forschung beigemessen werden kann,
Biographie sich aber als ein wesentliches Rahmenkonzept und eine Kernka-
tegorie zur Konstituierung einer sozialpädagogischen Forschung erweist und
die Frage nach der Eigenständigkeit sozialpädagogischer Forschung ein we-
sentliches Stück weiterbringen könnte.
Auch Thole wendet sich methodologischen Grundfragen einer sozialpäd-
agogischen Forschung zu. Er bettet die qualitative sozialpädagogische For-
schung in den Gesamtzusammenhang des "sozialpädagogischen Projektes"
(Theorie, Praxis, Ausbildung und Forschung) ein und wendet sich der Frage
zu, über welchen Zuschnitt und welches Profil sich eine mit dem Etikett "so-
zialpädagogisch" versehene Forschung im Rahmen des sozialpädagogischen
Gesamtprojektes legitimiert und inwieweit die Sozialpädagogik bislang auf
eine systematische, methodisch abgesicherte und über allgemeine Standards
fundierte Forschungspraxis verfügt. Ein kritischer Blick hinter die bisherige
qualitative Forschungspraxis in der Sozialpädagogik führt ihn zur Notwen-
digkeit der Formulierung von Qualitätsstandards, ohne die nicht nur die Pro-
filierung qualitativer Ansätze innerhalb der sozialpädagogischen Forschung
zur Debatte stehe, sondern auch ihr Beitrag zur Weiterentwicklung der Sozi-
alpädagogik insgesamt und insbesondere ihrer Theorieentwicklung.
V. Wensierski greift die die sozialpädagogische Forschung schon lange be-
gleitende Frage nach dem Verhältnis von Forschung und Praxis auf. Auf dem
Hintergrund des historisch engen Bezugs (qualitativer) sozialpädagogischer
Forschungsbemühungen zur sozialpädagogischen Praxis und den vielfältigen
konzeptionellen Überlegungen, die auch heute Forschung und Praxis zusam-
menführen und Forschung als Instrument zur Optimierung von praktischen
Handlungsproblemen verstehen, ist es in der Forschungstradition der Sozialen
Arbeit bis in die Gegenwart hinein oftmals zu einer unreflektierten bzw. unbe-
fangenen Vermischung der Ebenen von wissenschaftlicher Forschung und so-
zialpädagogischer Praxis und der mangelnden Beachtung struktureller Diffe-
renzen zwischen wissenschaftlichen und handlungspraktischen Strukturlogiken
gekommen. V. Wensierski negiert diese Differenzen keineswegs. Er geht aber
davon aus, dass es eine Schnittmenge zwischen sozialpädagogischer Praxis und
Forschung gibt, zumal es sich in bei den Fällen um Kommunikationsgemein-
Einleitung 11

schaften handele, die strukturell aufeinander angewiesen und deshalb um


wechselseitige Verständigung bemüht seien. Diese von v. Wensierski als in-
termediäres Feld bezeichnete Schnittmenge, zu deren Entwicklung qualitativen
und rekonstruktiven Verfahren eine herausgehobene Bedeutung zukommen,
versteht er als ein soziales Interaktionsfeld zwischen ForscherInnen und Prakti-
kerlnnen bzw. als Institutionalisierung eines Wissenschaft-Praxis-Diskurses.
Der Autor greift das Beispiel der Praxisforschung als Prototyp dieses interme-
diären Feldes heraus und diskutiert hieran exemplarisch dessen Struktur.
Der zweite Teil des Buches wendet sich qualitativen Forschungszugän-
gen in vier sozialpädagogischen Forschungsfeldern zu. Die ersten drei Kapi-
tel greifen die Forschungsfelder der sozialpädagogischen Institutionenfor-
schung, des professionellen HandeIns in der Sozialpädagogik und der sozial-
pädagogischen AdressatInnenforschung auf. Diese Unterteilung greift auf je-
nen Bestimmungsversuch sozialpädagogischer Forschung zurück, der vor
dem Hintergrund der zentralen sozialpädagogischen Theoriedebatten der
letzten Jahrzehnte davon ausgeht, dass das sozialpädagogische Forschungs-
feld anhand von drei Eckpunkten aufgespannt werden kann: den zuständigen
Institutionen, den in ihnen tätigen Professionellen bzw. beruflich oder ehren-
amtlich Tätigen und den AdressatInnen (vgl. Lüders 1997, 1998; Lüders/
Rauschenbach 2001; auch Flösser 1994). Dabei lassen sich diese Eckpunkte
nicht als voneinander losgelöste Dimensionen oder Einheiten verstehen, son-
dern das spezifisch Sozialpädagogische und sozialpädagogische Forschung
sind durch das vielschichtige Spannungsverhältnis zwischen ihnen gekenn-
zeichnet (vgl. Lüders/Rauschenbach 2001, S. 566). Für jedes dieser drei For-
schungsfelder werden mithilfe qualitativer Verfahren durchgeführte For-
schungsprojekte bzw. qualitative Forschungskonzepte vorgestellt, anhand de-
rer methodologische Fragen, die Einsatzmöglichkeiten, das methodische Vor-
gehen, das Erkennntispotenzial, aber auch die Grenzen und Schwierigkeiten
qualitativer Verfahren sowie deren Ertrag für den fachlichen und wissen-
schaftlichen Diskurs und die sozialpädagogische Forschung diskutiert und
sichtbar gemacht werden.
Diese drei Forschungsfelder werden im vierten Kapitel um den Bereich der
qualitativen Evaluationsforschung in der Sozialpädagogik ergänzt. Evaluation
kann mittlerweile auf eine breite Forschungspraxis in der Sozialen Arbeit zu-
rückgreifen. Sie erhält durch den zunehmenden gesellschaftlichen Druck auf
die Soziale Arbeit, differenziert und begründet Auskunft über die Effekte und
Effektivität sozialer Maßnahmen und Dienste zu geben sowie durch die staatli-
che Förderpraxis, die in den letzten Jahren Evaluation als ein wichtiges Thema
für die politische Steuerung entdeckt hat, eine besondere Brisanz (vgl. Lüders
1997). Innerhalb der Evaluationsforschung allgemein und auch in der sozial-
pädagogischen Evaluationsforschung führen qualitative Verfahren eher noch
ein Schattendasein. Eine methodologische Diskussion über die qualitative
Evaluationsforschung lässt sich bislang wenig erkennen. Diese Lücke soll zum
Anlass genommen werden, um methodologischen Fragen der qualitativen Eva-
12 Einleitung

luationsforschung nachzugehen, ihre Erkenntnispotenziale auszuleuchten und


nach tragfähigen Forschungskonzepten und -verfahren zu fragen. Zwar ließe
sich die Evaluationsforschung auch dem Bereich der sozialpädagogischen In-
stitutionenforschung zuordnen (vgl. LüderslRauschenbach 2001, S. 565). Er
wird hier aber als ein eigenständiger Forschungstyp verstanden, der einer ei-
genständigen methodologischen Diskussion bedarf (v gl. LüdersfHaubrich in
diesem Band) und deshalb in einem eigenen Kapitel diskutiert werden soll.
Das Kapitel zur sozialpädagogischen Institutionenforschung wird mit
dem Beitrag von Klatetzki eröffnet. Auf dem Hintergrund einer bislang kaum
etablierten Forschungspraxis und systematisch geführten methodologischen
Diskussion zur qualitativen Erforschung sozialer Dienste und Einrichtungen,
greift der Autor den praxistheoretischen Ansatz auf, der nach seiner Auffas-
sung die bisherige Dualität organisationstheoretischer Zugänge zu sozialen
Einrichtungen überwindet. Diese haben bislang Organisationen entweder als
soziale Systeme, als überindividuelle, objektive und determinierende Realität,
aber nicht als Träger von Sinn und Bedeutung verstanden. Oder aber sie ver-
fallen ins Gegenteil und begreifen das Sinn- und Bedeutungssystem einer Or-
ganisation als Gesamtheit individueller Sinnvorstellungen und setzen somit
am Individuum als Träger von Sinn und Bedeutung an. Der Autor stellt den
praxistheoretischen Ansatz als "dritten Weg" organisationstheoretischer Zu-
gänge zu sozialen Einrichtungen vor, indem dieser weder vom System noch
von den Individuen ausgeht, sondern von Praktiken, genauer: von Routinen
des Alltagslebens, die das Grundelement dieser theoretischen Perspektive
bilden. Klatetzki diskutiert die diesem Ansatz zugrunde liegenden Begriffe
(Routine und Wissen) und erörtert methodologische und methodische Impli-
kationen und Konsequenzen dieses Ansatzes zur qualitativen Erforschung so-
zialer Einrichtungen und Dienste.
Eine konkrete Studie zur qualitativ angelegten sozialpädagogischen In-
stitutionenforschung legen van Santen und Seckinger vor, die in die noch
junge Tradition der Ethnographien von Organisationen einzuordnen ist. Die
Studie fragt nach Kooperationen in der Kinder- und Jugendhilfe und unter-
sucht diese Frage anhand von vier Kooperationszusammenhängen in zwei
Jugendamtsbezirken. Die Autoren diskutieren ausführlich die methodische
Anlage der Studie, die mithilfe mehrerer qualitativer Verfahren, vor allem
leitfadengestützter Interviews, Beobachtungen und der Dokumentenanalyse
durchgeführt wurde, und stellen die zentralen Ergebnisse der Untersuchung
vor. Abschließend diskutieren sie den besonderen Erkenntnisgewinn des ge-
wählten methodischen Vorgehens.
Den Ausgangspunkt des Forschungsfeldes "Professionelles Handeln in
der Sozialen Arbeit" bildet die Frage nach dem Professionalisierungsgrad
und der Professionalisierbarkeit sowie der Struktur und den Kernproblemen
sozialpädagogischen HandeIns, die Schweppe, Kraimer und Nölke durch Re-
konstruktionen der beruflichen bzw. professionellen Praxis der Sozialen Ar-
beit in unterschiedlichen Arbeitsfeldern bearbeiten.
Einleitung 13

Schweppe stellt anhand einer Fallrekonstruktion Ergebnisse aus einem


Forschungsprojekt vor, das die berufliche Handlungspraxis aus der Sicht von
SozialpädagogInnen mithilfe leitfadengestützter narrativer Interviews rekon-
struiert. In den Interviews werden SozialpädagogInnen zu umfangreichen und
detaillierten Erzählungen über ihre berufliche Praxis aufgefordert, um auf
diese Weise die je eigene Sicht auf die berufliche Praxis und die je eigenen
Handlungs-, Deutungs- und Erklärungsmuster zu erfassen. Während die theo-
retisch geführte Professionalisierungsdebatte aufgrund der Entstandardisie-
rung und Offenheit der Sozialen Arbeit die Notwendigkeit des situativen
Aushandelns und die Bedeutung von Interaktion und Kommunikation und
aufgrund der vielfältigen Ambivalenzen, Riskanzen und potenziellen Fehler
sozialpädagogischen HandeIns die Bedeutung einer reflexiven Professionali-
sierung konstatiert, legen die in der Erzählung des in diesem Beitrag vorge-
stellten Falles eines in der offenen Jugendarbeit tätigen Sozialpädagogen ent-
haltenen Selbstbeschreibungen Deutungen seiner Praxis offen, in denen eine
dialogische Verständigung mit den AdressatInnen wenig zu erkennen ist,
sondern Bevormundung und Standardisierung sowie die Orientierung an un-
reflektierten und nicht hinterfragten Generalisierungen den Umgang mit ih-
nen prägen und ihr Einpassen in gesellschaftlich definierte Normalitätsent-
würfe als Perspektive entwickelt wird.
Auch das von Kraimer vorgestellte fallrekonstruktive Verfahren zielt auf
die Rekonstruktion professionellen HandeIns und die Erforschung der profes-
sionalisierten Praxis der Sozialen Arbeit und wird am Beispiel des Arbeitsfel-
des der "Hilfen zur Erziehung" konkretisiert. Im Zentrum der in diesem Beitrag
vorgestellten Fallrekonstruktion der Praxis der "Hilfen zur Erziehung" steht die
Frage nach ihrer institutionellen Ausgestaltung sowie die Analyse der in diesen
institutionellen Vorgaben eingebetteten Perspektiven der Professionellen. Die
Datengrundlage der Fallrekonstruktion bilden schriftliche Dokumente des
ASDs als Organisationseinheit der "Hilfen für Erziehung" sowie narrative Ex-
perteninterviews mit den für dieses Arbeitsfeld zuständigen Professionellen.
Als zentrales Ergebnis der Fallrekonstruktion hält Kraimer die Struktur der Bü-
rokratisierung in der Organisationseinheit ASD sowie die der professionellen
Deformation in der Ausgestaltung der Maßnahmen fest.
Im Mittelpunkt des Beitrages von Nölke stehen zwei Fallanalysen aus der
Praxis von SozialarbeiterInnen in der klinischen Sozialarbeit, die die unter-
schiedlichen Funktionen qualitativer Fallanalysen im Bereich der sozialpäd-
agogischen Praxis verdeutlichen. Das erste Beispiel basiert auf dem mithilfe
eines narrativen Interviews mit einer Sozialarbeiterin zu ihrer klinischen Ar-
beit gewonnenen Materials, aus dem rekonstruktiv die Struktur der klinischen
Tätigkeit und der Verlauf einer Intervention in der Tagesklinik einer Kinder-
und Jugendpsychiatrie erschlossen wird. Während dieser Typ der Fallanalyse
auf die wissenschaftliche Erschließung der Struktur und der Kernprobleme
des Arbeitsfeldes zielt, steht bei der zweiten Fallanalyse die weitere Profes-
sionalisierung der praktischen Tätigkeiten im Mittelpunkt. Die Fallanalyse
14 Einleitung

stammt aus einem integrierten Forschungs- und Weiterbildungsprojekt, in


dem PraktikerInnen im Rahmen von sozialwissenschaftlichen Fallanalysese-
minaren auf der Grundlage selbsterhobenen und verschriftlichten Fallmateri-
als ihr berufliches Handlungsfeld, klienteie Verläufe und institutionelle
Strukturen im Hinblick auf eine weitere Professionalisierung ihrer Arbeit
analysierten und den Hiatus zwischen sich bereits vollziehender, professio-
nalisierungsbedürftiger klinischer Praxis und Formen der distanzbildenden
rekonstruktiven Analyse dieser Praxis vermitteln sollte.
Bock wendet sich einer im Rahmen des professionellen Handeins bislang
kaum bearbeiteten Frage zu. Entgegen der gängigen Thematisierung von Lei-
densprozessen derjenigen in der Sozialpädagogik, die die AdressatInnen der So-
zialen Arbeit ausmachen, stehen dagegen im Zentrum des Erkenntnisinteresses
von Bock Leidensprozesse derjenigen, die die Hilfeleistungen in der Sozialen Ar-
beit erbringen. Welche Dynamik entsteht im beruflichen Alltag von Fachkräften
der Sozialen Arbeit, wenn ihr Leben durch biographische Krisen, Prozesse des
Erleidens und das Zusammenbrechen von Handlungsroutinen gekennzeichnet
ist? Zur Untersuchung dieser Frage greift die Autorin auf das Verlaufskurven-
konzept zurück, das sich die Sozialpädagogik sowohl in ihren Theoriedebatten
als auch im Rahmen ihrer empirischen Forschung bislang wenig zunutze ge-
macht hat und rekonstruiert die Erleidenskarriere eines mithilfe eines narrativen
Interviews erhobenen Falles eines im Sozialamt tätigen Sozialbeamten. Bock
macht deutlich, dass das Konzept der Verlaufskurve einen geeigneten for-
schungsmethodologischen Zugang für die Sozialpädagogik darstellt.
Chambon wendet sich diskursanalytischen Verfahren zur Erforschung der
sozialpädagogischen Praxis zu. Anhand von Interviews, Gesprächsmitschnitten
und Verwaltungsdokumenten analysiert sie diskursanalytisch sozialpädagogi-
sch begleitete Gruppenprozesse, therapeutische Interaktionen, sozialpädagogi-
sche Fallarbeit sowie institutionelle Rahmenbedingungen der sozialpädagogi-
schen Praxis und macht auf diese Weise den Wert von Diskursanalysen für die
Untersuchung der Bedeutung von Sprache und das Offenlegen diskursiver
Praktiken innerhalb der beruflichen Praxis von SozialarbeiterInnen deutlich.
Gleichzeitig weist sie auf Potenziale diskursanalytischer Verfahren zur Verän-
derung diskursiver Praktiken und der mit ihnen verbundenen sozialen Bezie-
hungen in der Sozialen Arbeit hin.
Forschungen zur sozialpädagogischen AdressatInnenforschung legen Sut-
ter und Haupert vor. Im Mittelpunkt des Interesses von Sutter steht die Frage
der Moralentwicklung in institutionalisierten Kontexten der Erziehung bzw.
Sozialpädagogik, die theoretisch in der sozial-kognitiven Forschungstradition
verortet und anhand der mithilfe der Objektiven Hermeneutik durchgeführten
Analyse einer Alltagsszene in einem demokratisierten Jugendstrafvollzug -
konkret: anhand einer Anfangsszene einer "Demokratischen Gemeinschafts-
versammlung" - untersucht wird. In seinen die Analyse dieser Alltagsszene ab-
strahierenden Überlegungen kommt der Autor zu dem Schluss, dass sich aus
ähnlich verlaufenden Szenen drei Lern- und Entwicklungschancen ergeben
Einleitung 15

können: die Einübung basaler Grundstrukturen demokratischen HandeIns und


die kognitive Realisierung der ihnen zugrunde liegenden Reziprozitätsformen,
die Ausbalancierung widerstreitender Normensysteme zur Realisierung sach-
lich kohärenter Problemlösungen und die bewusste Auseinandersetzung mit
den Widersprüchlichkeiten des Vollzugsalltags.
Der Beitrag von Haupert wendet sich der Frage nach der generationalen
Tradierung farnilialer Deutungsmuster zu, die der Autor anhand einer mithilfe
der Genogrammanalyse durchgeführten rekonstruktiven Fallstudie einer Fa-
milie aus einem "sozialen Brennpunkt" untersucht. Der Autor begründet die
Relevanz seiner Fragestellung für eine sozialpädagogische AdressatInnenfor-
schung mit den Erfahrungen einer häufig anzutreffenden Konsistenz generatio-
nenübergreifender sozialer Deutungsmuster sozialpädagogischer Adressatinnen
in sozialen Brennpunkten, die den Umgang der Klientlnnen mit "Ämtern" und
Professionellen als auch biographische Perspektiven prägen. Als Datenmaterial
der Fallrekonstruktion stehen biographisch-narrative Interviews mit Familien-
mitgliedern aus drei Generationen zur Verfügung, mit deren Hilfe ein Geno-
gramm über vier bzw. fünf Generationen erstellt wurde. Mit der Genogramm-
analyse greift der Autor auf ein Verfahren zurück, das als sozialwissenschaftli-
ches Forschungsverfahren bislang noch wenig entwickelt ist.
Mit der qualitativen Evaluationsforschung in der Sozialpädagogik be-
schäftigen sich die Beiträge von LüderslHaubrich und Wo lfflScheffers. In ih-
rem grundlagentheoretisch angelegten Beitrag wenden sich Lüders und Hau-
brich zentralen methodologischen Fragestellungen qualitativer Evaluations-
forschung zu. Sie fragen zunächst danach, was qualitative Evaluationsfor-
schung überhaupt ist und beschreiben sie als eigenständigen Forschungstyp.
Die AutorInnen wenden sich dann ausführlich der englischsprachigen, vor
allem nordamerikanischen Diskussion zur qualitativen Evaluationsforschung
zu, wo sich im Gegensatz zu Deutschland mittlerweile differenziert geführte
Debatten entwickelt haben. Allerdings wird auch in der nordamerikanischen
Diskussion die aus Sicht der AutorInnen zentrale methodologische Frage der
qualitativen Evaluationsforschung nicht diskutiert. Wenn ein wesentliches
Element der (qualitativen) Evaluationsforschung die Bewertung der Güte
oder des Nutzens eines Untersuchungsgegenstandes ist, dann stellt sich nach
Ansicht der AutorInnen nämlich die Frage, wie eine solche Bewertung als
Ergebnis qualitativer Forschung möglich ist und welche Gütekriterien hierfür
herangezogen werden können. Auf der Suche nach Antworten gehen die Au-
torInnen davon aus, dass die bekannten Verfahren qualitativer Sozialfor-
schung nicht ohne weiteres auf den Bereich Evaluation übertragen werden
können. Ihren Beitrag abschließend wenden sie sich dem gegenwärtigen
Stand der qualitativen Evaluationsforschung in der Sozialpädagogik zu.
Dem Beitrag von Wolfund Scheffer liegt ein Verständnis von qualitativer
Evaluation zugrunde, dessen Kernelement von ihnen mit Prozesshaftigkeit
bezeichnet wird. Prozesshaftigkeit beziehen die Autoren zum einen auf die
Absicht, Evaluationen nicht nur zum Zwecke der Wirksamkeitskontrolle so-
16 Einleitung

zialer Maßnahmen und Institutionen, sondern bereits bei der Entwicklung


und Umsetzung von (Reform)maßnahmen einzusetzen. Zum zweiten bezie-
hen sie Prozessorientierung auf die Evaluation selbst. Sie wird als Prozess
geplant und durchgeführt, in dem Kommunikation zum zentralen Medium
wird. Anhand eines Evaluationsprojektes in einem großstädtischen Jugend-
amt, das sich eine tiefgreifende Umorientierung der Hilfen zur Erziehung
zum Ziel gesetzt hatte, machen die Autoren deutlich, welche Bedeutung, me-
thodische Anforderungen und mögliche Problemkonstellationen dieses Ver-
ständnis von Evaluation für seine konkrete Umsetzung hat.

Literatur

Flösser, G.: Soziale Arbeit jenseits der Bürokratie. Über das Management des Sozia-
len. Neuwied 1994
Jakob, G.: Sozialpädagogische Forschung. Ein Überblick über Methoden und Ergeb-
nisse qualitativer Studien in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit. In: Jakob, G./
Wensierski, H.-J. v. (Hrsg.): Rekonstruktive Sozialpädagogik. Konzepte und Me-
thoden sozialpädagogischen Verstehens in Forschung und Praxis. Weinheiml
München 1997, S. 125-160
Lüders, Chr.: Qualitative Kinder- und Jugendhilfeforschung. In: Friebertshäuser, B./
Prengel, A. (Hrsg.): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erzie-
hungswissenschaft. WeinheimlMünchen 1997, S. 795-810
Lüders, Chr.: Sozialpädagogische Forschung - was ist das? Eine Annäherung aus der
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Wensierski, H.-J. v.: Verstehende Sozialpädagogik. Zur Geschichte und Entwicklung
qualitativer Forschung im Kontext der Sozialen Arbeit. In: Jakob, G.lWensierski,
H.-J. v. (Hrsg.): Rekonstruktive Sozialpädagogik. Konzepte und Methoden sozi-
alpädagogischen Verstehens in Forschung und Praxis. WeinheimIMünchen 1997,
S.77-124

Cornelia Schweppe
Frankfurt, im Sommer 2002
I. Sozialpädagogik und
qualitative Forschung:
theoretische und
methodologische Grundfragen
Andreas Hanses

Biographie und sozialpädagogische Forschung

1. Einleitung

In den letzten zehn Jahren des "Sozialpädagogischen Jahrhunderts" (vgl.


Rauschenbach 1999) sind für die Soziale Arbeit zwei wesentliche Entwick-
lungen zu benennen. Der eine Schwerpunkt betrifft das Anliegen, Soziale
Arbeit als Dienstleistung zu konzipieren (vgl. Schaarschuch 1999; Bauer
2001). Diskurse zu Non-Profit-Organisationen, Organisationsentwicklung
(vgl. Flösser/Schmidt 1999), Sozialmanagement (vgl. Luthe 1997), Qualitäts-
sicherung sozialer Dienstleistungen und die zunehmende Ökonomisierung im
Sozial- und Gesundheitsbereich (vgl. DahmelWohlfahrt 2000) bestimmen
hier die Auseinandersetzung über die Weiterentwicklung der Sozialen Arbeit.
Im Mittelpunkt der Diskussion steht die Frage, wie organisatorische und in-
stitutionelle Strukturen gestaltet werden können, damit die zur Verfügung ge-
stellten Dienstleistungen von den AdressatInnen adäquat aufgegriffen werden
können.
Parallel zu dieser organisationsbezogenen Perspektive haben sich unter-
schiedliche Ansätze einer ,,rekonstruktiven Sozialpädagogik" (vgl. Jakob/v.
Wensierski 1997) entwickelt. Hierzu gehören Diskurse und methodische
Entwicklungen zum Fallbezug (vgl. GildemeisterlRobert 1997), zur Fallana-
lyse (vgl. Kraimer 2000), zum ethnographischen Verstehen (vgl. Schütze
1994) und zur hermeneutischen Diagnose in der Sozialpädagogik (vgl. Uh-
lendorf 1997, 1997a; Peters 1999). Mit der Integration der Methoden qualita-
tiver Sozialforschung in die Soziale Arbeit bildet sich ein "hermeneutisch-
reflexiver Stil" professioneller Praxis (Schumann 1994, S. 55) aus, der zu ei-
ner wissenschaftlich fundierten Kasuistik beitragen soll. Zentrales Anliegen
dieser Ansätze ist es, für die professionelle Praxis die biographische und so-
ziale Wirklichkeit der AdressatInnen, die Kontextualität und Komplexität des
,,Falles" "methodisch kontrolliert" verstehbar zu machen: Sozialpädagogi-
sche Hilfen sollen sinnvoll an den Ressourcen und Bedürfnissen der Nutze-
rInnen ausgerichtet werden.
Die Dienstleistungsdiskussion und die Beiträge zur rekonstruktiven Sozi-
alpädagogik haben sich unabhängig voneinander entwickelt. Diese unter-
schiedlichen Entwicklungen ziehen oftmals eine Separation von organisati-
20 Andreas Hanses

ons- und fallbezogenen Diskussionen in der Sozialen Arbeit nach sich, ob-
wohl- wie Christian Lüders (1999) treffend bemerkt - beide Entwicklungs-
linien zwei Seiten der gleichen Medaille thematisieren (S. 217).
Sowohl parallel als auch quer durch beide thematische Schwerpunkte
hindurch hat der Diskurs zur Professionalisierung der Sozialen Arbeit einen
weiten Raum in der gegenwärtigen sozialpädagogischen Debatte eingenom-
men. Die Dienstleistungsdiskussionen ebenso wie der neu definierte Fallbe-
zug verleihen auf ihre je eigene Art und Weise den Debatten über die Profes-
sionalisierung der Sozialen Arbeit neue Impulse und Konturen. Dagegen se-
hen die Erörterungen zur Disziplinbildung der Sozialpädagogik und Sozialen
Arbeit relativ bescheiden aus. Diskussionen zur sozialpädagogischen For-
schung' lassen sich nur gelegentlich finden. Die "bescheidene Selbstver-
ständlichkeit" von forschungsbezogenen Beiträgen korrespondiert mit gerin-
gen Forschungsaktivitäten in den Feldern der Sozialen Arbeit. Bernd Dewe
und Hans-Uwe Otto (1996) sprechen sogar von einem "gewaltigen For-
schungsdefizit" (S. 21). Der starke Praxisbezug in der Sozialen Arbeit und
die vergleichsweise schwache disziplinäre Ausrichtung lassen eine (eigen-
ständige) sozialpädagogische Forschung zurücktreten. Haben sich in den
letzten Jahren Konzepte der Praxisforschung stärker etabliert (vgl. Müller
1998), so fehlt es dennoch an einer disziplinorientierten "anwendungsbezo-
genen Grundlagenforschung" (OUo 1998, S. 134).
Noch schwieriger wird der Sachverhalt, wenn geklärt werden soll, was
denn eine sozialpädagogische Forschung konstitutiv ausmacht, zum al Werner
Thole (1999) darauf hinweist, dass ein Teil sozialpädagogischer Forschung
entweder als "sozialpädagogische Import- oder Export-Forschung" zu verste-
hen ist. Gemeint sind also Forschungen, die sich entweder nicht auf sozial-
pädagogische Diskurse oder nicht auf sozialpädagogische Fragestellungen
beziehen. Sozialpädagogische Forschung müsste nach Thole (1999) ein De-
sign besitzen, das unterschiedliche Perspektiven zu verknüpfen vermag: Sie
müsste mit einem "sensibilisierenden Konzept" ausgestattet sein, das sowohl
,,Feld- und Bildungsbezug", "Subjekt- und Strukturperspektive" und "institu-
tionelle und personale Aspekte" erfassen kann (S. 230; auch Rauschen-
bachfThole 1998, S. 20). Sozialpädagogische Forschung erfordert somit ei-
nen multiperspektivischen Zugang zum ,,Feld"; die Problemlagen der Adres-
satInnen müssen folglich vor dem Hintergrund des lebensweltlichen Kontex-
tes und der professionellen Praxis mit ihren Interaktionsordnungen und in-
stitutionellen Rahmungen analysiert werden.
Vor dem Hintergrund der defizitären Situation sozialpädagogischer For-
schung und dem Anspruch nach Komplexitätserfassung sozialer Praxis soll in

Unter dem Begriff sozialpädagogische Forschung ist in diesem Beitrag keine im engeren
Sinne pädagogische Forschung gemeint, sondern das umfassende Repertoire sozial wissen-
schaftlicher Forschungskonzepte, wie sie im gesamten Gegenstandsbereich der Sozialen
Arbeit angewendet werden.
Biographie und sozialpädagogische Forschung 21
diesem Beitrag die Frage gestellt werden, welche Bedeutung das theoretische
und methodische Konzept ,,Biographie" für die Entwicklung und Ausgestal-
tung einer qualitativen anwendungsbezogenen Grundlagenforschung in der
Sozialen Arbeit hat. In der Soziologie und den Erziehungswissenschaften hat
die Biographieforschung ihren festen Platz im methodischen Diskurs qualita-
tiver Sozialforschung erhalten, was sich anhand vielzähliger Publikationen
hinreichend belegen lässt. Auch in der Sozialen Arbeit hat die Biographiefor-
schung Einzug in den Kanon wissenschaftlicher Methoden gehalten (vgl. v.
Wensierski 1999). Dennoch bleibt zu fragen, welche Bedeutung einer bio-
graphieorientierten Methode als ein qualitativer Ansatz hinsichtlich der Ent-
wicklung einer "originären" sozialpädagogischen Forschung zukommt. Ist
die biographische Methode nur eine mögliche Option angesichts der anvi-
sierten sozialpädagogischen Methodenpluralität? Oder ist die Biographiefor-
schung für die Soziale Arbeit - wie in anderen Diskursen zur qualitativen So-
zialforschung programmatisch formuliert - als Königsweg zu beschreiben?
Liefert Biographie als theoretisches und methodologisches Rahmenkonzept
wichtige Beiträge für eine sozialpädagogische Forschung?
Diesen Fragen wird im Folgenden nachgegangen. Zuerst werde ich an
einem Fallbeispiel explizieren, welche Kategorien sozialer Wirklichkeit in
einem biographischen Text zur Sprache kommen. Anschließend werden theo-
retische Dimensionen von Biographie vorgestellt, die für die Etablierung ei-
ner qualitativen sozialpädagogischen Forschung von hoher Relevanz sein
dürften. An diesen grundlegenden Erörterungen anknüpfend, wird abschlie-
ßend die Bedeutung der Biographie für Forschungskonzepte in der Sozialen
Arbeit diskutiert.
Wenn im Folgenden von Biographie die Rede ist, dann beziehen sich die
Erörterungen zentral auf Beobachtungen biographischer Analysen. Biogra-
phie als mögliche Kemkategorie einer sozialpädagogischen Forschung ist da-
bei immer als Konzept einer qualitativen Sozial forschung zu denken. Auf
methodische Erörterungen oder eine systematische Übersicht über biographi-
sche Forschungen in der Sozialen Arbeit wird allerdings im Rahmen dieses
Beitrags verzichtet (v gl. dazu Jakob/v. Wensierski 1997; v. Wensierski
1999). Vielmehr steht die Frage nach der heuristischen Qualität von Biogra-
phie für qualitative Forschungsstrategien in der Sozialen Arbeit im Zentrum
der folgenden Ausführungen.

2. Biographie als erzählte Wirklichkeit

Historisch lässt sich nachzeichnen, dass Biographie mit der Entwicklung der
Moderne nicht mehr nur als Lebensablauf zu beschreiben, sondern vielmehr
als eine soziale Wissens/orm zu verstehen ist (vgl. Alheit 2000, S. 152ff.).
22 Andreas Hanses

Biographie ist also nicht einfach die Summe der Lebensereignisse und -pas-
sagen, sondern vielmehr die Leistung der AkteurInnen, sich in einer moder-
nen Gesellschaft biographisch zu verorten, eine Selbstkonsistenz in der Zeit
hervorzubringen und sich nach außen hin zu präsentieren. Wir haben heute
nicht nur die Freiheit, eine Biographie zu haben. Vielmehr wird sie uns ab-
verlangt, und wir benötigen Biographie für unsere Existenz im sozialen
Raum. Biographie ist somit einerseits als "soziale Konstruktion" (Fischer/
Kohli 1987, S. 27f.) zu begreifen, und andererseits wird sie erzählerisch re-
konstruiert. Diese doppelte Konstruiertheit von Biographie - die soziale wie
die narrative Konstruktion - enthebt die Lebensbeschreibung einem ontologi-
schen Zugriff. Sie erfordert einen Zugang, der der zeitlichen (historischen)
Dimension und der Erzeugungsqualität von Biographie Rechnung trägt.
Biographie als erzählte Lebensgeschichte zu begreifen, impliziert fol-
genden Sachverhalt: Erzählen ist soziale Praxis. Die biographische Narration
bedient sich des Gegenübers, des "signifikanten Anderen", dem Biographi-
sches erzählt wird. Erzählen ist somit in konkreten Interaktionen und sozialen
Settings situiert. Es wird nicht in jeder Situation und nicht jedem Gegenüber
die gleiche biographische Selbstdarstellung präsentiert. Biographie als er-
zählte Lebensgeschichte kann als "sozialer Text" mit stark situativem Ge-
genwartsbezug betrachtet werden. Gleichzeitig ist biographische Selbstprä-
sentation - auch über die Interaktion der Gesprächssituation hinaus - nur
dann möglich, wenn ,,Erinnerungsarbeit" geleistet wird. Das erlebte Leben
wird in der gegenwärtigen Situation neu reformuliert und mittels "kognitiver
Figuren" (vgl. Schütze 1984) in einer ,,Erzählordnung" präsentiert. Wolfram
Fischer-Rosenthal (1999) spricht diesbezüglich von "biographischer Arbeit"
(S. 33ff.), in der eine "strukturelle Koppelung" zwischen kommunikativer
Situiertheit und Erinnerungsarbeit hergestellt wird.
Dabei haben lebensgeschichtliche Narrationen für die Erzählenden nicht
nur die Funktion, sich durch Erinnerungsarbeit der eigenen Lebensgeschichte
zu vergewissern, sondern aus der konkreten Erzählsituation heraus die eigene
Lebensgeschichte zu reformulieren. Das erzählerische Konstruieren der eige-
nen Biographie ist konstitutives Element einer Neuorientierung und Neuset-
zung der ProtagonistInnen. Allerdings sind Erzählungen nicht beliebig: Viel-
mehr besitzen sie eine ,,Erzähl gestalt" (vgl. Rosenthai 1995) oder "Gesamt-
formung" (vgl. Schütze 1981, 1984), mit der Erzählende ihrer biographischen
Selbstdarstellung eine innere Strukturiertheit und Sinnhaftigkeit verleihen.
Die Erzählgestalt ist im Wesentlichen der gegenwärtigen Erzählsituation wie
dem evozierten Erinnerungsstrom geschuldet. Bedeutsam an dieser "Geord-
netheit" inszenierter Neuproduktion erzählter Wirklichkeit ist, dass so der
Blick auf die den biographischen Erzählungen innewohnenden Lebenskon-
struktionen frei wird. Lebenskonstruktionen emergieren aus biographisch
aufgeschichteter sozialer Praxis und konstituieren wesentlich die weiteren
Handlungsausrichtungen und Sinnkonstruktionen der Erzählenden. Biogra-
phie als "biographische Konstruktion" (vgl. Alheit u.a. 1992; Dausien 1996;
Biographie und sozialpädagogische Forschung 23
Hanses 1996) zu begreifen, eröffnet die Perspektive auf die Strukturiertheit
wie das Strukturierende des biographischen Erzählens.
Die Frage bleibt: Welche Bedeutung kommt dieser Erkenntnisperspekti-
ve im Hinblick auf sozialpädagogische Forschung zu? Was eröffnet der so-
ziale Text biographischer Erzählung an neuen oder bedeutsamen Einsichten
in sozialpädagogische Problemstellungen? Anhand einer kurzen biographi-
schen Skizze sollen für die Soziale Arbeit relevante Dimensionen des biogra-
phischen Erzählens deutlich gemacht werden.

2.1 Biographie als (Re-)Konstruktion - Eine Falldarstellung

Die lebensgeschichtliche Erzählung von Frau Feldmann ist im Kontext einer


Untersuchung zur professionellen Praxis des Sozialdienstes im Krankenhaus
im Rahmen der biographischen PatientInnenbefragung erhoben worden (vgl.
HanseslBongartz 2001). 2 Zum Zeitpunkt des Interviews ist Frau Feldmann
gerade unzufrieden aus einer Anschlussheilbehandlung (AHB) nach Hause
zurückgekehrt. Vorausgegangenen ist die Einweisung wegen akuter Schmer-
zen im Brust- und Schulterbereich in ein Allgemeinkrankenhaus. Es wird ein
Herzinfarkt diagnostiziert, und nach einer Stabilisierung der lebensgefährde-
ten Situation wird mit Hilfe des Sozialdienstes im Krankenhaus der Übergang
in eine AHB organisiert. Vor dem Hintergrund dieser lebensgeschichtlichen
Daten könnte gefragt werden, ob es sich hier überhaupt um einen für sozial-
pädagogische Fragestellungen interessanten Fall handelt. Die gesundheitliche
Krise steht im Vordergrund der gegenwärtigen Situation der Erzählerin. Mit
dieser Perspektive erscheint Frau Feldmann erst einmal als ein Fall für die
Medizin. Dennoch wird aufgrund der Art der Selbstpräsentation von Frau
Feldmann sehr schnell deutlich, dass - neben der gesundheitlichen Situation
- noch ganz andere Strukturen sozialer Praxis den Fall konstituieren.
Der erkrankte Körper erweist sich weniger als "dysfunktionales Objekt"
einer Organmedizin. Vielmehr thematisiert die Erzählerin ihre Krankheiten
im Rahmen professioneller Interaktionen. Der Körper wird in den Narratio-
nen zum Gegenstand von Aushandlungsprozessen und Zugriffen Dritter auf
die Integrität und Autonomie der Erzählerin. Auftretende Ohnmachtsanfälle
erhalten in den Selbstbeschreibungen von Frau Feldmann die Bedeutung so-
zialer Dysfunktionalität. Für die Protagonistin führen sie zu extremen Verun-
sicherungen, und die Umwelt reagiert auf diesen situativen Ausfall mit star-
ken Sanktionen. Der erkrankte Leib wird in der Biographie der Erzählerin

2 Mit der folgenden Darlegung einer autobiographischen Selbstpräsentation kann im Rahmen


dieses Beitrages weder eine Fall- noch eine Sequenzanalyse ausgeführt werden. Die vorlie-
gende Falldarstellung soll vielmehr exemplarisch aufzeigen, welche - für eine sozialpäd-
agogische Forschung relevante - Dimensionen lebensgeschichtlicher und sozialer Realität
in einer biographischen Erzählung thematisiert werden.
24 Andreas Hanses
zur zentralen Dimension, über den soziale (Interaktions-)Prozesse ausagiert
werden.
Mit der Thematisierung des Körpers ist vielleicht schon der zentrale
Aspekt in der lebens geschichtlichen Erzählung von Frau Feldmann angedeu-
tet. Es ist die herausragende Relevanz der "signifikanten Anderen", der in-
stitutionalisierten Interaktionen, die zum leitenden biographischen Motiv in
der Erzählung von Frau Feldmann wird. Pointiert formuliert: Im Falle der
vorliegenden Erzählung führt die Interaktion in der Interviewsituation zur
Präsentation einer dramatisch erlebten Interaktionsgeschichte. Die Ge-
schichte der Erzählerin ist eine Geschichte scheiternder Hilfeerfahrungen, der
Fremdbestimmungen, durchzogen vom Gefühl nicht verstanden zu werden.
Diese Erfahrungsmuster werden von Frau Feldmann vor allem in der Begeg-
nung mit Institutionen der Arbeitswelt und des Gesundheitswesens vorge-
stellt. Die Erfahrungen mit der Sozialen Arbeit oder psychotherapeutischen
Praxis reihen sich in dieses Muster ein. Die biographische Erzählung eröffnet
somit Einsicht in die Bedeutsamkeit von professionellen Interaktionen und
ihre Auswirkungen auf die weitere Biographie der einzelnen Menschen. Si-
cherlich, die Erzählungen erlauben keinen Rückschluss auf eine irgend wie
geartete Wirklichkeit professioneller Praxis, aber dennoch dokumentieren sie
Erfahrungsräume und subjektive Evaluierungen, die weitreichende Konse-
quenzen für die Betreffenden haben können. Im Falle von Frau Feldmann ist
es vor allem die wiederholte Erfahrung, dass biographische Bedürfnisse nicht
mit professionellen Hilfsangeboten zusammenkommen. Es fehlt eine Passung
zwischen biographischen Sinnhorizonten, professionellen Wissensbeständen
und institutionell gerahmten Handlungspraxen.
Damit ist auch ein weiterer Aspekt biographischer Selbstthematisierung
in der Erzählung von Frau Feldmann angesprochen: Die biographischen Er-
fahrungen haben System. In der biographischen Selbstthematisierung der Er-
zählerin kommt es zur Erfahrungsaufschichtung destabilisierender biographi-
scher Prozesse. Scheiternde Unterstützungsangebote professioneller Systeme
prozedieren biographische Erfahrungsmuster, führen für die Protagonistin zu
einer Situation des Erschöpftseins und drohen auf einen psychosozialen und
gesundheitlichen Zusammenbruch hinzusteuern. Diese Struktur der Chronifi-
zierung scheiternder Hilfebeziehungen und ihre Folgen werden von der Er-
zählerin in einer bestimmten Erzählgestalt verankert und zum Ausdruck ge-
bracht. Erzählungen ermöglichen eine wichtige Perspektive auf die Prozesse
sozialer Destabilisierungen, ihre Hintergründe und Folgewirkungen. Natür-
lich geben sie darüber hinaus gleichzeitig Aufschluss über die Ressourcen
und Kompetenzen der Menschen, die es ihnen erlauben, mit schwierigen Le-
benslagen umzugehen.
Als möglichen Erklärungszusammenhang für ihre "Geschichte des Nicht-
Verstandenwerdens" durch andere platziert die Erzählerin gleich zu Anfang
ihrer biographischen Rekapitulation die Erfahrung, von den Eltern grundle-
gend abgelehnt zu werden: Frau Feldmann ist Zwillingskind, ihr Bruder stirbt
Biographie und sozialpädagogische Forschung 25
bei der Geburt, und ihre Mutter wirft ihr vor, dass sie lieber einen Sohn haben
wolle. Eine lebensgeschichtIiche Primäretfahrung erweist sich in ihrer Dar-
stellung als möglicher Hintergrund ihrer biographischen Struktur. Die Ableh-
nung von Frau Feldmann durch die Eltern erweist sich allerdings keineswegs
nur als persönliche Erfahrung. Die Erzählung macht gleichermaßen deutlich,
dass die Protagonistin eben als Tochter abgelehnt wird. Hinter dem persönli-
chen Drama verbirgt sich die gesellschaftliche Erfahrung der unterschiedli-
chen Bewertung von Geschlecht. Hier wird ein wesentliches Strukturelement
biographischer Selbstthematisierungen deutlich: Hinter dem Konkreten und
Einmaligen der Lebensgeschichte, hinter dem zutiefst Persönlichen verber-
gen sich oftmals das Allgemeine und die Widersprüche der Lebenswelt und
sozialen Strukturen (vgl. Bourdieu 1997, S. 656).
Mit dieser kurzen Fall skizze sind vier Dimensionen biographischer Selbst-
präsentationen illustriert worden: (a) die Dialektik von Persönlichem und All-
gemeinen, dem Zusammenhang von Subjekt und Struktur, (b) der Bedeutung
des Körpers und Leibes in biographischen und sozialen Prozessen, (c) die Re-
levanz der Prozessstrukturen biographischer Gestaltung - hier ein ,,Erleidens-
verlauf' - und (d) die Bedeutsamkeit von institutionellen und professionellen
Interaktionsordnungen für lebensgeschichtliche Entwicklungen.
Anhand theoretischer Überlegungen und empirischer Belege soll im Fol-
genden herausgearbeitet werden, ob und inwieweit mit diesen Dimensionen
sinnvolle heuristische Kategorien im Hinblick auf sozialpädagogische For-
schung vorliegen.

3. Biographie als Rahmenkonzept sozialpädagogischer


Forschung

3.1 Biographie und Sozialwelt

Auch wenn bisher kein explizites theoretisches Konzept von Biographie in


der Sozialen Arbeit existiert, so besitzt ein biographischer Bezug für die sozi-
alpädagogische Praxis eine gewisse Selbstverständlichkeit. Soziale Arbeit ist
häufig gerade durch einen konkreten Fallbezug bestimmt. Es ist das Konkrete
des Falles - beispielsweise des Jugendlichen, des kranken Menschen, der Fa-
milie oder einer Gruppe - mit dem sich Soziale Arbeit zu beschäftigen hat.
Nach Burkhard Müller (2001, S. 3f.) ist es die Singularität eines Gegenübers,
mit der es sozialpädagogische Praxis zu tun hat. Diese Fokussierung evoziert
eine Kluft zwischen Fachwissen und einem durch die Situation und Singula-
rität des Falls bedingten "Nichtwissen". Sowohl im professionellen Handeln
als auch in der (sozialpädagogischen) Forschung bedatf es Suchstrategien,
um diese Formen des Nichtwissens durch neue Erkenntnisgewinne zu trans-
26 Andreas Hanses

formieren. Biographische Erzählungen bieten sich hier als Zugang zur sozia-
len Wirklichkeit der Protagonistlnnen geradezu an. So wird in den Erzählun-
gen etwas über die Handlungen, Handlungsinitiierungen und ihre Einbettun-
gen in soziale Kontexte deutlich (vgl. Schütze 1984). Ebenso werden Prozes-
se des Erleidens, deren Ereignisverkettungen und Lösungen thematisiert (vgl.
Schütze 1981, 1999; Hanses 1999a). Darüber hinaus informieren narrative
Selbstpräsentationen nicht nur darüber, was im Leben geschehen ist, sondern
geben Auskunft, was in der eigenen Lebensgeschichte nie Wirklichkeit wer-
den konnte: eben über das "ungelebte Leben" in der Biographie (vgl. Weiz-
säcker 1956; Hanses 1996, 1999a). Autobiographische Stegreiferzählungen
sind aber vor allem Zeugnisse einer subjektiven Konstruktion eigener Wirk-
lichkeit. Die Thematisierung von Handlungen, Erleidensprozessen, die Dar-
legung von Eigentheorien und Evaluationen sind Präsentationen aus der Sub-
jektperspektive. Mit Hilfe des Zugangs zu biographischen Erzählungen erfah-
ren wir Wesentliches über die Selbstkonstitution des Subjekts.
So sehr erzählte Biographien die Perspektive auf die Konkretheit ihrer Er-
zählerInnen eröffnen, so ist doch mit Betrachtung der subjektiven Konstruktion
von Sozialwelt nur ein Aspekt von Biographie hinreichend beschrieben. So-
ziologische Theorien (vgl. Giddens 1988; Bourdieu 1994; Mead 1998) und
methodische Diskurse (vgl. Schütze 1984, 1999; Fischer/Kohli 1987; Alheit
1997, 2000; Alheit/Dausien 2000, 2000a; Oevermann 2000) zeigen nur zu gut
auf, dass die Konkretheit des Einzelfalls und das Subjektive der biographischen
Selbstpräsentation gleichzeitig Ausdruck sozialer Strukturiertheit ist. So sehr
wir in biographischen Selbstpräsentationen unsere Einzigartigkeit hervorzuhe-
ben suchen oder uns als ZuhörerIn beeindruckt von der Einzigartigkeit der ver-
nommenen Geschichte fühlen, so zeigt sich doch, dass wir diese Besonderheit
nur deshalb erzählen können, da wir auf ähnliche gesellschaftliche Erfahrungen
zurückgreifen. Die Erzählung einer Bildungskarriere oder einer beruflichen
Rehabilitation ist in ihren persönlichen Facetten in der Interaktion präsentier-
und verstehbar, weil ohne ausführliche Erklärung ein geteilter Wissensbestand
über institutionelle Erfahrungen vorausgesetzt werden kann. Damit wird aber
auch deutlich, dass unsere Erzählungen immer mehr Sinn haben, als wir expli-
zit zum Ausdruck bringen. Dieser Sinnüberschuss kann als allgemeiner, gesell-
schaftlicher Referenzrahmen verstanden werden. Unsere Biographie können
wir eben nicht jenseits der sozialen Kategorie Geschlecht, der Erfahrungen mit
unserer sozialen Lebenswelt, der kulturellen und der spezifisch zeitgeschichtli-
chen Kontexte hervorbringen. So hat Bettina Dausien sehr überzeugend aufzei-
gen können, dass biographische Erzählungen nicht nur wichtige Referenzen an
das eigene Geschlecht beinhalten. Vielmehr sind lebens geschichtliche Erzäh-
lungen gleichzeitig geschlechtstypische Selbstpräsentationen. Pointiert formu-
liert ist Geschlecht als eine soziale Kategorie nicht nur in autobiographischen
Narrationen enthalten, sondern gehen förmlich durch sie hindurch (vgl. Dausi-
en 1996, 1997, 1998).
Biographie und sozialpädagogische Forschung 27
Gleichzeitig sind die sozialen Strukturierungen biographischer Erzählun-
gen häufig nicht jener Teil der Selbstpräsentationen, der den Erzählenden refle-
xiv zur Verfügung steht. Geschlecht, soziale Lage, Kultur und Generation fun-
gieren als institutionalisierte Wissens bestände sozialer Wirklichkeit und damit
als Basisstrategien zur Bewältigung und Partizipation an sozialen Lebens- und
Alltagswelten. Die Relevanz solcher Institutionalisierungsprozesse liegt darin,
dass die Einzelnen sich ihrer nicht immer vergewissern müssen, sondern dass
sie ihnen als Basisstrategien eigenen Handeins selbstverständlich zur Verfü-
gung stehen. Aufgrund dessen sind Ressourcen frei, um neue und komplexe
Aufgaben der sozialen Praxis zu bewältigen. Die Erfahrungen der Sozialwelt
sind somit Teil eines "praktischen Bewusstseins" (Giddens 1988, S. 91 ff.), auf
das immer wieder Bezug genommen werden kann, ohne dass wir es stetig und
ausdrücklich (reflexiv) explizieren müssen. Sie sind - mit Pierre Bourdieu
(l997a) gesprochen - Ressourcen eines "praktischen Sinns", um sich in gesell-
schaftlichen ,,Feldern" bewegen zu können. Das Soziale in der Biographie
agiert somit hinter unserem Rücken, als inkorporierte soziale Praxis, als habitu-
ell verankerte Wahrnehmungs-, Handlungs- und Deutungsdisposition. Diese
Hintergründe erweisen sich nicht nur als biographische und soziale Ressourcen,
sondern gleichzeitig als Form eines einverleibten gesellschaftlichen "Unge-
wussten", das sich eigenen Reflexionen - und damit einer potenziellen Verän-
derung - verschließt. Das "Rückwärtige" des Sozialen in der Lebensgeschichte
wird zum konstitutiven Merkmal für die häufig zu beobachtende Konstanz bio-
graphischer Prozesse und Selbstthematisierungen.
Wenn Pierre Bourdieu (1998) darauf hinweist, dass der innere Zusam-
menhang von Biographie weniger auf der Sinnkonstitution der Erzählenden,
sondern auf der Abfolge von Positionen im sozialen Raum basiert, markiert
er die hohe Relevanz der sozialen Distribuierungsstrukturen auf die Ausge-
staltung von biographischen Prozessen. Dennoch trifft sein Bild, dass die
Fahrt einer U-Bahn nicht sinnvoll ohne die Struktur des Netzes zu beschrei-
ben ist, nur einen Teil von biographischen Verläufen und Prozessen (vgl.
Bourdieu 1998, S. 82). Der von Pierre Bourdieu gewählten Metapher ließe
sich entgegen halten, dass mit der Beschreibung des U-Bahn-Netzes noch
keine Aussage über die konkrete Fahrt gewonnen ist. Mit diesem Beispiel
soll auf einen weiteren Aspekt biographischer Erzählungen verwiesen wer-
den: Biographie ist bei aller Strukturiertheit selbst strukturierende Struktur.
. So zeigen beispielsweise die Analysen von Bettina Dausien (1996, 1997)
zum Zusammenspiel von Biographie und Geschlecht, dass nicht nur die so-
ziale Kategorie Geschlecht die biographischen Selbstthematisierungen
durchdringt. Genauso strukturiert das Erzählen die Geschlechterkonstituie-
rung. Doing-Gender ist nicht nur als inkorporierte soziale Praxis, sondern
gleichzeitig als biographische (Re-)konstruktionsleistung der AkteurInnen zu
verstehen. Auch in biographischen Analysen zur Krankheitsbewältigung hat
sich gezeigt, dass Krankheit nicht als life-event in das Leben der Einzelnen
"einbricht" und die Biographie bestimmt. Vielmehr wird deutlich, dass
28 Andreas Hanses
Krankheit vor dem Hintergrund lebensgeschichtlicher Etfahrungsaufschich-
tungen auch als biographische Konstruktion zu beschreiben ist (vgl. Hanses
1996, 2000; Hanses/Börgartz 200 I). Diese Beispiele verweisen auf einen we-
sentlichen Sachverhalt: Biographien sind nicht allein Ausdruck gesellschaft-
licher Determiniertheit, sondern besitzen biographischen Eigensinn und bre-
chen somit die lebensweltliche Einflussnahme auf ihre je eigene Weise, ohne
sich allerdings der Strukturiertheit durch soziale Praxis entziehen zu können.
Der konstruktivistische Ansatz der Autopoiesis, wie Humberto Maturana
und Francisco Varela (1991) ihn anhand ihrer biologischen Studien entwik-
kelt haben, mag diese Dialektik zwischen Struktur und Subjekt plausibel be-
schreiben. Entsprechend des Verhältnisses von Organismus und Umwelt lässt
sich auch die Beziehung von Subjekt und Lebenswelt durch eine "strukturelle
Koppelung" beschreiben, in der dennoch Folgen der ,,Perturbationen" nicht
aus der "Störung" selbst, sondern aus der Strukturdeterminiertheit des Sub-
jekts zu erklären sind (vgl. Maturana/Varela 1991, S. 106). Bei allen sozialen
Anpassungsprozessen ist gleichzeitig ein offener Horizont, ein nicht zu pro-
gnostizierender Rahmen gesetzt, der abhängig von biographischen Disposi-
tionen konzipiert wird.
In diesem Zusammenhang ist auf das Konzept ,,Biographizität" zu ver-
weisen. Es beschreibt die - wenn auch begrenzte - Gestaltbarkeit der eigenen
Biographie, eben die Leistungen der Subjekte, "praktisches Bewusstsein" in
"biographische Reflexivität" zu transformieren und aus dem "ungelebten Le-
ben" Handlungs- und Orientierungspotenziale zu gewinnen, ohne die Einge-
bundenheit der ProtagonistInnen in die sozialen Strukturen aus dem Auge zu
verlieren (vgl. Alheit 1995, S. 300). Biographizität kann als wichtige Schlüs-
selqualifikation des Menschen in der Modeme beschrieben werden, die eine
Anschlussfähigkeit biographischer Wissensbestände an sich verändernde Le-
benswelten ermöglicht.
Das Besondere am Konzept der Biographie ist, dass es - trotz einer vor-
dergründigen Fokussierung auf die Individualität einzelner Personen - das
Soziale in den Blick nimmt, ohne wiederum in eine strukturalistische Per-
spektive zu vetfallen. Es ist diese "soziopoietische" Qualität von Biographie
(Alheit 1997, S. 25), die sie für eine (qualitative) sozialpädagogische For-
schung so bedeutend werden lässt. Mit einem biographischen Ansatz ist die
in der sozialpädagogischen Forschung geforderte Verbindung von Subjekt-
und Strukturperspektive einzulösen. Biographie erlaubt es über den Dualis-
mus von Individuum und Gesellschaft hinauszugehen, die Perspektive für die
,,Dualität von Struktur" (Giddens 1988, S. 77) zu eröffnen. Mit dieser Ambi-
guität von Biographie ist theoretisch und methodisch ein anspruchsvolles
Konzept vorhanden, das - pointiert formuliert - nicht nur eine integrierende
Perspektive erlaubt, sondern zwingend erfordert. Biographische Analysen,
die sich auf einen Aspekt von Biographie begrenzen, drohen wichtige
Aspekte bei lebens geschichtlichen Rekonstruktionen zu vernachlässigen.
Biographie und sozialpädagogische Forschung 29
3.2 Biographie und Leib

Leib und Körper sind keine zentralen Kategorien sozialpädagogischer Diskus-


sion, auch wenn es gegenwärtig durch die erneute Aktualität des Körpers in den
Nachbardisziplinen zur verstärkten Aufnahme der Körper- und Leibdiskurse in
der Sozialen Arbeit gekommen ist (vgl. Homfeldt 1999; Hünersdorf 1999; Be-
cker 2000). Zentraler Bezugspunkt sozialpädagogischer Aufmerksamkeit sind
die AdressatInnen in ihren sozialen und lebensweltlichen Bezügen und Abhän-
gigkeiten. Der Körper steht unter Verdacht als anthropologische Konstante in
den Bereich der Naturwissenschaften zu gehören, und dem Leib haftet zu sehr
das Phänomenologisch-Spekulative an, als dass er wirklich Aufschluss für ak-
tuelle sozialpädagogische Fragen und Aufgabenstellungen versprechen könnte.
Für die Soziale Arbeit sind - trotz einiger Annäherungsversuche - Körper und
Leib meist unattraktive Fremde geblieben.
Dabei sind Körper und Leib3 konstitutive Bestandteil eines entscheiden-
den Selbst- und Weltbezuges (vgl. Jung 1994). Mit ihnen werden die Erfah-
rung und die Vermittlung von sozialer Welt überhaupt erst möglich. Sie sind
jenes "Medium", mit dem Institutionalisierungs- und Vergesellschaftungs-
prozesse herzustellen sind. Der Körper ist die unhintergehbare Voraussetzung
für Interaktionsverhältnisse und soziale Ordnungen (vgl. Loenhoff 1999,
75f.). Der Körper ist Medium des aktiven Weltbezugs der AkteurIn und so-
mit konstitutives Element sozialer Handlung, kurz: "the body is fundamental
to any theory of action" (Turner, zit. nach Loenhoff 1999, S. 76). So wie der
"body as agent" zu begreifen ist, so ist gleichermaßen der "body as object" zu
verstehen (vgl. Strauss 1993, S. 10). Allerdings ist der Körper kein Objekt für
sich, sondern erfahrt diese Zuweisung erst über die Interaktion mit anderen.
Gesellschaft kann folglich einen Zugriff auf den Körper nehmen und Prozes-
se der Vergesellschaftung initiieren.
In welchem Ausmaß die soziale Welt Körper- und Leibprozesse struktu-
riert und organisiert, haben eine Reihe soziologischer Studien belegt. So hat
z.B. Michel Foucault (1977) in seiner Analyse "der Geburt des Gefangnisses"
gezeigt, dass die Disziplin über den "gelehrigen Körper" organisiert wird.
Die Untersuchungen Norbert Elias (1976) verweisen ausdrücklich darauf,
dass der Prozess der Zivilisation eine Geschichte veränderter Körperkultur
ist, und Pierre Bourdieu (1994) belegt in seinen Untersuchungen zum Ge-
schmack, wie soziale Distribuierungen als "praktischer Sinn" von den Akteu-
rInnen einverleibt werden und von hier aus als Handlungs-, Wahrnehmungs-
und Deutungsmuster die soziale Praxis auch in den kleinsten Räumen der
Alltagswelten strukturieren. Der Körper wie der Leib werden zum Ort sozia-

3 Im Rahmen dieses Beitrags kann nicht auf die Differenzen zwischen Körperkonzepten, die
stark aus der angloamerikanischen, soziologischen Traditionen hervorgehen (vgl. Loenhoff
1999), und den leiborientierten Ansätzen der europäischen, phänomenologischen Strömung
eingegangen werden (vgl. Petzold 1986).
30 Andreas Hanses

ler Einverleibungen. "Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein
wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man" (Bourdieu 1997a, S. 135).
Körper und Leib übernehmen die wichtige Funktion, über den Prozess des
Inkorporierens sozialer Praxis "praktisches Bewusstsein" herzustellen, also
die Bedeutung eigenen Handeins aus der reflexiven Verfügbarkeit zu neh-
men. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich die Institutionalisierung von In-
teraktionen und rekursiv die Stabilisierung sozialer Ordnung organisieren.
Verbleibt der Leib aus dieser Perspektive als inkarnierter Speicher sozialer
Erfahrungen? Erweist sich vor diesem Hintergrund die Biographie nur als
temporäre Folie, auf der sich soziale Prozesse als Erfahrungsaufschichtung in
den Leib eingravieren?
Analysen von Lebensgeschichten kranker Menschen haben einen ande-
ren Zugang zur Leiblichkeit entwickelt. In der biographischen Erfahrung
leiblich gespürter Krisen hat sich ein Potenzial biographischer Neukonzep-
tualisierung gezeigt (vgl. Hanses 1996, 1999). Dem Leib kommt potenziell
Macht über Prozesse der Umstrukturierung und Neuordnung zu. Anders for-
muliert: Der Leib kann als "generatives Prinzip sozialen Eigensinns" be-
schrieben werden (vgl. Hanses 1999a). Laut Wolfram Fischer-Rosenthal
kommt insbesondere dem (Leib-)Erleben die Qualität zu, das in der Erfah-
rung Erarbeitete wie das Erwartete verflüssigen zu können, ohne das Kon-
struierte einer Biographie auszulöschen (vgl. Fischer-Rosenthal 1989, S. 11).
Dieser Potenzialität des leiblich Gespürten steht allerdings die Erfahrung ge-
genüber, dass nicht jede (leiblich) erlebte Krisensituation zur Veränderung,
sondern häufig zur Verfestigung von bestehenden Lebensstrategien und -pro-
blemen führt. Erst in der Verschränkung von Leib und Biographie, wenn die
leibliche Krise gleichzeitig zu einer biographischen Krise avanciert, entsteht
die Potenzialität für eine Neuordnung. In dem Moment, in dem das Affektive
des Leiberlebens in biographische Reflexivität transformiert werden kann,
entsteht die Chance, Deutungs- und Handlungsmuster zu verändern und neue
soziale Praxis zu erzeugen (vgl. Hanses 1999, 1999a).
Der Zusammenhang von Biographie und LeiblKörper lässt sich generell
als Wechselverhältnis thematisieren: "Sie stehen aneinander und durcheinan-
der, sie entwickeln jeweils autonome Strukturen, aber stets in Verbindung,
das eine stützt und irritiert das andere" (Fischer-Rosenthal 1999, S. 15f.).
Über den Leib können wir einen wichtigen Erklärungszusammenhang für den
Einlass des Sozialen in die Biographie entwickeln. Gleichzeitig ermöglicht
die Perspektive auf das Biographische, die Eingebundenheit des Leiblichen in
die biographischen Sinnhorizonte und (reflexiven) Bedeutungszuweisungen
der sozialen Kontexte zu thematisieren. Forschungsstrategisch besitzt der en-
ge Zusammenhang von Biographie und LeiblKörper für eine sozialpädagogi-
sche Forschung einen ganz eigenen Charme. Die biographische Perspektive
eröffnet eine fallorientierte Perspektive: Der leiblich vermittelte Subjekt-
Struktur-Zusammenhang kann immer wieder vor dem Hintergrund des ein-
zelnen Falles (re-)formuliert werden. Zudem eröffnet das biographische Er-
Biographie und sozialpädagogische Forschung 31

zählen einen forschungspragmatischen Zugang zur Leiberfahrung und (so-


zialer) Körperlichkeit. Narrative Selbstthematisierungen erlauben eine dichte
Beschreibung des (Leib-)Erlebens, der Erfahrungsbildung, des Handeins, der
gesellschaftlichen Körperbilder und des Körperwissens sowie die durch In-
teraktionen hervorgebrachte Zuweisungen (vgl. Dausien 1999).
Ohne im Rahmen dieses Beitrages die Komplexität der Körper- und
Leibdebatten erschöpfend wiedergeben zu können, ist hoffentlich deutlich
geworden, dass Körper und Leib jene Matrix sind, in der Subjekt und Struk-
tur verhandelt werden. Angesichts dieses Verhältnisses sollte eine sozialpäd-
agogische Forschung sich diesem Bereich sozialer Wirklichkeit stärker zu-
wenden, als es bisher der Fall war. Begriffsbildungen und Forschungskon-
zepte, die die Dimensionen Leiblichkeit und Körper einschließen, könnten
neue Horizonte eröffnen: Die Frage nach der Ordnung (sozialpädagogischer)
Interaktionen und Institutionen oder der Konstitution von Lebenswelten
durch Körper( -kulturen) gehört genauso dazu wie die Frage nach der Bedeu-
tung des Körpers und des Leibes hinsichtlich der (Wieder-)Erlangung einer
,,Autonomie der Lebenspraxis".

3.3 Biographie und Erleidensprozesse

Bisher sind mit der soziopoietischen und der körperlich-leiblichen Dimension


von Biographie Verweise auf gesellschaftliche Strukturierungen geliefert wor-
den. So wichtig die Analyse des Subjekt-Struktur-Verhältnisses für sozialpäd-
agogische Forschung ist, so wenig kann sie sich allein auf diesen Aspekt be-
schränken. Konstitutives Element sozialpädagogischer Forschung sollte ein
heuristisches Konzept sein, das eine forschende Perspektive auf den Einzelfall
ermöglicht. Von Bedeutung für die Soziale Arbeit sind jene Fälle, die einen
,,Normbruch" dokumentieren. Prinzipiell ist es jedoch erst einmal unerheblich,
ob sich der Bruch mit normativen Skripten als subjektives Erleben erweist, ob
es sich um soziale Exklusionsprozesse im Kontext von Statuspassagen oder um
den Einbruch eines critical-live-events in die Lebensgeschichte handelt oder ob
eigene Lebensentwürfe und Lösungsstrategien angesichts schwieriger Lebens-
lagen so sehr mit dem Interesse anderer kollidieren, dass sozialstaatliche Inter-
ventionen notwendig werden. Soziale Arbeit hat es mit Menschen zu tun, die
sich in schwierigen finanziellen, sozialen und gesundheitlichen Problemlagen
befinden und die entweder von sich aus Hilfebedarf nach Beratung, Unterstüt-
zungsleistungen und Begleitung formulieren, oder ,,Hilfe" in Form sozialpäd-
agogischer Intervention zugewiesen bekommen. In diesem Sinne benötigt die
Praxis Sozialer Arbeit Wissen, wie sich Prozesse sozialer Destabilisierungen
entwickeln, welche Selbstsichten und Eigentheorien die Betreffenden einneh-
men und welche Ressourcen und Kompetenzen zur Bewältigung der Lebensla-
gelProblemssituation entwickelt werden können bzw. vorliegen.
32 Andreas Hanses

Mit der Einführung der Biographieforschung in die Sozialwissenschaften


hat vor allem Fritz Schütze das für die handlungstheoretisch dominierte So-
ziologie "fremde" Konzept der "Verlaufskurve" entwickelt (vgl. Schütze
1981, 1984, 1999). Die Bedeutung der von Schütze auf der Basis vielzähliger
biographischer Analysen entwickelten Prozessstrukturen des autobiographi-
schen Erzählens liegt insbesondere darin, dass krisenhaft verlaufende Verän-
derungsprozesse aus der Perspektive der Erzählenden eruiert werden können.
Folgende Aspekte sind für eine sozialpädagogische Forschung von besonde-
rer Relevanz:

(a) Biographische Erzählungen zeigen, dass die Erzählenden sich keines-


wegs immer als Handelnde und Planende ihres Lebens begreifen. Häufig
sind die Narrationen durch Erfahrungen der Fremdbestimmtheit des ei-
genen Lebens gekennzeichnet. Das Leben scheint einfach abzulaufen, es
kommt zu Ordnungszusammenbrüchen, das Vertrauen in die Welt bricht
mehr und mehr zusammen. Die eigene Lebensgestaltung gerät ins Tru-
deln (vgl. Schütze 1999, S. 216f.). Destabilisierung, Zusammenbruch der
Alltagsorganisation und Umdeutungen der eigenen Lebenssituationen
sind die Folgen. Biographische Neusetzungen organisieren sich nicht
über handlungsschematische Inszenierungen, sondern werden erlitten -
hier ist der Aspekt des ,,Pathischen" unserer Existenz angesprochen (vgl.
Weizsäcker 1956, 1997).
(b) Das Verlaufskurvenkonzept rekurriert keineswegs nur auf innere Befind-
lichkeiten und Zustandsveränderungen der Erzählenden, sondern macht
deutlich, wie Verlaufskurvenprozesse eingewoben sind in interaktive
(professionelle) Strukturen. Der Zusammenbruch der alltäglichen Erwar-
tungsfahrpläne führt zu großen Irritationen in Interaktionssituationen.
Wohlwollende interaktive Spiegelungen können verloren gehen und zu
identitätsverändernden Transformationen führen (vgl. Schütze 1999, S.
216f.).
(c) Das Erleiden des eigenen Lebens, der Zusammenbruch eigener Ordnun-
gen vollzieht sich keineswegs plötzlich, sondern besitzt System und Ge-
schichte. Mit dem Konzept "Verlaufskurve" wird gerade auf einen sich
strukturierenden Prozess verwiesen: Vor der Ausgestaltung eines Ver-
laufskurvenpotenzials setzen unterschiedliche Destabilisierungsprozesse
ein, die zwischenzeitlich durch die Entwicklung neuer labiler Gleichge-
wichte abgepuffert werden können. Allerdings kann diese ,,zwischenlö-
sung" in eine neue Verlaufskurvendynamik übergehen. In diesem Falle
kommt es zum gänzlichen Zusammenbruch der biographischen Organi-
sation und Orientierung, der die Interventionen professioneller Hilfesy-
steme erfordern (vgl. Schütze 1999, S. 201).

Eröffnen die Analysen von Verlaufskurven eine Perspektive auf das Leiden
an der sozialen Wirklichkeit, so ist damit keineswegs eine einseitige Patholo-
Biographie und sozialpädagogische Forschung 33
gisierung der AdressatInnen Sozialer Arbeit intendiert. Biographische Analy-
sen zeigen vielmehr, dass ein problemorientierter Blick durch eine res sour-
cenorientierte Perspektive zu ergänzen ist. Biographische Erzählungen sind
durch eine große Ambiguität gekennzeichnet: Das Kritische und die Poten-
ziale liegen in den Narrationen nah beieinander (vgl. Hanses 2000a, S. 373f.).
Die Analyse biographischer Selbstthematisierungen ermöglicht eine Antwort
auf die Frage, wie schwierige Lebenslagen und Lebenskrisen - unter Um-
ständen auf sehr eigensinnige Art und Weise - bewältigt werden, wie es zu
einem Umschlag, einem "Wandlungsprozess" (vgl. Schütze 1981, 1984)
kommen kann, wie in der Krise das Subjekt zu verschwinden droht, aber in
dem Zerreißen von Kohärenzen neue Zusammenhänge geschaffen werden
können (vgl. auch Weizsäcker 1997, S. 295ff.; Hanses 1996, 1999; Hanses/
Börgartz 2001). Krisen verweisen auf einen "qualitativen Sprung" hin zu ei-
ner Neuorganisation von Kompetenzen (vgl. Mennemann 2000, S. 224).
Sozialpädagogische Forschung benötigt ein sensibilisierendes Konzept, um
die Brüchigkeit menschlicher Existenz und die Potenziale der Subjekte wahr-
zunehmen. Hugo Mennemann (2000) fordert diesbezüglich, Krise als einen
Zentralbegriff der Sozialpädagogik zu begreifen. Krise kann als heuristisches
Konzept betrachtet werden, das es ermöglicht, die Komplexität von Lebens-
und Alltagswelten, den interaktiven Aspekt sozialer Praxen und Lebensvollzü-
ge sowie Formen des Aneignungshandelns zu untersuchen (S. 225). Biographi-
sche Erzählungen erweisen sich wiederum als zentraler Zugang zu Verlaufs-
kurven- und Bewältigungsprozessen aus der Perspektive der Subjekte. Vor al-
lem aber werden mit einem biographie- und krisenorientierten Konzept zwei
Erfordernisse sozialpädagogischer Forschung bedient. Zum einem wird mit ei-
nem solchen Konzept die Forderung, das Spannungsfeld zwischen Feld- und
Bildungsbezug zu erfassen, einlösbar. Biographie eröffnet sowohl die Perspek-
tive auf die Einlagerungen biographischer Veriaufskurven, Krisen und Bewäl-
tigungsprozesse im Kontext unterschiedlicher Felder sozialer Realität. Gleich-
zeitig ist Auskunft über die Aneignungsleistungen, die handlungsschemati-
schen Initiierungen und ihre sozialen Einbettungen zu erhalten. Mit diesem
Wissen sind Anknüpfungspunkte für einen (biographieorientierten) sozialpäd-
agogischen Bildungsbezug eröffnet (vgl. Kraimer 1994). Zum anderen illustrie-
ren biographische Analysen, dass Krisen- und Krisenveriäufe nur vor dem Hin-
tergrund der Interaktionen mit Professionellen und im institutionellen Kontext
zu verstehen sind. Damit ist ein weiterer wichtiger Bezugspunkt genannt: das
Verhältnis von Biographie und Institution.

3.4 Biographie und Institution

Institutionen können als intermediäre Struktur zwischen Sozialwelt und ihren


Akteurlnnen betrachtet werden. Sie fungieren als zentrale Instanzen der Insti-
tutionalisierung und der Vergesellschaftung (vgl. BergerlLuckmann 1999).
34 Andreas Hanses

Dennoch ist die entscheidende Frage, wie das Verhältnis von Biographie und
Institution, von sozialpädagogischen (personenbezogenen) Dienstleistungen
und ihren AdressatInnen, zu bestimmen ist. Die Relevanz des Zusammenhangs
von Biographie und Institution für sozialpädagogische Forschung möchte ich
auf drei Ebenen skizzieren:

(a) In der Modeme fungieren Institutionen als Biographiegeneratoren. Institu-


tionen der Alltagswelt fordern Akteurlnnen auf, biographisches Wissen als
soziale Basisressource über sich zu erzeugen, das in unterschiedlichen in-
stitutionellen Kontexten abgefragt wird. Auch wenn mit der institutionellen
Aufforderung zur Generierung biographischen Wissens eine Machtsituati-
on gegenüber den AkteurInnen beschrieben ist, handelt es sich hier nicht
ausschließlich um determinierende Strukturen. Insbesondere Ergebnisse
der Lebenslaufforschung zu Statuspassagen haben gezeigt, dass bei glei-
chen strukturellen Bedingungen, der Umgang mit (labilen) Übergangssi-
tuationen seitens der Akteurlnnen unterschiedlich ausfällt. Gesellschaftli-
che Rahmenbedingungen, institutionelle "gatekeeper", situative Umstände
und Gelegenheitsstrukturen allein erklären nicht den Umgang mit und
Verlauf der Statuspassagen. In diesem Zusammenhang hat Walter Heinz
(2000) den Begriff der "Selbstsozialisation" geprägt. Mit diesem Begriff
wird der Versuch unternommen, aus der Perspektive der Lebenslauffor-
schung den Blick auf die Aneignungsleistung biographischer Akteurlnnen
zu eröffnen. Jene bündeln ihr Erfahrungswissen zu Handlungsmodi, um
Übergänge im Lebenslauf entsprechend eigener Interessen zu meistem.
Wenn auch das Konzept der Selbstsozialisation nicht explizit auf biogra-
phietheoretischen Annahmen beruht, so liefert diese Perspektive doch den
entscheidenden Hinweis auf die soziopoietische Dimension von Biogra-
phie und Institution. Für die sozialpädagogische Forschung ergeben sich
hier wichtige Optionen: Die Entwicklung von Arbeitslosigkeits-, Armuts-
und Sozialhilfe-Karrieren ist weder als Scheitern des Subjekts noch als Zu-
richtungsprozess institutionspolitischer Vorgaben einseitig aufzulösen. Sie
sind vielmehr als integrativer und emergierender Prozess zwischen Biogra-
phie und Institution nachzuvollziehen. Der explizite Rückbezug auf ein
biographisch sensibilisierendes Konzept im Kontext institutionsbezogener
Analysen besitzt zudem gesellschaftspolitische Relevanz. Durch die ge-
genwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen zeichnet sich ein zuneh-
mendes "institutional lag" ab, und Institutionen verlieren ihre Funktion als
Stichwortgeber für die Individuen. Die Akteurlnnen müssen in viel höhe-
rem Maße qua biographischen Wissens die Gestaltung ihrer Lebenslagen
und -verläufe selbst übernehmen (vgl. Schaarschuch 1999, S. 546; Alheit
2000, S. 158ff.).
(b) Sozialpädagogische Forschung wird über diese grundlegenden Überle-
gungen eines biographieorientierten Bezugs institutioneller Analysen ih-
ren Schwerpunkt auf Institutionen des Bildungs-, Sozial- und Gesund-
Biographie und sozialpädagogische Forschung 35
heitsbereiches legen müssen, Bereiche, in denen Soziale Arbeit als pro-
fessionelle Praxis von Relevanz ist. Sie wird sich mit der Frage beschäf-
tigen müssen, wie Institutionen und ihre professionellen Angebote sei-
tens der AdressatInnen an- und aufgenommen werden. Die Debatte über
das Dienstleistungskonzept Sozialer Arbeit setzt NutzerInnen und Kun-
dInnen voraus, die über ein autonomes Potenzial hinsichtlich des Zu-
griffs auf Angebotsstrukturen verfügen (vgl. Schaarschuch 1999, S. 552).
Jedoch zeigen empirische Untersuchungen, dass der Sachverhalt zwi-
schen einem personenbezogenen Zugang zu Dienstleistungsangeboten
und der professionellen Praxis im institutionellen Kontext nicht einfach
auf die Frage einer rationalen Inanspruchnahme von Angebot und Nach-
frage zu reduzieren ist. So hat Gerhard Riemann (1987) anband der
Analyse biographischer Erzählungen überzeugend deutlich machen kön-
nen, dass institutionelle Rahmungen gravierende Eingriffe in die Fähig-
keit zur "autonomen Lebenspraxis" nach sich ziehen können. Institutio-
nalisierung kann zu einem ,,Fremd werden der eigenen Biographie" füh-
ren und auf diese Weise biographische Potenziale als Wissensbasis zur
Aneignung von Hilfeleistungen zerstören. Aber nicht nur auf der Ebene
"totaler Institutionen" (vgl. Goffman 1973), sondern auch in weniger ra-
dikalen institutionellen Rahmungen professioneller Praxis zeigt sich eine
fehlende Passung zwischen biographischen Sinnborizonten und Wis-
sensbeständen der AdressatInnen auf der einen und höhersymbolischen
Wissensstrukturen und Handlungspraxen der Professionellen auf der an-
deren Seite. Anband der Analyse biographisch-narrativer Interviews, die
mit körperlich und seelisch erkrankten Menschen geführt wurden (vgl.
Hanses 1996,2000; Hanses/Börgartz 2001), konnte gezeigt werden, dass
in professionellen (sozialpädagogischen) Kontexten biographische Sinn-
setzungen, Ressourcen und Bedürfnisse der AdressatInnen nicht oder un-
genügend wahrgenommen werden. Statt dessen werden professionelles
Handeln und Unterstützungs leistungen aus der Logik institutioneller
Rahmungen und professioneller Wissensbestände entwickelt. Die Miss-
achtung der biographischen Dimensionen führt häufig dazu, dass die not-
wendige Aneignung der Hilfeangebote nicht leistbar ist. Folge ist, dass
die Angebote kontraproduktiv verpuffen. Die Unterstützung suchenden
Menschen befinden sich weiterhin in schwierigen gesundheitlichen und
sozialen Lebenslagen; in einigen Fällen kommt es sogar zu weiteren De-
stabilisierungen und einer Zuspitzung der problematischen Lebenssitua-
tion (Verlaufskurvenentwicklung). Die empirischen Belege veranschau-
lichen, dass ein heuristisches Konzept von Institution benötigt wird, mit
dem eine forschende Perspektive auf das (aktiv erzeugte) Passungsver-
hältnis zwischen Institution und AdressatInnen möglich wird. Es muss
ein Wissen darüber entwickelt werden, wie sich professionelle Praxis
über eine Interaktionsordnung (vgl. Goffman 1994) sozial situiert und
wie die biographischen Erfahrungen, Sinnborizonte und Ressourcen die
36 Andreas Hanses
Interaktion ihrerseits entscheidend mitbestimmen (vgl. Hanses 2002).
Das Konzept Biographie gibt sozialpädagogischer Forschung ein sensi-
bilisierendes Konzept an die Hand, das eine Analyse der Prozesse der In-
stitutionalisierung, der Herstellung einer Interaktionsordnung und Pas-
sung sowie der Übernahme (Aneignung versus Prozedierung) von pro-
fessionellen Unterstützungsangeboten ermöglicht (vgl. Hanses/Börgartz
2001).
(c) Der Begriff Institution verweist auf die (Vor-)Strukturierung des sozialen
Raumes und auf die Existenz einer dem individuellen Handeln gegenüber
fortdauernden Struktur: Gemeint ist hier die "longue dun~e" der institu-
tionellen Zeit (vgl. Giddens 1988, S. 89). Gleichzeitig dokumentieren
empirische Studien, dass das Strukturierende von Institutionen Begren-
zungen unterliegt. Nicht nur die soziale Praxis in Institutionen wird durch
eine "negotiated order" (Strauss 1993, S. 248ff.) generiert, auch die Insti-
tutionen selbst unterliegen zu einem nicht unerheblichen Maße einer
"Biographisierung". Jochen Kade und Wolfgang Seitter (1998) haben am
Beispiel von Weiterbildungs institutionen aufzeigen können, dass sich die
institutionell-organisatorische Ebene durch die Biographien der Erwach-
senenbildnerInnen sowie durch die sich verändernden biographischen
Bedürfnisse und Erwartungen ihrer KundInnen modifiziert haben (S.
171ff.). Ergo konstituieren Biographien - zu einem nicht unwesentlichen
Teil - Institutionen- und Organisationstransformationen (vgl. Seitter
1999) - Überlegungen, die bisher in Analysen zu sozialpädagogisch rele-
vanten Institutionen kaum eingeflossen sind.

Biographie erweist sich angesichts der ausgeführten Aspekte als sinnvolles


wie notwendiges heuristisches Konzept im Rahmen sozialpädagogischer In-
stitutionenforschung, um die Dichotomie IndividuumlInstitution aufzuheben.
Es ist die gegenseitige Konstituierung institutioneller Prozesse, professio-
neller Praxis und Aneignungsoptionen der AdressatInnen, die durch eine bio-
graphieorientierte Forschung konstruktiv ins Blickfeld rückt. Mit einer sol-
chen sozialpädagogischen Forschungspraxis wäre auch die leidvolle Tren-
nung zwischen Subjekt- und Dienstleistungsdiskursen in der Sozialen Arbeit
sinnvoll zu überwinden.

4. Biographie als Kernkategorie sozialpädagogischer


Forschung - abschließende Erörterungen

Wenn - wie eingangs schon hervorgehoben - sozialpädagogische Forschung


weder auf einer bestimmten Methode fußt noch einen irgendwie gearteten
eindimensionalen Gegenstandsbezug aufweisen soll, sondern auf der Ver-
Biographie und sozialpädagogische Forschung 37

knüpfung unterschiedlicher Perspektiven - Integration eines ,,Feld- und Bil-


dungsbezugs", einer "Subjekt- und Strukturperspektive" sowie "institutio-
neller und personeller Aspekte" - basieren soll, dann erweist sich Biographie
als ein wesentliches Rahmenkonzept zur Konstituierung einer sozialpädago-
gischen Forschung. Die vorangegangenen Ausführungen zu den unterschied-
lichen Dimensionen von Biographie - so skizzenhaft sie im Rahmen dieses
Beitrags auch bleiben müssen - haben doch einen sehr zentralen Aspekt her-
vorgehoben: die Ambiguität von Biographie. Biographie ist eben nicht ein-
fach eine Nacherzählung von Lebensgeschichte, sie eröffnet nicht nur einen
Subjektbezug oder eine Fallorientierung. Ihre außerordentliche Relevanz liegt
darin, dass sie in ihrer Doppelheit als sozialer Konstruktion und gleichzeitig
narrativer Rekonstruktion immer Akteursperspektive, soziale sowie institu-
tionelle Strukturierung enthält. Sie ist Fallbezug und Lebensweltorientierung
gleichermaßen. Die erzählten Selbstpräsentationen geben also nicht nur Aus-
kunft über die soziale Eingebundenheit des ,,Erstpersönlichen" , sondern in-
formieren gleichzeitig, wie diese lebensweltlichen und institutionellen Rah-
mungen subjektiv - d.h. mit Eigensinn behaftet - gebrochen werden und
durch das narrative Präsentieren einer stetigen Umdeutung unterliegen. Bio-
graphie eröffnet nicht nur den Blick für die Formen sozialpädagogischer Pra-
xis, sondern bietet - aufgrund der in ihr liegenden Ressource ,,Biographizi-
tät" (vgl. Alheit 1995, S. 300) - darüber hinaus viele Ansatzpunkte für einen
"Bildungsbezug" sozialpädagogischer und sozialarbeiterischer Tätigkeit. Mit
anderen Worten: Biographie ist für die Konstituierung sozialpädagogischer
Forschung als theoretisches wie heuristisches Konzept von zentraler Bedeu-
tung. Insbesondere die vorgestellten Dimensionen der Biographie, ihre sozio-
poietische Qualität, ihr Leib- und Körperbezug, die fallbezogene Krisentheo-
rie und der Zugang zu institutionellen Rahmenbedingungen professioneller
Praxis erweisen sich als sinnvolle Kategorien eines sensibilisierenden Kon-
zeptes einer qualitativen Sozialforschung für die unterschiedlichen Felder der
Sozialen Arbeit. .
Dennoch wäre es vermessen, der Biographieforschung den Status des
Königswegs in der sozialpädagogischen Forschung verleihen zu wollen.
Auch wenn mittels biographischer Analysen Aussagen über soziale Struktu-
ren, institutionelle sowie lebensweltliche Prozesse zu gewinnen sind, so kann
mit biographischer Forschung nicht jede Dimension sozialer Wirklichkeit
hinreichend beschrieben werden. Ethnographische Ansätze zur Erfassung so-
zialer Praxis, sozialstrukturelle Analysen zur Beschreibung von organisatori-
schen und sozialpolitischen Rahmen, tradierte quantitative Forschungsansät-
ze zur Ermittlung von gesellschaftlichen Verteilungsphänomenen gehören
genauso zur sozialpädagogischen Forschung. Dennoch ist die Dimension
Biographie mit ihrer theoretischen und heuristischen Qualität und Ambigui-
tätsstruktur als Kernkategorie sozialpädagogischer Forschung anzusehen.
Auch wenn Christian Lüders (1998) in seiner Analyse die Definition ei-
ner genuin sozialpädagogischen Forschung gegenwärtig nicht für möglich
38 Andreas Hanses

hält (S. 129), so wäre vor dem Hintergrund der oben geführten Diskussion
Biographie zumindest als ein Konzept zu betrachten, das die Frage nach der
Eigenständigkeit sozialpädagogischer Forschung ein bedeutendes Stück wei-
ter bringen könnte. Diese Verortung würde allerdings eine theoretische Dis-
kussion erfordern, die die Trennung zwischen Dienstleitungsdebatte und fall-
orientierter Sozialpädagogik auflöst. Notwendig wäre es auch, Biographie
aus dem Bereich der ,,rekonstruktiven Sozialpädagogik" herauszuheben und
sie stärker als heuristische Zentralkategorie für den Gesamtbereich der So-
zialen Arbeit und sozialpädagogischen Forschung zu nutzen. Dessen unge-
achtet wird sich nicht über theoretische und methodologische Erörterungen
allein sozialpädagogische Forschung konstituieren lassen. Im Sinne Christian
Lüders (1998) wird es wichtig sein, die Praxis sozialpädagogischer For-
schung zu verstärken, um vor dem Hintergrund empirischer Analysen, me-
thodischer Erfahrungen und gegenstandsbezogener Theoriebildung ein Kon-
zept sozialpädagogischer Forschung zu konturieren. Wird eine solche Option
favorisiert, bedarf es aber den Mut der Sozialen Arbeit sich mit einem gewis-
sen Selbstverständnis als forschende Disziplin zu begreifen.

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WemerThole

"Wir lassen uns unsere WeItsicht nicht verwirren"l


Rekonstruktive, qualitative Sozialforschung und Soziale Arbeit -
Reflexionen über eine ambivalente Beziehung

Forschung hat inzwischen ihren Platz in der Sozialpädagogik. Mehr als je zu-
vor wird in der sozialpädagogischen Praxis, in der akademischen Ausbildung
und in der wissenschaftlichen Kommunikation auf empirische Daten zurück-
gegriffen. Dies trifft auch - vielleicht sogar insbesondere - auf rekonstrukti-
ve, qualitative Forschungszugänge und -ergebnisse zu, wenn auch keines-
wegs in der Exklusivität, wie zuweilen angenommen oder unterstellt wird
(vgl. u.a. Kraimer 1994). Gelegentlich drängt sich sogar der Eindruck auf,
dass mit rekonstruktiven, qualitativen Methodendesigns durchgeführte Pro-
jekte und ihre Befunde immer noch skeptisch begutachtet werden. Die Wahr-
nehmung, dass das rekonstruktive, qualitative Forschungsspektrum nicht von
allen gleichermaßen akzeptiert wird, stützt sich zum einen auf die zuweilen
bemitleidenswerte Charakterisierung derjenigen durch die disziplinäre sozi-
alpädagogische ,,zunft", die ihre Fragen mithilfe rekonstruktiver, qualitativer
Methoden aufzuklären versuchen. Leider korrespondiert diese Beobachtung
aber auch mit der gegenwärtigen Forschungsrealität. Nicht durchgängig alle
Projekte, die rekonstruktiven, qualitativen Methoden vertrauen, operationali-
sieren diese in einer Form, die den minimalsten Standards, so weit solche
überhaupt zu identifizieren sind, entsprechen. Der Beitrag stellt sich diesem
Problem und wirft einen flüchtigen Blick hinter die Fassaden der rekonstruk-
tiv qualitativen sozialpädagogischen Forschungslandschaft (Abschnitt 4).
Implizit wird damit erstens die Frage evoziert, inwieweit die Sozialpädagogik
auf eine systematische, breite und methodisch abgesicherte, über allgemeine
Standards fundierte Forschungspraxis verweisen kann (Abschnitt 2 und 5)
und zweitens wird angeregt, darüber nachzudenken, welche Rolle Forschung
im Kanon des sozialpädagogischen Gesamtprojekts spielt (Abschnitt 1).
Drittens und im Grunde zuvor ist allerdings zu klären, über welchen spezifi-
schen Zuschnitt sich eine Forschung mit dem Etikett "sozialpädagogisch" le-
gitimiert, ob also die Rede von "sozialpädagogischer Forschung" überhaupt
zurecht erfolgt und wenn ja, welches Profil diese zeigt beziehungsweise zei-

Der Titel variiert spielerisch ein Zitat des kritischen Gesellschafts- und Kunsttheoretikers
M. Raphael (vgl. Heinrichs 1989).
44 Werner Thole

gen kann (Abschnitt 2 und 3). Der Beitrag wird dementsprechend auch nach
dem methodologischen Grundgerüst einer mit dem Adjektiv "sozialpädago-
gisch" versehenen Forschung Ausschau halten. Unabhängig von der Antwort
auf diese Frage ist sicherlich leicht ein Konsens dahingehend zu erzielen,
dass - im Gegensatz beispielsweise zur sozialwissenschaftlichen Jugendfor-
schung, wo insbesondere in den 1980er Jahren eine dezidierte Methodendis-
kussion zu beobachten war und heute noch ist - die sozialpädagogische For-
schung respektive die Forschung, die sich auf die Handlungsfelder der So-
zialen Arbeit bezieht, auf eine ausgewiesene methodenorientierte Diskussion
nicht verweisen kann. Gelegentlich wird diese Diskussion sogar durch frag-
würdige Konvergenzannahmen zwischen Forschungs- und Handlungsmetho-
den überlagert beziehungsweise als wenig fruchtbar etikettiert, weil, so die
Vermutung, das rekonstruktive, qualitative Forschungsparadigma im Kon-
trast zu quantitativen Zugängen eine besondere Affinität zur Sozialen Arbeit
auszeichnet (Abschnitt 3). Der kritische Blick auf die Praxis rekonstruktiver,
qualitativer Forschung im Feld der Sozialen Arbeit wird mit einem die ge-
genwärtige Realität verlassenden kurzen Ausblick abgeschlossen (Abschnitt
5). Votiert wird hier abschließend wie auch schon in dem folgenden Ab-
schnitt für eine über empirische Befunde abgesicherte Theorie der Sozialpäd-
agogik.

1. Sozialpädagogische Forschungskultur im Zeitalter der


Modernisierung

Das sozialpädagogische Projekt hat gegenwärtig mindestens vier Aufgaben zu


bewältigen: Erstens sind die theoretischen Grundvokabeln weiterhin offen, zu-
mindest zu überprüfen und fortzuschreiben. Zudem ist es zweitens mit ständig
sich verändernden und potenzierenden Risiko- und Problemlagen konfrontiert
und darüber herausgefordert, die der Sozialen Arbeit eigenen praktischen Un-
terstützungs- und Hilfsleistungen, Interventionen und Bildungsangebote weiter
zu entwickeln. Drittens ist es durch die Veränderungen der sozialpädagogi-
schen Praxis - durch die Rationalisierungen ihrer institutionellen Organisati-
onsformen, durch Problemverschiebungen innerhalb der alten und neuen Ad-
ressatInnengruppen, durch veränderte Professionalisierungsansprüche und ge-
setzliche Rahmenstrukturen - konfrontiert mit neuen Forschungsfragen. Letzt-
endlich ist viertens die Aufgabe zu bewältigen, das Qualifizierungssystem für
Berufe der Sozialen Arbeit insgesamt strukturell und inhaltlich zu reformieren.
Schnell sind bezüglich dieser AufgabensteIlungen Diagnosen zur Hand,
die dem sozialpädagogischen Projekt angesichts der diversen offenen Fragen
und Aufgaben "ein" Scheitern vorhalten. Sicherlich tut sich die Sozialpäd-
agogik schwer, auf die doch einschneidenden gesellschaftlichen Modemisie-
" Wir lassen uns unsere Weitsicht nicht verwirren" 45
rungen mit adäquaten theoretischen Überlegungen zu reagieren. Beiträge zur
Theoriebildung werden schnell mit scharfer Zunge kritisiert - häufig aller-
dings etwas zu schnell und unbedacht, denn in schnelllebigen Zeiten haben
theoretische Überlegungen einen schweren Stand, sind vielleicht zuweilen
sogar eher Opfer der Geschwindigkeit des strukturellen Wandels der Gesell-
schaft als das Resultat unvollständiger, vorschneller Diagnosen. Vergleichba-
res lässt sich auch für die ebenfalls zuweilen heftig ausfallenden Kritiken ge-
genüber der Praxis festhalten. Auch diese versucht, den neuen Problem lagen
und Risikobelastungen zu entsprechen, vielleicht nicht immer gelungen, aber,
und dies ist keineswegs abwertend gemeint, wenigstens bemüht. Zumindest
ist zu beobachten, dass das sozialpädagogische Interventionsrepertoire an Ei-
genständigkeit gewinnt und diese auch gegenüber anderen Disziplinen zu-
nehmend deutlicher kundtut. Und trotz aller auch hier angemerkten und vor-
getragenen Skepsis gegenüber dem sozialpädagogischen Forschungsprojekt
hat sich dieses im letzten Jahrzehnt entwickeln und weiter profilieren können.
Die Soziale Arbeit scheint sich langsam von ihrer Empiriefeindlichkeit (vgl.
Niemeyer 1992b, S. 462) zu verabschieden.
Genauere Betrachtungen des sozialpädagogischen Projektes lassen aber
auch erkennen, dass die Entwicklungen, Fortschritte und Bemühungen, mit den
Veränderungen der Modeme Schritt zu halten, in den vier hier genannten Be-
reichen Theoriebildung, Praxisentwicklung, Forschung und Qualifizierung sehr
disparat und wenig aufeinander bezogen verlaufen. Dies ist einerseits selbstver-
ständlich eine Auswirkung gestiegener Komplexität und Unübersichtlichkeit
der jeweiligen Aufgaben- und Problemstellungen, andererseits sicherlich auch
der Expansion des Faches sowie dem internen Differenzierungsgrad zuzu-
schreiben. Ein die Entwicklungen wieder fokussierendes theoretisches Zentrum
fehlt, und auch keine der vorliegenden theoretischen Konzepte scheint hierfür
bereitzustehen, zumal einige theoretische Orientierungen in der Sozialpädago-
gik einen starken praxisreflektierenden - wenn nicht gar praxisorientierten -
"drive" aufweisen. Wenn zudem noch berücksichtigt wird, dass aufgrund der
feinen gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozesse und der damit verbun-
denen Komplexitätszunahmen die erkenntnisgewinnenden Möglichkeiten von
eindimensionalen "Supra-Theorien" erschöpft sind, dann sind unter einem
theoretisch-pragmatischen Blickwinkel reflexive, mehrdimensionale, nicht uni-
forme, partikulare Entwürfe der Sozialen Arbeit und verstehende Wissenskon-
zepte zu bevorzugen. Möglicherweise kann hier die Theorie der reflexiven
Modernisierung - in der Sozialpädagogik in unterschiedlichen Mixturen (vgl.
Niemeyer 1992a; Winkler 1995; Dewe/Otto 1996) und für die Soziologie aktu-
ell von U. Beck, B. Holzer und A Kieserling (2001) in einem neuen Gewand
und mit viel Esprit vorgetragen - helfen, die wenig aufeinander bezogenen
Diskurse und Entwicklungen in den einzelnen sozialpädagogischen Segmenten
zu bündeln. Zumindest bietet eine reflexive Modernisierungstheorie strukturell
das Potenzial, die Entwicklungen in der sozialpädagogischen Praxis wie auch
die der noch pubertären Forschungskultur mit zu beobachten und zu integrie-
46 Werner Thole

ren. Ohne mit der Schwäche gesellschaftstheoretischer Beliebigkeit zu koket-


tieren, kann die modernisierungstheoretische Konzeption mit dem Vorteil hau-
sieren, gegenüber anderen, gegenwärtig gehandelten theoretischen Vorschlägen
beobachtend und damit offen angelegt zu sein. Eine reflexiv ausgerichtete mo-
dernisierungstheoretische Grundlegung der Sozialpädagogik korrespondiert mit
den je spezifischen Aufgaben des - für viele magischen - sozialpädagogischen
"Vierecks": Theoriebildung, Praxisentwicklung, Ausbildungssystem und For-
schung,

• klassifiziert aber die zu beobachtende Erosion beziehungsweise Meta-


morphose sozialer Klassen und Schichten, Milieus, Lebenslagen, fami-
lialer und lebensweltlicher Strukturen nicht als Vereinzelungs- und Ent-
solidarisierungstendenzen, also quasi als individuell gesteuerte Verschie-
bungen der strukturellen Grundkonstanten der Gesellschaft, sondern als
Ergebnis der sukzessiven Implementierung eines neuen Ver gesell schaf-
tungsmodus unter dem analytischen Term der Individualisierung,
diagnostiziert aber beispielsweise die teilweise skurril anmutenden, nicht
immer auf Gleichheit und Gerechtigkeit abzielenden, xenophob ischen
und nationalistisch geprägten, wertekonfusen Deutungs- und Handlungs-
muster ihrer Adressatinnen nicht ausschließlich und primär als Folge ei-
nes gesellschaftlichen Werte- und Normenzerfalls, sondern als Ausdruck
veränderter Risiko- und Belastungslagen und damit einhergehender Un-
sicherheiten des Verstehens und Verhaltens,
• analysiert die nach mehr Effizienz und Effektivität trachtende Durchra-
tionalisierung des organisatorischen und institutionellen Netzwerkes So-
zialer Arbeit nicht ausnahmslos als eine "natürliche" Folge gesellschaft-
licher Ausdifferenzierungsprozesse, sondern auch als Resultat eben der
grundlegenden strukturellen Umwandlungsprozesse der modemen, indu-
striekapitalistischen Gesellschaften, also als Ergebnisse der Durchset-
zung neuer Rationalitätsmodi (vgl. Thole/Cloos 2000) und
• versteht die gegenwärtig zu beobachtenden Dequalifizierungstendenzen
der sozialpädagogischen Praxis und Diversifizierungstendenzen der Aus-
bildungslandschaft nicht als ein isoliertes Problem Sozialer Arbeit - aus-
gelöst entweder durch die "Inkompetenz" der im Feld der sozialpädago-
gischen Praxis Tätigen, durch institutionelle Blockaden gegenüber einer
professionelleren Ausbuchstabierung der sozialen Hilfe- und Bildungssy-
steme oder aber durch eine unzureichende, nicht auf der Höhe der Zeit
sich bewegende Qualifizierungslandschaft -, sondern begreift sie vor
dem Hintergrund einer generellen Unsicherheit der modemen Gesell-
schaft im Umgang mit den abrufbaren Wissensressourcen; neben dem
fundierten Fachwissen wird in neueren Studien das Erfahrungswissen als
notwendiger Wissenstypus qualifizierter Fachkräfte inzwischen wieder
deutlicher herausgestellt (vgl. Böhle u.a. 2001; auch Beck 1986).
" Wir lassen uns unsere Weitsicht nicht verwirren" 47

Sicherlich kommt der Forschung auch in anderen sozialpädagogischen Theo-


riekonzeptionen eine bedeutende Stellung zu. Die exklusive Rolle der For-
schung liegt im Kontext einer modernisierungstheoretischen Grundorientie-
rung jedoch in ihrer direkt theoriebildenden - allerdings keineswegs hierauf
reduzierten - Funktion. Für die Sozialpädagogik besteht nun die Aufgabe da-
rin, die Annahme einer Differenz zwischen erster und zweiter Moderne sozi-
alpädagogisch zu kontextualisieren, die Theorie der reflexiven Modernisie-
rung, die behauptet, "ein neues Spielregelsystem des Sozialen und Politi-
schen sei im Entstehen, das es sozialwissenschaftlich zu begreifen, zu be-
schreiben und zu erklären gilt" (BeckIBonß 2001, S. 13f.), in Bezug auf das
sozialpädagogische Themenspektrum zu drehen und in Forschungsfragen
empirisch zu operationalisieren. Die schon vorliegenden adressatInnen-, in-
stitutions-, methoden-, ausbildungs- und professionsbezogenen Fragestellun-
gen ergänzend ist im Wesentlichen und ungeachtet der schon vorliegenden
Befunde unter anderem dahingehend aufklärungsbedürftig,

ob und wenn wie sich die Globalisierungsströme und Individualisie-


rungsbewegungen auf die Soziale Arbeit auswirken - inwieweit die Lage
der AdressatInnen, aber auch die institutionalisierten Settings sozialer
Kontrolle und Disziplinierung auf der einen und der Hilfe, Unterstützung
und Bildung auf der anderen Seite die Soziale Arbeit nicht nur anregen,
sondern auch anhalten, sich neu zu positionieren - und
• ob sich nicht jenseits der Metamorphose sozialer Lebenswelten und -la-
gen neue Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern, Generationen,
zwischen und innerhalb unterschiedlicher Ethnien und Nationen, zwi-
schen "arm" und ,,reich", körperlich, kulturell und sozial am gesellschaft-
lichen Leben "voll" Teilnehmenden und den gänzlich oder partiell hier-
von ,,Ausgeschlossenen" nicht nur herausbilden, sondern auch die So-
ziale Arbeit herausfordern,
ob und wenn in welcher Form die Verwissenschaftlichung der Sozialen
Arbeit und die formale Hierarchisierung zwischen verberuflichten Ex-
pertInnen und Laien wieder in Richtung einer Stärkung beruflich nicht
professionalisierter sozialpädagogischer Handlungs- und Interventions-
formen gedreht wird und zu einer Neubewertung des so genannten Erfah-
rungs- und Orientierungswissens führt,
ob und wenn mit welchen Folgen ein soziales Europa die bisher gültigen
rechtlichen und institutionalisierten Standards sozialer Absicherungen
aufweicht,
inwieweit die Soziale Arbeit an dem Projekt der institutionalisierten Neu-
konstitution sozialer Lebenswelten mitwirken kann bzw. möchte, also
auch einen Beitrag zur Nebenfolgenkompensation der Erosion ständisch
gefärbter Lebensmuster und Identitätsentwürfe leisten kann,
48 Werner Thole

• wie "sich die Migration, die Toleranz und das Untolerierbare im dritten
Jahrtausend zueinander" (Eco 1999, S. 89) verhalten, wie sich die So-
ziale Arbeit zu dem Problem positionieren kann, einerseits ImmigrantIn-
nen das Leben ihrer sozialen und kulturellen Identität auch in der ,,Frem-
de" zu ermöglichen, anderseits jedoch auch wahrnimmt, dass diese Un-
terstützungen dazu betragen, noch nicht säkularisierte Orientierungen
politisch zu radikalisieren und fundamentalistische Deutungsmuster der
Ungleichheit zu stabilisieren,
• mit welchen Folgen die Soziale Arbeit durch ihre aktiven Integrations-
und Inklusionsleistungen Subjekten nicht auch erleichtert, normative ge-
sellschaftliche Standards zu internalisieren,
• inwieweit sich die ökonomische und ökologische Neuordnung auch auf
die Soziale Arbeit auswirkt und eine Neubewertung der ,,Arbeit" in der
"flexiblen" Erwerbsarbeitsgesellschaft provoziert und
• ob und wenn in welcher Form sich die Profession der Sozialen Arbeit mit
welchen empirischen Argumenten in die sich dynamisierenden sozial-
und kulturpolitischen Diskussionen neu einzubringen vermag.

Die Sozialpädagogik ist über diese neuen wie alten Fragen herausgefordert,
sich bezüglich ihrer theoretischen Vergewisserungen und handlungsprakti-
schen Operationalisierungen wesentlich deutlicher als bislang über empiri-
sche Beobachtungen abzusichern. Damit ist in Erinnerung gerufen, dass das
Nachdenken über sozialpädagogische Forschung sich nicht auf methodische
Fragestellungen reduzieren darf. Das Neu-Denken ist zu verorten in ein
Nachdenken über die Sozialpädagogik als ein Projekt, das sich erst mit der
Durchsetzung der Moderne konstituierten konnte und jetzt, zumindest wenn
den weitreichendsten gesellschaftlichen Theoriekonzepten nicht abgesagt
wird, vor der Aufgabe steht, einen Platz in den dynamischen Prozessen hin
zur "zweiten Moderne" zu finden, . die, so scheint es, kaum zu bremsen,
gleichwohl kritisch zu reflektieren und in ihrer Entwicklungsrichtung zu be-
einflussen sind.

2. Forschung als Gegenstand im Feld der Sozialen Arbeit

Relativ souverän, vielleicht sogar frech wurde bis dato von der Realität einer
sozialpädagogischen Forschung ausgegangen. Ob und wenn überhaupt mit
welchen inhaltlichen Akzentuierungen jedoch von "sozialpädagogischer For-
schung" gesprochen werden kann, ist strittiger als manche Annahmen unter-
stellen (vgl. u.a. Hornstein 1998; Lüders 1998; Mollenhauer 1998; Schulze-
Krüdener/Homfeldt 2002). Wird eine schnelle und einfache Klärung gesucht,
dann könnte sozialpädagogische Forschung einfach über die Forschungspra-
"Wir lassen uns unsere Weitsicht nicht verwirren" 49
xis der SozialpädagogInnen geortet und erkundet werden, also über jenes,
was im Rahmen der Sozialpädagogik als Forschung stattfindet. Sozialpäd-
agogische Forschung wäre dann die Forschung, die sich mit Fragestellungen
der Sozialen Arbeit im Allgemeinen und Besonderen beschäftigt oder aber
das Feld der Sozialen Arbeit als Forschungsgegenstand betrachtet. Oder wird
Forschung zu sozialpädagogischer Forschung erst durch eigenständige, spezi-
fische Fragestellungen, durch einen besonderen Gegenstandsbereich, durch
entsprechende Methoden und einen "sozialpädagogischen Blick"? Oder
kommt vielmehr erst in einer spezifischen Kombination und Verknüpfung
von Gegenstand, Fragestellung und Methode sozialpädagogische Forschung
zum Vorschein? Auch dieser Frage- und Themenkomplex ist bislang keines-
wegs klar, geschweige denn konsensual beantwortet (vgl. hierzu und zum
Folgenden RauschenbachfThole 1998). Bei genauerer Betrachtung sind min-
destens drei unterschiedliche Forschungsperspektiven auf das Feld der So-
zialen Arbeit zu erkennen. Erstens können wir eine sozialpädagogische Im-
port-Forschung entdecken. Hier liegt ein Typus von sozialpädagogischer
Forschung vor, der zwar auf ein sozialpädagogisches Interesse trifft, jedoch
wenig mit der disziplinären Fachkultur gemein hat, das heißt nicht aus sozial-
pädagogischen Diskursen heraus entwickelt und auch nicht dezidiert auf sie
rückbezogen wird. Einen solchen Typus von Forschung stellen beispielswei-
se jene Forschungsprojekte dar, die aus einer allgemein-sozialwissenschaftli-
chen, juristischen, historischen, medizinischen oder psychologischen Per-
spektive sozialpädagogisch relevante Fragestellungen und Gegenstandsberei-
che beleuchten, ohne den sozialpädagogischen Diskurs ausdrücklich im Blick
zu haben. Zweitens scheint es eine sozialpädagogische Export-Forschung zu
geben, also eine Forschung, die zwar von SozialpädagogInnen durchgeführt
wird, jedoch nicht auf sozialpädagogische Fragestellungen im engeren Sinne
bezogen ist. Dies wäre, etwas salopp formuliert, eine Art sozialwissenschaft-
liche Forschung aus dem "sozialpädagogischem Milieu". Und drittens kön-
nen wir eine sozialpädagogische Forschung im engeren Sinne erkennen, die
von sozialpädagogisch orientierten WissenschaftlerInnen zu Fragestellungen
der Sozialen Arbeit durchgeführt wird.
Im Unterschied zur sozialpädagogischen Import- und Export-Forschung
koppelt die genuin sozialpädagogische Forschung Forschungsfrage und For-
schungsgegenstand, basiert auf den Zusammenhang von sozialpädagogi-
schem Diskurs, einem daraus resultierenden "sozialpädagogischen Blick"
und dem sozialpädagogischen Beobachtungsgegenstand innerhalb des sozial-
pädagogischen Koordinatensystems. Als sozialpädagogische Forschung ist
folglich jene Forschung zu bezeichnen, die im Kern allgemeine, möglicher-
weise auch von anderen Disziplinen zu beobachtende Fragestellungen über
die Verknüpfung unterschiedlicher Aspekte, gesellschaftlicher Bereiche und
Spektren um einen der Sozialpädagogik eigenen, typischen "sozialpädago-
gischen Blick" anreichert, einen Blick, der zwischen ,,Feld- und Bildungs-
bezug", zwischen Subjekt- und Strukturperspektive, zwischen institutionellen
50 Werner Thole

und personellen Aspekten seinen Horizont entwickelt. Sozialpädagogische


Forschung unterscheidet sich von der soziologischen und psychologischen
Forschung also nicht nur durch einen eigenen thematischen Gegenstandsbe-
reich, sondern insbesondere durch die Verknüpfung unterschiedlicher Per-
spektiven. Sie interessiert sich, um das gemeinte beispielhaft zu illustrieren,
nicht nur für die Freizeitinteressen von Jugendlichen und für die habituellen
Profile, die die Jugendlichen in ihren Freizeitpraxen artikulieren, sondern
auch und insbesondere für die Institutionalisierungen dieser Praxen im Kon-
zert der sozialpädagogischen Angebote, für die Interaktionskonstellationen
zwischen sozialpädagogischem Personal und den AdressatInnen und für die
Wirkungen der sozialpädagogischen Nomenklatura auf die Alltagsgestaltun-
gen beispielsweise von Kindern und Jugendlichen (vgl. Lüders 1998; Rau-
schenbachffhole 1998; Thole 1999a).
Diese zum einen enge wie zugleich auch weite Dimensionierung des so-
zialpädagogischen Forschungsblicks ist in Bezug auf die gegenwärtig er-
kennbaren, allerdings nur wenig diskutierten methodologischen Konzepte
und Profilierungen sowie hinsichtlich der Methoden einer sozialpädagogi-
schen Forschung zu vertiefen. Nicht nur das, was sozialpädagogisch For-
schung sein kann oder könnte, auch die Funktion, die der Forschung im Feld
der Sozialen Arbeit übertragen wird, ist different. Sehen die einen sozialpäd-
agogische Forschung als Medium zur Effektivierung der Praxis Sozialer Ar-
beit, wünschen andere mit ihr das Theorie-Praxis-Problem zu lösen oder be-
trachten sie als Medium der Reflexion sozialpädagogischer Problem- und
AufgabensteIlungen, definieren gar die Praxis selbst als immanenten For-
schungsprozess, präjudizieren die qualitative Forschungsmethodologie zum
Kern sozialpädagogischer Erkundungen, und letztendlich stehen andere em-
pirischen Untersuchungen aus sozialpädagogischer Perspektive sogar skep-
tisch gegenüber, weil die Sozialpädagogik noch nicht die begriffliche Präzi-
sion erfahren hat, die notwendig ist, um Forschungsfragen und -aufgaben
theoretisch klar definieren zu können (vgl. u.a. Hornstein 1998). Die theoreti-
schen und forschungsbezogenen Diskussionen der Sozialpädagogik fokussie-
ren in den einzelnen Konzepten weniger direkt methodologische als pro-
grammatische Aspekte. Unterschiedlich ausgefächert platzieren sie ihre kon-
zeptionellen Überlegungen an der Schnittstelle zwischen Disziplin, Wissen-
schaft und Theorie auf der einen und Praxis und Profession auf der anderen
Seite oder begründen ihren Vorschlag und ihre Perspektive forschungsme-
thodisch beziehungsweise begriffstheoretisch. Im Kern können drei unter-
schiedliche Forschungskonzepte unterschieden werden (vgl. Engelke 1992;
Dtto 1998; Thole 1999a):

• Erstens ist eine handlungsorientierte Praxisforschung zu lokalisieren, der


die Aufgabe angetragen wird, die Nahtstelle zwischen sozialpädagogi-
scher Theoriebildung, Ausbildung und Handlungspraxis über erkundende
" Wir lassen uns unsere Weitsicht nicht verwirren" 51

Beobachtungen der Letzteren zu schließen. Diesem Konzept geht es pri-


mär um eine handlungsorientierte Optimierung der Praxis.
• Zweitens ist eine professionsorientierte, ret1exive Forschung als Typus
zu lokalisieren, die sich dem Ziel verpt1ichtet fühlt, die Handlungspraxis
über explorative Studien zu erschließen, um hierüber diese zu professio-
nalisieren. Dieser Forschungstypus setzt auf die angeleitete Ret1exion so-
zialpädagogischer Praxis und sucht nach generalisierbarem Professions-
wissen, zielt aber zugleich auch darauf, das Potenzial der Erkundungen
theoretisch aufzuarbeiten.
Und drittens ist neben diesen beiden, eher anwendungsbezogenen For-
schungstypen eine grundlagenorientierte Forschung zu lizensieren, also ei-
ne wissenschaftliche, grundlagenbezogene Disziplinforschung. Im Kern
zielt diese Perspektive darauf ab, ,,Erkenntnisse systematisch zueinander in
Beziehung zu setzen und einer theoriegeleiteten Interpretation zu unter-
ziehen, um Aussagen mit generalisierender Tendenz zu gewinnen" (Otto
1998, S. 134). Die Filtrierung von neuem, wissenschaftlichem Wissen steht
hier im Zentrum, also die Generierung von theoretischen Wissensbestän-
den im Feld der Sozialen Arbeit. Der direkte Praxisbezug, also die Er-
kenntnisproduktion von unmittelbar verwertbarem Praxiswissen, steht in
der sozialpädagogischen Grundlagenforschung nicht an erster Stelle.

Unabhängig von den einzelnen forschungsmethodologischen Profilen hat ei-


ne sich als sozialpädagogisch verstehende Forschung Fragen im Kontrast zu
soziologischen, pädagogischen und betriebswirtschaftlichen Forschungszu-
gängen zu formulieren und unter Rückgriff auf das Reservoir sozialwissen-
schaftlicher Forschungsmethoden zu operationalisieren. Die Eigenständigkeit
sozialpädagogischer Forschung liegt dabei im thematischen Zugriff, in der
Vernetzung von adressatInnen-, institutions- und professionsbezogenen Fra-
ge- und Problemstellungen. Eine solcherart operationalisierte Forschung ist
nicht identisch mit psychologischen oder soziologischen, betriebswirtschaft-
lichen oder juristischen Forschungsorientierungen. Selbstverständlich be-
schäftigen sich auch die Soziologie, Psychologie und partiell immer wieder
auch die Rechtswissenschaft sowie neuerdings die Betriebswirtschaft mit
Fragestellungen der Sozialen Arbeit. In der Mehrheit der Fälle sind die hier-
bei erarbeiteten Befunde allerdings im Kern nicht "sozialpädagogisch", son-
dern entsprechen der hier referierten Differenzierung zufolge tendenziell dem
Typus einer "Import-Forschung", präsentieren also von der Sozialpädagogik
zwar rezipierbares empirisches Wissen, sind aber keineswegs genuin sozial-
pädagogisch verfasst. Mit dem Typ einer genuin sozialpädagogischen For-
schung würden sie dann übereinstimmen, wenn sie im Prozess der Forschung
selbst einen sozialpädagogisch kanonisierten Blick auf das Feld entfalten und
hierüber einen erkennbaren und als solchen ausgewiesenen Beitrag zur Beob-
achtung von sozialpädagogischer Praxis, zur disziplinären Ausbuchstabie-
rung, also zur Theorieentwicklung und wissenschaftlichen Fundierung, oder
52 Werner Thole

zur professionellen Entfaltung und damit auch zur reflexiven Selbstbeobach-


tung der Sozialpädagogik akzentuieren. Hiermit wird nicht einer neuen Hier-
archisierung das Wort geredet. Soziologische oder psychologische empiri-
sche Beobachtungen kommen im konkreten Fall möglicherweise nicht weni-
ger Relevanz für das sozialpädagogische Projekt zu als manchen Einzelbe-
funden sozialpädagogischer Forschungen. Dennoch erfüllen diese empiri-
schen Ergebnisse nur dann die Merkmale einer sozialpädagogischen For-
schung, wenn sie bewusst und deutlich herausgebildet zur professionellen
und disziplinären Fassung und Aufklärung der Sozialpädagogik beitragen.
Aber: Die weitere professionelle Profilierung der Sozialpädagogik als wis-
senschaftliche Disziplin wie auch als berufliches Handlungssystem wird nicht
von ihrer Fähigkeit abhängen, Forschungsbefunde zu lesen, sondern wird we-
sentlich darüber bestimmt, ob und inwieweit es gelingt, den Typus einer "so-
zialpädagogisch" prononcierten Forschung schärfer als bisher herauszubilden
und zu etablieren.

3. Die Forschungsfrage, nicht das eigene "Können"


beantwortet die Methodenfrage - Plädoyer für
methodologische Pluralität und Offenheit

Die hier vorgetragene Annahme, wonach erstens gute Argumente dafür spre-
chen, von der Existenz einer eigenständigen sozialpädagogischen Forschung
auszugehen, diese sich jedoch zweitens nicht durch eine neue Meta-Methodo-
logie in Konkurrenz zu den Sozialwissenschaften begründet, sondern über die
punktgenaue thematische Herausarbeitung und Präzisierung des jeweiligen
Forschungsgegenstandes und fundierte Wahl des methodischen Designs, aus-
gewählt aus dem Methodenreservoir der Sozialwissenschaften, ist eben genau
hinsichtlich der methodischen Repertoires zu präzisieren. Insbesondere
scheint dies angemessen, weil von "forschungsfernen", sozialpädagogischen
Konzepten immer noch ein auffälliges Unbehagen gegenüber der konventio-
nellen Sozialforschung auf Grund ihrer demonstrativen Unterstreichung stan-
dardisierter Erhebungsinstrumente signalisiert wird. Mit anderen Worten: So-
zialpädagogischer Forschung wird - zumindest in den vielen praxisorientier-
ten Projekten - eine deutliche Affinität insbesondere zu "qualitativen" Erhe-
bungsformen zugesprochen. Zuweilen wird sogar angenommen, insbesondere
die qualitative Sozialforschung erhält im Mantel der Sozialpädagogik das ihr
eigene Profil (vgl. u.a. Kraimer 1994).
Das Unbehagen gegenüber standardisierten, quantitativen Verfahren war
jedoch zu keiner Zeit Gegenstand einer ausgewiesenen fachlichen Methodenre-
flexion bzw. -debatte, obwohl - historisch betrachtet - Forschungsprojekte zu
Fragestellungen der Sozialen Arbeit im letzten Jahrzehnt deutliche Sympathien
" Wir lassen uns unsere WeItsicht nicht verwirren" 53
für qualitative, induktive Verfahren zeigten und eine wenig begründete und
ausgewiesene Skepsis gegenüber der quantitativen, hypothetisch-deduktiven
Methodologie entwickelten. In der Sozialpädagogik gibt es offensichtlich ähn-
lich wie in der Erziehungswissenschaft Gründe, über die Schwierigkeiten des
Umgangs mit der Entscheidung für oder gegen qualitative oder quantitative
Methoden nachzudenken bzw. ,,Reservate für die Entwicklung und Anwen-
dung dieser Methoden zu fordern" (Prein/Erzberger 2000, S. 344).
Erst im Zuge der sich in jüngster Zeit profilierenden sozialpädagogischen
Forschung, insbesondere als Kinder- und Jugendhilfeforschung, rücken for-
schungsmethodische Fragen dezidiert (vgl. u.a. aktuell Jakob 1997; Lüders
1997) und im Kontext oder als Resultat von konkreten Forschungsprojekten
(vgl. u.a. Haupert 1991; Helsper u.a. 1991; Thole 1991; Nölke 1994; Projekt-
gruppe Jugendhilfe im Umbruch 1994; Thole/Küster-Schapfl 1997) stärker
ins Blickfeld. Über die sich hierüber anzeigende Entwicklung ist die Frage,
inwieweit sich eine eigenständige sozialpädagogische Forschung gegenüber
Projekten und Fragestellungen in Bezug auf andere disziplinäre Forschungs-
zugänge nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch zu profilieren vermag
oder sich nur im Kontext dieser generell ausbuchstabieren lässt, neu auf die
Tagesordnung gesetzt. Gegenüber den tendenziell primär handlungs- respek-
tive aktionsorientierten und praxisevaluierenden Projekten der 1970er Jahre
und den stark an aktuelle, theoretische Fragen angekoppelten Forschungs-
projekten der 1980er Jahre sind die methodischen Vergewisserungen seit der
ersten Hälfte der 1990er Jahre möglicherweise erste Indizien für eine deutli-
chere und selbstvergewissernde Rahmung der methodischen Designs und
Verfahren der neueren Forschungen im Feld der Sozialpädagogik. Neben den
handlungsorientierten Forschungen und text- und sozialgeschichtlich ange-
legten Untersuchungen sind seit diesem Zeitpunkt verstärkt qualitativ orien-
tierte, mit narrativen Verfahren, teilnehmenden Beobachtungen, Verfahren
der Gruppendiskussion und anderen rekonstruktiven Methoden operierende
Projekte (vgl. die Übersichten bei Jakob 1997; Lüders 1997; Schefold 2002)
als auch repräsentativ angelegte, kinder- und jugendhilfeorientierte Panora-
ma- und Längsschnittstudien sowie sekundäranalytische Auswertungsverfah-
ren und kritisch aufarbeitende, theoriegeleitete, felderschließende Studien
(vgl. u.a. Thimm 2000) zu entdecken.
Obgleich ein Ende der Diskussionen um die Adäquatheit qualitativer und
quantitativer Methoden auch in den Sozialwissenschaften noch nicht gänzlich
beendet scheint, der Methodenstreit fortdauert (vgl. u.a. Esser 1987; Hitzler/
Honer 1997; Prein/Erzberger 2000), geht es doch inzwischen nicht mehr so
sehr um weitere Abgrenzungen der unterschiedlichen Forschungsstrategien,
sondern darum, die gewählte methodische Orientierung zu präzisieren und ih-
re Angemessenheit für die gewählten Fragestellungen und die Validität der
erhobenen Wissenskontingente zu belegen (vgl. Schröer 1994; HitzlerlHoner
1997). Diese Ortsbestimmung erlangt auch in der Sozialpädagogik immer
mehr Aufmerksamkeit (vgl. RauschenbachlThole 1998; Thole 1999a). In der
54 Werner Thole

rekonstruktiven, nicht standardisierten qualitativen wie auch der quantitati-


ven, standardisierten, auf Massendaten vertrauenden Sozialforschung ist ne-
ben einer Spezialisierung der methodischen Verfahren auch eine Annäherung
der beiden Paradigmen zu erkennen, forciert insbesondere über die zuneh-
mend von hypothesengenerierenden Methoden abstrahierende und stärker re-
konstruktive, ethnographische Zugänge integrierende und damit Totalitätszu-
sammenhänge herausarbeitende quantitative Sozialforschung. Gleichwohl ist
das Plädoyer für eine ,,Entideologisierung der Methoden" (vgl. PreinJErz-
berger 2000) zu vertiefen und im Kontext von konkreten Forschungsprojek-
ten und den hier entwickelten Fragen zu thematisieren.
Vielleicht etwas unorthodox wird hier die Zu schreibung ,,rekonstruktiv"
nicht als exklusive Codierung für qualitativ orientierte Projekte reserviert und
damit Abschied genommen von der Vorstellung, dass auf quantitative Me-
thoden gestützte Verfahren immer normativ-analytisch und rekonstruktiv-
qualitative Studien orientierte empirisch-analytisch angelegt sind (vgl. Ha-
bermas 1973). Rekonstruktiv benennt Forschungszuschnitte, die der "gesell-
schaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit" (BergerlLuckmann 1980) nach-
spüren, also die Latenzen sowie interne und gesellschaftliche Logik der un-
tersuchten Sachverhalte herausarbeiten, diese - idealtypisch - unter einer
zweifachen Perspektive dechiffrieren und einerseits die gesellschaftlichen
Strukturbedingungen und Vergesellschaftungsformen in den erhobenen Be-
funden zu identifizieren versuchen ohne gleichzeitig - andererseits - zu ver-
gessen, dass sich diese system ischen Parameter auch in den "innersten Zellen
der Subjektivität" (Dubiel 1983) mitteilen. Eine kritische, gesellschaftsanaly-
tische Empirie wird keinen Anlass finden, begründet hinter diese anstrengen-
de Anforderung zurückzufallen, es sei denn, sie befriedigt sich mit der Rolle
affirmativer Akklamation des Beobachteten (vgl. Krügerrrhole 1998).
Gleichwohl ist ihre Realisation im Kontext der konkreten Forschungspraxis
abhängig von den jeweiligen Fragestellungen und methodischen Zugängen
sowie von den Kontingenzen des forschenden Prozesses selbst - deutlicher:
Die forschungs empirische Operationalisierung wird auch bestimmt durch die
jeweils gegebenen forschungsintentionalen und -pragmatischen Möglichkei-
ten und Grenzen, denn es ist unrealistisch, die angedeuteten Dimensionen in
jedem Projekt und bezüglich jeder Fragestellung in aller Breite zu erfassen.
Sekundäranalytische Auswertungen von statistischen Daten ermöglichen
vielleicht noch, die in den Daten sich manifestierende gesellschaftliche Wirk-
lichkeit strukturell zu vergegenwärtigen. Die Verfasstheit der die Daten pro-
duzierenden Subjekte ist jedoch auf Grund der Materialqualität in diesem Fall
nicht rekonstruierbar. Die Datenbasis relativiert die Potenzialität der Rekon-
struktionsebenen und -tiefe forschungsprojektbezogen pragmatisch.
Unbedeutend ist es bezüglich dieses Anspruches, ob die Daten und Mate-
rialien mithilfe quantitativer "Massenuntersuchungen" oder qualitativ erho-
bener Einzelfallstudien gewonnen werden. Rekonstruktiv ist somit kein Sig-
net für einen bestimmten methodischen Forschungszuschnitt, sondern für ei-
" Wir lassen uns unsere Weitsicht nicht verwirren" 55
ne die Totalität der Sache zu erfassen suchende, die gesellschaftlichen Struk-
turbedingungen mit reflektierende und nicht nur auf Oberflächenphänomene
schauende, faktenorientierte Hermeneutik. Deutlicher formuliert, um nicht
missverstanden zu werden: Hiermit ist nicht gemeint, dass etwa Deutungs-
und Handlungsmuster, mit deren Hilfe AkteurInnen ihren Alltag organisieren
und ihre Lebenswelt konstituieren, jetzt plötzlich verteilungsorientiert unter
Verwendung quantitativer Verfahren aufgeschlüsselt werden sollen und kön-
nen. Ebenso wenig ist es andererseits beispielsweise möglich, die gesell-
schaftlichen Ungleichheitsbedingungen und ihre regionale Verteilung mit
qualitativen Methoden in aller Breite zu erheben. Die jeweiligen Fragestel-
lungen operationalisieren die Forschungsmethoden und die hermeneutischen
Intentionen haben zu dokumentieren, inwieweit den Ansprüchen einer rekon-
struktiven Totalitätsperspektive entsprochen wird. Ob sich jedoch rekon-
struktive Zugänge in der quantitativen Sozialforschung durchzusetzen ver-
mögen, ist ungewiss.
Um keine utopischen Botschaften als Wirklichkeit zu stilisieren, können
nach dem bisherigen Stand der Dinge auch zukünftig die traditionell-klassi-
schen Unterschiede zwischen den beiden Paradigmen nicht übersehen wer-
den: Das quantitative Paradigma favorisiert tendenziell eine statische, auf die
Konstitution des Gegenstandes ausgerichtete, das rekonstruktive, qualitative
eine prozess bezogene, dynamische, betroffenenbezogene Realitätssicht; die
Deutung des erhobenen Materials vollzieht sich in der quantitativen Perspek-
tive generalisierend, deduktionistisch und mit dem Ziel der Objektivität, in
der qualitativen verstehend interpretativ, konkret bezogen auf das Material,
induktiv und um die Subjektivität der Deutung wissend; die Forschungsper-
spektive des quantitativen Paradigmas ist distanziert und die Untersuchungs-
perspektive ist auf die Eruierung von Kausalzusammenhängen und Tatsachen
gezielt, im qualitativen Paradigma dominiert eine die Deutungs- und Lebens-
muster der Beforschten verstehend rekonstruierende Forschungsintention und
ein die Totalität des Gegenstands beobachtendes, ganzheitliches Untersu-
chungsziel; und letztlich ist die Theoriegenerierung in der quantitativen Sozi-
alforschung vom empirischen Prozess insofern unabhängig, als dass der For-
schungsprozess lediglich Hypothesen zu verifizieren bzw. falsifizieren, nicht
jedoch zu entwickeln hat, im Gegensatz zur qualitativen, wo die empirische
Feldarbeit selbst Teil der Theorieproduktion ist und theoretische Bezugs-
punkte allenfalls als Forschungshintergrund, nicht jedoch als hypothetische
Konstanten fungieren. Aber - und dieser Aspekt sollte hier herausgeschält
werden - in der quantitativen Methodologie sind Bewegungen in die Rich-
tung offener Fragestellungen und damit partiell rekonstruktiver Perspektiven
zu erkennen (vgl. u.a. Bonß 1982; Thole 1999b; PreinlErzberger 2000). Im
Kern geht es demzufolge um die Stärkung des Profils der jeweiligen metho-
dischen Designs und Paradigmen ohne generalisierende Abwertung des je-
weils anderen Zugriffs, also um die Reklamierung einer gemeinsamen Auf-
klärungshoffnung unter ausgewiesener Akzentuierung der Divergenz, wenn
56 Werner Thole

dem Ziel zugesprochen wird, das sozialpädagogische Forschungsprojekt ins-


gesamt zu stärken. Dieses Diktum impliziert und erfordert allerdings auch,
sich der gegenwärtigen Praxis der quantitativ orientierten und ebenso der
qualitativ ausgerichteten Forschungsbemühungen kritisch zu nähern.

4. Zwischen Selbstblockierung und Hemdsärmligkeit -


Blick in die Praxis

In dem Maße, indem rekonstruktive, qualitative empirische Verfahren inner-


halb der Sozialwissenschaft an Akzeptanz gewinnen, scheinen sie im engeren
disziplinären Diskurs der Sozialpädagogik an Anerkennung und Bedeutung
zu verlieren. Die Suche nach so genannten "brute facts", scheinbar objekti-
vierbaren Daten und Befunden, gewinnt in den fachlichen Diskussionen an
Relevanz, auch um die, insbesondere der Praxis der Sozialen Arbeit zuge-
schriebene Krisenhaftigkeit im öffentlichen Diskurs zu widerlegen. Zuweilen
sprechen sogar gerade diejenigen, die rekonstruktive, qualitative Methoden
bevorzugen, den Ergebnissen quantitativer Studien eine größere Objektivität
zu als den selbst erhobenen Daten, gleichwohl damit einher kein Ausbau der
auf quantitativ-,,harte Empirie" setzenden Projekte zu beobachten ist, sondern
im Gegenteil ein vermehrtes "Setzen" auf rekonstruktive, qualitative Vorha-
ben, auch weil unterstellt wird, sie seien einfacher zu handeln. Übersehen
wird dabei, dass auch quantitativ erhobene Befunde nicht immer Resultat ei-·
ner methodisch sauber und durchplausibilisierten Forschungspraxis sind und
im Kern nicht weniger subjektiven Deutungen unterliegen als die so genann-
ten "weichen" Befunde der rekonstruktiv-qualitativen Empirie.
Gleichwohl soll hier der Blick auf die Grenzen und Schwächen des rekon-
struktiven, qualitativen Forschungsparadigmas beschränkt bleiben. Die vieler-
orts wahrzunehmende Auffassung, rekonstruktive, qualitative Methoden seien
einfacher zu operationalisieren, erforderten weniger an handwerklichem Kön-
nen und wissenschaftstheoretischem Wissen, entzögen sich einer deutlich
konturierten methodischen Standardisierung und seien insgesamt flexibler zu
handhaben, konstituierte eine Forschungskultur in der Sozialen Arbeit - und
nicht nur hier -, die zu methodischen "Unsauberkeiten" neigt und der erhobe-
nen Datenqualität nicht einmal selbst durchgängig vertraut. Diese Bewertung
trägt wesentlich dazu bei, dem quantitativen gegenüber dem rekonstruktiven,
qualitativen Methodenzugang ein höheres Maß an Objektivität zuzusprechen -
vielleicht spielt auch bewusst oder unbewusst eine Rolle, dass nach dem Motto
"wir lassen uns unsere Weitsicht nicht verwirren ... " empirische Erkundungen
nicht durchgehend ergebnisoffenen durchgeführt werden. Die ,,Beobachtung
der Beobachter" (Gängler 1995) - in der Praxis der Forschung, in der Rede
" Wir lassen uns unsere WeItsicht nicht verwirren" 57
über Forschung und der Ausbildung für die Forschung - tendiert in die Rich-
tung einer Bekräftigung dieses Befundes:

• In Bezug auf die aktuelle Forschungspraxis ist ohne denunziatorische,


diskreditierende Absicht - die Verunsicherungsqualität scharfer Kritik
(vgl. u.a. Fritze/Gredig/Wilhelm 2000), zumal wenn sie als überzogen
oder als unberechtigt empfunden wird, ist ebenso bekannt wie das Wohl-
gefühl nach positiven Bezugsetzungen (vgl. Wigger 2000) - festzustel-
len, dass schon die Ortung der Differenz und Komplementarität von Deu-
tungsmuster- und Habitusanalysen, der Unterschied, ob nach den Sinn-
strukturen oder nach den lebensweltlichen Orientierungen, nach dem
biographischen Weg oder nach lebenslaufstützenden Orientierungen ge-
fragt wird beispielsweise entscheidend für die Wahl der rekonstruktiv,
qualitativen Forschungsmethode ist. Die Entscheidung, ob ethnographi-
sche, beobachtende oder phänomenologisch lebensweltbezogene, biogra-
phieanalytische, narrative oder problemzentrierte Interviewtechniken,
Einzel- oder Gruppenbefragungen, Gruppendiskussionen oder Rollen-
spiel gestützte Verfahren zur Anwendung gelangen, hängt von der Pro-
blem- und Fragestellung des Forschungsvorhabens ab. Gleichwohl fällt
die Wahl auf diese oder jene Methode zuweilen willkürlich: Gültigkeits-
kriterien werden missachtet oder mit Bezug auf das konkrete Material
erweitert, narrativ-biographische Zugänge erfolgen in einer standardi-
sierten Form, Auswertungsmethoden werden willkürlich gewählt, ohne
zu prüfen, ob sie in Bezug auf das erhobene Material überhaupt eine Re-
levanz besitzen. Dass Fragen nach der gewählten Auswertungsmethode
zuweilen nur mit "interpretativ" oder "qualitativ" beantwortet werden
und weitere Nachfragen unbeantwortet bleiben, kann nur wenige ver-
wundern und ist nur darüber zu erklären, dass die Unterschiede - aber
auch Gemeinsamkeiten - zwischen phänomenologischen, also tendenzi-
ell dokumentierenden und sinnverstehenden, soziale Handlungsstruktu-
ren rekonstruierenden, also reflektierenden und deutungs-, handlungs-
und tiefenstrukturgenerierenden Auswertungsverfahren (vgl. u.a. Lüdersl
Reicherts 1986; FlicklKardorff/Steinke 2000) unbekannt sind oder aber
als nicht relevant klassifiziert werden. Manchmal drängt sich gar der
Eindruck auf, dass in einer Art Selbstblockierung und Angst vor der ei-
genen Forschungsfrage die Fragestellung über die anvisierte Methode
und nicht die empirische Forschungsmethode über die Fragestellung ge-
steuert wird, also quasi die Methoden die Fragen und Fragerichtungen
einengen, kontrollieren und instrumentalisieren.
Bezüglich des rekonstruktiv-qualitativen Methodemepertoires stehen die
wissenschaftlichen Reflexionen vor dem Problem, erkenntnisleitende
Schneisen in eine noch wenig ausbuchstabierte und durchforstete metho-
denorientierte Diskussionslandschaft zu legen. Das gelingt anscheinend
mit wachsendem Erfolg, denn generell ist wahrzunehmen, dass die me-
58 Werner Thole

thodologischen Reflexionen zunehmend Fragen in den Blick nehmen, die


bis dato auf der Ebene der allgemeinen Forschungspraxis als gelöst gal-
ten. Partiell jedoch stützt die wissenschaftliche Rede über die Forschung
immer noch eine "hemdsärmelige" Forschungspraxis und scheint so den
laxen Umgang mit der Methodenfrage zu fördern. Ethnographische Me-
thoden und Gruppendiskussionsverfahren werden beispielsweise als
"ausgewählte Methoden der Datenerhebung" der Biographieforschung
vorgestellt (vgl. Marotzki 1999, S. 115) oder aber die Ethnographiefor-
schung wird mit dem gesamten, vielfältig strukturierten Feld der rekon-
struktiven, qualitativen Forschung gleichgesetzt (vgl. Knoblauch 2001, S.
123) - trotz der vielfach kommunizierten Erkenntnis, "dass mit den Be-
griffen Ethnographie und Biographieforschung ( ... ) doch zwei sehr unter-
schiedliche methodische Welten umrissen werden" (Lüders 1999, S.
136). Vor diesem Hintergrund tragen methodologische Reflexionen
möglicherweise zu der zuvor beklagten Herausbildung einer nicht immer
methodensicheren Forschungspraxis bei.
• Die Defizite in der forschungsmethodologischen Ausbildung - auch hin-
sichtlich der Einübung qualitativ-rekonstruktiver Verfahren - sind allge-
mein bekannt, so dass die hier erneute Feststellung, dass die methodische
Ausbildung in den erziehungs wissenschaftlichen und sozialarbeitsfeldbe-
zogenen Studiengängen keineswegs durchgängig und überall eine wich-
tige Rolle spielt (vgl. u.a. Zinnecker 1993; Krüger 1996; Jacobi 1998),
kaum Verwunderung hervorrufen wird. In gewisser Weise stehen hierfür
die Diskussionen um das erziehungswissenschaftliche Kerncurriculum
exemplarisch. In einem Beitrag zur "gegenwärtigen Situation des Aus-
bildungswissens" diskutiert L. Wigger (1999) beispielsweise die Unbe-
stimmtheit des anzueignenden Wissens, die Unverbindlichkeit des Lehr-
angebots und die Rolle der ins Studium eingelagerten Praktika, nicht aber
die Relevanz der Einübung empirischer Verfahren. Dabei ist die Situati-
on nicht einmal den curricularen, in den Prüfungs- und Studienordnun-
gen fixierten Rahmenstrukturen zu überantworten. In den erziehungswis-
senschaftlichen Hauptfachstudiengängen werden in den inzwischen 15
Jahre alten, aber seitdem nicht reformierten Erläuterungen zur Rahmen-
prüfungsordnung für das Grundstudium vier Semesterwochenstunden
Statistik und weitere sechs Semesterwochenstunden für die Einübung
empirischer Methoden unter pädagogischen Fragestellungen empfohlen.
Im Hauptstudium sollen je zwei Methodenseminare allgemeiner Art und
in der gewählten Studienrichtung weitere vier Semesterwochenstunden
zu forschungsmethodologischen Fragen von den Studierenden belegt
werden können. An den Universitäten - und neuerdings auch in den Prü-
fungs- und Studien ordnungen vieler sozialpädagogischer Fachhochschul-
studiengänge - findet die Ausbildung in empirischen Forschungsmetho-
den strukturell also schon eine Verankerung. Die Praxis zeigt allerdings
ein anderes Bild. Lehrveranstaltungen in empirischen Forschungsmetho-
" Wir lassen uns unsere Weitsicht nicht verwirren" 59
den werden in vielen erziehungswissenschaftlichen Hauptfachstudien-
gängen nur im Grundstudium verpflichtend vorgeschrieben, und allge-
mein realisieren diese kaum mehr als die Möglichkeit, mit dem Spektrum
empirischer Methodologie einführend bekannt zu werden (vgl. u.a. Abel
1995). Diese Realität wird auch in den sozialpädagogischen Studien-
schwerpunkten nicht gebrochen, im Gegenteil sogar noch unterlaufen.
Auch wenn vielerorts der Einführung in die Methodologie empirischer
Verfahren mehr Aufmerksamkeit zuteil wird, allgemein die Bedeutung
der Einübung von Erhebungs- und Auswertungsverfahren betont wird,
bleibt deren konkrete Implementierung in den Studiengängen auf einem
unterkomplexen Niveau. Dies betrifft auch und insbesondere rekonstruk-
tive, qualitative Methoden. Die Komplexität und Vielfalt der rekonstruk-
tiv-qualitativen Methodologie werden beispielsweise dann, wenn Studie-
rende in ihrer Studienabschlussphase mit ihr konfrontiert werden, nicht
gesehen. Sogar bei Dissertationsprojekten wird der forschungsmethodi-
schen Absicherung der Fragestellungen nur wenig Aufmerksamkeit ge-
schenkt. Wer kennt nicht den Hinweis, und wenn auch nur als Flurge-
sprächsfloskel, "Wenn Sie keine Forschungserfahrungen haben, dann
machen Sie das doch qualitativ ... ?" Fragen nach einer angemessenen
methodologischen Operationalisierung der Forschungsfrage werden im
hochschulischen Alltag zuweilen damit beantwortet, dass die Methoden-
frage
sich bei einer soliden Fragestellung von selbst löst,
• von den wesentlich wichtigeren, theoretischen Implikationen ablenkt,
• doch nur der Legitimation dient oder
aber egal ist, weil auf Grund des "subjektiven" Status der rekonstruk-
tiven, qualitativen Verfahren diese sowieso nicht von Relevanz ist.
Die Antworten werden von Studierenden gerne gehört, befreien diese sie
doch häufig von einer bis in die Studienendphase hinein verschobenen, in-
tensiveren Beschäftigung mit empirischen Verfahren. Sie dokumentieren
aber auch die rudimentäre Aufmerksamkeit gegenüber der methodischen
Absicherung empirischer Untersuchungen. Die Einführung und die Ein-
übung in forschungsmethodologische Fragestellungen im Kontext des so-
zialpädagogischen Kernangebotes an Universitäten und Fachhochschulen
sind über weite Strecken katastrophal und werden auch über die Wahl-
pflicht-, Ergänzungs- und studierten Zweitfächer kaum ausgeglichen. Die
geringe Zahl in Forschungsmethoden qualifizierter KollegInnen kann so
kaum verwundern. In der disziplinären Zunft der Sozialpädagogik erfährt
das Problem der forschungsmethodologischen Absicherung kaum Beach-
tung, gleichwohl auf den offiziellen Bühnen niemand öffentlich eingeste-
hen würde, dass ihn die Diskussion und Beschäftigung mit den methodi-
schen Grundlegungen empirischer Arbeiten keinesfalls ebenso intellektuell
fordert wie die Frage nach dem richtigen theoretischen Grundparadigma
für die Sozialpädagogik. In der Regel sind es, wenn überhaupt, jüngere
60 Werner Thole

KollegInnen, die den ,,Nachwuchs" auf forschungsmethodische Problem-


stellungen ihrer Qualifizierungsprojekte hinweisen oder diese mit ihren
immer neuen Hinweisen auf methodische Uneindeutigkeiten der Projekte
,,nerven". Wenn diese Eindrücke aus dem Hochschulalltag nicht an der
Wirklichkeit vorbeizielen, bliebt nur zu konstatieren, dass einerseits Unsi-
cherheit darüber besteht, welche Fragestellung mit welcher empirischen
Methode bestmöglich beantwortet werden kann, und andererseits das Di-
lemma einer nicht vollständig ausgebildeten, hemdsärmelig gestrickten
Methodenkompetenz weiterhin existiert.

Die Herausbildung einer breiten sozialpädagogischen und erziehungswissen-


schaftlichen Forschungslandschaft bedarf einer methodenreflexiveren Anlage
der Forschungsprojekte und eines zuweilen methodenvertrauteren, auch über
einzelne Projekte fundierten, interdisziplinär ausgerichteten Methodendiskur-
ses. Unabdingbar hierfür ist die Intensivierung der forschungsmethodologi-
schen Ausbildung im Kontext der für die pädagogischen Handlungsfelder
qualifizierenden akademischen Studiengänge (vgl. Zinnecker 1993; Krüger
1996; Jacobi 1998; Otto 1998), also beispielsweise eine

verlässliche, qualifizierte Einführung und Einübung in rekonstruktive,


qualitative, aber auch in quantitative Methoden,
kompetente Aufklärung über die Möglichkeiten und Grenzen der unter-
schiedlichen quantitativen und rekonstruktiven, qualitativen Verfahren
sowie
Informationen über die innere Differenzierung des rekonstruktiven, qua-
litativen, aber auch quantitativen Methodenspektrums.

Damit ist kein Defizit reklamiert, welches nur die Soziale Arbeit alleine be-
trifft. In den Erziehungswissenschaften insgesamt mangelt es an einem breit
etablierten ,,Ritus der akademischen Selbst-Initiation" (Zinnecker 2000, S.
393) in die Forschungskultur des Faches. Solange diese sich nicht herausbil-
det, wird die Forschung insgesamt und die rekonstruktiv qualitative For-
schung im Konkreten innerhalb der Sozialen Arbeit aus einer doch mehr oder
weniger gut situierten Exotenrolle nicht herauskommen. Wünscht sie die
Würdigung zu erlangen, die die einschlägige Grundlagenforschung heute
schon genießt, ist sie angehalten, ihre grundsätzliche Skepsis gegenüber der
Qualität der erhobenen Daten nicht nur programmatisch zu bekunden, son-
dern auch belegend zu entwickeln (vgl. Honer 1993). Und dazu hat sie in der
Forschungspraxis wie -reflexion und -ausbildung ihre methodologischen
Hausaufgaben zu erledigen - sonst bleibt es bei einer fragwürdigen, unplausi-
bilisierten ,,hemdsärmeligen Praxis".
"Wir lassen uns unsere Weitsicht nicht verwirren" 61

5. Plädoyer für die Formulierung von Qualitätsstandards -


Schlussbemerkung

Die Profilierung des sozialpädagogischen Forschungsprojekts und der unter-


schiedlichen Forschungsmethoden ist an konkrete Forschungsprojekte ge-
bunden (vgl. Thole 1999a). Der methodische Zuschnitt vieler Projekte ist
bislang in der Breite noch sehr undifferenziert und zufällig und zuweilen
wird die beobachtete und rekonstruktiv erschlossene Wirklichkeit noch als
reale und nicht als interpretativ erschlossene identifiziert. Dass empirische
Blicke keine eindeutigen Wirklichkeiten hervorbringen, weil Prozesse gesell-
schaftlicher Empirieproduktion, wenn auch nicht beliebig, so doch zumindest
mehrdeutig sind (vgl. Bonß 1982, S. 54), ist als Wissen innerhalb der Sozial-
pädagogik zu revitalisieren und könnte die Methodendiskussion entpolarisie-
ren und in ihrer Rationalität stärken. In diesem Zusammenhang ist auch die
Frage nach den Standards, der Güte und den Gütekriterien (Qualitätskriteri-
en) zu dynamisieren. Ohne normativen und standardisierenden Operationali-
sierungen den Weg zu ebnen, spricht vieles dafür, sozialpädagogischen For-
schungsprojekten mit einem rekonstruktiven, qualitativen Zuschnitt zu emp-
fehlen - wenn nicht sogar aufzuerlegen -, mindestens

• ihre Gültigkeit zu explizieren und den Nachweis vorzulegen, für welchen


Beobachtungsbereich die erhobenen Befunde von Relevanz sind, also
präzise zu berichten, für welchen Gegenstands- und sozialpädagogischen
Feldbereich die referierten Ergebnisse eine Geltung beanspruchen - und
das heißt gegebenenfalls auch auszuweisen, dass die Forschung zu gene-
ralisierenden Perspektiven keinen Anlass bietet,
das erhobene Material zu dokumentieren und die Plausibilität und
Glaubwürdigkeit der hermeneutischen, interpretativen beziehungsweise
rekonstruktiven Aufarbeitungsschritte zu belegen und sich darüber für
kritische Nachfragen zu öffnen und diese auch zu provozieren,
• ihre forschungsmethodologische Zuständigkeit, Kompetenz sowie An-
gemessenheit in Bezug auf die Fragestellung und das Erhebungsfeld
deutlich herauszustellen, das heißt auch, zu dokumentieren und zu disku-
tieren, dass sich die Wahl der Forschungsmethoden in einer dem Gegen-
stand angemessenen und zutreffenden Art und Weise begründet,
das Material authentisch zu repräsentieren, also die in den Blick genom-
menen Subjekte in der Monographisierung der Ergebnisse in einer ange-
messenen Form zu präsentieren und "sprechen" zu lassen, die Subjekte der
Forschung also nicht zu Objekten der wissenschaftlichen Selbstdarstellung
zu verfremden,
• die Relevanz der Befunde im Kontrast zu anderen, auch widersprechen-
den Diskursen und Ergebnissen komparativ und forschungskritisch zu
diskutieren sowie
62 Werner Thole

• die Limitation der Beobachtung deutlich auszuweisen und nicht spekula-


tiv zu erweitern und damit ihrer Authentizität, Gültigkeit, Glaubwürdig-
keit und Plausibilität zu enteignen, aber auch anzuzeigen, inwieweit die
Befunde geeignet sind, theoretisch verdichtet zu werden und das Projekt
der Entwicklung einer sozialpädagogischen Theorie fruchtbar abfedern.

Im Kern plädieren diese Mindeststandards für eine souveräne, die Kompetenz


sozialpädagogischer, rekonstruktiv qualitativer Beobachtungen deutlicher und
kritischer kommunizierende, die Diskursmöglichkeiten stärker kooperativ nut-
zende und auf selbstabschottende Eitelkeiten verzichtende sozialpädagogische
Forschung. Generell ist damit allerdings die Frage nicht von der Tagesordnung
abgesetzt, die thematisiert, ob und inwieweit sich eine eigenständige sozialpäd-
agogische Forschung gegenüber Projekten und Fragestellungen in anderen
pädagogischen Handlungsfeldern und anderen disziplinären Forschungstradi-
tionen inhaltlich und methodisch profilieren kann oder sich nur im Kontext ei-
ner generellen pädagogischen beziehungsweise sozialwissenschaftlichen For-
schung ausbuchstabieren lässt.
Das Selbstverständnis sozialpädagogischer Forschung und insbesondere
jenes rekonstruktiv-qualitativen Provenienz steht weiterhin auf wackligem
Grund und ist trotz der durchaus erkennbaren, unbestreitbaren Fortschritte
entwicklungsbedürftig. Ihre Ausbaufähigkeit wird sie beschleunigen können,
wenn sie lernt, ihre Weitsicht auch durch empirische Befunde zu irritieren.
Gleichwohl wird sie aber ein Kunstbegriff bleiben, wenn es ihr nicht gelingt,
sich nach Innen in die sozialpädagogischen Diskussionen mit einem eigen-
ständigen Blick auf die Wirklichkeit rational und mit plausiblen empirischen
Argumenten noch stärker einzumischen und sich nach Außen als kompeten-
ter, also kommunikationsfähiger Diskutant im Konzert der sozialwissen-
schaftlichen Diskurse darzustellen.

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Hans-Jürgen von Wensierski

Rekonstruktive Sozialpädagogik im intermediären Feld


eines Wissenschaft -Praxis-Diskurses
Das Beispiel Praxisforschung

Die qualitative Forschung kann innerhalb der Sozialarbeit und Sozialpädago-


gik auf eine lange Tradition zurückblicken. Seit den Anfängen einer wissen-
schaftlichen Analyse und Reflexion sozialpädagogischer Handlungsfelder
lassen sich solche fallanalytischen und interpretativ-verstehenden Zugänge
ausmachen. Im Gefolge der erfolgreichen Renaissance insbesondere der sozi-
alwissenschaftlichen Ansätze qualitativer Forschung im Kontext von oral hi-
story, Biographieforschung und ethnographischen Verfahren seit Ende der
70er Jahre haben sich auch innerhalb der Sozialarbeit und Sozialpädagogik
die methodologischen Debatten und empirischen Studien in diesem Bereich
vervielfacht. Auffällig ist dabei, dass in diesem Zusammenhang die qualitati-
ve Methodologie innerhalb der Sozialen Arbeit nicht nur im Kontext von
Forschungsmethoden empirischer Sozialforschung reges Interesse fand. Im
Anschluss an die einschlägigen Professionalisierungsdebatten insbesondere
der 80er Jahren erschien es auch lohnend zu fragen, ob sich die fachlichen
und methodischen Verfahren, Kenntnisse und Kompetenzen des Sinnverste-
hens, der Fallanalyse und des ethnographischen Fremdverstehens, wie sie in
der Ausbildung als Sozialforscher Anwendung finden, nicht auch erfolgver-
sprechend für die sozialpädagogische Praxis nutzen lassen. Der Hintergrund
für diese Frage ergab sich insbesondere aus dem Befund struktureller Analo-
gien zwischen dem qualitativen Forschungszugang und der sozialarbeiteri-
schen Praxis, wobei mit dieser These keineswegs die prinzipiell unterschied-
lichen Handlungslogiken im Wissenschaftssystem einerseits und im Hand-
lungsfeld Sozialer Arbeit andererseits negiert wurden (vgl. Lüders 1999).
Burkhard Müller (2001) hat jüngst noch einmal in systematischer Form die
These von der Wahlverwandtschaft zwischen Sozialforschung und pädago-
gischer Praxis diskutiert (vgl. Müller 2001).
Unter dem Begriff ,,Rekonstruktive Sozialpädagogik" haben Jakob/v.
Wensierski (1997) die bis dahin bereits in vielschichtigen Facetten vorliegen-
den Arbeiten und Konzepte in einem Sammelband zusammengebunden. Dabei
ging es nicht nur darum, auf den historischen Kontext, die Entwicklungslinien
und die interdisziplinären Traditionen dieses Zusammenhangs von rekonstruk-
tiven Methoden und Sozialer Arbeit hinzuweisen. Vielmehr bietet sich unter
68 Hans-Jürgen von Wensierski

dem Begriff der "Rekonstruktiven Sozialpädagogik" ein vielversprechender


Diskurs an, der einerseits eingebettet ist in die Diskussion um Profession und
Disziplinentwicklung der Sozialpädagogik, andererseits aber auch anschlussfä-
hig ist an die empirische sozialpädagogische Forschung und deren Methoden-
diskussion wie auch an die Weiterentwicklung des beruflichen Methodenset-
tings der Sozialen Arbeit im Bereich der diagnostischen, fallanalytischen,
(selbst)evaluativen und selbstreflexiven Anforderungen in den sozialpädagogi-
schen Handlungsfeldern (vgl. Jakob/v. Wensierski 1997).
Vor dem Hintergrund einer so skizzierten Vielschichtigkeit des Begriffs
ist allerdings gleich zu Beginn meiner Darstellung eine Selbstbegrenzung
durch eine Einordnung des Konzepts in den Gesamtkontext sozialpädagogi-
scher Forschung angezeigt. Die qualitativen Forschungsstrategien bedeuten
für die Aufgabenfelder, die Problemstellungen, die sozialen Prozesse und die
Konzeptentwicklung der Sozialen Arbeit einen zentralen und unhintergehba-
ren Fokus sozialpädagogischer Forschung. Gleichwohl bilden sie nur einen
begrenzten Ausschnitt der sozialen Wirklichkeit in der Sozialen Arbeit ab.
Ausgeblendet werden hier sowohl makrosoziologische Prozesse und gesamt-
gesellschaftliche Entwicklungen, die sich insbesondere in der quantitativen
Verteilung sozialer Einheiten (Armutsentwicklung, Einkommensentwick-
lung, Verteilungsgerechtigkeit, soziale Ungleichheiten) widerspiegeln ebenso
wie die makrosoziologischen Strukturzusammenhänge gesellschaftlicher Mo-
demisierungsprozesse: etwa demographische Prozesse, ökonomische und
politische Globalisierungsprozesse oder der Strukturwandel sozialstaatlicher
Steuerungsinstrumente. Ausgeblendet werden im Kontext qualitativer For-
schung nicht zuletzt auch historische Prozesse im Zusammenwirken von
Struktur-, Sozial- und Kulturgeschichte und ihre Auswirkungen auf den So-
zialen Wandel im Kontext der Sozialen Arbeit.

Soziale Arbeit als Gegenstandsfeld einer rekonstruktiven


Sozialpädagogik

Das zentrale Thema der Sozialen Arbeit als Wissenschaft und Handlungssy-
stem ist die Frage: Wie und mit welchen sozialen und institutionellen Formen
und Konzepten ist eine sozialstaatlich organisierte demokratische Gesell-
schaft möglich?
Die so fokussierte ThemensteIlung macht zugleich auf das Apriori wie
auf die Zielstellung der Sozialen Arbeit aufmerksam. Sie ist als Wissen-
schafts- und Institutionensystem unauflösbar an die Existenz des modemen
und demokratischen Sozialstaats gebunden und stets auf ihn bezogen. Aller-
dings setzt sie nicht den Sozialstaat mit der Gesellschaft gleich. Der Sozial-
staat ist das Instrument zur Herstellung und Sicherung einer demokratischen
Rekonstruktive Sozialpädagogik 69
und tendenziell sozial gerechten Gesellschaft. Die in dieser Definition an-
klingende Objektstellung ist dabei wechselseitig. Der Sozialstaat ist der So-
zialen Arbeit Instrument, insofern ihre Aufgabenstellungen historisch nicht
erst durch sozialstaatliche Strukturen entstanden sind, sondern vorgängige
soziale und gesellschaftliche Problem- und Notlagen im Gefolge gesell-
schaftlicher Modernisierungsprozesse und nicht zuletzt unter dem Einfluss
sozialer Bewegungen die Soziale Arbeit im Verlauf des 19. Jahrhunderts her-
vorbrachten, institutionalisierten und professionalisierten. Im Gegenzug ist
die Soziale Arbeit aber auch das Instrument des Sozial staats, als die sozialen
Dienste im Prozess der Durchsetzung und Konsolidierung des modemen de-
mokratischen Verfassungsstaates als institutionelle Garanten einer sozialen
Ordnung zunehmend verrechtlicht und verwissenschaftlicht wurden.
Die Aufgabenstellung der Sozialen Arbeit, ihre Handlungsfelder und ihre
AdressatInnen leiten sich aus eben dieser Verwurzelung im modemen demo-
kratischen Verfassungs staat und seiner sozialen Gesellschaftsordnung ab, und
zwar auf drei Ebenen:

• Auf der Ebene der Individuen - als Frage nach den Biographien und Bil-
dungsprozessen
• Auf der Ebene der sozialen Lebenslagen - als Frage nach den sozialen
und institutionalisierten Beziehungsformen und kulturellen Ausdrucks-
formen
• Auf der Ebene der sozialstaatlichen Strukturen als Frage nach der Sozial-
ordnung und Sozialpolitik

Für jede dieser drei Ebenen rekurriert die Soziale Arbeit dabei auf eine spezi-
fische Bezugswissenschaft: für die Ebene der Individuen und die Gestaltung
ihrer Biographien und Bildungsprozesse auf die Pädagogik, für die gesell-
schaftlichen Lebenslagen auf die Soziologie und für die Ebene der sozial-
staatlichen Strukturen auf die Sozialpolitik. Für die Frage des Wissenschafts-
charakters und des Forschungsprogramms der Sozialen Arbeit bedeutet das,
dass ihr Bezugssystem interdisziplinär - eben sozialwissenschaftlich ist. Die
Eigenständigkeit und Autonomie der Sozialen Arbeit als Wissenschaftsdiszi-
plin ergeben sich auf dieser Basis gleichwohl aus ihrer exklusiven Aufgabe,
den Zusammenhang zwischen diesen drei Ebenen unter dem Gesichtspunkt
sozialer, ziviler und politischer Bürgerrechte theoretisch zu reflektieren,
Handlungsstrukturen für jede dieser drei Ebenen zu schaffen und diese in ei-
nem sozialen Netzwerk der Institutionen und Praxisfelder der Sozialen Arbeit
zusammenzubinden und untereinander zu koordinieren - und zwar im Blick
auf das Handlungssystem der Sozialen Arbeit, seine Aufgabenstellungen,
AdressatInnen, seine methodischen und institutionellen Anforderungen, seine
Systematik und Professionalität. Gegenstandsfeld der Sozialen Arbeit sind
damit nicht nur die empirisch vorfindlichen Praxisfelder, sondern die im Sin-
ne ihrer programmatischen Zielstellung notwendigen und sinnvollen.
70 Hans-Jürgen von Wensierski

Damit ist zugleich die Frage nach der Reichweite und Zuständigkeit So-
zialer Arbeit in der modernen Gesellschaft angesprochen. Soziale Arbeit ist
nicht die Metainstanz für das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft
und sie kann auch keine Allzuständigkeit für die Lebensführung in modernen
Gesellschaften schlechthin beanspruchen. Ihre Zuständigkeit leitet sich viel-
mehr aus den bürgerrechtlichen Postulaten des demokratischen Sozialstaates
ab: Es ist die Quintessenz moderner demokratischer Sozialstaaten, dass die
Garantie der Bürgerrechte und die Zivilität des gesellschaftlichen Gesamtzu-
sammenhangs auf dem Ziel der Chancengleichheit qua Bildungsprozessen,
auf der gestaltenden sozialen Sicherung der ökonomischen, sozialen und
kulturellen Partizipation pluralistischer Lebenslagen sowie auf dem gesell-
schaftlichen Interessenausgleich qua politischer Partizipation fußt.
Hervorstechendes Merkmal der Sozialen Arbeit ist heute die Entstruktu-
rierung ihrer Aufgabenfelder und institutionellen Zuständigkeiten. Die Aus-
differenzierungsprozesse moderner Gesellschaften haben mit der verfas-
sungsmäßigen Verankerung eines demokratischen Sozialstaatsgebots die öf-
fentlich verhandelten Gerechtigkeitsfragen und Gerechtigkeitsprobleme in-
nerhalb der gesellschaftlichen Organisation ungeheuer vergrößert - neben
Fragen der Armut und Marginalisierung treten zunehmend die Aspekte: Ge-
schlecht, Arbeit, Bildung, Behinderung, Krankheit, Sexualität, Ethnie, Kul-
tur, Generation, Alter, Familie, Gewaltstrukturen usw. in den Fokus gesell-
schaftlicher Debatten. Hierin vor allem - und nicht allein in den sozioökono-
mischen Individualisierungsprozessen - liegt der Grund für die parallel dazu
verlaufende Ausdifferenzierung und Entstrukturierung der Sozialen Arbeit
und ihrer Zuständigkeiten. Es ist die politische Skandalisierung und öffentli-
che Thematisierung von Gerechtigkeitsproblemen, die die Zuständigkeit und
Aufgabenstellung der Sozialen Arbeit bestimmen und tendenziell entgrenzen.
Insofern sind auch die Debatten um die Krise und den Umbau des Sozial-
staats nicht per se Ausdruck für dessen Auflösung und damit Menetekel für
ein drohendes Ende auch der Sozialen Arbeit (Winkler 1988, S. 227ff.). Im
Gegenteil sind diese Diskussionen die notwendige Konsequenz einer reflexi-
ven Modernisierung, in der die Diskussion von Gerechtigkeitsproblemen
auch auf die konzeptionellen und bürokratischen Instrumente sozialstaatli-
cher Regulative selbst bezogen werden.
Im seI ben Maße, wie solche Gerechtigkeitsprobleme durch sozialstaatli-
che Gestaltungsprozesse bearbeitbar erscheinen, verändern, verlagern, er-
weitern und vervielfältigen sich auch die Aufgabenstellungen der Sozialen
Arbeit. Das bedeutet aber keineswegs eine universelle sozialpädagogische
Rundumversorgung aller Bevölkerungsgruppen entlang des gesamten Le-
benslaufs und quer durch alle Lebenslagen. Eine Normalisierung der Sozialen
Arbeit lässt sich deshalb weniger in einem empirischen als in einem pro-
grammatischen Sinne konstatieren: Potenziell können alle Bereiche der Bil-
dung, des Sozialen und des Lebenslaufs heute zu Themen und Aufgaben-
steIlungen Sozialer Arbeit werden, insoweit in ihnen zentrale Fragen des so-
Rekonstruktive Sozialpädagogik 71

zialstaatlichen Gerechtigkeitsproblems zum Gegenstand öffentlicher Ver-


handlung werden.
Mit dieser faktischen Entstrukturierung ihrer Zuständigkeit ist allerdings
de facto keine ungebremste Inflation sozialarbeiterischer Institutionen oder
Handlungsfelder verbunden. Die gleichermaßen politisch wie fachlich ge-
führte kritisch-selbstreflexive Vergewisserung über die Struktur und Reich-
weite des Sozialstaats und seiner Handlungsinstrumente zeigt vielmehr die
Existenz auch von immanenten Korrektiven auf. Gleichzeitig bedeutet Ent-
strukturierung der Sozialen Arbeit komplementär dazu aber auch strukturelle
Veränderungen in den angrenzenden Teilsystemen des Erziehungs-, Bil-
dungs-, Gesundheits-, Sozial- und Politiksystems. Die fachliche und politi-
sche Thematisierung sozialstaatlicher Gerechtigkeitsfragen für den gesamten
Bereich der modernen Lebensführung hat hier die einzelnen bisher weitge-
hend voneinander getrennten Bereiche zunehmend miteinander verzahnt.
Sichtbar wird daran insbesondere, dass die historisch im Zuge von Industria-
lisierung und Erster Moderne gewachsene traditionelle institutionelle Struk-
tur von Staat und Gesellschaft sich zunehmend verflüssigt. Das Beispiel des
Erziehungs- und Bildungssystems mit den traditionellen Säulen Familie,
Schule, Berufsbildung und Sozialpädagogik lässt schon heute sichtbar wer-
den, wie sich unter dem Eindruck von institutionellen Strukturproblemen und
sozialstaatlichen Gerechtigkeitsfragen diese Erziehungs- und Bildungsinstan-
zen mit ihren ursprünglich deutlich unterschiedlichen Aufgabenstellungen
zunehmend miteinander verzahnen. Stichworte sind hier etwa: Sozialpädago-
gische Schule, Schulsozialarbeit, Jugendberufshilfe, Jugendsozialarbeit, Ju-
gendbildung, Erziehungs- und Familienhilfen.
Was bedeuten diese Befunde für eine rekonstruktive Sozialpädagogik?
Der komplexe Gesamtzusammenhang der Sozialen Arbeit als Wissenschafts-
und Handlungssystem lässt sich heute kaum noch in ein einheitliches Theo-
riegebäude fassen, das einerseits eingebettet ist in eine umfassende Gesell-
schaftstheorie, andererseits ein umfassendes Konzept von den sozialpädago-
gischen Problemen, Begriffen und dem sozialpädagogischen Handeln ent-
wirft.
Auch sind heute keine makrotheoretischen Gesellschaftsentwürfe mehr
vorstellbar, die sich bis auf die Ebene der lokalen Lebenswelten, der sozialen
Interaktionsprozesse und der sozialen Sinnwelten der Individuen hinunterde-
klinieren lassen. Gesellschaftstheoretischen Entwürfen wie auch einer diszi-
plinspezifischen Theorie kommt heute mehr denn je der Charakter makro-
theoretischer Rahmenentwürfe zu, deren Evidenz sich stets an dem patch-
workartigen Eklektizismus empirischer Mikrostudien von allenfalls mittlerer
Reichweite bewähren muss. Gerade die Heterogenität, Widersprüchlichkeit
und Empirieabstinenz der systemtheoretischen Bemühungen für die Soziale
Arbeit belegen seit einiger Zeit eindrucksvoll, dass sich die Qualität und
Funktionalität gesellschafts- und makro theoretischer Entwürfe auch in der
Sozialen Arbeit heute nicht mehr an der widerspruchslosen Stimmigkeit eines
72 Hans-Jürgen von Wensierski

überkomplexen Begriffsinstrumentariums erweist, als vielmehr an der Fähig-


keit, plausible Deutungs- und Erklärungsmuster zur Verfügung zu stellen, die
sich an der empirischen Wirklichkeit sozialer Lebenswelten überprüfen las-
sen und die gleichzeitig offen sind für Irritationen durch die Eigensinnigkeit
sozialer und subjektiver SinnweIten und damit auch offen für die Kontingenz
sozialer Prozesse und sozialen Wandels.
Hier setzen die Verfahren einer rekonstruktiven Sozialpädagogik an, und
zwar sowohl auf der Ebene einer theoriegenerierenden empirischen For-
schung wie auch auf der Ebene einer kritischen Selbstreflexion der sozialar-
beiterischen Praxis und des sozialarbeiterischen Handeins.

Zum Begriff der rekonstruktiven Sozialpädagogik

,,Der Begriff der Rekonstruktiven Sozialpädagogik zielt auf den Zusammen-


hang all jener methodischen Bemühungen im Bereich der Sozialen Arbeit,
denen es um das Verstehen und die Interpretation der Wirklichkeit als einer
von handelnden Subjekten sinnhaft konstruierten und intersubjektiv vermit-
telten Wirklichkeit geht" (v. WensierskilJakob 1997, S. 9). Die empirische
Wirklichkeit der Sozialen Arbeit gilt in dieser Perspektive als soziale Welt,
deren Strukturen wesentlich durch die Sinnkonstruktionen der in ihr handeln-
den Menschen bestimmt sind. Rekonstruiert werden also die strukturellen
Voraussetzungen, die Verfahren, die Regeln und die Konstitutionsbedingun-
gen, mit denen die Menschen als Akteure in sozialen Situationen und Inter-
aktionen Wirklichkeit herstellen und behaupten. Gegenstandsbereiche der re-
konstruktiven Sozialpädagogik sind die Analysen der sozialen Räume, der
sozialen Handlungen und der sozialen Prozesse im Kontext sozialpädagogi-
scher Themen und Handlungsfelder. Auch wenn Biographien mit ihren le-
bensgeschichtlichen Prozessstrukturen, ihren Bildungsprozessen und der
Herausbildung biographischer Identität de facto einen Schwerpunkt dieses
empirischen Forschungsbereichs bilden, sind die Gegenstände einer solchen
rekonstruktiven Perspektive keineswegs auf biographische Dimensionen be-
schränkt. Rekonstruktive Verfahren erfassen vielmehr ein umfassendes
Spektrum alltäglicher und lebensweltlicher Sozialstrukturen, sozialer und
kultureller Wissenssysteme, professioneller Wissens- und Handlungskon-
zepte sowie die institutionalisierten Strukturen sozialer Handlungsräume.
Sieht man sich das Spektrum der theoretischen und methodologischen
Zugänge innerhalb einer solchen rekonstruktiven und fall analytischen Sozia-
len Arbeit an, dann lässt sich ein vielschichtiges Spektrum an Verfahren
ausmachen. Systematisch sind dabei wohl vier Traditionslinien unterscheid-
bar: Die psychoanalytische Pädagogik, die sozialpädagogische und sozialar-
beiterische Kasuistik, die Aktions- und Handlungsforschung sowie die ver-
Rekonstruktive Sozialpädagogik 73
schiedenen Strömungen aus dem Kontext des so genannten Interpretativen
Paradigmas (vgl. v. Wensierski 1997, S. 77ff.). Auch wenn bisweilen die Plu-
ralität und Interdisziplinarität dieser forschungsmethodischen Bezüge als In-
diz .für das Fehlen einer disziplinspezifischen sozialpädagogischen Metho-
dologie beklagt wird, so scheint mir im Blick auf die Forschungsgeschichte
der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, dass offenbar erst die Pluralität der
forschungsmethodischen Zugänge auch der Vielschichtigkeit des ausdiffe-
renzierten Wissenschafts- und Handlungsfeldes der Sozialen Arbeit gerecht
zu werden vermag. Allerdings fallt die Bedeutung der einzelnen Linien für
den Gesamtzusammenhang einer rekonstruktiven Sozialpädagogik jeweils
spezifisch aus. So haben sich die psychoanalytischen Zugriffe in der Sozial-
pädagogik weniger als empirische Forschungsansätze durchsetzen können,
als dass sie insbesondere fruchtbar waren für die professionelle Reflexion
unbewusster Strukturen in der Erziehungssituation oder im Arbeitsbündnis
zwischen KlientIn und SozialarbeiterIn. Auch theoretische Modelle zur Pro-
fessionalisierung der sozialarbeiterischen Berufsrolle wurden von hier nach-
haltig beeinflusst (vgl. Müller 1991). Ähnliche Befunde lassen sich für die
sozialpädagogische Kasuistik konstatieren. Einerseits bleibt ihr Konzept über
die Jahrzehnte methodisch diffus, erscheint gleichsam pragmatisch als die
Summe der professionellen Fallbeobachtungen, Fallsammlungen, Fallanaly-
sen und Fallarbeit in der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Andererseits zieht
sich wie ein roter Faden durch die sozialpädagogische Kasuistik gerade das
Bemühen um eine professionelle Selbstreflexion des pädagogischen und so-
zialarbeiterischen Entscheidungshandelns in der Konkretheit des Einzelfalls.
Die aktuelle Bedeutung dieser Kasuistik liegt denn auch vor allem in ihrem
Beitrag zur Debatte um Professionalisierung und Fachlichkeit des beruflichen
Handeins. Der bleibende methodische und theoretische Ertrag der Aktions-
und Handlungsforschung, manchmal als Fossil der 70er Jahre betrachtet, liegt
m.E. in drei Aspekten begründet: Erstens war sie ein bedeutender Katalysator
für die Etablierung qualitativer Methoden innerhalb der sozialpädagogischen
Forschung. Zweitens hat gerade die kritische Auseinandersetzung mit ihren
allzu unbefangenen Versuchen, die strukturelle Differenz zwischen Wissen-
schaft und Praxis zu überspringen, dauerhaft den Blick für die unterschiedli-
chen Strukturlogiken zwischen sozialpädagogischer Forschung und sozial-
pädagogischer Praxis geschärft. Damit war drittens aber gleichzeitig auch die
Frage nach neuen methodischen und institutionellen Schnittstellen zwischen
Forschung und Praxis aufgeworfen. Letztlich hat dieser Diskurs um die Akti-
ons- und Handlungsforschung wesentlich zur Etablierung eines intermediären
Feldes zwischen Wissenschaft und pädagogischer Praxis beigetragen, in dem
sich ein System von Vermittlungsinstanzen entwickelt hat: Praxisforschung,
Begleitforschung, Evaluationsforschung, Supervision, Weiterbildung usw.
Der wichtigste Einfluss für eine elaborierte qualitative sozialpädagogi-
sche Forschung ging aber zweifellos von den vielfältigen methodologischen
Ansätzen im Kontext des Interpretativen Paradigmas aus, die entscheidend
74 Hans-Jürgen von Wensierski

zur Etablierung einer methodenpluralistischen Forschungslandschaft in der


Sozialen Arbeit beigetragen haben. Als Folge davon hat sich nicht nur die
Anzahl und das Themenspektrum der qualitativen sozialpädagogischen Stu-
dien deutlich vergrößert (vgl. Jakob 1997). Anders als noch in den 60er und
70er Jahren steht heute auch ein großes Spektrum an elaborierten rekonstruk-
tiven Forschungsmethoden für jeweils spezifische Untersuchungsgegenstän-
de zur Verfügung. Zudem lassen sich zwischen den verschiedenen methodi-
schen Ansätzen - nicht nur für die forschungspragmatische Ebene der empi-
rischen Projekte - Annäherungen beobachten, die über die Grenzen der
Fachdisziplinen von Soziologie, Psychologie und Pädagogik hinwegreichen:
Die Bezüge zwischen sozialpädagogischer Kasuistik und Objektiver Herme-
neutik, zwischen narrativem Interview und sozialpädagogischem Fallverste-
hen, zwischen Psychoanalyse und Sozialforschung oder Psychoanalyse und
sozialpädagogischer Kasuistik (vgl. v. Wensierski 1997) belegen dies.

Das intermediäre Feld eines Wissenschaft-Praxis-Diskurses


in der Sozialen Arbeit

Lässt man diese historische Analyse der fallanalytischen und rekonstruktiven


Verfahren in der Sozialen Arbeit Revue passieren, dann fällt auf, dass es in
der Forschungstradition der Sozialen Arbeit bis in die Gegenwart hinein oft-
mals zu einer unreflektierten oder unbefangenen Vermischung der Ebenen
von wissenschaftlicher Forschung und pädagogischer Praxis gekommen ist.
Lüders (1998, 1999) hat hier in Bezug auf die qualitative sozialpädagogische
Forschung zu Recht wiederholt auf diesen Aspekt der Verwechselung von
wissenschaftlicher und handlungspraktischer Strukturlogik hingewiesen. Al-
lerdings scheint es ihm nicht nur um das Einklagen nachprüfbarer wissen-
schaftlicher Standards für die sozialpädagogische Forschung zu gehen. Viel-
mehr wendet er sich generell gegen das Konzept rekonstruktiver Sozialpäd-
agogik, soweit es auch Strukturvorschläge zum Verhältnis von wissenschaft-
licher Produktion und sozialpädagogischer Praxis konzipiert (Lüders 1998,
1999). Auch wenn die Kritiken an einzelnen Ansätzen und Forschungsbei-
spielen in diesem Kontext berechtigt sind, erscheint doch der bloße Rückzug
auf diese strukturellen Differenzen unbefriedigend. Ein solcher Blick blendet
nicht nur die zunehmenden Prozesse einer wissenschaftlich fundierten Pro-
fessionalität der SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen aus, er ignoriert
auch die vielschichtige wissenschaftliche Durchdringung sozialarbeiterischer
Praxis im Bereich ihrer Methoden- und Konzeptentwicklung, Begriffsent-
wicklung, im Bereich von Planung und Evaluation. Vor allem blendet die
Behauptung einer unüberbrückbaren Kluft zwischen wissenschaftlicher For-
schung und sozialpädagogischer Praxis das vielschichtige Spektrum von An-
Rekonstruktive Sozialpädagogik 75
wendungs-, Praxis- und Begleitforschung aus, das heute einen gewichtigen
Teil der Wissenschafts beratung für die Praxis ausmacht.
Notwendig erscheinen daher Strukturmodelle, die diesen unterschiedli-
chen Prämissen Rechnung tragen. Einerseits gilt es in der Konsequenz der
verschiedenen wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzungen um die
Handlungs- und Aktionsforschung der 70er Jahre, der professionstheoreti-
schen und verwendungstheoretischen Diskurse der 80er Jahre sowie der jün-
geren Diskussionen um pädagogische und sozialpädagogische Forschung
(vgl. RauschenbachfThole 1998) deutlich zu machen und darauf zu beharren,
dass sozial wissenschaftliche Forschung des handlungsentlasteten analyti-
schen Raums bedarf und sich ihre Ergebnisse nicht ohne Weiteres zur Hand-
lungsanweisung sozialer und pädagogischer Praxis eignen. Soziale Praxis
zeichnet sich demgegenüber immer durch die widersprüchliche Einheit von
Begründungs- und Entscheidungszwang aus, d.h. sie ist immer Entschei-
dungshandeln an konkreten und singulären Fällen und Situationen und steht
unter dem Handlungs- und Erfolgsdruck der unmittelbaren Alltagssituation
und ihrer sozialen Strukturen.
Andererseits stehen sich Wissenschaft und sozialarbeiterische Praxis aber
auch nicht völlig unverbunden und strukturlos gegenüber. Zum einen sind es
die sozialen Sinnstrukturen, alltäglichen Deutungsmuster und professionellen
Handlungsmuster, die über eine empirisch rekonstruktive Sozialforschung ih-
rerseits Eingang finden in den wissenschaftlichen Diskurs und die analytische
Sprache und Kategorienbildung sozialpädagogischer Theoriebildung. Zum
anderen ist es heute nicht allein der professionelle Habitus der wissenschaft-
lich ausgebildeten PraktikerInnen im Gefolge der erfolgreichen Akademisie-
rung der Sozialen Arbeit, der für eine durchgreifende Verwissenschaftlichung
sozialarbeiterischer Praxis sorgt. Es sind vielmehr die vielfältigen Ebenen ei-
ner praxisbegleitenden Wissenschaftsberatung, Weiterbildung, Methodenre-
flexion, wissenschaftlicher Planungs-, Entwicklungs- und Evaluationsinstru-
mente sowie entsprechender Begleit- und Praxisforschung, die deutliche In-
dizien dafür sind, dass das Verhältnis von Praxis und Wissenschaft komple-
xer und vielschichtiger gedacht werden muss, als in der bloßen Dichotomie
unvereinbarer Strukturlogiken.
Ein strukturelles Modell in diese Richtung ist das Konzept eines inter-
mediären Feldes, das sich als Ergebnis der zunehmenden Verwissenschaftli-
chung der Sozialen Arbeit in den letzten Jahrzehnten sukzessive herausgebil-
det hat. Intermediäres Feld bezeichnet dabei ein soziales Interaktionsfeld
zwischen ForscherInnen und PraktikerInnen - also gewissermaßen die Insti-
tutionalisierung eines Wissenschaft-Praxis-Diskurses.
Die Herausbildung eines solchen intermediären Feldes scheint mir eines
der zentralen konstruktiven Ergebnisse aus den vielfältigen Theorie-Praxis-
Diskursen seit Ende der 60er Jahre zu sein. Dabei kam den qualitativen und
rekonstruktiven Ansätzen in diesem Prozess stets eine herausgehobene Be-
deutung zu. Gleich, ob es um die Diskussionen im Kontext der Aktions- und
76 Hans-Jürgen von Wensierski

Handlungsforschung, der Professionalisierungsdebatte, der Debatte um die


sozialwissenschaftliche Verwendungsforschung oder um Praxisdiskussionen
im Zusammenhang mit Methodisierung, Evaluation, Selbstevaluation oder
Verwissenschaftlichung sozialpädagogischen Handeins ging, stets standen
die phänomenologischen, lebensweltorientierten, hermeneutischen, biogra-
phischen oder kasuistischen Erkenntnisansätze im Fokus des Bemühens um
eine kritische Praxisforschung bzw. um eine gegenstandsadäquate Methoden-
entwicklung. Die Entwicklung solcher fachlich-selbstreflexiver analytischer
Instrumente für die Praxis und Praxisforschung entsprachen dabei dem Be-
mühen, auf der Basis einer alltags- und lebensweltorientierten Sozialpädago-
gik (Thiersch) Professionalisierungskonzepte zu formulieren, die den Dimen-
sionen der Alltäglichkeit und der Subjektivität in der Klientln-Sozialarbeite-
rIn-Interaktionen entsprachen, ohne aber diese Arbeitsbeziehungen in exper-
tokratischer Therapeutisierung oder in einem professionalisierten Betroffen-
heitskult aufgehen zu lassen. Mit dem vielschichtigen methodischen Kanon
der qualitativen Forschung stand der Sozialpädagogik ein differenziertes
methodisches Instrumentarium zur kritischen Analyse des Alltags, der Le-
benswelten und der subjektiven Sinnstrukturen in der sozialpädagogischen
Praxis zur Verfügung - ein Instrumentarium, dass nicht mehr nur Klientlnnen
als quantifizierbare Sozialindikatoren verobjektivierte, sondern insbesondere
auch die professionellen Handlungsstrukturen und die Orientierungs- und
Deutungsmuster der SozialarbeiterInnen und die Wechselbeziehungen zwi-
schen den Handlungsbeteiligten in die wissenschaftliche Reflexion mit ein-
bezog.
Die Ausweisung dieses Diskurses als intermediäres Feld soll darauf auf-
merksam machen, dass es sich hier um ein Zwischenfeld, gleichsam um ein
strukturelles Moratorium handelt, in dem die jeweils unterschiedlichen Sy-
stemlogiken von Wissenschaft und Praxis nicht negiert oder aufgehoben sind,
wohl aber im Sinne eines Experimentierraums eingeklammert bleiben. Damit
sind weder die strengen wissenschafts theoretischen und methodologischen
Prinzipien wissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung außer Kraft ge-
setzt noch sind die Praktikerlnnen von den Handlungs- und Erfolgszwängen
ihrer Berufspraxis befreit. Wohl aber entsteht in den institutionellen und me-
thodischen Instrumenten des intermediären Feldes, wie sie sich etwa in der
Weiterbildung, Praxisberatung, Methodenausbildung, in Forschungswerk-
stätten, in Workshops, Begleitforschung, Praxisevaluation darstellt, ein Mög-
lichkeitsraum mit eigenen sozialen Regeln:

• Es gibt keinen unmittelbaren Verwertungszwang.


• Praxisprobleme können auf der Basis virtualisierter Deutungsmuster und
Handlungskonzepte untersucht werden.
• Es gibt einen Zwang zur Übersetzung der jeweils eigenen Strukturlogik
in eine gemeinsame Sprache als Voraussetzung für gemeinsame Ver-
ständigung.
Rekonstruktive Sozialpädagogik 77
• Es existiert ein struktureller Zwang zum ethnographischen Fremdverste-
hen des jeweils anderen Feldes.
Es bleibt aber bei dem strukturellen Spannungsverhältnis, das die wech-
selseitigen Geltungsbegründungen von Praxiszwängen und Handlungs-
entlastetheit tendenziell infrage stellt.

Diese Konstruktion macht darauf aufmerksam, dass die sozialarbeiterische


Praxis und sozialwissenschaftliche Forschung zwar unterschiedlichen Struk-
turlogiken folgen, denen auch jeweils spezifische soziale Strukturen entspre-
chen. Gleichwohl handelt es sich in beiden Fällen um Kommunikationsge-
meinschaften, die strukturell aufeinander verwiesen und deshalb um wechsel-
seitige Verständigung bemüht sind. Jede Anmeldung zur Weiterbildung, jede
Initiierung eines Praxisforschungsprojekts, jede wissenschaftliche Beratung
markiert auf Seiten sozialarbeiterischer Institutionen und PraktikerInnen die
Bereitschaft und die zwanglose Anerkennung der Notwendigkeit, wissen-
schaftliche Deutungsmuster, Begriffe und Modelle für die Reflexion und
Weiterentwicklung des eigenen Praxisfeldes einzusetzen.
Im Gegenzug ist es ja der konstitutive Sinn empirischer Sozialforschung
soziale Wirklichkeit - in diesem Fall der Sozialen Arbeit - zum Gegenstand
wissenschaftlicher Reflexion und Theoriebildung zu machen. Im Fall der
qualitativen Sozialforschung geht es zudem darum, diese soziale Wirklichkeit
in ihren alltagsnahen, kulturell-symbolischen, lebensweltlichen und biogra-
phischen Sinnstrukturen aufzugreifen und im Rahmen rekonstruktiver For-
schung auf der Basis "ethnographischen Fremdverstehens", als "Konstruktio-
nen 2. Grades" (Alfred Schütz), als "latente Sinnstrukturen" (Ulrich Oever-
mann), als "biographische Prozessstrukturen" (Fritz Schütze), also auf der
wissenschaftsanalytischen Ebene einer höheren Abstraktion zu rekonstruie-
ren. Methodologische Voraussetzung für die rekonstruktive Sozialforschung
ist dabei, dass die alltagsnahen Sinnmuster und Zeichensätze im Kontext des
Forschungsprozesses erkennbar bleiben - eine wesentliche Anforderung an
das wissenschaftliche Gütekriterium einer kommunikativen Validierung als
Voraussetzung einer intersubjektiven Überprüfbarkeit wissenschaftlich-empi-
rischer Aussagesätze im Kontext qualitativer Verfahren.
Die Beziehungen der Wissenschaft zur Alltagspraxis der Sozialen Arbeit
sind dabei doppelt strukturiert: Zum einen geht es um den forschenden und
analytischen Zugang zu den sozialen Strukturen und Sinnwelten der Sozialen
Arbeit. Zum anderen geht es auch um die Rückkoppelung der Ergebnisse an
die Praxis im Sinne einer wissenschaftlich rationalisierten Aufklärung über
die Zusammenhänge und Prozesse der sozialen Praxis. Die Funktion solcher
empirischer und theoretisch-analytischer Forschungen liegt dabei zwar nicht
in einem unmittelbaren Verwertungszusammenhang, allerdings ist das Spezi-
fikum aller sozialwissenschaftlicher Forschung in handlungswissenschaftli-
chen Kontexten (z.B. Pädagogik, Soziale Arbeit), dass ihre Relevanz und
Geltung sich stets an der empirischen Wirklichkeit ihrer Handlungspraxis
78 Hans-Jürgen von Wensierski

messen lassen muss. Die Mindesterwartung aller SozialforscherInnen ist da-


bei, dass die eigenen Forschungsergebnisse und wissenschaftlichen Kon-
struktionen eingehen in einen Diskurs aus Wissenschaft und Praxis und dabei
sichtbare Spuren hinterlassen.
Während den Praktikerlnnen die unbefangene Adaption und Verwertung
wissenschaftlicher Produkte dabei keinerlei struktureIIe Probleme zu bereiten
scheinen, steIlt sich auf Seiten der WissenschaftIerInnen dieser Transfer als
struktureIIes Problem dar. Ihre Produkte verlieren auf dem Weg in die Praxis
nahezu aIIe Gütesiegel, die aIIein erst ihren Wert als wissenschaftliche Aus-
sagen ausmachen. Paradoxerweise wird dieser Transformationsprozess von
Seiten der Wissenschaft unter einer defizittheoretischen Perspektive vor al-
lem als Verlustprozess an Wissenschaftlichkeit interpretiert, während das ei-
gene wissenschaftstheoretische Selbstverständnis doch gleichzeitig - wie Lü-
ders (1999) zu Recht beharrt - auf einer grundsätzlich unterschiedlichen
Strukturlogik basiert. Hier liegt also offenbar ein noch weitgehend unreflek-
tiertes Selbstrnissverständnis auf Seiten der wissenschaftlichen Sozialpäd-
agogik vor, wenn davon ausgegangen wird, die fachliche Reflexion der Prak-
tikerlnnen über die eigene Praxis erfolge auf der Basis ganzheitlicher wissen-
schaftlicher Sätze und fachtheoretischer ModeIIe. Dabei hatten Beck/Bonß
(1989) in ihrem Resümee über die Verwendungs forschung schon darauf hin-
gewiesen, dass angesichts der struktureIlen Differenz zwischen Wissenschaft
und Praxis die Praxis "sich Wissenschaft nur dann zu eigen machen (kann),
wenn die jeweiligen ,,Ergebnisse" bzw. Interpretationsangebote ihrer wissen-
schaftlichen Identität entkleidet werden" (S. 11). Rekonstruktive Verfahren,
die nach solchen Mustern verwissenschaftlichter und professionalisierter
Praxis suchen, müssen sich entsprechend darauf einlassen, die eigenwilligen
und komplexen Handlungsregeln solcher Praxis im Kontext ihrer AIItags-
welt, ihrer eigenen Sprachcodes und im Respekt vor der Interpretations- und
Handlungsautonomie der Profis zu entziffern. Eben darin liegt zugleich die
besondere Bedeutung rekonstruktiver Verfahren. Ihr theoriegenerierender
Zugang auf der Basis aIItagsnaher faIlanalytischer und ethnographischer Stu-
dien rekonstruiert Sozialarbeit bereits als "professioneIle Anwendung von
Sozialwissenschaft", die der Sozialwissenschaft im Umkehrschluss zudem
"fortlaufend empirisches Problemmaterial für neue Analysen und Theoriege-
nerierungen liefert" (Schütze 1993, S. 196).
Die traditioneIIen ModeIle einer Wissenschaft-Praxis SchnittsteIIe, wie
sie etwa in ProfessionsmodeIlen vorgesteIIt werden, helfen hier nicht weiter.
Sie thematisieren zwar die Transformation wissenschaftlichen Wissens über
den wissenschaftlichen Ausbildungsprozess in das berufspraktische Können
des ProfessioneIlen, klären aber nicht, was das für die Methodologie von
Praxisforschung oder für die institutionalisierten Modelle der Selbstreflexion
einer verwissenschaftlichten Praxis bedeutet.
Die Position einer unüberbrückbaren Kluft zwischen Wissenschaft und
Praxis vernachlässigt damit die Frage der Verwertung wissenschaftlicher Er-
Rekonstruktive Sozialpädagogik 79
gebnisse, obwohl ein wesentliches Kennzeichen handlungswissenschaftlicher
Forschung die Rückkopplung wissenschaftlicher Erkenntnis an die Praxis ist.
Hornstein (1998) fordert im Blick auf ein breites, aber diffuses Feld von Pra-
xisforschung und wissenschaftlicher Praxisberatung deshalb zu Recht eine
Debatte mit Kriterien für eine "spezifische Form von Wissenschaftlichkeit
und Forschung" (S. 62).
Notwendig erscheint mir vor diesem Hintergrund zunächst einmal die
verschiedenen Ebenen zu unterscheiden, in denen jeweils spezifische Struk-
turlogiken konstatiert werden müssen:

Erstens, die Ebene einer professionellen Reflexion der Praxis durch den
professionellen Sozialarbeiter im beruflichen Alltag
• Zweitens, die Ebene eines intermediären Feldes als kooperative und
handlungsbezogene Reflexion sozialpädagogischer Praxis durch Wissen-
schaft und Sozialpädagogik (wissenschaftliche Weiterbildung und Be-
gleitforschung (Praxis-, Evaluationsforschung; Planungsforschung)
Drittens, die Ebene einer wissenschaftlich-analytischen Forschung, deren
Methodologie und Gütekriterien allein den Anforderungen eines hand-
lungsentlasteten Wissenschaftssystems verpflichtet sind.

Ich will mich im Weiteren auf die mittlere Ebene beschränken und einige
Hinweise zur Struktur des intermediären Feldes am Beispiel der Praxisfor-
schung skizzieren. Das Feld der so genannten Praxisforschung innerhalb der
Sozialen Arbeit verstehe ich als einen exemplarischen Prototyp für die Struk-
tur des intermediären Feldes.

Praxisforschung und Soziale Arbeit

Um die Bedeutung und Gestalt der Praxisforschung innerhalb der Sozialen


Arbeit differenziert bestimmen zu können, ist zunächst ein Rückbezug auf
die historische Entwicklung der rekonstruktiven Verfahren innerhalb der So-
zialen Arbeit sinnvoll, wie sie oben mit Hinweis auf die vier Traditionslinien
beschrieben wurde (vgl. v. Wensierski 1997, S. 77ff.). Sichtbar wird daran,
dass das Bemühen um rekonstruktive Erkenntnisverfahren die Sozialarbeit
und Sozialpädagogik von ihren Anfängen an bestimmt hat und das meint ins-
besondere forschungsorientierte Verfahren, die insbesondere auch von Prak-
tikerlnnen mit dem Ziel einer zunehmenden Verwissenschaftlichung ihres
Feldes eingesetzt wurden. Der Kontext der psychoanalytischen Sozialpäd-
agogik ist dafür ebenso ein Beispiel, wie etwa die frühen empirischen Ansät-
ze im Kontext der "Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit",
etwa die Studie von SalomonlBaum (1930) zum ,,Familienleben in der Ge-
80 Hans-Jürgen von Wensierski

genwart". Nach den heutigen methodologischen und methodischen Standards


für sozial wissenschaftliche Forschung handelt es sich hier um noch unbehol-
fene Gehversuche einer empirischen Sozialarbeit.
Die weitere Entwicklung dieser Traditionslinien belegt aber eine zuneh-
mende Auseinandersetzung mit und Orientierung an elaborierten methodi-
schen Forschungsstandards, ohne dass sich aber im Gegenzug die Nachfrage
und Orientierung an einer spezifisch mit der pädagogischen und sozialarbei-
terischen Praxis verflochtenen forschenden Reflexionsinstanz erübrigt hätte.
Man kann also sagen, dass sich aus den verschiedenen methodologischen
Ansätzen der psychoanalytischen Pädagogik, Kasuistik, Aktionsforschung
und der Interpretativen Soziologie innerhalb der Sozialen Arbeit zunehmend
ein methodenpluralistischer qualitativer Forschungsbereich auf der Basis ela-
borierter Forschungsmethoden herausgebildet hat, dem gleichzeitig aber auch
ein sozialpädagogisch spezifischer Bereich der so genannten Praxisforschung
gegenübersteht. Die Existenz dieser explizit so genannten Praxisforschung ist
also kein Beleg für die praxeologische Verwässerung sozialwissenschaftli-
cher Methodologie in der Sozialen Arbeit. Im Gegenteil erscheint sie mir - in
historischer Perspektive - zum einen als Referenzinstanz, an der die sozial-
pädagogische Forschung ablesen kann, wie weit ihre Entwicklung als eigen-
ständige wissenschaftliche Forschungsdisziplin bereits vorangeschritten ist.
Zum anderen bleibt sie eine kritische Instanz auch für das Selbstverständnis
einer wissenschaftlich-analytischen Sozialarbeitsforschung, indem sie eine
kritische Anfrage an die Relevanz und Evidenz von Forschungsergebnissen
für die Soziale Wirklichkeit und den Sozialen Wandel der Sozialen Arbeit ist.
Insbesondere eine der interpretativen Sozialforschung verpflichteten
Methodologie müsste es deshalb darum gehen, die soziale Bedeutung dieses
faktisch existierenden und offenbar einflussreichen Bereichs der Praxisfor-
schung für die Versozialwissenschaftlichung der Sozialen Arbeit und die
Entwicklungsprozesse ihrer Institutionalisierung und Professionalisierung
aufzuklären und ihr Verhältnis zur wissenschaftlich-analytischen Forschung
systematisch zu bestimmen.
Mit dem Begriff der Praxisforschung fasse ich hier den Zusammenhang
verschiedener Forschungstypen und -bereiche, die sich dadurch auszeichnen,
dass sie die eigene Methodologie und das eigene Forschungsprogramm in der
Regel explizit in Distanz gegenüber einer wissenschaftlich-analytischen For-
schung formulieren (Heiner 1988; Fuchs 1995; Moser 1995; Schone 1995).
Als Ausgangspunkt für diese Programmatik gilt dabei zum einen die Annah-
me einer besonderen Verbundenheit der ForscherInnen mit der sozialen Pra-
xis in den verschiedenen Handlungsfeldern und zum anderen Anforderungen
an die Forschungspraxis, Forschungsmethodik und Forschungsziele, die die
VertreterInnen dieser Richtung durch die universitäre Forschung in der Regel
nicht gedeckt sehen. Die Distanz zur wissenschaftlich-analytischen For-
schung erstreckt sich dabei nicht bloß auf das Postulat einer eigenen Metho-
dologie, sondern lässt sich wissenschaftssoziologisch auch an anderen Fakto-
Rekonstruktive Sozialpädagogik 81
ren festmachen: den Institutionen, den Personen, den Auftraggebern. So liegt
der Schwerpunkt der Praxisforschung vor allem im außeruniversitären Be-
reich. Ihre theoretischen und methodischen Konzepte entstehen vor allem im
Kontext der Fachhochschulen, aber auch aus den Erfahrungen in außeruni-
versitären Instituten der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Ähnliches lässt
sich auch für die Durchführung der Praxisforschungsprojekte selber sagen:
Hier dominieren Auftragsforschungen aus dem Kontext der Sozialen Dienste,
der Verbände und der politischen Verwaltung, die vor allem von Fachhoch-
schulwissenschaftlerlnnen oder von den zahlreichen hochschulunabhängigen
Instituten und Akademien durchgeführt werden. Gleichwohl gibt es auch
universitäre VertreterInnen, die sich um eine spezifische Praxisforschung für
die Soziale Arbeit bemühen (vgl. Heiner 1988; v. Kardorff 1988; Müller
1988, 1998).
Die spezifische Verzahnung der Praxisforschung mit der Praxis wird in-
nerhalb dieses Segments keineswegs einheitlich definiert: Die Praxisbezo-
genheit umfasst vielmehr wahlweise die Ebenen: (1) Forschung durch Prakti-
kerInnen, (2) Forschung zur Planung und Initiierung von Praxis, (3) For-
schung zur Veränderung der Praxis und (4) Forschung zur Evaluation der
Praxis. Entsprechend lassen sich m.E. unter dem Dach der Praxisforschung
vier unterschiedliche Forschungsbereiche differenzieren:

• Sozialpädagogische Praxeologie
• Sozialpädagogische Planungs- und Entwicklungsforschung
• Sozialpädagogische Begleitforschung
• Sozialpädagogische Evaluationsforschung

Unter sozialpädagogischer Praxeologie fasse ich jene Konzepte, die auf das
reflexive und erkenntnistheoretische Potenzial der forschenden Praktikerln
(PädagogInnen, SozialarbeiterIn) selber zielen. Seine Wurzeln hat dieser Zu-
gang vor allem in den Traditionen der pädagogischen Kasuistik, die auf den
systematischen Stellenwert im ,,Erfahrungsurteil des reflektierenden Prakti-
kers" (Binnenberg 1979, S. 399) setzt: D.h. er beschreibt und reflektiert ein
konkretes Stück pädagogischer Praxis und ist in der Lage, eben daraus theo-
retischen Gewinn zu ziehen - die Erfahrung des Besonderen also in die Er-
kenntnis des Allgemeinen zu überführen. Die Exklusivität dieses Zugangs
wird darin gesehen, dass es eben nur der Praktiker selber sei, der gleichsam
aus der Binnenperspektive des pädagogisch Handelnden die jeweils spezifi-
schen Entscheidungs- und Begründungszusammenhänge pädagogischer All-
tagsprozesse rekonstruieren könne (vgl. Prengel 1997; Müller 2001).
Während in einem solchen praxeologischen Verständnis der Praktiker
selbst zum Forscher wird, stellen die anderen drei Bereiche in unterschiedli-
chen Formen Kooperationsmodelle zwischen ForscherInnen und PraktikerIn-
nen dar. In großen und komplexen Studien lassen sich zudem alle drei Ebe-
nen der Planung, der Prozessbegleitung und der Evaluation ausmachen - et-
82 Hans-Jürgen von Wensierski

wa im Zusammenhang mit umfassenden Modellprojekten. Gleichwohl ist es


sinnvoll, die drei unterschiedlichen Forschungsperspektiven innerhalb der
Praxisforschung analytisch voneinander zu trennen, da sich auf jeder dieser
Ebenen spezifische Anforderungen und Probleme an die Methodik und Vali-
dierung des Forschungsprozesses stellen. Bei der Planungs- und Entwick-
lungsjorschung geht es um projektive, also zukunfts gerichtete Entwürfe und
Entscheidungen. Aufgabe wissenschaftlicher Instrumente ist hier vor allem
die differenzierte Analyse gegenwärtiger sozialer, institutioneller und metho-
discher Strukturprobleme und die empirische Bestandsanalyse vor dem Hin-
tergrund der bisherigen und künftig absehbaren Dynamik sozialer Prozesse.
Vor dem Hintergrund von fachlichen, politischen oder hypothetischen Ziel-
oder Prozessvorgaben können dann auf der Basis der empirischen Bestands-
und Prozessanalysen hypothetisch alternative Struktur- und Handlungsmo-
delle entworfen werden. Die Frage der Wirksamkeit und Validierung solcher
Entwicklungs- und Planungsmodelle kann dann aber selbst nicht mehr durch
die Planungs- und Entwicklungsforschung beantwortet werden, sondern ist
Ergebnis eines praktischen Versuchs - z.B. eines Modellprojekts.
Der Begriff der Begleitforschung wird oftmals missverständlich ge-
braucht, insofern er bisweilen als Synonym für alle Formen einer Praxisfor-
schung verwendet wird. Diese begriffliche Ungenauigkeit provoziert die
Auseinandersetzung um den wissenschaftlichen Charakter und Stellenwert
der Praxisforschung, weil sie die Begleitforschung als undifferenzierte und
diffuse Einheit aus projektiven Handlungs- und Planungsentwürfen, empiri-
scher Prozessanalyse und retrospektiver Wirkungsanalyse erscheinen lässt -
und damit gewissermaßen als strukturelle Entsprechung zur Alltagspraxis als
unauflösliche Einheit aus Begründungs- und Entscheidungshandeln entwirft.
Die hier vorgenommene Differenzierung weist demgegenüber Begleit-
forschung als spezifische Form der wissenschaftlichen Analyse der Praxis-
prozesse Sozialer Arbeit aus. Im Unterschied zur Planungs- und Entwick-
lungsforschung geht es hier nicht um die Untersuchung zukünftiger Prozesse
und Entwicklungen. In der Begleitforschung steht vielmehr die Untersuchung
aktueller, realer und empirisch beobachtbarer sozialer Prozesse und profes-
sioneller Handlungsvollzüge im Vordergrund. Begleitforschung umfasst die
Untersuchung der sozialen Wirklichkeit als offenen und unabgeschlossenen
Prozess. Ihr Gegenstand sind nicht nur die professionellen Handlungsstrate-
gien, sondern gerade auch die komplexen, unplanbaren und nicht-intendierten
Wechsel wirkungen in sozialen Systemen, Beziehungsformen und Interakti-
onsprozessen, die gleichwohl in entscheidender Weise die soziale Praxis be-
stimmen und prägen. Dazu gehören sowohl die vielfältigen Formen und Fra-
gestellungen der Adressatenforschung, der Sozialarbeiter-Klient-Interaktio-
nen, der professionellen Handlungsstrategien wie auch der institutionellen
und konzeptionellen Wechselwirkungen im Feld.
Im Unterschied zu den beiden erstgenannten Verfahren zeichnet sich
Evaluationsjorschung vor allem durch ihre retrospektive Perspektive aus.
Rekonstruktive Sozialpädagogik 83

Evaluationsforschung in der Sozialen Arbeit beschreibt dabei einen systema-


tischen Beurteilungsprozess sozialen Handeins und sozialer Prozesse auf der
Basis reflektierter und klar definierter Evaluationskriterien, nachvollziehbarer
(d.h. intersubjektiv überprüfbarer) Informationssammlung, ausgewiesener
Analysemethoden und einer adäquaten Dokumentation der einzelnen Schritte
des Evaluationsprozesses (vgl. Grohmann 1997, S. 201ff.). Ihre Beurteilung
richtet sich auf die nachweisbaren Zusammenhänge von professionellen und
institutionalisierten Handlungsprozessen und entsprechend geplanten oder
gewünschten Wirkungen und sozialen Bedeutungen im jeweils untersuchten
sozialen Setting.

Praxisforschung - Zum Konzept der "angewandten


Wissenschaft"

Zentrale begriffliche Grundlage für diesen Bereich der angewandten Wissen-


schaft ist der Begriff ,,Praxis", wobei auffällt, dass der Praxisbegriff selbst in
den einschlägigen Büchern zur Praxisforschung kaum Gegenstand methodo-
logischer Reflexionen wird (vgl. Heiner 1988; Fuchs 1995; Moser 1995;
Schone 1995). Er wird in diesem Kontext gewissermaßen als unhinterfragba-
res apriori vorausgesetzt. Als Praxis gilt mithin das, was in den Handlungs-
feidern der Sozialen Arbeit durch PraktikerInnen geschieht. Für die Frage der
Praxisforschung ist dieses kategoriale Defizit insofern ein unreflektiertes
Problem, als es hier zu einer stillschweigenden Gleichsetzung zwischen der
Praxis als empirischer sozialer Wirklichkeit und Praxis als projektiver Hori-
zont normativer Zukunftsplanung und normativen Zukunftshandelns kommt.
Dieser Indifferenz entsprechen auch die methodologischen und methodi-
schen Konzepte zur Praxisforschung. Sieht man sich die verschiedenen for-
schungsmethodischen Vorschläge zur Methodenausstattung der Praxisfor-
schung an, dann fällt auf, dass es durchaus differenzierte und wissenschaft-
lich elaborierte Bezüge zu den sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden
empirischer Sozialforschung gibt, soweit es dabei um das Spektrum analyti-
scher Forschungsmethoden geht. Dabei beschränkt sich das Spektrum der
Forschungszugänge keineswegs nur auf qualitative Verfahren. Allerdings
dominieren doch deutlich die Anleihen im Bereich der rekonstruktiven Sozi-
alforschung, in denen offenbar eine besondere Affinität zum geforderten
"ganzheitlichen Blick" auf die soziale Praxis der entsprechenden Handlungs-
felder gesehen wird. Es sind eben in besonderer Weise die rekonstruktiven
und sinnverstehenden Ansätze der biographischen, ethnographischen und in-
haltsanalytischen Verfahren, mit denen sich die Komplexität sozialer und
pädagogischer Prozesse und pädagogischen Handeins, die Interaktionsbezie-
hungen zwischen Professionellen und KlientInnen, die Verlaufsformen von
84 Hans-Jürgen von Wensierski

Biographien oder die subjektiven Sinn welten in den Alltags- und Lebens-
weltstrukturen der sozialpädagogischen Praxis gegenstandsadäquat untersu-
chen und darstellen lassen. Dabei erweist sich zugleich die fallanalytische
Struktur qualitativer Studien als methodologisches Element, das auch der
professionellen Reflexion sozialpädagogischer Praktikerlnnen entgegen-
kommt. "In ihrer beruflichen Praxis müssen PädagogInnen Kenntnisse über
die lebensweltlichen Perspektiven der AdressatInnen besitzen; ein fallbezo-
genes Vorgehen erfordert Wissensbestände über biographische Verläufe,
über subkulturelle Sinnwelten und Orientierungsmuster, die dem Handeln der
Adressaten zugrundeliegen" (Jakob 1997, S. 126). Mit teilnehmender Beob-
achtung und Interaktionsanalyse lassen sich die Handlungsschemata der Indi-
viduen herausarbeiten, in die zudem biographische Perspektiven eingelassen
sind. Mit gesprächsanalytischen Verfahren können soziale Kategorisierungen
im Alltagshandeln systematisch erfasst und untersucht werden. Narrative
biographische Konzepte rekonstruieren die systematischen Prozessstrukturen
des Lebensablaufs in den Lebensgeschichten, etwa in Gestalt kollektiver
Verlaufskurven, wie sie auch in den institutionellen Betreuungsformen der
Sozialarbeit immer wieder vorkommen. Mit Hilfe von Gruppendiskussionen
lassen sich überdies kollektive und gruppenbezogene handlungsleitende Ori-
entierungsschemata und Interaktionsstrukturen, wie sie für vielfältige cli-
quenbezogene und gruppenpädagogisch relevante Kontexte typisch sind, un-
tersucht und mit Blick auf theoretische Erklärungsmodelle gefasst werden
(vgl. Schütze 1994, S. 194f.).
In Bezug auf die vorliegenden methodologischen Diskussionen und me-
thodischen Vorschläge zur Praxisforschung lässt sich m.E. kein grundsätzli-
cher Qualitätsunterschied gegenüber den sonstigen Methodendebatten in der
sozialpädagogischen Forschung ausmachen. Dafür spricht auch, dass die ver-
schiedenen Konzepte der Praxis-, Evaluations- und Begleitforschung in allen
einschlägigen methodischen Handbüchern zu qualitativen Forschungsmetho-
den vertreten sind (Flick u.a. 1991; Friebertshäuser/Prengel 1997; Flick!
v.Kardorff/Steinke 2000). Das gesamte Spektrum der qualitativen Verfahren
zwischen ethnographischen, biographieanalytischen und hermeneutischen
Ansätzen lässt sich auch im Spektrum der Praxisforschungsdebatte aufzeigen,
wobei auch hier allerdings ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen der
puristischen Strenge methodologischer Debatten und den pragmatischen
Zwängen der Forschungspraxis in Rechnung gestellt werden muss - ein
Hiatus, der aber in gleicher Weise auch auf die übrige empirische Sozialfor-
schung zutrifft (Bohnsack 1991, S. 25).
Im Übergang von den analytischen Verfahren der empirischen Erfor-
schung sozialarbeiterischer Praxis zu den handlungsorientierten Methoden,
durch die der Transfer der Praxisforschungsergebnisse gesichert und hand-
lungsleitende Konzepte für die Praxis gestaltet werden soll, bleiben die me-
thodologischen und methodischen Vorschläge innerhalb der Praxisforschung
dann allerdings überaus vage und bisweilen auch selbstkritisch (Schone 1995,
Rekonstruktive Sozialpädagogik 85
S. 52f.). Allerdings lässt sich in diesem Zusammenhang aber auch kein
Rückbezug auf die unbefangenen Theorie-lPraxismodelle der Aktionsfor-
schung ausmachen.
Insofern scheinen mir die vorliegenden Konzepte und Vorschläge zur
Praxisforschung auf einem bisher weitgehend umeflektierten widersprüchli-
chen Fundament aufgebaut: Während die Notwendigkeit einer empirischen
Erforschung der ,,Praxis" Sozialer Arbeit methodologisch fundiert und me-
thodisch differenziert begründet wird, bleibt die Frage der Bedeutung der
ForscherIn für die Planung und Gestaltung handlungsleitender Entwürfe vor
allem ein programmatisches Postulat.
Dieser Widerspruch innerhalb des Programms der Praxisforschung lässt
sich aber vielleicht auflösen, wenn man für das Konzept der Praxisforschung
gar nicht nach einer konsistenten einheitlichen Methodologie sucht, sie also
nicht als spezifischen Forschungs- oder gar Wissenschafts typus konzipiert,
sondern Praxisforschung vor allem als einen spezifischen sozialen Ort und
einen spezifischen Interaktionszusammenhang zwischen ForscherInnen und
Praktikerlnnen betrachtet. Aus der Sicht der Wissenschaft bedeutet Praxisfor-
schung dann im Grunde einen zweistufigen Forschungsprozess, in dessen
Verlauf der Wissenschaftler seine Funktion und vor allem seine soziale Rolle
wechselt. Auf der ersten Ebene ist er Forscher, der auf der Basis seiner wis-
senschaftlichen Geltungsansprüche und der methodologischen Prämissen sei-
nes Forschungsansatzes das analytische und methodische Instrumentarium
für eine empirische Sozialforschung entwirft und bereitstellt.
Auf der zweiten Ebene ist er aber nicht mehr nur wissenschaftlicher For-
scher, sondern auch fach wissenschaftlicher Experte, Berater und ggf. gestal-
tender Akteur im Handlungskontext der sozialen Praxis. Die Geltungsbe-
gründung für seine Aussagen und Konzepte basieren hier nicht mehr auf der
Konsistenz einer widerspruchslosen Erkenntnistheorie, sondern auf der per-
sönlichen und sozialen Verantwortung als fachlicher, kritischer und enga-
gierter Zeitgenosse. Für die Ergebnisse von Praxisforschungsprojekten be-
deutet das zugleich eine Differenzierung in der Validität ihrer Produkte. Eine
Beglaubigung von Forschungsergebnissen im Sinne wissenschaftlicher Güte-
kriterien kann - auch im Selbstverständnis der Praxisforschung - eigentlich
nur für den Teil auf der Basis ausgewiesener methodologischer und methodi-
scher Standards beansprucht werden - d.h. in der Regel für die analytisch-
empirischen Erhebungen.
Die Geltungsansprüche der Handlungskonzepte basieren demgegenüber
nicht auf solchen wissenschaftsimmanenten Kategorien, sondern auf der kon-
sensuellen Übereinkunft von forschenden PraktikerInnen und planend-
gestaltenden Wissenschaftierlnnen. Die Handlungskonzepte gelten vor dem
Hintergrund des fachlichen und gewissermaßen interdisziplinären Diskurses
und in prinzipieller Anerkennung der jeweils spezifischen Ressourcen des in-
stitutionellen Kontextes als (zunächst) bestmöglicher Entwurf. Ihre Reich-
weite ist prinzipiell zunächst begrenzt auf den konkreten sozialräumlich-
86 Hans-Jürgen von Wensierski

fachlichen Kontext der leitenden Projektfragestellung und des Forschungsge-


genstandes. Die Gültigkeit solcher Praxiskonzepte erweist sich entsprechend
nicht an der kritisch-reflexiven Prüfung des methodisch-kontrollierten For-
schungsprozesses, sondern schlicht an der Wirksamkeit ihrer Instrumente im
Praxiseinsatz - oder, wie die Mediziner angesichts ähnlicher epistemologi-
scher Probleme sagen: "Wer heilt, hat Recht."
Eine solche Wirksamkeitsprüfung lässt sich dann allerdings retrospektiv
wieder wissenschaftlich kontrolliert durchführen - etwa im Rahmen einer
Evaluationsstudie. Eine solche systematische Evaluationsforschung von Pra-
xisforschungsprojekten liegt bisher erst in Ansätzen vor. In ihr können nicht
nur die potenziellen Diskrepanzen zwischen den programmatischen Ansprü-
chen von Praxisforschung und der Forschungspraxis sichtbar gemacht wer-
den, sie können auch Aufschluss geben, inwieweit handlungsorientierte Pra-
xisforschung tatsächlich nachhaltigen Einfluss auf die Planung und Gestal-
tung sozialer Praxis zu nehmen vermag oder ob auch hier viele gute Kon-
zepte ihre Grenzen an den strukturellen Zwängen externer Einflussfaktoren
(z.B. Finanzen, Trägerstrukturen, Politik) erfahren, die selbst in solch praxis-
nahen Planungskontexten nicht ohne weiteres beherrschbar sind. Einen wich-
tigen und systematischen Ansatz in diese Richtung liefert insbesondere die
Studie von Grohmann (1997).
Resümiert man diese Befunde über die Strukturmerkmale der Praxisfor-
schung, dann erscheint dieser Bereich vor allem als ein institutioneller Lö-
sungsvorschlag zum Transferproblem von sozialwissenschaftlicher Erkennt-
nisproduktion und professionalisierter und verwissenschaftlichter Praxisent-
wicklung. Entgegen mancher programmatischen Rhetorik in diesem Kontext
lässt sich aber keineswegs eine neuartige Methodologie ausmachen, in der
etwa die unterschiedlichen Strukturlogiken von Wissenschaft und Praxis auf-
gehoben wären. Vielmehr stehen Praxisforschung und wissenschaftlich-
analytische Forschung in der Sozialen Arbeit in einem Prozess wechselseiti-
ger Versozialwissenschaftlichung. Hatten die verschiedenen Formen von
Praxisforschung bis in die 60er Jahre hinein wesentlich zu einer sukzessiven
empirischen Orientierung in der Sozialen Arbeit beigetragen, Sozialarbeit
und Sozialpädagogik ihre methodischen-empirischen Bezüge also weitge-
hend aus diesem Feld der Praxisforschung bezogen, so kehrt sich im Gefolge
der realistischen Wende seit Ende der 60er Jahren dieses Verhältnis zuneh-
mend um. Die methodologischen und methodischen Forschungsdebatten in
der Sozialpädagogik werden zunehmend aus dem Kanon der empirischen So-
zialforschung, insbesondere durch die soziologischen Methoden bestimmt.
Als Drehscheiben für diesen Perspektivenwechsel erscheinen mir dabei vor
allem der Diskurs um die Aktions- und Handlungsforschung sowie die nach-
haltigen Einflüsse des Symbolischen Interaktionismus. Praxisforschung ist in
der Folge nicht mehr der Schrittmacher für eine empirisch-wissenschaftliche
Fundierung der Sozialen Arbeit, sondern wird zum Synonym des Transfer-
problems einer künftig gleichermaßen sozial wissenschaftlich-analytisch und
Rekonstruktive Sozialpädagogik 87
-empirisch orientierten universitär etablierten Sozialpädagogik. Ihr for-
schungsmethodisches Leitbild bezieht die Praxisforschung seitdem ebenfalls
zunehmend aus dem Kanon der empirischen, vor allem qualitativen, Sozial-
forschung, allerdings ohne gleichzeitig dafür adäquate forschungspraktische
Ressourcen zur Verfügung zu haben.
Die Ansprüche an eine fortschreitende Verwissenschaftlichung der So-
zialen Arbeit, die vor allem auch durch die sich parallel vollziehende Aka-
demisierung der sozialarbeiterischen und sozialpädagogischen Studiengänge
an den Fachhochschulen repräsentiert ist, konstituieren in der Folge nämlich
eine bis heute wirksame strukturelle Antinomie im wissenschaftlichen Sy-
stem der Sozialen Arbeit. Während die universitäre Sozialpädagogik bedingt
durch den Prozess ihrer durchgreifenden Versozialwissenschaftlichung zu-
nehmend mit ihrem strukturellen Theorie-Praxis-Transferproblem konfron-
tiert ist (und zwar sowohl auf den Ebenen von Methodologie, Professionali-
sierung und Theorieakzeptanz wie auch in Bezug auf das Berufsbild ihrer
Absolventlnnen), stellt sich das Transfer-Problem in einer zunehmend wis-
senschaftlich-rationalisierten Praxis und an den Fachhochschulen vor allem
als strukturelle Abkoppelung von den institutionellen, materiellen und perso-
nellen Ressourcen einer wissenschaftlichen und fachdisziplinären Forschung,
Theoriebildung und Wissenschaftsreproduktion dar. - Ironisch zugespitzt
könnte man vielleicht auch sagen, die Situation der Sozialen Arbeit in
Deutschland besteht erstens aus einer Handlungswissenschaft ohne eigenes
berufliches Handlungsfeld und zweitens aus einer Handlungswissenschaft
ohne eigene Wissenschaftsdisziplin.
Konzepte für Praxisforschung und Sozialarbeitswissenschaft zum einen,
sozialpädagogisch-disziplinäre Selbstvergewisserungsrituale, Professional i-
sierungsdebaUen und eine gewisse zwanghafte Leidenschaft für Berufsver-
bleibsstudien zum anderen scheinen mir der Preis für diese unstrukturierte
Doppelstruktur der Sozialen Arbeit als Wissenschaftssystem in Deutschland.
Das Feld der Praxisforschung ist Ausdruck dieses strukturellen Dilem-
mas und zugleich ein organisatorisch-pragmatischer Versuch der Überwin-
dung. Ihre große Verbreitung und ihr offensichtlicher Einfluss auf die Orga-
nisations- und Konzeptentwicklung der Sozialen Arbeit scheinen mir ein
deutlicher Hinweis darauf, die Nachfrage nach solcher Wissenschaftsbera-
tung und solchen Transferstrukturen ernst zu nehmen und die Auseinander-
setzung damit nicht vom Katheder methodologischer Unfehlbarkeit aus zu
führen. Das Strukturmodell eines intermediären Feldes für den Zusammen-
hang von Wissenschaftssystem und Handlungspraxis lässt vielmehr deutlich
werden, dass die Anforderungen an tragfähige Transferstrukturen zwischen
Wissenschaft und Praxis in der Sozialen Arbeit weder zum Aufweichen wis-
senschaftstheoretischer und methodologischer Standards führen noch das En-
de einer kritischen handlungsentlasteten und unabhängigen Forschung ein-
läuten. Es macht allerdings auch deutlich, dass die Vermittlungsaufgaben ei-
ner Wissenschaft der Sozialen Arbeit in einer zunehmend versozialwissen-
88 Hans-Jürgen von Wensierski

schaftlichten Praxis sich nicht allein in der Ausbildung wissenschaftlich aus-


gebildeter PraktikerInnen sowie in der Produktion wissenschaftlicher Publi-
kationen erschöpft. Zu ihren wesentlichen Strukturmerkmalen gehört offen-
bar auch ein unmittelbarer Diskurs und Interaktionszusammenhang zwischen
Wissenschaft und Praxis, wie er sich in solchen institutionellen Kontexten
wie den verschiedenen Konzepten der Praxisforschung, der Wissenschaftsbe-
ratung und in der Weiterbildung manifestiert.

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11. Qualitative Verfahren in
sozialpädagogischen
Forschungsfeldem
Sozialpädagogische Institutionenforschung

Thomas Klatet:d<,i

Skripts in Organisationen
Ein praxistheoretischer Bezugsrahmen für die Artikulation des
kulturellen Repertoires sozialer Einrichtungen und Dienste

1. Praxis als Forschungsgegenstand

Wenn man anfängt, über die Anwendung qualitativer Methoden zur Erfor-
schung sozialer Einrichtungen und Dienste nachzudenken und wenn man da-
bei davon ausgeht, dass es den interpretativen Verfahren in der sozialwissen-
schaftlichen Forschung um das Verstehen von Sinn und Bedeutung geht, und
wenn man zudem annimmt, dass soziale Einrichtungen und Dienste als Sy-
steme aufzufassen sind, dann, nun dann stößt man fast unmittelbar auf fol-
gende Problemkonstellation:
Ein Blick in jene organisationstheoretische Literatur, die soziale Einrich-
tungen und Dienste als Systeme auffasst, lässt einen schnell gewahr werden,
dass soziale Systeme dort als eine überindividuelle Realität, eine Realität sui
generis, verstanden werden und dass diese Wirklichkeit im Allgemeinen
nicht als Träger von Sinn und Bedeutung gilt. l Vielmehr wird diese überindi-
viduelle Realität als eine objektive und mit determinierender Wirkung ausge-
stattete Wirklichkeit aufgefasst. Das Vorbild für diese organisationstheoreti-
sche Richtung sind die Naturwissenschaften: Organisationen als Systemen
wird ein dinghafter Charakter zugesprochen; sie werden als soziale Tatsachen
verstanden. Das wissenschaftliche Ziel ist dann die Entdeckung kausaler Ge-
setzesmäßigkeiten zwischen sozialen Fakten (z.B.: Je größer eine Organisati-
on ist, desto differenzierter ist sie). Für die empirische Erfassung solch ob-
jektiver Realität bedarf es dann aber keines interpretativen Vorgehens, son-
dern einer an den Naturwissenschaften orientierten quantitativen Methodolo-

Eine Ausnahme ist die Systemtheorie Niklas Luhmanns, in der Totalitäten Sinn zugespro-
chen wird. Die Theorie meint allerdings, darauf verzichten zu können, den empirischen
Nachweis für ihre Aussagen anzutreten. Aus diesem Grund kann sie hier unberucksichtigt
bleiben.
94 Thomas Klatetzki

gie. 2 Eine Ontologie, die darauf besteht, dass es Totalitäten gibt, scheint so
mit einer Erkenntnismethode zusammenzuhängen, die darauf verzichten
kann, den Gegenstand zuallererst zu interpretieren, denn objektive Sachver-
halte "verstehen" ja weder sich selbst noch ihre Umwelt. Was innerhalb die-
ses Bezugsrahmens empirisch ermittelt wird, sind determinierende Systeme.
Handelnde, an Sinn orientierte Individuen sind innerhalb dieses Bezugsrah-
mens nicht von Interesse.
Für die Anwendung interpretativer Verfahren bietet somit die Auffas-
sung, dass soziale Einrichtungen und Dienste soziale Systeme mit einer Rea-
lität sui generis sind, keine Ansatzpunkte. Eine aus der Sicht qualitativer Me-
thoden attraktivere Alternative zur Erforschung von Organisationen besteht
daher darin, am Individuum anzusetzen, denn dass Individuen Träger von
Sinn und Bedeutung sind, scheint eine problemlose Annahme zu sein. Unter
dem Sinn- und Bedeutungssystem einer Organisation wäre dementsprechend
nichts weiter zu verstehen als die Gesamtheit dieser individuellen Sinnvor-
stellungen. Die verbleibende interessante Frage ist dann, auf welche Weise
die einzelnen Bedeutungswelten zu einer Ganzheit kombiniert werden kön-
nen. Die z.B. in der kognitiven Organisationstheorie präferierte Vorgehens-
weise besteht darin, die Gemeinsamkeiten bzw. Überlappungen der einzelnen
individuellen Sinnwelten herauszuarbeiten (Huff 1990; Cossette 1994), um
so das Sinnsystem der Einrichtung als Ganzheit empirisch zu erfassen. Gegen
ein solches Vorgehen ist im Prinzip nichts einzuwenden. Die mit diesem
Vorgehen verbundenen Probleme beginnen allerdings dann, wenn man fragt,
wie denn diese Gemeinsamkeiten zu Stande kommen. Zur Beantwortung die-
ser Frage liegt nun der Verweis auf eine übergeordnete Realität, die Organi-
sation als soziales System, nahe. Aber dann ist man wieder bei sozialen
Sachverhalten angekommen, die eine determinierende Wirkung haben sollen,
und man befindet sich in einem Bezugsrahmen, in dem Fragen nach Sinn und
Bedeutung keine Rolle spielen.
Wenn es also um die Untersuchung von Organisationen geht, dann
scheint man auf den ersten Blick wählen zu müssen zwischen einer atomisti-
schen Perspektive, die nur subjektiv sinnorientierte Individuen kennt, und ei-
ner holistischen Perspektive, für die es allein objektive, determinierende To-
talitäten gibt. Jeder Gegenstand - Individuen hier, Totalitäten dort - ist dabei
mit einer Erkenntnismethode liiert: qualitative, verstehende Verfahren auf der
einen, quantitative, erklärende Methoden auf der anderen Seite.
Wenn man weder die eine noch die andere Position für eine theoretische
und empirische Beschreibung von sozialen Einrichtungen und Diensten für
zufrieden stellend hält, dann stellt sich die Frage, ob es einen "dritten Weg"
gibt, um Organisationen zu konzeptualisieren. Die sich seit dem Anfang der
80er Jahre entwickelnden praxistheoretischen Ansätze (vgl. Giddens 1984;

2 Exemplarisch ist hierfür der Sammelband zur Messung von Organisations strukturen von
KubiceklWelter (1985) zu nennen.
Skripts in Organisationen 95
Ortner 1984; Swidler 1986; Schatzki 1996; Reckwitz 2000) offerieren eine
solche Variante. Die mit dem Begriff ,,Praxis" verbundene Perspektive hat
der britische Soziologe Anthony Giddens folgendermaßen beschrieben: ,,Das
zentrale Forschungsfeld der Sozialwissenschaften besteht ( ... ) weder in der
Erfahrung des individuellen Akteurs noch in der Existenz irgendeiner gesell-
schaftlichen Totalität, sondern in den über Zeit und Raum geregelten gesell-
schaftlichen Praktiken" (Giddens 1988, S. 52).
Die Idee des praxis theoretischen Ansatzes besteht also darin, weder von
Systemen noch von Individuen auszugehen, sondern von Praktiken. Praktiken
sind Aktivitäten aller Art (vgl. Ortner 1984), wobei die praxistheoretische
Perspektive aber nicht einzelne Aktivitäten zum Ausgangspunkt ihrer theore-
tischen Überlegungen nimmt, sondern "the active flow of sociallife", "series
of ongoing activities and practices" oder ,,recurrent social practices" (Gid-
denslPierson 1998, S. 76). Genauer gesagt setzen praxistheoretische Überle-
gungen an den Routinen des Alltagslebens an: "The routine (whatever is
done habitually) is a basic element of ,day-to-day' social activity. (... ) The
term encapsulates exactly the routinized character which social life has as it
stretches across time-space. The repetitiveness of activities which are und er-
taken in a like manner day after day is the material grounding of what I call
the recursive nature of sociallife" (Giddens 1984, xxiii).
Routinen, die sich über Zeit und Raum erstrecken, sind das Grundele-
ment der praxistheoretischen Perspektive. Sie bilden das Fundament für die
Entstehung größerer sozialer Konfigurationen. Durch die fortwährende Re-
petitivität ihrer sozialen Aktivitäten produzieren und reproduzieren die Indi-
viduen soziale Institutionen. Dabei weisen die sich wiederholenden Aktivi-
täten eine Doppelstruktur auf. Sie bestehen aus körperlichen Verhaltensmu-
stern und aus damit untrennbar verbundenen Sinnmustern: "Soziale Praktiken
stellen einen Komplex von kollektiven Verhaltensmustern und gleichzeitig
von kollektiven Wissensordnungen ( ... ) dar, die diese Verhaltensmuster er-
möglichen und sich in ihnen ausdrücken" (Reckwitz 2000, S. 565). Praktiken
bzw. Routinen haben also einen dualen Charakter; sie bestehen zugleich aus
(materiellen) Verhaltensweisen und (ideellen) Wissensbeständen. Das Ver-
hältnis zwischen den Wissensbeständen und den Verhaltenssequenzen lässt
sich als ein rekursives verstehen. Mittels des Wissens werden die Routinen
hervorgebracht und umgekehrt behalten die Wissensstrukturen ihre Geltung
nur durch die repetitiven Aktivitäten.
Soziale Einrichtungen und Dienste lassen sich aus einer praxistheoreti-
schen Sicht dementsprechend als ein Ensemble von ineinander greifenden
Verhaltensroutinen verstehen. Aufgabe einer qualitativ inspirierten Untersu-
chung sozialer Einrichtungen und Dienste ist die Erfassung und Erläuterung
dieses Zusammenhangs von Routinetätigkeiten. Es sind im Hinblick auf ein-
zelne Routinen (z.B. die von sozialpädagogischen MitarbeiterInnen, Haus-
wirtschaftskräften und dem Leitungspersonal) zum einen die Verhaltensmu-
ster zu ermitteln, zum anderen sind die damit verbunden Wissens be stände zu
96 Thomas Klatetzki

erfassen. Es ist dann weiterhin festzustellen, wie diese Routinen ineinander


greifen, so dass sich ein Ensemble von Praktiken ergibt, das sich - auf Grund
seines Handeins und des damit verbunden Wissens - mehr oder weniger
deutlich von anderen Praxen abgrenzt.
Das theoretische Verständnis von Organisation als Praxis beruht also auf
den Begriffen Wissen und Routine. Diese beiden Begriffe beschreiben ein
und denselben Sachverhalt aus zwei unterschiedlichen Perspektiven. Wie
diese Begriffe zu verstehen sind, soll nun genauer erläutert werden.

2. Wissen

Praxis theoretische Ansätze interessieren sich nicht für Wissen "an sich", son-
dern für das Wissen im Handeln. In einem praxistheoretischen Rahmen wird
das Individuum daher als ein "engaged actor" und nicht als ein "disengaged
subject" verstanden. Mit diesem Akteursverständnis unterscheidet sich der
praxistheoretische Ansatz von dem in den Sozialwissenschaften dominanten
rationalistisch-intellektualistischen Bild eines mental prozessierenden und
die Umwelt repräsentierenden Subjekts. Gemäß letzterer Auffassung stellt
das Subjekt zunächst Überlegungen über die äußere Realität an und interve-
niert dann höchstens in einem zweiten Schritt in die Außenwelt. Den philo-
sophischen Hintergrund für diese Ansicht bildet die cartesianische Separie-
rung zwischen dem Geist und seinen mentalen Prozessen und Strukturen auf
der einen Seite und der ,,Außenwelt" der Körper und Gegenstände auf der
anderen Seite. Das Subjekt ist in erster Linie kein ,,handelndes", sondern ein
"denkendes" Wesen. In einem praxistheoretischen Ansatz wird diese Relati-
on zwischen Mentalem und Handeln umgekehrt. Der theoretische Bezugs-
punkt sind somit nicht Meinungen, Einstellungen oder Ansichten des Sub-
jekts "an sich", sondern die repetitiv hervorgebrachten Verhaltensmuster und
die mit diesen Verhaltensroutinen untrennbar verbundenen typischen Wis-
sensmuster.
Der praxistheoretische Ansatz nimmt das mit den Verhaltensroutinen
verbundene Wissen zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen, weil es ihm
nicht darum geht zu begreifen, was das menschliche Bewusstsein bzw. eine
Sinnstruktur "an sich" ist, sondern was einen menschlichen Akteur, was des-
sen "agency", seine Handlungsfähigkeit ausmacht. An die Stelle der cartesia-
nischen Trennung von Subjekt und Objekt, von Geist und Außenwelt, tritt die
maßgeblich durch die Philosophie Martin Heideggers geprägte Vorstellung,
dass das Dasein immer schon ein "In-der-Welt-sein" ist. Das Subjekt ist stets
handelnd situiert, und das heißt zugleich, dass es notwendig ein wissendes,
verstehendes Subjekt ist (vgl. Taylor 1985).
Skripts in Organisationen 97
Um die mit diesem Subjektverständnis verbundene Auffassung von Wis-
sen zu verstehen, bietet sich eine Unterscheidung an, die der Psychologe Je-
rome Bruner (Bruner et al. 1966; Bruner 1996) eingeführt hat. Nach Bruner
lassen sich drei Arten von Wissen unterscheiden, in der die Welt, oder besser
gesagt, die Invarianzen der Erfahrung und des Handeins, die "Realität" ge-
nannt werden, repräsentiert werden. Die erste Repräsentationsweise besteht
im "enactment", d.h. dem Ausführen von Handlungen und Handlungssequen-
zen. Die zweite Repräsentationsweise ist die bildliche Vorstellung (imagery);
die dritte ist die Konstruktion von Symbolsystemen. Während vor dem Hin-
tergrund des cartesianischen Weltbildes dem symbolisch repräsentierten Wis-
sen eine übergeordnete Stellung eingeräumt wurde, nimmt ein praxistheoreti-
scher Ansatz eine solche Privilegierung nicht vor. 3 Vielmehr kann man sogar
das im "enactment" repräsentierte Wissen für das entscheidendere Wissen
halten, insofern Individuen durch ihr Verhalten in einer direkten kausalen
Beziehung zur Realität stehen.4 Für bildliche Vorstellungen oder symbolische
Repräsentationen in Form von Meinungen, Einstellungen und Auffassungen
gilt das hingegen nur mittelbar (vgl. Searle 1983; WinogradelFlores 1987).
Das im "enactment", im Hervorbringen von Handlungen repräsentierte
Wissen ist auch als ein "embodied knowledge" bezeichnet worden (Blackler
1995). Shoshana Zuboff (1988, S. 61ff.) hat dieses verkörperte Wissen durch
folgende vier Aspekte charakterisiert:

1. Empfindsamkeit: Das körperliche Hervorbringen von Handlungen basiert


auf Empfindungen aller Art, d.h. das Wissen beruht auf der Verarbeitung
von Informationen aus der sozialen und physikalischen Umwelt (cues).
2. Handlungsabhängigkeit: Das "embodied knowledge" entwickelt sich
durch praktische Ausführungen. Obwohl die Kompetenzen, in denen sich
das Wissen zeigt, im Prinzip sprachlich formuliert werden können, blei-
ben sie typischerweise implizit und unartikuliert.
3. Kontextabhängigkeit: Das Wissen hat stets nur Sinn und Bedeutung in-
nerhalb eines Kontextes, in dem die dazugehörigen physischen Aktivitä-
ten auftreten können.
4. Personalität: Es ist stets ein individueller Körper, durch dessen Verhalten
sich das Wissen repräsentiert. Aus diesem Grund wird ein Zusammen-
hang zwischen dem Wissenden und Gewussten angenommen.

3 Diese Privilegierung lässt sich nicht mehr halten, seitdem in den Kognitionswissenschaften
der Versuch, den menschlichen Geist als einen körperlosen logischen Denkapparat zu mo-
dellieren, gescheitert ist. Neuere Modelle sehen den menschlichen Geist als "embodied
mind", der eingebettet ist in eine kulturelle und physikalische Umgebung (vgl. Clark 1997).
4 Statt Verhalten könnte auch Wahrnehmung als Ausgangspunkt genommen werden, denn
auch die Wahrnehmung von Individuen steht in einer unmittelbaren Beziehung zur äußeren
Realität. Allerdings sind Wahrnehmungen empirisch schwieriger zu erfassen als Verhal-
tensweisen.
98 Thomas Klatetzki

Will man dieses handlungsabhängige, auf Umweltinformationen angewiese-


ne, kontextspezifische und personale Wissen nun sprachlich repräsentieren,
so bietet sich zu seiner Beschreibung das aus der kognitiven Psychologie
(vgl. Schank/Abelson 1978), aber auch aus der dramaturgischen Soziologie
(vgl. Mangham 1978; ManghamlOverington 1983) stammende Skriptkonzept
an. Ein Skript ist ein Ereignisschema, das eine Sequenz von Ereignissen oder
Verhaltensweisen beschreibt, die für einen bestimmten Kontext angemessen
sind. Ein Skript setzt sich zusammen aus einer Reihe von Szenen, die ihrer-
seits aus einer Abfolge von Handlungen bestehen. Das Skriptwissen hat dabei
eine schematische Form; es ist ein Rezeptwissen über den typischen Verlauf
von Ereignissen. Skripts werden oft auch als ein "knowledge how" (Ryle
1949) oder "knowledge of acquaintance" (James 1950), also als ein prozes-
suales Wissen bezeichnet. Damit wird verdeutlicht, dass Skripts eine tempo-
rale Struktur aufweisen, die sich in der Abfolge der Szenen bzw. Handlungen
ausdrückt.
In der sozial wissenschaftlichen Literatur ist der Besuch eines Restaurants
ein viel bemühtes Beispiel, um das den Routinen zugrunde liegende Skript-
wissen zu illustrieren. Das Restaurantskript enthält die Szenen des Eintretens
in die Gaststätte, des sich an einen Tisch Setzens, des Bestellens, des Essens,
des Bezahlens und des Verlassens des Restaurants. Jede einzelne Szene be-
steht dabei wieder aus einer Reihe von Einzelhandlungen, wie z.B. das Su-
chen nach einem freien Tisch beim Betreten des Restaurants, das Hervorho-
len des Portemonnaies für das Bezahlen etc.
Ein solches Rezeptwissen in Form eines Skripts ermöglicht es, sich bei
einem Restaurantbesuch angemessen zu verhalten. So weiß man, dass man
sich nach dem Betreten des Restaurants zunächst einen Platz suchen muss,
dass man dann etwas bestellen kann und dass zum Schluss bezahlt werden
muss. Das Skript ist also eine Anleitung, die das Hervorbringen von Hand-
lungssequenzen ermöglicht. Zudem ermöglicht das Skript aber auch das Ver-
stehen von Situationen. Wenn uns z.B. ein Freund erzählt, er habe sich ge-
stern im Restaurant die Krawatte bekleckert, so wissen wir, womit er die
Flecken wahrscheinlich verursacht hat - und zwar ohne dass unser Freund
uns das explizit mitteilen muss. In das Ereignisschema ,,Restaurantbesuch"
ist das Schema ,,Essen und Trinken" eingebettet, und dieses Schema ermög-
licht die Schlussfolgerung, dass die Kleckerei mit Flüssigkeit entweder mit
einem Getränk (typischerweise Rotwein), mit Soßen oder mit Suppen zustan-
de gekommen ist. Zugleich verweist das Restaurant-Schema auf andere
schematische Wissensbereiche und gibt damit Einblick in weitere Aspekte
unseres Wissensnetzwerkes. So wissen wir z.B., dass das Restaurant einen
Eigentümer hat und somit können wir einen Zusammenhang zu den Konzep-
ten des Unternehmers und der Wirtschaft herstellen. Wir wissen auch, dass
wir die Rechnung mit Geld begleichen müssen und dass Geld etwas mit Ein-
kommen, Banken und Steuern zu tun hat. Und von der Steuer ergeben sich
Verbindungen zu Staat, den Parteien, dem Bundeskanzler usw. Dieser Ver-
Skripts in Organisationen 99
weisungszusammenhang macht verständlich, auf welche Weise ein Hinter-
grundwissen in Form von Ansichten, Meinungen oder Einstellungen mit dem
Skriptwissen verbunden ist und wie gedankliche Schlussfolgerungen vorge-
nommen werden können.
Skripts werden in einer praxistheoretischen Perspektive als kollektive
Wissensschemata aufgefasst, und zwar in dem Sinne, dass diese Perspektive
sich für diejenigen konzeptuellen Strukturen interessiert, die einer Anzahl
von Individuen gemeinsam sind. Es geht, um eine Unterscheidung von Roger
Schank und Robert Abelson (1978) zu benutzen, um situative und nicht um
persönliche Skripts. Situative Skripts - und das Restaurantbeispiel ist ein sol-
ches situatives Skript - sind Ereignisschemata, in denen a) die Situation spe-
zifiziert ist, b) mehrere Akteure aufeinander abgestimmte Handlungen aus-
führen und c) die Akteure ein gemeinsames Verständnis in Bezug auf das
Geschehen in der Handlungssequenz haben.
Unterschiedliche Akteure verfügen über gleiche situative Skripts, weil
sie im Alltagsleben vielfach gleiche Erfahrungen machen. Ein Restaurantbe-
such läuft in einer Kultur stets auf der gleichen Weise ab. Die dadurch ent-
stehende Gemeinsamkeit der Wissensstrukturen resultiert dabei nicht aus der
exakten Identität von Erfahrungen, sondern daraus, dass es sich um gleich ty-
pische Erfahrungen handelt. Die Erfahrungen der Regelmäßigkeiten einer be-
stimmten physikalischen und sozialen Welt - diese Normalität und Typizität
des Geschehens führen dazu, dass Individuen gemeinsame schematische
Wissensbestände ausbilden (vgl. BergerlLuckmann 1972; Nelson 1981; Mc-
Gee 1992).5
Schließlich muss auf die Möglichkeit hingewiesen werden, dass das "en-
actment" situativer Skripts misslingen kann (vgl. Mangham 1987). Die Her-
vorbringung geskripteten Verhaltens wird problematisch,

• wenn das "enactment" durch externe Faktoren unterbrochen wird und die
Vollendung der Handlungsroutine nicht mehr möglich ist,
• wenn die Ausführung der Handlungssequenz zu mühsam wird,
• wenn negative oder positive Erfahrungen gemacht werden, die in tief-
greifender Diskrepanz zu den Konsequenzen früherer Handlungsvollzüge
stehen,
• wenn eine neue Situation auftritt, für die kein Skript vorhanden ist.

5 Reckwitz (2000) versucht, die Gemeinsamkeit der Schemata durch den Verweis auf Ver-
haltensroutinen plausibel zu machen. Danach haben Handlungsmuster, die repetitiv auftre-
ten und bei denen es gleichgültig ist, von welchem Individuum oder welchen Individuen sie
ausgeführt werden, einen per definitionem kollektiven Charakter. Die Kollektivität ist in
der Gleichförmigkeit und Repetivität der Handlungsmuster bei verschiedenen Individuen
begründet: Weil sich verschiedene Individuen gleich verhalten, ist der Schluss auf den kol-
lektiven Charakter der konzeptuellen Strukturen gerechtfertigt - denn anders ist die Gleich-
förmigkeit des Verhaltens nicht zu erklären. Wären die Wissensschemata je individuell ein-
zigartig, ergäbe sich kein gleichförmiges Handeln.
100 Thomas Klatetv<;i
Genauer betrachtet sind es zwei Arten von Problemen, die die Ausführung
des geskripteten Verhaltens verhindern: Entweder handelt es sich um Pro-
bleme, die den Akteuren vertraut und bekannt sind, oder es handelt sich um
neue, unbekannte Probleme. Im Falle, dass es sich um typische, vertraute
Probleme handelt, ist den Handelnden der Zugriff auf zum Skriptwissen ge-
hörende Sub-Skripts, so genannte "what-ifs" (was, wenn ... ) möglich. Die Lö-
sung vertrauter Problem konstellationen besteht dann einfach darin, auf jene
Handlungssequenzen des Sub skripts umzuschalten, die für diese Fälle übli-
cherweise vorgesehen sind. Zum Verweisungszusammenhang des Skriptwis-
sens gehören also auch Wissensbestände über typische Probleme und deren
Lösung durch typische "was, wenn"-Routinen.
Wenn es sich allerdings um neue, bisher unbekannte Probleme handelt,
dann müssen die Akteure improvisieren, um Ordnung in die entstandene Un-
übersichtlichkeit zu bringen. Die Improvisation kann dazu dienen, die Unter-
brechung des Skriptvollzuges lediglich zu überbrücken, um dann zu einem
späteren Zeitpunkt die übliche Handlungssequenz wieder ausführen zu kön-
nen. Sie kann aber auch der Ausgangspunkt für eine völlig neue Form des
"enactment" und damit für die Veränderung der geskripteten Routinen sein.

3. Routinen

Der zweite praxistheoretische Begriff, der erläutert werden muss, ist der der
Verhaltensroutine. Da das (ideelle) Skriptwissen sich im "enactment" aus-
drückt~ findet es seinen Niederschlag in (materiellem) Verhalten. Praxistheo-
retische Ansätze beziehen sich vorwiegend auf jene Aktivitäten, die wieder-
holt auftreten und damit dauerhaft in der Zeit existieren. 6 Mit dem Begriff
"Routine" sind also chronisch repetitive Verhaltensweisen oder, wie Peter
Berger und Thomas Luckmann (1972) es genannt haben, Habitualisierungen
gemeint. Die Repetitivität von Verhaltensweisen bildet den Kern dessen, was
in der Soziologie mit dem Begriff ,,Institution" bezeichnet wird (vgl. Jepper-
son 1991), so dass Routinen als institutionalisierte Verhaltensweisen zu ver-
stehen sind. Routinen sorgen mithin für die Beständigkeit sozialer Realitäten
in der Zeit; deshalb kommt ihnen eine besondere theoretische Relevanz zu:
Ohne routiniertes Verhalten gäbe es aus praxistheoretischer Sicht keine so-
zialen Realitäten wie soziale Einrichtungen und Dienste. Und eben dies ist
ein wesentlicher Grund, warum Routinen für die Betrachtung von Organisa-

6 Das heißt nicht, dass praxistheoretische Ansätze sich nicht mit einmaligen Ereignissen be-
fassen. Deren Relevanz wird z.B. darin gesehen, dass sie als Kristallisationspunkte für die
Neustrukturierung von Wissensordnungen und Verhaltensweisen dienen (vgl. Sewell 1996;
Swidler 200 1).
Skripts in Organisationen 101

tionen eine gewichtige Rolle zukommt (vgl. CyertlMarch 1963; Nel-


sonlWinter 1982).
Der entscheidende Grund für die zentrale Rolle von Routinen im praxis-
theoretischen Ansatz ergibt sich aber aus der bereits dargestellten Annahme,
dass der Mensch in erster Linie als ein handelndes Wesen zu verstehen ist.
Wissensschemata haben entsprechend eine Praxisreferenz: Sie leiten das
praktische "Wirken" an. Ihrer Anwendung liegt, wie Alfred Schütz (vgl.
SchützlLuckmann 1979) betont hat, ein pragmatisches Motiv zu Grunde. Sie
dienen der Bewältigung von Situationen, so dass Wissensbestände den Status
von Gebrauchsanweisungen haben ("Wenn die Dinge so und so liegen", sagt
Schütz, "dann werde ich so und so handeln"). Für das Verständnis des Ver-
hältnisses zwischen Wissensschemata und dem wirkenden Handeln in einem
praxistheoretischen Rahmen ist die von Alfred Schütz getroffene Unterschei-
dung zwischen. ,,Routinesituationen" und "problematischen Situationen"
zentral. Wenn der Einsatz von Wissensbeständen einem pragmatischen Motiv
folgt, dann gilt für dessen Anwendung eine "Sparsamkeitsmaxime", denn
prinzipiell ist jede Handlungssituation unendlich interpretier- und auslegbar,
mit der Folge, dass die Analyse durch Wissen zur Paralyse für das Handeln
wird. Wenn der schematische Wissensbestandjedoch pragmatisch dazu dient,
die Situation zu bewältigen, dann wird seine Anwendung in der Regel routi-
nisiert vollzogen.
In diesem Sinne haben James March und Herbert Simon (1958, S. 142)
in einer klassischen Definition unter Routinen Aktivitäten verstanden, bei de-
nen situative Entscheidungen durch die Entwicklung eines festgelegten
Handlungsmusters vereinfacht worden sind. Wenn keine Untersuchung von
Handlungsalternativen erfolgt, zugleich aber Entscheidungen auf der Basis
vorgegebenen Wissens getroffen werden, dann gilt das Handeln als routiniert.
Routiniertes Handeln basiert nach dieser Definition also auf routiniertem
Denken. Es ist, praxistheoretisch gesprochen, die Konsequenz kulturspezifi-
scher Skripts, die von den Individuen auf Grund des pragmatischen Motivs
zur Situationsbewältigung verwendet werden. Routinisierung muss, so be-
trachtet, als das beherrschende Merkmal der Handlungspraxis aufgefasst
werden.
Die Routinisierung ist dabei mit einer subjektiven Vertrautheit der
Skripts verbunden, so dass diese nicht mehr explizit verbalisiert werden müs-
sen, sondern implizit bleiben können. Das Routinehandeln geht daher mit ei-
nem Bewusstseinszustand einher, der als ,,halbbewusst" (Weber 1972),
"mindless" (Langer 1989) oder eben auch als "praktisch" (Giddens 1984) be-
zeichnet wird. Charakteristisch für die mit diesem praktischen Bewusstseins-
zustand verbundene Denkweise ist, dass die verwendeten kulturellen Modelle
als "taken for granted" genommen werden, d.h. ihnen wird eine selbstver-
ständliche Geltung zugesprochen (vgl. Soeffner 2001). Zugleich scheinen die
Individuen subjektiv aber das Empfinden zu haben, sie würden reflektiert
handeln. De facto halten sie sich jedoch lediglich an eine gut gelernte, all ge-
102 Thomas Klatetzki

meine Wissensstruktur (vgl. Langer 1978). Das Skript des Routinehandelns


und damit auch die mit dem Skript in einem Verweisungszusammenhang ste-
henden weiteren Wissens bestände werden in der Regel also nicht eigens
wahrgenommen, mit der Folge, dass das explizite Wissen der Individuen über
ihr Tun begrenzt ist.
Zusammenfassend lassen sich aus einer praxistheoretischen Perspektive
soziale Einrichtungen und Dienste als ein Zusammenhang mehrerer Verhal-
tensroutinen verstehen. Mit den Routinen untrennbar verbunden ist ein
Skriptwissen, das im Zusammenhang mit weiteren schematischen Wissens-
beständen steht. Die Gesamtheit aus Skriptwissen und weiteren Wissens-
schemata bildet das kulturelle Repertoire einer Organisation. Dieses kultu-
relle Repertoire konstituiert die regelmäßigen Handlungsmuster und wird
seinerseits durch diese Regelmäßigkeiten aufrechterhalten. Das Ensemble der
Routinen einer Jugendhilfeeinrichtungen besteht dann z.B. aus den Routinen
der SozialpädagogInnen, der Leitung, der Hauswirtschaftskräfte, der Ver-
waltung usw. Die jeweils besondere Vernetzung der Routinen und ihre spezi-
fische ,,Amalgarnierung" durch die Wissensbestände des kulturellen Reper-
toires macht die Besonderheit der Organisation deutlich und grenzt sie auf
diese Weise mehr oder weniger deutlich von anderen Praxen ab.
Gesellschaftstheoretisch einbetten lässt sich ein solches praxistheoreti-
sches Verständnis sozialer Einrichtungen und Dienste in eine Konzeption so-
zialer Dienstleistungen wie sie z.B. Claus Offe (1984) vorgelegt hat. Danach
kommt dem Dienstleistungssektor die Funktion zu, jene kulturellen Formen
und Bedingungen zu reproduzieren, innerhalb derer die materielle Reproduk-
tion der Gesellschaft vollzogen werden kann. Diese Aufgabe wird von
Dienstleistungsberufen aller Art erfüllt. Deren gemeinsamer Nenner ist der
Erhalt spezifischer kultureller Bedingungen. Eine praxistheoretisch inspirier-
te Untersuchung der Organisationen im Bereich Sozialer Arbeit kann dann
zeigen, auf welcher Wissensbasis und durch welche Aktivitäten sich die kul-
turelle Reproduktionsarbeit in diesem Arbeitsfeld vollzieht.? So verortet wird
es möglich, in der Sozialen Arbeit eine eigenständige organisationstheoreti-
sche Konzeption sozialer Einrichtungen und Dienste zu entwickeln. Soziale
Einrichtungen müssen dann nicht mehr, wie dies gegenwärtig in der Theorie
und Praxis Sozialer Arbeit unter der Hegemonie ökonomischen Denkens ge-
schieht, nach dem Vorbild profitorientierter Firmen konzipiert werden, um
sie dann - als Folge dieses Theoriemanövers - als defizitäre Organisationen
zu behandeln.

7 Genau genonunen wird ersichtlich, wie die eine Seite der für die Soziale Arbeit charakteri-
stischen "Gewährleistungsarbeit" erbracht wird, nämlich wie eine Entsprechung mit "all-
gemeinen Regeln und Kriterien, Ordnungs- und Wertvorstellungen" (Offe 1984, S. 295;
Hervorhebung im Original) in den Einrichtungen und Diensten bewerkstelligt wird. Der
hier beschriebene Ansatz lässt sich damit als komplementär zur "professionellen Seite" der
Gewährleistungsarbeit betrachten, der es um die Besonderheiten des "Falls" geht.
Skripts in Organisationen 103

Eine methodische Möglichkeit, wie soziale Eimichtungen und Dienste,


verstanden als kulturelle Praxen, mit qualitativen Methoden untersucht wer-
den können, soll im nächsten Abschnitt dargestellt werden.

4. Eine Untersuchungsmethode

Wie oben gezeigt, verkörpern soziale Eimichtungen und Dienste als Praxis
eine Doppelstruktur bestehend aus Verhaltensroutinen und schematischen
Wissens beständen. Aufgabe einer praxistheoretischen Erforschung sozialer
Eimichtungen und Dienste ist es, die impliziten, stillschweigenden Wissens-
vorräte, mit denen die Organisationen ihre kulturelle Reproduktionsarbeit
verrichten, durch eine reflexive Untersuchung zu artikulieren. Artikulation
meint, das in den Vordergrund und damit zu Bewusstsein zu bringen, was
sonst stillschweigend, weil wenig oder gar nicht bewusst, im Handeln voraus-
gesetzt wird, so dass theoretisch wie praktisch interessante Einsichten entste-
hen können.
Da ein praxistheoretischer Zugang das Individuum als "engaged actor"
versteht, nimmt eine solche artikulierende Untersuchung die Verhaltensrouti-
nen einer Organisation zum Ausgangspunkt für die Explikation der kulturel-
len Wissensschemata. 8 Dabei wird davon ausgegangen, dass das mit den

8 Geht man nicht von den Routinen aus, sondern setzt Z.B. an symbolischen Repräsentationen
in Form von Meinungen, Einstellungen oder Weltsichten an, dann besteht die Gefahr, dass
die Erforschung der kulturellen Wissensbestände zu einer Erforschung des kulturellen Re-
pertoires "an sich" wird. Die Verbindung der kulturellen Wissensbestände der Einrichtun-
gen zu den praktischen Aktivitäten bleibt dann obskur. Das ist eines der wesentlichen Pro-
bleme des Konzepts der Kultur bzw. Organisationskultur (vgl. Frost et al. 1985; Tricel
Beyer 1993; Brown 1995). Für eine ,,Erdung" der kulturellen Ebene sozialer Einrichtungen
und Dienste sprechen aber insbesondere organisationssoziologische Befunde: Untersuchun-
gen im Rahmen des sog. Neo-Institutionalismus haben gezeigt, dass soziale personenbezo-
gene Dienstleistungsorganisationen durch zwei weitgehend voneinander getrennte Hand-
lungsebenen gekennzeichnet sind (vgl. Meyer/Rowan 1977; Brunsson 1989). Die eine Ebe-
ne, sie wird als operative Ebene bezeichnet, betrifft den Umgang mit den Klientlnnen. Hier
geht es um konkrete Arbeit, z.B. um das gemeinsame Mittagessen mit Klientinnen, um
Freizeitaktivitäten oder Gespräche über Probleme. Die zweite Ebene, sie lässt sich als sym-
bolische Ebene bezeichnen, betrifft alle Handlungen, die der Darstellung, Legitimation und
Abstimmung der organisatorischen Aktivitäten dienen. Auf der symbolischen Ebene fmden
solche Dinge wie Dienstbesprechungen, Qualitätszirkel oder Hilfeplangespräche statt. Aus
Gründen, die auf die Schwierigkeit zurückzuführen sind, die Zweckrationalität des operati-
ven Handeins nachzuweisen, entkoppeln soziale Einrichtungen und Dienste diese bei den
Strukturebenen voneinander, d.h. sie versuchen zu vermeiden - Z.8. durch die Berufung auf
die Schwierigkeit einer Messung von Interaktionen oder die Autonomie des professionellen
Handelns -, dass eine direkte Kontrolle und Evaluation ihrer Arbeitsebene vorgenommen
wird. Um dennoch der Anforderung nachzukommen, die Rationalität ihres Operierens
nachzuweisen, entfalten die Einrichtungen auf der symbolischen Ebene eine Reihe von ze-
remoniellen Aktivitäten (z.B. persönliches Unterrichten von Jugendamtsmitarbeiterinnen
104 Thomas KlatetzJä

Routinen der MitarbeiterInnen verbundene Wissen ein verkörpertes "know-


ing-how" ist, das die Form eines Skripts hat. Da von der Annahme ausgegan-
gen wird, dass den Routinen ein Wissen in Form von Skripts zu Grunde liegt,
ist der hier vorgeschlagene Untersuchungsansatz als theoriegeleitet zu be-
zeichnen. Er ist aber zugleich explorativ und in diesem Sinne offen, weil er
zum einen die Inhalte des Skriptwissens nicht festlegt und zum anderen zu
überprüfen sein wird, ob die theoretischen Vorannahmen eine Bestätigung im
empirischen Material findenY
Formuliert man den Versuch, das Routinewissen sozialer Einrichtungen
und Dienste mit Hilfe des Skriptkonzeptes zu explizieren, so kann man sa-
gen, metaphorisch, dass es dem Ansatz darum geht, die Drehbücher für das
alltägliche Handeln in einer Organisation zu erfassen. Eine Organisation in
ihrer Gesamtheit lässt sich so gesehen als ein Drama verstehen (vgl. Mang-
hamJOverrington 1987). Das Ziel der Untersuchung besteht dann darin, den
Sinn der Inszenierung verständlich zu machen. Das Drama wird konstituiert
durch Meta-Skripts, d.h. durch die Dienstroutinen des Personals. 1O Die

über die Entwicklung eines Jugendlichen, Erstellung eines Qualitätshandbuches, Qualifizie-


rung von MitarbeiterInnen etc.), die bei allen Beteiligten den Glauben entstehen lassen,
dass die Arbeit gut und richtig gemacht wird. Was auf diese Weise entsteht, ist eine ,Jogic
of good faith": Man unterstellt vertrauensvoll, dass alles seine Ordnung und Richtigkeit hat
und verzichtet auf eine Überprüfung dieser Annahme. Aus der Sicht dieses Organisations-
modells birgt nun die Durchführung eines Interviews, das ohne Bezugnahme auf die kon-
kreten Handlungsroutinen der operativen Ebene versucht, Sinnstrukturen zu ermitteln, die
Gefahr, dass das Interview zu einer zeremoniellen Aktivität wird. Wenn nicht klar ist, auf
welche Handlungsroutinen die Sinnkonstruktionen der Befragten sich beziehen, bleibt ent-
weder offen, über welche konkreten Praktiken eigentlich gesprochen wird, oder aber es
wird stillschweigend impliziert, dass die auf der symbolischen Ebene ermittelten kulturellen
Schemata umstandslos als konstitutiv für das Handeln auf der operativen Ebene angesehen
werden können. In diesem letzten Fall leistet die Untersuchung darm einen unreflektierten
Beitrag zum Erhalt der für die Praxis sozialer Einrichtungen und Dienste charakteristischen
"Iogic of good faith".
9 Diese Offenheit des Untersuchungsansatzes mag manchen VertreterInnen qualitativer For-
schung nicht groß genug sein. Einem solchen Einwand ist zum einen grundsätzlich entge-
genzuhalten, dass es eine ,,reine" Rekonstruktion der Sichtweise der Handelnden nicht gibt.
Es ist immer nur möglich, die Kategorien anderer auf der Basis eigener Kategorien zu ver-
stehen. Zum anderen ist zwischen methodischer Offenheit und der Explikation des theoreti-
schen Vorverständnisses zu unterscheiden. Offenheit für Neues hängt nicht davon ab, dass
auf der inhaltlichen Ebene Vor-Urteile nicht bewusst gemacht werden, sondern wie die Su-
che nach Neuem methodisch gestaltet wird (vgl. Meinefeld 2(00). In dem (noch zu be-
schreibenden) Forschungsprozess wird an zwei Stellen nach Neuem gesucht: Zum einen
wird bei der Durchführung der Interviews so vorgegangen, dass das Auftreten von Neuem
nicht verhindert wird. Zum anderen geben, wie erwähnt, die Schemakategorien nicht vor,
wie die konkrete prototypische Ausgestaltung durch die MitarbeiterInnen aussieht. Das hier
in Anspruch genommene theoretische Vorverständnis hat überdies den Vorteil, Forschung
in der Sozialen Arbeit interdisziplinär anschlussfahig zu machen, z.B. im Hinblick auf die
Philosophie (vgl. Lenk 1995), die Anthropologie (Casson 1983; D'Andrade 1995), die Psy-
chologie (vgl. AugoustinosfW alker 1995) und die Soziologie (vgl. DiMaggio 1997).
10 Anhand der Metapher, dass die Routinen der Organisation als Drehbücher verstanden wer-
den können, auf deren Grundlage ein institutionelles Drama aufgeführt wird, wird ersicht-
Skripts in Organisationen 105

Dienstroutinen setzen sich wiederum aus einzelnen Szenen, wie z.B. ,,Dienst-
übergabe" oder "Teambesprechung" zusammen.
Terminologisch wird nun festgelegt, dass Skripts auf dem Abstraktions-
niveau von Szenen angesiedelt sind. 1I Szenen bzw. Skripts sind die stabilen
Elemente, aus denen sich die Organisation zusammensetzt (vgl. Weick 1985;
Mangham 1987). Szenen selbst bestehen dann wiederum aus Handlungen.
Das Drama einer sozialen Einrichtung oder eines sozialen Dienstes setzt sich
also zusammen aus unterschiedlichen DienstroutinenlMetaskripts; Dienstrou-
tinenlMetaskripts ihrerseits bestehen aus Szenen/Skripts; Szenen/Skripts wer-
den schließlich durch Handlungen gebildet.
Ansatzpunkt der Untersuchung sind die DienstroutinenlMetaskripts der
Einrichtung oder des Dienstes. Indem die MitarbeiterInnen zur Reflexion
über ihr Routinehandeln angeregt werden, sollen die auf der Ebene des prak-
tischen Bewusstseins angesiedelten Wissensbestände diskursiv zugänglich
gemacht werden. Um das Drehbuchwissen der MitarbeiterInnen zu erfassen,
wird dabei davon ausgegangen, dass sich ein Metaskript aus folgenden Ele-
menten zusammensetzt (vgl. Burke 1945; Bower et al. 1979; Bums/Flam
1987):

Szenen: Die Dienstroutine setzt sich aus einer Sequenz von Szenen zu-
sammen. Eine Szene besteht dabei aus einer Abfolge von Handlungen,
die einen Zusammenhang bilden. (So enthält z.B. die Szene der "Team-
besprechung" eine Reihe von Handlungen, die eben die als "Teambe-
sprechung" bezeichnete institutionelle Realität erzeugt.) Die Handlungen
werden von Akteuren an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten ausge-
führt. Die Szene ist mithin ein übergeordneter Wissensbestand, der sich
seinerseits zusammensetzt aus schematischem Wissen über Handlungen,
Akteure, Raum und Zeit sowie dem Sinn des ganzen Geschehens, dem
,,Plot".
• Akteure: In den Szenen treten bestimmte Handelnde ("Charaktere") auf:
Zu einer bestimmten Routine gehören bestimmte Personen (z.B. Jugend-
liche und SozialpädagogInnen) und nicht andere. In Bezug auf diese Per-
sonen besteht bei den MitarbeiterInnen der Einrichtung ein typisches
Wissen darüber, was z.B. ihre Eigenschaften, Fähigkeiten und Verhal-
tensweisen sind. Das Wissen über Akteure schliesst auch stets ein Wis-
sen über das eigene Selbst der MitarbeiterInnen ein.

lieh, dass der hier vertretene Ansatz davon ausgeht, dass die Wissensbestände des kulturel-
len Repertoires sozialer Einrichtungen und Dienste eine narrative Struktur aufweisen (vgl.
Bruner 1986, 1990; Schank 1990; SchanklAbelson 1995; Czamiawska 1997).
11 Skripts existieren, wie schematisches Wissen generell, auf allen Abstraktionsebenen (vgl.
Rummelbart 1980). Für die Untersuchung sozialer Einrichtungen und Dienste bietet es sich
an, auf einer hohen Abstraktionsebene, also dem täglichen oder wöchentlichen Dienstskript
der MitarbeiterInnen, anzusetzen und von dort aus Einzelskripts zu untersuchen, weil auf
diese Weise die Organisation in ihrer Ganzheit empirisch erfassbar wird.
106 Thomas Klatetzki
• Handlungen: Die Akteure führen in den Szenen Aktivitäten aus. Auch im
Hinblick auf diese Handlungen besteht ein schematisches Wissen: Man
weiss, was es z.B. typischerweise heisst, jemandem zu helfen oder eine
Person zu informieren. Damit bestehen zugleich auch typische Erwartun-
gen darüber, was die Charaktere in dem Stück zu tun und zu lassen ha-
ben. Diese Wissensschemata stehen im Zusammenhang mit weiteren
Wissensbeständen über das Wie, Warum und Womit des Handeins. Das
"Wie" des Handeins bezieht sich auf die normative, evaluative Kompo-
nente. Man kann Handlungen nicht irgend wie ausführen, sie müssen viel-
mehr richtig ausgeführt werden. So soll man z.B. nicht nur einfach "in-
formieren", sondern man soll "freundlich" oder "ernsthaft" informieren.
Das Wissen über das "Warum" des Handeins informiert darüber, durch
was das Tun und Unterlassen der Charaktere in dem Skript "in Gang ge-
setzt" wird. Dies sind typischerweise Motive, Absichten, Gründe, Anläs-
se, Ursachen, Ziele, Werte usw. Bestandteil des kulturellen Repertoires
von Routinen sind daher schematische Wissensbestände über Handlungs-
gründe und -ursachen. Schließlich enthält das Wissen über Handlungen
auch noch schematische Wissensbestände über Handlungsmittel: Um
Handeln zu können, bedarf es bestimmter Fähigkeiten und Ressourcen.
Das Schema der Handlungsmittel encodiert das Wissen über die notwen-
dige materielle, soziale und kulturelle. Ausstattung über die der Akteur
verfügen muss, um die Routinen ausführen zu können. 12
• Raum und Zeit: Die Handlungen von Akteuren sind räumlich und zeitlich
situiert. Mit der Anwendung der Aktivitäts- und Akteursschemata ver-
knüpft sind also schematische Wissensbestände über das "Wo" des Han-
delns. Man weiss, an welchen Orten üblicherweise welche Handlungen
ausgeführt werden. So findet im Dienstzimmer der MitarbeiterInnen ei-
ner Jugendwohngruppe üblicherweise etwas anderes statt als in der Kü-
che oder im Wohnzimmer. Man weiss dann z.B. darüber hinaus auch,
welche typischen Ausstattungen (,,Requisiten") zu diesen Örtlichkeiten
gehören. Zudem finden Handlungen nicht nur irgendwo, sondern immer
auch "irgendwann" - z.B. morgens, mittags oder abends - statt. Mit der
Verknüpfung von Handlungen zu Sequenzen sind Vorstellungen darüber
verbunden, was zuerst kommt, was danach und was zuletzt. Eine Szene
bzw. eine Routine beruht daher auch auf Wissensbeständen über die
Strukturierung von Zeit.
• Der "Plot" einzelner Szenen und der "Plot" des Metaskripts: Das Han-
deln der Akteure, die Abfolge der Aktivitäten konstituieren die Szene.
Die Sequenz der Szenen bildet das Metaskript - und bei all dem geht es

12 Man könnte zusätzlich noch einen schematischen Wissensbestand über Handlungskonse-


quenzen postulieren (vgl. Bums/Flarn 1987). Ein solches Schema überschneidet sich aber
mit dem Wissen über Absichten und Motive. Ein schematisches Wissen über unbeabsich-
tigte Konsequenzen dürfte hingegen kaum zum Skriptwissen in Organisationen gehören.
Skripts in Organisationen 107
um irgendetwas. Der ,'plot" einer Ereignissequenz - sei es auf der Ebene
der Szene oder des Metaskripts - ist das organisierende Thema, das dem
jeweiligen Geschehen einen Sinn verleiht. Das Thema gibt Antwort auf
die Frage "Worum geht es hier?". Es transformiert eine ansonsten bloß
zeitliche und unverbundene Abfolge von Ereignissen in einen übergrei-
fenden Sinnzusammenhang. Der ,,Plot" bzw. das Thema ist ein überge-
ordnetes Wissensschema, das den Sinn von Ereignisfolgen auf den unter-
schiedlichen Abstraktionsniveaus thematisch encodiert (vgl. Schank/
Abelson 1978).
• Probleme und" what-ifs"; Das alltägliche Handeln in sozialen Einrich-
tungen und Diensten verläuft üblicherweise nicht reibungslos. Die Mitar-
beiterInnen kennen typische Probleme, die bei der Inszenierung der Sze-
nen auftreten, und sie wissen auch, wie sich diese Probleme normaler-
weise lösen lassen. Zum Drehbuch gehört folglich ein schematisches
Wissen über die mit den Dienstroutinen verbundenen Probleme und über
geskriptete Lösungswege bzw. Sub-Routinen, die angeben, was zu tun
ist, wenn ...

Die praxis theoretische Erforschung einer sozialen Einrichtung oder eines so-
zialen Dienstes besteht also in der Erfassung der mit den Routinen verbunde-
nen konzeptuellen Strukturen, indem das schematische Wissen über 1. Sze-
nen, 2. Akteure, 3. Handlungen, 4. Raum und Zeit, 5. die ,,Plots" von Ereig-
nissequenzen und 6. Probleme und deren typische Lösungen ermittelt wird.

5. Das methodische Vorgehen in fünf Schritten

Um diese die Drehbücher der MitarbeiterInnen konstituierenden Wissensbe-


stände zu ermitteln, kann in folgender Weise vorgegangen werden. In einem
ersten Schritt erfolgt eine einfache grundlegende Beschreibung der Verhal-
tensroutinen der MitarbeiterInnen der Organisation. In einem zweiten Schritt
werden in Leitfadeninterviews die mit den basal beschriebenen Routinen
verbundenen Wissensschemata ermittelt. Im dritten Schritt erfolgt die Aus-
wertung der Interviewtexte und die Aufbereitung der Ergebnisse. Die ermit-
telten Ergebnisse werden dann in einem vierten Schritt mit den Mitarbeite-
rInnen der Organisation kommunikativ validiert. Im fünften Schritt erfolgt
die theoretische Verarbeitung der Ergebnisse auf der einen und die praktische
Verarbeitung der Resultate in der untersuchten Organisation auf der anderen
Seite. Dieses Vorgehen soll im Folgenden kurz dargestellt werden.
108 Thomas Klatetzki

1. Schritt: Eine basale Beschreibung der Routinen der Organisation

Um die institutionelle Wirklichkeit sozialer Einrichtungen und Dienste zu er-


fassen, setzt die praxistheoretische Perspektive auf der Verhaltensebene an.
In einem ersten Untersuchungsschritt werden deshalb die in der Organisation
vorfindbaren Verhaltensregelmäßigkeiten beschrieben. Zu diesem Zweck
werden idealerweise sämtliche MitarbeiterInnen der Einrichtung oder des
Dienstes gebeten,

• erstens den Ablauf einer typischen Arbeitswoche zu beschreiben. Sie


sollen schlicht der Reihe nach - beginnend an einem Montagmorgen -
genau berichten, welche Aktivitäten sie ausführenY Auf diese Weise er-
folgt eine erste Identifikation der von den MitarbeiterInnen verwendeten
Wissensschemata über Aktivitäten.
• Zweitens werden sie gebeten, die Handlungen zu "Szenen" zusammenzu-
fassen. Dies hat auch den praktischen Vorteil, dass auf diese Weise eine
übersichtlichere Handhabung der Fülle des empirischen Materials mög-
lich wird, ohne dass Details verloren gehen. Theoretisch abgesichert ist
ein solches Vorgehen durch den Umstand, dass die Dienstroutine als eine
Abfolge von Szenen verstanden werden kann.
• Drittens sollen die MitarbeiterInnen angeben, welche Akteure im Rah-
men der Szenen auftreten und handeln, so dass die "Charaktere" benannt
sind.
• Viertens werden die MitarbeiterInnen gebeten, die zu den genannten Hand-
lungen zugehörigen Orte anzugeben, damit die konstituierenden Raum-
schemata für die weitere Exploration ins Blickfeld kommen.
Und fünftens sollen sie die für die Routine übliche zeitliche Strukturie-
rung angeben, so dass die konzeptionelle Wissens struktur über Zeit er-
kennbar wird.

Ergänzt werden kann eine solche erste Erfassung der Routinen durch teil-
nehmende Beobachtungen (vgl. Jorgensen 1989) im Arbeitsalltag der Orga-
nisation. Sichergestellt werden muss dabei allerdings, dass die von der For-
seherIn vorgenommene geskriptete Darstellung der Verhaltensroutinen mit
den Beschreibungen der MitarbeiterInnen kompatibel ist. Das eine Verfahren
kann dann dazu dienen, das andere anzureichern und zu überprüfen.
Was man durch eine solche Befragung erhält ist eine erste, "dünne" Be-
schreibung von Routinen einzelner MitarbeiterInnen,

• in der die Handlungen und Bündel von Handlungen in Gestalt von Sze-
nen benannt ist,

13 Wenn an jedem Arbeitstag dieselben Aktivitäten ausgeführt werden, ist es natürlich nicht
nötig, sich jeden Wochentag beschreiben zu lassen; dann genügt der typische Arbeitstag.
Skripts in Organisationen 109
• aus der die Abfolge der Handlungen bzw. Szenen und damit die zeitliche
Struktur der Routine ersichtlich wird,
• durch welche die in das Handeln involvierten Akteure ersichtlich werden
• und aus der Orte des Handeins hervorgehen.

Diese basalen Beschreibungen liefern eine Übersicht über das, was die Orga-
nisation in ihrem alltäglichen Handeln tut. Die Beschreibungen der Routinen
lassen sich daraufhin untersuchen, ob eine Übereinstimmung bezüglich der
Szenen und der Abfolge der Szenen zwischen den MitarbeiterInnen der Or-
ganisation besteht (vgl. LeighlReithans 1984; LeighlMcGraw 1989). Auf die-
se Weise lassen sich Anhaltspunkte im Hinblick auf das Ausmaß an Integra-
tion, Differenzierung bzw. Fragmentierung der Organisation gewinnen (vgl.
Martin 1992). Weitere Erkenntnisse ergeben sich z.B. dadurch, dass man
feststellt, welcher Anteil an Zeit für Handlungen mit KlientInnen und welche
Zeitmenge für Handlungen im Hinblick auf die Organisation selbst verwandt
wird. Damit können Aussagen über das Verhältnis von operativen zu selbst-
bezüglichen Organisationszielen gemacht werden (vgl. Mohr 1973). Weiter-
hin lassen sich mit Hilfe der beschriebenen Routinen auch sozialpädagogi-
sche Handlungskonzeptionen präziser fassen, als dass in der Praxis und
Theorie bisher der Fall ist. So kann etwa ermittelt werden, ob die untersuchte
Einrichtung eine sozialräumliche Orientierung hat oder nicht - darüber geben
die in den Routinebeschreibungen genannten Handlungstypen, Akteure und
Orte Auskunft.
Gleichwohl liefert eine solche deskriptive Darstellung der Routinen le-
diglich eine erste "dünne" Beschreibung. Der vielfältige Sinn, der mit der
ermittelten Darstellung der Routinen verbunden wird, ist noch nicht bekannt.
Das weitere Vorgehen besteht deshalb darin, diese dünne Beschreibung der
Routinen durch Leitfadeninterviews sukzessive zu "verdichten".

2. Schritt: Die Durchführung von Leitfadeninterviews

Der zweite Schritt dient dem Zweck, die Wissensbestände genauer zu explo-
rieren, die mit dem Routinehandeln der Organisation verbunden sind. Meta-
phorisch gesagt: Es geht darum, die Drehbücher mit Leben zu erfüllen. Die
Akteure sollen charakterisiert werden, der Sinn der Handlungen soll verdeut-
licht werden, die Ausstattung der Szenen - das Bühnenbild - ist zu beschrei-
ben, der ,,Plot" zu erzählen usw. Zu diesem Zweck erfolgt eine inhaltliche
Exploration der das Metaskript konstituierenden Wissensschemata der Ak-
teure, Szenen, Räume, Zeit, Handlungen, Plots und Probleme.
Für die empirische Erfassung dieser Elemente des kulturellen Repertoires
werden Leitfadeninterviews eingesetzt (vgl. Flick 1995). Der Einsatz eines
strukturierten Interviewverfahrens ergibt sich aus dem Umstand, dass der
110 Thomas Klatetzki

Forschungsansatz theoriegeleitet ist. 14 Anhand der genannten Kategorien des


Skriptwissens und der im ersten Schritt erfolgten Beschreibung der Routinen
werden folglich die Fragen für den Leitfaden entwickelt. Alle Fragen dienen
dem Zweck, das Wissen zu artikulieren, das auf der Ebene des praktischen
Bewusstseins angesiedelt ist. Dabei geht es im Sinne eines "accounting"
einmal um eine detailliertere, "dichtere" Beschreibung der Skriptkategorien,
und es geht zugleich um eine Erklärung und Begründung der verwendeten
Wissensschemata (vgl. Heritage 1984; Linde 1987; Antaki 1994). Auf diese
Weise werden die Skripts anschaulich gemacht. Die institutionelle Realität
der Organisationen wird genauer dargestellt - es wird nachvollziehbar, womit
man es in der Einrichtung zu tun hat - und es wird verständlich, warum man
es mit diesen Realitäten und nicht mit anderen zu tun hat.
Im Interview wird als Hilfsmittel die im ersten Schritt angefertigte einfa-
che Beschreibung der Dienstroutinen verwendet. Ihre Verwendung ermög-
licht es, das Gespräch immer wieder zu orientieren und zu strukturieren. Dies
ist besonders dann nötig und hilfreich, wenn - angesichts des Umfangs des
Wissens über die Organisationsroutinen - das Interview in mehreren Schrit-
ten durchgeführt werden muss. Dass das Interview sukzessive durchgeführt
wird, muss kein Nachteil sein. Soweit das jeweils vorangegangene Interview
bereits ausgewertet ist, können mehrere Gesprächstermine dann auch dazu
dienen, das bisher schon ermittelte Wissen kommunikativ mit den Mitarbeite-
rInnen zu validieren.

3. Schritt: Die Auswertung der Interviews und die Aufbereitung der


Ergebnisse

Die Auswertung der Interviews setzt auf der Ebene der Szenen an und hat
zum Ziel, die im Wissens vorrat der MitarbeiterInnen angelegten Typisierun-
gen zu rekonstruieren (vgl. SchützlLuckmann 1979). Zu diesem Zweck er-

14 Der Einsatz eines strukturierten Interviewverfahrens ist auch dadurch begIiindet, dass sich das
Erkenntnisinteresse auf einen klar defInierten Wirklichkeitsausschnitt richtet: auf die Routinen
der Einrichtung und das damit verbundene kulturelle Repertoire. In den Interviews werden die
MitarbeiterInnen als Repräsentanten der kulturellen Praxis der Einrichtung oder des Dienstes
befragt. In Bezug auf diese Praxis wird den MitarbeiterInnen ein Expertenstatus zugesprochen,
denn sie verfügen einerseits über einen privilegierten Zugang zum Hintergrundrepertoire, und
sie tragen andererseits die Verantwortung für die Ausführung der die Einrichtung konstituie-
renden institutionalisierten Handlungssequenzen (vgl. MeuserlNagei 1991). Das Interesse gilt
dem "Betriebs wissen" der Einrichtung, und das bedeutet, dass nicht die Gesamtperson der
MitarbeiterIn Gegenstand der Analyse ist und somit über den Expertenstatus hinausgehende
Erfahrungen privater Art ausgespart bleiben. Aus diesem Grunde kommen biografIsche Ver-
fahren hier nicht zum Einsatz. BiografIsche Verfahren können in einem praxistheoretischen
Ansatz aber z.B. eingesetzt werden, wenn es um die Erforschung von Selbstschemata geht. Es
muss an dieser Stelle aber auch darauf hingewiesen werden, dass sich zur Erforschung von
schematischen Wissensbeständen ebenso der Einsatz quantitativer Verfahren eignet (vgl. Hol-
landlQuinn 1987; Horowitz 1991).
Skripts in Organisationen 111

folgt eine inbaltsanalytische Auswertung anband der Skriptkategorien, bei


der die transkribierten Texte der einzelnen Interviews zunächst paraphrasiert
und dann Überschriften gebildet bzw. Generalisierungen vorgenommen wer-
den. Anschließend erfolgt ein thematischer Vergleich zwischen den Inter-
views, um die Gemeinsamkeiten, d.h. das Typische der Skriptkategorien ei-
nerseits und mögliche Besonderheiten einzelner Interviews andererseits, her-
auszuarbeiten (vgl. MeuserlNagel199l; Mayring 1997).
Beim thematischen Vergleich ist wieder auf die Beschreibung der Routi-
nen Bezug zu nehmen. Praxistheoretisch ist zu erwarten, dass ähnliche Rou-
tinen ähnliche schematische Wissensbestände aufweisen, während Differen-
zen bei den Routinen auch Unterschiede auf der Ebene des typischen Wis-
sens nach sich ziehen sollten. Ähnliche Wissensbestände bei unterschiedli-
chen Routinen sollten nur bei den Szenen auffindbar sein, bei denen eine
Überschneidung der Handlungssequenzen vorliegt. Ob diese Zusammenhän-
ge Geltung haben, ist am Material zu überprüfen.
Zudem ist zu überprüfen, ob die Skriptkategorien der Akteure, Handlun-
gen etc. die in den transkribierten Texten auftauchenden Wissensbestände er-
schöpfend erfassen oder ob Wissensbestände auftreten, die sich nicht in das
Skriptkonzept fügen. Im letzteren Fall muss versucht werden, diese Wissens-
bestände durch eine Kategorienbildung am Material bzw. durch eine indukti-
ve Kategorienbildung (vgl. Mayring 1997,2000; Schmidt 2000) zu erfassen.
Die Struktur des Skriptkonzepts ist in einem solchen Fall entsprechend zu
überprüfen und zu modifzieren.
Die mit Hilfe des inhaltsanalytischen Vorgehens ermittelten schemati-
schen Wissensbestände sollten so dargestellt werden, dass die kulturelle Lo-
gik - das ,,Drama" - der untersuchten Organisation deutlich wird. Ein Mittel
dies zu erreichen, kann darin bestehen, für jede Routine der Eimichtung oder
des Dienstes das zugehörige Drehbuch in Form von Plots, Regeln und Be-
gründungen, quasi als "Regieanweisung", zu formulieren (Bums/Flam
1987).15 Zu diesem Zweck wird zunächst der Plot des Metaskripts und der
Szenen beschrieben. Die schematischen Wissensbestände über Handlungen
werden dann z.B. als Vorschriften samt zugehöriger Begründung beschrie-
ben, die festlegen, welche Handlungen im Skript akzeptabel sind und welche
nicht. Diese Regeln definieren und begründen auch die Rechte und Ver-
pflichtungen der Akteure. Das Akteursschema wird in Form von Regeln und
Legitimationen formuliert, die definieren und rechtfertigen, welche Typen
von Akteuren in einem Handlungsfeld partizipieren dürfen. Das Schema für
die Handlungsgründe besteht aus Regeln, die spezifizieren, welche Werte,
Absichten oder Ziele die Akteure legitimerweise motivieren dürfen. Diese

15 Dieses Vorgehen fußt auf der Vermutung, dass schematisches Wissen wahrscheinlich in
nicht-repräsentationaler Form im Gehirn abgespeichert ist, aber die Formulierung dieses
Wissens in Form von Regeln ein funktionales Äquivalent für diese nicht-repräsentationale
Form ist (vgl. Searle 1995).
112 Thomas KlatetzJä

Regeln spezifizieren dann auch, welche Auswirkungen und Ergebnisse als


angemessen gelten. Das Wissensschema über den normativen Aspekt der
Aktivitäten enthält Vorschriften und Gründe, die spezifizieren, wie Handlun-
gen auszuführen sind. Das Mittelschema beschreibt Regeln, die die für das
Handeln akzeptablen Mittel, Methoden, Instrumente usw. definieren. Die
Orts- und Zeitschemata enthalten ,,Regieanweisungen" für legitime Räum-
lichkeiten und temporale Einteilungen. Und das Problemschema enthält An-
weisungen für den Umgang mit den im Handlungsalltag der Organisation
üblichen Schwierigkeiten.

4. Schritt: Die Validierung der Skripts durch die MitarbeiterInnen

Die so gewonnenen und aufbereiteten Ergebnisse über die Typizität von Sze-
nen, Akteuren, Handlungen, Räumen, Zeiten, Plots und Probleme werden
dann nach dem Vorbild der von Norbert Groeben et al. (1988) beschriebenen
Dialoghermeneutik mit den MitarbeiterInnen kommunikativ validiert, um die
Rekonstruktionsadäquanz der vorgenommenen Typisierungen und Regelfor-
mulierungen zu gewährleisten. Die Ergebnisse der Auswertung - die als Re-
geln formulierten Drehbücher - werden den MitarbeiterInnen der Organisati-
on daher zur Überprüfung vorgelegt. Zu diesem Zweck bekommen die Mitar-
beiterInnen die Drehbücher vorab zugesandt, damit sie sich in Ruhe und ohne
Zeitdruck mit den Ergebnissen der Untersuchung befassen können. Anschlie-
ßend erfolgt in einem Gespräch eine Auseinandersetzung mit den Ergebnis-
sen, und zwar in der Form, dass für jede Regel festgehalten wird, ob die Mit-
arbeiterIn der Regelformulierung zustimmt, sie korrigiert oder ablehnt.
Das Ausmaß an Zustimmung verweist dabei auf die Güte der geleisteten
Rekonstruktionsarbeit. Durch die Einarbeitung von korrigierten Regeln und
das Herausstreichen abgelehnter Regeln kann die Validität des Drehbuchs er-
höht werden. Allerdings sind die von den Mitarbeiterinnen vorgenommenen
Korrekturen und Ablehungen nicht umstandslos zu übernehmen, vielmehr
muss festgestellt werden, warum und an welcher Stelle im Forschungsprozess
es zu einer unvollständigen oder falschen Regelformulierung für das organi-
satorische Wissen gekommen ist. Eine solche Feststellung ist nötig, weil die
MitarbeiterInnen auf Grund des impliziten Charakters von Skripts nicht auf
Anhieb ihr Handlungswissen präzise beschreiben können - der Forschungs-
prozess ist ja aus genau diesem Grund ein Artikulationsprozess. Wenn daher
Regeln korrigiert oder abgelehnt werden, sind diese Veränderungen unter
Hinzuziehung des bereits vorhandenen Interviewmaterials begründet vorzu-
nehmen. Dabei sollten die Begründungen, eben weil der Forschungsprozess
ein Artikulationsprozess ist, sowohl für die MitarbeiterIn wie auch für die
UntersucherIn einsichtig und damit konsensfähig sein.
Skripts in Organisationen 113

5. Schritt: Die theoretische und praktische Verwertung der Ergebnisse

Der skizzierte praxistheoretische Forschungsansatz dient dazu, sowohl theoreti-


sche Erkenntnisse zu gewinnen, wie auch Veränderungen und Entwicklungen
in der Praxis zu ermöglichen. Die ermittelten Skripts und Metaskripts lassen
sich in der Praxis der Einrichtungen und Dienste für einen organisatorischen
Wandel nutzen. Zu diesem Zweck werden die Drehbücher in einem Qualitäts-
zirkel einer kritischen Bewertung unterzogen. Sollte dabei die Notwendigkeit
einer Veränderung des Routinehandelns festgestellt werden, so kann der skiz-
zierte schematheoretische Ansatz dazu benutzt werden, um neue Drehbücher zu
schreiben, die dann im Anschluss zu implementieren sind. Im Prinzip enthält
das beschriebene Skriptkonzept also auch ein Organisationsentwicklungskon-
zept für soziale Einrichtungen und Dienste (vgl. Klatetzki 2001).
Aus theoretischer Sicht zeigen die Skripts, auf welche Weise die unter-
suchte Organisation die Dienstleistungsfunktion der kulturellen Reproduktion
(vgl. Offe 1984) zu erfüllen versucht. Anschlussfähig sind die Ergebnisse da-
bei zum einen an professionstheoretische Überlegungen zur Sozialen Arbeit,
die davon ausgehen, dass Professionswissen durch den beruflichen Vollzug
von Tätigkeiten im Sinne von Routinisierungen und Habitualisierungen er-
worben wird (vgl. Dewe et al. 1992; Dewe/Otto 2001). Zum anderen lassen
sie sich etwa problemlos mit organisationstheoretischen Überlegungen, wie
denen des Neo-Institutionalismus (vgl. PowelllDiMaggio 1991; Scott 1995),
in Verbindung bringen, denn der beschriebene praxistheoretische Zugang
kann als eine handlungstheoretische Fundierung des Neo-Institutionalismus
aufgefasst werden (vgl. Barley/Tolbert 1997). Die geskripteten Routinen las-
sen sich aber natürlich auch für weitere theoretische und empirische Analy-
sen nutzen. So kann Z.B. eine Untersuchung der Routinen unter dem Ge-
sichtspunkt der hierarchischen Verschachtelung von schematischen Wissens-
strukturen dazu dienen, aus der Menge der gegebenen Routinen jene Verhal-
tenssequenzen herauszufiltern, die für den Bestand der Organisation grundle-
gender sind als andere (vgl. Sewell 1992; Swidler 2001). Ebenso kann eine
nähere Betrachtung der Überschneidungen und Berührungspunkte zwischen
gleichen und unterschiedlichen Routinen Aufschluss über die Art und Weise
geben, in der die Aktivitäten der Einrichtung miteinander verknüpft werden.
Damit werden dann Aussagen über die Form der losen Koppelung des Sy-
stems möglich (vgl. Weick 1976; OrtonlWeick 1990).

6. Eine Schlussbemerkung

Das beschriebene praxistheoretische Verfahren zur Untersuchung der Routinen


sozialer Einrichtungen und Dienste dient dem Zweck, das stillschweigende,
114 Thomas Klatetzki

implizite Wissen von Organisationen zu artikulieren. Wirft man zum Schluss


einen Blick auf die Funktion, die eine solche Artikulation haben kann, so fallen
fünf miteinander verbundene Aspekte ins Auge (vgl. Abbey 2000):
Die methodisch geleitete Artikulation des kulturellen Repertoires ermög-
licht erstens ein systematischeres und tieferes Verständnis der Vorstellungen,
Bewertungen und Mittel, die das alltägliche Handeln in der Sozialen Arbeit
strukturieren. Weil das Wissen der Handelnden über ihren Hintergrund impli-
zit ist, fördert die Artikulation des kulturellen Repertoires das Bewusstsein
für die Komplexität von Praxen. Vorhandene Vorstellungen, z.B. über die
Veränderung von Organisationen, können dann besser im Hinblick auf ihre
Angemessenheit beurteilt werden. Damit verbunden ermöglicht die Artikula-
tion zweitens das Erreichen eines traditionellen Ziels jeglicher Reflexion: ein
größeres Maß an Selbsterkenntnis für die MitarbeiterInnen der Einrichtungen
und Dienste. Die Explikation des kulturellen Repertoires führt dazu, dass
man besser weiss, was man tut. 16 Die dritte Funktion der Artikulation des kul-
turellen Hintergrundes besteht dann darin, die Chancen für eine rationalere
Diskussion der sozialpädagogischen und -arbeiterischen Praxis zu erhöhen.
Die vierte Funktion der Artikulation ist die der Kritik: Die Akteure selbst ha-
ben nicht notwendigerweise das beste Verständnis ihres schematischen Hin-
tergrundwissens. Sozial wissenschaftliche Forschung kann eine Interpretation
des Hintergrundwissens liefern, die eine informativere Darstellung des Wis-
sens ermöglicht. Durch eine sozialwissenschaftlich informierte Neuinterpre-
tation kann die untersuchte Praxis ein neues Selbstverständnis entwickeln, so
dass auf diese Weise "Theorie" praktisch wird - denn wenn sich die Selbst-
interpretation der Einrichtung ändert, dann ändern sich die Verhaltensrouti-
nen (vgl. Giddens 1984). Die fünfte Funktion der Artikulation ist daher die
Korrektur - oder aber die Affirmation - des kulturellen Repertoires und da-
mit der bestehenden Routinen.
Da die praxistheoretische Forschung Interpretationen von Interpretatio-
nen liefert, ist sie nicht auf definitive Wahrheiten aus. Sie erhebt nicht den
Anspruch zu sagen, "wie es wirklich ist". Ihr geht es um reflexive Klarheit.
Und auch dabei meint sie nicht, eine totale reflexive Klarheit erreichen zu
können. Vielmehr will sie ein Bewusstsein für die Bedingungen und Grenzen
unseres Wissens und der darauf beruhenden kulturellen Reproduktionsarbeit
schaffen. Diese Bescheidenheit leitet sich zum einen daraus ab, dass eine
vollständige Erfassung des kulturellen Hintergrundrepertoires einer Einrich-
tung unmöglich ist. Zum anderen beruht sie auf der Einsicht, dass jede Inter-
pretation - also auch die sozialwissenschaftliche - eine praktische Leistung
ist und damit auf Wissensbeständen basiert, die ihr selbst nicht unmittelbar
zugänglich sind. Alles, was die sozialwissenschaftliche Forschung daher tun
kann, ist, einige Aspekte des kulturellen Repertoires in den Vordergrund zu
rücken, in der Hoffnung, dass eine klarere Einschätzung darüber möglich

16 Vgl. auch aus einer anderen Perspektive Klatetzki 1993.


Skripts in Organisationen 115

wird, was beim alltäglichen Gang der Dinge in Anspruch genommen wird
und was folglich bei einer eventuell angestrebten Veränderung organisatori-
scher Routinen alles zur Debatte steht.

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Eric van SanteniMike Seckinger

Kooperation in der Kinder- und Jugendhilfe:


zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Eine qualitative Feldstudie

Bis heute ist die fachliche Entwicklung in der Sozialen Arbeit geprägt von
Prozessen, die sich mit den Begriffen Pluralisierung, Differenzierung, Diver-
sifikation und Spezialisierung von Hilfsangeboten beschreiben lassen. Diese
Entwicklung ist unter anderem zu verstehen als eine Reaktion auf die in mo-
dernen Gesellschaften entstandene Vielfalt von Lebensformen und damit
verbunden auch mit einer Vielfalt von Problemlagen. Andere Gründe sind in
der Professionalisierung der Sozialen Arbeit und den daraus entstehenden
Dynamiken, etwas Neues und Besseres zu entwickeln, zu sehen. Diese Pro-
zesse führen auch in der Sozialen Arbeit zu einer großen Unübersichtlichkeit
des Angebotes Sozialer Arbeit und oftmals großer Lebensweltferne einzelner
Spezialdienste (vgl. FilsingerlBergold 1993). Durch Kooperationen zwischen
den verschiedenen Angeboten soll die Anschlussfähigkeit der Hilfsangebote
an die sich immer stärker ausdifferenzierenden gesellschaftlichen Subsyste-
me hergestellt werden. V. Kardorff (1998) formuliert in diesem Zusammen-
hang für das gesamte psychosoziale Arbeitsfeld: "In dieser Entwicklung zeigt
sich nicht nur der erhebliche Bedarf an Abstimmung, sondern auch, dass sich
Kooperation, Koordination und Vernetzung zu einem eigenständigen Bereich
mit eigenen ,,Brücken-", ,,Drehscheiben-" oder "intermediären" Instanzen
mit den Aufgaben interinstitutioneller, interdisziplinärer, interprofessioneller
und intersektoraler Verknüpfungen ausdifferenziert sowie zur Entwicklung
eines bislang noch nicht systematisierten Praxiswissens von KoordinatorIn-
nen und VernetzerInnen entwickelt hat. Diese Entwicklung ist durch eine
Vielzahl von Erfahrungsberichten, Begleituntersuchungen und wissenschaft-
lichen Analysen breit und von einem Einzelnen kaum noch überblickbar, wo-
bei theoretische Überlegungen sowie Untersuchungen zur Wirksamkeit und
zur Qualität von Kooperation und Vernetzung bislang weitgehend fehlen
(Literaturübersichten: vgl. Bergold/Filsinger 1993a; DewelWohlfahrt 1991)"
(S. 205). Für den wirtschaftswissenschaftlichen Bereich werden ähnliche
Lücken formuliert: "Bis heute (werden) ( ... ) bezogen auf das Management
interorganisationaler Beziehungen mehr Fragen aufgeworfen als Antworten
gegeben (... )" (SydowlWindeler 1997, S. 1).
120 Eric van Santen/Mike Seckinger
Die Rufe nach Kooperation, die in regelmäßigen Abständen die Diskus-
sion in der Sozialen Arbeit beherrschen - man denke aktuell an die intensiv
diskutierten Modelle zur Zusammenarbeit von Polizei und Jugendarbeit zur
Kriminalitätsprävention oder an die Diskussion über eine Kombination am-
bulanter und stationärer Versorgungsangebote in der Altenhilfe - stoßen im
Allgemeinen nicht zuletzt aufgrund ihrer Effizienz- und Effektivitätsver-
sprechen auf breite Akzeptanz. Inwieweit diesen Diskussionen auf der Ebene
von Eimichtungen, Trägem und Initiativen jedoch veränderte Handlungs-
strategien folgen, bleibt dabei eher diffus. Man rekurriert auf einen Konsens
in der Sozialen Arbeit, der Kooperation als Querschnittsaufgabe begreift und
in Qualifikationen wie Kommunikationsfähigkeit, kooperativem Verhalten
und gegenseitiger Unterstützung unabdingbare Grundlagen für die eigene
Arbeit erkennt. Kooperation nimmt damit die Position eines implizit immer
mitgedachten, quasi ressourcenlosen Allzweckmittels ein, das keiner spezi-
ellen Voraussetzungen bedarf. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass
Kooperation keine Auswirkungen auf ein angestrebtes Ergebnis hat. Unklar
ist jedoch, ob und welche Bedingungen für gelingende Kooperationen erfüllt
sein müssen. Die Forderungen nach Kooperation unterliegen so der Gefahr,
inhaltsleer zu werden. Kooperation als Handlungskonzept droht dabei in
Beliebigkeit zu versinken und seine eigentliche Stärke zu verspielen.
Zu wenig hinterfragt und problematisiert erscheint uns die Handhabung
des Kooperationsgedankens in programmatischen Entwürfen. Kooperation ist
quasi per Definition positiv besetzt. Wer möchte schon von sich behaupten,
unkooperativ zu sein? Kooperation wird deshalb leichtfertig als ein für jeden
Zweck geeignetes Mittel angesehen. Die Vielzahl von Kooperationsempfeh-
lungen in der Kinder- und Jugendhilfe, die auf Bundesebene und Länderebe-
ne existiert, zeugt hiervon. Kooperation findet jedoch nicht im kontextfreien,
enthierarchisierten Raum statt, sondern soll oftmals dort praktiziert werden,
wo Abläufe sich verfestigt haben, Positionen besetzt und verteidigt werden
und professionelle Herangehensweisen unterschiedlicher Institutionen eben
nicht so einfach auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind.
Es besteht also ein erheblicher Bedarf, die Voraussetzungen für Ko-
operation, die "Wetterfestigkeit" dieses Verfahrens unter realen Bedingungen
des Alltags der Kinder- und Jugendhilfe unter die Lupe zu nehmen und sich
einer Antwort auf die Frage zu nähern, ob und unter welchen Bedingungen
Kooperation die an sie gestellten Erwartungen erfüllen kann. Kurz gefasst
geht es also um die Frage, wie sich Mythos und Praxis von Kooperation zu-
einander verhalten.
Kooperation in der Kinder- und Jugendhilfe 121

Methodische Anlage der Untersuchung

Die qualitative Erforschung von Kooperationsbeziehungen in der Kinder-


und Jugendhilfe durch das Projekt "Jugendhilfe und sozialer Wandel - Lei-
stungen und Strukturen", das am Deutschen Jugendinstitut e.V. (DJI) durch-
geführt und vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend gefördert wird, ist eingebettet in eine kontinuierlich angelegte Struktur-
analyse der Kinder- und Jugendhilfe. l Kooperationsbeziehungen wurden im
Rahmen dieses Projektes sowohl qualitativ wie quantitativ erforscht. 2 In
diesem Beitrag wird jedoch ausschließlich auf den qualitativen Teil der Ko-
operationsstudie Bezug genommen.
Eine Besonderheit des hierbei gewählten Forschungsdesigns liegt darin,
dass die Kooperationszusammenhänge selbst zentraler Untersuchungsgegen-
stand, quasi als intermediäre Instanzen zwischen den einzelnen sozialen Dien-
sten, sind. Es werden also nicht die Perspektiven der an der Kooperation Betei-
ligten erhoben, auch wenn die Rekonstruktion des Geschehens in den Koope-
rationszusammenhängen zum Großteil - neben Beobachtungen und schriftli-
chen Dokumenten - über qualitative Interviews von Einzelpersonen erfolgte,
sondern Kooperation an sich wird zum Forschungsgegenstand. Wie bedeutsam
die Beobachterperspektive für die Bewertung von Kooperation ist, lässt sich
am ,,Paradoxon der Kooperation" (Boettcher 1974, zit. nach Grunwald 1981, S.
75) zeigen: Kooperation eröffnet einerseits neue Handlungs- und Entschei-
dungsspielräume, während andererseits damit gleichzeitig auch Handlungs-
und Entscheidungsautonomie verloren geht. Dieser Autonomieverlust aufseiten
der einzelnen Akteure kann von diesen negativ bewertet werden, während
derselbe Sachverhalt aus der Perspektive eines Kooperationszusammenhangs in
der Regel positiv einzuschätzen ist. In der Untersuchung stand die Funktiona-
lität von Strukturen, Prozessen und Handlungsabläufen für den Kooperations-
zusammenhang selbst im Vordergrund und nicht die Funktionalität für die
einzelnen Beteiligten oder externe Akteure.

Beschreibung der Vorgehensweise

Da Kooperation ein sehr vielschichtiges und auf rekursive Beziehungen auf-


bauendes Phänomen ist und in seiner Komplexität nicht losgelöst von den
spezifischen Rahmenbedingungen betrachtet werden kann, muss der metho-
dische Zugang erstens die Perspektiven möglichst aller an der Kooperation
Beteiligten berücksichtigen und darf zweitens das konkrete Handlungsumfeld

Eine ausführliche Beschreibung des Gesamtprojektes findet sich in Seckinger u.a. 1998
oder auch im Internet (www.dji.de).
2 Die Ergebnisse der quantitativen Kooperationsstudien sind Seckinger u.a. 1998 sowie
Secldnger 1998, 1999 zu entnehmen.
122 Eric van SantenJMike Seckinger

sowie den regionalen Kontext nicht vernachlässigen. Die gewählte Form der
Regionalstudie ermöglicht es, beide Bedingungen zu erfüllen. Für die Unter-
suchung zur Kooperation wurde vor dem Hintergrund der Komplexität des
Forschungsgegenstandes eine Vielzahl qualitativer Verfahren zur Datengene-
rierung im Rahmen der in zwei Jugendamtsbezirken durchgeführten Regio-
nalstudien eingesetzt. Diese qualitativen Studien sind in die noch junge Tra-
dition von Ethnographien von Organisationen (vgl. Mouly/Sankaran 1995)
einzuordnen. Eines der Kennzeichen ethnographischer Studien ist es, "mög-
lichst viele und vielfältige aktuelle und sedimentierte Äußerungs- und Voll-
zugsformen einer zu rekonstruierenden (Teil-)Wirklichkeit" (Honer 1989, S.
299) zu erfassen, die Innenperspektive wenigstens näherungsweise zu verste-
hen und für Interpretationen zugänglich zu machen.
In einem ersten Schritt zur Bearbeitung der Forschungsfrage wurde eine
Heuristik entwickelt, die zentrale Perspektiven, Dimensionen und Fragestel-
lungen in Bezug auf das Thema Kooperation enthält und dazu diente, die
Forschungsfrage zu strukturieren und erste Anhaltspunkte für eine Operatio-
nalisierung der Forschungsfrage zu liefern. Der zweite Schritt bestand darin,
die Jugendamtsbezirke zu bestimmen, in denen die Regionalstudien durchge-
führt werden sollten. Zum einen wurden Gespräche mit JugendhilfeplanerIn-
nen oder der Jugendamtsleitung verschiedener Jugendämter geführt, da ange-
nommen wurde, dass diese Personen infolge ihrer Funktion einen guten
Überblick über die Jugendhilfeszene in dem betreffenden Jugendamtsbezirk
haben und noch am ehesten in der Lage sind, über die verschiedenen Formen
der vorhandenen Kooperationen Auskunft zu geben. Zum anderen wurden
Jugendhilfeausschusssitzungen besucht und daran anschließend Informa-
tionsgespräche geführt, in denen, wie auch bei den Gesprächen mit der Ju-
gendamtsleitung bzw. den JugendhilfeplanerInnen, eine eventuelle Bereit-
schaft zur Mitarbeit an einer Feldstudie sondiert wurde. Es wurden zwei Re-
gionen ausgewählt. In diesen Regionen bestand nach unserer Ansicht eine
hohe Bereitschaft, sich konstruktiv, offen und unterstützend auf eine Zusam-
menarbeit mit der Forschungsgruppe einzulassen. Dies ist eine wichtige
Grundlage, um einen ethnographischen Ansatz umsetzen zu können. Nur
wenn die Chance besteht, "insider" zu werden, also als teilnehmender Beob-
achter akzeptiert und involviert zu werden, gibt es die Möglichkeit, genügend
Material für eine sinnverstehende Analyse zu erhalten.
Der nächste Schritt bestand darin, sich im Feld mit dem spezifischen Ju-
gendhilfesetting vertraut zu machen und vorhandene Kooperationsbeziehun-
gen detaillierter, als dies in den ersten Gesprächen möglich war, zu inventari-
sieren. Zu diesem Zweck wurden Jugendhilfeausschusssitzungen und mehre-
re Treffen von anderen vorhandenen Kooperationsgremien besucht sowie
eine Reihe von tonbandprotokollierten Interviews mit Personen geführt, die
aus unserer Sicht für Kooperationsbeziehungen als zentral angesehen wurden
bzw. über einen guten Überblick über Kooperationsbeziehungen verfügten
(Jugendamtsleitung, Leitung Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD), Jugend-
Kooperation in der Kinder- und Jugendhilfe 123
hilfeplanerIn, VertreterIn vom Jugendring, VertreterInnen von Wohlfahrts-
verbänden). Besonders wichtig war es in dieser Phase des Forschungspro-
jekts, das Vertrauen der Akteure in den Regionen zu gewinnen. Die Qualität
und die Reichweite der erhebbaren Daten hängen wesentlichen davon ab, wie
gut dieses "getting in" gelingt (vgl. Schwartzman 1993, S. 48ff.; LaulWolff
1983).
Ziel unserer Beobachtungen in den ausgewählten Regionen war es, in die
regionalen Diskussionsprozesse so weit eingebunden zu werden, dass die
dabei entstehenden Kooperationen zwischen den unterschiedlichen Akteuren
von uns sowohl in den öffentlichen wie in den informellen Dimensionen
verstanden werden konnten. Bei einem solchen Forschungsansatz kann es
nicht ausbleiben, dass wir mit unserer ganzen Person gefordert wurden. Er-
staunlichweise gelang in relativ kurzer Zeit der Zugang zu Informationsebe-
nen, die zu erreichen wir bei der Anlage der Studie zwar als wünschenswert,
aber doch als unrealistisch eingestuft hatten.
Ein ethnographischer Forschungsansatz bedingt nicht nur zahlreiche Rei-
sen in die zu beobachtende Region, sondern erfordert auch den Aufbau von
Netzwerken, die einem die Tür zu den "inner circles" öffnen. Dies gelingt
nicht, ohne selbst - neben persönlichen sozialen Kompetenzen - seine eige-
nen fachlichen Ressourcen anderen zugänglich zu machen. In unserem Fall
hieß das, sowohl die Moderation einer Podiumsdiskussion, organisiert von
einem unserer "Brückemenschen" zu übernehmen, Literaturrecherchen für
JugendamtsmitarbeiterInnen anzustellen sowie bei der Beantwortung von
methodischen Fragen bei der Durchführung von regionalen Befragungen zur
Seite zu stehen als auch einfach nur ein offenes Ohr für Alltagsprobleme zu
haben. Greift man die alte Diskussion wieder auf, dass ein zentrales Kriteri-
um wissenschaftlichen Arbeitens in der Wahrung der Distanz zum Untersu-
chungsobjekt liegt, gilt es hier zu zeigen, dass für ein tatsächliches Verstehen
komplexer sozialer Kommunikationen ein Mindestmaß an Involviertheit
unumgänglich ist.
Risiken dieses methodologischen Zugangs sind hinreichend beschrieben
worden (vgl. Lüders 1995). Zwei Aspekte möchten wir hier jedoch besonders
betonen, weil sie in diesem Fall die für einen ethnographischen Zugang not-
wendige Balance zwischen Nähe und Distanz immer wieder erschwert haben:
Erstens: Als Forscher wird man häufig in der Rolle als Jugendhilfeexperte
gefordert, der wichtige Impulse und Anregungen für die Entwicklung der
Organisationen, in unserem Fall der regionalen Jugendhilfe, geben soll. Gäbe
man diesem Drängen nach, so würde man die Haltung, ein Lernender zu sein,
aufgeben und die Haltung des ,,Mehr-Wissenden" einnehmen. Damit wäre
für dieses konkrete Vorhaben die Ethnographie gescheitert. Zweitens: In den
Regionen wird versucht, die Person des Forschers für Einzelinteressen zu
instrumentalisieren. Im "Tausch" für exklusive Informationen, für Zugänge
in nicht-öffentliche Bereiche oder Ähnliches wurde manchmal ein Einsatz
der ForscherInnen für die Durchsetzung von Partikularinteressen einzelner
124 Eric van SanteniMike Seckinger

Kooperationspartner erwartet. Auch hierdurch scheitert der ethnographische


Zugang.
Unsere Strategie, die Balance zwischen Nähe und Distanz, zwischen In-
volviertheit und passiver Beobachterrolle zu finden und nicht in die Fallstricke
einer distanzlosen und reflexionsfreien Betrachtung der beobachteten Phäno-
mene zu geraten, bestand in der gegenseitigen kollegialen Kontrolle. Nur selten
reiste einer von uns allein in die Region und häufig wechselten die Kom-
binationen3, in denen wir unsere Gespräche mit mehrmals befragten Schlüs-
selpersonen führten. So konnten wir "exklusive Beziehungen" zwischen ein-
zelnen ForscherInnen und in die Studie einbezogenen Personen und die damit
verbundenen Gefahren einer Perspektiveneinengung vermeiden.
Letztendlich wurden aus der Vielzahl der inventarisierten Kooperationen
vier Kooperationszusammenhänge ausgewählt, die insgesamt eine hohe Streu-
ung über die für die Kinder- und Jugendhilfe als relevant erachteten Dimen-
sionen aufwiesen:

• ein Arbeitskreis zur Jugendhilfeplanung


• Kooperation in einem gesetzlich vorgeschriebenen Gremium am Beispiel
eines Jugendhilfeausschusses
• Kooperation als institutionelle Reaktion auf schwierige Lebenslagen von
Kindern und Jugendlichen
• eine interinstitutionelle Arbeitsgruppe im Kontext von stadtteilorientier-
ter Gemeinwesenarbeit.

Datenbasis

Um der Komplexität, die mit der Erforschung von Kooperationszusammen-


hängen als quasi intermediärer Instanz verknüpft ist, gerecht werden zu kön-
nen, haben wir verschiedene Datenquellen herangezogen.
Es wurden insgesamt 57 qualitative, leitfadengestützte Interviews bezogen
auf die einzelnen Kooperationszusammenhänge geführt, die bis auf wenige
Ausnahmen alle per Tonband aufgezeichnet wurden. Als ein zweiter methodi-
scher Zugang wurden Sitzungen von Kooperationsgremien beobachtet. Die Be-
obachterInnen protokollierten den Sitzungsverlauf im Hinblick auf kooperati-
onsrelevante Aspekte wie z.B. Wortmeldungen, zentrale Personen, Meinungs-
führerschaft, gegenseitige Bezugnahme, Koalitionsbildungen, Strukturierung
der Sitzungen und Atmosphäre. Anschließend wurden die Protokolle der Beob-
achterInnen miteinander verglichen und zu einem zwischen den BeobachterIn-
nen konsensfähigen Protokoll zusammengeführt.
Als dritter Zugang, um die vorgefundenen Kooperationsbeschreibungen
und das beobachtete Kooperationsverhalten besser verstehen zu können,

3 Außer den Autoren waren Andreas Marker! und Nicole Weigel an der Studie beteiligt.
Kooperation in der Kinder- und Jugendhilfe 125
wurde eine dokumentenanalytische Herangehensweise gewählt. Sitzungs-
protokolle, Jahresberichte, andere Formen der Selbstdarstellungen und - so-
weit vorhanden - Satzungen und andere Formen der schriftlichen Fixierung
der Kooperation wurden gesammelt, ausgewertet und mit den anderen Da-
tenquellen in Verbindung gebracht.
Ein vierter Feldzugang half uns Hintergründe zu verstehen. Bei jedem
Besuch in den Regionen wurden Informationsgespräche mit zentralen Perso-
nen der Jugendhilfeszene zu gegenwärtigen Entwicklungen der Jugendhilfe
geführt, die es zusätzlich ermöglichten, die erforschten Kooperationszusam-
menhänge in ihrem jeweils spezifischen Kontext der Außenbeziehungen und
der Umwelt zu sehen und zu verstehen. Diese als informell zu bezeichnenden
Gespräche wurden danach in Form von Feldnotizen in unseren Reiseberich-
ten dokumentiert. Insgesamt handelt es sich dabei um 25 Reiseberichte, die
jeweils einen Zeitraum von ein bis drei Tagen umfassen. Sich durch erste
Auswertungen der Daten ergebende Lücken wurden - sofern möglich - durch
gezielte Nachfragen und Recherchen bei den anschließenden Besuchen in der
Region geschlossen.

Übersicht über die Datengrundlage zu den einzelnen Kooperationszu-


sammenhängen
Kooperationszusammen- Interviews Beobachtungs- Reiseberichte Dokumente
hänge protokolle
Jugendhilfeplanung 12 Ja Ja Ja
Kinder- und Jugendhilfeaus- 15 Ja Ja Ja
schuss
schwierige Lebenslagen 20 Nein Ja Ja
Gemeinwesenarbeit 10 Ja Ja Nein

Um ein Verständnis über Kooperationsbeziehungen in der Jugendhilfe zu er-


langen, wurde also eine "methodenplurale integrative flexible Strategie"
(Lüders 1995, S. 321) angewandt.
Sowohl die Aufnahme der Interviews als auch die Beobachtungen und
Feldstudien zogen sich in beiden Regionen über einen Zeitraum von etwa
anderthalb Jahren hin. Aufgrund dieses langen Beobachtungszeitraumes war
es möglich, Veränderungen im Kooperationszusammenhang innerhalb dieses
Zeitraumes nachzuvollziehen, für die Auswertung fruchtbar zu machen und
somit als Längsschnittperspektive in die Ergebnisse einzubeziehen.4

4 Eine ausfiilrrliche Darstellung des methodischen Vorgehens findet sich in van Santenl
Seckinger 2002.
126 Eric van SanteniMike Seckinger

Auswertung

Die Auswertungsstrategie lässt sich als ein an die grounded theory (vgl.
Strauss/Corbin 1996) angelehntes Modell beschreiben. Nachdem die theoreti-
schen Vorannahmen der Beteiligten der Forschungsgruppe expliziert und
darauf aufbauend ein heuristisches Modell entwickelt wurde, fand eine Kon-
zentration auf das empirische Material statt: Innerhalb der ersten Feldphase
wurden nach der Methode des theoretical samplings sowohl die Regionen als
auch die einzelnen Kooperationszusammenhänge ausgewählt. Während des
zweiten Teils der Feldphase wurde dann, angeregt durch die theoretischen
Vorannahmen und geleitet von den Wegen und Impulsen der konkreten Ko-
operationen, eine Vielzahl von Daten erhoben, die es uns im Rahmen eines
ethnographischen Herangehens erlaubte, ein Verständnis der ausgewählten
Kooperationen zu entwickeln. Die in dieser Phase geführten Interviews, ge-
schriebenen Beobachtungsprotokolle und gesammelten Dokumente wurden
in einem ersten Schritt inhaltlich zusammengefasst und paraphrasiert. Kon-
kret wurde für jedes Interview zuerst kurz der Kontext des Interviews be-
schrieben. Hier wurde festgehalten, wer an dem Interview beteiligt war, wo
das Interview stattgefunden hat und das Verhalten der Interviewten während
des Interviews dokumentiert. Anschließend wurden die im Interview er-
wähnten Kooperationspartner mit Verweis auf die entsprechenden TextsteI-
len aufgezählt. In einem nächsten Schritt wurde das Interview mit Angaben
der jeweiligen TextsteIlen in der Chronologie des Interviews und über die ge-
samte Länge des Interviews zusammengefasst und paraphrasiert. Die Ge-
sprächssequenzen, die für das Forschungsthema relevante Aussagen enthal-
ten, wurden als Zitat im Auswertungstext wiedergegeben. Interpretationen
oder auch bei der Interpretation auftauchende Fragen dieser Sequenzen wur-
den durch Kursivschrift kenntlich gemacht. Dieses Vorgehen erlaubte es zum
einen, den Gesamtkontext der Aussagen zu erhalten und zum anderen, eine
klare Unterscheidung zwischen Tatsachendarstellungen der Interviewten und
Deutungen des Textes seitens der Forscher sichtbar zu machen. Bei der Inter-
pretation der TextsteIlen erhielten die Fragen nach der Bezugsebene der Aus-
sage eine besondere Relevanz. In manchen Interviews wurde nämlich sehr
deutlich sowohl zwischen eigener Praxis und Programmatik als auch zwi-
schen eigenen Einstellungen und Erwartungen hinsichtlich Kooperation und
denen der Organisation, für die man arbeitet, unterschieden. Die Aufmerk-
samkeit am Text wurde durch theorieunabhängige so genannte W-Fragen
(was, wer, wie, wo, warum, wozu, womit) geleitet, die helfen, den Text für
mögliche Interpretationen zu erschließen. Die Aufmerksamkeit auf und Inter-
pretation des Textes erfolgte derart, dass die in der Heuristik entwickelten
und explizierten theoretischen Vorannahmen nicht in den Vordergrund ge-
stellt wurde. Es handelt sich dabei aber um eine relative Unabhängigkeit von
der Heuristik, da diese sowohl fragengenerierend als auch den Blick für be-
Kooperation in der Kinder- und Jugendhilfe 127

stimmte Sachverhalte schärfend gewirkt hat. Auch eine noch so umfang-


reiche Datensammlung erfasst immer nur einen Ausschnitt der komplexen
sozialen Realität von Kooperationen und je nach Perspektive werden andere
Phänomene und Zusammenhänge sichtbar. In diesem Sinne können Ergeb-
nisse nicht unabhängig von den theoretischen Vorannahmen sein. Da die Be-
funde in adäquater Weise nur in Verbindung mit diesen Vorannahmen inter-
pretierbar sind, ist eine ausreichende Explizierung dieser theoretischen Vor-
annahmen durch die Projektmitarbeiterinnen unabdingbar.
Durch diesen ersten Auswertungsschritt wurden Aspekte von Koope-
ration ins Blickfeld der Analyse gerückt, die in der Heuristik nur eine unter-
geordnete oder gar keine Bedeutung hatten. Ein Beispiel hierfür ist die Frage
der sozialen Identität in Kleingruppen, ein anderes die Bedeutung der Ver-
netzung von Kooperationsgremien untereinander.
Die Auswertung der erhobenen und gesammelten Daten erfolgte in Ar-
beitsgruppen, das heißt, immer zwei der vier ProjektmitarbeiterInnen haben
Interviewzusammenfassungen und erste Interpretationen der Daten zu einem
Kooperationszusammenhang erstellt. Dabei erstellte einer der beiden Mitar-
beiterInnen - wie oben beschrieben - die Zusammenfassung und Paraphrasie-
rung der Interviews sowie Interpretationen zu relevanten Textstellen. Die
zweite Mitarbeiterln baute seine/ihre Interpretationen auf den Auswertungs-
textkorpus der ersten Mitarbeiterln auf, ergänzte oder korrigierte die Zusam-
menfassungen und Paraphrasierungen, da wo es notwendig war, und überprüfte
die bisherigen Interpretationen auf mögliche weitere und alternative Lesatten.
Gegebenenfalls wurden diese in den Textkorpus eingebaut ebenso wie ergän-
zende, differenzierende sowie neue Textinterpretationen zu Textstellen, die von
der anderen Mitarbeiterln nicht als ergiebig für das Thema der Untersuchung
wahrgenommen wurden. Diese Interpretationen wurden dann in der gesamten
Projektgruppe diskutiert, kritisiert und weiterentwickelt. Jeder war also ge-
meinsam mit jeweils einem anderen Teammitglied an der Auswertung von
zwei Kooperationszusammenhängen beteiligt. Die Effekte dieser Strategie be-
stehen vor allem darin, dass durch die Arbeit in verschieden zusammengesetz-
ten Kleingruppen eine Verfestigung von (Quasi-)Vorurteilen und -annahmen,
die die Auswertung negativ beeinflussen kann, zwar nicht völlig ausgeschlos-
sen, aber doch deutlich erschwert wird.
Der nächste Auswertungsschritt bestand darin, für die Interviews jene
Kategorien herauszuarbeiten, die in den Interviews einen zentralen Stellen-
wert besitzen (z.B. Inforrnationsverarbeitung, persönliche Beziehungen, Sta-
tus). Auch für die Beobachtungsprotokolle, Feldnotizen und die Textmateria-
lien des Feldes (z.B. Jahresbericht einer Einrichtung) wurden einzelne Kate-
gorien herausgearbeitet. Die Beobachtungsprotokolle sind dabei - bedingt
durch ihre Textart - sehr viel stärker als die anderen Datenquellen bereits an
den zum Erhebungszeitpunkt wichtig erscheinenden Kategorien orientiert.
Sie stellen somit bereits ein erstes Ergebnis der Beobachtung dar, weil nahe-
zu unvermeidlich im Wahrnehmungsakt Deutungen enthalten sind. Die Be-
128 Erie van SanteniMike Seekinger

obachtungen hatten nicht nur die Funktion Daten eigener Art zu generieren,
sondern lieferten vor allem Kontextwissen, das es zu einem erlaubte, das
Interviewmaterial über die Interviewsituation und den Interviewtext hinaus
besser zu kontextualisieren und zum anderen half, in den Interviews zielge-
nauere Fragen zu formulieren.
Die Kategorien, die aus dem Datenmaterial eines Kooperationszusam-
menhanges entwickelt wurden, wurden miteinander in Beziehung gesetzt und
hieraus wurden Arbeitshypothesen gebildet. Die einzelnen Kategorien bilde-
ten für die Auswertung das Bindeglied zwischen den verschiedenen Daten-
quellen. Die Belegstellen und Interpretationen aus den jeweiligen Datenquel-
len zu einem Kooperationszusammenhang zu den einzelnen Kategorien wur-
den auf ihre Stimmigkeit in Bezug auf die Arbeitshypothesen überprüft. Da-
tenmaterialübergreifende dissonante Interpretationen führten zum Verzicht
von einzelnen Arbeitshypothesen, sofern daraus kein multiperspektivischer
Erkenntnisgewinn zu ziehen war. Konkordante oder kompatible Interpreta-
tionen führten zu einer Aufrechterhaltung bzw. Konkretisierung einzelner Ar-
beitshypothesen.
Die Auswertung des Datenmaterials für die einzelnen Kooperationszu-
sammenhänge erfolgte zunächst ohne einen bewussten5 weiteren Abgleich
mit möglichen Interpretationsweisen, die bei der Analyse anderer Kooperati-
onszusammenhänge entstanden sind. Dies führte einerseits zu Redundanzen,
die zur Validierung am Datenmaterial genutzt werden konnten, und anderer-
seits auch zur weiteren Spezifizierung des Bedingungsgefüges von Koopera-
tion sozialer Dienste und somit einer insgesamt größeren Anzahl von Katego-
rien und Arbeitshypothesen.
Der letzte Auswertungsschritt - ein systematischer Vergleich der Ähn-
lichkeiten und Unterschiede der verschiedenen Kooperationszusammenhänge
- ergab schließlich Hinweise auf Zusammenhänge, die abhängig oder unab-
hängig von den untersuchten Kooperationskonstellationen und deren (regio-
nalen) Rahmenbedingungen existieren.
Der systematische Vergleich bezog sich einerseits auf die empirischen
Befunde der quantitativen Erhebungen und die einzelnen Fallstudien, die auf
Unterschiede und Ähnlichkeiten hin verglichen wurden, um so für Koopera-
tionen typische und von einzelnen regionalen Begebenheiten relativ unab-
hängige Faktoren herauszufinden, andererseits auf aus der Heuristik entwik-
kelten Annahmen sowie auf Ergebnissen anderer empirischer Kooperations-
studien. Die zwei letztgenannten Vergleichsebenen schränken die Gefahr ein,
bedingt durch das eigene empirische Material, wichtige Aspekte von Koope-
rationsbeziehungen in der Auswertung unberücksichtigt zu lassen.

5 Selbstverständlich kann eine unbewusste Lenkung der Aufmerksamkeit auf Kategorien, die
in anderen Kooperationszusammenhängen herausgearbeitet wurden, nicht vollständig aus-
geschlossen werden.
Kooperation in der Kinder- und Jugendhilfe 129

Ausgewählte Ergebnisse

Die Studie zielt aufbauend auf den vier ethnographisch orientierten Fallana-
lysen von Kooperationszusammenhängen sowie den Ergebnissen von Frage-
bogenerhebungen darauf ab, generalisierbare Aussagen über die Umsetzbar-
keit fachlicher und sozialer Erwartungen, die mit dem Mythos Kooperation
verbunden sind, zu treffen und so einen realistischen Blick auf die damit für
die Jugendhilfe verbundenen Chancen zu ermöglichen.
Mit den qualitativen Regionalstudien zur Kooperation wollten wir exem-
plarisch aufzeigen, unter welchen Bedingungen kooperiert wird, Anregungen
für Veränderungen geben und übertriebene Erwartungen an Kooperation, die,
bleiben sie unreflektiert, eine Überforderung der Praxis darstellen können,
auf realisierbare Anteile reduzieren. 6

Kooperationsmotivationen

Institutionen der Jugendhilfe und ihre VertreterInnen sehen sich immer mal
wieder vor die Frage gestellt, ob sie eine Kooperation mit anderen eingehen
sollen oder nicht. Anhand des Interviewmaterials haben wir rekonstruiert,
wie eine Entscheidung für oder gegen Kooperation zustandekommt. In vielen
Interviews wurde die Einschätzung vermittelt "Kooperation ist viel Arbeit".
Die Arbeitsintensität von Kooperation wird oft als Argument angeführt, war-
um man nicht kooperiert bzw. keine weiteren Kooperationsbeziehungen
aufbauen kann: Es fehle Zeit, und wenn mehr Zeit verfügbar wäre, dann
würde man auch mehr und intensiver kooperieren. Zum einen wird an dieser,
in den Interviews zum Ausdruck gebrachten Argumentation deutlich, dass
Kooperation nicht als eigentliche Aufgabe verstanden wird, und zum anderen
verweist sie auf eine Aufwand-Nutzen-Abwägung, in der der Zeitaufwand als
unangemessen hoch im Verhältnis zur Ergebniserwartung bewertet wird.
Denn sonst würde man Wege finden, die häufig als entwicklungsfähig be-
schriebene Kooperation auszubauen, auch wenn dies zulasten anderer Ar-
beitsbereiche ginge. In keinem der Interviews wird jedoch konkret erläutert,
was man sich von Kooperation verspricht oder welche fachlichen Standards
der Entscheidung zu kooperieren oder nicht zu kooperieren zugrunde liegen.
Solange Kooperation nicht als "professionelle Verpflichtung" (Mutschier
1998, S. 49) akzeptiert wird, sondern immer als etwas Zusätzliches gedacht
wird, erscheint es zweifelhaft, ob in die implizite Aufwand-Nutzen-Überle-
gung alle Faktoren einfließen. Diese Faktoren können sowohl kurzfristige
wie langfristige fachliche Bezüge zu der anstehenden Entscheidung als auch

6 Die hier dargestellten Ergebnisse stellen eine Auswahl dar; einen Überblick über weitere
Ergebnisse fmdet sich in van Santen/Seckinger 2002; Pluto u.a. 200 I; Seckinger 200 I.
130 Eric van Santen/Mike Seckinger

positive wie negative Implikationen für das gesamte Beziehungsgefüge der


Jugendhilfe haben. In der Regel, so auch die Aussagen auf einer von uns
veranstalteten Tagung, in der wir die Ergebnisse an die Interviewten zurück-
meldeten, findet die Aufwand-Nutzen-Abwägung innerhalb weniger Sekun-
den, also eher intuitiv statt. Ein generelles Problem für die Entscheidungsfin-
dun gen ist die fehlende Bewertbarkeit der Ergebnisse einer Kooperation, ja
selbst die Frage, ob sich durch eine Kooperation die Erfolgschancen verbes-
sern, lässt sich in der Praxis nicht immer im Voraus beantworten. In Erman-
gelung eben solcher handhabbarer, realitätsnaher und verfügbarer Nutzen-
kriterien, die einer Entscheidung für oder gegen eine Kooperation zugrunde
gelegt werden können, bekommt dann die Frage der Anzahl an gemeinsamen
Klientlnnen eine herausragende Bedeutung für die Aufwand-Nutzen-Abwä-
gung. Das heißt, für die Aufnahme einer Kooperationsbeziehung ist oftmals
die Intensität der Beziehung, die mit der Anzahl der fachlichen Berührungs-
punkte anlässlich der Betreuung von AdressatInnen wächst, entscheidend.
Ein weiteres, relativ einfaches Kriterium, das in die Aufwand-Nutzen-
Abwägung Eingang findet, ist die räumliche Erreichbarkeit von potenziellen
Kooperationspartnern. Die Entscheidung darüber, ob ein Kooperationsort zu
weit entfernt ist, hängt auch von der Bedeutung ab, die der Kooperation bei-
gemessen wird. So verneint z.B. ein Mitarbeiter aus dem Gesundheitswesen
die Frage, ob er sich zu potenziellen Kooperationspartnern bewege, mit dem
Argument, seine Arbeitskraft sei zu teuer, um Arbeitszeit im Auto zu verbrin-
gen. Wenn dann sollten die anderen zu ihm kommen, wohingegen eine ande-
re Person eine weite Entfernung in Kauf nimmt, da ihr ihre Teilnahme an
einer bestimmten Arbeitsgemeinschaft sehr wichtig ist.
Wenngleich in den Interviews keine fachlichen Kriterien als Parameter in
den Aufwand-Nutzen-Überlegungen differenzierbar sind, so lassen sich an-
hand der dargelegten Motive zur Kooperation drei Ebenen, auf denen positi-
ve Effekte erwartet werden, unterscheiden: Qualitätsverbesserungen für die
Adressatinnen, Verbesserung des Verfahrens der Leistungserbringung sowie
strategischer Nutzen für die KooperationsteilnehmerInnen. Diese drei Ebenen
sind in Kooperationsbeziehungen nicht immer gleichmäßig gut realisierbar.
Kooperationen dienen deshalb manchmal auch nur einem dieser Ziele.
Neben den offensichtlich eher emotionalen und nicht explizierbaren
Kriterien der Entscheidung für oder gegen Kooperation - dazu gehört auch
die Bedingung, dass Kooperation Spaß machen muss (vgl. Straus 1997, zit.
nach Dillig1999) - gibt die folgende Aufstellung einen Überblick von in den
Interviews geäußerten Motiven, die, ohne dass sie in einem rationalen Abwä-
gungsprozess in eine Aufwand-Nutzen-Überlegung einfließen, die getroffene
Entscheidung legitimieren helfen:
Kooperation um
Kooperation in der Kinder- und Jugendhilfe 131

• andere Organisationen und Personen kennen zu lernen und sich selbst


sowie die eigene Organisation bekannt zu machen
eigene Perspektiven einzubringen
an neue Informationen zu gelangen
• sich selbst durch die Kompetenzen der Partner zu qualifizieren
eine angemessene Angebotsstruktur zu entwickeln
• festgelegte Zuständigkeiten einzuhalten
die eigenen "Marktchancen" im Wettbewerb mit anderen Trägern zu er-
halten
• Aufgabenüberschneidungen zu vermeiden
• neue Ressourcen zu erschließen
• unklare Rollenverteilung zu klären
• die eigenen Kontrollbedürfnisse zu befriedigen
neue Möglichkeiten für Jugendliche zu eröffnen
Netzwerke für Jugendliche zu schaffen
• die eigene Position in der internen Auseinandersetzung mit dem eigenen
Träger abzusichern
Verfahrenstransparenz herzustellen
Fachwissen zu erhöhen

Qualifikation der Praxis durch Kooperation

Eine zentrale Frage, die sich bei der Untersuchung von interinstitutionellen
Kooperationsbeziehungen stellt, ist die nach der fachlichen Weiterentwick-
lung und der Verbesserung der Qualität der Leistungen durch Kooperation.
Dies könnte beispielsweise durch eine gemeinsame Konzeptarbeit, durch eine
optimierte Abstimmung der einzelnen .Angebote innerhalb der Hilfeketten
oder durch die Entwicklung von neuen Angeboten für Bedarfslagen, die bis-
her aufgrund der spezifischen Sichtweisen der einzelnen Institutionen unbe-
arbeitet blieben, geschehen. Angeregt durch die Thematik der Befragung
haben viele Interviewte ihre Alltagspraxis von dem Gedanken der Kooperati-
on geleitet dargestellt. Einige der Handlungsabläufe wurden mit dem Etikett
Kooperation versehen, obwohl es sich beispielsweise um einseitige, gesetz-
lich vorgeschriebene Verpflichtungen zur Informationsweitergabe handelt. In
der Regel werden vor allem Kontakte zu anderen Organisationen und Perso-
nen thematisiert, die sich unmittelbar aus der Fallbearbeitung ergeben. Meta-
kommunikation über die Arbeitsabläufe mit dem Ziel einer Evaluation und
Verbesserung der Zusammenarbeit findet in der Regel nicht statt. Auch bei
den in den untersuchten Regionen vorhandenen Arbeitskreisen mit Bezug zur
Einzelfallbearbeitung ist keine erfolgreiche, systematische fachliche Weiter-
qualifikation der Praxis erkennbar. Hier scheitert der Anspruch an mangel-
haften Rückkopplungsprozessen in die Herkunftsorganisationen: Auch wenn
sich einzelne TeilnehmerInnen solcher Arbeitskreise fachlich qualifizieren,
132 Eric van SanteniMike Seckinger

profitiert die eigene Organisation nicht oder zumindest nur bedingt, da es


keine eingespielten Formen der Informationsweitergabe gibt (vgl. auch Aus-
sagen zu Rückkopplungsprozessen weiter unten).
Entgegen des entsprechenden Mythos ist Kooperation an sich noch kein
Garant für eine "gute bzw. bessere Praxis". Mit unseren Daten lässt sich zei-
gen, dass Kooperation auch zur Verhinderung von Qualität führt, indem bei-
spielsweise für Kinder, Jugendliche und ihre Familien dysfunktionale Hand-
lungsstrategien stabilisiert werden. Bestehende Netzwerke können zu Koope-
rationskonstellationen führen, die für eine Bearbeitung bestimmter Probleme
als inadäquat erscheinen. So wird z.B. in einem Interview mit einer Person
aus dem medizinischen Bereich davon berichtet, dass MitarbeiterInnen eines
Kindergartens, mit dem eine gewisse Zusammenarbeit besteht, Rat bei der
Frage, wie sie mit einem Verdacht auf Kindesrnisshandlung umgehen sollen,
suchen. Diese Vorgehensweise ist in dem konkreten Fall insofern inadäquat,
als die angesprochene Institution, von ihrer eigenen Definition her dafür nicht
zuständig ist. Sie wird aber trotzdem angesprochen, weil zwischen ihr und
dem Kindergarten Kooperationsbeziehungen anderen Inhalts bestehen, in die
neue Inhalte hineingetragen werden. Die Gründe dafür liegen wahrscheinlich
sowohl in der gering ausgeprägten Reflexion von Kooperationserfahrungen
sowie in der kooperationsbedingten Herausbildung eines Subsystems "von
voneinander sekundärabhängigen Institutionen" (Bergold/ Filsinger 1993b, S.
67). Die Herausbildung solcher Subsysteme führt dazu, dass vor allem mit
solchen Institutionen zusammengearbeitet wird, "die man kennt, bei denen
man sich sicher fühlt, und dass man versucht, die Probleme innerhalb dieser
,Institutionenfamilie' zu lösen" (BergoldlFilsinger 1993b, S. 67). Ein solcher
Zusammenschluss von Institutionen oder quasi automatischen Verkettungen
von Problemlösungswegen kann aber die Gefahr in sich bergen, das Spek-
trum möglicher Problemlösungen so einzuschränken, dass sie zu dysfunktio-
nalen Lösungen führen.
Die Annahme, Kooperation ist gleichbedeutend mit Qualitätssteigerung,
erweist sich auch deshalb als unberechtigt, weil Kooperationserfahrungen
nicht reflektiert werden. Es gibt keine Kultur der selbstkritischen Ausein-
andersetzung mit, geschweige denn der (Selbst)evaluation von Kooperations-
effekten. Es werden zwar gemäß eines impliziten Aufwand-Nutzen-Kalküls
Überlegungen angestellt, ob man sich auf Kooperationen einlässt (vgl. weiter
oben), aber eine Überprüfung, ob diese Erwartungen erfüllt wurden, findet
nicht statt. Eine Möglichkeit der Qualitätsentwicklung durch Kooperation
könnte in Kooperationsgremien liegen, die der fachlichen Weiterentwicklung
dienen. Doch solche Kooperationen werden in Interviews, die explizit die
Vernetzung bei der Bearbeitung von individuellen Problemlagen zum Thema
haben, nur selten genannt. Wenn solche Kooperationen in den Interviews
erwähnt wurden, wurde jedes Mal von der geringen Attraktivität dieser Ko-
operationen berichtet. So stießen zum Beispiel die Einladungen einer Ein-
richtung an potenzielle Kooperationspartner zu einer kooperativen Weiter-
Kooperation in der Kinder- und Jugendhilfe 133

entwicklung des sozialpädagogischen Konzeptes der Einrichtung auf wenig


Resonanz.
Bei der Bearbeitung von Einzelfällen wird nur wenig über die Art und
Weise der Kooperation nachgedacht. Kooperation im Sinne eines Prozesses
der Reflexion von Handlungsabläufen mit dem Ziel, diese für den Einzelfall
zu optimieren, findet nur punktuell und unsystematisch statt. Reflexionen der
gemeinsamen Kooperationserfahrungen stellen für MitarbeiterInnen in der
Jugendhilfe, und wahrscheinlich nicht nur dort, eine ungeliebte Aufgabe dar.
Hier wirkt sich offensichtlich die Einstellung, dass Kooperation etwas Zu-
sätzliches, etwas nicht zur eigentlichen Arbeit Gehörendes sei, hinderlich auf
einen den fachlichen Ansprüchen angemessenen Umgang mit Kooperation
aus. Es stellt sich folglich die Frage, warum gerade in dem Arbeitsfeld, in
dem die berufliche Sozialisation auf die Reflexion von Beziehungen und auf
das Erkennen von Kommunikationsschwierigkeiten ausgerichtet ist, diese
Kompetenz nicht bei den eigenen Kooperationserfahrungen angewandt wird?
In einem der Interviews wird dies mit der Vermutung beantwortet: Es gäbe
eine weit verbreitete Angst, sich dem fachlichen Austausch zu stellen. Man
würde nur sehr ungern seine Arbeitsweise detailliert darstellen und sie damit
der Kritik anderer zugänglich machen. Faktoren wie Terminschwierigkeiten
oder Ähnliches seien vorgeschoben. Der Befund könnte auch auf ein Ausbil-
dungsdefizit hinweisen. Soweit die Inhalte sozialpädagogischer Ausbildun-
gen von uns überblickt werden, gehört der Umgang mit Kooperationen nicht
zum Lehrplan.
Wird dann doch einmal gemeinsam, d.h. zwischen verschiedenen Trä-
gern und Institutionen über Kooperationserfahrungen nachgedacht, so ge-
schieht dies auf der Leitungsebene, die selbst kaum über direkte Koopera-
tionserfahrungen bei der Bearbeitung von Einzelfällen verfügt. Die Verein-
barungen aus diesen Gesprächen müssen dann in der alltäglichen Arbeit von
Untergebenen umgesetzt werden. Auf diese Art und Weise dient eine Meta-
kommunikation über Kooperation wohl nur sehr selten einer Effizienz-
steigerung und Effektivierung von Kooperation. Gerade aber bei der Suche
nach optimalen Hilfe- und Unterstützungsformen für Kinder und Jugendliche
in schwierigen Lebenssituationen wäre eine systematische Reflexion der
Kooperationserfahrungen eigentlich notwendig.

Interinstitutionelle Kooperation in Gremien

Interinstitutionelle Kooperation, wie z.B. im Jugendhilfeausschuss oder im


Rahmen der Jugendhilfeplanung, erfordert ein spezifisches Selbstverständnis
der handelnden Personen. Sie müssen sich in erster Linie als Teil der durch
sie vertretenen Organisation verstehen. Im Zweifel müssten sie also, damit es
sich tatsächlich um eine interinstitutionelle Kooperation handelt, ihre persön-
liche Sicht der Dinge zugunsten der Perspektive der durch sie vertretenen
134 Eric van SanteniMike Seckinger

Organisation hintanstellen. Gleichzeitig tragen sie auch Verantwortung dafür,


dass die Inhalte und Ergebnisse der Kooperation an den relevanten Stellen
der eigenen Organisation zur Kenntnis genommen werden.
In den empirischen Rekonstruktionen lässt sich wiederholt zeigen, dass
die Gegenstände und Resultate institutioneller Kooperationsbeziehungen von
den KooperationspartnerInnen oftmals nicht in ihre jeweiligen Einrichtungen
und Organisationen weitertransportiert werden.
Institutionelle Kooperation und das "Alltagsgeschäft" von Institutionen
stehen folglich häufig relativ unvermittelt nebeneinander und sind mitunter
exklusiv durch einzelne Personen miteinander verbunden. Dieser Sachverhalt
impliziert unter anderem, dass Informationen und Inhalte institutioneller Ko-
operationsbeziehungen in vielen Fällen als personenzentriertes Wissen anzu-
sehen sind, das in der Regel nicht auf einer breiteren, personenübergreifenden
Basis verortet ist. Neben dem Aspekt, dass vor diesem Hintergrund die Er-
fahrungskontexte und Wissens bestände der anderen Organisationsmitglieder
nicht in umfassender und systematischer Form dem Bereich institutioneller
Kooperationsbeziehungen zugänglich gemacht werden können, sind die be-
teiligten Organisationen des Weiteren gefährdet, dass, in Fällen personaler
Fluktuation, die Informationen über institutionelle Kooperation mehr oder
minder verloren gehen. Diese Konstellation wird sowohl auf der Ebene der
beteiligten Organisationen als auch von den in Kooperationsgremien vertre-
tenen Personen in negativer Weise verstärkt: So wird zum einen die Koope-
rationsarbeit einzelner MitarbeiterInnen häufig nicht oder nur unzureichend
von den betreffenden Organisationen unterstützt. Zum anderen nehmen die in
Kooperationsgremien mitwirkenden Personen ihr entsprechendes Engage-
ment oftmals als ,,Privatangelegenheit" wahr.
Auch in der praktischen Arbeit im Gremium finden sich keine Anzeichen
dafür, dass die beteiligten Personen als beauftragte VertreterInnen ihrer Or-
ganisation handeln; konkrete Anliegen aus Herkunftsorganisationen werden -
nach unseren Erkenntnissen - nicht an die Gremien weitergeleitet. Dieser
Eindruck wird auch durch unsere Beobachtungen der Gremiensitzungen be-
stätigt, in deren Rahmen Interessen der "Herkunftsorganisationen" nie direkt
in die Sitzungen eingebracht worden sind.
Beide Sachverhalte - mangelnde Rückkopplung von Inhalten und Ergeb-
nissen an die Herkunftsorganisationen sowie die gremienintern in der Regel
nicht vorhandene Wahrnehmung als OrganisationsvertreterIn - scheinen sich
in der institutionellen Praxis gegenseitig negativ zu beeinflussen. Inhaltliche
Weiterentwicklungen sind so nur durch die individuelle Kompetenz und das
Engagement der einzelnen Mitglieder möglich.
Eine interinstitutionelle Kooperation kann nur dann richtig funktionieren,
wenn die Institutionen Wert darauf legen, überhaupt in einem interinstitutionel-
len Kooperationszusammenhang vertreten zu sein und sie dieses auch sicher-
stellen, indem sie sich mit den Inhalten der Kooperation auseinander setzen und
diese zu einem Bestandteil ihrer institutionellen Politik machen. Persönliches
Kooperation in der Kinder- und Jugendhilfe 135
Engagement von VertreterInnen trägt alleine nicht dazu bei, eine interinstitu-
tionelle Kooperation in der Kinder- und Jugendhilfe aufrechtzuerhalten. So
kann Z.B. ein Wechsel des Arbeitsplatzes einer VertreterIn einer Institution in
einem interinstitutionellen Gremium die Verbindung zu diesem Gremium zum
Erliegen bringen. Gute Vorsätze, über die in den Interviews oft berichtet wer-
den, reichen nicht aus, solange diese nicht tatsächlich im Kanon der institutio-
nellen Zielsetzungen integriert sind und dementsprechende Ressourcen zur
Verfügung gestellt sowie Investitionen getätigt werden. Die Untersuchung von
Weingardtl Böhm (1996) verweist in diesem Zusammenhang z.B. auch auf
ähnlich gelagerte Erfahrungen im Hinblick auf das Fehlen einer institutionellen
Verankerung in den Schulen. Während die Beteiligten überwiegend positiv
reagierten, waren aber gleichzeitig "bei Schulleitern und Schuldekanen - so-
bald es über den Kreis der unmittelbar Beteiligten hinausging - teilweise auch
eklatante Informationsdefizite feststellbar, die die Arbeit nicht immer erleich-
terten" (WeingardtlBöhm 1996, S. 550).
Diese Beispiele sind ein Indiz für die starke Verbreitung der program-
matischen Idee, die mit Kooperation verbunden ist. Das Bekenntnis zur Ko-
operation gehört zu den Selbstverständlichkeiten der Jugendhilfe - allerdings
bislang ohne Konsequenzen für die Umsetzung auf der Handlungsebene.
Auch wenn von Seiten der Institutionen einer Mitwirkung einer oder mehre-
rer MitarbeiterInnen nichts in den Weg gestellt wird und damit Ressourcen
freigegeben werden, ist dies nicht automatisch mit einer institutionellen Un-
terstützung gleichzusetzen, solange eine Mitarbeit in einem Kooperationszu-
sammenhang in die persönliche Verantwortung der Beteiligten gelegt und
nicht als institutionelle Aufgabe oder Strategie definiert wird. Von institutio-
neller Seite wird in diesem Zusammenhang auf die Begründungsfigur zu-
rückgegriffen, die besagt, dass es letztendlich die MitarbeiterInnen sind, die
die konkrete Vernetzungs- bzw. Kooperationstätigkeit leisten müssen. Hier-
bei wird allerdings die Perspektive, dass die einzelnen Personen, die in einer
interinstitutionellen Kooperation zusammenarbeiten, VertreterInnen ihrer je-
weiligen Herkunftsinstitution sind und damit die gesamte Institution mit
ihrem spezifischen Beitrag zur Zielsetzung der Gruppe repräsentieren, nicht
mitgedacht. Insgesamt gibt es eine Reihe von Aussagen, die darauf hinweist,
dass das Bewusstsein und die Bedeutung, eine Institution zu vertreten, nicht
zu den als wichtig zu erachtenden Gesichtspunkten gezählt werden.
Die Umsetzung bzw. die Unterstützung einer institutionellen Koopera-
tionsstrategie durch die VertreterIn einer Institution erfordert in einem Ko-
operationszusammenhang Kenntnisse der internen Abläufe der eigenen Or-
ganisation sowie geklärte Zuständigkeiten. Falls intraorganisatorische Ver-
fahrensabläufe und Kommunikationskanäle ungeklärt oder inadäquat sind,
kann weder eine vorhandene institutionelle Kooperationsstrategie funktionie-
ren noch eine solche neu entwickelt werden.
136 Eric van Santen/Mike Seckinger

Rückkopplungsprozesse

Es wurde bereits mehrfach angesprochen, dass interinstitutionelle Koopera-


tion über VertreterInnen von Institutionen erfolgt, die eine Brückenfunktion
zwischen einem interinstitutionellen Kooperationszusammenhang und der
Herkunftsorganisation innehaben. In dieser Position müssen diese Personen
in zweifacher Hinsicht tätig werden: Sie müssen erstens Informationen, Wis-
sen und Interessen der Herkunftsorganisation innerhalb eines Kooperations-
zusammenhanges weitertransportieren, repräsentieren und vertreten. Zwei-
tens müssen sie Ergebnisse, Informationen, Erfahrungen und Interessen aus
dem Kooperationszusammenhang in die Herkunftsorganisation hineintragen
und vertreten. Diese multiple Adhärenz, die die Schnittstelleninhaberlnnen
sowohl dem Kooperationszusammenhang als auch der Herkunftsorganisation
gegenüber verpflichtet, beinhaltet eine Vielzahl von Anforderungen, die
leicht zu Überforderungen führen kann. Die adäquate Erfüllung dieser Ver-
mittlungsfunktion stellt eine notwendige Bedingung für die Etablierung kon-
tinuierlicher, fachlicher, gewinnbringender, interinstitutioneller Kooperatio-
nen dar. Die Fallbeispiele haben jedoch gezeigt, dass interinstitutionelle Ko-
operationsbeziehungen zum Teil individualisiert werden. Das heißt, sie stel-
len letztendlich Kooperationszusammenhänge zwischen Personen und nicht
zwischen Institutionen dar. Oftmals kommt es weder in der einen noch in der
anderen Richtung zu einem Rückkopplungsprozess. Das Fehlen dieser Rück-
kopplungsprozesse verringert die Chancen, durch Kooperation eine fachliche
Weiterentwicklung auf breiterer Basis zu erreichen. Es senkt die Verbind-
lichkeit einer Kooperation und bedroht die Kontinuität der Kooperations-
beziehungen, weil sie nicht institutionell verankert sind.
Auf die Frage nach der Gestaltung der Rückkopplungsprozesse kann es
keine allgemein gültige Antwort geben. Wie ausgeprägt, in welcher Tiefe und
Breite Wissen und Informationen weitergeleitet werden sollen, ist nicht zu-
letzt im Zusammenhang mit dem Gegenstand der Kooperation und der Orga-
nisation der Institutionen zu sehen. Technokratische Lösungen, wie das Ver-
fassen von Protokollen oder eine mündliche Berichterstattung, können Rück-
kopplungsprozesse nicht garantieren. Entscheidend ist vielmehr, ob es ge-
lingt, eine interinstitutionelle Zusammenarbeit als integralen Bestandteil des
institutionellen Handeins - entsprechend der Forderung nach Kooperation als
integralen Bestandteil individuellen beruflichen Handeins - zu etablieren.
Wissens- und Informationsweitergabe stellen in dieser Hinsicht nur eine
Voraussetzung für interinstitutionelle Kooperation dar. Entscheidend ist eine
institutionelle, aus einer entsprechenden Kooperationsstrategie abgeleitete
Unterstützung der Personen an den Schnittstellen. Nur wenn diese gegeben
ist, ist es für diese Personen überhaupt möglich, dezidiert als Institutionenver-
treterInnen zu agieren. So kann dann auch die Arbeit in einem Kooperations-
zusammenhang an Gewicht und Bedeutung gewinnen.
Kooperation in der Kinder- und Jugendhilfe 137
Die Tatsache, dass in der Kinder- und Jugendhilfe manche Vertreterln
etwas repräsentiert, das keine institutionelle Form besitzt, oder das es, zuge-
spitzt betrachtet, eigentlich gar nicht gibt, stellt ein spezifisches Problem in
Bezug auf die Gestaltung von Rückkopplungsprozessen dar. Es ist anzuneh-
men, dass diese Konstellation nicht nur in der Kinder- und Jugendhilfe vorzu-
finden ist, sondern auch in anderen Bereichen zum Tragen kommt. In der
Kinder- und Jugendhilfe sollen die VertreterInnen freier Träger im Kinder-
und Jugendhilfeausschuss die freien Träger repräsentieren. Die freien Träger
als Gesamtinstitution gibt es aber nicht. Wohin soll nun rückgekoppelt wer-
den und wo wird das zu verfolgende Ziel und die entsprechende Strategie
hierzu festgelegt?? Wie funktionieren die Kontrollmechanismen, ob im Sinne
aller repräsentierten freien Träger gehandelt wird? Offensichtlich fehlt hier
eine institutionelle Absicherung entsprechender Interessen. Bisher gibt es nur
wenige Signale, die auf eine solche strukturelle Absicherung hindeuten -
vielleicht auch deshalb, weil diese schwierig herzustellen ist. Es ist anzuneh-
men, dass mit zunehmender Miuelknappheit und erhöhtem Konkurrenzdruck
der Ruf nach solchen Möglichkeiten lauter werden wird.

Kooperation als Prozess

Kooperationsbeziehungen - so hat die Untersuchung der Kooperationszu-


sammenhänge gezeigt - verlaufen in unterschiedlich produktiven Phasen und
haben prozessualen Charakter. Dieser Aspekt, der bisher in der Literatur zur
Kooperation viel zu wenig Beachtung gefunden hat, wirkt sich jedoch erheb-
lich auf die Bewertung und die Erwartungen, die an eine Kooperationsbezie-
hung herangetragen werden, aus (vgl. Bower 1965). Während sich einige
Studien zur Kooperation darauf konzentrieren, förderliche und hinderliche
Faktoren für funktionierende Kooperationsbeziehungen aufzulisten (z.B.
Hallet 1995; Balling 1998; Schiersmann u.a. 1998), wird meist nur am Rande
darauf verwiesen, dass Kooperationsbeziehungen sehr eng mit dem Faktor
Zeit verknüpft sind. 8 Die Beobachtungen über einen Zeitraum von anderthalb
Jahren konnten zeigen, dass Kooperationen nicht nur sehr viel Zeit für ihre
Entwicklung benötigen und unterschiedliche Anforderungen in spezifischen
Phasen an eine Kooperation bestehen, sondern auch von vornherein Rück-

7 Die Position von VertreterInnen des DPWV in Kooperationsgremien stellt sich in diesem
Zusammenhang als besonders schwierig dar. Die Struktur und Identität der Organisation
DPWV verhindern eigentlich, dass der DPWV stellvertretend für seine Mitgliedsorganisa-
tionen in Kooperationsgremien agieren kann, weil er keinen Einfluss auf Mitgliedsorgani-
sationen nehmen kann. Das heißt die Struktur der Organisation DPWV macht Zielkongru-
enz unmöglich bzw. nicht mehr steuerbar (vgl. Merchel 1989, S. 229).
8 Eine Ausnahme bilden zum Beispiel BergoldlFilsinger (l993b), die ausdrucklich auf die
Prozesshaftigkeit von Kooperation hinweisen, wenn sie die Relevanz der Herausbildung ei-
nes ideellen Milieus oder die Entwicklung von wechselseitigem Vertrauen für Kooperatio-
nen betonen.
138 Eric van Santen/Mike Seckinger

schläge bei der Verwirklichung von Erwartungen, Veränderungen in den ur-


sprünglichen Zielsetzungen oder gar ein vorzeitiges Ende der Kooperations-
beziehung mit einzurechnen sind: Kooperationen entfalten eine eigene Dy-
namik.
Bestätigt werden kann dies auf der Ebene der einzelnen, hier betrachteten
Kooperationszusammenhänge. Es kam beispielsweise immer wieder zum
Ausdruck, wie unterschiedlich die Erwartungen der jeweiligen Beteiligten
hinsichtlich des Zeitpunktes eines erwartbaren Kooperationsergebnisses sind.
Solche Differenzen, werden sie nicht zu Beginn einer Kooperation themati-
siert und immer wieder der Reflexion zugänglich gemacht, können zu erheb-
lichen Frustrationen und Störungen in Kooperationszusammenhängen und
somit einer generellen Überforderungssituation führen, die allein durch diver-
gierende Zeitvorstellungen bedingt ist.
Diese Erfahrungen hinsichtlich des Zeitrahmens, die auf der Handlungs-
ebene der einzelnen Kooperationszusammenhänge gemacht werden, finden
ihre Spiegelung wiederum in den Diskussionen um Kooperationsanforderun-
gen in der Jugendhilfe. Einer immer wieder gewünschten Vernetzung und
den an den verschiedenen Stellen verankerten Kooperationsaufforderungen
stehen zwar eine Reihe an Kooperationsaktivitäten gegenüber, deren Effekte
aber nicht einfach zu beschreiben und zu bewerten sind (vgl. Seckinger u.a.
1998, S. 171). Die Ergebnisse lassen darauf schließen, dass der Ruf nach Ko-
operation nicht so leicht und vor allem nicht schnell umzusetzen ist und dass
Kooperation nicht nur auf der Ebene der konkreten Kooperationsbeziehung,
sondern auch hinsichtlich der dafür erforderlichen Kompetenzen auf einen
längeren Prozess der Aneignung, des Austauschs und der Weiterentwicklung
von Kooperationserfahrungen angewiesen ist: ,,( ... ) dass die vom Gesetzgeber
intendierten Strukturen (Kooperationsanforderungen in der Jugendhilfe, d.
Verf.) bis heute fast kaum vorhanden sind, legt die Vermutung nahe, dass
Vernetzung und Kooperation erst aufgrund eines längeren, gemeinsamen
Lernprozesses zustande kommen und Kooperationskompetenzen aufseiten
aller Beteiligten voraussetzt" (Dahme 1999, S. 91).
Jede Phase einer Kooperation ist mit unterschiedlichen Aufgaben und
Zielen, die für die jeweilige Phase konstitutiv sind, verbunden. Am Beginn
einer Kooperation stehen in der Regel eine Verständigung über die Ziele, die
in der angestrebten Kooperation verfolgt werden sollen, und die Erwartun-
gen, die die einzelnen Beteiligten an die Kooperation herantragen. In dieser
Phase werden die Grundlagen zur Bewältigung der eigentlichen Kooperati-
onsaufgabe geschaffen. Dieser Prozess einer Angleichung von möglicherwei-
se sehr stark voneinander abweichenden Vorstellungen kann mit erheblichen
Schwierigkeiten verbunden sein. Zum einen besteht - wie die Regionalstudi-
en gezeigt haben - das Risiko, dass sich bei fehlender Einigung auf ein all-
gemein akzeptiertes Ziel nach einer gewissen Zeit Teilgruppen oder Koalitio-
nen im Kooperationszusammenhang bilden, die wiederum unterschiedliche
Prioritäten verfolgen und das ursprüngliche Ziel aus dem Auge verlieren.
Kooperation in der Kinder- und Jugendhilfe 139
Zum anderen besteht eine Unsicherheit darin, dass sich Kooperationsgremien
mitunter verzetteln und zu viel Zeit in die Klärung ihrer Ausgangssituation
investieren, wenn nicht jeder Beteiligte bereit ist, Abstriche bei seinen Er-
gebniserwartungen zu machen. Eine andere Schwierigkeit besteht in einem
schleichenden Rückzug der Beteiligten, die ihre Vorstellungen und Ideen
nicht genügend gewürdigt sehen. Deren Motivation, sich weiter engagiert in
die Arbeit einzubringen, lässt verständlicherweise im Laufe der Zeit nach und
führt häufig zu einem schrittweisen Rückzug aus dem Gremium. Eine pro-
zessgeleitete Vorstellung setzt neben einer Annäherung in den Erwartungen
auch die Entwicklung und Erprobung geeigneter kommunikativer und auf
Vertrauen basierender Strukturen voraus und dies benötigt Zeit. Somit ist
deutlich geworden, wie kontraproduktiv zu ergebnisorientierte Beurteilungen
von Kooperationsgremien sind bzw. sein können.
Hat man sich zum Beginn einer Kooperation über Ziele und Wege der
Ziel erreichung verständigt und dabei auch ich-bezogene Ziele mit berück-
sichtigt, werden häufig im fortschreitenden Kooperationsprozess keine weite-
ren Anstrengungen darauf verwendet, in gewissen zeitlichen Abständen im-
mer wieder den Stand der momentanen Arbeit mit den ursprünglichen Ziel-
setzungen zu vergleichen. Kooperationsgremien entwickeln so recht schnell
eine als solche nicht wahrgenommene Eigendynamik und existieren entweder
nur noch zum Selbstzweck, bis an einem bestimmten Punkt keiner der Betei-
ligten mehr die Gründe für seine Mitgliedschaft nennen kann oder durchlau-
fen schleichend eine Funktionsverlagerung. Diese kann dazu führen, dass die
momentanen Vorstellungen nichts mehr mit den ursprünglichen Zielsetzun-
gen und dem anfänglichen Selbstverständnis gemeinsam haben. Letzteres
muss nicht ausschließlich problematisch für Kooperationszusammenhänge
sein. Es entwickelt sich erst zu einem Problem, wenn diese durchaus norma-
len Ziel- und Funktionsverlagerungen im Gremium nicht ab und an reflektiert
werden. Lediglich auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass unter-
schiedliche zeitliche Perspektiven, aber auch verschiedene Handlungslogiken
oder veränderte Ressourcen einer Aushandlung zugänglich gemacht werden
können. Entscheidet man sich nach einer solch reflexiven und vielleicht kon-
fliktreichen Vergewisserung für eine Änderung der ursprünglichen Aufgaben
und wird diese Entscheidung vom ganzen Kooperationszusammenhang ge-
tragen, so steigert dies die Wahrscheinlichkeit, dass die Kooperation eine
positive Entwicklung nimmt. Das bedeutet vor allem, dass die Beteiligten den
Wechsel von einer Phase zur anderen auch hinsichtlich ihrer Erwartungen
und Zielsetzungen vollziehen müssen.
Zu dieser Kooperationsbeziehungen inhärenten, dynamischen Entwick-
lung gehört es auch, über das Ende einer Kooperation nachzudenken. Nur
selten wird in der Literatur und in den beobachteten Kooperationszusammen-
hängen das Ende einer Kooperation von Beginn an mitgedacht und als Vari-
ante der Lösung gravierender Probleme in den Blick genommen. Nur verein-
zelt wird der Fall bedacht, dass möglicherweise Kooperation keine angemes-
140 Eric van SanteniMike Seckinger

sene Lösung darstellt und nicht für jede Aufgabe die ideale Lösungsstrategie
ist (vgl. Schweitzer 1998). Deshalb scheint es sinnvoll, von Zeit zu Zeit diese
Perspektiven innerhalb eines Kooperationszusammenhanges einzunehmen
und mit allen Konsequenzen und möglichst unvorbelastet zu Ende zu denken.
Ein weiteres Indiz dafür, dass Kooperationszusammenhänge unterschied-
liche Phasen durchlaufen, ist zum Beispiel in dem Einfluss zu sehen, den
Quer- oder Neueinsteiger auf eine bestehende Kooperation haben können. Es
besteht zwar die Möglichkeit, dass neue Mitglieder zu einer Vergewisserung
der Kooperationsziele beitragen, aber gleichwohl ist auch der Zeitpunkt für
die Integration neuer Mitglieder nicht immer gegeben. Nicht jede Phase er-
fährt eine positive Ergänzung und Weiterentwicklung durch die Impulse
neuer Mitglieder. Zu beobachten sind auch hemmende Effekte durch den
Aufwand, der mit der Einarbeitung verbunden ist.
Neben dieser beschriebenen prozessualen Perspektive auf Kooperations-
beziehungen ist es für eine Kooperation nicht nur wichtig, die Zielsetzungen
im Auge zu behalten, sondern auch die praktischen Probleme der Umsetzung
in Bezug auf die zeitliche Dimension mitzubedenken. Um der Gefahr einer
schleichenden Veränderung oder gar Auflösung eines Kooperationsgremiums
zu entgehen, scheint es nicht nur sinnvoll, eine Annäherung in den jeweiligen
Zielsetzungen anzustreben, sondern diese darüber hinaus in Zwischenziele
mit konkret angehbaren und in absehbarer Zeit umsetzbaren, praktischen
Handlungsschritten zu transformieren, da sonst wiederum schnell das Gefühl
der Überforderung entstehen kann. Im Vordergrund sollte dabei eine realisti-
sche Vergegenwärtigung dessen stehen, was alle Beteiligten als möglich an-
sehen. Dass dabei Umwege und Verirrungen dazu gehören bzw. nicht immer
vermeidbar sind, sollte den Beteiligten bewusst sein und von ihnen akzeptiert
werden.
Es können sich also innerhalb eines Kooperationszusammenhanges deut-
liche Differenzen zwischen einer zeitlich sehr weitreichenden und nicht mehr
verbindlichen Perspektive einerseits und einem einengenden und überfor-
dernden Zeitrahmen, der keinen Freiraum für die Entfaltung eines "ideellen
Milieus" (vgl. BergoldlFilsinger 1993b) lässt, andererseits ergeben. Es sind
deshalb nicht nur verschiedene Phasen kennzeichnend für Kooperationen und
unterschiedliche Kriterien zur Beurteilung der Effektivität von Kooperation
anzulegen, sondern es muss bei den Beteiligten auch die Bereitschaft beste-
hen, Spannungen zwischen Unsicherheit und Offenheit der Kooperation auf
der einen Seite und der konkreten und formalen Umsetzung auf der anderen
Seite auszuhalten. Ist man sich in den jeweiligen Kooperationszusammen-
hängen einer solchen Spannung bewusst, so erscheint es eher möglich, sich
von den statischen und zumeist mit ausschließlich positiven Erwartungen
besetzten Kooperationsforderungen zu lösen und zu realistischeren und ein-
lösbaren Erwartungen auch hinsichtlich zeitlicher Vorstellungen und Ergeb-
nisse überzugehen.
Kooperation in der Kinder- und Jugendhilfe 141

Fazit

Die komplexen und vielschichtigen sozialen Beziehungen, die in ihrer Ver-


knüpfung zu Kooperationen führen, erfordern, will man sie empirisch ange-
messen erforschen, im Sinne der Methodenadäquanz ein ausgefeiltes Instru-
mentarium. Hierzu gehört ein heuristisches Modell, das eine Orientierungs-
hilfe darstellt, aber nicht einengen und blindmachen darf. Es bedarf eines
Forschungsteams, um die unterschiedlichen Perspektiven auf den Koopera-
tionszusammenhang auch innerhalb der Forschungsgruppe angemessen ab-
zubilden und in Beziehung setzen zu können. Das spezifische Erkenntnispo-
tenzial der hier gewählten Methodenvielfalt innerhalb des qualitativen For-
schungsdesigns führt nicht nur dazu, mehr Facetten von Kooperation zu er-
kennen, sondern ermöglicht auch im Sinne einer Methodentriangulation,
einen Beitrag zur Validierung der Ergebnisse zu leisten (ausführlich darge-
stellt in van SantenJSeckinger 1999).
Jede Erhebungsmethode erfasst nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit:
Die Kombination unterschiedlicher Methoden kann den Gesamtausschnitt der
erfassten Wirklichkeit vergrößern. Die gewonnenen Erkenntnisse sind zwar
nicht exklusiv an bestimmte Methoden gebunden, allerdings dürfte es in der
Regel mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein, sie auf anderem We-
ge zu erheben, da die Darstellung der Sachverhalte immer in der (selektiven)
Wahrnehmung entweder der Berichterstatter (z.B. Interviewte berichten über
den Ablauf einer Kooperationssitzung) oder des Beobachters (z.B. Untersu-
cherIn versucht die Interpretation der Rolle der Akteure mittels einer Beob-
achtung zu rekonstruieren) gefangen sind. Wenn überhaupt, so kann die Va-
lidität der Befunde durch einen Vergleich der Interpretationen verschiedener
Personen erhöht werden. Die Beschreibung eines Kooperationszusammen-
hanges aus den jeweils verschiedenen Perspektiven der Beteiligten (Datentri-
angulation) eröffnet besondere Auswertungsmöglichkeiten. Die Aussagen
Einzelner zu ihren Kooperationserfahrungen lassen sich mit den Aussagen
anderer vergleichen und ergänzen. Ganz im Sinne eines ethnographischen
Vorgehens werden so unterschiedliche Deutungsmuster ein und derselben
Situation nachvollziehbar. Dieser Zugang eröffnet die Möglichkeit, spezifi-
sche, für Kooperationen folgenreiche Vorbedingungen und Strukturen zu er-
kennen. In Interviews mit VertreterInnen der öffentlichen und freien Träger
der Jugendhilfe und des Gesundheitssystems wird zum Beispiel der Eindruck
erweckt, als gäbe es eine direkte Kooperation zwischen beiden; gleichzeitig
wird aber auch deutlich, dass die öffentliche und die freien Träger der Ju-
gendhilfe keine Kenntnis über den Überweisungsmodus an den Gesundheits-
dienst haben. Kinder werden von dieser Organisation nur dann als Klientln-
nen angenommen, wenn sie von einem niedergelassenen Arzt überwiesen
werden. Niedergelassene Ärzte betonten jedoch in diesem Kontext ihre
Handlungssouveränität und interpretieren jedes Drängen hin zur Ausstellung
142 Eric van Santen/Mike Seckinger

einer Überweisung als Inkompetenzunterstellung und überweisen entspre-


chend zögerlich. Ein Vergleich der verschiedenen Perspektiven verdeutlicht
also, dass die im Rahmen der Kooperation in schwierigen Lebenslagen viel-
fach als problematisch beschriebene Zusammenarbeit mit einem Gesund-
heitsdienst auch auf einen Mangel an Kenntnissen über die Arbeitsweise
dieses medizinischen Dienstes beruhen und weniger tatsächliche Kooperati-
onserfahrungen widerspiegeln.
Der entscheidende Erkenntnisgewinn einer Kontrastierung verschiedener
Informationsquellen über die Zusammenarbeit zwischen Institutionen liegt
nicht im Aufdecken von Widersprüchen, sondern darin, dass gezeigt werden
kann, wie sehr falsche Annahmen über Arbeitsweisen, Zuständigkeiten, Funk-
tion und Handlungsspielräume einzelner Institutionen Kooperationen beein-
trächtigen, wie wir bereits weiter oben ausgeführt haben. Die Unerfüllbarkeit
von Kooperationserwartungen wird dementsprechend häufig zur Ursache von
Unzufriedenheit in Kooperationsbeziehungen. Die Hartnäckigkeit, mit der sich
in diesem Beispiel falsche Vorstellungen halten, zeigt zudem die vorhandene
Distanz zwischen Institutionen der Jugendhilfe und des Gesundheitssystems
sowie die Bedeutung von Statusfragen für das Funktionieren von Kooperatio-
nen.
Der innerhalb dieses breit angelegten Forschungsprojektes mögliche Ver-
gleich zwischen quantitativen und qualitativen Zugängen zeigt eindeutig die
Unterschiede in Reichweite und Tiefe der jeweiligen Zugänge. Zur Beschrei-
bung der Verbreitung von Kooperation, der Anlässe für Kooperation und der
Zusammensetzung von Kooperationsgremien sind quantitative Verfahren
besser geeignet. Richtet sich das Forschungsinteresse jedoch auf die Prozesse
in der Kooperation, auf Bedingungen, die Kooperation erleichtern oder er-
schweren, sind trotz des damit verbundenen Aufwandes qualitative Verfahren
zu präferieren.

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Professionelles Handeln in der Sozialpädagogik

Cornelia Schweppe

Wie handeln Sozialpädagoglnnen?


Rekonstruktionen der professionellen Praxis der Sozialen Arbeit

Einleitung

Die Professionalisierungsdebatte innerhalb der Sozialen Arbeit kann mittler-


weile auf eine lange Geschichte zurückblicken. In theoretischer Hinsicht las-
sen sich dabei seit den 80er Jahren verstärkt Auseinandersetzungen feststel-
len, die legitimations- und standespolitische Debatten und Bestimmungsver-
suche hinter sich lassen und sich den Binnenstrukturen, der Logik und den
Strukturproblemen sozialpädagogischen HandeIns zuwenden. Vor allem wer-
den symbolisch-interaktionistische (vgl. Schütze 1992, 1996,2000), struktur-
theoretische (vgl. Oevermann 1996, 1997) und systemtheoretische (vgl.
Stichweh 1992, 1994, 1996) Zugänge aufgegriffen l , die, trotz all ihrer Unter-
schiede, gemeinsam haben, dass sie auf einen Strukturkern professionellen
HandeIns hinweisen, der im Wesentlichen durch Riskanz, Fehleranfälligkeit,
Ungewissheit und paradoxe und antinomische Strukturen gekennzeichnet ist
sowie auf eine spezifische Strukturlogik professionellen HandeIns verweisen,
durch die dieses weder als wissenschaftlich steuerbar noch bürokratisch lenk-
bar bzw. expertokratisch aus allgemeinen Regelsätzen ableitbar gefasst wer-
den kann. Professionelles Handeln stellt sich hiernach vielmehr als eigener
Handlungstypus dar, dessen Spezifik gerade in prekären Vermittlungsleistun-
gen bzw. Relationierungen zwischen verschiedenen, teilweise widersprüchli-
chen Handlungsanforderungen zu konzipieren ist (vgl. Helsper/KrügerlRabe-
Kleberg 2000). Durch den Rückgriff auf diese Ansätze ist es zu einer Präzi-
sierung und Differenzierung der sozialpädagogischen Professionsdebatte ge-
kommen, die sich zunehmend den Ambivalenzen, dem Fehlerhaften, den Un-

Zur systemtheoretischen Professionalisierungsdebatte innerhalb der Sozialen Arbeit vgl.


Bommes/Scherr 1996, 2000; Merten 1997, 2000, zur symbolisch-interaktionistischen Pro-
fessionalisierungsdebatte vgl. Schütze 1992, 1996, 2000, zur strukturtheoretischen Profes-
sionalisierungsdebatte vgl. Dewe u.a. 1993.
146 Cornelia Schweppe

gewissheiten und den Riskanzen des sozialpädagogischen Handeins zuwen-


det.
Im Gegensatz zur theoretisch geleiteten Professionalisierungsdebatte der
Sozialen Arbeit lässt sich dagegen auf der empirischen Ebene ein weitgehen-
des Fehlen von Annäherungen an das berufliche bzw. professionelle Handeln
und die berufliche bzw. professionelle Praxis von Sozialpädagogen und Sozi-
alpädagoginnen feststellen. Über die empirische Realität des Handeins und
der Praxis von SozialpädagogInnen ist bislang wenig bekannt. Erst seit kur-
zer Zeit liegen vereinzelt empirische Rekonstruktionen des beruflichen Han-
delns von Sozialpädagogen und Sozialpädagoginnen vor. l Sie beantworten
allerdings bislang kaum systematisch die Frage, wie SozialpädagogInnen ihre
alltägliche sozialpädagogische Praxis gestalten und deuten, welche Hand-
lungsmuster sie in der Praxis entwickeln und zum Einsatz kommen und wel-
ches berufliche Selbstverständnis zu erkennen ist.
Diese Fragestellung gewinnt durch die Entwicklungsprozesse der Sozia-
len Arbeit innerhalb der letzten 25 Jahre an besonderer Brisanz. Gesellschaft-
liche Modernisierungsprozesse haben das Berufsfeld der Sozialen Arbeit
grundlegend verändert, was seinen Ausdruck in einem enormen Ausbau (vgl.
Rauschenbach 1990, 1991, 1999) und einer Ausdifferenzierung der sozial-
pädagogischen Angebote sowie der Etablierung neuer Zuständigkeiten findet.
Chasse/v. Wensierski (1999) halten eine Ausweitung der Aufgabenstellung
auf zwei Ebenen fest: Bedingt durch Individualisierungs- und Biographisie-
rungsprozesse kommt es zum einen zu einer Sozialpädagogisierung der Le-
bensalter (vgl. Böhnisch 1997). D.h. Soziale Arbeit richtet sich nicht mehr
nur auf spezifische Lebensphasen (v.a. Kindheit und Jugend), sondern um-
fasst angesichts neuer und gewachsener biographischer Problemlagen und
eines lebenslangen Bildungsbedarfs potenziell alle Lebensalter. Zweitens -
und damit einhergehend - ist es zu einer enormen Ausdifferenzierung der zu
bearbeitenden Problemlagen, Zuständigkeiten und Aufgabenbereiche gekom-
men. SozialpädagogInnen haben es heute keineswegs mehr nur mit "schwie-
rigen" oder "gefährdeten" AdressatInnen zu tun und beschränken sich in
ihrem Tun nicht mehr nur auf ein Nothilfesystem. Dieser ursprüngliche Kern
der Sozialen Arbeit bleibt zwar bestehen bzw. erhält durch die Verschärfung
und Ausdifferenzierung von Armutslagen und verschärfte soziale Ungleich-
heitsrelationen und Benachteiligungen neue Konturen und Ausdrucksformen.
Er wird aber zusätzlich durch neue Problemlagen und Aufgabenbereiche er-

2 Dabei sind insbesondere die Studien von Thole/Küster-Schapfl (1997) zu nennen, die nach
den berufs biographischen Hintergründen sowie dem Wissen und Können von Sozialpäd-
agoglnnen fragt, von Ackermann (1999) und Ackermann/Seeck (1999) zur Fachlichkeit
und zum beruflichen Habitus sowie von Nagel (1997), Gildemeister (1983) und Wagner
(1993), die spezifischen Spannungsfeldem sozialpädagogischen Handelns (Distanz und
Nähe, Engagement und reflektierte Distanz) nachgehen. Die Studien von Nölke (1996) und
Riemann (2000) rekonstruieren unterschiedliche Handlungsfelder der Sozialpädagogik: der
Heimerziehung wendet sich Nölke (1996), der Familienberatung Riemann (2000) zu.
Wie handeln Sozialpädagoglnnen? 147

gänzt, die im Wesentlichen durch die Notwendigkeit der Unterstützung bei


der Herstellung und Sicherung persönlicher Ressourcen entstehen, d.h. durch
den Unterstützungsbedarf der "Stärkung derjenigen Basiskompetenzen, die
benötigt werden, um als je einzelner im Prozess der Individualisierung zu be-
stehen, um individuell zugemutete soziale Risiken der eigenen Lebensfüh-
rung und der eigenen permanenten Entscheidung unter Ungewissheitsbedin-
gungen handhabbar zu machen" (vgl. Rauschenbach 1992, S. 51).
Diese Ausdifferenzierung von AdressatInnen, Problemlagen, Zuständig-
keiten und Aufgabenbereiche hat dazu geführt, dass Eindeutigkeiten in der
Sozialen Arbeit immer mehr verloren gehen. Fragt man nach den AdressatIn-
nen der Sozialen Arbeit, so muss zunehmend Abschied genommen werden
von bestimmten homogenen, typisierbaren und beständigen KlientInnengrup-
pen. Die mit der Individualisierung von Lebenslagen einhergehenden Indivi-
dualisierungsprozesse sozialer Problem lagen haben zur Folge, dass das Ge-
meinsame sozial problematisch gewordener Lebenslagen eher verloren geht
und die Eigenart jedes Falles mehr hervortritt. Verallgemeinerbare Anteile
kollektiver und gemeinsam geteilter Lebens- und Problemlagen verringern
sich; der konkrete Einzelfall in der Sozialen Arbeit rückt zunehmend ins ge-
dankliche Zentrum der Sozialen Arbeit (vgl. Rauschenbach 1992, S. 51).
Aber auch die allgemeinen Zielsetzungen und Integrationsperspektiven
sind in der Sozialen Arbeit diffus geworden. Wenn die Soziale Arbeit zuneh-
mend lebenslagenunterstützende Dienste übernimmt, kann sie nicht mehr nur
auf reaktive Integrations- und Kontrollfunktionen reduziert werden. Vielmehr
tritt nach Rauschenbach (1992) in Anlehnung an Böhnisch/Schefold (1985)
(vgl. auch Böhnisch 1997) der grundlegende, aber zugleich äußerst unspezifi-
sche Sachverhalt, nämlich der der Lebensbewältigung, ins Zentrum der Sozi-
alpädagogik. SozialpädagogInnen werden zu ExpertInnen in lebensweltunter-
stützenden und biographisch relevanten Fragen der Lebensplanung und Le-
bensführung. Aber gerade dies wird für die Soziale Arbeit sehr viel schwieri-
ger, ungewisser und riskanter, weil durch die Enttraditionalisierung von Mi-
lieus und Sozialformen, die Erosion der Normalbiographie und der Normal-
familie, die Entkoppelung von Bildung und Beruf und die Krise der Arbeits-
gesellschaft die traditionellen normativen Orientierungsmaßstäbe in ihrer
Verbindlichkeit und Kontinuität brüchiger werden (vgl. auch Chasse/v. Wen-
sierski 1999). Die Soziale Arbeit kann sich durch diese Prozesse nicht mehr
auf die hiermit verbundenen normalitätssichernden Muster beziehen und auf
diese zurückgreifen.
Für das sozialpädagogische Handeln bedeutet das, dass weder Problemde-
finitionen durch den Rückgriff auf typisierbare AdressatInnengruppen oder klar
umrissene Problemlagen vorgenommen werden können noch ist die Festlegung
von Interventionszielen in Hilfeprozessen durch die Verflüssigung gesellschaft-
lich etablierter Normalitätsbilder und -standards eindeutig, und auch die Pro-
blembearbeitung lässt sich nicht mehr durch Verweise auf ein überschaubares
handwerkliches Methodensetting oder auf einfache technokratische Problemlö-
148 Cornelia Schweppe

sungen vollziehen (vgl. MertenJOlk 1996; v. Wensierski/Jakob 1997; Galuske


1998). Ein solches Handeln liefe die Gefahr, den individuellen Fall unter vor-
gefasste Kategorien und Typisierungen zu subsumieren und dadurch in vorge-
fertigte und nicht verhandelbare Lebensentwürfe und Normalitätsmuster zu
drängen, die aber aufgrund heutiger Lebenslagen gerade kontraproduktive Wir-
kungen zur Folge haben können. Vielmehr wird ein Handeln erforderlich, das
stets aufs neue, jeweils situativ auf den spezifischen Fall bzw. die je konkrete
Situation bezogen werden und im Rahmen kommunikativer Verständigungs-
prozesse mit den Adressatinnen begründet und ein geworben werden muss. Zur
Bestimmung dessen was das Problem ist und mit welchen Mitteln es zu wel-
chen Zielen bearbeitet werden soll, bedarf es der Aushandlung zwischen Klien-
tln und SozialpädagogIn. Interaktion und Kommunikation treten in den Mittel-
punkt sozialpädagogischen Handeins. Nur so wird es möglich sein, auf dem
Hintergrund der jeweils spezifischen Leidens- und Erfahrungsaufschichtungen,
der je spezifischen sozialen und materiellen Lebensbedingungen, der jeweiligen
subjektiven Deutungen und Bearbeitungsformen sowie der jeweiligen indivi-
duellen und sozialen Ressourcen und Potenziale dem je eigenwilligen Lebens-
entwurf gerecht zu werden.
Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass die gegenwärtige Profes-
sionalisierungsdebatte aufgrund der beschriebenen Entwicklungen die Offen-
heit sozialpädagogischen Handeins und durch ihre Hinwendung zu den Bin-
nenstrukturen und Strukturlogiken die mit sozialpädagogischem Handeln ver-
bundenen Risiken, Ungewissheiten und Störanfälligkeiten sowie seine nicht
abschätzbaren Folgewirkungen offen gelegt hat und die Notwendigkeit einer
reflexiven Professionalisierung herausteIlt (vgl. Dewe/Otto 2001). Wie Sozi-
alpädagogInnen jedoch ihre konkrete Handlungspraxis entwickeln, gestalten,
deuten und begründen, bleibt der Sozialen Arbeit aufgrund des bisherigen
Mangels an empirischen Annäherungen an die berufliche bzw. professionelle
Praxis von SozialpädagogInnen weitgehend verborgen.

Rekonstruktionen der professionellen Praxis von


Sozialpädagoglnnen - Empirische Annäherungen

An diesem empirischen Mangel setztein zur Zeit noch laufendes Forschungs-


projekt an, das die Rekonstruktion der beruflichen Praxis und der beruflichen
Handlungsvollzüge und des damit verbundenen beruflichen Selbstverständ-
nisses von Sozialpädagogen und -pädagoginnen zum Inhalt hat. Die berufli-
che Praxis soll aus der Sicht der Sozialpädagogen und -pädagoginnen rekon-
struiert werden, um die jeweiligen Beschreibungen, Deutungen, Begründun-
gen und Erklärungen ihrer Berufs- bzw. Handlungsvollzüge und ihr Ver-
ständnis und ihre Auslegung der beruflichen Praxis zu erfassen.
Wie handeln Sozialpädagoglnnen? 149
Die Studie wird mithilfe leitfadengestützter narrativer Interviews durch-
geführt. Dieses Verfahren wurde gewählt, um den Interviewten die Möglich-
keit zu geben, ihre berufliche Praxis anhand eigener Relevanzen möglichst
detailliert und umfangreich darzustellen und möglichst dichte und ausführli-
che Schilderungen über ihre berufliche Praxis zu erhalten und auf diese Wei-
se die je eigene Sicht auf die beruflichen Handlungsvollzüge, die je eigenen
Handlungs-, Deutungs- und Erklärungsmuster sowie die jeweiligen Hand-
lungszusammenhänge und -verkettungen zu erfassen.
Nach dem sehr offen gehaltenen Eingangsstimulus, in dem nach den be-
ruflichen Tätigkeiten und dem beruflichen Alltag der Interviewten gefragt
wird, werden die Interviewten dazu aufgefordert, so umfangreich und detail-
liert wie möglich über eine konkrete Situation aus ihrer Handlungspraxis zu
erzählen. Je nach Verlauf der Erzählung werden immanente Fragen gestellt,
die sich aus Unverständlichkeiten, Brüchen, Widersprüchen und mangelnder
Plausibilität der Ersterzählung ergeben. Danach werden i.w. drei weitere
Fragekomplexe nachgefragt, wenn sie nicht bereits in der vorhergehenden
Erzählung erhalten sind. Ein Fragenkomplex bezieht sich auf die Arbeitsbe-
dingungen und Organisationsstrukturen bzw. Trägervorgaben und die Ein-
schätzungen ihrer Bedeutung und Auswirkung auf die berufliche Praxis so-
wie möglicher Einflussnahme und Veränderung. Ein weiterer Fragenkomplex
bezieht sich auf Reflexionsräume und -möglichkeiten und die Bedeutung, die
die Interviewten ihnen beimessen. Der abschießende Teil umfasst bilanzie-
rende Fragen über die Zufriedenheit mit der Arbeitsstelle und möglichen
Wünschen der Veränderung. Die Interviews werden mit Hilfe von Tonkas-
setten aufgenommen. Zum Schluss des Interviews werden sozial statistische
Daten zu Alter, Geschlecht und zum schulischen und beruflichen Werdegang
abgefragt und in einem Datenbogen festgehalten.
Die Samplebildung orientiert sich am Prinzip des "theoretical sampling"
von Glaser/Strauss (1967).
Die Auswertung erfolgt in vier Schritten. Ein erster Schritt besteht in der
vollständigen Transkription der Interviews, die die Grundlage für die Aus-
wertung der Interviews bildet. Die Transkriptionen erfolgen nach den Regeln
mittlerer Genauigkeit. Der zweite Schritt besteht in der sequenzanalytischen
Interpretation der Interviews. Als Einteilungsgröße fungieren dabei erkennba-
re, in sich sinnhaft abgeschlossene Textsequenzen. Ein sequenzanalytisches
Vorgehen ist deshalb indiziert, um die Erzählungen der Interviewten nicht
"auseinanderzureißen" (Schmidt 1997, S. 547), sondern gerade die in den Er-
zählungen erkennbaren Handlungszusammenhänge und -verkettungen und
beschriebenen Prozesse der beruflichen Praxis zu erschließen. Der dritte
Schritt besteht in der analytischen Abstraktion. Hier werden die in den im
zweiten Schritt herausgearbeiteten Interpretationen sichtbar gewordenen
Themen, Deutungen, Handlungsstrategien, Relevanzen, Urteile, Erklärungen
und Prozesse abstrahiert und verdichtet. Ziel dieses Schrittes ist es, die zu-
grunde liegenden fall typischen Muster der dargestellten beruflichen Praxis
150 Cornelia Schweppe

herauszukristallisieren und zu allgemeinen Mustern zu verdichten. Dieser


Schritt mündet in einer Falldarstellung, in der die herausgearbeiteten falltypi-
schen Muster fallimmanent verdichtend dokumentiert und anhand signifikan-
ter Interviewpassagen illustriert werden. Im vierten und letzten Schritt geht
die Auswertung über den Einzelfall hinaus. Es soll eine Typologie der in den
Erzählungen dargelegten Handlungspraxis in Anlehnung an das von Schütze
(1983) entwickelte Verfahren der minimalen und maximalen Kontrastierung
entwickelt werden.

Der Fall Bert Twellbeck: "der glücklichste Fall wäre, wenn


die Jugendlichen das machen würden, was wir für gut
heißen'~

Im Folgenden wird ein Teil einer im Rahmen dieser Studie erstellten Fall-
analyse dargestellt. Dabei handelt es sich um jenen Teil des Interviews, in
dem der Interviewte dazu aufgefordert wurde, über eine konkrete Situation
aus seiner beruflichen Praxis zu erzählen.
Es geht um Bert Twellbeck, 45 Jahre, der seit 7 Jahren Leiter eines offe-
nen Jugendzentrums und Lehrbeauftragter an einer Fachhochschule ist. Bert
Twellbeck hat nach seiner Lehre und mehrjährigen Berufspraxis als Hand-
werker 1990 den Abschluss des Diplom-Sozialpädagogen an einer Fachhoch-
schule erlangt.

Die Ausgangssituation: Das verletzte Mädchen

Der Aufforderung, eine konkrete Situation aus seiner beruflichen Praxis zu


erzählen, kommt Bert Twellbeck entgegen, indem er eine Situation auswählt,
in der eine Jugendzentrumsbesucherin - ein" ausländisches Mädchen" - das
Jugendzentrum aufsucht und mitteilt, dass sie" vom Vater ein Messer in den
Oberschenkel gestochen gekriegt hat". Die Wortwahl lässt auf eine starke
Verletzung des Mädchens schließen, die Bert Twellbeck jedoch relativiert,
indem er sagt "also das war von der Verletzung her nicht so schlimm, also
nicht so ne dicke Wunde". Durch die Relativierung der Schwere der Wunde
wird der dem Mädchen zugefügte Schaden begrenzt und damit auch die Fol-
gen und die Dramatik, die der Messerstich für das Mädchen haben. Wenn
Bert Twellbeck im Folgenden sagt: "aber ich sag äh allein die Tatsache,
dass ein Vater seiner Tochter ein Messer in den Oberschenkel sticht ist ja
schon ne ziemlich heftige Geschichte" verstärkt er, dass es für ihn weniger

3 An der Datenerhebung und -auswertung waren Ulla Englert und Ilona Klein beteiligt.
Wie handeln Sozialpädagoglnnen? 151

das Mädchen bzw. die Folgen des Messerstichs für das Mädchen sind, die das
Problem der vorgefundenen Situation ausmachen, sondern vielmehr die Re-
gelverletzung des Vaters, seine Tochter durch einen Messerstich zu verletzen.

Erste Überlegungen der Problembearbeitung: Das Einschalten


anderer Institutionen

Bert Twellbeck erzählt, dass er, nachdem ihm das Mädchen von dem Vorfall
berichtet hat, eine Kollegin bittet, mit dem Mädchen zum Arzt zu gehen, was
eher darauf hinweist, dass es sich bei der Wunde doch nicht nur um eine leichte
Verletzung handelt. Bert Twellbeck dagegen "kümmert" sich darum, "welche
Mittel können wir jetzt einschreiten über Sozialen Dienst, Polizei und wieweit
man gehen kann das ist ja nicht ganz einfach (.. .) also in solche Sachen kann
man ja nicht alles lösen, sondern ich halt es dann wichtig bestimmte Stellen
einzuschalten ja". Bert Twellbecks Überlegungen hinsichtlich des Umgangs
mit der vorgefundenen Situation bestehen im Einschalten anderer Institutionen,
weil er sich nicht imstande sieht, diesen Fall allein zu lösen. Indem er sagt, dass
er überlegt habe, welche Mittel wir jetzt "einschreiten" können , über andere
Institutionen' und er andere Stellen "einschalten" will, scheint diese Hilfe
weniger in einer Konsultation anderer KollegInnen zu bestehen, sondern viel-
mehr in der Beteiligung Dritter an der Bearbeitung des Falles bzw. der Über-
tragung des Falles an andere. An dieser Stelle des Interviews wird nicht deut-
lich, warum und mit welchem Ziel Bert Twellbeck gerade den Sozialen Dienst
oder die Polizei einschalten will. Ebenso wenig geht aus dem Interview hervor,
ob er diese Überlegungen entwickelt, nachdem ihm genauere Informationen
über die vorgefundene Situation zur Verfügung standen. In der Erzählung er-
wähnt er diese nicht. Da seine Erzählung unmittelbar in die Überweisung an
einen Arzt mündet, nachdem er von dem Vorfall des Messerstichs erfahren hat,
und er während des Arztbesuches des Mädchens seine Überlegungen hinsicht-
lich des Einschaltens anderer Institutionen vornimmt, ist es deshalb nicht aus-
zuschließen, dass ihm genauere Informationen über die Hintergründe des Mes-
serstiches nicht zur Verfügung standen und er aus der Tatsache des Messer-
stichs das Einschalten des Sozialen Dienstes oder der Polizei als sinnvoll bzw.
notwendig erachtet. Seine Überlegungen würde er damit relativ situations- bzw.
fallunabhängig entwickeln.
Die Erzählung geht dann in seine Entscheidung über, den Sozialen
Dienst anzurufen, um "die dort erst mal in Kenntnis zu setzen hoppla ist in
ner Familie in B is was passiert, was für Euch wichtig ist, also erst mal zu
registrieren wie man dann reagiert ist erst mal ne andre Geschichte ja". Die
Intention seines Anrufes, die Bert Twellbeck hier darlegt, zielt auf das ,Regi-
strieren' der vorgefundenen Situation beim Sozialen Dienst, d.h. die Weiter-
leitung der ihm mitgeteilten Informationen. Entsprechend der o.g. Überle-
gungen, andere an diesem Fall zu beteiligen, scheint dies über die Inkenntnis-
152 Cornelia Schweppe
setzung möglich zu werden. Die konkrete Hilfe oder Unterstützung in diesem
Fall sind sekundär, denn" wie man dann reagiert ist erst mal ne andre Ge-
schichte ja ".
Bert Twellbeck "erwischt" jedoch niemanden beim sozialen Dienst und
ruft seinen Chef an: "und hab' ihm gesagt man was soll ich jetzt machen ".
Das klingt hilflos. Bert Twellbeck scheint mit der Situation überfordert und
hinsichtlich ihrer Bearbeitung ratlos zu sein, nachdem er niemanden beim
Sozialen Dienst erreicht hat.
Er berichtet nicht weiter über den Gesprächsverlauf mit seinem Chef,
sondern erzählt, dass er dann den älteren Bruder des Mädchens kontaktieren
wollte, weil dieser, im Gegensatz zu den Eltern des Mädchens, gut deutsch
spreche. Die Deutschkenntnisse werden so zum ausschlaggebenden Grund
der Wahl des Gesprächspartners. Obwohl aus der Erzählung nicht deutlich
wird, mit welchem Ziel er den Bruder sprechen will, könnte die Kontaktauf-
nahme nach dem gescheiterten Telefonat zum Sozialen Dienst und vielleicht
auch durch das Telefongespräch mit seinem Chef kaum herbeigeführte Klä-
rung des einzuschlagenden Weges ein weiterer Versuch des Einschaltens
bzw. der Konsultation Dritter sein. Ob er überhaupt dazu berechtigt ist, die
von dem Mädchen dem Jugendzentrum zur Verfügung gestellten Informatio-
nen an den Bruder weiterzugeben und mögliche Konsequenzen, die das Ein-
schalten des Bruders zur Folge haben können, scheint Bert Twellbeck nicht
zu bedenken.

Der Wunsch des Mädchens

Vor der Kontaktaufnahme mit dem Bruder kommt das Mädchen vom Arzt
zurück. So wie sich Bert Twellbeck bisher nicht über die Befindlichkeiten
des Mädchens geäußert hat, berichtet er auch an dieser Stelle nicht über die
Diagnose oder Behandlung des Arztes, sondern erzählt, dass ihm das Mäd-
chen mitgeteilt habe, auf jeden Fall wieder nach Hause zu wollen, man es ja
nicht daran hindern könne und" insofern war auch klar das erst mal mit der
Polizei und so, oder in ein Heim oder so das erst mal nicht der Knackpunkt
ist". Der weitere Umgang mit der vorgefundenen Situation ist somit vom
geäußerten Wunsch des Mädchens, wieder nach Hause zu wollen, abhängig,
den Bert Twellbeck akzeptiert, aber auch nur akzeptieren kann, weil die Al-
ternative für ihn die Verhinderung des Wunsches des Mädchens ist, was
seiner Meinung nach aber nicht möglich ist und somit nur die Akzeptanz des
Wunsches übrig bleibt. Für Bert Twellbeck scheinen dritte Wege des Um-
ganges mit dem Wunsch des Mädchens nicht möglich zu sein. Damit ver-
schließt er sich auch der Möglichkeit des kommunikativen Umgangs mit dem
Wunsch, sodass für ihn Akzeptanz die bedingungslose und unhinterfragte
Akzeptanz des Wunsches zu bedeuten scheint. Obwohl die Akzeptanz des
Wunsches des Mädchens zunächst als Akzeptanz seiner Autonomie interpre-
Wie handeln Sozialpädagoglnnen? 153
tiert werden könnte, birgt Bert Twellbecks Verständnis von Akzeptanz, das
weder das Hinterfragen der Gründe des Wunsches noch das Aufzeigen von
Alternativen, das die Erweiterung von Handlungsperspektiven für das Mäd-
chen ermöglichen könnte, noch das Nachdenken über die Konsequenzen, die
das Nachhausegehen für das Mädchen haben könnte, zu implizieren scheint,
die Gefahr des Gegenteils in sich. Auf dem Hintergrund, dass Bert Twellbeck
in seiner Erzählung weiterhin keine genaueren Informationen weder über den
Hergang des Vorfalls noch über die spezifische Familiensituation noch über
die Situation, die das Mädchen antrifft, wenn sie wieder nach Hause geht,
vermittelt, und der Wunsch u.U. unabhängig von diesen Kenntnissen akzep-
tiert wird, könnte diese Gefahr an Brisanz gewinnen.
Warum Bert Twellbeck meint, dass das Einschalten von Polizei oder Ju-
gendamt nicht erforderlich sei, wenn das Mädchen den Wunsch äußert, wie-
der nach Hause zu wollen, wird aus der Erzählung nicht deutlich. Eine Erklä-
rung könnte darin liegen, dass er den Wunsch des Mädchens, wieder nach
Hause zu wollen, als Entschärfung der Situation deutet, sozusagen als Signal,
dass für sie keine Gefahr besteht, da sie sonst diesen Wunsch nicht geäußert
hätte. Im Umkehrschluss würde dies bedeuten, wenn das Mädchen nicht nach
Hause wollte, er diesen Wunsch dahingehend interpretiert, dass die Situation
so unerträglich oder gar gefährlich für das Mädchen ist, dass das Einschalten
der Polizei oder des Jugendamtes zum Schutz des Mädchens bzw. aufgrund
einer Unterbringung in einem Heim erforderlich ist. Damit ständen Bert
Twellbecks anfängliche Überlegungen hinsichtlich des Einschaltens der Poli-
zei und des Jugendamtes im Zusammenhang mit der Frage einer möglichen
Herausnahme des Mädchens aus der Familie, ohne dass jedoch aus der Er-
zählung hervorgeht, dass er diese Überlegungen auf genaueren Informationen
über die vorgefundene Situation basiert. Die Erwägung einer möglichen He-
rausnahme des Mädchens aus dem Elternhaus wurde somit aufgrund des Vor-
falls des Messerstichs und weitgehend ohne Kenntnisse über seine Hinter-
gründe vollzogen.

Die Veränderung der Problemdefinition: ,Das Mädchen macht


Probleme'

Nachdem Bert Twellbecks anfängliche Überlegungen des Einschaltens ande-


rer Institutionen nicht zum Tragen kommen, hält er es für wichtig, der Fami-
lie "mal zu sagen, also so kann das nicht gehen, also das die daheim". Ent-
sprechend seiner Einschätzung, dass die Dramatik der Situation vor allem im
Übergriff des Vaters liegt, fokussiert er seine Überlegungen hinsichtlich des
Umgangs mit der vorgefundenen Situation auf den Vater bzw. die Familie. Er
will die gewalttätigen Übergriffe unterbinden, und zwar durch einen rationa-
len Appell, indem er dem Vater bzw. der Familie sagt, dass das so nicht ge-
hen kann.
154 Cornelia Schweppe

Die Fokussierung auf die Familie bzw. den Vater stellt jedoch nur den Be-
ginn seiner Überlegungen dar. Bert Twellbeck führt dann eine neue Dimension
der Problemanalyse ein, die darin besteht, dass er den Messerstich des Vaters in
Zusammenhang mit dem ,Problememachen des Mädchens' bringt: "mal zu
sagen, also so kann das nicht gehen, also das die daheim, wir wissen zwar
selber das diese Jugendliche Probleme macht, das ist uns auch bekannt". Of-
fensichtlich will Bert Twellbeck signalisieren, dass das Mädchen nicht ganz
unbeteiligt an der entstandenen Situation ist. Diesen Zusammenhang führt er
im Folgenden aus. Er sagt: "oder wo's wahrscheinlich daheim entzündet hat
der Konflikt das sie die Schule schwänzt im Moment weil sie ist auf ne Sonder-
schule gekommen damit ist sie nicht einverstanden aber unsere Recherchen
haben dazu geführt das das nicht von heute auf morgen passiert ist, sondern
ein Prozess von Jahren, wo die Schule immer wieder auf Defizite Hinweise
gemacht hat auch ja äh, ja Angebote gemacht hat das das besser wird aber gut
sie auch nicht so wahrgenommen jetzt und das auch zu ziemlich erheblichen
Konflikten daheim in dieser Familie führt ja, ja was wohl auch mit so ein Aus-
löser war. " Bert Twellbeck erklärt, dass der Konflikt in der Familie "wohl"
mit dem Schulwechsel des Mädchens auf eine Sonderschule verbunden sei.
Allerdings ist dieser Schulwechsel seiner Meinung nach wohl angemessen,
denn man habe der Jugendlichen immer wieder Angebote zur Verbesserung
ihrer Leistungen und zur Verhinderung des Schulwechsels gemacht, die sie
aber nicht angenommen habe. In Bert Twellbecks Erklärung ist es das Mäd-
chen, das die ihr gebotenen Chancen nicht aufgreift und identifiziert sie letzt-
endlich als diejenige, die den. Schul wechsel zur Sonderschule verantworten
muss. Die Perspektive des Mädchens, warum sie diese Angebote nicht ange-
nommen hat, erwähnt Bert Twellbeck nicht und findet bei der Problemanalyse
keine Berücksichtigung. Die Frage nach der Angemessenheit der Angebote
bleibt ausgespart; die Schwierigkeiten werden auf das Mädchen verlagert, die
sich diesen Angeboten widersetzt. Die Gründe, die zum Schwänzen der Schule
führen, erwähnt Bert Twellbeck ebenso wenig. Er konstruiert also einen Erklä-
rungszusammenhang, in dem das Mädchen schlechte Schulleistungen aufweist,
ihr Hilfsangebote gemacht werden, die sie nicht wahrnimmt, dies den Schul-
wechsel zur Sonderschule und das Schwänzen der Schule zur Folge hat, was
wiederum die konflikthafte Situation in der Familie" wohl entzündet" hat. In-
dem er sagt, dass sich hierdurch die Konflikte in der Familie" wohl entzündet
haben" verstärkt er die O.g. angedeutete Beteiligung des Mädchens an der Pro-
blementstehung insofern, als er den Schulproblemen bzw. dem Schuleschwän-
zen des Mädchens einen ursächlichen Grund für die eskalierte Situation zu-
weist. Während in Bert Twellbecks Erzählung zunächst das eigentliche Pro-
blem in der Regelverletzung des Vaters bestand und dadurch der Vater als Kern
des Problems identifiziert wurde, wird hierdurch das Verhalten des Vaters
letztendlich lediglich als Reaktion auf das Verhalten des Mädchens erklärt, die
jedoch zu weit gegangen ist und unterbunden werden muss. Das eigentliche
Problem liegt in dem Verhalten des Mädchens, das Probleme macht.
Wie handeln Sozialpädagoglnnen? 155

Deutlich wird nicht, wie Bert Twellbeck zu dieser Problemanalyse


kommt. Er formuliert diese als Vermutung (" was diesen Konflikt wohl ent-
zündet hat"). In der Erzählung wird an keiner Stelle sichtbar, dass er mit dem
Mädchen oder anderen Familienmitgliedern kommunikativ der Problement-
stehung oder der Familiendynamik nachgegangen ist. Deshalb ist es nicht
auszuschließen, dass Bert Twellbeck seine Problemanalyse auf jenen Infor-
mationen über die Lebenssituation des Mädchens basiert, die ihm aus seinem
Jugendzentrumsbesuch schon vor dem Vorfall des Messerstichs zur Verfü-
gung standen, aus denen er dann Rückschlüsse hinsichtlich der Verursachung
des Messerstichs durch den Vater zieht. Konkret hieße dies, dass er weiß,
dass das Mädchen die Schule wechseln musste und im Moment die Schule
schwänzt, dies als Problememachen in der Familie interpretiert und dies
wiederum als Verursachung des Messerstichs durch den Vater ansieht. Da-
durch vollzöge er aber nicht nur die Problemanalyse vollkommen aus seiner
Sicht und unabhängig vom aktuellen Kontext des Vorfalls, sondern kann
auch nur im Spekulativen bleiben ("war wohl auch mit ein Auslöser"). Bert
Twellbeck basiert seine Überlegungen hinsichtlich möglicher Interventionen
jedoch auf diesem Erklärungsmuster, wie später deutlich werden wird.

Nochmalige Gewalterfahrung des Mädchens

Nachdem das Mädchen nach Hause gegangen ist, kommt ihr mittlerer Bruder
ins Jugendzentrum, dem Bert Twellbeck erzählt, dass das Mädchen von sei-
nem Vater geschlagen worden sei. Warum er dies dem Bruder mitteilt, erklärt
er nicht. Bert Twellbeck scheint davon auszugehen, den Vorfall dem Bruder
des Mädchens mitteilen zu dürfen; ein Nachdenken über mögliche Konse-
quenzen wird in der Erzählung nicht ersichtlich.
Der mittlere Bruder verlässt das Jugendzentrum. Daraufhin kommt der
ältere Bruder des Mädchens, nachdem Bert Twellbeck diesen angerufen hat-
te, und erzählt ihm, dass der mittlere Bruder seine Schwester geschlagen
habe, weil das Mädchen den Familienkonflikt dem Jugendzentrum, d.h. Bert
Twellbeck, mitgeteilt habe. Bert Twellbecks Reaktion: "also zu der Sache
weiß ich noch nichts, aber ich weiß das dein Vater ... sag ich das hat keinen
Sinn das die nicht im Moment nicht brav ist, sondern komm mal hier her, da
müssen wir mal einiges klären, das es so nicht geht selbst wenn die Tochter
Schwierigkeiten bereitet das es andere Wege geben muss". Bert Twellbeck
erwähnt nicht, dass er mit daran beteiligt war, vielleicht sogar ursächlich das
Schlagen des Bruders zu verantworten hat, denn es ist er, der den mittleren
Bruder die ihm von dem Mädchen zur Verfügung gestellten Informationen
über den Familienkonflikt mitgeteilt hat. Ebenso auffällig ist, dass Bert
Twellbeck wiederum nicht nach dem Befinden des Mädchens fragt, zumin-
dest dies nicht erwähnt. Auch auf die durch das Schlagen des mittleren Bru-
ders veränderte und U.u. sich für das Mädchen zuspitzende Situation geht
156 Cornelia Schweppe

Bert Twellbeck nicht ein und bleibt bei seinen folgenden Überlegungen unbe-
rücksichtigt. Er hält an der o.g. Idee fest, durch eine Art rationalen Appell an
die Familie die Übergriffe des Vaters zu unterbinden.

Weitere Vorstellungen der Problembearbeitung: ,Das Mädchen solr


wieder brav werden'

Entsprechend der vorgenommenen Problemanalyse bleiben seine Interventi-


onsvorstellungen jedoch nicht bei diesen rationalen Appellen an die Familie
stehen, sondern ein weiterer Teil bezieht sich auf das Mädchen und die Schwie-
rigkeiten, die es bereitet. Bert Twellbeck sagt zum älteren Bruder: "wir sehen
auch das Problem mit dem Mädchen das man da reagieren muss und deswegen
haben wir ja auch schon mit dem sozialen Dienst telefoniert und das wir sagen
wir können so ne Art runder Tisch also die Familie oder der Vater und er als
ältere Bruder als Übersetzer, das Mädchen, uns zusammen mit dem Sozialen
Dienst und so bestimmte Regeln halt ausarbeiten ... die Jugendliche ist erst 14
also muss teilweise schon versuchen ihr begreiflich zu machen sie muss auf die
Schule gehen und wenn die Eltern sagen grad als ne türkische Familie du hast
nur bis 10 Uhr Ausgang was eigentlich auch relativ lang ist für Mädchen in ner
türkischen Familie vielleicht daran zu halten ". So wie dem Vater bestimmte
Regeln verdeutlicht werden sollen (nicht übergriffig zu werden), sollen auch
den Schwierigkeiten, die das Mädchen bereitet, durch die Setzung von Regeln
begegnet werden, die darin bestehen, dass das Mädchen zur Schule gehen und
die Vorschriften der Eltern befolgen soll. Dadurch will er das Mädchen wieder
"brav" machen. Das Brechen der Regeln durch die Jugendliche soll durch
Regelbefolgung ersetzt werden, d.h. durch Verhaltensanpassung an vorgegebe-
ne Regeln und Normen. In Bert Twellbecks Logik wird gerade das Akzeptieren
der Ausgangsregeln der Eltern auf dem Hintergrund seiner klischeehaften Vor-
stellungen der von ihm für eine türkische Familie recht liberal eingeschätzten
Vorschriften umso nachvollziehbarer.
Warum Bert Twellbeck dem Bruder seine Interventionsvorstellungen
mitteilt, erklärt er in der Erzählung nicht. Möglicherweise versucht er über
ihn, sie an die Familie zu vermitteln oder ihn an der Ausführung der inten-
dierten Interventionen zu beteiligen.
So wie bei der Problemanalyse wird in der Erzählung hinsichtlich der
Entwicklung des "Interventionsplans" eine kommunikative Verständigung
mit dem Mädchen bzw. dessen Familie nicht ersichtlich. Ihre Perspektiven
bleiben außer Acht.
Wie handeln Sozialpädagoglnnen? 157

Der ältere Bruder als Koalitionspartner und der Schutzauftrag der


Institution

Der ältere Bruder verabschiedet sich von Bert Twellbeck. Bert Twellbeck teilt
ihm noch mit, dass er noch mal anrufen solle, ob "das daheim glatt geht", d.h.
ob nichts passiert, und fügt hinzu, dass, sollte "der Vater das nicht einsehen",
d.h. dem Mädchen keine Gewalt mehr zuzufügen, "dann ist für uns ganz klar,
dass wir die Polizei rufen werden, und sie dann abgeholt wird und in ein Ju-
gendheim muss, also in der Nacht zumindest". Während bei der Mitteilung
seines Interventionsplanes an den Bruder dessen Rolle unklar blieb, wird er nun
fast zum Verantwortlichen für den weiteren Verlauf der Bearbeitung des Falles,
und zwar in mehrfacher Hinsicht. Die Mitteilung an den Bruder impliziert eine
Art Drohung, die lautet könnte: ,Wenn die Übergriffe des Vaters nicht unter-
bunden werden, dann wird deine Schwester durch die Polizei abgeholt und
kommt in ein Heim'. Dadurch beteiligt Bert Twellbeck den Bruder zum einen
zumindest indirekt an der intendierten Gewaltabwendung des Vaters. Zum
zweiten hängt es von der Information des Bruders ab, ob es zu Hause "glatt
geht" oder nicht, ob Bert Twellbeck die Polizei anruft und das Mädchen in ein
Heim kommt. Damit überträgt er dem Bruder die Entscheidung, ob die Situati-
on zu Hause als "glatt" einzuschätzen ist als auch die Entscheidung, dies Bert
Twellbeck mitzuteilen oder nicht. Bert Twellbecks weiteres Vorgehen ist somit
stark vom Bruder abhängig, das jedoch in der o.g. Alternative Polizei und
Heim oder nichts machen gefangen bleibt und offensichtlich nicht vorsieht,
beim etwaigen erneuten Übergriffen sich zunächst die spezifische Situation an-
zuschauen, um Interventionen entsprechend zu entwickeln. Diese stehen schon
vor der eingetretenen Situation fest.
Bert Twellbeck begründet, warum er im wiederholten Falle der Gewalt-
anwendung die Polizei einschalten würde: "also ich sag da haben wir einen
Schutzauftrag also das dem Mädchen heut Nacht nix daheim passieren darf".
Sein Handeln wird hier durch den institutionellen Auftrag seiner Institution,
d.h. die Sicherstellung des Schutzauftrages, damit ihm bzw. seiner Institution
kein Versäumnis vorgeworfen werden kann, geleitet. Ebenso fällt die zeitli-
che Begrenzung (heute Nacht) auf, wann dem dem Mädchen nichts passieren
darf. Begründet sich dies dadurch, dass Bert Twellbeck heute von dem Vor-
fall erfahren hat, wodurch er heute den Schutzauftrag dem Mädchen gegen-
über erfüllen muss? Ist Bert Twellbeck morgen nicht mehr zuständig? Viel-
leicht liegt es auch in diesem Schutzauftrag begründet, dass er dem Fall in
seinen anfänglichen Überlegungen durch das Einschalten von Jugendamt
oder Polizei bzw. der Unterbringung in einem Heim begegnen will. Dass er
im o.g. Zitat hinsichtlich des Einschaltens des Sozialen Dienstes sagt, er
wollte den Vorfall dort "registrieren", könnte diese Lesart unterstreichen.
Indem er den Fall dort bekannt macht, kann er sich zumindest der alleinigen
Verantwortung hinsichtlich seines Schutzes entziehen. Das würde bedeuten,
158 Cornelia Schweppe
dass auch die anfängliche Darstellung seines Handeins durch den Schutzauf-
trag seiner Institution geleitet war und könnte u.u. erklären, warum er weni-
ger aus der Analyse der spezifischen Situation notwendig erscheinende Inter-
ventionsmöglichkeiten entwickelt, denn es geht weniger um die Frage, was
im vorliegenden Fall sinnvoll ist, sondern vielmehr darum, wie der Schutz-
auftrag der Institution abgesichert werden und ihr und ihm kein Versäumnis
vorgeworfen werden kann.

Die Jugendliche lehnt Bert Twellbecks Interventionsvorstellungen ab

Bert Twellbeck erzählt dann, dass er dem Mädchen am nächsten Tag mitge-
teilt habe, was sie" vorhaben ", nämlich die Organisation des o.g. ,runden
Tisches'. Aber die Jugendliche" lehnt ab", und zwar meint Bert Twellbeck
aus folgenden Gründen: "sie möchte nicht weil sie natürlich halt auch sehen
würd, äh das für sie auch bestimmte Auflagen raus, also Auflagen nicht in
dem Sinne dass sie gezwungen würd in die Schule zu gehen das kann sie eh
niemand aber, äh ja das vielleicht dann auch da ein bisschen geguckt wird
oder so. " Bert Twellbeck unterstellt dem Mädchen seinen Interventionsplan
zu durchschauen und ihn deshalb ablehnt, weil es die damit verbundenen
Regeln und Kontrollen nicht wolle. So wie sie die Hilfsangebote in der
Schule ablehnt, lehnt sie nun auch das Hilfsangebot des Jugendzentrums ab.
Bert Twellbeck verlagert somit die Gründe des Nicht-Zustandekommens sei-
nes Interventionsplanes auf das Mädchen, das sich offensichtlich allen (gut
gemeinten) Hilfsangeboten entzieht. Allerdings scheint die Erklärung der Ab-
lehnung des Mädchens wieder auf Bert Twellbecks eigenen Erklärungsmu-
stern zu basieren, denn auch hier scheint er das Mädchen selbst nicht nach
ihren Gründen der Ablehnung zu fragen, zumindest erwähnt er dies nicht in
seiner Erzählung. Die Ablehnung des Mädchens wird aus der eigenen Sicht
dargestellt.

Bert Twellbecks Rat- und Hilflosigkeit

Nachdem der von Bert Twellbeck entwickelte Vorschlag bei dem Mädchen
auf Ablehnung trifft, sagt er: "wie das jetzt weitergeht weiß man auch nicht".
Bert Twellbeck bringt hier Rat- und Hilflosigkeit zum Ausdruck. Er entwik-
kelt ein Hilfsangebot, das jedoch auf Ablehnung des Mädchens stößt. Dies
zur Folge hat, dass Bert Twellbeck nicht weiß, wie es weitergehen soll. Die
Diskrepanz, dass das Mädchen offensichtlich nicht das gleiche will wie Bert
Twellbeck, führt zu Rat- bzw. Hilflosigkeit.
Bert Twellbeck sagt dann, dass man ihr ,jetzt nur noch so ein Gespräch
anbieten könne', in dem ihr klar gemacht werden solle, dass, wenn sie weiter
nicht zur Schule gehe, sie ,vor das Jugendamt gezogen würde': "Das ist ganz
Wie handeln Sozialpädagoglnnen? 159

logisch" und ,die Eltern 'ne saftige Geldstrafe bekämen und wenn das auch
nicht funktioniere Arbeitstunden kriegen würde'. Bert Twellbeck will etwas
klar machen, d.h. er geht davon aus, dass dem Mädchen die Konsequenzen,
die das Schuleschwänzen haben, nicht klar sind. Sind ihr diese klar, so Bert
Twellbecks Logik, gäbe es Chancen, dass sie das Schuleschwänzen unterlie-
ße bzw. zumindest bereit wäre, Hilfsmaßnahmen anzunehmen. Auffallend ist
auch, dass die Konsequenzen, auf die Bert Twellbeck das Mädchen aufmerk-
sam machen will, auf der Annahme basieren, dass das Schuleschwänzen
weitere abweichende Karrieremuster zur Folge hat. Er geht von einem allge-
mein gültigen Karrieremuster aus, nach dem ein Regelverstoß, in diesem Fall
das Schuleschwänzen, in einen abweichenden Lebensverlauf mündet. Hier-
unter subsumiert er auch den Lebensverlauf des Mädchens. So gesehen kon-
struiert er eine Problemdefinition im vorliegenden Fall, die aus dem Messer-
stich, der dem Mädchen zugefügt wird, die schwierige Jugendliche macht,
die die Schule schwänzt, und das Schuleschwänzen möglicherweise der Be-
ginn einer abweichenden Karriere ist.
Um diesen Werdegang des Mädchens zu verhindern, meint Bert Twell-
beck, sei es besser dem vorzubeugen, aber "man kann Jugendliche ja nicht
dazu zwingen". Dass man Jugendliche nicht zu etwas zwingen kann, signali-
siert Bert Twellbecks Dilemma. Er entwickelt, ohne dass aus der Erzählung
die Beteiligung der Betroffenen ersichtlich wird, ein Hilfsangebot, von dem
er ausgeht, dass es eine Verbesserung der Situation herbeiführen kann, das
jedoch von der Jugendlichen abgelehnt wird. Diese Ablehnung führt nicht zur
Überprüfung des entwickelten Hilfsangebotes oder zur Entwicklung von
Alternativen, sodass Bert Twellbeck nur auf das bereits entwickelte Angebot
zurückgreifen kann, von dem er jedoch ausgeht, dass die Annahme nicht er-
zwungen werden könne. Indem Bert Twellbeck nur auf ein Hilfsangebot zu-
rückgreifen kann, das entweder angenommen oder abgelehnt wird, werden
ihm seine Handlungsmöglichkeiten im Falle einer Ablehnung entzogen. In-
dem Bert Twellbeck sagt: "da stehst du erstmal da und man sagt das ist
eigentlich doch ganz klasse wenn jemand so ein Angebot kriegt oder so aber
das ist erst mal nicht so das die Jugendlichen das so sehen und das ist das
Schwere auch glaub ich in der offenen Jugendarbeit oder auch zu lernen das
muss man erst mal so akzeptieren, wir können Jugendlichen nicht zu etwas
zwingen" wird dieses Dilemma noch mal besonders deutlich. Allerdings
kommen auch Hilflosigkeit und Unverständnis zum Ausdruck, die sich dar-
aus erklären, dass Bert Twellbeck von der Richtigkeit und Angemessenheit
des von ihm entwickelten Angebots überzeugt ist und er nicht nachvollziehen
kann, dass ein Hilfsangebot, das auf die Abwendung von Lebensschwierig-
keiten der Jugendlichen angelegt ist, nicht angenommen wird. Hilflosigkeit
und Unverständnis erklären sich letztendlich dadurch, dass ,die Jugendlichen
das nicht so sehen wie er selbst'. Bert Twellbeck meint, lernen zu müssen,
diese Ablehnungen zu akzeptieren und dass die von ihm entwickelten Hilfs-
angebote nicht erzwungen werden können. Der Umgang mit den Ablehnun-
160 Cornelia Schweppe
gen der Jugendlichen zielt somit nicht auf die Reflexion der Ablehnungen
oder eine reflexive Wende und Überprüfung des eigenen Handeins, sondern
auf die unhinterfragte Akzeptanz der Ablehnungen. So gesehen verhindert
die Annahme, man müsse lernen, die Ablehnungen zu akzeptieren, sowohl
die Entwicklung von neuen Handlungsperspektiven als auch die Überprüfung
oder Veränderung bisherigen Handeins. Denn das o.b. Vorgehen, in dem Bert
Twellbeck ein Angebot entwickelt, ohne dass dabei aus der Erzählung die
Beteiligung der Jugendlichen ersichtlich wird, und das im Falle der Ableh-
nung dieses Angebotes zur Handlungsstagnation führt, wird durch die un-
hinterfragte Akzeptanz von Ablehnungen gerade nicht hinterfragt. Den Kreis-
lauf der durch die Erfolglosigkeit seines Tuns erzeugten Gefühle der Hilflo-
sigkeit und des Unverständnisses sowie die Diskrepanz zwischen seinen Vor-
stellungen und dem Verhalten der Jugendlichen kann Bert Twellbeck nicht
durchbrechen. Da die Akzeptanz der Ablehnung nicht auf die Reflexion der
Ablehnung und des entwickelten Hilfsangebotes zielt, birgt dies darüber
hinaus die Gefahr in sich, die Ursachen für das Scheitern der Intervention als
auch für eine mögliche Problemstagnation oder -verschärfung den Adreassa-
tInnen zuzuweisen, denn nach diesem Erklärungsmodell sind es nicht die
entwickelten Interventionsmodalitäten, die zum Scheitern der Intervention
geführt haben, sondern die Adressatinnen, die das auf ihre Lebensverbesse-
rung zielende Angebot nicht annehmen. Schließlich kann das Akzeptieren der
Ablehnungen auch das Zurückgeworfensein der Adressatinnen auf sich selbst
zur Folge haben, da die Ablehnung bzw. das Scheitern von Maßnahmen die
Hilflosigkeit hinsichtlich der Entwicklung weiterer oder veränderter Maß-
nahmen nach sich zieht.
Bert Twellbeck sagt, dass der "glücklichste Fall wäre, wenn die Jugend-
lichen das machen würden, was wir für gut heißen ". Auf dem Hintergrund,
dass in jenem Fall, ,wenn die Jugendlichen nicht das machen, was wir für gut
heißen', die O.g. Gefühle der Frustration, des Unverständnisses, der Erfolglo-
sigkeit und Hilflosigkeit erzeugt werden, ist dies in Bert Twellbecks Logik
nachvollziehbar. "Wenn die Jugendlichen das machen würden, was wir für
gut heißen" würde bedeuten, dass er das in der Erzählung immer wieder
angeklungene Vorgehen, nämlich die Entwicklung von Interventionsstrategi-
en auf der Basis eigener Problemdefinitionen und eigener Problemlösungen,
unverändert fortsetzen könnte, ohne dass dies allerdings mit den o.g. nega-
tiven Gefühlen verbunden wäre, die durch die Ablehnung von Hilfsangeboten
durch die Adressatinnen hervorgebracht werden, denn nach diesem Modell
machen die Jugendlichen das, was die SozialarbeiterInnen für gut heißen und
lehnen ihre Hilfsangebote nicht ab. Das ideale Modell sozialpädagogischen
Handeins besteht für Bert Twellbeck in einem (Experten)handeln, nach dem
SozialarbeiterInnen die Rolle zugewiesen wird zu wissen, was gut für die
Adressatinnen ist und die Adressatinnen in die Rolle gedrängt werden, das
auszuführen, was die SozialarbeiterInnen für sie entwickelt haben. Eine dia-
logische Verständigung zwischen SozialarbeiterIn und Adressatin entfällt.
Wie handeln Sozialpädagoglnnen? 161

Zusammenfassung

Fasst man Bert Twellbecks Erzählung zusammen, lassen sich vor allem fol-
gende Aspekte herauskristallisieren. Bert Twellbeck nimmt in seiner Erzäh-
lung eine Problemdefinition vor, in der aus dem Mädchen, dem Leid zuge-
fügt wird, ein Mädchen wird, das Schwierigkeiten gebreitet und welches
letztendlich hierdurch das ihm zugefügte Leid zu verantworten hat. Der
Übergriff des Vaters wird als Reaktion auf das ,,Problememachen" des Mäd-
chens interpretiert. Das ,,Problememachen" des Mädchens wird LW. als Bre-
chen gesellschaftlich positiv sanktionierter Normalitätsmuster definiert. Die
Berücksichtigung von Bedingungen der Lebensumwelt wird bei der Pro-
blemdefinition kaum erkennbar. Angesichts der getroffenen Problemdiagnose
wird es vielleicht nachvollziehbar, dass Bert Twellbeck an keiner Stelle des
Interviews die Befindlichkeiten des Mädchens erwähnt und die Folgen und
Bedeutung des Messerstichs für das Mädchen weitgehend unberücksichtigt
lässt. Denn würde er sich mit den Befindlichkeiten des Mädchens beschäfti-
gen, müsste der Blickwinkel auf die Situation geändert, zumindest erweitert
werden. Aus dem Schwierigkeiten bereitenden Mädchen könnte ein Mädchen
werden, das eigene Gefühle, Belastungen oder Schmerz zum Ausdruck
bringt, was Bert Twellbecks bisheriges Gedankengerüst aber deutlich irritie-
ren könnte. Er müsste sich mehr mit den Problemen, die dem Mädchen zuge-
fügt werden und den Problemen, die für das Mädchen dadurch entstehen,
beschäftigen, anstatt auf die Schwierigkeiten, die das Mädchen bereitet, zu
fokussieren.
Hinsichtlich der Problemdefinition und -analyse werden in der Erzählung
weder genauere Informationen über den Hergang oder die Verursachung des
Problems noch Prozesse der kommunikativen Verständigung mit dem Mäd-
chen oder seinen Familienmitgliedern erkennbar. Die subjektive Sicht des
Mädchens bzw. seiner Familie auf das entstandene Problem bleibt außer
Acht. Die Erzählung schließt nicht aus, dass Bert Twellbeck die Problemdefi-
nition und -analyse auf bruchstückhaften Informationen, die ihm über die Le-
benssituation des Mädchens schon vor dem eingetretenen Vorfall zur Verfü-
gung stehen, basiert. Diese setzt er durch den Rückgriff auf alltagsweltliche
Erklärungsmuster, Generalisierungen und Klischees zu einer Problemdefini-
tion zueinander in Beziehung. Die Problemanalyse bleibt dadurch nicht nur
in seiner eigenen Sicht und im Spekulativen verhaftet, sondern läuft auch die
Gefahr, seine Interventionsvorstellungen kaum auf die konkrete Situation be-
ziehen zu können. Veränderungen der Situation, die Z.B. durch das Schlagen
des Bruders entstanden sind, verändern seine ursprünglich gestellte Problem-
definition nicht.
Hinsichtlich der Problembearbeitung greift Bert Twellbeck in seiner Er-
zählung im Wesentlichen auf zwei Mittel zurück. Ein Mittel besteht in der
Beteiligung anderer bzw. der Übertragung der Verantwortung auf andere: auf
162 Comelia Schweppe

den Sozialen Dienst bzw. die Polizei oder den älteren Bruder. Obwohl die
Regeln, die die Suche nach Dritten leiten, nicht immer ganz deutlich werden,
ergeben sie sich im Hinblick auf den Sozialen Dienst und die Polizei auch
aus institutionellen Erwägungen, nämlich die Sicherstellung des Schutzauf-
trages des Jugendzentrums und im Hinblick auf den älteren Bruder aufgrund
seiner guten Deutschkenntnisse aus pragmatischen Gründen. In beiden Fällen
ergibt sich somit die Suche nicht unbedingt aus den Notwendigkeiten bzw.
Eigenheiten der vorgefundenen Situation.
Zum zweiten greift Bert Twellbeck auf das Mittel rationaler Appelle und
das Setzen von Regeln zurück. Sie zielen auf die individuelle Verhaltensver-
änderung und Verhaltensanpassung an jene gesellschaftlichen Normalitäts-
muster, die die Klientin bzw. der Vater durchbrochen haben und Bert Twell-
beck als Kern der Problemverursachung ansieht. Bedingungen der Lebens-
umwelt bleiben unberücksichtigt und unberührt.
So wie bei der Problemdefinition keine kommunikative Verständigung
mit den AdressatInnen zu erkennen ist, wird bei den Vorstellungen hinsicht-
lich der Problembearbeitung in der Erzählung eine Auseinandersetzung und
eine dialogische Verständigung mit den AdressatInnen nicht sichtbar. Ihnen
wird im Prozess der Problembearbeitung die Rolle des Befolgers der von
Bert Twellbeck entwickelten Intervention zugewiesen. Übernehmen sie diese
Rolle nicht, d.h. lehnen sie die geplante Intervention ab, führt dies bei Bert
Twellbeck zu Unverständnis, Hilflosigkeit und Ratlosigkeit hinsichtlich wei-
terer Interventionen. Im Umgang mit diesen Gefühlen entwickelt er eine
Strategie, die die Reflexion des eigenen Handeins be- und verhindert und die
Gefahr in sich birgt, die Gründe von gescheiterten Interventionen den Adres-
satinnen zuzuschreiben.

Zwischen Bevormundung, Standardisierung und


Generalisierung: Der Prototyp eines Unprofessionellen?

Fragt man nach den allgemeinen Mustern, die in der Erzählung dargestellten
Handlungspraxis zum Tragen kommen, lässt sich sagen, dass die vorgefunde-
nen und zu bearbeitenden Situationen und Problemkonstellationen wenig in
ihrer jeweiligen Singularität beschrieben und analysiert werden, sondern hierzu
auf fallunabhängige, alltagsweltliche, generalisierende und z.T. klischeebehaf-
tete Erklärungs- und Deutungsmuster zurückgegriffen wird, unter die der kon-
krete Fall subsumiert wird. Eine dialogische Verständigung mit den Adressa-
tInnen ist wenig erkennbar. Kompetenzen, das Wissen und die Perspektiven der
AdressatInnen kommen kaum zum Tragen. Die beschriebene Beziehungsstruk-
tur zwischen SozialpädagogIn und Klientln ist hierarchisch, in der die Sozial-
pädagogIn vorgibt, wie was zu erklären, was zu tun und was richtig ist. Eine
Wie handeln Sozialpädagoglnnen? 163
Perspektivenpluralität bei den entwickelten Erklärungs- und Deutungsmustern
und Interventionsstrategien lässt sich nicht erkennen. Den AdressatInnen wird
die Rolle des Befolgers der entwickelten Maßnahmen zugewiesen. Falls sie
diese Rolle nicht übernehmen, bleibt ihnen die Zurückweisung der Maßnahmen
als Alternative.
Die entwickelten Maßnahmen werden kontextunabhängig und individua-
listisch verkürzt beschrieben. Sie basieren auf Problemdefinitionen, die erfah-
rene Problemlagen und Leidensprozesse den AdressatInnen durch das Bre-
chen gesellschaftlich sanktionierter Normalitätsmuster anlasten und welche
durch das Setzen von Regeln, die sich an gesellschaftlich definierten Norrna-
litätsentwürfen orientieren, behoben werden sollen. Bei der Beschreibung der
Entwicklung und Durchführung der Maßnahmen werden mitlaufende Prozes-
se der Selbstthematisierung und Eigenkontrolle wenig erkennbar. Das Schei-
tern von Maßnahmen führt auf Seiten des Sozialpädagogen zur Akzeptanz
ihrer Erfolglosigkeit und ist mit Gefühlen von Hilflosigkeit, Frustration und
Unverständnis verbunden; auf Seiten der AdressatInnen kann es das Zurück-
geworfensein auf sich selbst zur Folge haben.
Wenn, wie am Anfang des Aufsatzes ausgeführt, die theoretisch geführte
Professionalisierungsdebaue aufgrund der Entstandardisierung und Offenheit
der Sozialen Arbeit die Notwendigkeit des situativen Aushandelns und die
Bedeutung von Interaktion und Kommunikation und aufgrund der vielfälti-
gen Ambivalenzen, Riskanzen und potenziellen Fehler die Bedeutung einer
reflexiven Professionalisierung konstatiert, so scheint sich dies auf der empi-
rischen Ebene anhand des Falles Bert Twellbeck quasi ins Gegenteil zu keh-
ren. Bevormundung und Standardisierung treten an die Stelle situativen Aus-
handeins und der dialogischen Verständigung und die Orientierung an unref-
lektierten und nicht hinterfragten Generalisierungen an die Stelle von Refle-
xion. Nicht das Ansetzen an den jeweiligen subjektiven, individuellen und
sozialen Ressourcen und Potenzialen und dem je eigenwilligen Lebensent-
wurf, um selbstbestimmte und autonome Lebenspraxen zu ermöglichen, steht
im Vordergrund, sondern das Einpassen in gesellschaftlich definierte Norma-
litätsentwürfe, das im Falle des Scheiterns oder der Zurückweisung zum
Alleingelassenwerden der AdressatInnen führen kann.
Welche Bedeutung diese Diskrepanzen zwischen Theorie und Empirie
für die weitere Professionalisierungsdebatte innerhalb der Sozialen Arbeit
haben könnte und inwieweit die anhand des Falles Bert Twellbeck darge-
stellte berufliche Praxis ein Nachdenken über die bisherige Aus- und Weiter-
bildung der Sozialen Arbeit herausfordert, sind Fragen, die sich aus diesem
Fall für die Soziale Arbeit stellen.
164 Cornelia Schweppe

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Klaus Kraimer

Zwischen Disziplin und Profession


Ein Beitrag zur fallrekonstruktiven Erforschung der
professionalisierten Praxis am Beispiel der "Hilfen zur
Erziehung"
"Was also bleibt der Sozialpädagogik, die nicht
den Anspruch, Pädagogik zu sein, aufgeben will,
anderes übrig, als brav zu sein~ und den ihr zu-
gewiesenen Seiltanz zwischen Hilfe und Kontrol-
le möglichst elegant und ohne Absturz aufzufüh-
ren; bzw. als Theorie die Aufgabe zu überneh-
men, die Möglichkeiten der ,Bewältigung struk-
turell diffuser Handlungsanforderungen' zu be-
denken" (HörsterIMüller 1996, S. 615; Hervor-
hebung, K.K.).

1. Einleitung

In diesem Beitrag wird am Beispiel des Praxisfeldes der "Hilfen zur Erzie-
hung" ein fallrekonstruktives Verfahren vorgestellt. Dieser Zwischenbericht
aus einem laufenden Forschungsprojekt soll einen Einblick in die qualitativ-
rekonstruktive Forschungspraxis geben, die von Fall zu Fall voranschreitet.
Zugleich soll die Bedeutung der notwendigen Verinnerlichung theoretischer
Wissensbestände und professionstheoretischer Ideale für eine gelingende so-
zialpädagogische Praxis deutlich werden.
Um die Ausgangsposition zu bestimmen, die den theoretischen Hinter-
grund für dieses Projekt zur Erforschung der professionalisierten Praxis bil-
det, wird zunächst die zugrunde liegende Sichtweise auf die Struktur der So-
zialpädagogik l als Disziplin und als Profession dargelegt.
Die disziplinäre Ebene der theoretischen Sozialpädagogik ist dabei durch
ein Spannungsfeld zwischen dem Dabeisein (dem geistigen Schauen) und der
Abstraktion, in der ein Praxisgeschehen theoretisch durchdrungen wird, ge-
kennzeichnet. Der Forschung kommt eine reflexive Aufgabe zu, in welcher
Erkenntnisse über die Erziehung und deren Störung systematisch zueinander
in Beziehung gesetzt werden.
Die theoretische Perspektive wird dabei beispielsweise auf das Phäno-
men typischer Störungen der Erziehung fokussiert und zielt auf die Rekon-
struktion von Maßnahmen der sozialpädagogischen Praxis (Profession), um
eine je aktuell werdende Vollzugsform - etwa die der Ausgestaltung von

Die Sozialpädagogik wird als eigenständiger - vorrangig auf Bildung und Erziehung bezo-
gener - Zweig der Sozialen Arbeit verstanden.
168 Klaus Kraimer

,,Hilfen zur Erziehung" - transparent werden zu lassen. In dieser Praxis bil-


den sich, worauf auch das Eingangszitat verweist, empirisch nachweisbar
strukturell diffuse Handlungsanforderungen ab. Deren professionelle Bear-
beitung ist oftmals durch ,,hausgemachte" institutionelle Bedingungen noch
zusätzlich erschwert, wie in dem hier vorgestellten Analysebeispiel gezeigt
wird (Abschnitt vier). Dabei stehen die äußere Organisation und die innere
Ausgestaltung des Aufwachsens in den Maßnahmen der ,,Hilfen zur Erzie-
hung" in einem doppelten Spannungsverhältnis zwischen den Polen der pri-
vaten und der öffentlichen Erziehung und denen von Theorie und Praxis.

2. Sozialpädagogisches Handeln im Spannungsfeld von


Theorie (Disziplin) und Praxis (Profession)

Sozialpädagogik als ,,Pädagogik an ihren Brennpunkten" bedeutet "die erzie-


herisch gemeinte Antwort auf gesellschaftlich bedingte, neu auftauchende,
bisher nicht bekannte und bisher noch nicht bewältigte Notstände von Kin-
dern und Menschen aller Lebensalter" (Siegel 1981, S. 195). Antworten sind
von Fall zu Fall zu geben, wobei das Vertrauen in die Bildsamkeit charakteri-
stisch für die sozialpädagogische Perspektive ist. Hilfen zur Unterstützung
der Autonomiefindung resultieren daraus. Antworten auf gesellschaftliche
Mangelzustände, die sich historisch wandeln, haben in den sozialpädagogi-
schen Handlungsfeldern beharrlich einen erzieherischen, auf den Fall und die
Theorie bezogenen Charakter.
,,Brennpunkte des Sozialen" liegen beispielsweise in schwierigen Le-
bensverhältnissen vieler Kinder und Jugendlicher und deren Familien, die so-
zialstrukturell benachteiligt sind; dies determiniert soziale Ungleichheitsla-
gen, Defizite in der Sinnbildung, in der Handlungssicherheit und in der mate-
riellen Sicherheit. Solchermaßen schlechte Voraussetzungen ergeben eine
"beschädigte" oder gestörte Lebenspraxis. Dies gilt insbesondere in so ge-
nannten sozialen Brennpunkten, in denen das Soziale auf Grund einer ,,Bün-
delung von Mangelzuständen" Gefahr läuft zu verkümmern und in gestörten
Ausdrucksgestalten des Sozialen, z.B. in der sog. Hyperaktivität oder Ag-
gressivität, deren Behandlung medizinisch wie psychologisch versagt (vgl.
Czerwenka 1993). Mängel in der .~inn- und Verständigungsbildung entstehen
somit im Rahmen der sozialisatorischen Interaktion, der subjektiven Aneig-
nung des Sozialen, etwa im Verlauf des Spracherwerbs, in Form einer unzu-
reichenden kulturellen Teilhabe, aber auch in der Interventionspraxis einer
"nachgehenden" Kommunikation wie den "Hilfen zur Erziehung".
Die Disziplin der Sozialpädagogik hat in der Rekonstruktion des Sozialen
und in der Analyse der sozialpädagogischen Praxis ihr Erkenntnisfeld, wobei
das Erkenntnisinteresse nicht in der Konstruktion einer künftigen Praxis,
Zwischen Disziplin und Profession 169

sondern in der Aufschließung zentraler Strukturmerkmale des jeweils unter-


suchten Phänomens liegt. Aufgaben der Theoriebildung bestehen darin, durch
eine extensive Ausarbeitung von Modellen Formen einer "gelingenden" Er-
ziehung und Bildung zu zeigen. Diese Modelle - die "ins Sachhaltige gelei-
ten" (Adorno 1992, S. 10) - sind u.a. das Ergebnis rekonstruktiver Analysen
einer praktischen Erziehungs- und Bildungstätigkeit.
Modelle sind dabei keine einfachen allgemeinen Erläuterungen, sondern
bieten eine Repräsentation von Wissensbeständen. Erziehungs- und Bil-
dungsprozesse sollen so dargestellt werden, dass strukturelle und dynamische
Aspekte dieser komplexen Problembereiche repräsentiert sind, die es den An-
gehörigen von Disziplin und Profession ermöglichen, zentrale Sachverhalte
mental zu simulieren und interne Modelle aufzubauen. Dies unterstützt die
Profession in ihrer Aufgabe, beispielsweise die ,,Hilfen zur Erziehung" so zu
gestalten, dass die Autonomie einer kindlichen, juvenilen oder familialen Le-
benspraxis gefördert werden kann.
Inspiriert ist professionelles Handeln bzw. dessen Vor-Bildung im Studi-
um durch die Teilgebung an der Forschung, die in der Einheit mit der Lehre
die zentrale Aufgabe in der Hochschule zur Vermittlung von Wissen ist.
Ebenso trägt die Einübung in die berufliche Kunstlehre, die etwa in der Form
einer Forschungswerkstatt geleistet werden kann, dazu bei (vgl. z.B. Kraimer
1998). In der Forschungswerkstatt lässt sich eine Verbindung von Kompeten-
zen herstellen, die das professionelle Handeln determinieren: Dieses besteht
in einer strukturtheoretischen Perspektive (vgl. Oevermann 1981, 1996) aus
dem ambivalenten Nebeneinander zweier grundlegender Kompetenzen -
nämlich der Beherrschung eines wissenschaftlich fundierten Regelwissens
mit der dazugehörenden Befähigung zur Einschätzung von Theorien und der
hermeneutischen Kompetenz zur verstehenden Deutung eines Einzelfalls.
Das professionelle sozialpädagogische Handeln in einer praktischen Inter-
vention resultiert somit aus theoretischen Wissensbeständen und aus Kennt-
nissen, die aus der methodisch kontrollierten Aufschließung einer je konkreten
Lebenspraxis resultieren. Professionelle Hilfe soll angemessene Antworten auf
sozialstrukturell-sozialisatorisch sowie erzieherisch determinierte Lebenspro-
bleme geben, die eine autonome Lebensbewältigung behindern. In vielen Fel-
dern der professionalisierten Praxis erweist sich dabei die Notwendigkeit einer
aufgabenspezifischen Professionalisierung (vgl. Dewe u.a. 1992).
170 Klaus Kraimer
Schaubild 1: Habitusbildung
Habitusbildung
in dem Spannungs verhältnis zwischen

W issenschajtlichen Professionellen
Erkenntnissen Eifordemissen

Kompetenz des Kompetenz des


Theorie- Verstehens ." Fall- Verstehens
Ziele:
Kompetenzerwerb auf Grundlage von strukturierten und begründeten
Deutungsangeboten der Disziplin etwa in Form extensiv ausgearbeiteter
Modelle
Übersetzung spezialisierten und abstrakten Theoriewissens
in konkrete lebenspraktische Situationen durch die stellvertretende Deutung
von Ausdrucksgestalten

Eine grundsätzliche Professionalisierungsbedüiftigkeit der Sozialen Arbeit


zeigt sich besonders in der Tendenz zu einer unkontrollierten Therapeutisie-
rung (vgl. Schaeffer 1992), in der Verletzung der Autonomie der Lebenspra-
xis (vgl. Ackermannl Owczarski 2000) und der in diesem Beitrag aufgezeig-
ten Tendenz zur Bürokratisierung sozialpädagogischen Handelns. Das sozial-
pädagogische Handlungsfeld der ,,Hilfen zur Erziehung" steht dabei auf der
Ebene der institutionalisierten Erziehung in den Spannungsfeldern von
Anamnestik und Diagnostik sowie zwischen wissenschaftlichen und fallspe-
zifischen Anforderungen (vgl. Schaubild 2).

Schaubild 2: FallrekonstruktivesVorgehen im "Fadenkreuz" von Diszi-


plin und Profession!Anamnestik und Diagnostik
Diszplin (Forschung)

re konstruktives
Anamnestik Diagnostik
Vorgehen

I
Profession (Praxis)

Die Reaktion auf die objektiv gegebene ,,Erziehungstatsache" (Bemfeld) er-


fordert die systematische Anamneseerhebung sowie die Entwicklung einer
Diagnose, die in der Profession - im Unterschied zur Disziplin - eine Inter-
vention unter lebenspraktischem Handlungsdruck systematisch begründet
Zwischen Disziplin und Profession 171

und in der Disziplin - im Unterschied zur Profession - einen Sachverhalt oh-


ne Handlungsdruck systematisch aufschließt. Um den Handlungsdruck in der
Erziehungspraxis bewältigen zu können, ist eine Habitusbildung erforderlich,
die durch Formen der beruflichen Fortbildung weiter ausgeformt wird. 2
Der Professionelle, der sich den Gegebenheiten der Berufstätigkeit in den
verschiedenen Handlungsfeldern stellt, ohne sich diesen lediglich zu unter-
werfen, greift - wie gezeigt - auf eine wissenschaftliche Begründungsbasis
zurück.
Somit ist die Aneignung der Theorie der Sozialpädagogik Teil des insti-
tutionalisierten Bildungsprozesses an der Hochschule, die ihre Absolventln-
nen nicht auf eine konkrete Tätigkeit, sondern auf der Basis wissenschaftli-
cher Erkenntnisse auf das Berufsnoviziat vorbereitet und den Vollzug einer
professionellen Praxis unterstützt. Möglich wird dies, wenn eine theoretische
Durchdringung zentraler Aufgaben und Institutionen der professionalisierten
Sozialpädagogik im Studium geleistet wird.

3. Die fallrekonstruktive Erforschung der


professionalisierten Praxis

Das Praxisfeld der "Hilfen zur Erziehung" ist - wie andere typische sozial-
pädagogische Maßnahmen einer professionalisierten Praxis - zwischen Dis-
ziplin und Profession angesiedelt.
Für die Disziplin der Sozialpädagogik zeigt sich in der fallrekonstrukti-
ven Vorgehensweise eine Fortführung der Tradition der Kasuistik, aus der
die analogische Methode bekannt ist, die Aristoteles begründet hat. Diese
lässt Korrespondenzen zwischen Allgemeinem und Besonderem, zwischen
Einheit und Vielfalt erkennen und ermöglicht gültige Erkenntnisse, die "am
Fall" gewonnen werden.
Die kasuistische Fallorientierung erfuhr in den sechziger und siebziger
Jahren eine stetige methodische Weiterentwicklung und findet ihre Fortset-
zung in den sozialwissenschaftlichen Konzepten der Fallrekonstruktion, in
denen Theorie und Praxis jeweils in ihrer unterschiedlichen Struktur erkenn-
bar werden, unterscheidbar bleiben und nicht verwischt oder vermischt sind.
Die fallrekonstruktive Forschung bezeichnet in der Regel - in Abgren-
zung zu einer Tradition der "quantitativen Forschung" - diejenige For-
schungslogik, die ein Interesse an der Erforschung von Sinnzusammenhän-

2 Der Begriff "Habitus" bezeichnet verinnerlichte Wahmehmungs- und Handlungsweisen ei-


nes Professionellen, die aus dem Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis gebil-
det werden. Die Diskussion um die Professionalisierung kann hier nur kurz erfolgen; vgl.
für diesen Zusammenhang Koring 1990 und die Beiträge in Dewe u.a. 1992; Combe/
Helsper 1996; Kraimer 2000.
172 Klaus Kraimer

gen hat. Aus der Sicht des Nestors der objektiven Hermeneutik erweist sich
die Abgrenzung zwischen "qualitativ" und "quantitativ" allerdings nicht als
trennscharf: Oevermann (2000, S. 61) bezeichnet die entscheidende Dimen-
sion der Unterscheidung von Forschungslogiken als die Differenz zwischen
subsumtionslogischen und rekonstruktionslogischen Verfahren.
Das quantifizierende Subsumtionsverfahren ordnet gewissermaßen nach
Zwecken und forscherischem Kalkül von "außen" die Wirklichkeit und passt
diese vorgefertigten Kategorien an. Demgegenüber ermöglicht es die Fallre-
konstruktion, die durch die Sequenzanalyse methodisch grundgelegt ist, den
"naturwüchsigen" Verlauf einer Fallstruktur von "innen" in ihrer Fallstruk-
turgesetzlichkeit zu erfassen und zur Basis einer Strukturgeneralisierung wer-
den zu lassen (vgl. Oevermann 2000).

3. 1 Aus der Geschichte der Methodenentwicklung fallorientierter


Forschung

Frühe Beispiele einer fallorientierten Forschung finden sich in der Geschichte


der Sozialpädagogik ebenso wie in der der Sozialarbeit. In diesen Feldern der
Sozialen Arbeit3 herrschte ein Interesse an einem der Sache angemessenen
Verständnis schon früh vor: Hilfsbedürftigkeit und Armut wurden untersucht;
man war an der Gültigkeit sozialer Diagnosen interessiert (v gl. Salomon
1926). Eine soziale Diagnose als sachangemessene Deutung der sozialen Si-
tuation leisteten Z.B. Addams und Mitarbeiterinnen. 4 Jeweils von dem Gegen-
standsbereich her bestimmt sind vorrangig sozialarbeiterische oder sozial-
pädagogische Perspektiven auf den Fall eingenommen worden. Bettelheim
(1985) beispielsweise ging es darum, die "innere Logik des Falles" zu er-
schließen.5

3 "Soziale Arbeit" verwende ich als Oberbegriff für die jeweils spezifischen Bereiche der So-
zialpädagogik und der Sozialarbeit; vgl. Kraimer 1994.
4 Sie begründeten eine sozialwissenschaftliche Tradition, die als investigative bekannt ge-
worden ist. In den von Jane Addams herausgegebenen Hull House Maps and Papers (A
Presentation of Nationalities and Wages in a Congested District of Chicago - With Com-
ments and Essays on Problems Growing out of the Sodal Conditions, by Residents of Hull
House Chicago) veröffentlichte sie im Jahre 1895 regionalsoziologische und soziographi-
sche Untersuchungen, in denen Sozial wissen und Sozialstruktur minuziös erhoben,analy-
siert und dokumentiert wurden. Auf diese Weise konnte u.a. gezeigt werden, dass die Gene-
se sozialer Probleme nicht in individuellen Schwächen begründet ist, sondern mangelhafte
soziale Verhältnisse wie schlechte Arbeits- und Lebensbedingungen deren charakteristische
Verursacher sind. Mary Richmond arbeitete 30 Jahre später auf der Grundlage personenbe-
zogener Daten aus der Familienfürsorge ebenfalls sachangemessene Gründe heraus, die
Armut und Hilfsbedürftigkeit bedingen; vor allem unfreiwillige Arbeitslosigkeit, Arbeits-
unfälle und Niedrigstlöhne (Richmond 1917).
5 Vgl. HörsterIMüller 1996, S. 620ff., die sich mit der Kompetenz zur Herstellung von An-
fängen in der sozialen Bildung befassen.
Zwischen Disziplin und Profession 173

Für die Anlage einer fallrekonstruktiven Forschung ergeben sich aus de-
ren Tradition Grundsätze, die an dieser Stelle nur kurz Erwähnung finden
(vgl. GarzlKraimer 1994). Dies sind vier generelle Merkmale der Auffas-
sung,

• dass eine ,,soziale Konstruktion" der Wirklichkeit erfolgt,


• dass ein verstehender Zugang zur Wirklichkeit unumgänglich ist,
• dass einefallbezogene Untersuchung mit einer daran anschließenden Ty-
penbildung zentral ist und
dass die Forschung sich auf die Praxis einzulassen hat, um sich belehren
zu lassen.

Das forschungsmethodische Vorgehen wird an dem zu untersuchenden Ge-


genstand ausgerichtet und ist deshalb nicht-standardisiert. Prinzipien, die das
forschungsmethodische Vorgehen einer fallrekonstruktiven Forschung etwa
in Form einer Einzelfallstudie anleiten, ergeben sich aus der jeweiligen For-
schungsmethodologie. Zu beachten ist generell die soziale Vorstrukturierung
des Gegenstandsfeldes sowie die dokumentarische Qualität ihrer textförmig
vernetzten Daten (v gl. Kraimer 2000, S. 44). Zudem sind folgende Merkmale
zentral:

• Der Fall bildet eine eigenständige Untersuchungseinheit. (Ein Fall ist


beispielsweise eine Person in der Beratung, ein Allgemeiner Sozialer
Dienst, eine Schule, eine Organisation oder eine Institution.)
• Die Fallinterpretation wird als "Kunstlehre " verstanden. (Die Datenaus-
legung erfordert einen professionellen Habitus, der ein "divinatorisches
Potential" vorhält.)
• Die Forschung setzt dort an, wo "etwas los" ist - am Ort einer konkreten
Lebenspraxis, um zu schauen, was originär vorhanden ist (im ursprüngli-
chen Sinn von Theorie: ,,Dabei-Sein", "Schauen, was ist").

Die Fallbestimmung - die zu Beginn der Untersuchung erfolgt - erfordert ei-


ne klare Kennzeichnung, was als der Einzelfall angesehen wird und in wel-
chen Interaktionszusammenhang ein Protokoll oder eine Objektivation ein-
gebettet ist (vgl. Oevermann 1990, S. 244). Die Untersuchung ist dabei kon-
tinuierlich auf das zu rekonstruierende Phänomen konzentriert. Dem prozess-
haften und sinnstrukturiertem Charakter von Sozialität, der in dem komple-
xen Wechselgefüge zwischen Determination und Emergenz besteht, ent-
spricht die offene sozialwissenschaftliehe Theoriebildung, etwa um einen
Handlungsablauf zu rekonstruieren.
174 Klaus Kraimer

4. Die Fallrekonstruktion in der Sozialen Arbeit:


Ein Beispiel aus der Forschungspraxis

In der Sozialen Arbeit stellt die Fallrekonstruktion ein Verfahren dar, nach
welchem relevantes Ausdrucksmaterial mit Blick auf eine zugrunde liegende
Strukturlogik hin untersucht werden kann (vgl. HaupertlKraimer 1991; Krai-
mer 2000). In dieser Forschungspraxis findet eine Verknüpfung und Weiter-
entwicklung von Ideen und Verfahrensweisen aus den Theorietraditionen der
Fallrekonstruktion und der Sozialphänomenologie statt, die beispielsweise in
der Idee des typologischen Verstehens zum Ausdruck gelangt. Fallrekon-
struktionen werden in theoriebildender Absicht auf die zentralen Bereiche der
Profession der Sozialen Arbeit gerichtet, die auch die Kerngebiete der For-
schung sind: Soziale Auffälligkeit (,,Deklassierung"), Soziale Probleme und
Soziale Intervention. 6
Das hier lediglich in der Anlage und einigen Teilergebnissen vorgestellte
Forschungsprojekt zielt insgesamt auf die Rekonstruktion der Interventions-
praxis in Jugendämtern, in Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD) oder in
Neuordnungsprozessen der sozialen Dienste (NOSD) im Kontext einer über-
greifenden Rekonstruktion professionellen Handeins in unterschiedlichen
Praxisfeldern der Sozialen Arbeit und steht im Zusammenhang mit der gene-
rellen Erforschung der Frage nach dem ,,Professionalisierungsgrad" bzw. der
Professionalisierbarkeit der Sozialen Arbeit. In dem vorliegenden Fall ist
damit einejorschungspragmatische Einstellung verbunden, die äußeres Kon-
textwissen in die Analyse einbezieht, um die Struktur eines Falles in einer
abkürzenden Weise aufzudecken.
In diesem Teilprojekt steht

a) die institutionelle Ausgestaltung der ,,Hilfen zur Erziehung" in einer


deutschen Großstadt im Zentrum der Rekonstruktion.? Zudem geht es in
diesem Kontext um
b) die Analyse der in diese institutionellen Vorgaben "eingebetteten" Per-
spektiven von Projessionellen, die u.a. mit Blick auf eine vorfindbare
Habitusformation von Interesse ist.

6 Die "Residualkategorie" Deklassierung bezeichnet eine Vielzahl von Personen, die von In-
stitutionen abhängig, durch "Merkmale des Verlustes" wie Arbeits-, Obdach- oder Hilflo-
sigkeit charakterisiert, von der Sozialpolitik vernachlässigt oder vom Sozialrecht strukturell
benachteiligt sind (vgl. v. Kardorff 1991).
7 Die Daten stammen aus einem Projekt, welches ich seit 1997 zur Rekonstruktion der "Hil-
fen zur Erziehung" in verschiedenen Bundesländern durchflihre. Alle TextsteIlen sind an-
onymisiert. Die Transkription von Interviewmaterial wird flir die Veröffentlichung mas-
kiert, um die erforderliche Anonymität zu wahren. Dies gilt ebenso flir die Dokumentation
objektiver Daten. Inhalte bleiben davon unberührt.
Zwischen Disziplin und Profession 175

Zur Aufbereitung des Datenmaterials wird wie folgt gearbeitet8 : Zunächst er-
folgt in einem ersten Schritt die Bestimmung des Falles und des Interaktions-
zusammenhangs.
Auch wird geklärt, ob eine Intervention geplant werden soll, die eine ent-
sprechende Bestimmung des Handlungsproblems erforderlich macht. Dies ist
immer dann notwendig, wenn eine wissenschaftlich inspirierte, in Daten und
Theorien gegründete praktische Intervention erfolgen soll.
In diesem Projekt fällt die Entscheidung darüber, welcher Einzelfall ana-
lysiert werden soll so aus, dass das Dokument als Repräsentant der Organi-
sationseinheit ASD und die befragten Experten als Repräsentanten der pro-
fessionellen Orientierung herangezogen werden.
Der Interaktionszusammenhang besteht in der Beziehung zwischen Orga-
nisation und Profession. Dabei geht es um die Rekonstruktion der Art und
Weise der Ausgestaltung von Maßnahmen der "Hilfen zur Erziehung".
Die Bestimmung des relevanten Ausdrucksmaterials (zweiter Schritt) -
das die Grundlage für die Fallrekonstruktion bildet - liegt in diesem Fall in
der Entscheidung

a) für die Analyse der für die ,,Hilfen zur Erziehung" zugrunde gelegten
schriftlichen Dokumente in der Institution,
b) für die Erhebung und Analyse narrativer Experteninterviews (vgl. Meu-
serlNagel 1991) mit dort tätigen Professionellen, deren Daten zur Berufs-
biographie ebenfalls erhoben wurden. 9

In einem dritten Schritt wird die erste Sequenz aus den objektiven Daten in-
terpretiert. Die objektiven Daten der untersuchten Institution sind in diesem
Fall eine Materialsammlung zur "Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII mit Ar-
beitshilfe" (Teil I) und "Handreichung für den praktischen Einsatz im ,All-
gemeinen Sozialen Dienst''' (Teil 11) sowie der Anhang (Teil III).
Zur Analyse der ersten Sequenz lO aus der Materialsammlung (',Hilfepla-
nung nach § 36 SGB VII mit erläuternder Arbeitshilfe"):
"Die Aufgabenerfüllung im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASO) ist geprägt von der ganz-
heitlichen und einheitlichen Hilfe. (... ) Grundlage ( ... ) ist die gesetzlich zugewiesene Funk-
tion der behördlichen Sozialarbeit."

Eine Aufgabenerfüllung setzt die Lösbarkeit oder auch Machbarkeit einer


Obliegenheit voraus. Einheitlichkeit beschreibt die unterschiedslose, für alle
geltende Gleichbehandlung. Ganzheitlichkeit impliziert eine Vorstellung, für
alle ,,Hilfe aus einer Quelle" gewährleisten zu können. Als Grundlage der

8 Vgl. die Dokumentation der einzelnen Schritte in Kraimer 2000, S. 36ff. In diesem Projekt
steht der Schritt der Fallkontrastierung für Teil a) der Fragestellung noch bevor, so dass
noch keine übergreifende Typen- bzw. Theoriebildung erfolgte.
9 Dieses Material wird hier nicht herangezogen.
10 Die Darstellung erfolgt in einer stark abgekürzten Weise.
176 Klaus Kraimer
Tätigkeit zeigt sich eine ausschließliche und umfängliche Orientierung an ge-
setzlichen und institutionellen Bestimmungen. Die Maßnahmen werden zu-
vorderst als Delegation an einen Auftragnehmer auf einer rechtlich-behördli-
chen Grundlage, nicht aber auf einer professionellen Grundlage mit rechtli-
cher Legitimation wahrgenommen. Eine Funktion beschreibt eine Verrich-
tung mit einem klar umrissenen Tätigkeitsprofil innerhalb eines größeren Zu-
sammenhangs, die als behördliche Sozialarbeit gedeutet wird, wobei deren
amtlicher Charakter und somit die Zugehörigkeit zu einem Verwaltungsorgan
mit festem Sitz zum Ausdruck kommt. Mit der ausschließlichen Subsumtion
der Sache selbst (',Hilfen zur Erziehung") unter die verwalterische Hoheit
wird die sozialpädagogische Aufgabe in eine ausschließlich verwaltungs-
technisch-rechtliche Aufgabe umgedeutet.
Bereits diese kurze Analyse der ersten Sequenz aus der Materialsamm-
lung (Teil I), die sich in der ,,Präambel" der hausinternen Materialsammlung
zur Hilfeplanung findet, zeigt den Charakter der Ausgestaltung der ,,Hilfen
zur Erziehung" aus der Perspektive der Organisationseinheit ASO auf, die in
der folgenden Fallstrukturhypothese in einem vierten Schritt festgehalten
wird: Es ergibt sich die Struktur der jloskelhajten Komplexitätsreduktion in
der Logik des VerwaltungshandeIns, die eine problemadäquate Professiona-
lisierung nicht erkennen lässt.
Deutlich wird diese dilettantische Dokumentation eines Machbarkeits-
denkens noch zusätzlich, wenn man die Sequenz mit dem äußeren Kontext-
wissen zu den objektiv gegebenen komplexen Problemlagen und Aufgaben-
bereichen des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASO) und den aktuellen ge-
sellschaftlichen Ansprüchen an den ASO konfrontiert: Umfassende Famili-
enhilfe zum Wohl des Kindes, Hilfen zur Selbsthilfe aktivieren, Notlagen und
Probleme ämterübergreifend überwinden helfen, Informationen gezielt ge-
ben, Hilfen zur Überwindung von Lebensproblemen ebenso kompetent lei-
sten wie präventive Arbeit, Stigmatisierung vermeiden und Sozialräume ge-
stalten sind Beispiele dafür. ll
Die weitere sequenzielle Analyse der Dokumente (fünfter Schritt) - die
hier nicht im einzelnen erfolgt - zeigt durchgängig eine (verwaltungs-)techni-
sche Attitüde in Verbindung mit einer unqualifizierten, schlagwortartigen An-
einanderreihung von Begrifflichkeiten. "Anwendung der gesetzlichen Bestim-
mungen für die Hilfe", "Vorgaben der berufsspezifischen Geheimhaltung"
und "methodische Umsetzung der Hilfe" sind einige Beispiele aus dem fol-
genden Text. Inhaltlich werden diese Begrifflichkeiten nicht expliziert und
bleiben insgesamt einem Amtsjargon verhaftet. Für das Verfahren, in dem
das grundsätzliche Vorgehen für den institutionell gewünschten Verlauf der
,,Hilfen zur Erziehung" festgelegt ist, wird sodann beschrieben, welche
Formblätter auszufüllen und welche (hierarchischen) Wege einzuhalten

ll Eine Kennzeichnung der Aufgabenfelder des ASDs wird hier zur Veranschaulichung ledig-
lich angedeutet.
Zwischen Disziplin und Profession 177

sind. 12 Eine institutionell gewünschte" Vereinheitlichung des formalen Vor-


gehens" missglückt in dem untersuchten Dokument bereits deshalb, weil die
vorgelegten "Arbeitshilfen " Klarheit und Nachvollziehbarkeit vollständig
vermissen lassen. Der formale Aufbau ist fehlerhaft, die mitgelieferten Vor-
drucke sind logisch nicht nachvollziehbar und bedeuten objektiv ein Arbeits-
erschwernis - das Gegenteil der institutionell angestrebten Sache.
Im Anhang der Dokumentation zu den ,,Arbeitshilfen" findet sich eine
,,Phänomenologie der Verhaltensauffälligkeiten" (Teil III), welche eine Sym-
ptomliste in Spiegel strich aufzählung über drei Seiten vorhält, die eine stig-
matisierende Sicht des Klienteis der "Hilfen zur Erziehung" nahe legt und
ohne Kommentar bleibt: " Verfügungsschwäche", "Dickfälligkeit", "Aufsäs-
sigkeit", "Lehrerfeindlichkeit" und "Ziihneknirschen" sind Beispiele. Der in
der Fallstrukturhypothese festgestellte Mangel an sozialpädagogischer Pro-
fessionalität durchzieht das gesamte Material, so dass sich keine neuen
Aspekte ergeben; die Fallstruktur reproduziert sich.
An dieser Stelle steht der sechste Schritt, der Vergleich mit einem maxi-
mal kontrastierenden Fall, noch aus - nicht zuletzt, weil bislang in den ande-
ren Fallreihen ähnliche Strukturmerkmale festgestellt wurden.
Die Analyse der Experteninterviews folgt der gleichen Auswertungslogik -
allerdings zunächst ohne das Wissen aus der Analyse der objektiven Daten ein-
fließen zu lassen. Auch diese Darlegung erfolgt in einer für diesen Zweck ab-
gekürzten Weise.
Zur ersten Sequenz aus einem der narrativen Experteninterviews:
,Ja also ich denk, ... von unserer Arbeit her ... in vielen Bereichen irgendwo gleiche Vorge-
hensweisen .. im Rahmen unserer Aufgaben ... unserer vorge ... gesetzlichen vorgegebene
Aufgaben"13

Die alltagsweltliche Formulierung transportiert die professionell auszugestal-


tende Tätigkeit in die Nähe einer gleichförmig organisierbaren Lohnarbeit.
Das "irgendwo" signalisiert Unkenntnis und Unverbindlichkeit. Der Ver-
sprecher zeigt die Orientierung an Vorgesetzen in einer hierarchisch aufge-
bauten Behörde. Autonome professionelle Kompetenzen sind nicht erkenn-
bar. "Aufgaben" werden lediglich in der Form gesetzlicher Regelungen
wahrgenommen, deren regulative Funktion verkannt wird, indem diese als
Handlungsanweisung missverstanden werden.
Bereits hier lässt sich eine Falistrukturhypothese entwickeln: Die Ausge-
staltung der ,,Hilfen zur Erziehung" sucht in technokratischer Manier den Er-
fordernissen bürokratischen Routinehandelns zu folgen, scheitert aber an die-
sem falschen Anspruch, der nicht den gegebenen professionellen Anforde-
rungen der ,,Hilfen zur Erziehung" entspricht.

12 Die Interpretation erfolgt in einer für diesen Beitrag abgekürzten Weise.


13 Die Punkte bedeuten je etwa eine Sekunde Pause.
178 Klaus Kraimer

In einem weiteren Schritt erfolgt eine sequenzielle Materialrekonstrukti-


on zur Überprüfung der FaUstrukturhypothese. Dies geschieht für jedes der
durchgeführten Experteninterviews. Ist der jeweilige Fall soweit interpretiert,
dass sich keine neuen Erkenntnisse ergeben, wird wiederum ein maximal
kontrastierender Fall hinzugenommen, der wiederum in der genannten Ab-
folge der sechs Schritte regelgeleitet analysiert wird.
Schließlich wird (siebtens) eine Fallkontrastierung aus einer Fallreihe und
(achtens) die Typen- bzw. die Theoriebildung vorgenommen. 14 Darin ergibt
sich die Strukturerschließung eines Gegenstandsbereichs. Die weitere Darstel-
lung erfolgt in einer hier notwendig abgekürzten Weise am Beispiel der Ty-
penbildung für die Experteninterviews. Aus dem genannten Interview wird da-
zu eine weitere Sequenz gezeigt; die Fallkontrastierung konnte mit Hilfe dreier
Experteninterviews aus dieser Fallreihe geleistet werden. Für diese drei Inter-
views wird die Typenbildung lediglich im Ergebnis vorgestellt.
"dass wir Informationen (... ) bekommen (... ) da sind wir vom Datenschutz her gebunden"
Eine passive Form der Informationsgewinnung gelangt zum Ausdruck. Infor-
mationen werden von außen an das Amt herangetragen. Auch hier steht die
bürokratisch-rechtliche Argumentation im Vordergrund, die schließlich das
gesamte Interview wie ein roter Faden durchzieht, wie die weitere sequenzi-
elle Analyse zeigt. Professionalität tritt vollständig hinter formale und ge-
setzliche Bestimmungen zurück. Der Versuch, einer Logik des Verwaltungs-
handelns zu folgen, steht in diesem Fall in Verbindung mit einer inhaltlichen
Konzeptlosigkeit. Unter Zuhilfenahme rechtlicher Vorgaben wird danach ge-
trachtet, eine Art Ersatzkonzept zu liefern. Dieses soll der rechtlichen und
verwaltungstechnischen Prüfung standhalten, lässt jedoch eine sozialpädago-
gische Perspektive vollständig vermissen. In der rekonstruierten Fallreihe fin-
den sich strukturell analoge Aussagen, die insgesamt den Typ des bürokrati-
schen Exekutors repräsentieren, wie sich insbesondere in der ersten Sequenz
eines Interviews diesen Typs zeigt.
Ein Beispiel für den Typ des bürokratischen Exekutors:
"Die Hilfe zur Erziehung ist Teil einer Pflichtaufgabe des Allgemeinen Sozialen Dienstes,
die rechtliche Begründung liegt im SGB VII, §§ 27 folgend ( ... ). Anspruchsberechtigt ist..
"
Ein kontrastierender Typ liegt in dem der therapeutisch-psychologisierenden
Orientierung, der sich zwar um Professionalität bemüht, eine kritische Refle-
xion des eigenen Tuns aber vermissen lässt. Ein Verständnis für die autonom
auszugestaltende Lebenswelt des Klienteis besteht nicht; vielmehr ist dieser
Typ durch Entmündigungstendenzen einer therapeutischen Belagerung cha-
rakterisiert. Wiederum anders orientiert ist der Typ der tendenziell resignier-

14 Dies kann hier lediglich für die Interviews aus dieser Fallreihe, nicht aber für die Analyse
der Dokumente geleistet werden.
Zwischen Disziplin und Profession 179

ten Sozialpädagogik, der in scharfem Kontrast zu den zuvor genannten Typen


seinen beruflichen Auftrag als handlungs leitend in einer sozialpädagogischen
Tradition wahrnimmt. Hier stehen die Sichtweisen der Betroffenen im Vor-
dergrund, die Folgen getroffener Entscheidungen sowie Versäumnisse der In-
stitution werden in der Bedeutung für das Klientel reflektiert. Biographien
werden rekonstruiert und in die Logik einer sozialpädagogischen Anamnestik
und Diagnostik gebracht. Insbesondere werden Eigeninteressen der Instituti-
on kritisch bewertet, die dem Wohl des Klienteis oftmals entgegenstehen. Die
Anforderungen, die der verwaltungstechnische Aufwand in der Institution
mit sich bringt, die hierarchische Arbeitsorganisation und eine "verlogene in-
stitutionelle Kultur des Schönredens" führt in diesem Fall tendenziell zu einer
Resignation in der beruflichen Praxis. Dies soll hier mit einem Beispiel ange-
deutet sein: "Es wird nicht gesehen, dass der junge Mensch dies nicht kann,
aufgrund seiner Lebensbiographie. " Nur gegen große Widerstände gelingt es
dem Typ der tendenziell resignierten Sozialpädagogik, sich gegen die Insti-
tution zu behaupten und sich statt an dem Wohl der Institution an dem des
Kindes/des Jugendlichen und der Familie zu orientieren.

5. Schlussbemerkungen

Aus der Perspektive der Sozialpädagogik sind "Hilfen zur Erziehung" theo-
retisch reflektiert und praktisch engagiert wahrzunehmen, um erzieherische
Mängel zu erkennen und zu kompensieren. Lebensprobleme sollen dabei in
einer spezifisch sozialpädagogischen Weise so verstanden und verständlich
gemacht werden, dass notwendig werdende Interventionen die Selbsttätigkeit
einer gestörten Lebenspraxis anregt.
Als Zwischenergebnis zeigt sich für die hier untersuchte Form der "Hil-
fen zur Erziehung" in der Organisationseinheit ASD die Struktur der Büro-
kratisierung und in der Ausgestaltung der Maßnahme die Struktur der profes-
sionellen Deformation.
Die bürokratische Reduktion der ,,Hilfen zur Erziehung" auf Verwal-
tungshandeln - so lässt sich zusammenfassen - führt zu ritualisierten Arbeits-
weisen einer deformierten professionellen Praxis; eine Vielzahl formaler
Richtlinien verhindert die professionelle sozialpädagogische Tätigkeit und
lässt die Ausformung einer primär sozialpädagogischen Hilfe nicht zu.
Im Projektverlauf wird nunmehr darauf abgezielt, zusätzliche Repräsen-
tanten der Organisationseinheit ASD und der Profession in die Analyse einzu-
beziehen. Dabei soll die Bedeutung der beruflichen Sozialisation für die Aus-
gestaltung der professionellen Berufspraxis differenziert herausgearbeitet wer-
den. Einer der Schwerpunkte ist dabei die Untersuchung der biographischen
Identifikation mit "der Berufsratio (der) Profession und mit ihren Werten"
180 Klaus Kraimer

(Schütze 1996, S. 192). Die von Schütze (1992) in diesem Zusammenhang ent-
wickelten Kategorien zeigen auf, dass Professionelle in der Sozialen Arbeit
"mehr noch als andere Professionelle den Handlungsrestriktionen der organi-
satorischen (verwaltungsmäßigen, rechtlich-kontrollierenden, ökonomischen)
Zwänge ausgeliefert sind, die professionelle Entwicklung und Autonomie emp-
findlich behindern" (S. 147). Im Falle des bürokratischen Exekutors wird die
vollständige Unterordnung und versuchte Aufgabenbewältigung durch Verwal-
tungshandeln besonders deutlich, der psychologisierend-entmündigende Typ
verstrickt sich in systematische Handlungsfehler, und der nahezu resignierte
sozialpädagogische Typ kämpft - analog zu der von Schütze (1996) beschrie-
benen Form "aus einer biographisch verinnerlichten beruflichen Identität her-
aus gegen Einschränkungen und Übergriffe der Organisation, in deren Rahmen
er arbeiten muss. (... ) Hieraus entsteht mitunter ein hartnäckiger Abwehrkampf
des Professionellen gegen die Organisation" (S. 193).
In der hier rekonstruierten Praxis zeigt sich bei dem sozialpädagogisch
orientierten Typ ein Kampf gegen bürokratische Verblendungszusammen-
hänge. Im Vergleich mit empirischen Ergebnissen aus anderen Studien (vgl.
z.B. Kraimer/Müller-Kohlenberg 1990) zeigt sich auch hier eine ,,Logik des
Scheiterns" (vgl. Dörner 1989), die mit einer ,,Logik der falschen Informati-
on" korrespondiert (vgl. Bahrs u.a. 1994). Folgen des Interventionstyps der
Dominanz einer bürokratischen Kontrolle zeigen sich in Prozedierungskar-
rieren, die mit einem wachsenden Verlust an Autonomie auf Seiten des
Klienteis einhergehen (vgl. HaupertlKraimer 1991; Helsper u.a. 1991; Nö1ke
1994).
Für das Studium der Sozialarbeit und Sozialpädagogik - soviel lässt sich
abschließend als wünschenswert festhalten - ist die Stärkung derjenigen
Kompetenzen unabdingbar, die es ermöglichen, die ,,hartnäckigen Dauerpro-
bleme" (Schütze 1992, 147) zu erkennen und zu bearbeiten, die sich auch in
der hier untersuchten Form der "Hilfen zur Erziehung" zeigen. Die systema-
tische Erschließung der professionalisierten Praxis mit Hilfe der fallrekon-
struktiven Sozialforschung liefert langfristig - so steht zu hoffen - einen Bei-
trag dazu, den ,,Erleidensprozess der beruflichen Fremdbestimmtheit"
(Schütze 1994, S. 15) in einen Prozess der disziplinären Unterstützung einer
professionellen Selbstbestimmung umzuwandeln. An die Stelle der bürokra-
tischen Kontrolle hat die professionelle Selbstkontrolle zu treten, da sich "die
spezifischen Leistungen von Professionen (... ) weder durch den Markt noch
administrativ kontrollieren lassen; sie erfordern eine kollegiale, auf die Ver-
innerlichung professionsethischer Ideale angewiesene Selbstkontrolle" (Oe-
vermann 1996, S. 70). Der zu Beginn benannte "Seiltanz zwischen Hilfe und
Kontrolle" könnte auf diese Weise zu Gunsten einer professionell verant-
worteten ,,Hilfe zur Erziehung" in der Wiederherstellung einer autonomen fa-
milialen Lebenspraxis vollzogen werden, die eindeutig zu Lasten einer Kon-
trolle geht, die der Logik des Verwaltungshandelns geschuldet ist.
Zwischen Disziplin und Profession 181
In den Handlungsfeldern und Institutionen der Sozialpädagogik steht ei-
ne Veränderung gegebener Perspektiven oftmals im Mittelpunkt der Inter-
vention. So ist z.B. eine erzieherische Haltung von Eltern zunächst zu rekon-
struieren, die als "natürliche Einstellung" in der ,,Lebenswelt des Alltags"
verankert ist (vgl. SchützlLuckmann 1983). Dies geschieht in der gemeinsa-
men Kommunikation zwischen Professionellen und Klientel, um die "Gram-
matik der Lebenswelt" (Winkler 1995, S. 53) zu erschließen. Hilfen zur
Sinnauslegung und Bedeutungsbildung sind dabei in der Unterstützung von
Menschen in (erzieherischen) Notsituationen zentral.
In eine sachhaltige Rekonstruktion "des Sozialen" haben die fallrekon-
struktiv ausgerichtete Anamnestik und Diagnostik in der sozialpädagogischen
Praxis die Perspektive des Klienteis und die der beteiligten Institutionen und
Organisationen einzubeziehen, etwa um vorhandenes Sozialwissen oder ver-
schiedene Interessenslagen zu erkunden. Dazu zählen im Feld der "Hi1fen zur
Erziehung" insbesondere die Erziehungsvorstellungen der Eltern, die Einbe-
ziehung von Interessen der Kinder und Jugendlichen sowie die der beteiligten
Professionellen. Zudem sind sozialstrukturelle und sozialräumliche Verhält-
nisse zu rekonstruieren, in die der jeweilige Fall eingebettet ist. Diejenigen
Faktoren können beispielsweise identifiziert und beeinflusst werden, die die
Autonomie behindern oder fördern. Mögliche Ressourcen können entdeckt
und in eine Lebensweltorientierung integriert werden.

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Eberhard Nölke

Klinische Sozialarbeit
Annäherungen mittels qualitativer Forschung

1. Theoretische Hinführung

Die Handlungsfelder der Sozialen Arbeit haben sich weit ausdifferenziert


(vgl. Chasse/v. Wensierski 1999; Rauschenbach 1999) und finden sich heute
auch in den klassischen Bereichen klinischer Behandlung, Betreuung und
Versorgung, wie in Krankenhäusem, Rehabilitations- oder geriatrischen Ein-
richtungen. 1 Aber auch durch offene bzw. niedrigschwellige Hilfsangebote,
wie eine zugehende Drogen- oder Altenarbeit oder die mobile Betreuung und
Versorgung randständiger Gruppen, die zu den herkömmlichen medizini-
schen und psychosozialen Versorgungs-, Betreuungs- und Beratungseinrich-
tungen keinen Zugang mehr finden, bemühen sich SozialarbeiterInnen um ei-
ne Verbesserung der gesundheitlichen und sozialen Lebensbedingungen die-
ser Personenkreise. 2 Insoweit sind SozialarbeiterInnen und SozialpädagogIn-
nen bereits in klinischen Handlungsfeldem beruflich tätig, ohne von vornher-
ein auf ein originär und disziplinär ausgearbeitetes und systematisiertes Wis-
sen sowie ein elaboriertes Methodenarsenal "klinischer Sozialarbeit" Bezug
nehmen zu können.
So wie in den wissenschaftlichen Disziplinen Medizin und Psychologie
die klinische Orientierung als genuiner Ausbildungsschwerpunkt fest eta-
bliert ist und sich auch in der Soziologie ein Schwerpunkt "klinische Sozio-
logie"3 herauszubilden beginnt, bemühen sich auch Protagonisten der Sozia-

Nach Stichweh (1996) operiert die Sozialarbeit "in mehreren verschiedenen Funktionssy-
stemen (Gesundheitssystem, Rechtssystem, Erziehungssystem). Entsprechend diffus ist der
diesem Beruf zugeordnete Problembezug - ,Soziale Probleme' -, der gewissermaßen die
Kehrseite jenes professionstypischen Imperativs ,professional purity' ist" (Stichweh 1996,
S. 63; vgl. auch Bommes/Scherr 2000; Nölke 2000, S. 23f.).
2 Zur Fallanalyse im Kontext zugehender Altenberatung vgl. Schütze 1993 sowie im Kontext
mobiler medizinischer Versorgung und Beratung von Obdachlosen vgl. Nö1ke u.a. 1998.
3 Vgl. Schütze 1982; DewelRadtke 1989; Oevermann 1990; Hildenbrand 1998. "Der strikte
Fallbezug begrenzt die klinische Soziologie auf Deutungen ex post. Die Fälle - unabhängig
davon, ob es sich um mikrologische Interaktionssequenzen, berufspraktische Krisen oder
ganze biographische Verläufe handelt - müssen ,vorgefallen' sein" (Dewe/Radtke 1989, S.
51). Alle Konzepte betonen dabei den strikten Einzelfallbezug einer sequenziellen Rekon-
struktionslogik, die auf Erkenntnisse zielt über die jeweilige "Fallstrukturgesetzlichkeit"
(Oevermann) oder die "sequenzielle Ordnung von Ereignisformen (insbes. Verlaufskurven)
186 Eberhard Nölke

len Arbeit darum, deren Spezifik im Kontext klinischer Handlungsfelder


theoretisch und methodisch zu begründen, wobei auf die professionsspezifi-
schen Aufgabenstellungen, aber auch die systembedingten Differenzen zu
den, insbesondere in den USA entwickelten, Formen eines "Clinical Social
Work" (vgl. Russe11991; Dorfman 1996; Patriarca 1998) verwiesen wird. So
umschreibt Wendt (1998) die berufspraktische Funktion klinischer Sozialar-
beit "als Einsatz professioneller Sozialarbeit in der Behandlung psychoso-
zialer und soziosomatischer Beeinträchtigungen und Störungen sowie in der
Teilhabe an der Heilbehandlung von Krankheiten und der Wiederherstellung
von Gesundheit generell" (S. 173).4 In Annäherung an ein disziplinäres Pro-
pädeutikum wird klinische Sozialarbeit auch bestimmt "als Teildisziplin der
Sozialen Arbeit, die sich mit schwerwiegendes Leid verursachenden psycho-
sozialen Störungen sowie den sozialen Aspekten psychischer und somati-
scher Abweichungen, Störungen, Krankheiten und Behinderungen unter Be-
rücksichtigung der Lebenslage der Betroffenen befasst" (Deutsche Gesell-
schaft für Sozialarbeit 2001, S. 1).
So genannte Essentials umfassen "psycho-soziales AssessmentlDiagnos-
tik, psycho-soziale Beratung und Behandlung, Prävention und Rehabilitation,
Krisenintervention und vor allem eine Soziotherapie, die sich im Unterschied
zur individuumszentrierten Psychotherapie psycho-sozialer Aspekte annimmt
und hochqualifizierte SozialarbeiterInnen voraussetzt" (Deutsche Gesell-
schaft für Sozialarbeit 2001, S. 1).
Explizit wird auch eine "mikrosoziale Aufgabenstellung", ein "direkter
Klientenbezug" mit besonderen Problemgruppen wie "schwer zugänglichen
Patienten", ,,Mehrfachbehinderten" oder "Multiproblemfamilien" genannt
(Deutsche Gesellschaft für Sozialarbeit 2001, S. 1). Klinische Sozialarbeit
wird nicht wie die Psychotherapie im Sinne kassenärztlicher Leistungen5 er-

sowie Aktivitätsformen (insbes. Handlungsschemata) ( ... ), Ordnungsstrukturen und ( ... )


symbolischen Verarbeitungsweisen" (Schütze 1982, S. 38). Schließlich sieht Hildenbrand
(1998) die Aufgabe einer klinischen Soziologie darin, "Deformationen professionellen
Handelns im Licht der Struktur professionellen Handelns zu rekonstruieren und mit den
Professionellen gemeinsam Handlungsoptionen zu entwickeln, die mit den Voraussetzun-
gen professionellen Handelns kompatibel sind" (S. 215).
4 Die für eine zukünftige klinische Sozialarbeit aufgestellten umfassenden Kompetenzkatalo-
ge werfen angesichts ihres programmatischen Umfangs allerdings die Frage nach deren
professioneller Spezifik auf, wie sie etwa im Konzept eines Case-Management entfaltet
wurde (vgl. auch Wendt 1997).
5 Am 1. Januar 1999 ist in Deutschland das Psychotherapeutengesetz (PTG) in Kraft getre-
ten, welches dazu geführt hat, dass neben ärztlichen auch psychologische Psychotherapeu-
ten und Kinder- und Jugendpsychotherapeuten Mitglieder der Kassenärztlichen Vereini-
gungen geworden sind. Damit einher geht der Schutz des Titels Psychotherapeutln. Nach
den Psychotherapie-Richtlinien der Kassenärztlichen Bundesvereinigung sind nur die tie-
fenpsychologisch fundierte Psychotherapie, die analytische Psychotherapie und die Ver-
haltenstherapie anerkannte Verfahren der Psychotherapie und somit als Kassenleistungen
abrechnungsfähig. Die nicht über Krankenkassen abrechnungsfähigen Verfahren der Psy-
chotherapie setzen darüber hinaus die Berechtigung zur Ausübung der Heilkunde als Arzt,
Klinische Sozialarbeit 187

bracht, vielmehr findet sie ihren Ort in zahlreichen Einrichtungen der medi-
zinischen und psychosozialen Versorgung im Sinne eines institutionalisierten
Angebots. 6

1.1 Institutionelle Rahmung klinischer Sozialarbeit

Institutionen können allgemein als auf Dauer gestellte, rechtlich garantierte,


planmäßige sowie auf Zwecke ausgerichtete Regelmäßigkeiten und Ord-
nungsstrukturen des sozialen Handeins angesehen werden, die es ermögli-
chen, auf Aufgaben und Problembestände in analoger und vorhersehbarer
Weise zu reagieren. Sie weisen einen eigenständigen und überindividuellen
sozialen Tatsachencharakter auf, ordnen Aktivitäten einen bestimmten Sinn
und Wert zu und integrieren sie in einen übergeordneten Rahmen. Bringt die
institutionelle Routinisierung erwartbarer Handlungsabläufe einerseits eine
Entlastung von ständiger Neuorientierung und Handlungsabstimmung mit
sich, so wird andererseits das Spektrum der Handlungsmöglichkeiten be-
grenzt und eingeschränkt. Auf der Handlungsebene findet Institutionalisie-
rung statt, sobald gewohnheitsmäßige Handlungen durch Typen von Hand-
lungen wechselseitig charakterisiert werden (vgl. BergerlLuckmann 1980, S.
58). Institutionen können somit als "brute facts"? angesehen werden. Sie bil-
den soziale Muster aus, die für die Akteure einen sicheren und gewissen
Status oder eine solche Eigenschaft erreicht haben. Institutionelle Verhal-
tensweisen und Strukturen verändern sich in der Regel langsam. "Institutio-
nen bestehen weniger, weil sie durch bewusste Handlungen produziert und
reproduziert werden, sondern vielmehr, weil sie durch routinemäßige repro-
duzierende Verfahren, d.h. quasi-automatische Verhaltensabläufe (Skripte),
unterstützt und aufrechterhalten werden, und zwar so lange, bis eine Störung
aus der Umwelt den Reproduktionsprozess unterbricht ( ... ). Die Verände-
rungsträgheit von Organisationen liegt weniger in den materiellen "sunk
costs"8 begründet, sondern vor allem darin, dass institutionalisierte Elemente
reproduziert werden, weil Individuen sich oftmals Alternativen nicht vorstel-
len können und wenn sie es können, diese als unrealistisch betrachten" (Kie-
ser 1999, S. 322).

Psychotherapeut oder Heilpraktiker voraus. In einigen Bundesländern ist der ElWerb der
Genehmigung zur berufsmäßigen Ausübung der Heilkunde ohne Approbation auf dem be-
grenzten Gebiet der Psychotherapie möglich (sog. "Kleiner Heilpraktikerschein"). Meist
firmiert dieser Personenkreis unter dem Titel "Heilpraktiker für Psychotherapie", worunter
auch zahlreiche SozialarbeiterInnen zu finden sind.
6 Eine selbstständige Berufstätigkeit, wie sie in den USA gerade für das Case Management
im Gesundheits- und Sozial wesen durch ca. 100.000 Personen ausgeübt wird, beginnt sich
in Deutschland erst keirnhaft zu entfalten (vgl. Wendt 1997, S. 22ff.).
7 Im wörtlichen Sinne ,,rohe Fakten" oder sinngemäß soziale Tatsachen.
8 Im wörtlichen Sinne die "versenkten Kosten" oder sinngemäß die in die Institution bereits
investierten Kosten, die ihren "Wert" markieren.
188 Eberhard Nölke

Institutionelle Handlungsfelder einer klinischen Sozialarbeit lassen sich


in einer Matrix zunächst nach ihrer Ausrichtung auf KlientInnen eines be-
stimmten Lebensalters sowie einer primären Problemkonstellation differen-
zieren.
Die institutionellen Ablaufmuster9 beziehen sich lebensabschnittsspezi-
fisch, problembezogen und organisiert auf die Integration bzw. Reintegration
der Gesellschaftsmitglieder. Neben den regulären Institutionen, wie Kinder-
tagesstätten, Schulen, Verbände und Betriebe, sind die klinisch spezialisier-
ten Institutionen und das professionelle Personal in ihrer Organisationsform
und ihrem Handeln so auf die Krisenbewältigung ausgerichtet, dass die ma-
ximale lebenspraktische Autonomie einer beschädigten Identität wieder her-
gestellt werden kann. Klinische Sozialarbeit ist hier eingebunden in institu-
tionelle Abläufe, die einen zeitlichen, räumlichen und organisatorischen
Rahmen vorgeben, innerhalb dessen sich ein konstruktives Arbeitsbündnis
zwischen KlientInnen und TherapeutInnen etablieren soll.
Der klinischen Sozialarbeit in Institutionen kommt dabei auch eine Brük-
kenfunktion zu. Sie steht im Beziehungsgefüge zu anderen Einrichtungen der
ambulanten oder stationären psychosozialen Betreuung und Versorgung oder
hat eine begleitende und stützende Funktion für den Prozess der Rückkehr in
die Lebenspraxis des Alltags.
Jenseits programmatischer Überlegungen oder prologartiger Bestimmungs-
versuche lO dessen, was klinische Sozialarbeit darstellen soll, wird es im Sinne
einer empirisch fundierten Theoriebildung 11 nicht zuletzt auch darauf ankom-
men, zunächst die je arbeits spezifischen Kernprobleme, unaufhebbaren Para-
doxien und aufhebbaren Widersprüche in den Feldern der klinischen Sozialar-
beit genauer zu bestimmen. Gerade Verfahren der qualitativen Sozialforschung

9 Dieser Begriff stammt von Fritz Schütze. Institutionelle Ablaufmuster und -erwartungen
des Lebenslaufs kennzeichnen einen präformierten lebenszyklischen Erwartungsfahrplan
im Zusammenhang gesamtgesellschaftlicher oder bereichsspezifischer Institutionalisierun-
gen, wie familienzyklische oder ausbildungs- und berufsspezifische Phasen und Stufen.
Entgegen ihrer normativen Verbindlichkeit und institutionell verbürgten Wirksamkeit treten
sie in aller Regel als Hintergrundfolie umfassender lebenszyklischer Normalformerwartun-
gen in den Selbstdarstellungen weniger in Erscheinung (vgl. auch Nölke 1994, S. 56).
10 Einen solchen Bestimmungsversuch aus Sicht des klinischen Psychologen unternimmt
Feinbier (1997).
II Demgemäss erfolgen theoretische Aussagen gleichsam empiriegesättigt auf der Folie einer
strikten Einzelfallrekonstruktion gemäß einer nicht subsumtionslogischen abduktiven Er-
kenntnislogik. Dem abduktiven Verfahren liegt eine erkenntnisgenerierende Forschungslo-
gik zugrunde, die auf eine "Neugenerierung von Theoriebeständen" (Schütze 1987, S. 258)
zielt und gemäß der sich die theoretischen und begrifflichen Dimensionen und das zunächst
nur vage Verständnis der Zusammenhänge des Forschungsfeldes in einem Erkundungs-,
Entdeckungs- und Explikationsprozess am konkreten Material zunehmend verdichtet, kon-
kretisiert und differenziert (vgl. auch Strauss/Corbin 1996).
Klinische Sozialarbeit 189
bieten sich hier für Untersuchungen über Problemstellungen, das Orientie-
rungswissen und die Arbeitsroutinen der klinischen Praktikerlnnen an. 12
Des Weiteren ließen sich so die biographischen Entwicklungen und Le-
benslagen der Klientlnnen in den Feldern klinischer Sozialarbeit rekonstruieren
und hinsichtlich der berufs typischen AufgabensteIlungen reflektieren. Hierzu
gibt es bereits eine Reihe von grundlegenden, klientelspezifischen Studien, wie
Untersuchungen zu biographischen Verläufen und Prozessierungen psychiatri-
scher Patienten (Riemann 1987), zu den Krankheitsverlaufskurven und sozialen
Bewältigungsformen von Personen, die durch Herzinfarkt, Querschnittsläh-
mung oder Schlaganfall chronisch erkrankten (CorbiniStrauss 1993), zu den
Biographien und Lebenssituationen von seit Geburt oder früher Kindheit Be-
hinderten (Pieper 1993) sowie familienbiographische und milieuspezifische
Rekonstruktionen von schizophren Erkrankten (Hildenbrand 1987).
Darüber hinaus lassen sich die institutionellen Rahmenbedingungen, die
arbeitsförmigen Organisationsstrukturen und die alltäglichen Routineprakti-
ken 13 untersuchen, etwa im Hinblick auf Fragen der Zuständigkeit angesichts
einer komplexen Fallstruktur (Müller 1993; Schütze 1993), der Interdiszipli-
narität, der fachlichen und dienstlichen Hierarchisierung im Klinikalltag
(Garms-HomolovaiSchaeffer 1990) oder der Bildung und Abgrenzung einer
spezifischen Fachkultur klinischer Sozialarbeit in der Praxis durch Initiierung
und Organisation von Arbeitskreisen oder Mitgliedschaft in Fachgesellschaf-
ten, die einen Bezug zu aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen gewähr-
leisten. Ein weiteres Untersuchungsfeld stellt die selbstreflexive Bearbeitung
beruflicher Handlungsprobleme in supervisor ischen Settings klinischer Sozi-
alarbeit dar (Müller 1996). Neben den so genannten Fallkonferenzen, wie sie
für Klinikteams typisch sind, könnten Fallanalysen zu einer weiteren Fundie-
rung klinischer Erkenntnis beitragen (Hildenbrand 1998).

12 So befragte Knoll (2000) zwei der charismatischen Protagonistengeneration zugehörige


Fürsorgerinnen zu ihrer Arbeit in der Psychiatrie und führte kontrastiv eine Gruppendiskus-
sion mit Angehörigen der heutigen Sozialarbeiterinnengeneration zu ihrer Arbeit in der
Psychiatrie durch, um deren sozialtherapeutische Funktion genauer bestimmen zu können.
Dabei gelingt es ihm, drei Dimensionen des sozialtherapeutischen HandeIns im Feld der
Psychiatrie zu bestimmen im Anschluss an den Idealtypus eines "Hermeneuten institutio-
nalisierter Sinnhorizonte"; Sozialtherapie als allgemeines klinisches Handlungskonzept, als
wissenschaftlich reflektiertes Handeln, das auf die Veränderung und Neuschaffung institu-
tioneller Strukturen zielt, sowie ein spezifisches sozialtherapeutisches Handlungskonzept,
das neben und in fließendem Übergang zu somatischer Behandlung und Psychotherapie
gleichfalls auf die Beeinflussung der individuellen Persönlichkeitsstruktur zielt.
13 So untersuchen Fengler und Fengler (1980) die Alltagsroutinen in einer psychiatrischen
Anstalt mittels teilnehmender Beobachtung und Engelmeyer (1997) den Zusammenhang
von biographischer Entwicklung und Arbeitssituation von nichtärztlichen Mitarbeitern in
drei Kliniken der Krebsnachsorge.
190 Eberhard Nölke

1.2 Begriff und Bedeutung des Klinischen

Für jede Gesellschaft stellt die Gesundheit als Teilbereich "psychosozialer


Integrität" (Oevermann 1996) einen zentralen Wert dar und bildet im bipola-
ren Spannungsfeld zu Krankheit eine fundamentale Kategorie der Differen-
zierung. Die Erhaltung von Gesundheit und die Behandlung von Krankheiten
wurden einer Reihe von Berufen zugeordnet, in deren Mittelpunkt die Profes-
sion der ÄrztInnen steht. Vor dem Hintergrund einer mit den verfügbaren le-
benspraktischen Mitteln nicht lösbaren Krise und eines Leidensdrucks kommt
es zwischen dem Professionellen und der/dem PatientinlPatienten zu einem
Arbeitsbündnis der stellvertretenden Krisenbearbeitung als einer wider-
sprüchlichen Einheit von rollenspezifischen und diffusen Beziehungsanteilen.
Zu dieser professionellen Arbeit gehört einerseits die hermeneutische Rekon-
struktion von Einzelfällen und andererseits die Subsumtion der Einzelfälle
unter allgemeine wissenschaftliche Kategorien. Die ärztliche Tätigkeit steht
primär im Fokus der Sicherung psychosozialer Integrität, hat aber implizit
auch mit dem gesellschaftlichen Normenkonsens der Zuschreibung von
Krankheit und Gesundheit zu tun, insoweit die mit der Krankenrolle einher-
gehenden privilegierten Entlastungen auf ihre Anspruchsberechtigung geprüft
werden oder kehrseitig bei Verweigerung der Krankenrolle durch die Klien-
tInnen unter Aufzeigen der gesundheitlichen Konsequenzen die Übernahme
der Kranken-Position gefordert wird (vgl. hierzu bereits Parsons 1951/1965).
Der Begriff des "Klinischen" beinhaltet eine auf ein lebenspraktisches
Problem ausgerichtete theoretische, methodische und interventionspraktische
professionelle Orientierung. So zielt die medizinische Disziplin in ihrer klini-
schen Ausrichtung auf die Erforschung und Behandlung von Krankheiten.
Etymologisch leitet sich "klinisch" vom griechischen "kline" ab, das als ,,La-
ger oder Bett" den Ort der darauf ausgerichteten Heilkunst (griech. klinike)
angibt. Der Klinik als Behandlungsort bettlägeriger Kranker korrespondiert
der Kliniker als Lehrer und Forscher an einer Universitätsklinik und der in
klinischer Ausbildung stehende Medizinstudent. In einer weitergehenden
Metaphorisierung bedeutet "klinisch" für den Mediziner die diagnostische
Untersuchung, die Beobachtung des Verlaufs und die Behandlung der Sym-
ptomkonfigurationen von Krankheiten in der Praxis. Die Psychologie hat sich
per Analogiebildung dieses Begriffes bedient. "Klinisch" umschreibt immer
den Einzelfall in seiner jeweiligen Konfiguration sowie die sich seinen Ei-
genheiten anpassende Diagnostik und Therapie. Im Unterschied zu einer auf
Technologie beruhenden Anwendung wissenschaftlichen Wissens zeichnet
sich hier das professionelle Handeln explizit durch den rekonstruktiven Be-
zug auf die Einzigartigkeit des Falles aus.
Klinische Sozialarbeit 191

2. Zwei exemplarische Erkundungen

Anhand zweier Fallbeispiele aus der alltäglichen Arbeit von Sozialarbeiterin-


nen in klinischen Handlungsfeldern sollen im Folgenden unterschiedliche
Funktionen der qualitativen Fallanalyse vorgestellt werden. Das erste Bei-
spiel basiert auf der Befragung einer Sozialarbeiterin zu ihrer klinischen Tä-
tigkeit, die im Rahmen einer Forschungsarbeit durchgeführt wurde. 14 Anhand
des im narrativen Interview gewonnenen Materials wurden die Kernprobleme
und Paradoxien der klinischen Arbeit nach dem Auswertungsverfahren von
Fritz Schütze (Schütze 1983, 1987) rekonstruiert. Zentrale Auswertungs-
schritte sind dabei die inhaltlich-strukturelle Beschreibung des Textes, die
analytische Abstraktion sowie Kontrastierungsverfahren und die Bildung ei-
nes theoretischen Modells. Dieses Beispiel vermittelt einen Einblick in die
Struktur der klinischen Tätigkeit und den Verlauf einer Intervention in der
Tagesklinik einer Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Das zweite Beispiel stellt eine weitere Funktion qualitativer Fallanalyse
angesichts eines beruflichen Orientierungs- und Handlungsproblems vor.
Hier bringen klinische SozialarbeiterInnen Materialien ihrer Praxis im Rah-
men von Interpretationswerkstätten ein, um das berufliche Handlungsfeld,
klienteie Verläufe oder institutionelle Strukturen im Hinblick auf eine weitere
Professionalisierung ihrer Arbeit zu analysieren.

2.1 Klinische Sozialarbeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

Die Sozialarbeiterin Hannelore Bunt arbeitet in der Tagesklinik einer Kinder-


und Jugendpsychiatrie, nachdem sie zuvor in einem heilpädagogischen Heim
tätig gewesen war und eine Weiterbildung in Familientherapie absolviert hat.
Sie wurde zu ihrer Arbeit befragt und schilderte im Rahmen eines narrativen
Interviews den Fallverlauf ihrer klinischen Arbeit mit einer zehnjährigen Pa-
tientin.
Die Kinder- und Jugendpsychiatrie besteht aus drei Abteilungen. In der
Ambulanz, die allen Jugendlichen und Familien mit Kindern zur Diagnose
und ambulanter Behandlung offen steht, arbeiten SozialarbeiterInnen als Fa-
milientherapeutInnen neben ÄrztInnen und PsychologInnen. Die Station ver-
fügt über zwölf Plätze, auf die Jugendliche in akuten Krisen oder psychotisch
erkrankte Kinder bzw. Kinder im vorpubertären Alter mit erheblichen Bezie-
hungsstörungen zur Behandlung aufgenommen werden. In die gleichfalls
zwölf Plätze umfassende Tagesklinik kommen Kinder und Jugendliche bis
zum Alter von vierzehn Jahren, deren Probleme vorwiegend unter Diagnosen
wie neurotische Störungen, Auffälligkeiten des Sozial verhaltens, emotionale

14 Das Interview wurde von Ortrud Richter (1995) durchgeführt.


192 Eberhard Nölke
Probleme oder Beziehungsstörungen, seltener unter psychotische Erkrankun-
gen subsumiert werden. Konzeptionell sollen die Kinder und Jugendlichen in
ihrem ursprünglichen sozialen Umfeld verbleiben und in der Tagesklinik die
Angebote für einen Beziehungsaufbau in der Gruppe und eine therapeutische
Behandlung wahrnehmen, wobei den jungen PatientInnen je eine für die Ko-
ordinierung der Behandlungsmaßnahmen und den konstanten Informations-
fluss verantwortliche Bezugsbetreuerin zugeordnet ist. Die klinischen Sozial-
arbeiterInnen sind sowohl für die pädagogische Gruppenarbeit als auch für
die Einzelbetreuung und die familientherapeutischen Sitzungen zuständig, die
sie gemeinsam mit einem/einer gegengeschlechtlichen PartnerIn durchführen.
Im Sinne einer Strukturanalyse ließe sich bereits an dieser Stelle unter pro-
fessionstheoretischen Gesichtspunkten die Frage aufwerfen, inwieweit diese
gleichzeitige Einbindung in sowohl erzieherisch-kontrollierende als auch the-
rapeutische Funktionen der Klinikarbeit ein paradoxes Strukturmuster her-
vortreibt, bei dem sich das therapeutische Arbeitsbündnis tendenziell defor-
miert. Allerdings ist die umfassende Zuständigkeit Merkmal einer familien-
analogen Position, bei der im Sinne der stellvertretenden Bearbeitung ent-
wicklungsspezifischer Probleme im Kontext einer Dominanz diffuser Sozial-
beziehung die ganze Person in den Blick gerät. 15
Die Kinder und Jugendlichen sind durchschnittlich acht Jahre alt und be-
suchen die Tagesklinik sechs bis neun Monate lang. Während dieser Zeit er-
hält der überwiegende Teil von ihnen in der angeschlossenen Klinikschule
einige Stunden am Tag Unterricht in Kleinstgruppen. Ein zentraler Schwer-
punkt der Behandlung sind die familientherapeutischen Gespräche, zu denen
sich die Angehörigen bei der Aufnahme der Klinik bindend verpflichten
müssen. Es wird demnach davon ausgegangen, dass die Störungen der Pati-
entlnnen im Zusammenhang der engsten Bezugsgruppe, der Familie, zu se-
hen sind und diese daher In die Behandlung einzubeziehen ist. 16 Die Maß-
nahmen werden gemäß Sozialgesetzbuch V, § 39 Absatz I über die teilstatio-
näre Krankenhausbehandlung von den Krankenkassen finanziert. Dazu ist ein
entsprechendes ärztliches Gutachten erforderlich.
Frau Bunt erzählt vom Fall eines zehnjährigen Mädchens, das aufgrund
einer ,,schulproblematik, Schulverweigerung seit circa einem Jahr' in die
Tagesklinik kommt. Im Zuge der ersten Arbeitsschritte führt Frau Bunt mit
einem Kollegen einen Hausbesuch durch, um die Problematik und die Fami-
liensituation zu explorieren und die Bedingungen eines Arbeitskontraktes zu
vereinbaren. Die Familie bewohnt ein eigenes Haus in ländlicher Umgebung,

15 VgJ. hierzu die Analyse der Paradoxien öffentlicher Erziehung am Beispiel des Kinderdorf-
Modells Nölke 1996.
16 Gerade systemtheoretische Konzepte der Familientherapie sehen die Symptomatiken der
PatientInnen gleichsam als Ausdruck einer latenten konflikthaften Sinnstruktur im Kontext
familialer bzw. familienbiographischer Konstellationen, in denen der sog. Indexpatient eine
für die Aufrechterhaltung der Homöostase wichtige Funktion einnimmt oder auf ein unter-
schwelliges generationenspezifisches Konfliktmuster verweist (vgJ. Hildenbrand 1998).
Klinische Sozialarbeit 193
,,n' einfaches aber schönes Haus mit großem Garten, wo für die Kinder (.)
Spielgeräte waren, Haus gebaut war, so mit sehr viel Liebe für die Kinder
gemacht war, in dem die beiden Töchter spielen konnten."
Man vereinbart, dass das Mädchen täglich in die Tagesklinik kommen
soll, um dort therapeutisch betreut und unterrichtet zu werden. Als das Mäd-
chen das erste Mal von der Mutter in die Klinik gebracht wird, habe es einen
kleinkindartigen Eindruck gemacht. Mit der Verabschiedung der Mutter
durch Frau Bunt wird der institutionalisierte Übergang in eine stellvertreten-
de Zuständigkeit markiert und der heikle Moment der Trennung von der fa-
milialen Bezugsperson bearbeitet. Eine Hürde für die Möglichkeit, mit dem
Mädchen im Rahmen des Klinikarrangements zu arbeiten, hat in den
,,schwierigkeiten, sie zu Hause wegzukriegen", bestanden, da sich das Mäd-
chen zunächst weigerte, das Haus zu verlassen und in den Wagen des Arbei-
ter-Samariter-Bundes einzusteigen. In einer Art Ferntherapie telefoniert Frau
Bunt fast täglich mit der Mutter und bestärkt sie in der notwendigen Konse-
quenz einer Haltung, "dass das Kind trotz Weinen und Sonstwas mitgehen
muss". Nach "einer gewissen Zeit" sei die Tochter schließlich gekommen,
weil es der Mutter dann doch gelungen sei, "das Kind gehen zu lassen".
In der Anfangsphase flieht das Kind mehrmals aus der Tagesklinik und
Frau Bunt muss es aus einer anderen Abteilung der Klinik wieder abholen.
Da das Mädchen sich geweigert habe, mit ihr zu gehen, habe sie es fest-
gehalten und sei schließlich ,,so" mit ihr zur Tagesklinik zurückgegangen.
Dabei habe sie dem Kind gesagt: ,,Du pass mal auf, das wird jetzt ganz
schwer für dich, diese Zeit die du hier sein musst, aber ich werd . ich werd
sie mit dir durchstehen. Ich kann das nicht erklären, es war einfach so'n
Gefühl: jetzt isses mein Bezugskind und ja, wir werden es durchstehen." Mit
dieser strengen Fokussierung und dem Versprechen, sich dem Mädchen voll
zu widmen, sei plötzlich, so Frau Bunt, ,,Beziehung übergesprungen" und das
Gefühl, ,jetzt isses mein Bezugskind und ja, wir werden es durchstehen."
Im Handlungsbereich des Klinikalltags und in der Schule wird die Sozi-
alarbeiterin wie die leibliche Mutter umfassend in Auseinandersetzungen um
den Schulbesuch hineingezogen. So muss Frau Bunt in einem fortwährenden
Kampf und bis an den Rand der Erschöpfung das Mädchen immer wieder in
die Schule zurückbringen. Zeitweilig bittet sie einen Kollegen, diese Aufgabe
zu übernehmen, da sie den Eindruck gewonnen hatte, "ich schaff' seinfach
nicht mehr, also sie hat mich wirklich an meine Grenzen gebracht, es gab
auch körperliche Auseinandersetzungen mit ihr". Bei den Schularbeiten ent-
wickelt sich der gleiche Kampf. Sie habe sich schließlich "vor die Zimmertür
gestellt und gesagt: Du bleibst hier drin!". Das körperliche Gerangel ist Aus-
druck einer konfliktgeladenen Auseinandersetzung wie auch des, teils hilflos
anmutenden, Bemühens um den jungen Menschen. Dabei gerät die Sozialar-
beiterin in eine moralische Legitimationskrise hinsichtlich der Frage nach der
Angemessenheit körperlicher Auseinandersetzungen mit einem Kind, dem sie
zunehmend Sympathien entgegenbringt. Sie kommentiert diesen Zwiespalt
194 Eberhard Nölke
resümierend mit den Worten: ,jch denk ich hab mit ihr gekämpft, und ich hab
um sie gekämpft".
Im zweiten zentralen Bereich ihrer Tätigkeit, der Spieltherapie, haben
sich vier Phasen unterscheiden lassen, die Frau Bunt als "klassisch" bezeich-
net.
Zu Beginn habe das Mädchen "über lange Strecken Baby gespielt", sich
"versorgen lassen" und den Vorrat an ,,Milch, Kakao und Haferflocken im
Spielzimmer mit. die hat sie immer gänzlich aufgebraucht". Nach einer
zweiten Phase, in der recht aggressive Spiele im Mittelpunkt standen, deren
Attacken sich auch gegen die Sozialarbeiterin richteten, wurde in einer drit-
ten Phase Frau Bunt selbst in die Rolle des zu versorgenden Kindes gedrängt
und gefüttert. Schließlich habe eine "lange Phase der Loslösung" stattgefun-
den, die ihren symbolischen Ausdruck auch darin fand, dass das Mädchen sie
aufforderte, sie auf der Treppe einzuholen und zu "fangen". Während das
Mädchen sich anfangs nur auf den unteren Stufen "fangen" ließ, gelang dies
zunehmend auf immer höheren Ebenen und vollzog sich zuletzt im oberen
Stockwerk. Die Sozialarbeiterin deutet diesen therapeutischen Interaktions-
modus ganz im metaphorischen Sinne eines nachholenden Durchlebens zen-
traler Entwicklungsstufen und bilanziert dabei ihre therapeutische Arbeit
durchaus positiv.
Der dritte zentrale Tätigkeitsbereich umfasst die so genannten "Famili-
engespräche"17, zu deren Zustandekommen die Sozialarbeiterin immer wie-
der organisatorische Anstrengungen unternehmen muss. So gelingt es ihr, ei-
nen Freigang für den zwischenzeitlich wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss
verurteilten und kurzfristig inhaftierten Vater für die Zeit der Familienge-
spräche zu erwirken. Da dieser trotzdem an einigen der vereinbarten Treffen
nicht teilnimmt, werden die anderen Teilnehmer der Familie trotz ihres lan-
gen Anfahrtsweges wieder nach Hause geschickt. Diese Form einer erzieheri-
schen Maßnahme mag in der Absicht geschehen, den Vater einem zuneh-
menden Druck seitens der Familie auszusetzen, sein Verhalten zu ändern und
sich an Absprachen zu halten. Obwohl die Sozialarbeiterin und ihre Kolle-
gInnen den Sinn einer solch harten Maßnahme auch in Zweifel zogen, habe
gerade ihre Klientin dem Vater nach solchen Momenten ,,schon sehr einge-
heizt".
Nachdem das Mädchen wieder regelmäßig zur Schule geht, wird auch
die Behandlung in der Klinik gemäß Beschluss in der Teamsitzung beendet.
Die Sozialarbeiterin bietet den Eltern weitere Gespräche an, die sie jedoch
nicht annehmen. Zum Ende der Behandlung bemerkt Frau Bunt, dass das
Mädchen zwei Wochen vor der Entlassung ihre Periode bekommen habe. Sie
nimmt dieses lebenszyklische Datum als positives Symbol, als Hinweis so-

17 Dass die Erzählerin nicht wie in ihren allgemeineren Ausführungen von Familientherapie
spricht, mag dem Umstand geschuldet sein, dass das für Therapie konstitutive Moment der
Freiwilligkeit als Basis eines Arbeitsbündnisses eingeschränkt ist.
Klinische Sozialarbeit 195

wohl auf den Abschied von einer Kindheitsphase als auch auf den Abschluss
der Arbeit mit ihr.
Frau Bunt berichtet weiter, dass sie später einmal von ihrer Patientin an
einer Bushaltestelle angesprochen worden sei. Die ehemalige Patientin hatte
ihr kleines Baby bei sich gehabt. Sie erzählte, dass sie sich jetzt, als Mutter
eines eigenen Mädchens, immer gerne an die Situationen im Spielzimmer
erinnere. An dieser Stelle im Interview zeigt sich die Sozialarbeiterin tief be-
wegt über diesen klaren Hinweis auf die Langzeitwirkung ihrer Arbeit bzw.
der mütterlichen Zuwendung in der Spieltherapie.
Zusammenfassend lassen sich hier drei Felder klinischer Sozialarbeit in
der Kinder- und Jugendpsychiatrie benennen, die einen je spezifischen Fokus
haben: Zum einen ist die klinische Sozialarbeiterin zuständig für die Leitung
der Gruppe in der Tagesklinik und besonders für einzelne Kinder, was ihren
Arbeitsalltag insofern bestimmt, als sie die Kinder und Jugendlichen betreut
und disziplinierend eingreift. Dabei begleitet und lenkt sie insbesondere ihr
Bezugskind im Klinikalltag und wird von diesem so als ganze Person heraus-
gefordert, dass sie phasenweise überfordert ist und kollegiale Unterstützung
in Anspruch nehmen muss. Hannelore Bunt hat hier die seltene Möglichkeit,
als Sozialarbeiterin im klinischen Bereich die von ihr so genannte "Knochen-
arbeit" an der Basis kennen zu lernen, was vielen ÄrztInnen, PsychologInnen
und FunktionstherapeutInnen verwehrt ist. Das hier in einem zufälligen Ver-
teilungsmodus entstehende BezugsbetreuerInnensystem forciert eine umfas-
sende Zuständigkeit und Verantwortungsübernahme auch für solche Kinder
und Jugendliche, die sich in der gemeinsamen Arbeit aggressiv distanzieren.
Das Misslingen einer solchen Beziehung kann das Gefühl eines professio-
nellen Scheiterns zur Folge haben, vor dem sich Professionsangehörige auf
einer höheren Statusstufe, wie ÄrztInnen und PsychologInnen, emotional und
kognitiv insofern besser zu schützen vermögen, als sie Konflikte der thera-
peutischen Interaktion vorrangig als immanente Entwicklung von PatientIn-
nen ansehen. Im Alltag klinischer SozialarbeiterInnen werden die institutio-
nellen Abläufe von den spezifischen Interaktionsmustern der Kinder und Ju-
gendlichen jedoch so modifiziert, dass sich darin zentrale Strukturmuster und
Analogien zu familialen Konflikttypen und Szenen wiederfinden. In dem
Maße, wie es der Sozialarbeiterin gelingt, die übertragene emotionale Kon-
fliktstruktur zu erkennen, anzunehmen und praktisch zu bearbeiten, wird sie
dieser schwierigen Aufgabe auch im Klinikalltag gerecht.
Des Weiteren besteht die klinische Aufgabe von Hannelore Bunt in der
Arbeit mit den Familien sowie den einzelnen Kindern und Jugendlichen in
den stärker kontrollierbaren therapeutischen Settings. Während sie im alltäg-
lichen Handlungszusammenhang den institutionellen und gruppenförmigen
Ablaufmustern und ihren Ziel- und Zeitvorgaben, wie dem schulischen Inte-
grationsprozess, gerecht werden muss, kann sie hier als Spiel- und Familien-
therapeutin die Intensität und den Umfang der Intervention eigenständig pla-
nen und gestalten. Komplementär zu ihrer Funktion als fordernde Bezugsper-
196 Eberhard Nölke

son beim Schulbesuch und bei den Anforderungen des Alltags hält und füttert
sie ihr Bezugskind in der Einzeltherapie, stellt sich mit Empathie und Zutrau-
en in die konstruktiven Selbstheilungskräfte als Übertragungsobjekt im szeni-
schen Spiel zur Verfügung und handelt zudem im familientherapieanalogen
Setting als unparteiische und Perspektiven vermittelnde Moderatorin.
Neben den Aufgaben der Problemeinschätzung und Kooperationsverein-
barung mit Kind und Eltern muss die Problembearbeitung mit den institutio-
nellen Ablaufmustern in Einklang gebracht werden. Dies erfordert eine fall-
bezogene Strukturierungskompetenz hinsichtlich der räumlich/zeitlichen Be-
dingungen. Die klinische Arbeit erfolgt auf verschiedenen Ebenen der Pro-
blembearbeitung, die sich einerseits sinnvoll ergänzen, andererseits die klini-
schen SozialarbeiterInnen in eine zu balancierende Spannung versetzen ange-
sichts der verschiedenen Positionen, die sie gegenüber den Kindern bzw. Ju-
gendlichen und ihren Bezugspersonen im jeweiligen Setting einnehmen. Der
klinische Fallbezug bleibt im vorliegenden Fall auf die Besserung der be-
grenzten Ausgangssymptomatik einer Schulverweigerung beschränkt.

2.2 Klinische Sozialarbeit im Kontext der Behandlung und


Betreuung aidsinjizierter Kinder und ihrer Angehörigen

Das folgende Beispiel stellt eine weitere Funktion der qualitativen Fallanaly-
se klinischer Sozialarbeit vor. Klinische SozialarbeiterInnen bearbeiten dabei
in so genannten Fallanalyseseminaren unter Leitung von Sozialwissen-
schaftlerlnnen das von ihnen dokumentierte Material der Arbeit mit Klien-
tInnen, wie Protokolle, familienbiographische Daten oder Arbeitskonzepte
unter Verwendung sozialwissenschaftlicher Rekonstruktionsverfahren. Im
Gegensatz zu dem im ersten Fallbeispiel vorgestellten Typus wissenschaftli-
cher Forschung stellt sich hier für die PraktikerInnen ein zu vermittelnder
Hiatus zwischen sich bereits vollziehender, professionalisierungsbedürftiger
klinischer Praxis und Formen der distanzbildenden rekonstruktiven Analyse
dieser Praxis ein.
Frau Peters war vor ihrer klinischen Arbeit mehrere Jahre in der Jugendar-
beit und Jugendberufshilfe tätig und hatte an einer zweijährigen berufsbeglei-
tenden Weiterbildung für MitarbeiterInnen, die mit arbeitslosen und randstän-
digen Jugendlichen arbeiten, teilgenommen. Bestandteile dieses integrierten
Forschungs- und Weiterbildungsprojektes waren neben Theorievermittlung,
Selbsterfahrung und Gruppensupervision auch Seminare zur sozial wissen-
schaftlichen Fallanalyse (vgl. Nölke u.a. 1992). Hier wurden insbesondere Bio-
graphien von Jugendlichen mit den Analyseverfahren der objektiven Herme-
neutik, der Biographieanalyse sowie der Tiefenhermeneutik analysiert. Wäh-
rend der Weiterbildung wechselten einige TeilnehmerInnen in neue Berufsfel-
der der Sozialen Arbeit. Sie nutzten dabei neben der Gruppensupervision gera-
de die Fallanalyseseminare zur Klärung von Fragen zu klientelen, institutio-
Klinische Sozialarbeit 197
nellen und professions spezifischen Problemen. Hierzu wurde auch selbst erho-
benes und verschriftlichtes Fallmaterial eingebracht. Frau Peters hatte kurz vor
Ende der Weiterbildung die Stelle einer Sozialarbeiterin in einem Projekt zur
Versorgung und Betreuung aidsinfizierter Kinder und deren Eltern übernom-
men. Hier sah sie sich damit konfrontiert, die nur allgemein vorgegebenen Auf-
gabenstellungen dieser klinischen Tätigkeit praktisch umzusetzen. Unspezifi-
sehe Aufgabenstellungen können dann von Vorteil sein, wenn es dem/der klini-
schen SozialarbeiterIn gelingt, das Arbeitsfeld mit Hilfe erworbener Methoden
eigenständig zu eruieren, die Tätigkeiten selbst zu definieren und somit flexibel
auf einzelfallspezifische Erfordernisse zu reagieren. Die qualitative Fallanalyse
fungiert hier im Zusammenhang einer praxisbegleitenden Konzeptentwicklung.
Frau Peters arbeitet seit drei Monaten in der Ambulanz der Universitäts-
Kinderklinik im Rahmen der modellhaften medizinischen und psychosozia-
len Versorgung von aidsinfizierten Kindern. Neben der medizinischen Be-
handlung durch ÄrztInnen und Krankenschwestern besteht ihre Aufgabe in
der psychosozialen Betreuung der Kinder sowie der Unterstützung der Be-
zugspersonen, vor allem der Eltern und Angehörigen, bei der Auseinander-
setzung mit HlV und Aids. Da die Krankheit nicht heilbar ist, geht es primär
um die Milderung der psychischen und sozialen Folgen der Erkrankung. Frau
Peters suchte Unterstützung im o.g. Forschungs- und Weiterbildungsprojek-
tes bei der Konzipierung und Durchführung ihrer Arbeit vor dem Hintergrund
eines nicht hinreichend genauen Arbeitsauftrages sowie der nach ihrer Ein-
schätzung unklaren Position innerhalb des Klinikteams. Die Klientel waren
vor allem Familien mit HlV -infizierten Kindern. Überwiegend handelte es
sich um jugendliche Frauen, die ihr erstes Kind bekommen hatten. Frühere
oder akute Drogenabhängigkeit war ein Merkmal vieler dieser jungen Eltern.
Daneben hatte sie mit Pflege- und Adoptiveltern zu tun in Fällen, wo die
leiblichen Eltern ihr Kind z.B. wegen Krankheit oder akuter Drogenabhän-
gigkeit nicht selbst betreuen konnten.
Frau Peters bemängelte, dass die Aufgabenstellung nur allgemein vorge-
geben sei und Unklarheit darüber herrsche, wie sie die damit verknüpften
Ziele in der Praxis erreichen solle. Sie habe die Stelle in der Klinik gerne an-
genommen, wisse aber nicht genau, was sie machen solle. Sie müsse sich
völlig neu orientieren, da sie zuvor einige Jahre in der offenen Jugendarbeit
tätig war und ihr der Bereich noch fremd sei. In der klinischen Praxis nähmen
die Eltern, überwiegend die Mütter, mit ihren Kindern meist nur die medizi-
nische Behandlung wahr, sie sitze in ihrem Arbeitszimmer und warte gleich-
sam auf Arbeit. Zwar nehme sie an den Behandlungen teil, spreche mit den
Eltern und spiele mit den Kindern, so gut es gehe, ansonsten" machen" die
Ärzte das meiste. Die Arbeit sei belastend, da Kinder und Eltern nicht nur
aufgrund der Behandlung leiden, sondern auch die gesamte Perspektive der
Beteiligten meist hoffnungslos sei. Das belaste sie auch oft bis zur Erschöp-
fung. Sie habe manchmal keine Lust mehr, zur Arbeit zu gehen. In den ge-
meinsamen Konferenzen wisse sie oft nicht, was sie zur jeweiligen Proble-
198 Eberhard Nölke

matik beitragen könne, vieles komme ihr "banal" vor angesichts der klaren
Aussagen der Mediziner, die genauer wüssten, was im Rahmen der Behand-
lung zu tun sei.
Wenn man diese Ausgangssituation betrachtet, dann kann man in erster
Annäherung drei Ebenen unterscheiden: Neben einem beruflichen Orientie-
rungsproblem, das sich aus dem Zusammenspiel professionsadäquater Bil-
dungsprozesse, institutionsspezifischer Rahmenbedingungen sowie berufs-
biographischer Formierungen ergibt (vgl. Nölke 2000), existiert eine kom-
plexe Problem- bzw. Erleidenssituation von Kindern und Eltern 18 , der mit ei-
nem entsprechenden medizinischen Behandlungs- und sozialpädagogischen
Betreuungsangebot unter den institutionsspezifischen Besonderheiten der
Ambulanz des Krankenhauses begegnet werden soll. Im Sinne einer praxis-
nahen Fallarbeit hat sie ihre Tätigkeit beschrieben, Fallmaterial gesammelt,
systematisch ausgewertet und auf dieser Basis ein Konzept entwickelt, mit
dessen Hilfe es ihr gelungen ist, ihre Arbeit klarer und fallbezogener zu
strukturieren und auch die kleinen, scheinbar unbedeutenden Arbeitsvollzüge
als notwendige Bestandteile eines größeren Arbeitsbogens zu sehen.
Folgende praktischen Arbeitsvollzüge und Tätigkeitsfelder im Kontext
der klinischen Arbeit ließen sich bestimmen:
Die Sozialarbeiterin begleitet den medizinischen Untersuchungs- und Be-
handlungsprozess. Dabei hilft sie den Einstieg in die medizinische Untersu-
chung und Behandlung zu erleichtern, steht den Eltern und Angehörigen
während der Behandlungsprozedur bei und nimmt mit den Kindern spieleri-
schen Kontakt auf. Zugleich ist damit die Möglichkeit der teilnehmenden Be-
obachtung der Interaktionen zwischen den Kindern und ihren Bezugsperso-
nen gegeben sowie eine Einstiegsmöglichkeit für anschließende Gespräche.
Hier lassen sich wiederum drei Phasen unterscheiden, die Frau Peters zwar
vollzogen, aber kaum beachtet und in ihrer Wichtigkeit eher als gering einge-
schätzt hatte.
In der ersten Phase (vor der Behandlung), die meist als reine Wartezeit
verbucht wird, fanden oft informelle Gespräche mit den Patientlnnen statt, in
denen die Betroffenen kurze Rückmeldungen zum eigenen und zum Befinden
des Kindes sowie Andeutungen über die Problematik der derzeitigen Lebens-
situation machten.
Eine zweite Phase stellte die Untersuchung und Behandlung selbst dar,
die sich von dreißig Minuten bis zu zwei Stunden Dauer erstrecken konnte.

18 Vgl. hierzu insbesondere das Konzept der Verlaufskurve, wie es von Fritz Schütze im An-
schluss an Strauss und Glaser in Deutschland auch durch zahlreiche empirische Arbeiten
fruchtbar gemacht wurde. Im Gegensatz zu biographischen Handlungsschemata, die für den
Prozess der vorwiegend intentionalen Steuerung stehen, kennzeichnen Verlaufskurven se-
quenziell geordnete Prozessstrukturen des Erleidens, die das Subjekt der Dominanz hetero-
gener sozialer Prozesse unterwirft, Formen der Selbstentfremdung forciert und die eigene
Kompetenz zum planvollen und kontrollierten Handeln nachhaltig untergräbt (vgl. Cor-
binlStrauss 1993; Schütze 1999).
Klinische Sozialarbeit 199

Den von ihr geleisteten Beistand während der Behandlung stufte Frau Peters
meist als geringfügig ein, da Ärztinnen und Krankenschwestern hier im Zen-
trum stünden. Gegenüber dieser Selbsteinschätzung erweist sich die klinische
Tätigkeit der Sozialarbeiterin aus der Sicht der Betroffenen als durchaus hilf-
reich. Sie spielt mit den Kindern und ist oft "nur da". In diesen Momenten
übernimmt sie Funktionen, zu deren Wahrnehmung die Eltern aufgrund ihrer
emotionalen Betroffenheit angesichts der schmerzhaften Behandlung ihres
Kindes momentan nicht in der Lage sind. So kann sie diejenigen, die die Be-
handlung des Kindes nicht ertragen, hinausbegleiten und ermutigen, ihnen
zuhören und sie trösten. Diese Anteile einer Gefühlsarbeit wurden von Frau
Peters selbst als unbedeutend eingeschätzt, obwohl sich der Aufbau einer
vertrauensvollen Zusammenarbeit gerade angesichts einer Erleidenssituation
praktisch bewährt.
Eine dritte Phase stellt schließlich die Zeit nach der Untersuchung und
Behandlung dar. Während einige Eltern mit ihren Kindern so schnell wie
möglich die Ambulanz verließen, gebe es andere, die das Angebot von Frau
Peters, sich nach der Behandlung noch in ihrem Zimmer zu treffen, aufgrif-
fen und sie fachlich in Anspruch nähmen, zum Beispiel hinsichtlich zentraler
sozialarbeiterischer Fragen wie Möglichkeiten der Arbeitsbeschaffung, der
Schuldenregulierung, einer finanziellen Unterstützung für Mutter und Kind
oder der Aufnahme des Kindes in eine Betreuungseinrichtung.
Diese drei Phasen klinischer Arbeit zeichnen sich durch kleine Arbeits-
schritte innerhalb einer zeitlich begrenzten Arbeitseinheit aus, an denen eine
konstitutive soziale Komponente der Tätigkeit hervortritt: die praktische Her-
stellung und Aufrechterhaltung einer für die Arbeitsbeziehung notwendigen
Vertrauensgrundlage, die begleitende Gefühlsarbeit im Sinne des empathi-
schen Beistands angesichts des notwendigen und mit Schmerzen einherge-
henden arbeitsteiligen Behandlungsprozesses. Zugleich verbindet diese klei-
neren Arbeitsschritte im Kernbereich der Behandlung innerhalb der Klinik
ein Anfang und ein vorläufiges Ende.
In den Phasen zwischen den Behandlungen hält Frau Peters den Kontakt
zu anderen Klientlnnen mittels Telefongesprächen und teilweise direkten Be-
ratungskontakten aufrecht. Hier kommen die Klientlnnen entweder zu ihr in
die Klinik, oder sie bietet nach Absprache Hausbesuche an. Die Gespräche
drehen sich meist um Fragen der materiellen und finanziellen Versorgung
oder um eine Beratung zur Erziehung und Förderung der Kinder, etwa bei
Problemen der Integration des HIV-infizierten Kindes in die Kindertages-
stätte oder der Organisation des Alltags, insbesondere bei der Entlassung aus
stationärer Versorgung.
Frau Peters hat nicht nur im Kernbereich der medizinischen Behandlung
eine wichtige Funktion inne, sondern ist insbesondere mit den außerklini-
schen Alltagsproblemen dei Klientlnnen befasst. Gerade hier eröffnet sich
eine eigene sozialarbeiterische Perspektive auf den jeweiligen Fall, wobei ein
zeitlich weit reichender Bogen gespannt wird. Nicht selten dauern die Ar-
200 Eberhard Nölke
beitsbeziehungen mehrere Jahre, die etwa durch Rückfallphasen in die Dro-
genabhängigkeit unterbrochen sein können. Es wird also ein weit gespannter
Arbeitsbogen eröffnet, der über die mit der Krankheitsbehandlung im Zu-
sammenhang stehenden Schritte hinausreicht und die sozialen Lebensum-
stände und wichtige biographische Entwicklungsschritte umfasst. Insoweit ist
sie in ihrer klinischen Arbeit in besonderer Weise mit den lang gestreckten
Erleidensprozessen ihrer KlientInnen, deren körperlicher und sozialer Ver-
fasstheit und den Möglichkeiten ihrer Bearbeitung befasst.
Für eine explorative Fallarbeit besteht dabei die Möglichkeit, das eigene
praktische berufliche Handeln zu protokollieren und zur Datengrundlage ei-
ner Systematisierung zu machen, etwa indem man eine tagebuchartige Auf-
zeichnung der Arbeitsschritte und -abläufe vornimmt und diese zur Grundla-
ge einer systematischen Analyse heranzieht.
Neben dieser beruflichen Orientierung war die Sozialarbeiterin auch mit
der Erkundung der genaueren Lebensumstände und der Hilfestellung bei der
akuten Problemlage der KlientInnen befasst. So muss etwa dem drohenden
Rückfall in die Drogenabhängigkeit durch das Erkunden einer Substitutions-
möglichkeit durch Methadon begegnet oder die Sicherstellung der Versor-
gung und Erziehung der Kinder organisiert werden. Unvermeidlich musste
Frau Peters auf die akute Problematik ihrer KlientInnen reagieren - und dies
in Kooperation mit anderen Institutionen, wie Jugendamt, Sozialamt, Bera-
tungsstellen. Für eine systematischere Fallanalyse und Angebotsplanung fehl-
te ihr oft die nötige Zeit. Frau Peters begann nun die ihr bereits vorliegenden
Daten nicht nur zu sammeln, sondern auch hinsichtlich der sozialen Proble-
matik der KlientInnen chronologisch zu ordnen und zu rekonstruieren. So er-
arbeitete sie biographische Porträts der KlientInnen, die sie fortlaufend ak-
tualisierte. Die Biographien der meist jungen Eltern, insbesondere jugendli-
cher Mütter, waren meist durch Maßnahmen der Jugendhilfe geprägt: Infolge
früher Vernachlässigung, sexuellen Missbrauchs oder traumatischer Tren-
nungs- und Verlusterfahrungen von den Eltern waren Fremdunterbringung in
Pflegefamilien und Heimen, zeitweilige Aufenthalte in der Kinder- und Ju-
gendpsychiatrie sowie der häufige Wechsel der Institutionen und Personen
ein wesentlicher Bestandteil ihrer Entwicklung.
Frau Peters erstellte fortlaufend Protokolle ihrer Arbeit und ergänzte ihre
Daten, so dass eine schriftliche Chronologie der Ereignisverkettungen und ih-
rer Interventionen vorhanden war. Diese Protokolle sowie Daten, wie die bio-
graphischen Daten der KlientInnen, dienten fortan als Grundlage für die Re-
konstruktion und Planung weiterer Maßnahmen. Gleichermaßen waren die
sich stellenden praktischen Probleme in ihrer Vielschichtigkeit zu bearbeiten.
So heißt es im Protokoll des fünften Klinikbesuchs des Kindes Jamila
und ihrer Mutter: "Unterstützende Behandlung bei der ärztlichen Behand-
lung, vor allem beim Stechen des Kindes. Jamila ist adipös und hat schlecht
aujfindbare Venen. Es ist immer eine Herausforderung für alle Beteiligten.
Man muss sie oft festhalten. Nach dem Fixieren der Infusion ist Spielen mit
Klinische Sozialarbeit 201

Mutter und Kind die nahe liegendste Handlung. Es entwickelt sich allmählich
ein Bezug zur Mutter. Sie berichtet von der plötzlichen Erkrankung ihrer
Mutter, es bestehe der Verdacht, dass sie an Krebs erkrankt sei. Zudem habe
sie eine Anzeige wegen Diebstahls erhalten. Sie habe mit einer Freundin in
einer Boutique Kleider mitgehen lassen. Sie fragt nach einem Anwalt, und ich
sage ihr zu, mich um einen Anwalt zu kümmern."
Hier zeigt sich der allmähliche Aufbau einer Arbeitsbeziehung, die von
zunehmendem Vertrauen geprägt ist. Die Handlungsschritte der klinischen
Arbeit werden durch die komplexen Verlaufskurven auf Seiten der Klientin
gleichsam vorgegeben. Als solche werden Prozessstrukturen des Erleidens
gekennzeichnet, welche die eigene Planungs-, Entfaltungs- und Kontrollkom-
petenz nachhaltig untergraben und die Betroffenen in einen Prozess des Rea-
gierens auf die widrigen Umstände einbinden. Es entsteht ein Gefühl des Ge-
triebenseins, der zunehmenden Hilflosigkeit und Inkompetenz. In dieser mul-
tiplen Krisensituation begleitet Frau Peters ihre Klientin, sie tröstet, hört zu
und übernimmt in anwaltschaftlicher Perspektive stellvertretend Handlungen,
welche die Klientin nicht auszuführen vermag. Als die Mutter der jungen
Frau stationär aufgenommen wird und als Bezugsperson für das Kind aus-
fällt, muss diese jetzt allein für ihr Kind sorgen. Frau Peters drückt im nach-
folgenden Protokoll ihre Befürchtung aus, diese könne damit "überfordert"
sein. In der Tat zieht die Mutter zu ihrem Freund, dem Vater ihres Kindes.
Dieser lebt überwiegend bei seiner marokkanischen Familie. Er handelte
selbst mit Drogen und geht nunmehr einer Hilfstätigkeit nach. Der Familie
hat er die Erkrankung des Kindes bislang verschwiegen, nach Aussagen der
Mutter befürchtet er, dass die Familienmitglieder eine solche Erkrankung
nicht tolerieren werden. Damit wird die Sozialarbeiterin im Rahmen ihrer
klinischen Arbeit auch in besonderer Weise mit kulturellen Deutungsmustern
dieser Erkrankung und ihrer subkulturellen Transformation konfrontiert. In
dieser Situation des labilen Gleichgewichts ruft die Klientin Frau Peters häu-
figer an und klagt über die Situation in ihrer Beziehung und die Angst vor
dem Verlust der Mutter. Über vier Monate hinweg bleibt die Situation nahezu
unverändert labil. Nach wie vor lebt die Klientin von Sozialhilfe und konsu-
miert Drogen.
Angesichts der Problemlagen ihrer KlientInnen entwickelte Frau Peters
folgende weitere Angebote:
Ausgehend von der Tatsache, dass viele der Mütter sozial isoliert sind,
richtete sie einen offenen Gesprächskreis ein. Zu diesem Zweck fand sie mit
Hilfe einer früheren Kollegin einen Raum in einer Bildungseinrichtung, den
sie am späten Nachmittag nutzen konnte. Nach dem ersten Treffen, an dem
fünf Mütter teilnahmen, schrumpfte die Zahl bei den beiden nächsten Termi-
nen auf zwei. Frau Peters führte dies auf die nicht nur entlastende, sondern
auch belastende Situation durch die Darstellung der massiven Probleme der
anderen in der Gruppe zurück. Um hier Abhilfe zu schaffen, erweiterte sie ihr
Setting. Sie bot den Teilnehmerinnen auch Möglichkeiten einer kreativen,
202 Eberhard Nölke

nicht verbalen Ausdrucksform an. Sie stellte Zeichen- und Malmaterial sowie
Ton zur Verfügung, zeigte deren Verwendungsmöglichkeiten und wandelte
den Gesprächskreis zu einer Art kreativen Werkstatt. Die Teilnehmerinnen
hatten neben dem verbalen Austausch hier auch die Möglichkeit einer indi-
rekten Bearbeitung ihrer Problematik über das Material. Des Weiteren plante
sie eine Wochenend-Freizeit für Eltern und Kinder, wobei sie die Eltern an
der Organisation und Durchführung beteiligte. Die Angebote sollten dazu
beitragen, dass die Betroffenen auch ohne ihre Anwesenheit Kontakte auf-
bauen und sich gegenseitig helfen konnten.
Diese Angebote wurden in ihrer zeitlichen und inhaltlichen Struktur im-
mer wieder den Gruppenprozessen gemäß modifiziert. Die aus der Reflexion
der praktischen Arbeit mit den KlientInnen gewonnenen Erkenntnisse inte-
grierte Frau Peters in die bestehende Konzeption ihrer Tätigkeit. Dies diente
sowohl der Binnenorientierung für das eigene berufliche Handeln als auch
der Außendarstellung.
Im Binnenbereich ging es vor allem um die Akzentuierung einer eigen-
ständigen sozialarbeiterischen Fallperspektive im interdisziplinären Team. So
konnte sie auf der Grundlage ihrer eigenen Aufzeichnungen und Analysen
insbesondere die jeweiligen sozialen Lebensumstände aufzeigen und das Leid
der KlientInnen im Zusammenhang ihrer biographischen Gesamtentwicklung
vorstellen. Hinsichtlich der Außendarstellung hatte das Konzept eine weitere
Funktion: Es wurde vor Gremien, Kostenträgern und anderen Institutionen
der Drogenarbeit vorgestellt. Insbesondere die Hervorhebung der Bedeutung
eines sozialarbeiterischen Angebots bei den Kostenträgern der Sozialen Ar-
beit trug zur Sicherung der klinischen Arbeit von Frau Peters bei. Darüber
hinaus nutzte sie die Möglichkeiten der Öffentlichkeitsarbeit offensiv: Es er-
schienen Artikel über ihre Arbeit im Regionalteil der Zeitung, und sie gab ein
Interview im regionalen Rundfunk. Ziel war hierbei auch die Herstellung öf-
fentlicher Aufmerksamkeit sowohl hinsichtlich der besonderen Problematik
der KlientInnen als auch dieses besonderen Hilfsangebots.

3. Abschließende Bemerkungen

Methoden der qualitativen Sozialforschung können wesentlich zur Erkun-


dung, begrifflichen Klärung und Systematisierung der Kemaktivitäten klini-
scher Sozialarbeit und deren Ausgestaltung in unterschiedlichen Arbeitsfel-
dem beitragen sowie die Sozialarbeit im Sinne einer praxisnahen Fallarbeit
weiter fundieren. Als Vermittler zwischen einer noch nicht etablierten Teil-
disziplin und der leidvollen Lebenspraxis ihrer KlientInnen werden klinische
SozialarbeiterInnen mit unaufhebbaren Paradoxien, aber auch mit aufheb ba-
ren Widersprüchen konfrontiert, die sich aus den zentralen Aufgabenstellun-
Klinische Sozialarbeit 203
gen und zu bearbeitenden Kernproblemen der Versorgung, Behandlung und
Betreuung in den unterschiedlichen klinischen Handlungsfeldern speisen. Ei-
ne empirisch fundierte Bestimmung der für das klinische Handeln unhinter-
geh baren Paradoxien, wie die Unterwerfung der Patientlnnen unter schmerz-
hafte Behandlungen zum Zwecke der Heilung, und die prinzipiell aufhebba-
ren Widersprüche, die sich etwa durch organisationsspezifische oder per-
sönlichkeitsbedingte Probleme der Professionellen ergeben, ist für eine wei-
tere Professionalisierung klinischer Sozialarbeit unverzichtbar, sollen die für
die Professionellen gegebenen ,,Leiden im Beruf' bearbeitbar bleiben und
nicht einem resignativen ,,Leiden am Beruf' Vorschub leisten. Gleicherma-
ßen ermöglichen qualitative Fallanalysen die Generierung von Erkenntnis,
bündeln sich in den krisenhaften Verläufen doch gerade verdichtet jeweils
allgemeinere soziale Problemkonstellationen. Methoden des Fallverstehens
sind gleichermaßen integraler Bestandteil einer professionalisierten Praxis,
ja, die professionell Tätigen sind per se naturwüchsige HermeneutikerInnen,
denn um die lebenspraktischen Krisen der Klientlnnen verstehen zu können,
müssen neben den sichtbaren Lebensumständen auch die unklaren oder ver-
borgenen Sinnzusammenhänge so rekonstruiert werden, dass eine stellver-
tretende Bearbeitung der Probleme unter Wahrung maximaler Autonomie
und Mitwirkung der Klientlnnen möglich wird.
Die jeweilige Gestaltung des Arbeitsbündnisses, des Arbeitsauftrages
und seiner Handlungsschritte unter Berücksichtigung der Balancierung von
diffusen und spezifischen Handlungsanteilen kann ein weiteres empirisches
Untersuchungsfeld darstellen. Wie exemplarisch gezeigt, kann eine derart
ausgerichtete klinische Forschung aus der Praxis und deren Protokollierung
schöpfen, seien es Berichte von oder über Klientlnnen und ihre sozialen Pro-
blemlagen, die Darstellung von Interventionsabläufen, Interaktionsprotokolle
oder transkribierte Interviews. In diesem Sinne käme es zu einem kumulati-
ven Fallwissen über klienteie Problemlagen und Interventionsformen in den
Feldern klinischer Sozialarbeit. Aus dem kumulativen Fallwissen ließen sich
Modelle entwickeln, die einerseits eine empirische Basis haben und auf die
Sprache des Falles bezogen sind. Andererseits würden die geschöpften Kate-
gorien den Fällen auch noch übergreifend gerecht. Eine in diesem Sinne em-
pirisch orientierte klinische Sozialarbeit könnte die zentralen Problemlagen
von Klientlnnen bzw. Klientlnnengruppen fallbezogen untersuchen und wür-
de sich gleichermaßen der Erkundung und Erforschung der Arbeitsvollzüge
und einzelner Arbeitsschritte stellen. So geraten auch die weit gespannten
Arbeitsbögen, die einzelne Arbeitsschritte in der klinischen Arbeit umgreifen,
ins Blickfeld.
Klinische SozialarbeiterInnen verfügen über ein umfangreiches Fallwis-
sen von lebenspraktischen Problemzusammenhängen ihrer Klientlnnen und
über ein reichhaltiges Repertoire an Handlungskompetenzen. Insofern kann
es nicht darum gehen, ihnen Methoden sozialwissenschaftlicher Fallanalyse
zu empfehlen oder damit ihre Praxis gar zu bevormunden. Vielmehr stehen
204 Eberhard Nölke

die PraktikerInnen klinischer Sozialarbeit vor der Aufgabe, eigene Verfahren


des Fallverstehens zu entwickeln bzw. weiterzuentwickeln. Dabei kann auf
Erfahrungen mit wissenschaftlichen Fallanalysen zurückgegriffen werden.
Weitergehende Möglichkeiten des Rückgriffs ergeben sich bei der nachträg-
lichen Reflexion der beruflichen Praxis. Dies kann insbesondere dann not-
wendig werden, wenn diese Praxis in eine Krise gerät oder sich berufsgrup-
penbezogene, institutionsspezifische oder persönlichkeitsbedingte "blinde
Flecken" in sie einschleichen. Neben der Bearbeitungsform der Supervision
bietet insbesondere die sozialwissenschaftlich fundierte Fallanalyse die Mög-
lichkeit, neben individuellen auch familiale, institutionelle und milieuhafte
Sozialzusammenhänge ins Blickfeld zu rücken.
Klinische SozialarbeiterInnen müssen in der Arbeit mit ihren KIientInnen
vielfältige kleine Schritte tun, die für sich genommen unbedeutend scheinen.
Bei genauerer Betrachtung der Fallverläufe stellen sich diese scheinbar "klei-
nen" Alltagsarbeiten jedoch als bedeutsamer Bestandteil professioneller kli-
nischer Arbeit heraus.

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Karin Bock

Erleidensprozesse im Berufsalltag eines Sozialbeamten

1. Was ist die Frage?

Lebens- und/oder biographische Krisen, Prozesse des Erleidens und das Zu-
sammenbrechen von Handlungsroutinen werden im sozialpädagogischen Dis-
kurs meist an den (vielfältig gelagerten) schwierigen sozialen Problemlagen
der Adressatinnen Sozialer Arbeit aufgezeigt. Häufig wird dann darauf insi-
stiert, dass RatsuchendelKlientlnnenlAdressatinnen auf professionelle Hilfe
(gewollt oder ungewollt) angewiesen sind bzw. ihnen Hilfe- und Unterstüt-
zungsleistungen bereitgestellt werden müssen, um die meist schwerwiegen-
den Lebenslagen, in denen sie stecken, abzuwenden und die Lebenssituation
der Adressatinnen zu verbessern. Neuerdings wird auch der Begriff der Krise
wieder im Diskurs der (Sozial-)Pädagogik aufgegriffen und für mögliche
Kriseninterventionsstrategien diskutiert (vgl. bspw. Mennemann 2000).
Doch was passiert, wenn diejenigen, die für die Bereitstellung der Unter-
stützungsleistungen als Professionelle in Ämtern und/oder sozialpädagogi-
schen Einrichtungen tätig sind, selbst in Erleidensprozesse geraten, wenn ihre
alltäglichen Handlungsroutinen "schleichend" zusammenbrechen, die sie sich
im Umgang mit Adressatinnen in schwierigen Lebenslagen angeeignet ha-
ben? Welche Dynamik entsteht dann im beruflichen Alltag?
Diese Fragen möchte ich an der Erleidenskarriere eines Sozialbeamten
genauer beleuchten, die - in der hier gebotenen Kürze - zusammengefasst
dargestellt wird (4.). Zuvor werde ich das theoretische Konzept der Verlaufs-
kurve des Erleidens skizzieren (2.) und kurz den forschungsmethodischen
Zugang zum Fallmaterial beschreiben (3.). Schließlich möchte ich auf dieser
Grundlage am Ende diskutieren, inwiefern das Konzept der Verlaufskurve
einen geeigneten Zugang innerhalb des sozialpädagogischen Diskurses dar-
stellen könnte (5.).
208 Karin Bock

2. Das Ablaufsmodell des Verlaufskurvenprozesses -


Einblicke zum Diskurs biographischer
Erleidenskarrieren

Als Hintergrundfolie für die Frage nach denjenigen Prozessen, in denen all-
tägliche Handlungsroutinen zusammenbrechen und bisherige bewährte Mu-
ster nicht mehr funktionieren, bietet sich das von Anselm Strauss, Gerhard
Riemann, Thomas Reim, Fritz Schütze u.a. ausgearbeitete Ablaufmodell für
Verlaufskurvenprozesse an (vgl. hierzu und im Folgenden Schütze 1999, S.
20 lfV In diesem Ablaufmodell wurden diejenigen Stadien und Mechanis-
men auf der Grundlage zahlreicher Untersuchungen zu Erleidensprozessen
herausgearbeitet, die bei der Entfaltung von Verlaufskurven regelhaft sind. 2
Der Kern des Ablaufmodells von Verlaufskurvenprozessen ist die Ent-
stehung und allmähliche Wirkung eines Verlaujskurvenpotenzials, das seine
ihm innewohnende Dynamik nach und nach entfaltet (Verlaujskurvendyna-
mik):

(a) Entstehung des Verlaujskurvenpotenzials mit Fallentendenz: Zunächst


lässt sich beobachten, dass ganz allmählich ein Bedingungsrahmen für
die Entstehung einer Verlaufskurve aufgebaut wird, in dem das Ver-
laufskurvenpotenzial wirksam werden kann. Das Verlaufskurvenpotenzi-
al hat dabei zwei Komponenten: eine "Komponente biographischer Ver-
letzungsdispositionen und eine Komponente der Konstellation von zen-
tralen Widrigkeiten in der aktuellen Lebenssituation ( ... ); diese beiden
Komponenten wirken mit Fallentendenz ineinander" (Schütze 1999, S.
201). Diese ,,Fallentendenz" , die dem Verlaufskurvenpotenzial inne-
wohnt, bleibt den Betroffenen meist verborgen.

Gegenwärtig liegt eine kaum noch überschaubare Anzahl anderer theoretischer Konzepte
als das hier favorisierte ,,Ablaufsmodell der Verlaufskurve" von Strauss/Schütze u.a. aus
unterschiedlichen Forschungs- und Theorietraditionen vor, die die Frage nach Krisen in
biographischen Zusammenhängen bearbeitet haben. Die Entscheidung für das Ablaufsmo-
dell von Verlaufskurvenprozessen als Hintergrundfolie ergibt sich einmal aus dem for-
schungsmethodischen Zugang (vgl. 3.) und zum zweiten, weil die anderen vorliegenden
Konzepte nicht explizit im Hinblick auf biographische Prozesse des Erleidens formuliert
worden sind. Vgl. zu ausgewählten Konzepten der Krise die resümierende Darstellung von
Hugo Mennemann 2000, der die makrosoziologischen und psychologischen Ansätze sowie
psychoanalytische Zugänge zum Begriff der Krise rezipiert und auch ausgewählte sozial-
pädagogische Ansätze in den Blick nimmt, allerdings sozialisationstheoretische wie lem-
und bildungstheoretische Zugänge ausspart und auch den strukturtheoretisch-
rekonstruktiven Zugang der ,,nicht-zufälligen Erzeugung des Neuen aus der Krisenbewälti-
gung" von Ulrich Oevermann (1996) auslässt.
2 Diese Stadien müssen jedoch nicht immer zwangsläufig und ausschließlich nach diesem
Modell ablaufen, sondern können variieren (vgl. Schütze 1999, S. 202).
Erleidensprozesse im Berufsalltag eines Sozialbeamten 209
(b) Wirksamwerden des Verlaufskurvenpotenzials als Schockerjahrung:
Wirksam wird dieses Verlaufskurvenpotenzial mit Fallentendenz schließ-
lich durch eine "plötzliche Grenzüberschreitung" (Schütze 1999, S. 201),
d.h. es dynamisiert und konkretisiert sich durch die Verkettung äußerer
Einflüsse. Die Betroffenen können nun ihren gewohnten Lebensalltag
nicht mehr aktiv nach den gewohnten handlungsschematischen Routinen
gestalten, sondern stehen den Ereignissen oft ohnmächtig gegenüber.
Verwirrung, Schock- und Desorientierungserfahrungen sind hier bei den
Betroffenen vorherrschend.
(c) Aufbau eines labilen Gleichgewichts als Reaktion auf die Schockerjah-
rung: Nachdem diese ersten Verwirrungen überwunden sind, versuchen
die Betroffenen, ein labiles Gleichgewicht aufzubauen, um ihren Alltag
weiterhin bewältigen zu können. Gleichwohl bleiben diese neuen Arran-
gements der Alltagsbewältigung instabil unter dem starken Eindruck des
Verlaufskurvenpotenzials, "weil die eigentlichen Determinanten des Ver-
laufskurvenpotentials - angesichts des Fehlens einer wirksamen Hand-
lungskompetenz bei den Betroffenen - nicht bearbeitet und unter Kon-
trolle gebracht werden können" (Schütze 1999, S. 201).
(d) "Entstabilisierung des labilen Gleichgewichts der Alltagsbewältigung
(, Trudeln ')" (Schütze 1999, S. 201): Schließlich geraten die Betroffenen
ins "Trudeln", da sie sich durch die übermäßigen Anstrengungen zur
Herstellung des labilen Gleichgewichts als Reaktion auf die Schocker-
fahrungen selbst fremd werden. Sie "verstehen sich selbst nicht mehr",
weil die einst gewohnten Handlungsroutinen nicht mehr greifen, sondern
nur noch unter größter Anstrengung aufrechterhalten werden können:
,,Die Überfokussierung auf den einen Aspekt der Problemlage bewirkt
die Vernachlässigung anderer Problemaspekte, die sich mehr oder weni-
ger unkontrolliert weiter entfalten können" (Schütze 1999, S. 201). In
dieser Phase tritt häufig mindestens ein zusätzliches Ereignis hinzu, dass
die Betroffenen stark belastet und die ohnehin schwierige Alltagsbewäl-
tigung noch problematischer werden lässt.
(e) "Zusammenbruch der Alltagsorganisation und der Selbstorientierung"
(vgl. Schütze 1999, S. 202): Schließlich brechen die Betroffenen unter
dem nunmehr übermächtig werdenden Druck zusammen. Die massiv
wirkenden Alltagsprobleme und der Verlust routinierter Handlungswei-
sen werden derart übermächtig, so dass sie sich "zu dem alles umfassen-
den Zweifel" (Schütze 1999, S. 202) steigern - die Betroffenen verlieren
endgültig das Vertrauen in die eigenen Kompetenzen und zweifeln an
sich selbst als auch an ihren "signifikanten anderen". Sie erleben sich
selbst als unfähig, irgendeine Handlung ausführen zu können oder ir-
gendeine soziale Beziehung aufrechtzuerhalten; das Misstrauen in die ei-
gene Person wird begleitet durch Hoffnungslosigkeit, Ablehnung und
Orientierungslosigkeit.
210 KarinBock
(f) theoretische Verarbeitungsversuche des Orientierungszusammenbruchs:
Durch die Erfahrungen aus dem Zusammenbruch werden die Betroffenen
gezwungen, ihre Lebenssituation radikal neu zu definieren. In diesen De-
finitionen versuchen die Betroffenen, den Erleidensprozess theoretisch
zu bearbeiten, in dem sie das Zustandekommen erklären und einschätzen
sowie die Auswirkungen auf das bisherige, gegenwärtige und zukünftige
Leben ausformulieren. Die theoretische Bearbeitung kann authentisch
und selbstgeleitet (z.T. mit professioneller Unterstützung und Hilfe durch
signifikante andere) oder fremdgeleitet (schablonenhafte Übernahme
fremder Erklärungen) sein.
(g) Praktische Bearbeitungs- und Kontrollversuche der Verlaufskurve und!
oder die Befreiung aus den Verlaufskurvenfesseln: Bei den Versuchen,
die Verlaufskurve praktisch zu bearbeiten, lassen sich nach Schütze drei
Handlungsformen unterscheiden: (1) Versuche, aus der Lebenssituation
zu flüchten, um der Verlaufs kurve zu entkommen (allerdings ohne das
Verlaufskurvenpotenzial kontrollieren zu können); (2) der Versuch, das
Leben systematisch mit der Verlaufskurve zu organisieren (z.B. bei einer
chronischen Erkrankung); (3) der Versuch, das Verlaufskurvenpotenzial
systematisch aus dem Leben zu beseitigen.

Fritz Schütze und seine KollegInnen konnten in ihren Untersuchungen zei-


gen, dass dieses Ablaufmodell sowohl auf individuelle wie auf kollektive
Verlaufskurvenprozesse zutrifft: "Ganz allgemein weist das Konzept (der
Verlaufskurve, K.B.) darauf hin, dass die soziale Wirklichkeit nicht nur unter
dem Gesichtswinkel der Handlungsstrukturierung, sondern auch unter dem
der chaotischen Entstrukturierungspotentiale und der Entfaltungsdynamiken
und -mechanismen langandauernden Erleidens betrachtet werden muß"
(Schütze 1999, S. 216), denn - so führt Schütze (1999) letztlich treffsicher
aus: ,,Es geht mit dem Verlaufskurvenkonzept um die paradoxe Ironie der
Geordnetheit und strukturierten Langfristigkeit des Erleidens, um die Geord-
netheit des Widersprüchlichen und des Chaotischen in der individuellen Exi-
stenz und im Zusammenleben der Menschen miteinander sowie um das
Wechselspiel zwischen der Symbolik der no mischen Ordnung, der Antisym-
bolik der anomischen Verlaufskurvenprozesse und den beständigen Versu-
chen der Akteure zur Renorrnalisierung des Chaotischen und der zumindest
symbolischen Wiederherstellung der Ordnung" (S. 218).
Erleidensprozesse im Berufsalltag eines Sozialbeamten 211

3. Zugänge zum Forschungsfeld

Im Rahmen eines kleineren Forschungsprojektes3 wurden 15 Lebensge-


schichten von Personen erhoben und ausgewertet, die in verschiedenen Fel-
dern der Sozialen Arbeit zum Zeitpunkt der Interviewphase (Winter 2000)
tätig waren.
Als Erhebungs- und Auswertungsverfahren haben wir das von F. Schütze
vorgeschlagene narrationsstrukturelle Verfahren gewählt (vgl. Schütze 1981,
1983, 1994, 1995). Innerhalb des Seminars interessierte uns vor allem, in
welchem Zusammenhang die beruflichen Erfahrungen mit den biographi-
schen Verläufen stehen. Besonderes Augenmerk legten wir hierbei auf die
alltägliche Zusammenarbeit der Befragten innerhalb ihres Arbeitsteams so-
wie auf Höhen und Tiefen in der bisherigen Berufskarriere. Wir ergänzten die
Erhebungsmethode des autobiographisch-narrativen Interviews um ein Leit-
fadeninterview (vgl. zum Vorgehen der Triangulation etwa Krüger 1995,
1999), in dem wir Fragen zu verschiedenen Berufssituationen (erster Ar-
beitstag, Wahl der Arbeitsstelle, Ablauf des beruflichen Alltags, Kontakt und
Beziehungen zu den Adressatinnen) und zu Höhen und Tiefen im Berufsall-
tag (besonders schwierige/interessante/schöne Situationen) formulierten.
Die Auswahl der InterviewpartnerInnen orientierte sich in der ersten Er-
hebungsphase an der Suchstrategie der "abweichenden Fälle" nach Znaniek-
kilThomas (1927), um zunächst ein möglichst breites Spektrum erfassen zu
können. Nach Durchsicht der ersten erhobenen Fälle entwickelten wir für die
nächste Erhebungsphase zwei formale Kriterien, die die InterviewpartnerIn-
nen erfüllen sollten, um eine Vergleichbarkeit zwischen den Fällen herstellen
zu können: (1) mindestens seit drei Jahren in einer Einrichtung beschäftigt zu
sein und (2) zum Zeitpunkt des Interviews das Lebensalter von 40 Jahren
noch nicht überschritten zu haben.
Da sich bei der Auswertung der Fälle aus der ersten Erhebungsphase in
einer (Berufs-)Biographie einer sozialpädagogischen Mitarbeiterin eines
kleinen Vereins das Ablaufsmodell der Verlaufskurve abzuzeichnen begann
(und die SeminarteilnehmerInnen besonders interessiert an diesem Fall arbei-
teten), suchten wir im Rahmen der zweiten Erhebungsphase nach einem ähn-
lich gelagerten Fall in der administrativen Verwaltung. Dieses Fallbeispiel,
das wir die ,,Erleidensprozesse im Berufsalltag eines Sozialbeamten" genannt
haben, soll nun im Zentrum stehen.

3 Dieses Forschungsprojekt entwickelte sich im Rahmen eines Seminars, dass ich im Winter-
semester 2000/2001 an der Universität Dortmund mit Studierenden aus dem Diplompäd-
agogikstudiengang durchgeführt habe. Die folgende Fallanalyse wäre ohne die Studieren-
den nicht zustandegekommen. Bei ihnen möchte ich mich für die gemeinsame Arbeit bei
der Erhebung und Auswertung der Fälle ganz herzlich bedanken, insb. bei Petra Tautorat
und Anne Quill, die mit mir zusammen den "Fall Bartholomäus" bearbeitet haben.
212 Karin Bock
Das Interview wurde im Winter 2000 durchgeführt und fand in der Ein-
richtung statt, in der der Befragte zum Zeitpunkt des Interviews angestellt
war. Nach der Erzählaufforderung begann er sofort mit seiner Lebensge-
schichte, in der er die einzelnen Stationen seines bisherigen Lebens unter-
schiedlich gewichtet: Während er seine Kindheit, die Jugend, die Schulzeit,
den Zivildienst und die Ausbildungszeit sehr knapp umreißt, nimmt der Ar-
beitsalltag einen sehr großen Raum im Interview ein: Hier schildert er aus-
führlich die Erleidensprozesse bis zum völligen Zusammenbruch, und hier
werden auch die unterschiedlichen Verarbeitungsversuche nach dem Zu-
sammenbruch deutlich, die zu seinem "biographischen Thema" werden. 4

4. Der Verlaufskurvenprozess im Berufsalltag des


Sozialoberinspektors Bartholomäus

Biographische Rahmendaten

Bartholomäus5 wurde 1970 in einer nordrhein-westfälischen Kleinstadt gebo-


ren, in der er bis heute lebt. Er hat einen vier Jahre älteren Bruder. Seine
Mutter, Jahrgang 1941, erlernte nach dem Abschluss der Volksschule den
Beruf einer Einzelhandels- und Bankkauffrau und arbeitete bis zur Geburt
des ersten Sohnes im Bankwesen. Der Vater von Bartholomäus wurde 1936
geboren. Nach dem Abschluss einer Privatschule erlernte er den Beruf eines
Dekorateurs und übernahm später die Leitung einer Abteilung in einem mit-
telständischen Betrieb, wo er bis zum Erreichen des Rentenalters arbeitete.
Bartholomäus beschreibt seine Kindheit als "sehr behütet". Insbesondere
zu seinem Vater hatte er ein sehr inniges Verhältnis, "denn ich war das Pa-
pa-Kind, mein Bruder das von der Mutter". Das Familienleben verlief aus
Sicht von Bartholomäus relativ harmonisch; als störend empfand er vor allem
den "Stress" mit dem Bruder, der oft mit dem Vater wegen Meinungsver-
schiedenheiten in Streit geriet.

4 Das Interviewtranskript beträgt 82 Seiten, so dass ich mich im Folgenden leider auf die we-
sentlichen Aussagen des Befragten beschränken muss.
5 Das Synonym Bartholomäus wählte'sich der Befragte beim Ausfüllen des Datenbogens am
Ende des Leitfadeninterviews selbst. Einen genaueren Verweis auf das Synonym gibt er je-
doch nicht. Wahrscheinlich hatte der Sozialbeamte den heiligen Apostel Bartholomäus bei
seiner Suche nach einem Synonym im Sinn, der in der christlichen Kirche als einer der
zwölf Apostel Jesu gilt (Neues Testament, Markus 3,14-19) und der in vielen Ländern mis-
sionarisch tätig gewesen sein soll, u.a. auch in Indien das Evangelium gepredigt haben soll,
wo er angeblich eine hebräische Abschrift des Matthäusevangeliums hinterließ. Als Tag des
heiligen Bartholomäus wird in der römisch-katholischen Kirche sowie in der Kirche von
England der 24. August, in der orthodoxen Kirche der 11. Juni gefeiert (vgl. Encarta 1999,
CD I).
Erleidensprozesse im Berufsalltag eines Sozialbeamten 213

In seiner Freizeit war Bartholomäus sportlich sehr aktiv. Neben den wö-
chentlichen Fußballspielen mit seinen Freunden ging er regelmäßig zur
Leichtathletik und trainierte später selbst Jugendgruppen. Über die Zeit in der
Schule, den Zivildienst und die Ausbildung verliert Bartholomäus nur wenige
Worte:
B.: hab die klassische Schullautbahn durchlebt. ganz hübsche Pubertät erlebt. mit allen
Facetten (Pause) tja was gibts großartig zu erzählen. ich find mein Leben .. Leben bisher ..
bis auf die letzten drei vier Jahre is relativ normal verlaufen
Nach dem Abschluss des Abiturs nahm Bartholomäus ein Studium der Volks-
wirtschaft an einer Fachhochschule in der Nähe seiner Heimatstadt auf, das er
nach vier Jahren erfolgreich abschließen konnte. Obwohl er bis dahin "n' paar
Katastrophen" in seinem Leben meisterte - etwa die Trennungen von seinen
bisherigen Freundinnen oder die schwierigen Situationen mit seinem Bruder,
der kurz vor dem Suizid stand und den Bartholomäus mit viel Überzeugungs-
kraft wieder zum Leben bewegen konnte ist dies aus seiner Sicht "nich so der
Rede wert". Bis zum ersten Arbeitstag resümiert Bartholomäus sein Leben als
" eigentlich total normal ".

Die allmähliche Entstehung des VerlauJskurvenpotenzials

Am Vorabend seines ersten Arbeitstages - Bartholomäus erhielt eine Stellen-


zusage in einem Sozialamt - ging er wie gewohnt mit seinem besten Freund
zunächst joggen, danach Fußball spielen und schließlich " auf einen halben
Liter" in die nahe gelegene Stammkneipe. Doch weil der Abend seinen
"letzten freien Tach" beschloss, wollte Bartholomäus nicht einfach nach
Hause gehen, sondern entschied sich für " vier oder fünf oder sechs halbe Li-
ter". Völlig betrunken fand er schließlich in der Nacht nach Hause, wo sein
Vater bereits auf ihn wartete und ihn mit Vorwürfen überhäufte (" zum ersten
Mal seit langem"). Am nächsten Morgen " hatte ich wohl ne Fahne bis zum
geht nich mehr. weiß nich ob das so ... für meinen weiteren beruflichen Wer-
degang ich weiß es nich". Völlig übermüdet, "angesäuselt" und seinen Ge-
danken über den nächtlichen Streit mit dem Vater nachhängend, versucht
Bartholomäus, sich in seine neue Arbeitsstelle einzufinden. Stundenlange Be-
lehrungen des Abteilungsleiters über die neue Arbeit, die vom Arbeitsgeber
bereits getroffene Wahl der Krankenkasse sowie der quasi" erwartete" Ein-
tritt in die Gewerkschaft stellen für Bartholomäus das " Motto " seiner ersten
Arbeitsstelle dar:
B.: man wurd überrollt nach dem Motto du musst jetzt das System jetzt so übernehm ... es
war halt ein komischer Tach . und dann is man ins Amt zweiten Tach kam man ins Amt
und dann lief dat schon wie auf Schienen.
214 Karin Bock

Die dunkle Ahnung, die Bartholomäus am ersten Arbeitstag durch den


Schleier von Müdigkeit und "Restalkohol" ereilt, stellt sich bereits am Mor-
gen des zweiten Arbeitstages als unabwendbare Gewissheit dar: Denn das
"Motto" der Arbeitsstelle wird zu einer Forderung, die die stromlinienförmi-
ge Anpassung an den Arbeitskontext beinhaltet und gleichsam die an ihn he-
rangetragene Erwartung enthält, sich unterzuordnen und in die Logik der In-
stitution einzufinden. Erschwerend kommt hinzu, dass Bartholomäus durch
seine nicht weg zu deklinierende Resttrunkenheit und Übermüdung vom er-
sten Arbeitstag vermutet, sein Vorgesetzter hätte ein, völlig falsches Bild'
von ihm. Fortan versucht er, besonders eifrig zu arbeiten und klar und deut-
lich seine Meinung zu formulieren - in jeder möglichen Situation, gefragt
und ungefragt. Die KollegInnen werden dadurch auf ihn aufmerksam, begin-
nen "hinterm Rücken" über ihn zu tuscheln und ihm die alltägliche (Ak-
ten-)Arbeit zu erschweren. Im Gegenzug versucht Bartholomäus, gegen die
von ihm offen gelegte Stumpfsinnigkeit der Alltagsarbeit anzukämpfen (" die
Arbeitsmotivation is gleich null. tagaus tagein das gleiche") und den Kolle-
gen klar zu machen, wie sie seiner Meinung nach" das Publikum" behandeln
müssten. Denn während er und seine KollegInnen vom Abteilungsleiter im-
mer wieder dazu angehalten werden, die Gewährleistung von eventuell bean-
tragten finanziellen Hilfen strikt nach Aktenlage zu entscheiden, sucht Bar-
tholomäus nach alternativen Wegen für die Entscheidungsfindung: Er ver-
wickelt sich in stundenlange Gespräche mit den AdressatInnen, in denen er
sie auffordert, von ihren Sorgen und Nöten zu berichten. Erscheinen ihm die-
se Schilderungen der Notlagen plausibel und nachvollziehbar, dann versucht
er - oft über den finanziellen Anspruchsrahmen hinaus - für die AdressatIn-
nen finanzielle Hilfen zu gewähren. Hieraus entwickelt Bartholomäus für
sich" zwei Kategorien" von AdressatInnen: Die einen gehören zu jenen, die
"tatsächlich Not leiden" und "sich aus ihrer Armut irgendwie retten wol-
len". Für sie arbeitet er "am Rande der Legalität" und versucht "das Men-
schenmögliche". Die anderen (die entweder gar keine Geschichte erzählen
oder deren Notlage ihm nicht plausibel erscheint) bezeichnet er als "Abzok-
ker", die den" Sozialstaat betrügen ", unerhörte Forderungen stellen (ohne je
"tatsächlich gearbeitet zu haben ") und jede mögliche finanzielle Unterstüt-
zung für sich beanspruchen.
Im Gegensatz zu seinen Kollegen, die alle AdressatInnen" wie Vieh be-
handeln ", so meint Bartholomäus, könne er solche ,kategorialen Unterschie-
de' erkennen. Und diese Fähigkeit des ,sozialen Scharfsinns' - verknüpft mit
seiner Kreativität und seiner persönlichen Freiheit (ohne " Familie und Kin-
der ernähren zu müssen") - unterscheide ihn von den" renitenten Querulan-
ten und Duckmäusern" in seinem Arbeitsteam. Denn er sehe vor allem die
"Nöte der Menschen" die auf seine Hilfe angewiesen sind, und die (er allein)
" wie Menschen" behandele.
Oft führt er diese Gespräche außerhalb der Bürozeiten - zunächst, um
damit seinen KollegInnen zu demonstrieren, wie engagiert er arbeitet - spä-
Erleidensprozesse im Berufsalltag eines Sozialbeamten 215

ter, um nicht allzu oft das Hauptgesprächsthema für seine MitarbeiterInnen in


den Pausen zu sein. Doch er kann sich mit seiner eigenwilligen Einstellung
zum Berufsalltag nicht durchsetzen.

Wirksamwerden des VerlauJskurvenpotenzials als Schockeifahrung

Schließlich bemerkt Bartholomäus, dass für ihn der Arbeitsalltag immer


schwieriger wird, denn mit seinen KollegInnen gerät er oft in Streit, weil er
eine völlig andere Auffassung über die Arbeitsaufgaben und deren Bewälti-
gung hat. Längst ist es für Bartholomäus mehr als nur bloße Vermutung, dass
sein Abteilungsleiter ihn argwöhnisch beäugt und seine KollegInnen ihm
"hinterm Rücken hinterher reden ".
Eines Tages muss er schließlich erkennen, dass seine KollegInnen nicht
mehr nur "hinterm Rücken" über ihn lästern, sondern beginnen, ihm gegen-
über offen ihre Abneigung zu äußern, indem sie seine Nähe meiden und ihn
für kleine Missgeschicke unangemessen hart kritisieren bzw. "beim Chef an-
schwärzen". Nur unter großer Kraftanstrengung kann Bartholomäus in dieser
Situation noch mit seinen KollegInnen Kontakt halten. Er fühlt sich verlacht
und unterschätzt, da er weder für seine neuen Ideen bei der "Entscheidungs-
jindung nach Aktenlage" nach alternativen Kriterien noch für seine Adressa-
tInnen-Sensibilität anerkannt oder geachtet wird. In der Folge beginnt Bar-
tholomäus darüber nachzudenken, wie er sich beruflich verändern könnte.
Schließlich plant er, seine Vollzeitstelle auf 30 Arbeitsstunden zu reduzieren
und ein Studium an einer Fernuniversität aufzunehmen. Völlig ausgefüllt mit
diesen Gedanken, die für ihn zunächst einen phantasievollen Weg aus der
Eintönigkeit des Berufsalltags eröffnen, schöpft er neuen Mut und tritt seinen
KollegInnen in (wieder-) gewonnener ,Protesthaltung' bei einer Dienstbera-
tung gegenüber. Doch unerwartet kommt es bei dieser Dienstberatung zum
Eklat:
B.: Ich bin halt n sehr ehrlicher Typ der gesagt hat ich will in vier oder fünf Jahren weg
von (dem Amt) ich hab auch ein Zitat gebraucht das heißt das dieses (Amt) ein absoluter
Sauhaufen is . was mir sehr übel genommen worden is
Verwirrt über seinen plötzlichen Ausbruch, der ihm von seinem Abteilungs-
leiter immer wieder vorgeworfen wird, versucht Bartholomäus in der Folge,
einen besseren Kontakt zu seinen Kollegen herzustellen, was ihm nur sehr
langsam gelingt. Er nimmt seine Vollzeitstelle wieder auf und ergreift jede
Möglichkeit, seine Kollegen im Urlaub zu vertreten. Seine Pausen verbringt
er fortan mit den Arbeitskollegen. Manchmal nimmt er sogar Überstunden,
um jeden Fall korrekt zu bearbeiten. Immer häufiger nutzt er jede Möglich-
keit, um seine Kollegen davon zu überzeugen, dass er sich "ändern will".
216 Karin Bock

Versuch des Aufbaus eines labilen Gleichgewichts

Obwohl ihm seine Kollegen in dieser Zeit "Knüppel zwischen die Beine" zu
werfen versuchen, nimmt Bartholomäus alle Widrigkeiten in Kauf - die zwar
abgesprochenen, aber nicht eingehaltenen Urlaubstermine, das permanente
Weghören des Vorgesetzten oder die Bearbeitung der Fälle anderer Kollegen,
die die "Hardcorelinie" fahren:
B.: seine Leute und Kunden kamen dann lieber zu mir und haben gefragt ,is er noch hier'
könn wir noch was machen hier und da . das is natürlich auch nich gut wenn ich eine total
andere Linie fahr
Mit einem seiner Kollegen freundet sich Bartholomäus in dieser Zeit an, der
ihn und seine Freundin zu unverbindlichen Familientreffen einlädt. Voll-
kommen konzentriert auf die scheinbare ,Chance', die er in dieser Freund-
schaft sieht, beginnt Bartholomäus, seinen übrigen Freundeskreis zu ver-
nachlässigen. Er geht kaum noch zum Sport und trifft sich nur noch dann mit
seinen "Kumpels", wenn sein Arbeitskollege keine Zeit für ihn hat. Bei die-
sen immer seltener werdenden Treffen mit seinen Freunden lenkt er das Ge-
spräch immer wieder auf seine beruflichen Probleme, die seine Gedanken
vollkommen auszufüllen scheinen. Erst irritiert, dann hilflos und schließlich
genervt von dieser Problemlast beginnen die Freunde Bartholomäus' Nähe zu
meiden.

Entstabilisierung des labilen Gleichgewichts der Alltagsorganisation


(" Trudeln")

Eines Tages bemerkt Bartholomäus, dass ihm sein befreundeter Kollege "an
die Karriere pinkeln" will. Daraufhin beendet er abrupt die freundschaftli-
chen Beziehungen zu seinem Kollegen und konzentriert sich fortan auf seine
Freundin, die während dieser Zeit "selber Stress hatte im Studium". Doch
alle gut gemeinten Versuche, sie bei der Lösung dieser Probleme zu unter-
stützen, schlagen fehl:
B.: bloß das war dann halt nen bisschen zu viel ich hab sie eingeengt ich hab ihr .. sie sel-
ber sacht die Selbständigkeit genommen was mir erst später bewusst geworden ist als das
Kind schon in den Brunnen gefallen is und ich hab alles auf mich bezogen und gesacht ja
isses das. isses das nich warum die andere hat schuld . ich war es einfach nich , aber in
sonner Situation wo man niemanden mehr hat klammert man sich an die Freundin und ver-
sucht ihr zu helfen sie zu unterstützen Mensch da hast du deine Aufgabe da kannste was
machen anstatt anstatt an sich selber zu arbeiten
Die ertragenen Ungerechtigkeiten und die" stumpfsinnige" Tätigkeit im Amt -
verknüpft mit der scheinbaren Hoffnungslosigkeit, weder seiner Freundin tat-
sächlich beistehen zu können noch für die AdressatInnen des Sozialamtes einen
Weg aus ihren schwierigen Lebenslagen zu finden - führen schließlich dazu,
Erleidensprozesse im Berujsalltag eines Sozialbeamten 217

dass sich Bartholomäus selbst fremd wird und jegliches Vertrauen in seine ei-
genen Handlungsroutinen verliert. Obwohl - oder gerade weil - er verzweifelt
nach Anerkennung sucht, findet er sie nirgendwo:

Auf der Arbeitsstelle überkommen ihn ständig die Gedanken an die


,Hardcore'-Kollegen, die ungerecht und hartherzig über die Bedürfnisse
der AdressatInnen entscheiden. Er fühlt sich völlig hilflos dieser Situati-
on ausgeliefert, in der er immer stärker darunter leidet, wie die Adressa-
tInnen ,abgefertigt' werden. Die Anwesenheit seines Vorgesetzten, der
ihm weder zuhört noch irgendeine Änderung der Arbeitssituation herbei-
führt, beginnt ihn immer mehr anzuwidern; doch er kann ihm nicht mehr
entgegenschleudern, was ihn stört. Hinzu kommt die abrupt beendete
Freundschaft mit seinem Kollegen, die sich nun in eine direkte Konkur-
renzbeziehung gewandelt hat.
• Seine Freundin fühlt sich von ihm bevormundet und ihrer Selbständigkeit
entmündigt, weil Bartholomäus sie mit" gut gemeinten" Ratschlägen und
Belehrungen überhäuft, wenn sie von ihren Erlebnissen berichtet. Lang-
sam wendet sie sich von ihm ab und sucht sich ihre eigenen Freiräume,
in denen sie von Bartholomäus' Hilfsangeboten verschont bleibt. Da-
durch entfremden sich die beiden immer weiter voneinander.
• Keiner seiner früheren Freunde, mit denen er einst gelacht und getrunken
hat, meldet sich noch bei ihm. Längst haben sie sich von ihm abgewen-
det, da sie keinen Ausweg für die beruflichen Probleme sahen, von denen
Bartholomäus immer wieder berichtete.

Zusammenbruch der Alltagsorganisation und der Selbstorientierung

Als eines Tages seine Freundin die Beziehung beendet, kommt es zum tota-
len Zusammenbruch:
B: das is nen verdammt harter Prozess zu sehen dass man mh . das halt .. äh nicht mehr
schafft .. und man hat das Gefühl. man sitzt in einem Kreis und jeder prügelt auf einen ein
. so wie damals das dieses Gassenlaufen im Preußenturn . einer macht nen Fehler und dann
muss er durch die Gasse der ganzen Kollegen durch und jeder prügelt drauf ein als Strafe.
es warn Fall ins Bodenlose ich wusste nich ein noch aus mh .. tzz .. mit anderen Worten ich
hab meinen Frust damals nachdem sich meine Freundin von mir getrennt hat im Alkohol
ertränkt ich war nur draußen. ich hab Party gemacht. ich hab jeden damit genervt

Nach der Arbeit ertränkt Bartholomäus seine Verzweiflung im Alkohol. Er


freundet sich mit jedem an, der Lust oder Zeit hat, sich mit ihm zusammen zu
betrinken und sucht seinen "Spaß Spaß Spaß" auf jeder Party, zu der er
rechtzeitig finden kann. Während einer dieser Alkoholexzesse wird Bartholo-
mäus plötzlich bewusst, das sein Leben ,sinnlos' sei und er begeht einen Sui-
218 Karin Bock
zidversuch. 6 In dieser Situation greift eine Bekannte ein, die beobachtet, dass
Bartholomäus im Begriff ist, sein Leben zu beenden.
Nachdem sich Bartholomäus einigermaßen von seinen selbst zugefügten
Verletzungen erholt hat, beginnt er allmählich, sich auf die Suche nach sich
selbst zu begeben" wo ich überhaupt gesagt hab. ja äh nimm so jetzt dein
Leben in die Hand. du bist für dich selbst verantwortlich ". Zunächst ändert
er radikal seine Alltagsorganisation, in dem er wieder regelmäßig zum Sport
geht, seine Vollzeitstelle erneut in eine Dreißig-Stunden-Stelle umwandelt
und dieses Mal das Studium beginnt, für das er sich geraume Zeit vor seinem
Zusammenbruch interessierte. Er besucht keinerlei Feten und Partys mehr.
Seine Wohnung, in der er sich früher "nie so recht wohl gefühlt" hatte, wird
zu seinem zentralen Zufluchtsort, in den er sich zurückzieht.

Theoretische und praktische Verarbeitungsversuche des


Zusammenbruchs

Zusammen mit einer nahe stehenden Freundin, die ihn nach der Zeit seines
Zusammenbruchs häufig besucht, buchstabiert er nach und nach die Etappen
seiner Erleidenskurve aus. Gemeinsam betrachten die beiden jede Situation
und diskutieren über die möglichen Handlungsalternativen, die Bartholomäus
hätte ergreifen können. Nach und nach wird ihm klar, wie sich der Verlaufs-
kurvenprozess vollzogen hat und er begibt sich auf die Suche nach den Grün-
den für den Erleidensprozess, die letztlich zu seinem Zusammenbruch geführt
haben:
B.: Ich bin hinterher zu einem Punkt gekommen wo ich sach . ich hab alles probiert weg-
zukommen dass ich mir nen Attest besorgt hab. dass ich nich mehr mit diesem stressigen
Publikum in Verbindung in Kontakt trete dass ich daraufuin nen Versetzungsantrag gestellt
habe aufgrund der Tatsache dass ich keinen Publikumsverkehr mehr machen möchte weil
es mich psychisch zu stark belastet das hat sich dadurch gezeigt dass ich halt völlig ver-
stummt bin

Obwohl Bartholomäus' Vorgesetzter und seine Kollegen ihn bedrängen, er


könnte doch versuchen, "in abgeschwächter Form" weiterhin mit den Adres-
satinnen in Kontakt zu bleiben, lehnt Bartholomäus konsequent ab. Er besteht
auf einer Versetzung und verweist auf die attestierte psychische Überlastung,
der er nicht mehr ausgesetzt werden kann. Daraufhin beginnen seine Kolle-
gen erneut, ihn zu "mobben . nich zu grüßen acht acht Wochen lang ". Doch

6 Auch Bartholomäus' Bruder spielte einmal mit dem Gedanken des Freitodes. Inwieweit
hier die Dynamik der Herkunftsfamilie ein potenzierendes Verlaufs kurven potenzial in sich
birgt, lässt sich jedoch nicht in Bartholomäus' Lebensgeschichte ausmachen, da er nur zu
Anfang des Interviews von seinen Eltern und seinem Bruder kurz berichtet. Um die Famili-
endynamik gesichert - und nicht nur spekulativ - in die Interpretation einbeziehen zu kön-
nen, wäre ein anderer Forschungszugang notwendig (vgl. Bock 2000).
Erleidensprozesse im Berufsalltag eines Sozialbeamten 219

Bartholomäus hält sich an seine neuen Vorsätze: Er bleibt auf seiner redu-
zierten Stelle, studiert weiter und besteht auf seinem Versetzungsantrag. Als
Bartholomäus erfährt, dass er fortan in der Sachbearbeitung eingesetzt wird,
fühlt er sich endlich (vorerst) von seinen Fesseln befreit:
B.: und als ich das erfahren hab ging es mir schlagartig besser. ich kam morgens irgend wie
hoch hab meinen Kaffee getrunken. ich hab gelacht . ich hab rumgefrozzelt und da kam
von verschiedenen Arbeitskolleginnen und Kollegen ,du kannst ja wieder lachen' ich sach
is euch das aufgefallen ,ja' sacht er 'haben wir alle im Durchschnitt gesacht' .. ok es ist ein
Gutachten geschrieben wie das ausgefallen ist. weiß ich nicht es wird sich in Schweigen
gehüllt wie immer in (diesem Amt) . im Endeffekt sind wir Sachbearbeiter nur ein Spiel-
ball für die oberen Ebenen ich weiß es nich

Die Verlaufskurvendynamik im Erleidensprozess und die


Konsequenzen

Interessant am Fallbeispiel von Bartholomäus ist, dass sich das Verlaufskur-


venpotenzial relativ deutlich abzeichnet: Die eine Komponente (biographi-
sche Verletzungsdisposition) ergibt sich aus dem irrealen Bild, das Bartho-
lomäus von einem "Beamtenjob" im Allgemeinen und von der Arbeit in ei-
nem Sozialamt im Besonderen hat und das mit den beruflichen Anforderun-
gen zusammenprallt, die an ihn gestellt werden: Die berufliche Alltagsorga-
nisation fordert von ihm weder Kreativität in der Sache noch empathische
Hilfebekundungen für die Adressatinnen, im Gegenteil: Die geforderten
Kompetenzen, die Bartholomäus spätestens bei Berufsantritt schnellstmög-
lich zu erlernen hat, sind die Entscheidung nach Aktenlage und die strikte
Einhaltung der "Fürsorgepjlicht", die in einer" vorgeformten Schiene" ab-
laufen soll(te). Die andere Komponente (Konstellation von zentralen Widrig-
keiten in der aktuellen Lebenssituation) ist in der beruflichen Alltagsorgani-
sation selbst zu finden: Die für Bartholomäus nur schwer zu ertragenden Ar-
beitskollegen und der unsensible Abteilungsleiter, mit denen er täglich seine
Zeit verbringen muss einerseits sowie die kaum auszuhaltende Armut und die
Nöte der Adressatinnen andererseits. - Beide Komponenten ,machen das
Fass randvoll', und der berühmte ,Tropfen, der das Fass zum Überlaufen
bringt', setzt das Verlaufskurvenpotenzial frei. Die Verlaufskurvendynamik
kann sich vollends entfalten.
Doch nicht nur Bartholomäus gerät in dieser spiralförmigen Entwicklung
unter 'starken Leidensdruck. Privat sind mehrere Personen von Bartholomäus'
Erleidensprozess - eher mehr als weniger - stark betroffen:

• Als seine Freundin Schwierigkeiten im Studium bekommt und für sich


nach Lösungsmöglichkeiten aus dieser Situation sucht, sieht sie sich
nicht nur mit ihren eigenen Problemen konfrontiert, sondern wird zudem
plötzlich von Bartholomäus bevormundet und auf ungewohnte Weise
220 Karin Bock

von ihm eingeengt. Sie kann kaum noch selbstständige Entscheidungen


treffen und sieht sich - neben ihren Studiumsschwierigkeiten - mit ei-
nem Freund konfrontiert, der sich durch sein eigentümliches Verhalten
von ihr entfremdet. In der Folge wendet sie sich von ihm ab, obwohl ihr
durchaus klar zu sein scheint, dass auch Bartholomäus in existenzielle
berufliche Schwierigkeiten verwickelt ist. Aus dieser verzwickten Situa-
tion finden die beiden nicht mehr heraus - und schließlich wird die Auf-
lösung der Beziehung zur einzigen Möglichkeit, um nicht im Strudel der
Probleme gemeinsam zu ertrinken.
• Seine Freunde reagieren ohnmächtig auf den immer offensichtlicher
werdenden Leidensdruck, den Bartholomäus aushalten muss. Zunächst
suchen sie noch nach ihrem einst lustigen und lebensfröhlichen ,Kum-
pel', den sie in Bartholomäus hatten. Doch in der Zeit, als sich Bartho-
lomäus immer seltener meldet, weil er sich auf die neue Freundschaft mit
seinem Kollegen konzentriert, verblassen langsam die freundschaftlichen
Beziehungen, die sich nicht mehr ohne weiteres aktivieren lassen, als
Bartholomäus nach der enttäuschten Kollegen-Freundschaft wieder die
Nähe seiner Freunde sucht. Er ist inzwischen ein anderer geworden, der -
angefüllt mit beruflichem Leidensdruck - nicht mehr die Kraft hat, die
alten Freundschaften aufleben zu lassen.
In beruflicher Hinsicht sind die Kollegen, der Vorgesetzte und nicht zu-
letzt auch die AdressatInnen vom Verlaufskurvenprozess (mehr oder we-
niger) stark betroffen: Unsachgemäße Behandlung, Streit und Willkür
schlagen als Folge auf den Arbeitsalltag im Amt zurück. Entscheidungen,
die die einen bereits getroffen haben, werden plötzlich von den anderen
wieder zurückgenommen. Ständige Auseinandersetzungen im Arbeits-
team, ,Aktenchaos' und ein in dieser Situation völlig überforderter Ab-
teilungsleiter, der sich ignorant gegenüber der offensichtlichen Feindse-
ligkeit im KollegInnenteam verhält und weder Bartholomäus' Gefühls-
ausbrüche noch die Sorgen oder beruflichen Veränderungswünsche
wahrnimmt, erschweren den Leidensdruck für Bartholomäus und ver-
stärken das Verlaufskurvenpotenzial.

Ersichtlich wird am Fallbeispiel von Bartholomäus zudem, dass ihm zentrale


Kompetenzen für die Bewältigung seines Berufsalltags fehlen.? In seinem
Volkswirtschaftsstudium ist er kaum mit sozialwissenschaftlichen Fragen,
schon gar nicht mit Fragen der Sozialen Arbeit in Berührung gekommen.
Täglich muss er über die Vergabe von sozialen Hilfen entscheiden, ohne zu
wissen, wie und warum die zugrunde liegenden sozialen Probleme entstanden

7 In einem Abschnitt berichtet Bartholomäus von seiner alltäglichen Schwierigkeit, nicht zu


wissen, wie er verschiedene Probleme "anpacken" soll. Nach der Beschreibung eines Falls
fragt er die Interviewerin: ..Ist der Fall jetzt soziologisch. sozialpädagogisch oder admini-
strativ zu hetrachten? Ich hahs nie gewusst. ..
Erleidensprozesse im Berufsalltag eines Sozialbeamten 221
sind. Er hat weder Interpretationsfolien zur Verfügung noch kann er auf ge-
sellschaftstheoretische Erklärungszusammenhänge zurückgreifen. Deshalb
versucht er, in Einzelgesprächen mit den Adressatinnen zu erforschen, wie
sie in die jeweils prekäre Lebenslage gekommen sind. Täglich hört er sich die
Nöte und einzelnen Geschichten an und versucht, herauszubekommen, wie
man ihnen begegnen kann. 8 Doch genau mit der Kenntnis um die verschiede-
nen schwierigen Problemlagen treibt er seinen eigenen Erleidensprozess
weiter voran, der sich auch in seiner ,autodidaktischen' Suche nach geeigne-
ten kategorialen Unterscheidungen der AdressatInnen in ,notleidende Hilfs-
bedürftige' und ,schmarotzende Abzocker' äußert, die ihm zugleich als per-
sönliche Orientierung für die alltägliche Arbeitsorganisation dient. Der Be-
ginn des Fernstudiums (allerdings im Fach Kulturmanagement) kann in die-
sem Kontext als Versuch gewertet werden, dieses Nicht-Wissen zu kompen-
sieren - auch wenn es ein diffuser Versuch ist und eine andere Stoßrichtung
besitzt. Denn Bartholomäus will das Studium als Sprungbrett in einen ande-
ren Beruf nutzen und nicht, um kenntnisreicher in seiner bisherigen Tätigkeit
arbeiten zu können.

5. Das Konzept der Verlaufskurve als ein möglicher


sozialpädagogischer (Forschungs-)Zugang

Es bleibt zu fragen, inwiefern das Verlaufskurvenmodell einen geeigneten


forschungsmethodologischen Zugang für die Sozialpädagogik/Sozialarbeit
darstellt und inwiefern sich hier Möglichkeiten für den theoretischen Diskurs
eröffnen.
Interessant ist, welche Brisanz und Ziel genauigkeit dem Ablaufsmodell
für Verlaufskurvenprozesse als Interpretationsfolie innewohnen (und dieses
ist in den zahlreichen Arbeiten der interpretativen SoziologInnen auf den ver-
schiedensten Feldern elaboriert herausgearbeitet worden, vgl. z.B. die Studie
von Riemann 2000). Indes ist es erstaunlich, dass innerhalb der Theorie So-
zialer Arbeit bislang nicht systematisch auf diese Arbeiten zurückgegriffen
worden ist. Erste Zugänge zum qualitativen Forschungsfeld lassen sich denn
auch erst zu Beginn der 1990er Jahre verzeichnen (vgl. zum Forschungsstand

8 Bei der Interpretation der jeweiligen Textsequenzen kam die Frage auf, ob Bartholomäus
nicht lieber hätte Sozialarbeit/Sozialpädagogik studieren sollen. Der Einwand hat etwas für
sich und wäre zudem quasi-kongruent zum inzwischen zu einiger Berühmtheit gelangten
Fall des Hermann, der "Maler" (Anstreicher) geworden ist, obwohl er "Maler" (Künstler)
werden wollte (vgl. Schütze 1995, 1999). Doch bei genauerer Betrachtung ist der Fall Bar-
tholomäus etwas anders gelagert: Er leidet ja genau unter den Geschichten, die in der sozi-
alpädagogischen Arbeit (zumindest in der sozialpädagogischen Arbeit mit AdressatInnen)
zum beruflichen Alltag gehören.
222 Karin Bock

etwa Jakob/v. Wensierski 1997; Rauschenbachrrhole 1998; Friebertshäuser/


Jakob 2001). Doch auch gegenwärtig ist (noch) keine - tatsächlich etablierte
- qualitative Forschungslandschaft in der Sozialen Arbeit zu erkennen, die
systematisch aufnimmt, was in den Nachbardisziplinen herausgearbeitet wor-
den ist.
Die Möglichkeiten, die das Ablaufsmodell von Verlaufskurvenprozessen
für den sozialpädagogischen Diskurs bereithält, liegen m.E. jedoch nicht nur
im forschungsmethodologischen Zugang, sondern auch in der Anschlussfä-
higkeit des Konzepts an neuere theoretische Entwürfe, bspw. an das Konzept
der Lebensbewältigung (vgl. Bähnisch 1997) oder an den subjekttheoreti-
schen Entwurf einer Theorie der Kinder- und Jugendhilfe (vgl. Schefold
1993). Denn gerade jenseits psychologisierender oder sofort intervenierender
Zugänge könnte das Verlaufskurvenmodell m.E. erste Aufschlüsse über die-
jenigen Prozesse geben, in denen die Akteure handlungsunfähig zu werden
scheinen. Zudem lassen sich mit dem Konzept des Verlaufskurvenmodells
neben individuellen auch kollektive Verlaufskurven qualitativ erschließen,
die bislang im sozialpädagogischen Diskurs nicht systematisch in den Blick
genommen worden sind.
Insbesondere im Hinblick auf die neuerlich entfachte Debatte um den Bil-
dungsbegriff in der Sozialen Arbeit könnte das Verlaufskurvenmodell einen
interessanten Zugang liefern: Denn mit diesem Ablaufsmodell lassen sich bio-
graphische Lern- und Bildungsprozesse sowohl von AdressatInnen wie Profes-
sionellen gleichermaßen aufspüren, ohne sofort den Blick durch Hilfe- vs. Kon-
trolldimensionen zu verstellen. Hierin könnte vielleicht ein erster Anhaltspunkt
liegen, um danach fragen zu können, warum (sozialpädagogische) Interakti-
onsprozesse Z.T. "scheitern" und welche Konsequenzen dies für biographische
Lern- und Bildungsprozesse - bei AdressatInnen wie bei Professionellen - ha-
ben könnte. Weitere Anschlussmöglichkeiten des Verlaufskurvenkonzepts er-
öffnen sich m.E. im Hinblick auf kollektive Lern- und Bildungsverläufe von
AdressatInnen und/oder Professionellen innerhalb der Sozialpädagogik/Sozial-
arbeit. Hier wären allerdings in einem ersten Schritt zunächst erhebliche Lük-
ken zu schließen, da bisher kollektive Verlaufskurven überhaupt kein Thema
innerhalb der sozialpädagogischen Theoriedebatte waren. So ließe sich bspw.
innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe danach fragen, inwieweit Kinder und
Jugendliche, die mit arbeitslosen Müttern und/oder Vätern heranwachsen, von
Verlaufskurvenprozessen betroffen sein könnten oder ob sich solche ,,kollekti-
ven Verlaufskurvenprozesse" bei Kindern und Jugendlichen abzeichnen könn-
ten, deren Biographien zwischen Herkunftsfamilie, Heim(en) und pflegefamili-
en verlaufen; innerhalb der Sozialen Arbeit könnten Fragen nach Drogen-
"Karrieren", Langzeitarbeitslosigkeit, Beratungsprozessen usw. mit einem et-
was "anderen Blick" rekonstruiert werden - etwa inwieweit sich hier überhaupt
ein Verlaufskurvenpotenzial abzeichnet und/oder welche Strategien die Bio-
graphieträgerInnen entwickeln, um solche Karrieren (eben auch als ,,Nicht-
Scheitern") bewältigen etc. Des Weiteren ließe sich - mit Blick auf die (sozial-
Erleidensprozesse im Berufsalltag eines Sozialbeamten 223
pädagogischen) Professionellen resp. einer professionstheoretischen Forschung
innerhalb der Sozialpädagogik/Sozialarbeit - danach fragen, welche berufli-
chen Strategien die Professionellen evtl. entworfen haben bzw. entwickeln
könn(t)en, um mit diesen Biographieverläufen angemessen umzugehen - und
wann sie selbst ins "Trudeln" geratenY
Denn um diese Fragen überhaupt stellen zu können, müssten diejenigen
Prozesse ins Zentrum der sozialpädagogischen Theorie- und Forschungsde-
batte gerückt werden, die jeweils die AdressatInnenperspektive, die Perspek-
tive der Professionellen und die der Kinder- und Jugendhilfeinstitutionen (in
denen die Professionellen und die Adressatinnen zusammentreffen) aufneh-
men. Und hierbei wären dann eben nicht mehr nur die pädagogischen (Hil-
fe-)Prozesse in den sozialpädagogischen und sozialarbeiterischen Einrichtun-
gen, sondern auch die Bildungsvorgänge der AdressatInnen in den Institutio-
nen in den Blick zunehmen.
In jedem Fall - bei den Adressatinnen als auch bei den Professionellen
im Kontext der Sozialpädagogik/Sozialarbeit - werden mit dem Konzept der
Verlaufskurve chaotische Zustände in sozialen Zusammenhängen der "ge-
sellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit" (BergerlLuckmann 1996)
nicht nur ersichtlich, sondern sie können darüber hinaus rekonstruiert und
verstehbar werden.

Literatur

Berger, P./Luckmann, Th.: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit.


FrankfurtIM. (1966) 1996
Bock, K.: Politische Sozialisation in der Drei-Generationen-Familie. Eine qualitative
Studie. Opladen 2000
Böhnisch, L.: Sozialpädagogik der Lebensalter Weinheim 1997
Combe, A./Helsper, W. (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum
Typus pädagogischen Handeins. FrankfurtlM. 1996
Friebertshäuser, B.lJakob, G.: Forschungsmethoden: qualitative. In: Otto, H.-
U.lThiersch, H. (Hrsg.): Handbuch Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Neuwied 2001,
S. 576-591
Jakob, G.lv. Wensierski, H.-J. (Hrsg.): Rekonstruktive Sozialpädagogik. Weinheim
1997

9 M.E. gehen diese Fragen über die Diskussion um die "Pädagogische Professionalität"
(Combe/Helsper 1996) hinaus, da hier bisher lediglich die "Antinomien professionellen
HandeIns" (vgl. Schütze 1996) bzw. Fragen nach "Scheitemsprozessen bei AdressatInnen"
(vgl. Oevermann 1996) in den Blick genommen worden sind. Eine Zusammenführung bei-
der Diskurse steht bisher (noch) aus.
224 Karin Bock
Krüger, H.-H.: Bilanz und Zukunft der erziehungswissenschaftlichen Biographiefor-
schung. In: Krüger, H.H.lMarotzki, W. (Hrsg.): Erziehungswissenschaftliche
Biographieforschung. Opladen 1995, S. 32-54
Krüger, H.-H.: Entwicklungslinien, Forschungsfelder und Perspektiven der erzie-
hungswissenschaftlichen Biographieforschung. In: Krüger, H.-H./Marotzki, W.
(Hrsg.): Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Opladen
1999, S. 13-32
Mennemann, H.: Krise als Zentralbegriff der (Sozial-)pädagogik - eine ungenutzte
Möglichkeit? In: neue praxis 2000, H. 3, S. 207-226
Oevermann, u.: Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Han-
delns. In: Combe, A./Helsper, W. (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Untersu-
chungen zum Typus pädagogischen Handeins. FrankfurtlM. 1996, S. 70-182
Rauschenbach, ThIrhole, W.: Sozialpädagogische Forschung. Weinheim 1998
Riemann, G.: Die Arbeit in der sozialpädagogischen Familienberatung. Interaktions-
prozesse in einem Handlungsfe\d der sozialen Arbeit. WeinheimlMünchen 2000
Schefold, W.: Das Projekt Sozialpädagogik. Habilitationsschrift. Unveröffentlichtes
Manuskript. München 1993
Schütze, F.: Prozeßstrukturen des Lebenslaufs. In: Matthes, J. (Hrsg.): Biographie in
handlungs wissenschaftlicher Perspektive. TübingenlNümberg 1981, S. 67-156
Schütze, F. : Biographieforschung und narratives Interview. In: neue praxis 1983, H.
3, S. 283-305
Schütze, F.: Kognitive Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens. In: Kohli,
M./Robert, G. (Hrsg.): Biographie und soziale Wirklichkeit. Stuttgart 1984, S.
78-117
Schütze, F.: Verlaufskurven des Erleidens als Forschungsgegenstand der interpretati-
ven Soziologie. In: Krüger, H.-H./Marotzki, W. (Hrsg.): Erziehungswissenschaft-
liehe Biographieforschung. Opladen 1995, S. 116-157
Schütze, F.: Organisationszwänge und hoheitsstaatliche Rahmenbedingungen im So-
zialwesen. In: Combe, A./Helsper, W. (Hrsg.): Pädagogische Professionalität.
Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handeins. Frankfurt/M. 1996, S.
183-275
Schütze, F.: Verlaufskurven des Erleidens als Forschungsgegenstand der interpretati-
ven Soziologie. In: Krüger, H.-H./Marotzki, W. (Hrsg.): Handbuch erziehungs-
wissenschaftliehe Biographieforschung. Opladen 1999, S. 191-223
Znaniecki, F./Thomas, W.: The Polish Peasant in Europe and America. Nachdruck (2.
Auft.). New York 1927
Adrienne S. Chambon

Socially Committed Discourse Analysis


and Social W ork Practice

Derrida's statement stays with me: "Je n'ai qu'une langue et ce n'est pas la
mienne" ("I have but one language and it is not mine"). In Le Monolinguisme
de l'Autre (1996), Derrida pointed to the disjuncture between a language
spoken and loved, and anational identity that had been historically denied.
Taking up that phrase differently, social workers are growing incredulous
about the way they speak in social work, how they engage with language, and
what they do for a living. Laura Epstein (1994, 1999) pointed out the mys ti-
fying use of language in social work that masks the agenda that social work-
ers fulfill (as did earlier Rojek, Peacock & Collins, 1988). Epstein insisted on
making visible the historical tensions between the language and the profes-
sion's overt claims. Drover and Kerans (1992) have tried to redefine the main
objectives of social policy as the making (or constructing) of claims, wh ich
presupposes stretching and reordering language to create new social realities.
Whose language are we speaking, writing, negotiating in social work? What
kinds of dispossessions, translations are we conducting?
Social work, and helping professions in general, rely on language. Yet, to
wh at extent do we ex amine and reflect on the statements we make in social
work (Rodger, 1991; Stenson, 1993; Chambon, 1994)? This paper attempts to
address some of these questions: How do social workers and clients speak
when they meet? What is spoken and what is written in social work? Where
do such statements and repertoires come from and how do they come to be?
What do the practices of social work achieve in language terms: create a new
language, arrive at new statements for the clients about their lives, develop
new policy arrangements, foster societal options?
In this paper, I focus on a selected number of discursive phenomena I
have examined, so me of wh ich are currently the object of doctoral theses.
These examples are far from exhaustive. I progress through a range of ques-
tions and describe so me of the principles and concrete ways for conducting
discourse-based analyses grounded in social work interactions. I want to
identify a number of mechanisms to track and objectify the kinds of language
use that are common in social work in order to "de-naturalize" them, with the
226 Adrienne S. Chambon

intent of opening up thought to alternative practices of language and alterna-


tive social relations.
The phrase "discourse analysis" is used in a variety of ways: from prag-
matic approaches that ex amine how language is negotiated between speakers
in conversations, to theoretical understandings of the cognitive frameworks
that we enlist (and that enlist us) to give meaning to situations (V an Dijk,
1997). A socially committed approach to discourse links language use to
social relations and institution al arrangements (Fairclough & Wodak, 1997).
Discursive practices are concerned with how social workers, clients, and
other sources - the State and various social ac tors - co me to define particular
types of experiences, and how, within certain sets of constraints, they carve
out the social realities that affect interventions. This involves naming and
categorizing: How we name particular "kinds" of people and problems, to
take up lan Hacking's (1999) argument, and how these "kinds" influence
how we perceive and relate to them, how they perceive themselves (their
subjectivity) in a "looping effect", and how they respond. Beyond naming, a
discursive lens is useful to examine how in developing our professional ar-
guments, we define those parameters that are deemed to be relevant at the
personal and collective levels, wh at dimensions are excluded as non-relevant,
and importantly, who is doing the defining and whose claims count (Edel-
man, 1988; Leonard, 1997).
A related but different concept, that has gained influence, is the notion of
"narrative", stemming originally from literary theory. While narrative analy-
sis focuses on the structuring features of characters, events and plots, a dis-
course focus places greater emphasis on rhetoric and the selected markers of
language rather than on those of story. However, the two concepts have
tended to converge in how they are being used. They are sustained by a
common assumption that narratives and discourse are part of a historical and
cultural repertoire, and are "socially constructed". In Jerome Bruner' s (1987)
words, narrative comes before experience, and we co me to experience the
lives that we tell. Amsterdam and Bruner's (2000) more recent work on cate-
gories, narratives, rhetoric and dialectic in the discipline of law, bridges nar-
rative and discourse analyses. Critical approaches to narrative therapy have
also adopted the notion of "dominant discourse" (e.g., White & Epston, 1990;
Hare-Mustin, 1994; Saleeby, 1994; Madigan & Law, 1998), and address
client narratives in the context of institutional ones. In summary, all those
language-based analyses assurne that language uses include markers of
stakes, subjectivities, and that they take pI ace through language strategies.
A Foucauldian perspective on power and discourse may be useful to ad-
dress social work practice (Chambon, 1999). It proposes that power happens
through relations, and power is productive in the sense that it produces sets of
relationships. Rather than asking the broad question: "Is power present in the
discursive practices of social work?" a discursive approach asks more local-
ized questions such as: "How does power ,circulate , between client and
Socially Committed Discourse Analysis and Social Work Practice 227

worker in specific sets of circumstances?" "How does power take place


around specific social work tasks through language means?" As Rodger
(1991) stated: "There is no single professional discourse dominating social
work practice, but rather a variety of 'negotiated' discourses emerging from
the particular, localized encounters between individual social workers and
their clients" (pp. 77-78).
Discursive analyses then seek to demystify these mechanisms. In the
words of Foucault (1990), "Discourse transmits and pro duces power; it rein-
forces it, but also underrnines and exposes it, renders it fragile and makes it
possible to thwart it" (p. 200).
My work is empirically grounded and proceeds from accumulated layers
of experience. In this paper, I will cover a sm all number of situations chosen
among many other cases. The societal and institutional dimensions will be-
co me increasingly apparent in the sequence of examples. Being set in a
North-American context, these examples cannot be assumed to function in
the same way across languages and cultures. But the microseopie dimension
of the studies is thought to remain constant.

Differentiation and the Expansion of Meaning in Group


Interactions: Freedom and the Family Romance

I start with an activity that invites the exploration and differentiation of


meaning on an individual basis, and show how it can be analyzed discur-
sively. Group process offers many interactive occasions to document how
shared language comes about among group members, and what each person
does in drawing from this repertoire for their own use. I am selecting here
excerpts from the process of co-construction that do not involve statements
made by the therapist(s).
There comes a phase in the working of a group when a common lan-
guage has been found. Group members grapple with a set of questions using
shared wording. An obvious starting point consists in identifying what terms
are named and taken up by group members. A word or a phrase is considered
to be significant once it has been emphasized by the speakers. Markers of
emphasis include intonation, repetition or contrast with the surrounding utter-
ances. In and of themselves, the words and phrases that are chosen do not tell
us very much. We cannot ass urne to understand what they mean, and rely on
any standard usage. It is necessary to examine in a detailed manner what is
being said in particular instances and their associated meanings. I draw here
from a client-centered group therapy data set that has been largely studied
(Beck & Lewis, 2000; cf. Chambon, Tsang & Marziali, 2000).
228 Adrienne S. Chambon

In that group, the notion of "freedom" was discussed by the participants


for a sustained period of time, over several speech turns. What were group
members saying when tal king about freedom? Did they intend the same
thing? What self and relational stakes presented themselves?
Two distinct group members made the following statements excerpted
below:
Al. She left me very free, so free; she wanted me free; (...) her kindly influence, the only
one in my life not hanging on to me (... )
A2. I had to acquire independence, a sense of identity.

BI. They left me always, absolutely free, utterly free since I can remember
B2. (... ) because she didn't love me, she didn't care about uso We left horne. We got
kicked out.
In these segments, the speakers make distinct uses of what seems to be the
same source word, a notion that is part of a complex expression: "leaving me
free". Their statements diverge to reach opposing conclusions. They present
contrastive pictures of family relations, one wished for, the other abhorred.
This example illustrates that close attention must be paid to the way words
are used in analyzing discourse. It is not enough to indicate that a common
theme, idea or value has been adressed. It is important to describe what each
speaker does with the expression; how s/he carries it forward.
Not only lexical choices but the syntactical structure of statements can be
revealing. The relative positions of subjects and objects make a vast differ-
ence. Who is the "agent" or recipient of the action or decision can lead to
contrasted meanings, as argued for instance by Michael Halliday (1973) in a
linguistic perspective, and by Roy Schafer (1992) from a psychoanalytic
viewpoint. Compare:
(a) I am free I (b) she made me free, left us free, wanted me free
The statements correspond respectively to claiming one's freedom versus
being allocated one's freedom. The difference is immense in personal and
political senses.
Additional discursive means are used to shape meaning. Thus, for exam-
pIe, markers of subjectivity modulate the core notion by indicating the per-
spective of the speaking subject (Bruner, 1990). Chambon & Simeoni (1998)
have called those "modophorics:'. They range from open, tentative forms
such as "somewhat free" "so free", to closed forms worded in absolute
wording such as "utterly free", "absolutely free." Group members who used
the open form indicated their joyfulness, while those who used the closed
forms expressed a sense of constraint and pain. "Utterly free" meant having
"no choice, we were kicked out...". However, the phrase itself, "utterly free",
removed from its context, cannot tell us what the speaker intends. We need
Socially Committed Discourse Analysis and Social Work Practice 229
the additional information from the context of the associated phrases to fill in
the picture.
Speakers tend to expand upon their thought in subsequent clause(s) or
sentence(s) that are part of the relevant discursive context. It is worth noting
that these associated segments are not necessarily uttered sequentially by the
speaker, nor do they always contain the initial key word. In this analysis,
where neither the A 11A2 nor the B IIB2 statements were contiguous, they had
to be pasted together to "make sense".
Speaking often involves a struggle that is manifested in the process of
retelling and transformation. Indeed, there will be many tellings and re-
tellings, forged through corrections, adjustments, reappropriations within an
utterance or set of utterances. Each statement displaces the previous one, at
times through increased affirmation. In the group, what was told emerged
gradually through statements that progressively affirmed a complex situation
of being free while being cast away. One can think of the particular kind of
freedom of youths on the street. Retelling in a group would be an interesting
area to pursue.
Statements are further located within story genres that cast the language
used within a particular set of social relations, or cast of characters - to use a
narrative framework. In the previous group example, the notion of freedom is
staged in the context of the "the family romance," a core story genre in ther-
apy. What happens when group members slip into talking about work situa-
tions? Does the term "freedom" then mean the same thing? This raises a new
question: Are certain story lines encouraged or discouraged in the group by
reference to an expected story genre? Therapists exercise their influence by
what they pick up and what they leave out (Hare-Mustin, 1994; Madigan &
Law, 1998; White, 1993). And group members do as weil.
The exchange discussed above can be analyzed in many ways. What
needs to be specified are the surrounding statements, or discursive context,
and the social situation and conditions that produced those statements. The
extent of specification is left to the appraisal of the researcher. In a protocol
of discourse analysis of that type, nothing is given. The same words change
meaning and value. It is unlikely an analysis can lend itself productively to
automatic machine treatment.

Creativity and Discourse:


The Appearance of Non-Directive Guidance

When including the worker's statements, a discourse analysis can examine


the negotiating of topics between speakers. In the following example, I want
to examine subtle discursive practices that take place in the therapeutic dia-
230 Adrienne S. Chambon

logue, when the topical content of the exchange seems apparently open, yet
the practitioner may be shaping a peculiar form of talk by the client. Strate-
gies are not so readily apparent until we ex amine the statements themselves. 1
will now describe a pattern in which the practitioner directs the client to pro-
duce self-reflective statements.
Carl Rogers has been characterized as an empathic practitioner who is
genuinely client-centered and whose mode of intervention aims to enhance
client speech and minimize the worker's influence. His statements, often
caricatured for their abundance of "hmm-hhm" utterances, have been inter-
preted as Rogers' way of refusing to put words into clients' mouth. Yet, the
commonly-held assumption about Rogers' lack of directivity is inaccurate
when examined discursively. 1 draw here from an analysis of Rogers' inter-
views with "Gloria" as part of Shostrom's series of professional interviews
(Chambon & Simeoni, 1998).
A discourse analysis reveals that Rogers intervenes little upon the topics
being discussed. However, he produces strikingly atypical syntactic arrange-
ments. These statements fall within the range of acceptability of contempo-
rary English language, and can be understood by English speakers. Yet,
though they are not technically incorrect, they are unusual, and they influence
the speech of the client. Basically, Rogers acts on the level of syntactic
structures to modify how the client positions her/himself; how s/he claims her
voice and stance.
Rogers has a systematic way of eliciting statements from clients and up-
holding their view while downplaying his own position. His opening state-
ments position Gloria center-stage asking for her perceptions, her beliefs, her
thoughts and representations, and discourage statements about others, which
clients invariably make. Regardless of the topical content, the therapist' s
utterances direct the client to formulate utterances that are organized around
self-centered statements, particularly of the type: "I feei", "I think", "I wish",
"I wonder". Rogers' initial statement is:
.. .1 wonder I whether I we couldll
we have half an hour together
we ... whatever concems you
Gradually, the client picks up upon the repeated cues, and pro duces the same
statements on her own. When Gloria falls back upon her earlier pattern of
focusing upon significant others in her life (in this instance making state-
ments about her daughter), Rogers intervenes by reformulating her statement,
as illustrated schematicaBy below:
(1) It is ... what is happening to her,
(2) you wonder, how that would affect your relationship ..
(3) this is so important to you.
Socially Committed Discourse Analysis and Social Work Practice 231

The therapist' s reformulation shifts the focus from (l) an action or event
statement (happening) about the client's daughter, to (2,3) focus on the client
herself and her processing of thoughts and feelings by using the epistemic
values of "wonder how .. " and "this is important to you" (implied: you be-
lieve/think). This is a complex strategy which does two things. It redirects the
focus onto the client, and invites reflective statements. Such choices encour-
age the discursive activity of "working through" or insight as a positive tech-
nique of self (trans)formation - what Foucault (1988) has called a 'technol-
ogy of self' typieal of therapeutic activity.
As the above example shows, utterances are created for the occasion and
emerge out of the creativity of the speaker and the necessity of the stakes. A
discourse analysis can elucidate mechanisms that encourage new tellings.
More generally, a discourse focus can highlight the improvisational nature of
speech while underscoring its strategie function. Variation is continuously
assumed in analyzing statements (Potter & Whetherell, 1994), and emphasis
is placed on the productive power of utterances.

Making Decisions: Digressions in Conversation

Often, social work exchanges concern concrete decisions about living co nd i-


tions. These situations occur at biographieal junctures when individual needs
and abilities, resources and institutional arrangements co me to be redeployed.
These are primarily seen as occasions for individual decision-making. I will
now discuss an example involving working with elderly populations. In this
illustration, a strategy of "digression" is initiated by the client and responded
to by the worker. In language terms, we no longer examine the fine use of
lexieal and syntactic markers but focus on a complex embedding of state-
ments about the broader presentation of social activities, and the discursive
strategy of the "breaking of frames" (Goffman, 1974).
Abrief contextualization can help situate the stakes that often remain un-
spoken between staff and client. As mentioned earlier, a discourse perspec-
tive will make the social stakes explicit by equally addressing the discursive
and institutional contexts (Van Dijk, 1977). That is not always the case. Of-
ten, social work studies interpret the motivations of the speakers in terms of
matching personalities with, at most, additional constraints thrown in.
Social workers were audiotaped as they addressed a routine situation in a
Geriatrie Centre. The social worker interviews a client to help her decide
whether to move into the residential wing of the institution, based on the
lower functioning of the dient who may not be able to live on her own much
longer, and will not be in the position to maintain her current level of assist-
ance from family, friends and available community services. The autobio-
232 Adrienne S. Chambon

graphical stake for the client is the potential rupture away from living in the
protection of one's horne to living in a protected environment. The nature of
the decision is definitive. For the institution, there are financial and organiza-
tional interests.
A number of interviews held in this setting brought out differences be-
tween experienced and beginning social workers, and provided an opportu-
nity to revisit the question of how the practice wisdom of experienced social
workers becomes manifest. What sets apart an experienced practitioner from
a novice in how they attend to conversations with clients? Is it the questions
they ask, the answers they give, how they engage in the conversation? Dis-
course analysescan document some of these strategies and show that (sorne)
experienced practitioners engage with complex stakes in conducting a profes-
sional exchange. It is the art of the craft. I found that such findings were
helpful in the development of training.
In two separate interviews, one held between a beginning social worker
and client, another between an experienced social worker and a different
client, each of the clients swerved off in the middle of the conversation to
discuss respectively (a) a piece of music she enjoyed and had recently heard
at a concert in the community, and (b) a book she had read, meant to read,
enjoyed but partly read, that was tied to her past and her circle of friends.
Straying from the agenda is a common phenomenon but it creates tension and
undecidability in the conversation between the participants.
What was the client doing when she interrupted the sequence of ques-
tions initiated by the worker, and attempted to spend the time on an appar-
ently unrelated topic while an important decision needed to be made? In each
instance, the mental ability of the client was not in question. Let us consider
the meaning of going "off-topic" in terms of actions, stakes and strategies in
these particular instances. As a move away jrom knowing, the digression was
used by the client as a strategy to buy time. As a move towards knowledge,
the digression was a strategy that embraced nostalgia, with the speaker refer-
ring to an object presenting a sustained link to her past. It implied that
changing circumstances would threaten such a continuity. This was also a
digression away from discomfort into pleasure, or a mixed sensation, pleas-
ure and fear of the loss of pleasure. In interaction terms, these digressive
moves constituted a strategy of influence on the part of the client that chal-
lenged the worker to follow her agenda with the implicit query: Are you
following me there? Would the worker accept the invitation and join the
client in this other discursive space?
The two workers responded differently. The experienced worker took up
the client's invitation, and expressed her own pleasure with such material.
The turn in the conversation became the occasion for the expression of shared
interest. What became clearer in the interaction is that the choice of content
carried a significant stake, the acknowledgment of a cultural repertoire repre-
sented by a political book, a well-known novel or collection of poems. Such
Socially Committed Discourse Analysis and Social Work Practice 233
an orientation is most often at odds with that of medically-based institutions
which function along a different cultural model. It was the dient who made
the cultural distance manifest between community and institutional living
arrangements.
In this instance, talking about recreational activities can be thought of as
a topical digression only if the frame of the exchange is defined around
physical mobility and competence. Once we expand that frame, activities
such as reading, going to a concert, are very much at the COfe of the decision-
making process. Far from being haphazard, the persistence by dients to
"stray" from an expected agenda is indicative of an important query: In what
fundamental ways will my life stray from its course? By interrupting the
expected course of talk led by the worker, dients signal the deep break that a
decision of institution al living represents for them. They express what Art
Frank (1995) has named "interruptions in the autobiographical narrative".
This raises the question of the frontiers of speech in the social work dia-
logue, and whether social workers take upon themselves the unnecessary task
of policing restricted boundaries (Foote & Frank, 1999). Social work talk is a
highly sophisticated activity that weaves the everyday and the institution al
into many "folds", to use Deleuze's words. The more experienced worker can
hold on to disparate ways of relating and corresponding shifts in emotional
involvement, as so many "keys" offered to the dient (Goffman, 1974).
Lacking familiarity with such shifts of frame, the novice social worker froze
as the dient digressed, and her professional questions were less and less
addressed. Eventually, the dient cut her off and the worker saw the line of
decision-making recede from them.
The experienced worker, whose speech was most carefully analyzed,
adopted a particular strategy. She followed upon the sequence of shared cul-
tural interest. No direct questions were asked that required a commitment
from the dient one way or the other. The worker did not obtain an assent, but
neither was she left with a "no". The worker backtracked from apremature
decision and the corresponding language of action into a world of pre-
questions, even though there wasn't much time and adecision needed to be
made. The worker spoke in the language of musing, wondering out loud what
they - worker and dient - would need to think about in the next while. As
they puzzled together, the worker encouraged the dient to start formulating
half-thoughts, and become familiar with the questions. The worker said
things like:
SW2, a: Before you even get to ask yourself that question, you might want to attend the
Wednesday aftemoon club activity. 1'11 talk to so and so.
The question of becoming part of an institution was attended to through do-
ing. Talking about it would come later. The time frame was mentioned in
passing, as if it was not tied to the decision:
234 Adrienne S. Chambon
SW2, b: It would be preferable to decide while there are rooms available at this time ... If
not, it will be in a few months.
The worker's statement removed the sense of pressure and urgency, and
attempted to elicit adesire.
In that conversation, nothing happened much on the surface, while a
large stake was at hand. Multiple moves were made to respond to the client' s
concerns, expanding upon areas of exchange. The situation came to be rede-
fined as a "before-decision". This can be seen as a highly sophisticated form
of power that produces discursive wanderings needed in the context of bio-
graphical and institutional stakes. This type of response does not trivialize the
"straying" of the client, and recognizes the client' s power to shape and break
the conversation. Analyzing discourse in that sense requires being alert to
sudden and/or subtle shifts of frames that are captured by the third ear of the
experienced practitioner. That is often what social workers mean by the ex-
pression "attending to process".

Written Tools as Logical Sets of Abstract Relations

I wish now to broaden the range of situations examined and apply the discur-
sive lens to such administrative texts that increasingly proliferate and shape
the conduct of interactions between clients and workers (Smith, 1990). The
following illustration is drawn from the highly structured organizational
environment of child protection where clients are in large part involuntary.
In the province of Ontario, in recent years, child protection agencies have
adopted a set of standardized procedures, largely text-based, that are being
implemented across the province. Partly in response to a number of highly
mediatized deaths of children in care (Ontario Child Mortality Task Force,
1997), such changes were greatly facilitated by deep transformations in the
funding and management of social services in Canada. Since 1995, the finan-
cial responsibility and management accountability of core programs have
shifted from the Canadian federal govemment to the provinces (Mendelson,
1995). Modifications to the Child and Family Services Act (CFSA) were
swiftly put in place and a mandatory "funding formula" was implemented
that set a uniform standard for the delivery of units of service in child-
protection agencies across the province.
I wish to focus on one administrative document that contributes to this
implementation. The Ontario Child Welfare Manual: Eligibility Spectrum
(1997) is a key reference text that provides detailed guidelines for "investi-
gating" potential cases of child abuse and neglect. The manual serves as a
mechanism of assessment that monitors service to clients and thereby docu-
ments the work of the staff. I am drawing here on the doctoral work of Hemy
Socially Committed Discourse Analysis and Social Work Practice 235

Parada (2001) who conducted an extensive study of the current working


conditions of social work staff in child welfare agencies in Ontario. I have
selected this particular textual tool from the range of sources he has identi-
fied, and I will expand upon his analyses by examining so me of the discur-
sive features of the document.
Initial tension is evident between the format and the content of the text.
The apparently "user-friendly", playful, if not child-like, aspect of the
graphics and overall format of the manual (that is common with technical
writing on computer-technology) is in sharp contrast to its prescriptive con-
tent, and the sources of expert knowledge it cites. This lengthy document
presents an interesting mix of rationalities (Castei, 1991; Rose, 1999) or
discursive genres (Fairclough & Wodak, 1997; Smith, 1999) derived from
management and law, and the scientific language drawn from epidemiology
and more broadly, the health sciences.
The document is organized around apredominant line of argumentation
stressed to a point of excess, while traditional areas of child welfare and
families are left unqueried. The text upholds logical sets of abstract relations
between two prototypical social ac tors defined in this institution al context as:
(1) the Child, as potential victim and (2) the Caretaker, as potential perpetra-
tor. Child is positioned as a moral absolute - as Hasenfeld (2000) has re-
cently argued about the moral practices that are constitutive of welfare ad-
ministration. The bland term of Caretaker does not automatically attribute
blame to mothers, as was commonly done in the past. Caretaker is a broader
concept that encompasses alternative arrangements to the nuclear family. It
also includes community staff, and highlights the legal responsibilities of
caretaking figures.
More than simply orienting workers' accounts to fit administrative cate-
go ries as was the earlier practice (de Montigny, 1995), the text adopts a
population-based approach and statistically-based logic rather than a case-
centered one. Items that are deemed to be indicative of potential abuse and
neglect are extracted and subsumed in the mathematical language of "sc ales"
and "levels of tolerance". Seventeen sc ales cover five types of harm that are
sanctionable according to the law: Physical/sexual harm by commission,
harm by omission, emotional harm, abandonment/separation, to which is
added, caregiver capacity. Four levels of severity: Extreme, Moderate, Mini-
mal, Not Severe guide the worker's decision. Immediate intervention is man-
dated if a minimum of one item from the extremely or moderately severe list
is checked on any one of the scales. The tone of the document is illustrated
by the following excerpt:
Section l. Scale 4: Threat oj Harm (p. 32)
Extremely Severe: A) Direct Physical Threat, But No Actual Harm
Child is placed in a very dangerous threatening situation (e.g. held out of window, held
over scalding water, deliberately allowed to wander where potential for injury is high). No
actual injury or harm occurs, though child may have been frightened.
236 Adrienne S. Chamban
Moderately Severe: B) Direct Verbal Threat
Direct, specific, verbal threats of abuse or harm are made against the child. Threats are
such that if carried out, physical harm to the child could result. IncIuded would be threats
of physical abuse, deprivation of food or water, sexual abuse, etc.
There has been no aUempt to carry out such threats.
C) Implied Verbal Threat. No direct and specific treats of abuse or harm are made. Care-
giver says they "feel overwhelmed by the child" "might hurt child" "fear child might have
an accident" "get so mad at child they don't know what might happen". These indirect
threats are of a quality which lead the Iistener to believe there is a danger of injury or
neg\ect to the child.
Minimally Severe: D) Implied Verbal Threat with no Anticipated FoIlow-through.
Not Severe E) No Verbal or Physical Threat of Abuse.

A set of predetermined possibilities are thus evaluated, and overlapping items


assessed, in a manner that echoes hypothesis testing, aiming for consistency
and (dis)confirmation in judgement. Additional guidelines are given: "indi-
vidual cases may be opened even if descriptors fall below the intervention
line in consideration of past history , several minimally severe descriptors, the
child's age, etc." (p. 10), concluding with: "When in doubt as to severity, err
on the side of greater severity" (p. 10).
Used as a blueprint for making individual assessments, the manualleaves
no room for personal features and social circumstances, queries about peo-
ple's everyday reality that were once considered central in the practice of
social work. The gaps are equally obvious in social science terms with situ-
ated selves missing from the text. What are the socioeconomic conditions of
these families? An item for investigation limits itself to the contents of the
household icebox, without prompts as to income or employment. Given that
child protection cases are predominantly from the minority groups, is this
case an immigrant family? What is the nature of the disjuncture between
cultural patterns of rearing children? The assessment forms leave no room for
those kinds of questions, nor for assessing the "strengths" of the family.
This tool is a closed system meant to be used "consistently" across cases
and across workers. This mechanism serves more than one function. It pro-
vides an assessment of clients and, concomitantly, of the workers' activities
and parameters of knowledge. As Parada (2001) has discussed, when the
worker fills in the checklist, her body busily taken up with the minutest items
to be checked within a time-limited framework, there is neither time nor
relevance for her to start to know the family members present that day, and to
develop a sense of the whole family - knowledge that s/he could otherwise
compare to her previous experiences with other families. lust as with the
family, the worker's own social and cultural background, education, experi-
ence and complex knowledge, all that is untapped and rendered useless, de
facta censored by the text. Functionally, the worker has been turned into a
robot.
A dose examination of the document shows a peculiar representational
strategy. An abundance of items are checked while the evidence is punctured,
Socially Committed Discourse Analysis and Social Work Practice 237
hollowed out of its social features. The tool appears concrete but has a fanta-
sied, hypnotic quality to it that does violence to reality. "Child" and "Care-
taker" are presented, puppet-like, as caricatured and sketchy outlines of peo-
pIe - like the silhouetted targets from cardboard used in a shooting gallery. It
is an injurious world, a world of suspiciousness which registers the minutest
hint at something negative, inc1uding its potential.
Importantly, as child abuse or neglect is detached from its relational sce-
narios, the case is identified as a pure event, a recurrence, a statistic devoid of
circumstances that the intervention comes to interrupt, and that makes inter-
ventions easier to conduct since the assessor does not become personally
invested in the knowledge of the situation. Knowledge is reduced to a for-
mula: Careless Caretaker versus Wounded Child, a situation of harm and risk
that needs to be sanctioned (see Parton, 1999, for a discussion on risk and
child welfare). We do not want to understand its unfurling. Responsibility is
c1early on the caretakers' side (whoever they may be). Inevitably, the out-
come is the separation of the protagonists.
In arecent presentation, Karen Swift (2000) centered her argument on
the strange habit in the child-welfare literature of separating child-poverty
issues from child-protection issues (a point similarly made by Hacking,
1999). The links between these two realms are never made manifest; instead
they are treated as separate texts - providing an illustration to Edelman ' s
1988 discussion of the selective construction of problems, solutions and ex-
perts.
The appearance of science is a rhetorical strategy that contributes legiti-
macy. The Ontario Child Welfare Manual: Eligibility Spectrum manual thus
looks "scientific". It explicitly references expert literature, mostly academic,
inc1uding social work sources. Yet the scientific logic of the tool is problem-
atic in its own way. The instrument relies on a principle of certainty and
leaves out probability (an argument aga in developed by Hacking, 1990). It
exc1udes contextual factors and fails to consider "negative cases". The term
"severe" (albeit with qualifications) is used in a somewhat generalized man-
ner. If we think of the scientific language as contributing to a play of forces,
it would appear in this instance to act as a mediating discourse between pro-
fessionalism, manageralism and legalism. Scientific language is then used to
tie together several disparate logics into an seamless whole (Chambon, 2001).
Science positions academia as a legitimizing force behind rapidly imple-
mented professional changes.
Such textual transformations do not fully erase the presence of earlier
texts and their assumptions about modes of understanding. Traces of the old
language appear in the document, but are distorted to fit the new task. For
example, the term "interpretation" is highlighted next to achecklist wh ich
translates what is to be interpreted as a set system of signs. Yet what is left of
the interpretive activity after filling in check-lists? Protection workers are no
longer to interpret the world; scientists and bureaucrats are doing it for them.
238 Adrienne S. Chambon
Discursively, the revers al of the meaning of "interpretation" into its opposite
is reminiscent of the practice of Newspeak in Orwell's 1984. Such a rhetori-
cal move corresponds to the early phase of that totalitarian world, when
words are still maintained, before they are ultimately excised from the vo-
cabulary, but emptied of their meaning, signifying the opposite of their pre-
vious connotation, as "freedom" comes to mean allegiance to the authorities.
In the novel, as in social services, such moves divert the potential for action
and alternatives.
Discourse analysis in this example requires being able to unearth the dif-
ferent logics, at times contradictory, giving rise to administrative texts.

Destabilizing and Alternative Discursive Practices

Beyond making manifest how discursive practices take place, particularly


how social workers direct conversations and are responded to (e.g. Stenson,
1993; Nye, 1998), there is a small but growing trend that attempts to displace
the apparent naturalness of language use in social work and to jar our expec-
tations by inviting perspectives that are least heard, making visible the con-
frontational nature of discursive practices, and promoting alternative versions
as relational visions. These manifestations, that are diverse in nature and
object, underscore an emancipatory urgency for transforming social relations
in the professional arena.
In an editorial of the magazine Social Work, Stan Witkin's (2000) invites
social workers to explore possibilities of alternative inscription of profes-
sional practice by attempting non-standard ways of writing. As the editorial
of the leading journal in social work in the D.S., his call is an important sig-
nal of change in the field.

Discursive Acts and Social Movements

Shedding light on the power of non-professionals to make claims provides


one among many directions. As an illustration, Frank Wang's (1999) histori-
cal reconstitution of the shifts in claims made by the seniors' social move-
ments in the U.S. shows dramatically how over time various segments of the
elderly population actively promoted selective features of their social identity
in negotiating for resources and recognition with policy makers. Wang's
sensitive account demonstrates the struggle and creativity that went into de-
veloping collective strategies that framed issues in particular ways, i.e. inter-
vening through discourse, with the resulting effect that sectors of the lay
public achieved significant policy changes. His work also shows how each
Socially Committed Discourse Analysis and Sodal Work Practice 239

strategy of resistance to the dominant discourse of the time, and its corre-
sponding counter-claims, engendered new social relations, but also estab-
lished new constraints.
Another approach to showing diversity through discourse consists in
documenting clashes in voices and perspectives, and putting on an equal
footing discursive productions that are generally kept staunchingly apart. I
will briefly mention two such transformative attempts at polyphonic juxtapo-
sitions that are taken from different registers of social work practice.

Destabilizing Reflections on Supervision, a Multi- Voice Inquiry

Practices of self-writing (Foucault, 1997) can become a transformative tool


that practitioners may use reflectively to destabilize the daily practices cur-
rent in agencies, particularly at times of rapid institution al change. Such at-
tempt at a "polyphonous self-writing" was recently initiated at a Family
Service Agency in Toronto by a supervisor-administrator, an experienced
practitioner, and an academic observer (Beres, Costello & Chambon, 2001).
The intention was to make visible the subtle manifestations of power that
take place in supervision - from defining the features of a family case, to
modalities of record-keeping, to practices of guidance and resistance - ex-
tending the arguments developed in Reading Foucault jor Social Work
(Chambon, Irving & Epstein, 1999).
Following supervisory meetings, the practitioner and her supervisor
wrote separate journal entries, attending to the details of interactions, which
they then shared in the team. The multi-voiced format of self-writing re-
vealed the asymmetry of assumptions, but also the range of actions and
counteractions that take place between worker and supervisor. As participants
confronted their respective versions, they came to redefine the parameters of
what constitutes, and could constitute (in this case), "supervision". The ex-
periment had tangible effects. It reportedly has exerted a capillary influence
upon the patterns of communication between the participants. They have
repeatedly commented on how the project has affected the nature of staff
exchanges including outside of their dyad. It is to be cautioned that such
multi-voiced attempts at self-writing require a lot of courage and risk-taking
when different roles are involved.

The Chasm between Personal and Administrative Accounts:


A Critical Autobiographical Examination

The irreducible disjuncture between personal experience and administrative


accounts is starkly demonstrated by Jacqueline Maurice (2001) in her critical
autobiographical study entitled: "De-spiriting the Aboriginal Child: Western
240 Adrienne S. Chambon

constructions and destructions oj Aboriginal children in the child welfare


system in the 1960s and 1970s". Maurice ex amines the impact of past child
welfare policies in Canada, which forcibly removed Aboriginal children from
their hornes and community at an early age and placed them in non-
Aboriginal hornes and institutions. Maurice juxtaposes sources and voices
that otherwise do not "meet". She contrasts (a) assessments, prognoses, and
predictions, as stated in the administrative reports of her case obtained from
distinct professional institutions (medical, psychiatric, school-related, welfare
and child protection) and that indude the characterizations of a young Abo-
riginal person, with (b) entries from her personal journal which she kept from
childhood through early adulthood; and (c) letters from her biological and
foster-family members.
This textual confrontation reveals routine forms of institutional violence
and their effects, as weIl as reactions and resistance on the part of a young
person. The core discussion is expanded through contemporary sources.
Further, by using herself as source and center of a critical autobiographical
research, this unusual inquiry becomes for its author the conduit of a personal
journey, and contributes to a more general strategy towards personal and
collective healing in the Aboriginal community. The chasm between the
different versions has a strong destabilizing effect upon the reader, and com-
pels a commitment to change.

Concluding Comments

Socially committed discourse analysis traces various forms of discursive acts


to systems of meaning that articulate particular social relations. This entails
examining up-dose specific speech and text productions located within par-
ticular institutional dispositions and social arrangements. Moreover, such an
approach holds that though discourse is about patterns and schemas, it is also
about movement and transformation, as the different speaker positions are
engaged in various degrees of struggle in negotiating an outcome. Discourse
is not simply the result of practice and policy arrangements, but contributes
to shaping social relations. Power in discourse circulates between the dient
and the worker. What a discourse analysis can show is how this takes place,
using wh at means, producing what outcomes. Indeed, practices of discourse
reveal a wide range of speech and textual means - lexical, grammatical, the
making and breaking of discursive frames, the layering of discursive gemes
as so many rationalities. In an emancipatory perspective, socially committed
discourse analysis can strategically indicate the discursive disjunctures be-
tween various sources - expert and lay - and can highlight alternative voices,
Socially Committed Discourse Analysis and Social Work Practice 241

opening the way for articulating alternative social relations within and, hope-
fully, beyond social work.

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Sozialpädagogische AdressatInnenforschung

Hansjörg Sutter

Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen


in einem demokratisierten Vollzug

Die in diesem Beitrag vorgestellte Analyse einer Alltagsszene 1 orientiert sich


an der strukturalen "objektiven Hermeneutik" Ulrich Oevermanns (1991,
1993; Sutter 1994). Die Anwendung objektiv-hermeneutischer Interpretati-
onsverfahren zielt darauf, die Regel-, Normen- und Wissenssysteme, denen
Akteure in ihrem Handeln folgen, rekonstruktiv zu erschließen, um so zu be-
gründeten Hypothesen über die individuellen und sozialen Bedingungen einer
interessierenden Handlungspraxis zu gelangen. Im Schnittfeld von Entwick-
lungspsychologie und Sozialisationsforschung geht es um die Akzentuierung
eines erziehungswissenschaftlichen Theorie- und Forschungsprogramms, das
die sozialisatorische Funktion pädagogischer Praxen unter dem Gesichts-
punkt von deren potenziellen Entwicklungs- und Bildungsbedeutsamkeit zu
bestimmen versucht. Meine eigene Arbeit konzentriert sich dabei auf Fragen
der Moralentwicklung in institutionellen Kontexten der Erziehung und lässt
sich in der sozial-kognitiven Forschungstradition von Jean Piaget, Lawrence
Kohlberg und Robert Seim an verorten.
Das besondere Interesse gilt dabei einer an George Herbert Mead an-
schließenden Soziologisierung dieser entwicklungspsychologischen Erklä-
rungsansätze2 - eine Theoriestrategie, die in der bundesrepublikanischen Dis-

Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft: "Rekonstruktion sozial-kognitiver und so-


zio-moralischer Lernprozesse im Rahmen eines demokratisch geregelten Vollzugs" (br
792/5) (vgl. BrumliklSutter 1993, 1996).
2 Die theoretischen und methodologischen Grundannahmen dieses strukturgenetischen An-
satzes habe ich in einer Rekonstruktion von Ulrich Oevermanns Theorie- und Forschungs-
programm (vgl. Sutter 1994, 1997) sowie im Bezugsrahmen einer immanenten Kritik der
an Durkheim, Piaget und Kohlberg anschließenden sozialwissenschaftiichen Moralfor-
schung (vgl. Sutter 2002) ausgewiesen. Zur aktuellen sozialwissenschaftlichen Moralfor-
246 Hansjörg Sutter

kussion seit den späten siebziger, frühen achtziger Jahren von Autoren wie
DöbertJHabermaslNunner-Winkler (1977), Edelstein/Keller (1982), Haber-
mas (1974, 1983), Krappmann (1969, 1985,2000), Oevermann (1976, 1979,
1991, 1993, 2000a), Mil1er (1986) und Kel1erlEdelstein (1993) vertreten
wird.
Ausgehend von der entwicklungspsychologischen Einsicht in die aktive
Konstruktionstätigkeit des sich bildenden Subjekts geht es al1gemein um die
Frage, in welcher Weise soziale, kulturelle und gesellschaftshistorische Fak-
toren auf die Entwicklung des Einzelnen einwirken. Wie entfalten unter-
schiedliche Sozialwelten (der Familie, Freundschaften, Peers, der sozialen
Netzwerke und gesel1schaftlichen Institutionen), vermittelt über die Kommu-
nikation der Akteure, ihre sozialisatorische Wirkung? Wie lässt sich erklären,
dass deren jeweilige lebensweltliche Ausprägung nicht nur die Abfolge onto-
genetischer Entwicklungsschritte konstituiert, sondern auch maßgeblich dar-
über entscheidet, welche individuel1en Entwicklungspfade dem sich bilden-
den Subjekt biographisch offen stehen?3
In erziehungswissenschaftlicher Perspektive ist dabei von besonderem
Interesse, wie pädagogische Handlungssituationen und Settings sozialisato-
risch wirken, die Entwicklung des Einzelnen befördern oder aber systema-
tisch einschränken. Um die Wechselwirkung zwischen sozialer Strukturie-
rung des Erfahrungsangebots auf der einen und individuel1er Handlungs- und
Erfahrungsstrukturierung auf der anderen Seite untersuchen zu können, be-
darf es komplexer Forschungsdesigns, die objekttheoretisch Forschungszu-
gänge der sozial-kognitiven Forschungstradition, der Biographieforschung
und der soziologisch-strukturtheoretischen Sozialisationsforschung aufeinan-
der beziehen (vgl. Sutter 2002, S. 199ff.). Pädagogische Model1versuche, de-
ren Ziel die Institutionalisierung so genannter ,,lust Communities" bzw.

schung vgl. die Sammelbände von KurtinesiGewirtz 1991; EdelsteinlNunner-Winklerl


Noam 1993; Garz/OserlAlthof 1999; EdelsteinlNunner-Winkler 2000 sowie die Übersichts-
artikel von Eckensberger 1998 und Turiel 1998. Von Interesse sind des Weiteren jene Ar-
beiten, die sich summarisch dem Theorieprogramm eines strukturgenetischen Konstrukti-
vismus (vgl. Edelstein/Hoppe-Graff 1993) bzw. einer konstruktivistischen Sozialisations-
forschung (vgl. Grundmann 1999) zuordnen lassen.
3 Entwicklung wird hier im Sinne des Theorieparadigmas eines Interaktiven Konstruktivis-
mus verstanden. Den VertreterInnen des interaktiven Konstruktivismus zufolge "Iiegt die
Quelle der kognitiven Veränderungen in der beständigen Interaktion zwischen Individuum
und Umwelt. Die Entstehung und die Erweiterung der Erkenntnis ergeben sich als ,natürli-
che Konsequenz' (Piaget) aus der Interaktion; die Quelle der Entwicklung sind Ko-Kon-
struktionen von Organismus und Umwelt. Mit dem Konzept der Ko-Konstruktion soll zum
Ausdruck gebracht werden, dass die Ursache oder das Movens der ontogenetischen Fort-
schritte weder im Individuum noch in der Umwelt liegt, sondern in deren Beziehung. (... )
Konstruktivität ist nicht durch die Objekte gegeben, da sie von den Handlungen des Indivi-
duums abhängt; sie ist aber auch nicht im Individuum gegeben, da es nur in der Interaktion
mit Objekten Handlungskoordinationen erwirbt" (Hoppe-GrafflEdelstein 1993, S. 10f.).
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen 247

"Demokratischer Gemeinschaften" ist, bieten dafür ein erziehungswissen-


schaftlich besonders aufschlussreiches Forschungsfeld. 4

1. Moralische Entwicklung und demokratische


Partizipation

An dieser Stelle wäre nun systematisch zu entfalten, wie der Zusammenhang


von moralischer Entwicklung und demokratischer Partizipation auf der Basis
des vorliegenden Forschungsstandes vorzustellen ist, was die pädagogische
Konzeption des ,,Just Community"-Ansatzes bzw. des Konzepts ,,Demokrati-
scher Gemeinschaften"5 in erziehungswissenschaftlicher Perspektive aus-
zeichnet und welche Einsichten in dessen sozialisatorische Relevanz bisher
gewonnen werden konnten. 6 Im zweiten Teil meines Beitrags möchte ich
mich stattdessen auf die Spurensuche in einer Alltagsszene begeben: eine

4 Deren pädagogische Programmatik zielt auf die Förderung sozial-kognitiver und sozio-
moralischer Lernprozesse. Mit VeIWeis auf psychologische und soziologische Theorien der
Moralentwicklung werden hierzu die institutionellen Rahmenbedingungen pädagogischer
Settings so variiert, dass sich eIWeiterte Handlungsspielräume und Partizipationsmöglich-
keiten ergeben. In entwicklungspsychologischer Perspektive stellen Veränderungen des
Themenspektrums wie des Thematisierbaren fUr den Einzelnen eine kognitive Herausforde-
rung dar, die es sachlich und emotional zu bewältigen gilt. Abhängig von der Erfahrungsge-
schichte des Einzelnen kann dies zur Herausbildung neuer Handlungsmuster und kognitiver
Konzepte des Selbst- und Weltverständnisses fUhren. In sozialisationstheoretischer Per-
spektive wirken sich Veränderungen des Themenspektrums wie des Thematisierbaren auf
die eingespielten Kommunikationsmuster und Beziehungsverhältnisse aus, die unter diesen
Bedingungen einem hohen Veränderungsdruck unterliegen - mit der Folge, dass die sozia-
len Mechanismen der Reproduktion und Transformation eingespielter Interaktionsverhält-
nisse offener zu Tage treten als dies unter Bedingungen eingespielter Handlungspraxen der
Fall ist. In erziehungswissenschaftlicher Perspektive interessiert schließlich nicht nur der
Zusammenhang zwischen lebensgeschichtlich eIWorbenen sozial-kognitiven Bewusstseins-
strukturen, praktischen Handlungsvollzügen und Teilhabechancen (in institutionellen Kon-
texten der Erziehung) sowie den (institutionell) mehr oder weniger eingespielten Praxis-
und Kooperationsformen. Von Interesse ist auch das Verhältnis zwischen pädagogischer
Programmatik und konkret realisierten ..Erziehungsverhältnissen", m.a.W.: die Frage, in-
wieweit die pädagogische(n) Programmatik(en) (des Modellversuchs wie auch der verant-
wortlichen Akteure) die institutionell vermittelten Bildungs- und Erziehungsprozesse in ei-
ner entwicklungspsychologisch und sozialisationstheoretisch gehaltvollen Weise repräsen-
tiert (bzw. repräsentieren).
5 Zur Differenzierung zweier Varianten des Just-Community-Ansatzes siehe Kapitel 1.2.
6 In Kohlbergs Entwicklungspsychologie, den Just-Community-Ansatz sowie den For-
schungsstand führen ein: Higgins 1991; Oser/Althof 1992; Garz 1996 und Kuhmerker/
GielenlHayes 1996. Zu Konzeption und Analyse des in diesem Beitrag thematisierten Mo-
dellversuchs vgl. BrumliklSutter 1996; Sutter 1996, 2002; Brumlik 1998 und Sutter/Baader/
Weyers 1998; zur deutschsprachigen Rezeption des Just Community-Ansatzes (in Schulen)
ferner: Oser/Fatke/Hoffe 1986; Lind/Raschert 1987 und Edelstein u.a. 200 1.
248 Hansjörg Sutter

Spurensuche, die zum einen vom besonderen diagnostischen Potenzial von


Anfangsszenen ausgeht (vgl. HörsterIMüller 1996) und zum anderen unter-
stellt, dass gerade auch unspektakulär anmutende Alltagsszenen, in denen es
unter praktischen Gesichtspunkten um wenig zu gehen scheint, ihre so-
zialisatorische Wirkung entfalten und zugleich immer auch Ausdruck von
diesen sind.
Theorie- und forschungsstrategisch interessiert die Analyse entsprechen-
der Alltagsszenen vor dem Hintergrund empirischer Befunde, die sich im Be-
zugsrahmen der Kohlbergschen Entwicklungspsychologie und der hieran an-
schließenden US-amerikanischen "Just Community"-Forschung nicht erklä-
ren lassen. Ich benenne zunächst drei problematische Argumentationszu-
sammenhänge der US-amerikanischen ,,Just-Community"-Forschung sensu
Kohlberg, die eine Rekonzeptualisierung des sozialisations theoretischen Ge-
genstandes erziehungswissenschaftlicher Moralforschung als Desiderat aus-
weisen (Kapitel 1.1), verweise dann auf zwei Lesarten bzw. empirische Rea-
lisierungsmöglichkeiten des ,,Just-Community"-Ansatzes (Kapitel 1.2), um
schließlich Gegenstand und Analyseebenen struktural-hermeneutischer Inter-
aktionsanalysen zur Entwicklungs- und Bildungsbedeutsamkeit pädagogi-
scher Settings zu bestimmen (Kapitel 1.3). Ausführungen zur sozialisations-
theoretischen Erklärungsproblematik, die gegenüber der US-amerikanischen
"Just Community"-Forschung einen entsprechenden Perspektivenwechsel hin
zu einem soziologisch-strukturtheoretischen Erklärungsansatz motivieren
(Kapitel 1.4), leiten dann zur exemplarischen Analyse einer kurzen Alltags-
szene über (Kapitel 2).

1.1 Desiderate der US-amerikanischen "lust Community"-


Forschung

In sozialisationstheoretischer und erziehungswissenschaftlicher Perspektive


sind m.E. drei Argumentationszusammenhänge innerhalb der Kohlbergschen
Theorie problematisch:
Sozialisationstheoretisch ist erstens die unzureichende Konzeptualisie-
rung der sozialen Bedingungen der Moralentwicklung zu kritisieren?, insbe-
sondere die uneinheitliche und letztlich im Bezugsrahmen der kognitiven
Entwicklungspsychologie verbleibende Konzeptualisierung der "moralischen
Atmosphäre" (bzw. in späteren Schriften: der "moralischen Kultur"). Mit
dem Konzept der "moralischen Atmosphäre" beanspruchen Kohlberg und
MitarbeiterInnen, interindividuelle Entwicklungsverläufe unter Bezugnahme
auf Variationen relevanter Erfahrungen im sozialen System erklären zu kön-
nen. Dieses Konzept steht entsprechend auch im Mittelpunkt der theoreti-

7 Kohlberg (1995) charakterisiert diese allgemein als "Möglichkeiten zur Rollenübemahme"


(S. I64ff.).
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen 249

schen Begründung von Kohlbergs Erziehungsprogrammatik des ,,lust Co m-


munity"-Ansatzes und der empirischen Validierung entsprechender Modell-
versuche in Schulen und Strafvollzugsanstalten. Eine Analyse der in der
Kohlbergschule entwickelten Erhebungs- und Auswertungsverfahren zur Re-
konstruktion einer gruppen- oder institutionenspezifischen "moralischen At-
mosphäre" zeigt jedoch, dass die korrespondierende Forschungsstrategie
letztlich dem kognitionszentrierten Paradigma verhaftet bleibt. K Im Zusam-
menspiel mit Kohlbergs moralphilosophischen Grundüberzeugungen moti-
viert dies einen "logizistischen Bias" der pädagogischen Programmatik des
,,lust Community"-Ansatzes - ein ,,Bias", der mit Bezugnahme auf unsere
Beobachtungen und Analysen zur sozialisatorischen Relevanz konkreter De-
battenverläufe im Kontext des Strafvollzugs nicht zwingend ist (s. Kapitel 1.2
und 1.4).
In erziehungs wissenschaftlicher Perspektive erscheint zweitens die Ten-
denz in den moralpädagogischen Ansätzen der Kohlbergschule problema-
tisch, eine Diskussionskultur als primär entwicklungsstimulierend auszuwei-
sen, die sich durch den Austausch moralischer Argumente auszeichnet. Diese
Tendenz kam besonders in der so genannten "n+l"-Hypothese zum Aus-
druck, der zufolge die dosierte Konfrontation mit höherstufigen moralischen
Argumentationsfiguren entwicklungsstimulierend wirke. Die Fokussierung
(der Logik) moralischer Argumentationen als zentralem Movens der Moral-
entwicklung lässt sich aber auch späteren Erfahrungsberichten aus US-
amerikanischen Modellversuchen entnehmen (Power u.a. 1989; Higgins
1991; Kuhmerker u.a. 1996).9
In diesem Zusammenhang ist schließlich drittens auf die Schwierigkeiten
der Kohlbergschen Theorie hinzuweisen, die Rolle und Funktion der Pädago-
gInnen im ,,lust Community"-Ansatz zu beschreiben. Die Kohlbergschen
Ausführungen zur Rolle der PädagogInnen beschränken sich auf eher norma-
tive Orientierungen und Haltungen, in dem Sinne, dass Indoktrinationen zu
meiden und moralisch relevante Sachverhalte in einer verständigungsorien-
tierten Einstellung zu thematisieren seien. Des Weiteren verweist er auf die
notwendige Schaffung partizipatorischer Demokratie in pädagogischen Zu-
sammenhängen, die - so Kohlberg (1986, S. 27) - philosophisch gesehen
verhindern, dass Parteinahmen der PädagogInnen zur Indoktrination wer-
den. 1O So richtig dies im philosophischen Sinn sein mag, so unbefriedigend ist

8 Zu Bedeutung und Entwicklungsgeschichte des Konzepts .,moralischer Atmosphäre" vgl.


Kohiberg 1970; Kohiberg/Scharf/Hickey 1972; PowerlReimer 1978/dt. 1999; Kohiberg
1986; Power/HigginslKohlberg 1989 und Higgins 1991. Zu Konzeptualisierung, Datener-
hebung und -auswertung: PowerlReimer 1978/dt. 1999, S. 301ff.; Kohlberg 1986, S. 32ff.;
Power 1986, S. 304ff. und Power u.a. 1989, Kap. 4, 5 und 8.
9 Auf problematische Implikationen einer entsprechenden Unterrichtspraxis bzw. schulischen
Praxis hat Edelstein (1986) hingewiesen.
10 Zur Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung des Ansatzes siehe die Arbeiten von Fritz
Oser 1998, 2001.
250 Hansjörg Sutter

dies in der Perspektive sozialwissenschaftlicher Analysen zur sozialisato-


rischen Funktion pädagogisch verantworteter Erfahrungskontexte und erst
recht in erziehungs wissenschaftlicher und professionalisierungstheoretischer
Perspektive.

1.2 Moralpädagogische Varianten des "lust Community"-Ansatzes

In der Perspektive einer soziologisch-strukturtheoretischen Forschung und


Kritik an Kohlbergs kognitionszentrierter Entwicklungstheorie lassen sich
idealtypisch zwei Varianten (im Sinne von ,,Lesarten" als "empirische Reali-
sierungsmöglichkeiten") des Kohlbergsehen ,,Just Community"-Ansatzes un-
terscheiden. Insofern pädagogische Programmatiken als kognitive Konstrukte
ihrerseits einen Möglichkeitsspielraum praktischer Handlungsvollzüge (in
diesem Fall von PädagogInnen) konstituieren, motivieren diese Lesarten in
erziehungswissenschaftlicher Hinsicht die Konstruktion von pädagogischen
Reflexionsprozessen, Weiterbildungs maßnahmen und natürlich auch erzie-
hungswissenschaftlichen Begleituntersuchungen zu Modellversuchen der
Moral- und Demokratieerziehung.
Die Abbildung illustriert den Zusammenhang der hierbei zu unterschei-
denden ,,Re-IKonstruktionen": Zentrale entwicklungspsychologisch und so-
zialisationstheoretisch motivierte Grundannahmen beeinflussen (implizit oder
explizit) intendierte (bzw. theoretisch konstruierbare) Strategien pädagogi-
schen HandeIns. Diese wiederum stehen in einem Wechselwirkungszusam-
menhang mit den Foki pädagogischer Reflexion und erziehungswissenschaft-
licher Rekonstruktion der tatsächlich vorfindbaren Praxis- und Kooperations-
formen. Deren soziale Strukturierung wiederum emergiert im Prozess der in-
terindividuellen Koordination des HandeIns und ist nur retrospektiv er-
schließbar (vgl. Sutter 2002).
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen 251

Moralpädagogische Varianten des Kohlbergsehen ,Just-Community"-


Ansatzes
Moralische Reflexion sozialer Prozesse Aushandlungsprozesse als entscheidendes
als entscheidendes Moment Moment entwicklungsstimulierender
entwicklungsstimulierender Interaktion Interaktion

(Moralische Argumentation (Soziale Partizipation und Kooperation


als Movens der Entwicklung) in unterschiedlichen Erfahrungsbereichen
als Movens der Entwicklung)

Strategie pädagogischen Handeins: Strategie pädagogischen Handeins:


Teilnehmende moralische Argumentation Sachangemessene Kooperation;
Wahrung der moralischen Autonomie
von Lebenspraxis

Fokus: Fokus:
Moralische Qualität sozialer Interaktion Soziale Dynamik der Aushandlungsprozedu-
ren demokratischer Selbstbestimmung
und Interessensvertretung

Gerechtigkeitsorientierung Verfahrensorientierung
("Just Community") ("Demokratische Gemeinschaft")

13 ErziehungswissenschaJtliche Fallrekonstruktionen im Schnittfeld


von Entwicklungspsychologie und Sozialisationstheorie

In Bezug auf die empirische Rekonstruktion einer vorfindbaren (pädagogi-


schen) Praxis folgt hieraus, dass unterschiedliche Ausschnitte sozialer Reali-
tät ("Situationen") von Interesse sein können und deren hermeneutische Re-
konstruktion wiederum verschiedener methodischer Verfahren bedarf Die in
diesem Beitrag vorgestellte Analyse illustriert vor diesem Hintergrund zwei-
erlei: Das weithin unstrittige Postulat des diagnostischen Potenzials von An-
fangs szenen ist auch und gerade in Analysen zur moralischen Sozialisation
(in institutionellen Kontexten) von besonderem Interesse_ Die sozialisatori-
sehe Relevanz entsprechender Anfangssituationen ist dabei nicht nur in der
(ko-operativ zu bewältigenden) Problemlösungsstruktur einer Handlungser-
öffnung zu sehen, die es von den Akteuren in unterschiedlichen Hinsichten
kognitiv zu bewältigen gilt und in Begriffen der Perspektivendifferenzierung
und -koordination beschreibbar ist. In den Anfangssituationen objektivieren
sich, vermittelt über die Sprechhandlungen der beteiligten Akteure, immer
auch jene Eigenheiten der sozial mehr oder weniger eingespielten Praxis, die
in ihrer lebens weltlichen, institutionen- und/oder gruppenspezifischen Typik
Ausdruck einer spezifischen Weise des Miteinander-Kooperierens ist. Glei-
ches gilt auch für andere, in ihren Verlaufsformen deutlich komplexere Sze-
252 Hansjörg Sutter

nen. Akteure müssen immer beides zugleich bewältigen: die im Sinne allge-
mein geltender Regel-, Normen- und Wissenssysteme abstrahierbaren Hand-
lungserfordernisse der Situation ebenso wie jene Herausforderungen, die aus
den spezifischen Bedingungen einer sozial eingespielten, ggf. institutionell
vermittelten Kooperationspraxis resultieren. 11
Begreifen wir (im Sinne der Mead-/Oevermann-Tradition) die sprachlich
vermittelte Sinnstrukturiertheit sozialer Abläufe als materialen Gegenstand
der aktiven Konstruktionstätigkeit des sich bildenden Subjekts (vgl. Sutter
1997), so eröffnet die sequenzanalytische Rekonstruktion sozialer Abläufe
verschiedene Forschungsperspektiven (und deren systematische Verknüp-
fung). Bei der struktural-hermeneutischen Analyse sozialisatorisch relevanter
Situationen sind dabei minimal vier Analyseebenen zu unterscheiden (vgl.
Sutter 2002): 1. die soziale Strukturierung und Konstituierung des Erfah-
rungsangebotes l 2, die ihrerseits auf Kontexte und Ökologien der Sozialisati-
on l3 verweisen; 2. die individuelle Handlungsstrukturierung ausgewählter
Akteure auf der Folie von deren sozial vermittelten Partizipationschancen; 3.
deren (retrospektiverhebbare) individuelle Erfahrungsverarbeitung und ko-
gnitive Strukturierung des Handlungsfeldes; und schließlich 4. die hand-
lungspraktisch realisierbaren, situativ jedoch nicht zwingend handlungslei-
tenden kognitiven Strukturen sozio-moralischen Verstehens und Urteilens auf
Seiten der beteiligten Akteure. 14 Die entwicklungspsychologischen wie die

II Vgl. hierzu auch Schütze (1987), insbesondere den Abschnitt "Die aktuelle Interaktionssi-
tuation als Ort der Herstellung von sozialer Ordnung, der Einsozialisation der Gesell-
schaftsmitglieder in sie und der Herstellung von kontextuellem, situationsbezogenen Sinn".
12 Die potenziell entwicklungsbedeutsame Sinnstrukturiertheit eines sozialen Ablaufs wird
methodologisch in Begriffen "latenter Sinn strukturen" (Oevermann) rekonstruiert. Die Be-
griffswahl "latent" rekurriert dabei auf den Umstand, dass der - nach Maßgabe sprach-
theoretisch rekonstruierbarer Regeln nachweisbaren - "objektiven" Sinnstrukturiertheit so-
zialer Abläufe auf Seiten der beteiligten Akteure nicht auch zwingend entsprechende men-
tale Repräsentationen korrespondieren müssen.
Die Sinnstrukturiertheit praktischer Handlungsabläufe lässt sich konstitutionstheoretisch
weder auf das sich bildende Subjekt zurückführen noch auf entsprechende Handlungsinten-
tionen konkret beteiligter sozialisierter Bezugspersonen. Sie emergiert in der von Mead
(1973) beschriebenen triadischen Struktur des sozialen Aktes und wird konstituiert durch
bedeutungsgenerierende Regeln unterschiedlicher Geltungsreichweite. Dies begründet die
Redeweise von der sozialen Strukturierung und Konstituierung des Erfahrungsangebots.
13 Zu den hierbei zu berücksichtigenden Analyseebenen einer sozialökologischen Sozialisati-
onsforschung vgl. Grundmann u.a. 2000.
14 Methodologisch erfordern Analysen der sozialen Strukturierung des Eifahrungsangebots
sowie die der individuellen Handlungsstrukturierung sequenzanalytische Rekonstruktionen
,,natürlicher" Interaktionen (im jeweils interessierenden pädagogischen Setting). In der se-
quenzanalytischen Rekonstruktion sozialer Abläufe in Begriffen latenter Sinnstrukturen
werden erst jene Daten erzeugt, die entwicklungspsychologisch und sozialisationstheore-
tisch relevante Rückschlüsse auf situativ geltende Regel-, Norrnen- und Wissenssysteme,
deren handlungspraktische Realisierung sowie kognitiven Repräsentanz zulassen. Die her-
meneutische Rekonstruktion reflexiv verfügbarer kognitiver Strukturen setzt klinische In-
terviews in der PiagetlKohlberg-Tradition voraus und die Analyse der individuellen Eifah-
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen 253
soziologisch-sozialisationstheoretischen Erklärungsansätze innerhalb des Ge-
netischen Strukturalismus unterstellen dabei, wie Krappmann (2000, S. 129)
für die Sozialisationsforschung allgemein formuliert, dass das Ziel entspre-
chender Analysen nicht sein kann, eine lückenlose Kausalkette aufzudecken,
sondern allenfalls Entwicklungschancen und -risiken abzuschätzen. Ent-
wicklungspsychologisch ist dies in der aktiven Konstruktionstätigkeit des
sich bildenden Subjekts begründet und in dem Umstand, dass die soziale
Strukturierung des Erfahrungsangebots immer abhängig vom jeweils erreich-
baren Kompetenzniveau wahrgenommen und von diesem ausgehend zum
Anlass einer (Re-)Konstruktion kognitiver Bewusstseinsstrukturen wird. Als
weiterer Einflussfaktor, der die differenzielle Aneignung sozialisatorisch re-
levanter Erfahrung erklärt, sind schließlich Fragen der subjektiven wie bio-
graphischen Bedeutsamkeit entsprechender Erfahrungszusammenhänge zu
berücksichtigen. Entwicklungs- und Sozialisationsprozesse lassen sich in die-
ser Perspektive nur rekonstruktiv verstehen, wobei die theoretische Modell-
bildung auf die fallrekonstruktive Explikation allgemeiner, entwicklungs-
psychologisch wie sozialisationstheoretisch relevanter Strukturmerkmale so-
zialer Praxis- und Kooperationsformen zielt.

1.4 Das sozialisationstheoretische Erklärungsproblem

Als zentrales Problem einer sozialpädagogisch motivierten Demokratie- und


Moralerziehung erweist sich der für sozialpädagogisches Handeln typische
Konflikt zwischen förderlicher Hilfe und Unterstützung auf der einen und öf-
fentlichem Eingriff und Kontrolle auf der anderen Seite. Dieser schränkt auf-
grund der widerstreitenden Handlungslogiken 15 die Möglichkeiten zur akti-
ven, explorativen Teilhabe gerade delinquenter Jugendlicher im Alltag des
Strafvollzugs derart ein, dass entwicklungsstimulierende Aushandlungs-
prozesse eher verunmöglicht als gefördert werden. Und auch die berichteten
Peer-Beziehungen zeichnen sich im Strafvollzug häufig durch jenen unilate-
ralen Zwang aus, der nach Piaget (1932) und Youniss (1994) der Entwick-
lung einer autonomen moralischen Urteilsfähigkeit entgegensteht. So kann
auch für den von uns untersuchten Kontext der ,,Demokratischen Gemein-

rungsverarbeitung und kognitiven Strukturierung des Handlungsfeldes legt narrative Inter-


views zu den jeweils interessierenden Erfahrungsfeldern bzw. Lebensabschnitten und/oder
offene Interviews zu konkreten Problem- und Konfliktsituationen nahe.
15 Vgl. hierzu Oevermanns (1996) professionalisierungstheoretische Rekonstruktion sozialar-
beiterischen Handelns (referiert in: Sahle 1987, S. 34ff.). Nach Oevermann wird das ftir So-
zialarbeit konstitutive Dilemma durch die gleichzeitige Verpflichtung sozialarbeiterischen
Handelns auf zwei entgegengesetzte Sphären professionellen Handelns konstituiert: der
Sphäre normenbestandssetzenden RechtshandeIns und der Sphäre therapeutischen Han-
delns. Da sich diese in ihrer Handlungslogik wechselseitig ausschließen und sich in der so-
zialarbeiterischen Praxis somit wechselseitig beschränken, gilt die Sozialarbeit in ihrer vor-
findbaren Praxisform als nicht professionalisierbar.
254 Hansjörg Sutter

schaftsversammlung"16 gezeigt werden, dass diese für den Vollzugsalltag ty-


pischen Beziehungsverhältnisse sowie die komplementären Orientierungen
an den Regelsystemen der Vollzugsordnung sowie den informellen Normen
der Insassensubkultur mit der Einführung demokratischer Verfahrensprinzi-
pien nicht obsolet werden. Sie reproduzieren sich jedoch nicht mehr um-
standslos und werden - so die sozialisationstheoretische Annahme - eher
zum Gegenstand einer reflexiven Auseinandersetzung mit der Sozialwelt des
Vollzugs.
Dies ist nun aber nicht so vorzustellen, wie es die Programmatik des
,)ust Community"-Ansatzes nahe legt. Denn die mit dem ,)ust Community"-
Ansatz in der Kohlbergschule assoziierte Orientierung an moralischen Wert-
vorstellungen der Gerechtigkeit und Fairness kann die Versammlungspraxis
in ihrer Besonderheit, d.h. deren Verlaufsform, die zur Sprache kommenden
Themen sowie deren konkrete Bearbeitung, nicht charakterisieren. Hieraus
resultiert im Bezugsrahmen der Kohlbergschen Theorien folgendes Erklä-
rungsproblem: Obwohl moralische Argumentationen in einzelnen Redebei-
trägen nur selten und diskursive Klärungsprozesse strittiger Sachverhalte un-
ter Bezugnahme auf explizit moralische Gesichtspunkte kaum beobachtbar
waren, lassen sich bei zahlreichen Probanden kognitiv-strukturelle Entwick-
lungsprozesse der moralischen Urteilsfähigkeit l7 ausweisen (vgl. Brumlik/
Sutter 1996; Sutter i.V.). Diese lassen sich jedoch schwerlich auf die ,,Her-
ausbildung kollektiver Normen und Gruppenwerte" (vgl. Kohlberg 1986) be-
ziehen. Assoziiert man hierunter die in den "Demokratischen Gemeinschafts-
versammlungen" beschlossenen und teilweise mehrfach debattierten und ge-
änderten Regeln, so ist zu berücksichtigen, dass diese - obwohl demokratisch
legitimiert - in weiten Teilen deckungsgleich mit dem schon immer gelten-
den Regelkatalog des Hauses waren: ein Regelkatalog, dessen inhaltliche
Ausformulierung insbesondere der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung

16 Das Konzept der "Demokratischen Gemeinschaft" sieht vor, dass Insassen und Bedienstete
des jeweiligen Vollzugsbereichs Fragen des Alltagslebens bis hin zu Disziplinarfragen de-
mokratisch entscheiden. Die "Demokratische Gemeinschaftsversammlung" tagt hierzu wö-
chentlich und beschließt die Satzung sowie die Regeln des Zusammenlebens. Das Lei-
tungskomitee, in das zwei Insassen gewählt werden, bereitet die wöchentlichen Versamm-
lungen vor und leitet diese. Zwei Insassen und ein Bediensteter werden in das Faimessko-
mitee gewählt. Dessen Aufgabe,ist es, in Streitfällen und sonstigen Konflikten zu vermit-
teln. Laut Satzung soll hierbei eine konsensfähige Lösung gefunden werden, der auch die
beteiligten Konfliktparteien zustimmen können. Das Verhältnis zwischen ,,Demokratischer
Gemeinschaft" und Anstaltsleitung ist schließlich so geregelt, dass dem juristisch unab-
dingbaren "Vetorecht" des Anstaltsleiters ein ,,Anhörungsrecht" auf Seiten der Demokrati-
schen Gemeinschaft korrespondiert. Dies gewährleistet, dass im Falle eines Vetos, die in
der Regel juristischen Gründe öffentlich in der Versammlung diskutiert und mögliche
Kompromisse ausgehandelt werden können.
17 Kognitiv-strukturelle Entwicklungsprozesse wurden im pre-post-test-Vergleich mittels kli-
nischer Interviews zu moralischen Konfliktsituationen (vgl. Colby/Kohlberg 1987) erho-
ben.
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen 255
im Vollzug funktional ist und - demokratisch legitimiert - zahlreiche Ei-
gentümlichkeiten über alle von uns beobachteten Phasen hinweg beibehielt.
Die restriktiven Bedingungen der Vollzugspraxis lassen eine sozialisa-
tionstheoretische Erklärung der sozio-moralischen Lern- und Entwicklungs-
prozesse, die auf die intendierte moralische Selbstbindung an gemeinschaft-
lich beschlossene Regelungen verweist, als wenig plausibel erscheinen. Ein
entsprechender Erklärungsansatz wird fragwürdig, wenn die Regelungen sich
allein oder vorrangig aus den Funktionserfordernissen des Strafvollzugs oder
aus Erziehungsvorstellungen der Verantwortlichen heraus erklären lassen und
dabei nicht mit lebensweltlichen Hintergrundannahmen der jugendlichen In-
sassen konvergieren. IR
Interessant ist nun, dass die Jugendlichen selbst im Kontext ,,Demokrati-
scher Gemeinschaftsversammlungen" diese Regelsysteme kaum infrage steI-
len, deren Aushandlung mit Verweis auf die geltende Satzung und die von
Anstaltsleitung wie Hauskonferenz l9 explizit gewünschte Demokratie nicht
konsequent einfordern und ihre Interessen und Weltsichten nicht selbstbe-
wusst und/oder provokativ artikulieren. Dies geht so weit, dass die Infrage-
stellung des Regelsystems und der vorgesehenen Sanktionsmechanismen ge-
legentlich auch dann als unpopulär gelten, wenn plausible Gründe der Infra-
gestellung angeführt werden können. 2o Ein möglicher Grund könnte darin be-
stehen, dass die hieraus resultierenden ergebnisoffenen Aushandlungsprozes-
se nicht nur die vollzugliehe Ordnung, sondern auch die subkultureIl gelten-
den Orientierungssysteme und die in dieser Perspektive vorhandenen ,,Frei-
heitsspielräume" innerhalb des Vollzugssystems infrage stellen (würden).
Sobald Regelformulierungen und Regelübertretungen zum Gegenstand
(vollzugs-)öffentlicher Debatten werden, in denen jeder gehalten ist, sich mit
Gründen zu positionieren, wird auch die kollektive Geltung der handlungs-
leitenden Orientierungssysteme potenziell infrage gestellt. Dies erklärt die

18 VoJlzugliche Regelungen zu akzeptieren, deren nonnative Geltung nicht infrage zu steJlen,


ist dabei weniger eine Frage der moralischen Selbstverpflichtung, sondern der praktischen
Klugheit gegenüber der vorfindbaren sozialen Ordnung: eine praktische Klugheit, deren
Ausdrucksfonnen im Strafvollzug schneIJ als strategisches Handeln diskreditiert werden
oder zu Selbstwiderspruchen führen, weil latente Konfliktkonstellationen faktisch un-
bearbeitet bleiben oder im Sinne der leitenden Ordnungsvorstellungen uminterpretiert wer-
den.
19 Die Hauskonferenz ist bei Fragen der Ausgestaltung und Einhaltung von Erziehungsplänen
Ansprechpartner der Insassen. Sie wird von dem für das Haus zuständigen Sozialpädagogen
geleitet. Entscheidungen werden in Kooperation mit ebenfalls regelmäßig vor Ort tätigen
VolJzugsbediensteten entwickelt bzw. vorbereitet.
20 Letzteres war Anlass für die sequenzanalytische Rekonstruktion des Versammlungsver-
laufs, deren Anfangsszene im zweiten Kapitel des Beitrags dokumentiert ist. Die sozialisa-
tionstheoretische Untersuchungsstrategie orientiert sich nicht an den in pädagogisch-
programmatischer Perspektive "schönen" Stellen diskursiver Problemlösungen, sondern an
"krisenhaften" Versammlungsverläufen, die auch in Kontexten einer supervidierten päd-
agogischen Praxis sinnvollerweise Thema würden. Zu "krisenhaften" Sitzungen während
des Beobachtungszeitraums und deren Entwicklungsrelevanz vgl. Sutter u.a. 1998, S. 393ff.
256 Hansjörg Sutter
sozialisatorische (nicht zwingend entwicklungsförderliche) Relevanz ent-
sprechender Aushandlungsprozesse ebenso wie deren Vermeidung. Denn die
Verbalisierung vollzug lieh wie subkulturell geltender Orientierungssysteme
und damit immer auch: der im Vollzug voifindliehen "Freiheitsspielräume"
eröffnet stets auch Möglichkeiten zur Effektivierung von Strategien sozialer
Kontrolle. 21 Ein sozialisationstheoretisch angemessenes Strukturmodell der
Aushandlungsprozesse im sozialen Rahmen eines demokratisierten Jugend-
strafvollzugs hat daher beides zu erklären: die strukturellen Möglichkeiten
der Reproduktion wie der Transformation herkömmlicher Vollzugsverhält-
nisse in Kontexten ,,Demokratischer Gemeinschaften".
Diese Erklärungsleistung kann von exemplarisch ausgewählten Alltags-
szenen und deren struktural-hermeneutische Rekonstruktion nicht erwartet
werden. Der Stellenwert der im Folgenden dokumentierten Analyse ist darin
zu sehen, dass sie eine für das interessierende pädagogische Setting typische,
d.h. handlungspraktisch immer wieder zu bewältigende soziale Situation re-
konstruktiv erschließt und dabei die praktisch realisierten Koordinierungs-
leistungen der Akteure (auf der Folie des situativ Möglichen wie sozial Er-
forderlichen) ausweist.
Die soziale Strukturierung und Konstituierung des Erfahrungsangebots
emergieren im Prozess der sozialen Interaktion. Sie sind immer auch Aus-
druck ko-operativer Bewältigung im Sinne der Ko-Konstruktion sozialer
Wirklichkeit durch die beteiligten Akteure. 22 Erkenntnistheoretisch sind sie
jedoch - hier folge ich Oevermanns Methodologie einer objektiven Herme-
neutik - als "objektive Struktur" zu fassen, die konstitutions theoretisch auf
allgemein geltende Regeln der Bedeutungsgenerierung und nicht auf mentale
Repräsentationen der beteiligten Akteure rückzuführen ist. Die methodisch
kontrollierte Explikation von Bedeutungsmöglichkeiten einer Handlung oder
Handlungsfolge ("extensive Sinnauslegung ") eröffnet somit Rückschlüsse
auf jene Regel-, Normen- und Wissenssysteme, die einer Praxis konstituti-
onstheoretisch zuschreibbar sind, die sequenzanalytische Rekonstruktion so-

21 In manchen Fällen eröffnet es bzw. würde es auch Möglichkeiten der Unterwanderung ein-
gespielter Strategien sozialer Kontrolle eröffnen. Würden beispielsweise vollzugliche An-
ordnungen, deren Geltungsgründe bzw. konkrete Durchsetzung für "Außenstehende" (wis-
senschaftliche BeobachterInnen wie neu eingewiesene Insassen) zunächst fraglich bleiben,
immer in der Einstellung verständigungsorientierter Rede kommuniziert, könnte das ent-
sprechende Wissen auch zu einer Effektivierung der Bemühungen genutzt werden, bei Re-
gelübertretungen nicht erwischt zu werden. Auch das ist ein mögliches Motiv für die - vor
allem vor Einführung des Modellversuchs beobachtbare - Vermeidung diskursiver Aus-
handlungsprozesse bei Fragen der Durchsetzung vollzuglicher Ordnungsvorstellungen.
22 Zum Verhältnis von sozialer Strukturierung des Erfahrungsangebots, individueller Hand-
lungsstrukturierung und kognitiven Kompetenzen aus der Perspektive der Piagetschen Ent-
wicklungspsychologie vgl. Edelstein 1993, 1999; Seiler 1991,1994; Hoppe-Graff 1993 und
zur sozialkognitiven und soziomoralischen Entwicklung ferner: Nunner-Winkler 1996,
1999; GrundmannlKeller 1999; zur komplementären sozialisationstheoretischen Rekon-
struktion von Sozialwelten exemplarisch Krappmann 1991, 2001.
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen 257
zialer Abläufe objektiviert deren - für das Interaktionssystem der beteiligten
Akteure - fallspezifische Inanspruchnahme (s. Kapitel 2). Die struktural-her-
meneutische Rekonstruktion der situativ vermittelten, objektiven (nicht zwin-
gend subjektiv-intentional realisierten) Handlungserfordernisse sowie der tat-
sächlich realisierten Koordinierungsleistungen der Akteure eröffnet schließ-
lich methodologisch die Möglichkeit, in entwicklungs- und sozialisations-
theoretischer Perspektive Lernchancen und Entwicklungsmöglichkeiten zu
abstrahieren, die das soziale Setting unter den gegebenen sozialen Bedingun-
gen eröffnet (s. Kapitel 3).23

2. Mikrologie einer Alltagsszene

1 Patrick 1: Sind alle da? Dann fangen wir an. «3 sek.» 24

Mit dieser Äußerung setzt eine auf den ersten Blick unscheinbare Alltagssze-
ne ein. 15 Personen sitzen an einer Art Konferenztisch. Es handelt sich mehr-
heitlich um männliche, junge Erwachsene im Alter von etwa 17-25 Jahren.
Vier der Anwesenden sind deutlich älter. Der Sprecher, ich nenne ihn im
Folgenden Patrick, ist einer der jungen Männer. Er sitzt am oberen Ende des
Konferenztisches und obwohl die Äußerung für alle Anwesenden vernehm-
bar ist, lässt sich nicht zweifelsfrei klären, ob sich der Sprecher mit der Frage
an eine konkrete Person oder aber an alle Anwesenden wendet.
Betrachten wir die Äußerung in einer sprachsoziologischen Perspektive 25,
so fallt auf, wie voraussetzungsreich die Frage "Sind alle da? Dann fangen

23 Sozialisationstheoretisch betrachtet objektivieren sich in der sprachlich vermittelten Struk-


turierung sozialer Interaktionen die gesellschaftlich spezifischen Fonnen der Naturbear-
beitung und der sozialen Kooperation ebenso wie die subkulturellen Ausfonnungen intelli-
genten Verhaltens und moralischen Handelns (vgl. Oevennann 1976; ferner ders. 1973,
2001).
24 Transkriptionsregeln:
.. / ... sehr kurze Pause, d.h. merkliche Unterbrechung des Sprechflusses /
deutliche Pause
« 5 Sek. » Pause mit Zeitangabe
(denn) als vennuteter Wortlaut: ,denn'
//denn//dann// Textvarianten, deren mögliche Geltung nicht eindeutig entschieden wer-
den kann (ggf. auch mehrere Worte)
denn als Kursivdruck: nachdruckliche Betonung (hier: des Wortes: ,denn')
und gesperrt: gedehnte Sprechweise
& auffallend schneller Anschluss
«(lachend») Charakterisierung bzw. Betonung der Sprechweise
«(trinkt») nichtsprachliche Handlungen
denn/nein ich Selbst-/Fremdunterbrechung
P: als dann
I: wie war Überlappung von Redebeiträgen zweier Sprecher
258 Hansjörg Sutter

wir an" ist. Weil es nicht eigens thematisiert wird, wird unterstellt, der oder
die Angesprochenen wüssten schon, um was für eine Praxis es sich im Fol-
genden handelt, was das gemeinschaftliche Anliegen der Anwesenden ist und
dass es - so die Äußerung - zunächst keiner weiteren Erklärung bedarf, sich
dieser Praxis im Folgenden zuzuwenden. Unterstellt wird ferner, dass die er-
fragte Vollzähligkeit für das Folgende notwendig und sinnvoll ist.
In der konkreten Situation könnte sich die Äußerung "Sind alle da?
Dann fangen wir an." auf eine anstehende Besprechung der Anwesenden
oder eine Art Mitgliederversammlung beziehen. Beides wiese auf eine formal
strukturierte Handlungspraxis mit verteilten Rollen, die im Folgenden auszu-
handeln wären oder aber im Sinne einer eingespielten Praxis als geltend und
handlungsleitend unterstellt werden - zumindest bis zum Erweis des Gegen-
teils.
Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Versammlung, eine "De-
mokratische Gemeinschaftsversammlung" , wie es in der Satzung heißt, die
Monate vor der interpretierten Szene diskutiert und mit einer Zweidrittel-
mehrheit beschlossen wurde. In der Satzung ist festgelegt, zu welchem
Zwecke sich die Akteure wöchentlich treffen und welche Ver-
fahrensprozeduren hierbei zu berücksichtigen sind. Was darunter im Einzel-
nen formal zu verstehen ist, interessiert im Folgenden nicht. Es genügt zu
wissen, dass es diese Satzung gibt und dass in ihr demokratische Verfahrens-
prinzipien zur Klärung von Alltagsfragen und Konflikten unterschiedlichster
Art festgeschrieben sind.
Laut Satzung gibt es neben den wöchentlichen Versammlungen zwei
Komitees: das Leitungskomitee, dessen Aufgabe es unter anderem ist, die
wöchentlichen Versammlungen vorzubereiten und zu leiten, und das Fair-
nesskomitee, dessen Aufgabe es ist, Konflikte im Alltag zu schlichten. Die
Analyse abkürzend führe ich als weitere Information ein, dass Patrick einer
der gewählten Vertreter des Leitungskomitees ist. Aber schauen wir nicht in
die Satzung, sondern betrachten wir die Alltagsszene: Was passiert da? Wel-
che Aushandlungsprozesse lassen sich schon zu Beginn der Versammlung
ausweisen? Wie definieren die Akteure in ihren Redebeiträgen die konkrete
Situation und den jeweils anderen? Was charakterisiert in dieser Szene den
Alltag - den Alltag einer ,,Demokratischen Gemeinschaft", dieser Gemein-
schaft?
Als ausschlaggebendes Kriterium für den Beginn der Versammlung er-
weist sich Patricks Eingangsfrage zufolge die Anwesenheit aller und nicht ei-
ne möglicherweise vereinbarte Uhrzeit. Die Frage lässt an dieser Stelle noch
offen, ob eine formale Eröffnung der Versammlung unmittelbar anschließen
wird oder ob diese Eröffnung mit Patricks Nachsatz "dann fangen wir an ((3
sek.))" bereits vollzogen wird. Der Nachsatz unterstellt, dass der Sprecher

25 Vgl. Oevennann 2000b; zu den moral theoretisch besonders interessierenden Aspekten vgl.
Sutter 2002.
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen 259
zur Eröffnung der angekündigten Praxis legitimiert ist, sobald die gestellte
Frage ("Sind alle da?") entsprechend beantwortet ist. Denn der Hinweis,
dass man dann anfange, wird nicht als Vorschlag formuliert, sondern als
Feststellung. Patrick sagt nicht im Sinne eines Vorschlags: "Wenn alle da
sind, dann könnten wir doch anfangen", sondern: "Sind alle da? Dann fan-
gen wir an ", um dann kurz innezuhalten, um eine Gelegenheit zur Beant-
wortung der Frage einzuräumen.
2 ((Gemurmel; Einzelgespräche werden beendet)))
3 Lentz 1 (((Herr Lentz spricht noch mit einer Mitarbeiterin des Forschungspro-
jekts)))
4 Amend 1: Alles da, ja.
5 Flaig 1: Fang an.
Zum Zeitpunkt der Äußerung 1 Patrick 1 führen die meisten der Anwesenden
angeregte Gespräche mit ihren Tischnachbarn. Diese werden im zeitlichen
Zusammenhang mit Patricks Frage beendet; nur eine der älteren Personen,
hier Herr Lentz genannt, spricht noch deutlich vernehmbar mit seiner Tisch-
nachbarin. Wir haben damit einen ersten Hinweis dafür, dass die rekonstru-
ierten Präsuppositionen, die stillschweigenden Voraussetzungen der Äuße-
rung Patricks im Sinne eines kollektiv geteilten Wissens akzeptiert, zumin-
dest öffentlich nicht infrage gestellt werden.
Nach einer kurzen, etwa drei Sekunden dauernden Pause antwortet Herr
Amend auf die gestellte Frage: "Alles da, ja. " und HeiT Flaig fügt an: "Fang
an. " Was bringen diese Äußerungen für einen unbeteiligten Hörer zum Aus-
druck? Wie lassen sie sich in sprachsoziologischer Perspektive deuten, in ei-
ner Perspektive also, die nicht danach fragt, was ein Sprecher wohl sagen
wollte und mit seiner Rede meinte, sondern stattdessen zu rekonstruieren
sucht, was die Äußerung bedeuten könnte, wenn man sie ausschließlich unter
Bezugnahme auf unser sprachliches Regelwissen analysiert?
"Alles da, ja. " - der Ältere, Herr Amend, beantwortet die Eingangsfrage
des Jüngeren. Seine Äußerung unterstellt damit bis zum Erweis des Gegen-
teils, dass Patricks Frage zum jetzigen Zeitpunkt sinnvollerweise zu klären ist
und dass der Jüngere aus welchen Gründen auch immer dazu legitimiert ist,
den Beginn einer gemeinsamen Besprechung oder Versammlung zu markie-
ren und sich so zugleich als Gesprächsleiter, Versammlungsführer oder Gast-
geber zu präsentieren.
Amend lässt den Äußerungen von Patrick offensichtlich eine erhöhte
Aufmerksamkeit zukommen. Am anderen Tischende sitzend, reagiert er un-
mittelbar auf diese, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch Einzelgespräche lau-
fen, auf die er sich ebenso hätte beziehen können bzw. in die er selbst noch
involviert war als Zuhörer oder Gesprächsteilnehmer.
Auffallend ist auch die deutlich vernehmbare Wendung "alles da". Blieb
bei Patricks Frage aus grammatikalischen Gründen offen, ob es sich bei dem
Gemeinten um Sachgegenstände oder aber Personen handelt, ist nun dem
260 Hansjörg Sutter
Wortlaut zufolge von Gegenständen die Rede, deren Verfügbarkeit bestätigt
wird: "Alles da, ja. "Es handelt sich - wie der weitere Verlauf zeigt - um ei-
nen Versprecher, demzufolge es sich bei der fraglichen Anwesenheit von
Personen sinngemäß um die Anwesenheit von etwas gegenständlich Ver-
fügbaren handele.
Bemerkenswert ist auch Flaigs Aufforderung: "Fang an. " Die Aufforde-
rung teilt mit den vorangegangen, dass es zum jetzigen Zeitpunkt angemes-
sen sei, mit der Versammlung zu beginnen. Sie unterstellt ferner, und das
unterscheidet sie von der Äußerung Amends, dass der Sprecher, Herr Flaig,
nicht nur legitimiert ist, den Beginn der gemeinsamen Praxis festzusetzen,
sondern auch, seinen Vorredner Patrick hierzu anzuweisen. Da er nicht ge-
wählter Vertreter des Leitungskomitees ist, könnten wir ihn, dem Anspruch
seiner Rede folgend, als eine Art informellen ,,Führer" ansehen, wobei offen
bleibt, ob sich diese informelle ,,Führerschaft" mit der Generationendifferenz
oder aber mit den beruflichen Funktionen des Akteurs motivieren lässt.
Wie könnte es nun weitergehen? Ich nenne vier vorstellbare Handlungs-
verläufe: (1) Nach einer kurzen, durch die interpretierten, deutlich vernehm-
baren Äußerungen motivierte Unterbrechung der Tischgespräche, werden
diese wieder aufgenommen, aus welchen Gründen auch immer. (2) Eine wei-
tere Person meldet sich zu Wort und korrigiert bzw. widerspricht den Vorred-
nern. (3) Möglich ist auch, dass die mit der ersten Äußerung Patricks bereits
vollzogene Eröffnung einer neuen Handlungspraxis durch eine formelle Re-
dewendung bekräftigt wird (z.B. mit den Worten: ,,Hiermit ist die Sitzung er-
öffnet"). (4) Insofern Letzteres pragmatisch nicht erforderlich ist, kann mit
dem folgenden Interakt aber auch gleich zum ersten Gesprächspunkt überge-
leitet werden.
Das Letztere ist der Fall. Retrospektiv betrachtet wird mit den Worten
"Sind alle da? Dannjangen wir an" somit dreierlei realisiert: Ein komplexes
soziales Geschehen, eine Versammlung, deren Ablauf durch formale Regeln
und Verfahren bestimmt ist, wurde eröffnet. Die Äußerung sichert dem Spre-
cher angesichts der lebhaften Einzelgespräche nicht nur die notwendige
Aufmerksamkeit in einer vergleichsweise großen Runde von 15 Personen, sie
führt auch zur Klärung einer wesentlichen Bedingung der Versammlung,
nämlich der Frage, ob alle da seien. All dies verweist auf eine pragmatisch
gelungene Versammlungseröffnung. Die Äußerung kann somit als ein Indi-
kator für eine kompetente und zugleich habitualisierte, routinisiert verfügbare
Handlungspraxis angesehen werden, mit der der Sprecher sich in der kon-
kreten Situation als Versammmlungsleiter präsentiert und Aufmerksamkeit
und Handeln der Anwesenden auf das nun Folgende richtet.
Erwartbar ist nun die Einführung des ersten Tagesordnungspunktes. Der
Redepragmatik zufolge obliegt es Patrick, diesen einzuführen bzw. zu diesem
überzuleiten. In der dokumentierten Szene leistet dies die wiederum sehr
knappe und zudem abgebrochene Formulierung: "Da, komm..! [. .. }".
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen 261

6 Patrick 2: Da, komm ..!

Was kommt in dieser Formulierung zum Ausdruck? Im Anschluss an die


Verwendung des Adverbs "da" lassen sich an dieser Stelle zwei Lesarten im
Sinne von Bedeutungsmöglichkeiten der Äußerung" da komm" formulieren:
(1) die Verwendung im Sinne von "hier": ,,hier, komm", "hier, Du hast das
Wort, komm!"; oder (2) im Sinne von ,jetzt": ,jetzt, komm", ,jetzt, Du bist
dran, komm!".
Beiden Lesarten ist gemeinsam, dass der Sprecher sich als ,,Herr des
Verfahrens" präsentiert, der einem anderen etwas übergibt (Lesart 1) oder
diesem den Einsatz seines Auftritts anzeigt (Lesart 2). Die Äußerung thema-
tisiert den Vollzug eines Handeins: Die Übergabe der Gesprächsleitung bzw.
des Rederechts und nicht (auch) deren sachlichen Anlass, wie es die Pragma-
tik einer -Versammlungsführung oder Gesprächsleitung zunächst erwarten
ließe. 26
Verbunden wird dies mit der Aufforderung, zu kommen ("komm!"), ob-
wohl der Angesprochene bereits da ist und seinen Platz nicht wechseln muss,
um der Aufforderung zur Übernahme der Gesprächsleitung bzw. des Rede-
rechts Folge leisten zu können. Der Aufforderung kommt damit ein symboli-
scher Bedeutungsgehalt zu. Sie bezieht sich nicht auf Gegebenheiten der
"äußeren Realität", den räumlichen und sachlichen Erfordernissen einer Ver-
sammlung, sondern einer "inneren Realität" des Sprechers. Lesart (1) folgend
hieße "zu kommen" in einem übertragenen Sinne etwa, sich an den Platz oder
an die Seite Patricks zu begeben und diesen befristet oder unbefristet einzu-
nehmen. Im Sinne der Lesart (2) hieße "kommen" mit Bezugnahme auf Pe-
ters innere Realität, in der Gegenwart anzukommen und das Anstehende zu
tun.
Das wäre eingehender zu interpretieren. Festzuhalten ist, dass die Über-
gabe der Gesprächsleitung bzw. des Rederechts im Sinne beider Lesarten als
eine Art ,,Einweisung" inszeniert wird: als ,,herrschaftlicher" Akt (Lesart 1)
oder aber als ,,hinführender", "anleitender", "befähigender" oder "unterstüt-
zender" Akt in dem Sinne, dass in die Dramaturgie eines Ablaufes eingewie-
sen wird, eine ,,Dramaturgie" - so die Unterstellung -, um die der Sprecher,
aber noch nicht der Angesprochene weiß (Lesart 2).
Damit ist an dieser Stelle nicht, wie erwartbar, der erste Tagesordnungs-
punkt thematisiert, sondern die Frage eines der Situation angemessenen Ver-
haltens. Und vor dem Hintergrund, dass es in der konkreten Situation beider
Akte im Sinne der Patrick'schen Rede nicht bedarf, ist auch das Beziehungs-
verhältnis zwischen Patrick und dem von ihm angesprochenen Peter Thema.
Wenn es sachlich nicht angemessen oder notwendig ist im Patrick'schen Sin-
ne "zu kommen", um was geht es dann?

26 Letzteres würde beispielsweise mit den Worten erfolgen: .,Als erstes befassen wir uns heute
mit dem Thema xy. Peter Schmidt stellt uns zunächst den Sachverhalt dar. Bitte, Peter, Du
hast das Wort."
262 Hansjörg Sutter

Patrick fährt fort, sich selbst unterbrechend:


7 Patrick 3: Reiß dich zusammen und stell' (dein Ding) vor. «(schaut zu Peter)))

Der Wortlaut der zweiten Satzhälfte ist nicht zweifelsfrei feststellbar und
kann im Folgenden unberücksichtigt bleibenY Klar ist, dass Peter mit deut-
lichen Worten zur Ordnung gerufen wird: "Reiß Dich zusammen ... ". Eine
solche Zurechtweisung ist wenige Sekunden nach der formlosen Versamm-
lungseröffnung weder sachlich erforderlich noch legitimierbar. Auch die Vi-
deo aufzeichnung lässt kein kritisierbares Verhalten Peters erkennen, das ei-
ner sachorientierten Vorgehensweise im Rahmen der Versammlung entge-
genstünde. Wie reagiert Peter? Ich zitiere die nächsten Sekunden der Ver-
sammlung.
8 Peter 1: «(nickt))) Ah ja .. also erst mall

Nachdem Peter das Rederecht erteilt wurde, bringt das einleitende "ah ja"
Peters zum Ausdruck, dass er hiervon einerseits überrascht wird 28, anderer-
seits mit dem "ja" (und der folgenden Äußerung) das Ansinnen von Patrick
sogleich akzeptiert. Überraschend scheint für Peter somit in erster Linie der
Zeitpunkt der Erteilung des Rederechts zu sein.
Die folgende Interpretation versucht nun unter anderem zu erkunden,
welche Rückschlüsse sie auf die Handlungskoordination Peters angesichts
der Reaktionen anderer zulässt. Gelingt es Peter in ähnlich routinisierter Wei-
se, basale Grundstrukturen demokratischen Handeins zu realisieren, wie sei-
nem Vorredner Patrick mit dessen Eröffnung der Versammlung? Was hat
Peter in der konkreten Situation alles zu beachten, welche Probleme muss er
bewältigen? Gelingt auch ihm die Sicherung der Aufmerksamkeit auf das,
was er sagt?
Nach einer kurzen Planungspause leitet Peter mit den Worten "also erst
mall" eine Reihung ein. Was kann das bedeuten? Mit einem einleitenden
"also" wird allgemein etwas Vorausgegangenes zusammengefasst oder wei-
tergeführt. Bei Berücksichtigung der sequenziellen Einbettung dieser Äuße-
rung kann sich dies entweder auf den Vollzug der Versammlungseröffnung
beziehen oder aber auf die gedanklich vorweggenommene Thematik, zu der
Peter das Rederecht erteilt wurde.

27 Die nicht eindeutig transkribierbare Äußerung " ... stell (dein Ding) vor" bezieht sich (im-
plizit) auf den Anlass, der die Erteilung des Rederechts situativ begIiindet. Peter soll etwas,
das mit zwei, drei Worten näher bezeichnet wird, vorstellen. Die Äußerung unterstellt auf-
grund des kurzen Hinweises auf etwas Vorliegendes, dass Peter um die hieraus resultieren-
de AufgabensteIlung bzw. seine Rolle im weiteren Handlungsverlauf weiß. Die entspre-
chende, spontane Reaktion im folgenden Interakt legt dabei entweder nahe, dass es sich im
Folgenden um eine sozial eingespielte Praxis mit verteilten Rollen handelt oder aber dass es
eine entsprechende Absprache vor Beginn der Versammlung gab.
28 Vergleiche im Unterschied hierzu ein einleitendes "äh", das eine Planungspause indiziert.
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen 263
(a) Im erstgenannten Fall käme es zu einer pragmatisch nicht erforderli-
chen Doppelung des bereits Vollzogenen. Die (wiederholte) Versammlungs-
eröffnung würde zudem in eine Abfolge eingereiht ("also erst mal"), was
pragmatisch unangemessen erscheint. Denn mit einer Versammlungseröff-
nung wird ein Handlungsrahmen gestiftet, innerhalb dessen erst eine Abfolge
von Themen behandelt werden kann. Die explizite Situierung der Versamm-
lungseröffnung in einer Abfolge macht pragmatisch nur Sinn im Bezugs-
rahmen der Antizipation bzw. Planung einer Versammlung ("Als erstes er-
öffne ich die Sitzung, dann besprechen wir die Themen und dann beschließe
ich die Sitzung").
(b) Angenommen die Äußerung bezöge sich - so eine zweite Lesart - auf
die gedanklich vorweggenommene Thematik des nächsten Gesprächpunktes.
In diesem Fall bestünde die Schwierigkeit, dass mit Peters Äußerung nicht
gewährleistet ist, dass alle Anwesenden darum wissen, um was es im Fol-
genden genau geht.
Für beide Lesarten 29 gilt, dass die Äußerung an dieser Stelle eher Aus-
druck der eigenen Handlungsplanung ist als einer pragmatisch erwartbaren,
sachorientierten Überleitung in das erste Versammlungsthema. Letzteres wä-
re in sozialisationstheoretischer Perspektive als ein Indikator für eine kompe-
tente, routinisiert verfügbare Handlungspraxis interpretierbar. Ersteres kann
Ausdruck einer sozialisatorisch relevanten Lernsituation sein, in der entspre-
chende Handlungsschemata (mit den damit einhergehenden Unsicherheiten)
ko-konstruiert werden. Es kann aber auch der sozialen Situation oder kontin-
genten Bedingungen geschuldet sein, sofern es sich nicht als wiederkehren-
des Merkmal der Handlungspraxis erweisen sollte.
Mit den folgenden Äußerungen wird Peter sogleich unterbrochen:
9 Tobias 1: Herr Lentz, Ruhe.
10 Lentz 2: (Ah.)
11 Achim 1: (((Peter imitierend:») Ah ja. (((Lachen»)

Die Überleitung in das erste Versammlungsthema erweist sich in der sozialen


Situation als schwierig. In einem Zwischenruf wird wieder eine Person we-
gen eines vermeintlich abweichenden Verhaltens zur Ordnung gerufen. Be-
merkenswert ist, dass der betroffene Herr Lentz zumindest die sachliche Er-
fordernis akzeptiert, sich nun ruhig zu verhalten. Der zuschreibbare Status-
übergriff bzw. die Ironisierung30 von Tobias Äußerung bleibt in seiner Reak-

29 Vorstellbar wäre an dieser Sequenzposition allerdings, dass der Sprecher fortfährt: "also,
erst 'mal: Um was geht es heute eigentlich".
30 Angenommen, es liegt tatsächlich ein Siez-Verhältnis vor, dann lässt sich 7 Tobias 1 in sei-
ner Unmittelbarkeit als Statusübergriff interpretieren: Der Angesprochene wird als Erwach-
sener wie ein unfolgsamer Schüler zur Ordnung gerufen, weil er sich - so könnte gefolgert
werden - nicht zu benehmen weiß (Lesart a). Ein anschließendes "bitte" würde diese Kon-
notationen bereits abschwächen. Die pragmatisch erforderliche "Ruhe" könnte kontrastiv
zu der dokumentierten Äußerung beispielsweise aber auch mit folgender Äußerung herge-
stellt werden: "Herr Lentz, bitte, wir wollen anfangen." Eine solche Äußerung würde prä-
264 Hansjörg Sutter

tion unkommentiert. Bemerkenswert ist zweitens, dass Peters Unsicherheit,


die sich in seiner ersten Äußerung objektiviert, durch Achim unmittelbar mit
einem imitierenden "Ahja" und Lachen quittiert wird. 31
Ich komme zu einem ersten Fazit, das die bisherige Sequenz unter dem
Gesichtspunkt der Anerkennung und Bewährung der Akteure betrachtet.

2.1 Anerkennung und Bewährung im Versammlungskontext

Das Aushandeln und Bestätigen von Rangpositionen im Sinne impliziter Sta-


tuskämpfe erweisen sich als ein implizites Leitthema, das die Interaktions-
strukturierung in ihrer Besonderheit erklärt. Entsprechende Bedeutungs-
möglichkeiten lassen sich für die Äußerungen Flaigs, Patricks, Tobias und
Achim ausweisen. Dass es sich dabei um ein für die Akteure bzw. die Gruppe
bestimmendes Handlungsmotiv handeln kann, zeigt der Umstand, dass dies -
generationenübergreifend - für die ersten Äußerungen von vier der innerhalb
weniger Sekunden in Erscheinung getretenen sechs Personen gezeigt werden
kann. Als zweites Leitmotiv zeigt sich aber auch, dass die Beiträge der Ak-
teure sich an der Handlungslogik und den pragmatischen Erfordernissen von
Versammlungen orientieren. Das lässt sich - wiederum generationenüber-
greifend - für die Beiträge Patricks, Amends und Flaigs ebenso belegen wie
für Peters Äußerungen und all diejenigen, die in Reaktion auf Patricks Rede
ihre Einzelgespräche beendeten.
Die Mikroanalyse einer auf den ersten Blick so unscheinbaren Szene wie
die Eröffnung einer Versammlung veranschaulicht somit, wie sich Bewäh-
rungsproblematiken im eigenen Handeln und der Kampf um Anerkennung
innerhalb eines sozialen Systems auch in unscheinbaren Momenten der all-
täglichen Praxis einer ,,Demokratischen Gemeinschaft" reproduzieren. Das
diskreditiert nicht, hier möchte ich nicht missverstanden werden, die demo-
kratische Praxis der Akteure oder gar die Handlungsweisen und impliziten
Deutungsmuster Einzelner, die hier durchscheinen. Entscheidend ist nicht die
normative Frage, wessen Handeln hier wie unter welchen Gesichtspunkten zu
beurteilen sei; sozialisationstheoretisch entscheidend ist die soziale Struktu-
rierung des Erfahrungsfeldes und die hieraus resultierenden Handlungspro-
bleme für die beteiligten Akteure. Denn die thematischen Sach- und Hand-

supponieren, dass Herr Lentz durchaus darum weiß, was situativ erforderlich ist und ent-
sprechend auch von ihm erwartet wird. In diesem Fall ließe sich der Äußerung kein Status-
übergriff zuschreiben. Als Bitte käme der Äußerung in der konkreten Situation auch nicht
die Konnotation einer Maßregelung zu.
Die Äußerung kann aber auch ironisierend gemeint sein, wenn Sprecher und Adressat sich
ansonsten duzen: in dem übertragenen Sinn, dass der Adressat wohl einer formalen Extra-
Einladung bedürfe, damit er sich (wie die anderen auch) erwartungsgemäß verhalte (Lesart
b).
31 Sieht man von der Zuschreibung "imitierend" ab, kann sich dieser Interakt auch auf 8 Tobi-
as I beziehen: In dem Sinne, dass es richtig sei, auch Herrn Lentz zur Ordnung zu rufen.
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen 265
lungsbezüge auf der Folie des situativ Möglichen charakterisieren - abhängig
von der Erfahrungsbiographie des Einzelnen - die potenzielle sozialisatori-
sche Relevanz entsprechender Szenen.
Unter diesem Gesichtspunkt zeigt sich, dass leitende Handlungsthemen,
wie das Aushandeln von Macht und Status, die originärer Weise nicht mit der
idealen Konstruktion einer ,,Demokratischen Gemeinschaft" mitgedacht sind,
auch an deren Orten Thema sind. Werden sie im hier analysierten Sinne zum
Thema, werden sie aufgrund der sozialen Rahmung Gegenstand der eigenen
Handlungspraxis: Im Kontext der Versammlung müssen sie fortlaufend be-
achtet, gedeutet und aufgrund des Versammlungskontextes auch versprach-
licht werden. Dies zu meiden hieße zugleich, keine Rolle zu spielen.
Eine Rolle zu spielen heißt in der konkreten Situation, unterschiedlichen
Handlungslogiken verpflichtet zu werden; das deutet sich schon nach weni-
gen Sekunden an. Verpflichtet in dem Sinne, dass auf sie in irgendeiner Wei-
se reagiert werden muss. Das Gelingen eigenen Handeins entscheidet dabei
immer auch über Anerkennung und Bewährung. In einer sehr allgemeinen
und vorläufigen Weise lassen sich die widerstreitenden Handlungslogiken
folgendermaßen typisieren: als das Aushandeln von Rangpositionen und da-
mit von Macht und Status in den unterschiedlichsten Kontexten (hier: des
Vollzugs) einerseits und der Orientierung an demokratischen Verfahrensprin-
zipien, die auf wechselseitige Anerkennung und die Logik des besseren Ar-
guments zielen, andererseits. Letzteres gilt zumindest für die institutionali-
sierten und veralltäglichten Kontexte der ,,Demokratischen Gemeinschaft":
die wöchentlichen Versammlungen und die Komiteesitzungen.
Was dies unter dem Gesichtspunkt sozio-moralischer Lem- und Entwick-
lungsprozesse bedeutet, wird in dem ,,Modell entwicklungsrelevanter Erfah-
rungsabläufe im Kontext einer Demokratischen Gemeinschaft" (Sutter u.a.
1998, S. 39lf.) differenzierter entfaltet, als es anhand der exemplarischen
Analyse weniger Interakte gezeigt werden kann. Aber auch der weitere Ver-
lauf der hier interpretierten Szene liefert weitere Hinweise, wie dies in der
Praxis vorzustellen ist.
Nach wie vor ist es Peter, dem die Strukturierung der Versammlung ob-
liegt. Sein erster Interakt ("Ah ja .. also erst mall") wurde sogleich unterbro-
chen und bedarf nun der Fortsetzung. Mit Bezug auf das ausgewiesene impli-
zite Leitthema des Aushandelns und Bestätigens von Rangpositionen zeigt
sich nun, dass die ihm zugeschriebene Position schwierig ist. So wurde er zu
Beginn durch Patricks zweite Äußerung eher schroff zur Ordnung gerufen
(,,[. .. ] reiß dich zusammen [. .. ]"). Und mit Tobias Äußerung wird - gewis-
sermaßen stellvertretend für ihn - die erforderliche Ruhe hergestellt: als ob er
es nicht selbst könne (so eine mögliche Lesart). Mit Achims Beitrag schließ-
lich wird seine unsicher erscheinende erste Äußerung unmittelbar im Tonfall
imitiert und zum Anlass eines kurzen Auflachens. In diese Situation hinein
beendet Peter seinen zuvor unterbrochenen Satz:
266 Hansjörg Sutter
12 Peter 2: also die Sitzung ist eröffnet ../ (((zeigt währenddessen auf Patrick»)

Dem Wortlaut zufolge wird die Versammlung ein zweites Mal, nun mit einer
formaleren Wendung eröffnet. Dekontextualisiert betrachtet, also ohne Be-
rücksichtigung der zuvor erfolgten formlosen Versammlungseröffnung und
der Unterbrechungen, indizieren Peters Äußerungen eine umständliche, we-
nig souveräne Form der Versammlungseröffnung ("also erst mal: (also,) die
Sitzung ist eröffnet"). Wird der sequenzielle Ablauf berücksichtigt, wirkt die
Äußerung wie eine ausgesprochene Vergegenwärtigung dessen, was sich ge-
rade ereignet hat und worauf sich nun das eigene Handeln ausrichten muss.
Dies kann in dreierlei Hinsicht motiviert sein: (1) Aus einer Unsicherheit
heraus oder aufgrund mangelnder Versammlungserfahrungen wird die eigene
Handlungsplanung versprachlicht (anstelle eines "äh" oder einer Planungs-
pause), (2) Der Handlungsvollzug und die darin implizierten Rollenzuteilun-
gen - so eine zweite Lesart - werden mit ihrer Versprachlichung gewisser-
maßen zelebriert oder, so die dritte Lesart (3), die Thematisierung eines
Sachverhalts (ggf. der Tagesordnung) wird angesichts der noch nicht voll-
ständig hergestellten Ruhe abgebrochen und der Sprecher will der - in seiner
Sicht noch nicht geglückten - Versammlungseröffnung nochmals Gehör ver-
schaffen.
Peters Gestik, die sich der Videoaufzeichnung entnehmen lässt und aller-
dings nur mit Vorbehalten objektivierbar ist, liefert weitere Hinweise, die im
Sinne der zweiten und dritten Lesart interpretiert werden können. Während
und im Anschluss seiner ersten Äußerung ("Ah ja ... also erst mal/") voll-
zieht Peter mit seinen leicht erhobenen Händen eine einladende Geste und
nickt den Anwesenden - in Richtung Kamera und Herrn Lentz - mehrmals
zu und zeigt dann zu den Worten " also, die Sitzung ist eröffnet" auf sein Ge-
genüber Patrick. 32 Das im Gestus "wohlwollend" wirkende, mehrmalige Nik-
ken bei gleichzeitig erhobenen Händen kann in einem Gefühl der besonderen
Bedeutsamkeit der Situation und damit auch der eigenen Person motiviert
sein. Mit Blick auf das noch nicht abgeschlossene Gespräch zwischen Herrn
Lentz und der Forschungsmitarbeiterin kann die Gestik und Rede aber auch
darin motiviert sein, dass er moderat für die nun notwendige Aufmerksamkeit
sorgen will. Allen Lesartvarianten gemeinsam ist ein zum Ausdruck kom-
mendes Bemühen um situationsangemessenes Agieren. Für Letzteres spricht
auch der Umstand, dass Peter - wie sich später zeigen wird - vorbereitet in
die Versammlung kommt und sich bei seinen späteren Redebeiträgen auf die
mitgebrachten Notizen stützen wird.
Die Kommentierung des Interakts durch Patrick folgt prompt:
13 Patrick 4: Schon passiert.

32 Da die Gestik einer Person nur mit Vorbehalten objektiviert werden kann, dienen entspre-
chende Informationen nur der Generierung bzw. Präzisierung von Lesarten, nicht zu deren
Ausschluss.
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen 267
14 Thomas 1: //(Das macht er nicht)//(Das mag er nicht)//

Damit wird Peters Verhalten - entgegen seinem bisher deutlich werdenden


Bemühen - ein zweites (bzw. drittes) Mal Situationsunangemessenheit be-
scheinigt. Zugleich wird mit der Äußerung auch eine unterstellbare Kritik
bzw. Feststellung, die Versammlung wäre noch nicht "erfolgreich" eröffnet,
abgewiesen. Dieser Interakt präsupponiert dabei zugleich, dass Patrick als
formeller Versammlungsführer anzusehen sei, dem es entsprechend zukom-
me, die Versammlung zu eröffnen und vermutlich auch zu beschließen - ein
Anspruch, der im Übrigen durch Peters Gestik bestätigt wird.
Der folgende Interakt ist schwer verständlich; er bezieht sich möglicher-
weise, jedoch nicht notwendig, auf Patricks oder Peters Äußerungen. Da Pe-
ter anschließend zum ersten Gesprächspunkt der Versammlung überleitet,
kann die Phase der Versammlungseröffnung mit diesem Interakt als beendet
angesehen werden.

2.2 Der Ort der "Demokratischen Gemeinschaftsversammlungen "


als Ort der Ausbalancierung widerstreitender Normensysteme

Die Sitzungsverläufe liefern immer wieder Hinweise darauf, dass die Akteure
fortlaufend im Schnittfeld bzw. in Auseinandersetzung mit mindestens drei
theoretisch idealisierbaren "Sozialwelten" agieren: der "Sozialwelt" der Ju-
stizvollzugsanstalt im Sinne der formell wie informell geltenden Vollzugs-
ordnung, der "Sozialwelt" der Insassen-Subkultur sowie der "Sozialwelt" ei-
ner demokratischen Gemeinschaft bzw. einer durch Kameraaufzeichnungen
und wissenschaftliche Beobachter repräsentierten "Öffentlichkeit". In der
analysierten Eröffnungsszene zeigt sich dies beispielsweise an der impliziten
Orientierung an zwei Handlungslogiken: dem Aushandeln von Rangpositio-
nen einerseits und der Orientierung an demokratischen Verfahrensprozeduren
andererseits. Hinweise darauf finden sich auch in Peters Überleitung zum er-
sten Versammlungsthema, wenn man sie mit den allgemeinen pragmatischen
Erfordernissen der Situation kontrastiert, nun das erste Thema der Versamm-
lung benennen und in die Thematik einführen zu müssen.
15 Peter 3: Und z war .. das Fairnesskomitee hat! gestern war das, gell? (((schaut zu
Gerd, der daraufuin nickt)))
(((Lentz und Gerd antworten gleichzeitig:)))
16 Gerd 1: Haja.
17 Lentz 3: Ja.

Die Wendung "und zwar" leitet allgemein "eine genauere oder verstärkende
Angabe zu dem zuvor Gesagten ein" (Der Duden 1985, S. 790). Bei Berück-
sichtigung der sequenziellen Einbettung dieser Äußerung würde sich der
Sprecher damit auf Interakt 12 Peter 2 beziehen: "also, die Sitzung ist eröff-
net" (Lesart 1). Was dies heißt, bedarf jedoch weder einer weiteren Spezifi-
268 Hansjörg Sutter

zierung noch einer Verstärkung. Im vorliegenden Fall verweist die Wortwahl


somit eher auf etwas Zukünftiges, das es zu präzisieren gilt. Um was es dabei
geht, weiß der Sprecher in seiner Handlungsplanung, nicht aber die Anwe-
senden, die auf den Wortlaut seiner Rede verwiesen sind. Indem die Wort-
wahl sich auf etwas zu Sagendes bezieht, ist sie eher der eigenen, um Rich-
tigkeit bemühten, inneren Handlungsplanung funktional, als einer routini-
sierten, sachangemessenen Einführung in die Thematik (Lesart 2).
Bei der an Gerd gerichteten Frage: "gestern war das, gell?" ist bemer-
kenswert, dass es sich um ein Ereignis handelt, das ein oder - so die implizite
Alternative - zwei Tage zurückliegt. Dass der Sprecher sich gleichwohl ver-
gewissern muss, ob das Fairnesskomitee gestern (oder vorgestern) tagte, legt
entweder nahe, dass er nicht selbst anwesend war, oder aber sehr zerstreut
oder verunsichert ist. Beantwortet wird die Frage nicht nur von dem ange-
sprochenen Gerd ("Haja"), sondern auch durch Herrn Lentz ("Ja"). Die un-
mittelbare Beantwortung der Frage durch Herrn Lentz verweist nicht nur dar-
auf, dass dieser der Rede von Peter sehr aufmerksam folgt. Des Weiteren
unterstellt die Antwort, dass der Sprecher legitimerweise (vor anderen) dazu
Stellung beziehen kann: Weil er - qua zugewiesener Rolle - einen (besonders
guten) Überblick über die Termine des Fairnesskomitees verfügt, weil er
selbst Mitglied dieses Komitees ist und dieses - zumindest in dieser Runde -
legitimerweise "nach außen" vertreten kann oder weil er Peter in der Wahr-
nehmung seiner Aufgaben unterstützen will.
Mit der Beantwortung seiner Frage durch Gerds bestätigendes Nicken
kann Peter in der Überleitung zum ersten Versammlungspunkt fortfahren und
den Satz beschließen:
18 Peter 4: gestern getagt, und der Herr Lentz war der Meinung, wir sprechen's hier
drüben mal an ..
Nach wie vor ist damit der Tagesordnungspunkt, zu dem überzuleiten ist,
nicht ausgesprochen. In der Perspektive der Rede Peters ist stattdessen noch
zu klären, wie es zu dem Tagesordnungspunkt kam. Der Verweis auf Herrn
Lentz könnte u.a. darin motiviert sein, dass die Autorenschaft des Vorschlags
benannt werden soll, im Sinne einer impliziten Würdigung oder aber einer
Zu schreibung der Verantwortlichkeit. Letzteres könnte dann eine Rolle spie-
len, wenn ein Konsens darüber nicht besteht oder fraglich ist, dass das im
Folgenden Thematische ein sachlich angemessener und legitimer Versamm-
lungsgegenstand ist. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass der Textstruk-
tur der Äußerung zufolge - wie bei der vorangehenden Frage - mehrere Kon-
stellationen zuschreibbar sind: je nachdem, wer mit" wir" angesprochen ist.
Erst im weiteren Verlauf wird explizit, dass Peter als Mitglied des Fairness-
komitees spricht, dem ferner Gerd und Herr Lentz angehören. Grammatika-
lisch könnte sich das" wir" auch auf die Gesamtheit der Anwesenden bezie-
hen: die Mitglieder der ,,Demokratischen Gemeinschaft", die sich gerade zu
ihrer wöchentlichen Versammlung treffen.
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen 269
Etwas noch nicht Benanntes "mal ansprechen" lässt dabei offen, was mit
welcher Zielsetzung zur Sprache kommen soll. Das wäre beispielsweise nicht
der Fall, wenn an Stelle von "ansprechen" von "klären", ,,regeln" oder "be-
schließen" die Rede wäre. ,,Etwas ansprechen" kann bedeuten, etwas werde
erwähnt oder berichtet; es kann aber auch bedeuten, dass es einer - U.v. kon-
troversen - Besprechung bedarf. Das "mal" benennt dabei zugleich eine Ein-
maligkeit des Vorgangs und eine zeitliche Beschränkung des zu Thematisie-
renden. 33
Dass etwas angesprochen werde, das bereits an anderer Stelle (anlässlich
einer Sitzung des Fairnesskomitees) Thema war, markiert beiläufig eine Be-
sonderheit oder Wichtigkeit des Vorgangs. Das wiederum kann als begrün-
dungsbedürftig erscheinen. Als Grund wird in 18 Peter 4 zunächst nur der
Umstand erwähnt, dass Herr Lentz der Meinung war, "wir sprechen's hier
drüben mal an ., ". Ob und in welchen Hinsichten dieses Anliegen sachlich
begründet war oder als legitim anzusehen ist, bleibt an dieser Sequenzpositi-
on offen.
Des Weiteren fällt bei Peters Überleitung in das erste Versammlungs-
thema die eigentümliche und darin zentrale Vermischung zweier Ortsbezüge
auf: "Hier drüben" dient in der Rede Peters der Bezeichnung der Lokalität
des Versammlungsraums. Er ist "hier" und "drüben" zugleich, einerseits
Zentrum, der Ort des Sprechens, der aktuellen, gemeinsamen Praxis ("hier"),
andererseits "drüben" und somit woanders, jenseits von etwas. 34 Peters Rede
unterstellt somit eine implizite Grenzziehung, der zufolge das aktuelle" hier"
ein "drüben" ist. Dass diese Grenzziehung in der Perspektive des Sprechers
eine bedeutsame und schwierige zugleich ist, kann daraus geschlossen wer-
den, dass er die Ortsbezüge beachtend, sie in der aktuellen Rede gleichwohl
vermengt. Nach Maßgabe sprachlichen Regelwissens hätte Peter die Aussage
problemlos variieren können, ohne die beiden Orts bezüge anzuführen. Die
Rede hätte sich dabei entweder auf die Lokalität des Versammlungsraums
(',hier"), den zeitlichen Bezug ("heute") oder auf den Praxiszusammenhang

33 Das Thema wird nicht als "mehrmals" oder "wie immer" zu Besprechendes angekündigt.
34 Der Duden (1985, S. 336) führt zu "hier" aus: "an dieser Stelle. diesem Punkt; nicht dort ...
Sinnverwandt: da, hierzulande, in diesem Land, an diesem Ort" und zu "drüben": "auf der
anderen. gegenüberliegenden Seite: drüben am Ufer; da. dort drüben; von drüben (von jen-
seits des Ozeans. der Grenze) kommen. Sinnverwandt: jenseits." (ebd .• S. 188). - Die Ört-
lichkeiten. auf die sich Peters Begriffswahl bezieht, sind dadurch gekennzeichnet, dass die
wöchentlichen Versammlungen nicht in der Unterbringungseinheit. sondern in einem ge-
genüberliegenden. wenige Meter entfernten Gebäude stattfmden. In sprachsoziologischer
Perspektive ist erklärungsbedürftig, dass die Wortwahl nicht mit Bezugnahme auf sprachli-
ches Regelwissen konstruierbar ist, weil semantisch Unvereinbares zusammengedacht wird.
"Hier drüben" ist daher als Ausdruck einer faIIspezifischen (Ko-)Konstruktion sozialer
Wirklichkeit zu interpretieren.
270 Hansjörg Sutter

("in der Versammlung") beziehen können. 35 Stattdessen thematisiert sie im-


plizit eine perspektivisch bedeutsame Grenzziehung. Die "Konstruktion" der
Grenzziehung kann dabei, wie die folgende Überlegung zeigt, unterschiedlich
motiviert sein.
Die Wendung" hier drüben" vermischt zwei Ortsbezüge in einer Rede,
die durch ein großes Bemühen um Genauigkeit gekennzeichnet scheint. Zwei
Bezugspunkte dieses Bemühens um Richtigkeit lassen sich hypothetisch be-
nennen: die impliziten Statuskämpfe und das darauf beziehbare Bemühen,
den eigenen Part, die eigene Rolle gut zu spielen - auch auf ungewohntem
Terrain - oder aber das Bemühen um ein sachangemessenes Vorgehen ange-
sichts der Übernahme einer noch ungewohnten Aufgabe. Versucht wird, sich
der gestellten Aufgabe eines gewählten Komiteemitglieds gegenüber ange-
messen zu verhalten, auch auf der Bühne öffentlicher Rede, im Rahmen einer
Versammlung, einer Versammlung, die zudem auch noch mit einer Video-
kamera aufgezeichnet wird.
In der Wendung" hier drüben" kommt exemplarisch zum Ausdruck, was
beides erfordert: die immer wiederkehrende, notwendige Ausbalancierung di-
vergierender Normensysteme, die für das Handeln in der konkreten Situation
gleichermaßen handlungsleitend sind: die "Regeln des Versammlungs-
raums" , des aktuellen" hier", das eigentlich" drüben" ist, und die "Regeln
des (gegenüberliegenden) Hauses", dem eigentlichen Ort des Wohnens und
Lebens. Die Regeln des Hauses - dieses Amalgam formeller und informeller
Anweisungen und Verhaltensnormen, der Anstaltsordnung wie auch der In-
sassensubkultur - diese Regeln vollzuglicher Alltagspraxis sind nicht völlig
different und inkompatibel zu formalen Regeln demokratischer Praxis, auf
die sich die Gemeinschaft der Insassen und Bediensteten der Unterbringungs-
einheit selbst verpflichtet haben. Sie sind aber auch nicht deckungsgleich. Im
übertragenen Sinne der Wendung "hier drüben" scheinen sie verschiedenen
Orten zuschreibbar. Gleichwohl gilt es, diese verschiedenen Normensysteme
an den jeweiligen Orten auszubalancieren, als aktiv Beteiligte, in der eigenen
Rede, vor allen anderen. Mit dieser sozialen wie individuellen Herausforde-
rung werden die Akteure in der wöchentlichen Versammlung konfrontiert,
aber auch in anderen Situationen: in den Komitees, in den Zimmern, wo auch
darüber gesprochen wird, was in der Versammlung verhandelt wird und was
nicht, und in den Fluren der Unterbringungseinheit, wo es zwischen gewähl-
ten Komiteemitgliedern und Mitgefangenen zum x-ten Mal um den (demo-
kratisch geregelten) Putzdienst und um die Frage, "Was denkst Du denn, wo
Du hier bist?" geht.
Dass die hierbei zu bewältigenden kognitiven Koordinierungsleistungen
und die situativ zu vergegenwärtigenden individuellen wie sozialen Schwie-

35 Die sprachlich angemessenen Varianten lauten dann: "Herr Lentz war der Meinung, wir
sprechen's hier 'mal an", " ... wir sprechen es heute 'mal an" oder " ... wir sprechen's in der
Versammlung 'mal an".
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen 271

rigkeiten in der interpretierten Szene auch Peters Redestrukturierung konsti-


tuieren, kann mit Bezugnahme auf die ausgewiesenen Lesarten seiner Rede
hypothetisch angenommen werden. 36 Sozialisationstheoretisch ist entschei-
dend, dass die Sinnstruktur seiner Rede und des Interaktionsverlaufs entspre-
chende Bedeutungsmöglichkeiten und damit auch Erfahrungsmöglichkeiten
nahe legen - und sei es in der rekonstruktiven Vergegenwärtigung des sozia-
len Geschehens und eigenen Handeins.
Wie komplex sich selbst Alltagsszenen wie die interpretierte in der Per-
spektive der Akteure erweisen können, wird deutlich, wenn die soziale und
biographische Rahmung der Szene mit berücksichtigt wird. Zur Sprache
kommen wird ein im Fairnesskomitee strittiger Sachverhalt, der vergleichs-
weise heftige Reaktionen auslösen wird. Oberflächlich betrachtet geht es
"nur" um das verspätete Erscheinen eines kürzlich eingewiesenen Insassen
beim Frühstück, dessen Sanktionierung und den Umstand, dass das Fairness-
komitee in dieser Angelegenheit angerufen wurde. Für Peter handelt es sich
um seinen ersten "öffentlichen" Auftritt als gewähltes Komiteemitglied in ei-
ner Angelegenheit, die dadurch gekennzeichnet scheint, dass gegen ge-
schriebene und ungeschriebene Regeln der "Gemeinschaft" verstoßen wurde,
eine Erfahrung, mit der Peter Wochen zuvor - nach seiner Einweisung in die
Unterbringungseinheit - selbst konfrontiert wurde. Er versäumte immer wie-
der rechtzeitig aufzustehen, konnte seinen Küchendienst mehrfach nicht
rechtzeitig erledigen, wendete sich wegen der hierfür vorgesehenen, demo-
kratisch legitimierten Sanktionen an das Fairnesskomitee und machte zudem
in einer Versammlung öffentlich, dass ihm etwas gestohlen worden sei. Dass
Letzteres eine ergebnislose Durchsicht aller Zimmer zur Folge hatte, galt
nicht als gelungener Einstand. Aber auch dies kam - befördert durch die In-
stitutionalisierung und Veralltäglichung der (wöchentlichen) demokratischen
Praxis - in einer der späteren Versammlungen zur Sprache.

3. Schlussfolgerungen zur sozialisatorischen Relevanz

Welche Lern- und Entwicklungschancen lassen sich aus der interpretierten


Anfangsszene und in der sozialen Strukturierung ähnlich verlaufender Szenen
abstrahieren?
Zu nennen sind erstens die Einübung basaler Grundstrukturen demo-
kratischen Handeins und die kognitive Realisierung der diesen zugrunde lie-
genden Reziprozitätsformen. Wenn ich von basalen Grundstrukturen demo-
kratischen Handeins spreche, denke ich an so einfach anmutende Handlungs-

36 Entwicklungspsychologische Rückschlüsse auf psychische Dispositionen bedürfen metho-


dologisch weitergehender Untersuchungen.
272 Hansjörg Sutter

vollzüge wie das Eröffnen und Leiten einer Versammlung, deren Beschlie-
ßung, das Aushandeln kontroverser Positionen, die Verständigung auf ein-
deutige Absprachen oder Beschlussvorlagen, deren Abstimmung in formal
organisierten Wahlverfahren usw. In lebensgeschichtlicher Perspektive müs-
sen entsprechende Handlungsvollzüge und die zugrunde liegenden Regel-
und Normensysteme irgend wann einmal erprobt und durch Anwendung ein-
geübt und ausdifferenziert werdenY Die praktische Aneignung und Habitua-
lisierung der basalen Grundstrukturen demokratischen HandeIns bedeutet da-
bei immer auch, dass die komplexen Koordinierungsleistungen, die diesen
zugrunde liegen, kognitiv realisiert und über die Ausbildung kognitiver
Schemata dann auch in anderen Situationen selbsttätig organisiert werden
können: nicht im Sinne eines Reiz-Reaktionsschemas, sondern immer auch
abhängig davon, wie sie sich aus Sicht des Akteurs in konkreten Situationen
wie auch lebens geschichtlich bewähren.
Im Schnittfeld bzw. in Auseinandersetzung mit drei theoretisch ideal i-
sierbaren ,,sozialwelten" (der Justizvollzugsanstalt im Sinne der formell wie
informell geltenden Vollzugsordnung, der Insassen-Subkultur sowie der ,,De-
mokratischen Gemeinschaft" bzw. einer durch Kameraaufzeichnungen und
wissenschaftliche Beobachter repräsentierten "Öffentlichkeit") können die
Akteure zweitens lernen, die Ausbalancierung widerstreitender Normensys-
teme angesichts konkreter Erfordernisse auszuhalten, um eine sachlich ko-
härente Problemlösung realisieren zu können. Für die Insassen impliziert dies
die aktive Realisierung von Problemlösungen angesichts der doppelten Loya-
lität gegenüber der Insassen-Subkultur und dem Demokratie-Projekt, für die
Bediensteten die Realisierung von Problemlösungen angesichts der Loyalität
gegenüber der formellen und informellen Anstaltsordnung und dem Demo-
kratie-Projekt. Im Alltag verkompliziert sich dies, wenn die Akteure darüber
hinaus in wechselseitiger Rollenübernahme die jeweiligen Perspektiven der
"anderen" Seite, also der Insassen (aus Bedienstetensicht) oder der Be-
diensteten (aus Insassensicht) mitreflektieren und -berücksichtigen.
Als Lernchance ist schließlich drittens die bewusste Auseinandersetzung
mit den hieraus resultierenden Widersprüchlichkeiten des Vollzugsalltags zu
nennen, die durch deren sprachliche Objektivierung in den Versammlungen
befördert wird. Dies ermöglicht im günstigsten Fall die Ausbildung eines
potenziell autonomen Standpunktes gegenüber den Normen der Insassen-
Subkultur wie der formellen und informellen Anstaltsordnung. Beides kann
als Voraussetzung für ein selbst verantwortliches Leben in Freiheit angese-
hen werden.

37 Ein möglicher Ort für entsprechende Aneignungsprozesse sind ,,Demokratische Gemein-


schaften" in Schulen wie in Strafvollzugsanstalten, andere organisierte Formen der Jugend-
arbeit oder politische Organisationen.
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen 273

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Bernhard Haupert

Die Genogrammanalyse als qualitatives Verfahren zur


Rekonstruktion von Deutungsmustem
Eine Fallstudie über "Familiengeheimnisse" im
Bergarbeitermilieu

1. Einleitung - Die Genogrammanalyse als Verfahren zur


Rekonstruktion von Familienstrukturen

Professionelle der Sozialen Arbeit berichten, dass häufig in Familien aus "so-
zialen Brennpunkten" generationenübergreifende soziale Deutungsmuster
festzustellen seien, die eine bemerkenswerte zeitliche Konsistenz aufzuwei-
sen scheinen. Diese Muster scheinen sowohl den Umgang der Klientlnnen
mit den ,,Ämtern", mit den Professionellen als auch eine familieninterne Tra-
dierung biographischer Perspektiven zu betreffen. Insbesondere scheinen
emergente Strukturen sozialer Benachteiligung generativ "sozial vererbt" zu
werden und sich damit über Generationen hinweg zu reproduzieren. Es deutet
sich somit ein dialektisches Verhältnis zwischen Strukturen objektiver Be-
nachteiligung, familientypischen Strukturen der Lebenspraxis und deren ge-
nerativer Reproduktion an.
In der Sozialen Arbeit mit Familien scheint angesichts der komplexen
Verflechtung von Familien, -mitgliedern und -milieu eine umfassendere, faII-
typische und fallanalytische Zugangsweise zum Verständnis der je spezifi-
schen familialen Notlagen dringend erforderlich. Familien bilden ein Ge-
flecht von "diffusen Sozialbeziehungen" (Oevermann 1996, S. 111) aus, wo-
durch der Interaktions- und Kommunikationszusammenhang Familie zentral
definiert ist (vgl. AIIert 1998; Hildenbrand 1999). Familie wird zum einen
zum Ort der sozialisatorischen Interaktion und zum anderen zum "Verwei-
sungszusammenhang von milieutypischen Selbstverständlichkeiten der Welt-
und Selbstauffassung" (Hildenbrand 1999, S. 12) verstanden. Im Zusammen-
wirken von sozialisatorischer Interaktion und Milieu entsteht ein "kollektives
Familiengedächtnis" (Hildenbrand 1999), das u.a. durch das Erzählen von
generationenübergreifenden Familien-Geschichten begründet und aufrechter-
halten wird. Dieses Gedächtnis hält soziale Deutungsmuster genauso bereit
wie familienspezifische Orientierungsmuster im sozialen Raum.
Entscheidend für die Logik des Deutungsmusterkonzepts ist dessen dop-
pelte Bestimmung als eigenständige Dimension der Konstitution sozialer
Realität, als "faits sociaux", die "den Handelnden objektiv gegenübertreten"
(Oevermann 1973, S. 11; vgl. Oevermann 2000) und des funktionalen Be-
280 Bemhard Haupert
zugs objektiver Handlungsprobleme. In diesem Sinne stellen Deutungsmuster
"eine kulturelle, kollektiv bzw. überindividuell (re-)produzierte Antwort auf
objektive, Handlungsprobleme aufgebende, gesellschaftliche Bedingungen
dar ( ... ). Für das Individuum sind Deutungsmuster zugleich Wahrnehmungs-
und Interpretationsform der sozialen Welt, Schemata der Erfahrungsauford-
nung und Horizont möglicher Erfahrungen sowie Mittel zur Bewältigung von
Handlungsproblemen" (MeuserlSackmann 1992, S. 16). Für die immer wie-
derkehrenden Problemstellungen der Lebenspraxis benötigt "das Bewusstsein
einer krisenfahigen Lebenspraxis feststehende, voreingerichtete Interpretati-
onsmuster, um auf einem Grundstock von Überzeugungen auffußend mit ei-
ner je eigenen Problemlösung beginnen zu können oder um von vornherein
die Krise gar nicht erst als Krise aufkommen zu lassen. Deutungsmuster sind
also krisenbewältigende Routinen, die sich in langer Bewährung eingeschlif-
fen haben und wie implizite Theorien verselbständigt operieren, ohne dass
jeweils ihre Geltung neu bedacht werden muss" (Oevermann 2000, S. 5).
Deutungsmuster sind "demnach einerseits historisch-epochale Gebilde, die
jeweils den Zeitgeist gültig ausdrücken, andererseits aber auch Gebilde, die
universellen Bedingungen der Gültigkeit genügen müssen" (Oevermann
2000, S. 5; vgl. Haupert 2000).
Die hier kurz skizzierten Fragen sollen mit der im Folgenden dargestell-
ten familienrekonstruktiven Fallstudie untersucht werden. Dabei soll das re-
konstruktive Verfahren der Genogrammanalyse systematisch angewandt
werden. Die biographisch-generative Perspektive einer Familie aus einem
"sozialen Brennpunkt" wird rekonstruiert und zugleich die Frage nach den
Wechselwirkungen zwischen generativen Reproduktionsmustern und dem
jeweiligen Sozialmilieu bearbeitet. Als Datenmaterial stehen biographisch-
narrative Interviews mit vier Familienmitgliedern (drei Generationen) zur
Verfügung, die im Rahmen einer Diplomarbeit l erhoben wurden und mit de-
ren Hilfe anschließend ein Genogramm 2 über vier bzw. fünf Generationen er-
stellt wurde. Formal scheint über sechs Generationen hinweg ein einheitli-
ches Strukturschema erkennbar zu sein.

Das Material entstammt einer Diplomarbeit (BlaesylHoff 2000), die an der Katholischen
Hochschule für Soziale Arbeit Saarbrücken erstellt wurde. Die Daten wurden in der Saar-
brücker Forschungswerkstatt zur Sozialforschung, auszugsweise auch im Rahmen des
Sommerkurses "Interpretation und Verstehen" des Inter University Centers Dubrovnik,
analysiert. Alle Namen und Ortsangaben wurden anonymisiert.
2 Das vorliegende Genogramm (Familienstammbaum) wurde von Sonja Blaesy und Nora
Hoff (vgl. BlaesylHoff 2000) auf der Basis der Interviews im Rahmen ihrer Diplomarbeit
erstellt. Die präsentierte Analyse steht in der fallrekonstruktiven Tradition, wie sie an der
Katholischen Hochschule für Soziale Arbeit in Saarbrücken in Anlehnung an die Theorie-
tradition der Objektiven Hermeneutik betrieben wird. Der grundlagentheoretischen Per-
spektive der Objektiven Hermeneutik wird dabei eine professionstheoretisch-fallrekon-
struktive Wendung gegeben, um angehende Professionelle der Sozialen Arbeit für Empirie
zu sensibilisieren und zugleich Fallanalysefähigkeiten zu entwickeln.
Die Genogrammanalyse als qualitatives Veifahren 281
Der Aufsatz ist so gegliedert, dass zunächst das Verfahren der Geno-
grammanalyse im Kontext einer fallrekonstruktiven Perspektive vorgestellt
und dessen Bedeutung für eine professionelle Soziale Arbeit (vgl. Kraimer
2000) erläutert wird. Im Anschluss steht die Fallstudie der Familie Meier im
Mittelpunkt. Es wird zunächst eine erste milieutheoretische Fallstrukturhypo-
these formuliert, die durch die Analyse des Genogramms der Familie Meier
ergänzt wird. Die Fallstudie zeigt die Effizienz der Kombination unterschied-
licher qualitativer Strategien: der Fallrekonstruktion, Milieu- und Geno-
gramm analyse auf.

2. Zum Verfahren der Genogrammanalyse als Verfahren


der Fallrekonstruktion

Mit der Genogrammanalyse (vgl. Hildenbrand 1999, S. 32; SimoniStierlin


1995, S. 125) steht sowohl eine Forschungsmethode als auch ein Verfahren
professioneller Praxis zur Verfügung, wobei jeweils andere Verfahren (z.B.
narrative Interviews) zur Ergänzung herangezogen werden müssen. Die Ein-
übung in das Verfahren der Genogrammanalyse befähigt den Professionellen,
die Klientlnnen und deren familiale Milieueinbettung a) zu verstehen, b) die
familientypische Struktur zu rekonstruieren und letztlich c) die Klientlnnen
dort "abzuholen, wo sie stehen". Sie ist damit mehr als nur Methode oder nur
Instrument (vgl. Kraimer 1994, S. 97). Die Genogrammanalyse (McGoldrickl
Gerson 2000) bietet einen Weg, um die Strukturiertheit einer Familie und de-
ren generative Zusammenhänge zu begreifen. Ausgehend vom konkreten Fall
wird die Grafik der Familienchronik gezeichnet und a) um die jeweils rele-
vanten biographischen Rahmendaten (Geburtstage, Todestage, Heiratstermi-
ne etc.) und b) die spezifischen biographischen Daten (Ausbildung, Beruf,
Krankheiten, spezielle Familienereignisse etc.) ergänzt. Genogramme be-
zeichnen die graphische Darstellung eines über mehrere Generationen (min-
destens drei) reichenden Familienstammbaums mit der Darstellung der farn i-
lienspezifischen Daten (Geburt, Todesfälle, Eheschließungen und besonderer
Ereignisse). Die familialen Arrangements der Handelnden in ihren jeweiligen
Herkunftsfamilien werden damit graphisch anschaulich. Genogramme dienen
so der übersichtlichen Darstellung komplexer familialer Strukturen und bie-
ten die Möglichkeit Chronologie und Sequenzialität lebenspraktischer Ent-
scheidungen (Statuspassagen, Karrierestationen, kritische Lebensereignisse)
falltypisch festzuhalten (vgl. Allert 1998, S. 23; McGoldricklGerson 2000, S.
13). Die Sequenzialität des Genogramms bildet die Sequenzialität des Lebens
selbst ab.
Für das rekonstruktive Vorgehen wird pragmatisch vorgeschlagen, in ge-
nerativ aufsteigender oder absteigender Linie zu analysieren. Bei der vorlie-
282 Bernhard Haupert

genden Fragestellung, der Tradierung familialer Deutungsmuster innerhalb


des Familienmilieus, erleichtert die Rekonstruktion in absteigender Linie die
Arbeit, denn in historischer Linie werden das Herkunftsmilieu und die regio-
nale Verankerung relativ schnell und unproblematisch rekonstruiert. In der
Tradition der Objektiven Hermeneutik wird die zeitliche Geordnetheit (Se-
quenzialität) des Lebens einmal als Abfolge von Öffnungs- und Schließungs-
prozeduren, zweitens als biographietypische Reihung von Routine- und Kri-
senereignissen und drittens als Abfolge von Entscheidungs- und Begrün-
dungssituationen verstanden. Wie aus der sozialwissenschaftlichen Soziali-
sations- und Biographieforschung bekannt, sind gerade die in den frühen Se-
quenzen des Lebens grundgelegten Strukturen für spätere biographische Ent-
scheidungen hoch bedeutsam. In der speziellen Fallrekonstruktion geht es
dann stets darum, die Milieu- und Familienkonstellation bei der Geburt zu
bestimmen. Damit wird a) die Position in der Geschwisterreihenfolge ver-
deutlicht, b) der zeittypische Status des jeweiligen Geschlechts und c) die
materiellen Bedingungen der familialen Produktion und Reproduktion analy-
siert. Zugleich werden damit die frühen Weichenstellungen in der Kindheit
(Schule, Ausbildung) und deren Bedeutung für den späteren Lebensweg re-
konstruiert. Hierbei kommt der detaillierten Milieuanalyse besondere Be-
deutung zu, da durch diese Analyse die zentralen Muster erkannt werden und
die Determiniertheit des Lebens in Normalität und Abweichung herausgear-
beitet werden kann.
Im Unterschied zur therapeutischen Analyse sind die Systematik und
Methodologie einer materialen sozialwissenschaftlichen Genogrammanalyse
wenig entwickelt und insbesondere in der professionellen Praxis der Sozialen
Arbeit noch kaum verbreitet. Letzteres liegt u.a. daran, dass die Genogramm-
analyse primär familientherapeutischen Kontexten 3 zugeordnet wird und von
daher in der Sozialen Arbeit fehl am Platze scheint. Im deutschen Sprach-
raum haben Hildenbrand (vgl. 1983, 1991, 1999) und Allert (vgl. 1998) als
erste soziologisch-systematisch mit Genogrammen gearbeitet.

3. Präsentation des Fallmaterials und Formulierung einer


milieuspezifischen Fallstrukturhypothese

Das nachfolgende abgedruckte Genogramm veranschaulicht die Generatio-


nenverhältnisse der Familie Meier über vier bzw. fünf Generationen hinweg.
Der Fall gewinnt seine Relevanz für die Praxis der Sozialen Arbeit aus der

3 Trotz der weiten Verbreitung der Genogrammarbeit insbesondere bei Ärztinnen und Fami-
lientherapeutinnen existiert bis heute keine allgemein anerkannte Methode zur Erstellung
und Analyse von Genogrammen (vgl. McGoldrickiGerson 2000, S. 13).
Die Genogrammanalyse als qualitatives Verfahren 283

Tatsache, dass Personen aus der jüngsten Generation in regelmäßigem Kon-


takt zu MitarbeiterInnen eines Gemeinwesenprojekts (Anton) stehen, an einer
Sprachstörung leiden und dringender logopädischer Hilfe bedürfen (Arm in),
an unterschiedlichen Maßnahmen der Schulsozialarbeit bzw. der Erziehungs-
hilfe teilnehmen (Fabian) und sich in einer AB-Maßnahme (Lisa) befinden.
Bereits diese kurze Skizze der Familienproblematik veranschaulicht die mul-
tidimensionale Problemkonstellation der Familie Meier und verlangt nach ei-
ner professionellen Rekonstruktion, um die Ursachen der "sozialen und fa-
milialen Schieflage" zu ergründen.

Genogramm4 der Familie Meier

&~In~l'\Il S(;:tr .. -t"'Kric p;l'o(r1c"'IIlIS·


n. I ~l gSc:bkU:1II im l .II7.Hr«t.

f.ac' avlr:n~ o.rrerl: lvcm nlll A!bell.


~bl:r, bcb~ 2. LdW"C' ;lb LdM;;1If, " '----_----""--'-'=->
mlllr;:lf",lwr;d:lkdr;onn lIulbJU1d "'~I UmSl.'llCIlIIAInduI1.
Md! C'inwJ VQ~t.ikwn~tIdJ!J., Udt~nd z,dl'tdr.:ll
kl S;,", '1.'1I 1IHIIi4Im~~I;m'ttl ).
IluZtlrAB..\4

3.1 Das Wohnumfeld der Familie Meier

Nach dem Brand ihrer Mietwohnung in einer Bergmannssiedlung im Jahre


1964 wurde die Familie Meier von der Kommune in die damalige "Obdach-
losensiedlung" "Beim Bergwerk" eingewiesen. Ursprünglich beabsichtigten
die Meiers nur kurzzeitig in dieser Siedlung zu wohnen. Aus der Notlösung
wurde jedoch dann im Laufe der Jahre eine Dauerlösung. Ende der 90er Jahre
lebten drei Generationen der Familie Meier - die Großeltern (* 1932 bzw.
1935), eine Tochter (* 1956 ) und vier Enkel (* 1974, * 1979, * 1981, * 1986) -

4 Zum Verständnis der graphischen Symbole vgl. McGoldrickiGerson 2000. S. 22f.


284 Bernhard Haupert

in der Siedlung. Interviews wurden mit Anton und dessen Ehefrau Emma, ih-
rer gemeinsamen Tochter Angelika und deren Schwiegertochter Lisa durch-
geführt. Lisas Ehemann Armin war bei dem Interview mit seiner Frau anwe-
send; er äußerte sich aufgrund seiner Sprachstörung jedoch nicht (vgl. Blae-
sylHoff 2000).
Die Obdachlosen siedlung ,,Beim Bergwerk" liegt an einem Nordhang
von X-stadt. Durch die geographische Lage ist eine direkte Sonneneinstrah-
lung stets nur für kurze Zeit am Tag gegeben. Im Gefolge des industriellen
Niedergangs der Montanindustrie im Saarland in den 60er und 70er Jahren
entwickelte sich die Siedlung ,,Beim Bergwerk" zu einem "sozialen Brenn-
punkt" der saarländischen Bergarbeiterstadt X-stadt. 5 Diese Zu schreibung
kann mit der geographischen Randlage der Siedlung, dem niedrigen bauli-
chen Standard, der Überbelegung der Wohnungen, der hohen Zahl Erwerbs-
loser und dem geringen Bildungsniveau der BewohnerInnen begründet wer-
den. Bereits in den 50er Jahren wurde die Siedlung als kommunales Ob-
dachlosenwohngebiet geplant, unter der Prämisse der sozialen Aussonderung
und Kasernierung von "asozialen Elementen" (vgl. BlaesylHoff 2000, S. 46).
In den Sitzungsprotokollen des Bau- und Finanzausschusses der Stadt
X-stadt werden die ,,Motive" für die Errichtung der Siedlung schonungslos
mitgeteilt. "Finanziell" war die Errichtung dadurch motiviert, weil die Stadt
sonst für die Miete von wesentlich teureren Sozialwohnungen hätte aufkom-
men müssen. ,,Erzieherisch" sollte sie im Hinblick auf die ,,Abschreckung
der (noch) nicht obdachlosen Bevölkerung und in Bezug auf die Bewohner"
selbst wirken, die angehalten werden sollen, ihr Leben möglichst rasch wie-
der unabhängig von solchen Maßnahmen zu gestalten (BlaesylHoff 2000, S.
45). ,,Das erzieherische Konzept beinhaltete vor allem eine möglichst primi-
tive Gestaltung der Wasch- und Abortgelegenheiten." Bäder wurden erst in
den späten 80er Jahren angebaut. Was häufig fehlt, sind Zentralheizungen,
die zwar geplant, aber aufgrund fehlender kommunaler Mittel bisher noch
nicht realisiert wurden. Bei der Siedlung handelt es sich um ein räumlich und
sozial abgeschlossenes Wohngebiet, welches aus insgesamt neun zweistöcki-
gen Wohnhäusern besteht, die sich durch ihre bauliche Substanz und durch
ihre gleichförmige, einfache Beschaffenheit von den Wohnhäusern der um-
liegenden Gebiete unterscheiden. Ende der 90er Jahre lebten rund 160 Be-
wohnerInnen in der Siedlung. Lediglich knapp 20% der Haushalte verfügten
über ein Arbeitseinkommen, knapp 50% lebten von Arbeitslosengeld und/
oder Sozialhilfe. Etwa 30% bezogen ihre Einkünfte vorwiegend aus Renten-
mitteln (vgl. BlaesylHoff 2000, S. 46).

5 X-stadt liegt inmitten des östlichen saarländischen Industriegürtels, der sich von Neunkir-
chen nach Saarbrücken erstreckt.
Die Genogrammanalyse als qualitatives Verfahren 285
3.2 Das Bergarbeitermilieu im Transjormationsprozess Ende des 20.
Jahrhunderts

Der Name des Wohngebietes weist auf den Kohlenbergbau und damit auf das
spezifisch-proletarische Milieu der saarländischen Bergarbeiter hin. Der
Bergbau bot nicht nur vielen Menschen Arbeit, er besaß auch einen hohen
identitätsstiftenden und milieubildenden Charakter. Der Bergarbeiterberuf
war a) mit hohem Ansehen und aufgrund der Gefährlichkeit der Arbeit unter
Tage auch b) mit einem besonderen Ehrenkodex ausgestattet. In den Bergar-
beiterfamilien, -dörfern und -siedlungen schuf dieser Beruf Traditionen und
Alltagsrituale. Heranwachsende Generationen wurden entsprechend soziali-
siert und mit den typischen familialen, beruflichen und milieuspezifischen
Deutungsmustern ausgestattet. Die Liaison zwischen familienbiographischen
und industriestrukturellen Traditionen war für Traditions- und Biographie-
brüche parallel zum Niedergang des Kohlebergbaus verantwortlich, denn die
Menschen verloren nicht nur die Arbeit, sondern auch das identitätsstiftende
Element ihrer Existenz. Dieses milieuspezifische Selbstverständnis wurde in
den sozialen Wandlungsprozessen der 70er und 80er Jahre in einen "moder-
nen Typ" des ungleichzeitigen Bewusstseins transformiert, welches die poli-
tisch-sozialen Deutungsmuster der BewohnerInnen der ehemaligen Kohlere-
gion noch heute prägt, und zwar umso mehr, als nach dem Niedergang des
Bergbaus keine alternativen Orientierungsmuster vorhanden waren und aktu-
ell die Bergbau-Vergangenheit idealisiert und mythologisiert wird.
Die BewohnerInnen der Siedlung ,,Beim Bergwerk" befinden sich dar-
über hinaus zusätzlich in einer strukturellen Falle dergestalt, dass alle An-
strengungen, das Leben autonom zu gestalten, durch die beschriebenen struk-
turellen Bedingungen der Berufs-, Wohn- und Lebenssituation eingeschränkt
werden, letztlich also ein Verlassen der Siedlung kaum mehr möglich wird,
die Siedlung zudem gegenüber dem ,,Draußen" materielle und soziale Sicher-
heit und Geborgenheit garantiert, wodurch die Familien jedoch zusätzlich in
den restriktiven Strukturen der Siedlung gefangen sind, diese sich mit den
Jahren verfestigen und letztlich alle Lebensbereiche dominieren.
Identitätsstiftender und stabilisierender Fixpunkt des saarländischen
Bergarbeitermilieus war und ist zum einen die Mehrgenerationenfamilie und
zum anderen die Zugehörigkeit zur Katholischen Kirche, letztere verbunden
mit einer tiefen Volksfrömmigkeit. Die Mehrgenerationenfamilie des Bergar-
beitermilieus6 war und ist weniger durch Intimität und Nähe geprägt, wie es
in vergleichbaren bürgerlichen Milieus der Fall ist, als durch proletarische
Arbeitsvollzüge, im Marx'schen Sinn, durch die materielle Reproduktion und
deren Kohäsionsverpflichtung. Die Integration in konkrete Arbeitsvollzüge
verdrängt Intimität. Die Mehrgenerationenfamilie garantiert und reguliert den

6 Zu unterscheiden vom Bergmannsbauernmilieu in den Dörfern des mittleren und nördli-


chen SaarIandes.
286 Bemhard Haupert

Zugang zum Arbeitsmarkt, unterstützt ihre Mitglieder bei drohenden Ar-


beitsplatzverlusten und organisiert zugleich über die Familiengrenzen hinweg
solidarische Familien- und Nachbarschaftszusammenschlüsse bei drohender
ökonomischer Deprivation. Diese strukturellen Bedingungen erklären, warum
frühe Familiengründungen sowohl die männliche als auch die weibliche
Normalbiographie determinieren, wobei die Biographie der Frau, generativ
unterschiedlich, jedoch ein einheitliches Muster reproduzierend, nach wie vor
im häuslichen und erzieherischen Kontext definiert wird. Partnerwahl und
Eheschließung gehorchen dabei eher ökonomisch-rationalen und familienko-
häsiven als intim-emotionalen Prinzipien wie sie beispielsweise in bürgerli-
chen Milieus zu finden sind.
Im vorliegenden Fall heiratete beispielsweise Angelika nach dem Unfall-
tod ihres Verlobten dessen jüngeren Bruder. Ihr Sohn Armin heiratet Lisa,
die Tochter der Nachbarin, "weil man sich ja schon lange kennt und gut mit-
einander auskommt." "Unser Armin und seine Frau, die wohnt auch im Haus,
die kennen sich schon seit Geburt, die zwei, die leben seit ihrem ersten Tag
unter einem Dach", so begründet der Großvater die Ehe zwischen Armin und
Lisa. Angelikas Erzählungen von ihren Brüdern strukturieren sich nicht über
die "Wahrnehmung" von Intimität, sondern sie erinnert sich an deren "Vor-
lieben für besondere Speisen". Dieser Typus der Generationenfamilie am En-
de des 20. Jahrhunderts ähnelt dem der kleinbäuerlichen Familienorganisa-
tionen in den Dörfern des frühindustriellen 19. Jahrhunderts (vgl. Blackbourn
1997).
Neben der Mehrgenerationenfamilie und der Zugehörigkeit zur Katholi-
schen Kirche wurde Hausbesitz zu einem weiteren zentralen identitätsstiften-
den Muster saarländischer Identität. Noch im Jahr 2000 ist der "ärmste Flä-
chenstaat" (Saarland) der "alten Bundesrepublik" derjenige mit der höchsten
Eigenheimrelation. Bereits im Jahre 1841 entwickelte Leopold Sello? ein Kon-
zept, nach dem der frühindustrielle Arbeiter nicht, wie in anderen preußischen
Industrierevieren üblich, aus seiner ländlichen Verwurzelung herausgenommen
werden sollte, sondern diese Strukturen sollten möglichst auch in städtischen
Siedlungen, industrienahen "Bergmannsdörfern und -siedlungen" beibehalten
werden (vgl. Mallmann u.a. 1987, S. 24). Ergebnis war das für das Saarland
charakteristisch gewordene System der Prämienhäuser. Hierbei gewährten
Bergfiskus und Industriekapitalisten Darlehen, die es den Arbeiter- und Berg-
arbeiterfamilien ermöglichten, Grundstücke zu erwerben und mit viel Eigenlei-
stung ein Haus zu errichten.
Diese als "Sozialpolitik" getarnte "Wohnungsförderung", hatte starke Aus-
wirkungen auf die Herausbildung kleinräumiger, regionaler Zugehörigkeit und
auf die sprichwörtliche Bodenständigkeit des Saarbergmanns. Ein zentraler Be-
standteil der ,,Prämienhäuser" war die Möglichkeit der landwirtschaftlichen
Nutzung und Kleinviehhaltung in großen Gärten und Hinterhöfen, womit die

7 Sello: Leiter des Saarbrücker Bergamtes


Die Genogrammanalyse als qualitatives Verfahren 287

traditionelle Verwurzelung der Arbeiter im bäuerlich-traditionellen Milieu ge-


zielt genutzt wurde, eine Arbeiterschaft heranzubilden, die dem ländlich-
dörflichen Milieu verbunden blieb und die entsprechenden Deutungsmuster
und Strukturen auch in quasi städtischen Arbeitersiedlungen aufrechterhielt.
Individuelle Notlagen wurden familienintern durch Nebenerwerbslandwirt-
schaft und nachbarschaftliehe Netzwerke überbrückt. Zugleich verhinderte der
Privatbesitz eine sukzessive ,,Proletarisierung" und ,,Politisierung" der Arbei-
terschaft, da Haus und Garten potenziell kleinbürgerliche Vergesellungsformen
förderten. Die autonome Lebenspraxis der Bevölkerungsmehrheit wird durch
die heteronomen Bedingungen der Unternehmens- und Sozialpolitik unter-
drückt. Diese tradierte Struktur der Unmündigkeit birgt sowohl auf der indivi-
duellen wie auf der gesellschaftlichen Ebene die Gefahr der Ungleichzeitigkeit
und des unangemessenen Umgangs mit krisenhaften Ereignissen.

3.3 Erste Fallstrukturhypothese: Strukturen sozialer


Nichtanerkennung in historischer Perspektive

Diese Rekonstruktion der Typik des Bergarbeitermilieus als Milieu im Trans-


formationsprozess zeigt, dass die Geschichte der Verwahrlosung und Auto-
nomieeinschränkung der Familie Meier nicht erst mit der Einweisung in die
Obdachlosensiedlung beginnt, sondern bereits generativ durch eine familien-
spezifische Tradierung ökonomischer und sozialer Instabilität geprägt sein
muss, da bereits die vorangegangenen Generationen daran scheiterten, den
sozialen Status durch Hauserwerb und dadurch erfolgende Stabilisierung von
Sozialbeziehungen innerhalb einer Siedlung ("Kolonien") oder eines Dorfes
zu sichern. Als Kolonien wurden jene "suburbanen", dorfähnlichen Siedlun-
gen bezeichnet, die Ende des 19. Jahrhunderts in unmittelbarer Nachbarschaft
der Kohlengruben von den Grubenverwaltungen angelegt wurden. Diese
Siedlungen bewahrten bis weit in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts ihren
quasi dörflichen und zugleich "sub"-proletarischen Charakter. Die spezifi-
schen Mentalitätsfiguren der "Kolonisten" in Bezug auf Arbeit, Moral, Se-
xualität und Familie dominieren auch die "kleine Lebenswelt" der Bewohner
der Obdachsiedlung ,,Beim Bergwerk" (vgl. Blackbourn 1995).
Die Muster "sozialer Verwahrlosung" werden in familien- und siedlungs-
typischen Sozialisationsprozessen fortlaufend "sozial vererbt". Das soziale
Problem der Obdachlosigkeit schafft in einer so beschriebenen Region zu-
sätzliche Marginalitätskonturen, da die traditionelle Bodenständigkeit und der
Hausbesitz Voreingenommenheit gegenüber denjenigen Menschen verstärkt,
die in ihrer Lebenspraxis nicht ein gleiches Maß an sozialer Stabilität aufbau-
en konnten. Marginalisierte Familien dienen nun der "negativen" Bestätigung
der eigenen Wohl anständigkeit. Die traditionell unpolitischen und individua-
lisierenden Deutungsmuster fördern zudem eine tendenziell fatalistische
Haltung. Durch die Einweisung in die Obdachlosensiedlung wird die latente
288 Bernhard Raupert
marginale Situation der Familie Meier letztendlich bürokratisch manifest und
regional fixiert. Die Einweisung markiert zugleich das vorläufige Ende der
Heimatsuche. Denn innerhalb der Siedlung erfahren die Familienmitglieder
nun erstmals die benötigte soziale Anerkennung, die ihnen außerhalb bislang
versagt blieb. Ein Verlassen der Siedlung muss nun unter allen Umständen
verhindert werden, um weiterer Marginalisierung und Verwahrlosung vorzu-
beugen und den sozialen Anerkennungsprozess zu stabilisieren. Die sozialen
Kohäsions- und Anerkennungsprozesse werden durch siedlungsinterne "In-
heiraten" verstärkt. Diese verschärfen zugleich den Integrationsdruck und die
milieuspezifische Sozialisationsproblematik, da ein Verlassen des Milieus für
die nachwachsende Generation nun immer schwieriger wird. Letztlich wer-
den durch diese Prozesse die traditionellen Familienstrukturen, die ihren pro-
totypischen Ausdruck u.a. in den klassischen geschlechtsspezifischen Deu-
tungsmustern finden, zementiert.

4. Im "Netz" der familialen Verlaufskurve - Struktur


"sozialer Überforderung"

4.1 Strukturmuster von Antons Herkunfts/amilie:


"Soziale Überforderung"

4.1.1 Die deutsche Wehrmacht als Rückzugsmöglichkeit für den Vater -


~amiliengründung und Kindererziehung als Grund "sozialer
Uberforderung" für die Mutter
Antons Vater, 1907 geboren, arbeitete als Bergmann, wodurch sich die gene-
rationale Verwurzelung der Familie im Bergmannsmilieu manifestiert. Im
übrigen ergreifen auch Antons Söhne den Bergmannsberuf, wie auch ein En-
kel und Schwiegersohn; Vater und Großvater seiner Ehefrau entstammen
gleichfalls diesem Milieu. Die Berufswahlentscheidungen seiner beiden Söh-
ne (Dirk und Thomas) zeigen ungleichzeitigen Charakter, denn Ende der 60er
bzw. Anfang der 80er Jahre offerierte der Bergmannsberuf keine beruflichen
Zukunftsaussichten mehr. Es musste vielmehr mit Arbeitslosigkeit, früher
Entlassung etc., also insgesamt einer höchst unsicheren beruflichen Zukunft
gerechnet werden. Dass trotzdem der traditionelle Beruf ergriffen wird, deu-
tet zum einen auf eine tiefe Verwurzelung im Milieu, zum anderen jedoch
auch auf eine tiefgreifende Zukunftsverschlossenheit, ja gerade auf eine
Verweigerung von Realitätswahrnehmung hin.
Auffallend ist, dass Antons Vater, Vater mehrerer Kinder und aktiver
Bergmann, im Alter von bereits 35 Jahren im Jahre 1941 zur Deutschen Wehr-
macht eingezogen wird. Höchstwahrscheinlich meldet er sich freiwillig, da die
Die Genogrammanalyse als qualitatives Verfahren 289
"älteren" Bergleute und Familienväter in aller Regel nicht zu Beginn des
Zweiten Weltkrieges (1939-1942), sondern, wenn überhaupt, etwa ab dem Jah-
re 1944 in rückwärtigen Stellungen bzw. bei der Flak eingesetzt werden. Der
Vater entzieht sich mit der Meldung zur Wehrmacht den Aufgaben innerhalb
der Familie und überlässt letztlich die Kinder ihrem Schicksal. Zudem ist zu
vermuten, dass er zum Zeitpunkt seiner Kriegsverletzung seine Ehefrau moti-
viert, ihn in Schlesien zu besuchen, womit die familieninterne Isolation der
Kinder und damit die Aufspaltung der Familie manifest wird.
Das innerfamiliale Verhältnis gestaltet sich als äußerst schwierig. Der
Vater ist im Prinzip "familiär" permanent abwesend, sei es, weil er arbeiten
muss, sei es, weil er als Soldat dient. Zudem wird seine Frau von Kindern
und Enkeln als problematische Person geschildert. Aus der psychischen und
physischen Abwesenheit des Vaters resultiert die Tatsache, dass die eindeuti-
ge Vaterschaft der gemeinsamen Kinder keinesfalls als sicher gelten kann; es
scheinen vielmehr mehrere ,,Erzeuger" in Frage zu kommen; insbesondere
Anton wurde wohl nicht vom Ehemann gezeugt. Die durch den Wehrdienst
des Vaters verschärfte kritische Familiensituation und damit einhergehende
sozialisatorische Isolation der Kinder werden nach Kriegsende nicht korri-
giert. Vielmehr reproduziert sich erneut das "Vorkriegsmuster" und führt
letztlich zum Zerbrechen der Familienkohäsion, als deren Opfer letztendlich
Anton und seine Familie zu sehen sind. Die Mutter lebt nach dem Tod ihres
Mannes ein Jahr lang bei ihrem ältesten Sohn Anton. Sie wird aber wegen
"unmöglichen Verhaltens" und weil sie die Familie "durcheinanderbringt",
Anton und Emma "gegeneinander aufwiegelt" in einem Heim untergebracht.
Im Kern handelt es sich bei dem Streit mit der Schwiegermutter um den ex-
pliziten Vorwurf, dass (auch) Emma ihre Kinder ,,nicht gewollt hat", ihre
Kinder innerlich ablehnt. Dabei überträgt die Schwiegermutter ihre eigene
Problematik. Die Mutter von Anton ist mit der Erziehung der zehn Kinder
überfordert und entwickelt eine "sozialisatorische Immunisierungsstrategie",
um ihre eigene Autonomie aufrechtzuerhalten. Als unmittelbares Ergebnis
dieses Prozesses wird die der Kinder beeinträchtigt.
Hier deutet sich ein widersprüchliches Strukturmuster der Familie Meier
an: Es werden zu einem biographisch frühen Zeitpunkt viele Kinder -
sprichwörtlich - in die Welt gesetzt und dann ihrem weiteren Schicksal
schicksalhaft überlassen, einige überleben, die Hälfte stirbt frühzeitig: Eine
Schwester Antons stirbt in der Kriegszeit in Abwesenheit der Mutter an "Ve-
nenentzündung", zwei Brüder sterben bei Verkehrsunfällen, einer wird auf
dem Bürgersteig "überfahren", einer verunglückt mit dem Motorrad. Die Wi-
dersprüchlichkeit ist nun darin zu sehen, dass die Mutter, die sich über Jahre
hinweg dauerhaft im Zustand der Schwangerschaft, der nahenden oder gerade
zurückliegenden Niederkunft befand, quasi ununterbrochen Kinder gebärt,
nach deren Niederkunft sich jedoch nicht um den Nachwuchs kümmert, son-
dern diesen sich selbst überlässt, um erneut schwanger zu werden und den
Kreislauf zu wiederholen. Die Kinder, einmal in der Welt, werden dauerhaft
290 Bernhard Haupert

ihrem Schicksal überlassen, der emotionalen - und in der Kriegszeit auch der
materieIlen - Verwahrlosung überantwortet. Dieses Muster wiederholt sich -
in modifizierter Form - dann zwei Generationen später bei Armin und Fabi-
an. Es handelt sich hierbei um das Strukturmuster der Verwahrlosung und der
Erziehungs- und Bildungslosigkeit. Dieses Muster wird sich familien intern
als Grundmuster der "Überforderung am Sozialen" reproduzieren.
Die Kriegsjahre 1942 und 1943 verbringt der verwundete Vater in Schle-
sien in einem Lazarett. Hier wird er von seiner Ehefrau wiederholt besucht,
die über längere Zeiträume hinweg - Anton spricht von Monaten - bei ihrem
Mann in Schlesien bleibt und die zahlreichen Kinder im Saarland in der Ob-
hut Antons zurücklässt, der nun über längere Zeiträume allein für die Versor-
gung seiner jüngeren Geschwister zuständig wird. Nach Aussagen von Anton
kehrt dessen Mutter nach Gesundung des Vaters nicht umgehend zu den Kin-
dern ins Saargebiet zurück, sondern sie verweilt bis kurz vor Weihnachten
des Jahres 1944 im Osten, sodass die Kinder im Herbst 1944 kurzfristig in
ein katholisches Waisenheim eingewiesen werden. Diese Notsituation stärkt
zum einen die Kohäsion zwischen den Geschwistern, schädigt jedoch zum
anderen das Vertrauen in die Eltern, insbesondere in die Mutter. Die Abwe-
senheit des Vaters wird familienintern, wie übrigens auch gesamtgesell-
schaftIich, mit dem Muster des ,,Dienstes am Vaterland" geschönt und von
daher nicht als krisenhaft geschildert: ,,Er war eben im Krieg und wurde dort
verwundet!" Er kehrt also material als "verwundeter Krieger" zurück, auf den
die daheim Gebliebenen besondere Rücksicht zu nehmen haben.
Die Struktur dieser Familienepisode könnte beschrieben werden als
"Großfamilie ohne anwesende Eltern-Dyade" und Selbst- bzw. Fremdsoziali-
sation der Kinder. Die Rückkehr des invaliden Vaters erzwingt eine Neuord-
nung der Familienkonstellation und eine erneute Etablierung kohäsiver Hand-
lungen, da die Kinder nunmehr mit dem quasi unbekannten Vater konfron-
tiert werden. Dieser ist einerseits für den zeitweisen Verlust der Mutter ver-
antwortlich, andererseits nun jedoch für sie - zumindest materiell - sorgen
wird. Hildenbrand (2000) beschreibt diese neue Familienstruktur als ,,Präsenz
des Paares als Paar, während die Eltern-Kind-Beziehung nicht existent ist"
(S. 174). Damit wird zunächst auf der strukturellen Ebene die affektive Soli-
darität nicht etabliert, strukturell also die Eltern-Kind-Dyade nicht aufgebaut,
letztlich die sozialisatorische Interaktion nicht gefestigt.
Die Pflegebedürftigkeit des Vaters verlangt über die Krise der Kriegs-
verletzung hinweg einen gesteigerten Familienzusammenhalt, um die auftre-
tenden materiellen Schwierigkeiten, die Pflege des Vaters und die Erziehung
der jüngeren Geschwister bewältigen zu können. Dies erfordert die Mithilfe
aller Familienmitglieder, verlangt die Zurückstellung von Individuierungsan-
strengungen bei den älteren Geschwistern und unterdrückt latent die Mög-
lichkeit der Austragung von familieninternen Konflikten. Die fortlaufende
Reproduktion der Familie im Kontrast zur Kriegsverletzung des Vaters (min-
destens drei Geschwister werden nach Kriegsende geboren) verweist a) auf
Die Genogrammanalyse als qualitatives Verfahren 291

ein traditionelles Verständnis von Familie, b) auf ein stabiles, nicht planen-
des, kollektives, wenig individuiertes Familienmilieu und c) auf die sexuelle
Orientierung der Eltern. In diesem Zusammenhang ist bedeutsam, dass der
Vater, der in der traditionellen Bergarbeiterfamilie des 20. Jahrhunderts das
autoritäre und normative Führungszentrum markiert, seine Aufgaben nicht
vollständig wahrnehmen kann, sondern durch den ältesten Sohn bzw. die
Ehefrau ersetzt wird. Im Zentrum der Familie als Kohäsionsmedium steht
nun nicht die Mutter, sondern der "invalide" Vater, wodurch sich das Famili-
engleichgewicht verschiebt. Erst mit dem Tod des Vaters im Jahre 1986 ist es
familienintern nicht länger notwendig die individuellen Bedürfnisse zugun-
sten des Familienwohls zurückzustellen. Hieraus ergeben sich dann verstärkt
Geschwisterkonflikte und letztlich ein (verspäteter) Zerfall der Familienko-
häsion.
Anton kann somit weder auf positive (gelungene) väterliche noch müt-
terliche Vorbilder zurückgreifen, obwohl er strukturell (erzwungen durch die
Abwesenheit von Vater und Mutter) zum Vater seiner jüngeren Geschwister
und in der Zeitabfolge dann zum strukturellen Vater (Ausfall der Eltern!) sei-
nes Enkels und seiner Großenkel, der Kinder von Lisa und Armin wird. An-
ton, dessen Geschwister, Kinder und Enkelkinder sind nicht in der Lage, die
komplexe und historisch ambivalente Struktur einer Familie in ihren Trans-
formationsprozessen zu beherrschen: Das kontinuierliche Ausbalancieren von
"Nähe und Distanz, Verlässlichkeit und Flüchtigkeit, Einschluss von Bezie-
hungen und Ausschluss von Beziehungen (... ) konnte er aufgrund seiner be-
sonderen Familiensituation" (Hildenbrand 2000, S. 176) nicht erleben. Damit
befinden sich die Kinder permanent in einem Beziehungsdilemma, welches
prinzipiell nicht lösbar ist. Dieses Dilemma und die darunter liegende Struk-
tur objektiver Verwahrlosung werden nun strukturell durch die (latente) Ein-
führung des Familiengeheimnisses gelöst.
Die analysierte Familienstruktur verweist auf das "ungleichzeitige"
Bergmannsbauernmilieu des 19. Jahrhunderts. Dieses transformiert seine
(Oberflächen-)Struktur in den Modernisierungsschüben des 20. Jahrhunderts
(1. Weltkrieg, Nationalsozialismus, Nachkriegszeit). Material manifestieren
sich diese Transformationsprozesse in der Struktur der Mutterposition. Im
traditionellen Milieu übernahm die Frau weitgehend auch die Reproduktions-
funktion des abwesenden Mannes. Die Kinder, "uneheliche" Kinder waren
bis weit ins 19. Jahrhundert nicht selten, wuchsen in aller Regel, wie bei An-
ton der Fall, ohne "anwesend-realen", aber mit dem "abwesend-irrealen"
Vater und einer omnipotenten Mutter auf. Diese Familienstruktur, die sich in
Antons Familie reproduziert, belegen die vorliegenden Interviews, denn der
Person des Vaters wird weder von Anton noch von dessen Ehefrau Bedeu-
tung beigemessen. Der Vater ist im sprichwörtlichen und tatsächlichen Sinn
Erzeuger und Ernährer und erfüllt im Familienverbund keine darüber hinaus-
gehenden Funktionen. Diese (sub-)proletarische Familienstruktur zerbricht
und wird kritisch in solch einem Fall, in dem die Mutter die ihr zugewiesene
292 Bernhard Haupert

Position nicht wahrzunehmen in der Lage ist. Dies ist der Fall in Antons Her-
kunftsfamilie und reproduziert sich in seiner eigenen.

4.1.2 Auseinanderbrechen der Herkunftsfamilie und Rahmung des


,,Familiengeheimnisses"
Nach dem Tod des Vaters brechen alle Kinder ausnahmslos den Kontakt zu
ihrer Mutter ab, was die beiden Querstriche im Genogramm symbolisieren.
Dieser Bruch ist so vollkommen, dass Anton noch nicht einmal weiß, an wei-
chem Ort seine, im Jahre 1997 hochbetagt verstorbene Mutter beerdigt liegt.
Die Familienkohäsion wird also von der Person zerstört, die traditioneller-
weise für den Familienzusammenhalt zuständig ist, denn wie wir gesehen ha-
ben, markiert die Mutter - oftmals die Großmutter - im Bergmannsmilieu
den emotionalen und materiellen (!) Mittelpunkt der Familie. An dieser Stelle
deutet sich ein ,,Familiengeheimnis" an, welches nun genau darin besteht,
dass das zentrale familiale Tabu von den Familienmitgliedern unter keinen
Umständen gegenüber Außenstehenden (und auch familienintern) themati-
siert werden darf, um die Illusion des Familienzusammenhalts nicht zu zer-
stören. Dreh- und Angelpunkt des ,,Familiengeheimnisses" ist die Tabuisie-
rung des schwerwiegenden Beziehungsabbruch zur Mutter. Was könnten nun
hypothetische Gründe für den Beziehungsabbruch zur Mutter sein?

a) Einmal könnten die Beziehungen zur Mutter durch die permanente Ab-
wesenheit in den 40er Jahren relativ schwach gewesen und nur durch die
Rückkehr des Vaters kurzfristig aufrechterhalten worden sein. Die Ab-
wesenheit der Mutter kann von den Kindern zum einen als Vernachlässi-
gung, als "Sitzen lassen" in schwerer Zeit gedeutet worden sein, zum an-
deren aber auch so, dass diese sich in schwerer Zeit "nur" um sich und
ihr Wohlergehen gekümmert hat. Das würde darauf hindeuten, dass die
Kinder zwar zur Welt, aber nicht in die Welt gebracht worden sind, d.h.
die Kinder waren notwendiges Übel der eigenen Befreiung, die es zu
versorgen galt, die aber nicht geliebt wurden.
b) Eine andere, wenn auch strukturell vergleichbare Möglichkeit wäre es,
dass die Mutter, die den Hauptteil ihres Lebens damit verbrachte, Kinder
zu gebären, diese zu erziehen, einen kranken Mann zu pflegen, nach dem
Tode ihres Mannes im Jahre 1986 aus dem Familienverband ausgebro-
chen ist, um ihre Rente und ihren Lebensabend zu genießen. Ihre Rente
als Bergmannswitwe wird eine durchaus ansehnliche gewesen sein. In
diesem Fall könnte das Streben nach verspäteter Unabhängigkeit und ei-
nem höheren Lebensstandard bei den Kindern Ängste ausgelöst haben,
die sich sowohl auf das Auseinanderbrechen der Familienkohäsion als
auch auf finanzielle Aspekte (Verringerung des Erbes) bezogen haben.
c) Eine weitere Lesart könnte in Individuierungstendenzen auf Seiten der
Kinder liegen, die sich nach dem Tode des Vaters aus dem Familienver-
Die Genogrammanalyse als qualitatives Veifahren 293
band ausgliedern wollen, um sich den eigenen Familien zuzuwenden,
sich die Mutter dadurch zurückgesetzt, im Stich gelassen und nach dem
Tode ihres Mannes überflüssig fühlt. Diese Tendenz könnte durch den
beginnenden ,,Altersstarrsinn" der Mutter unterstützt worden sein.

Die skizzierten Lesarten ergeben jedoch keine sinnvolle Begründung dafür,


warum es nicht kurz vor oder nach dem Tode der Mutter zur Versöhnung am
"Grab" gekommen ist. Die prekäre Familiensituation kann in körperlichen,
aber wohl eher in seelischen Misshandlungen von Seiten der Mutter zu sehen
sein, die sich in der Kriegszeit oder schon früher an ihren Kindern "vergan-
gen" hat. Die dadurch ausgelösten Verwahrlosungstendenzen werden, wie die
Interviews8 belegen, von den Kindern sukzessive erkannt und erst mit dem
Tod des Vatersbenannt. Aufgrund der Geschwisterfolge ist Anton derjenige,
der einerseits am meisten unter dem Grund des Tabus zu leiden hat, der aber
andererseits in der Krisenzeit des Krieges den Familienzusammenhalt gesi-
chert hat. Mit dem Tod des Vaters endet für ihn strukturell die Verantwor-
tungsübernahme innerhalb der Familie. Er dokumentiert das Ende mit dem
symbolischen Beziehungsabbruch zur Mutter.

4.2 Strukturmuster von Antons Familie: "Zwangskohäsion "

4.2.1 Rekonstruktion der generativen Einbettung


Die zentralen Protagonisten der Familie Meier sind die Großeltern Anton
(* 1932) und Emma (* 1935), die im Jahre 1964, kurz nach Geburt ihres drit-
ten Kindes, in die damalige Obdachlosensiedlung ,,Beim Bergwerk" einge-
wiesen wurden und fortan dort wohnen bleiben. Diese Tatsache und der fa-
milieninterne Umgang mit der dadurch latent markierten, "familialen Ver-
laufs kurve" verweist auf einen Milieu- und Traditionsbruch, denn Anton und
Emma leben fortan in der "Obdachlosensiedlung" und unternehmen keine
Anstrengungen, in ihr angestammtes Wohnumfeld und damit in das traditio-
nelle Bergarbeitermilieu zurückzukehren. Sie richten sich vielmehr im "mar-
ginal-subproletarischen" Milieu der Obdachlosensiedlung ein. Wie darge-
stellt, wurden die sich mit der Obdachlosigkeit objektiv manifestierende so-
ziale Instabilität und Marginalität in den Herkunftsfamilien tradiert, denn an-
sonsten wären familienintern enorme Anstrengungen unternommen worden,
die Obdachlosigkeit mittelfristig zu beenden. Die finanziellen Mittel hierzu
waren jedenfalls vorhanden, nicht jedoch die sozialen Kompetenzen, um die
einsetzende "familiale Verlaufskurve" zu kontrollieren. Wäre es den Vorfah-
ren gelungen, eine stabile materielle Existenz aufzubauen, diese in ein breites

8 Darauf kann aus DarstellungsgIiinden nicht näher eingegangen werden.


294 Bernhard Haupert

Netz von Sozialbeziehungen einzubetten, wäre auch die durch den Brand
ausgelöste Wohnungskrise mittelfristig überwunden worden.
Anton und Emma gehören der Generation an, die in der Zeit des National-
sozialismus sozialisiert wurde und deren Adoleszenzkrise in der unmittelbaren
Nachkriegszeit lag (vgl. Bude 1987; Schelsky 1957). Identisch sind sich die Ju-
gendlichen dieser Generation in dem, was Schelsky "Suche nach Verhaltenssi-
cherheit" (Schelsky 1984, S. 38) nennt - eine Tatsache, welche die Jugendpha-
se generell beschreibt. Für die im Nationalsozialismus im ,,Führerkult" aufge-
wachsenen Jugendlichen ist jedoch Verhaltenssicherheit nach ,,Auflösung" des
,,Führerkults" und des "Kameradschaftskults" ein zentrales Moment der (Rück-)
Gewinnung von Autonomie. Diese Suche wird etwa durch frühe Familiengrün-
dungen, die Integration in die Berufs- und Arbeitswelt und den Aufbau stabiler
Sozialbeziehungen beendet. Zugleich führt die "Suche nach Verhaltenssicher-
heit" jedoch auch dazu, dass die zurückliegenden Kriegsjahre verdrängt, insge-
samt nicht reflektiert und psychisch wie moralisch bearbeitet werden. In An-
tons und Emmas Fall bedeutet dies, dass ihre frühe Familiengründung spontan,
quasi unreflektiert, wenig zukunftsorientiert erfolgt. Damit reproduzieren sie -
einer doppelten Dialektik folgend - das Strukturmuster ihrer Generation. In ih-
rem Familienkontext wiederholen sie jedoch zugleich das traditionelle Famili-
enmuster ihres Herkunftsmilieus.

4.2.2 Anton: Ausbruch aus der "Zwangs-Kohäsion" der Herkunftsfamilie


Sehr jung, im Alter von 21 bei Anton und mit 18 bei Emma findet im Sep-
tember 1953 die Familiengründung statt. Das frühe Heiratsalter deutet in
Verbindung mit der Geburt des ersten Kindes im Mai 1954 daraufhin, dass es
sich um eine in der damaligen Zeit im katholischen Bergmannsmilieu durch-
aus übliche ,,Muss-Heirat" handelte. Zugleich bietet die Heirat beiden die
Möglichkeit, ihre Herkunftsfamilie zu verlassen und einen eigenen Hausstand
zu gründen. Die frühe Heirat ermöglicht Anton den Ausbruch aus der engen,
zwanghaften Kohäsion seiner Herkunftsfamilie, bildet jedoch zugleich das
Fundament neuer ,,Familienzwänge". Für Emma wie für Anton wird die
grundsätzlich bereits eingeschränkte Möglichkeit, eine eigenständige "prole-
tarische" Jugendphase zu erleben, strukturell verwehrt.
Anton war zum Zeitpunkt der Familiengründung finanziell nicht in der
Lage, eine eigene Familie zu ernähren. Zwar bot ihm die frühe Eheschlie-
ßung formal die Möglichkeit der ,,Hausgründung", die finanziellen Ein-
schränkungen waren aber derart massiv, dass die materiale Gründung eines
eigenen Hausstandes unmöglich wurde, wodurch bereits frühzeitig ein sub-
proletarisches Strukturmuster angelegt ist, welches die Integration in den ge-
hobeneren Hausbesitzerstand des Bergmannsmilieus verhindert. Insbesondere
die Geburt des ersten Kindes (Dirk, 1954) und die nachfolgende Geburt von
Angelika (1956) verschärfen den materiellen Konflikt und zwingen die Fa-
milie, die finanziellen Ressourcen für den unmittelbaren Lebensunterhalt
Die Genogrammanalyse als qualitatives Veifahren 295
aufzuwenden. Eine mittelfristige oder langfristige Vorsorgeplanung kann
strukturell nicht erfolgen. Diese "Krise" wird zusätzlich dadurch verschärft,
dass weder Emmas noch Antons Herkunftsfamilien die junge Familie finan-
ziell unterstützen konnten. Mit der frühen Familiengründung will sich Anton
von seiner Herkunftsfamilie befreien, kann den Schritt allerdings nicht voll-
ziehen, denn mit der Familiengründung werden die jeweiligen Strukturmuster
der Herkunftsfamilien reproduziert.

4.2.3 Emma: Mutter und Großmutter ohne "familiales


Traditionsbewusstsein"
Das Interview mit Antons Ehefrau Emma beginnt wie folgt:
"Me i Vader, der stammt eigentlich aus, - aus E-bach, der ist in E-bach geboren. Und meine
Mudder, die ist von F-bach, - mehr weiß ich nicht von denen. Mein Opa, der war Glasma-
cher, und die Oma, die ging früher zu den Leuten an die ,WäschbüUen' und hat da gewa-
schen."
Emmas Kenntnisse über ihre Herkunftsfamilie beschränken sich auf ganz we-
nige Angaben, die auch im weiteren Verlauf des Interviews nicht detaillierter
werden. Deswegen ist es auch nicht möglich ihren Familienhintergrund aus-
führlicher zu erläutern. Üblicherweise ist im traditionellen Bergmannsmilieu
davon auszugehen, dass die Großmutter als Bewahrerin der Familiengeschichte
und -tradition wirkt und diese dann an Kinder und Enkelkinder weitergibt. Der
lapidare Hinweis auf die regionale Herkunft ihres Vaters und ihrer Mutter zeigt
deutlich den Verlust der Familiengeschichte bereits in der Generation der Ur-
großeltern von Armin. Der Beruf eines Opas von Emma, "Glasmacher", ver-
weist im montan dominierten Saarrevier des beginnenden 20. Jahrhunderts auf
eine tendenziell marginale Arbeitsposition und einen niederen sozialen Status
gegenüber den organisierten Bergleuten und den Arbeitern in den Stahlwerken.
Die Tätigkeit als Wäscherin markiert die Zugehörigkeit zum subproletarischen
Milieu. Über ihre Eltern, der Vater Bergmann, die Mutter Hausfrau, gelingt die
prinzipielle Heilung der Milieuherkunft und die Integration ins Bergarbeiter-
milieu. Ihre Eltern jedoch leben bereits in ,,Baracken", worin sich ein später
zentral werdendes Familienrnuster, das Wohnen in fremdbestimmten ,,Notun-
terkünften" oder "Notquartieren" und damit die Zugehörigkeit zum subproleta-
rischen Milieu andeutet. Damit sind zentrale Bestimmungen für die Strukturie-
rung des Familienmilieus und der Tradierung der Familiengeschichte getroffen:

a) Eine prinzipiell nicht planbare Wohnsituation, da es der Familie trotz


vorhandener Subventionen (Prämienhäuser) nicht gelingt, Wohneigen-
tum zu erwerben und sich damit in proletarischen Wohnquartieren sozial
zu integrieren.
b) Das Leben in "zeitbegrenzten" Unterkünften erschwert die Herstellung
stabiler familialer Außenbeziehungen in und mit der Nachbarschaft und
erzwingt die Überbetonung der Binnenbeziehungen, wodurch in Kon-
296 Bernhard Haupert

flikt- und Krisensituationen die soziale Isolierung einzelner Mitglieder


gefördert und ein prinzipielles Konfliktvermeidungsverhalten geradezu
eingefordert wird, um die Familienkohäsion zu sichern.
c) Das sozialisatorische Milieu einer Obdachlosensiedlung steht prinzipiel-
len Autonomiebestrebungen ihrer BewohnerInnen im Wege und fördert
tendenziell Verwahrlosungsstrukturen. Gegenüber der Außenwelt margi-
nalisiert und stigmatisiert, erzwingt das Binnenmilieu soziale Konformi-
tät und hohen Anpassungsdruck. So werden die Voraussetzungen für He-
ranwachsende, zu Autonomie und Selbständigkeit zu gelangen, reduziert,
da Autonomiezuwachs in der Binnenstruktur der Siedlung zu Autono-
miereduktion im Außenverhältnis führt.
d) Die Siedlung erzwingt einen spezifischen Typus der Vergemeinschaf-
tung, der externen Vergesellschaftungsanforderungen diametral entge-
gengesetzt ist. Eine Befreiung aus dieser ,,Beziehungs- und Siedlungs-
falle" ist nur unter Abbruch der sozialen Beziehungen innerhalb der
Siedlung möglich.

4.2.4 Die Kinder: Dirk, Angelika und Thomas


Aus Antons Ehe mit Emma entstammen drei Kinder: Dirk (*1954), Angelika
(* 1956) und Thomas (* 1964). Diese werden mit dem saarländischen Dilem-
ma der Moderne konfrontiert, dass nämlich die familial im proletarischen
Milieu erworbenen Deutungsmuster bezüglich Familie und Beruf in den 70er
und dann verstärkt in den 80er Jahren ihre Wirksamkeit verlieren und kein
mittelbarer Ersatz bereitsteht. Ihnen steht nur die Möglichkeit offen, mit der
Familientradition zu brechen und einen "modernen" Beruf zu ergreifen oder
das Familienmuster zu reproduzieren. Die beiden Söhne folgen konsequent
der Familientradition und erlernen zunächst den Beruf des Bergmanns; die
Schwester bereitet sich auf ihre Tätigkeit als Hausfrau vor. Mit diesen Wah-
len wird zwar der ,,Familienfrieden" vorerst gewahrt, die künftigen Konflikte
sind aber bereits vorgezeichnet. Im Gegensatz zu ihren beiden Brüdern, die
später mit der Familientradition brechen, reproduziert Angelika die "weibli-
che" Tradition strukturidentisch. Beide Brüder leben aktuell nicht mehr in
"Beim Bergwerk", haben eigene Familien gegründet und den Kontakt zur
Herkunftsfamilie auf ein absolutes Minimum reduziert. Hier deutet sich die
Reproduktion des ,,Familienmodells" an. Diese Spur soll allerdings hier nicht
weiter verfolgt werden.
Es ist deutlich geworden, dass im beschriebenen Milieu die Strukturver-
antwortung zentral bei den Frauen liegt, da die Aufgabe der männlichen Fa-
milienmitglieder in der materiellen Reproduktion (im doppelten Sinn des
Wortes) zu suchen ist und ihnen manifest keine Bedeutung bei der familien-
internen Reproduktion zugewiesen wird. Angelika erlernt - zeituntypisch -
keinen Beruf, sondern möchte im Alter von 17 Jahren, gen au wie ihre Mutter,
heiraten. Ihr Verlobter verstirbt jedoch bei einem Unfall. Ihr erster Sohn Ar-
Die Genogrammanalyse als qualitatives Veifahren 297

min wird im Jahre 1974 "nichtehelich" geboren; der Vater des Kindes ist
nicht der verunglückte Verlobte, dessen Bruder Egon Angelika im September
des Jahres 1978 ehelicht. Der Vater von Armin ist der Familie nicht bekannt.
Im Interview bezeichnet Angelika Armins Vater als "Trösterli". Angelika
gelingt es nicht, Unterhalt für ihr erstes Kind vor Gericht zu erstreiten, da die
eindeutige Vaterschaft nicht nachgewiesen werden kann. Armin wächst bei
seinen Großeltern auf. In der Person von Armin wiederholt sich nun die Fa-
miliendramatik. Anton erzählt:
"Unser Armin ist der Älteste von den Enkeln, den haben wir selbst groß gezogen. Der ist
hier bei uns auf die Welt kumm, das heischd in Y-stadt im Krankenhaus. Und den haben
wir seit der Geburt, seit der Geburt haben wir den schon in Obhut. Und der ist halt, mir
sind für den wie Vadder und Mudder. (...) Es ist halt eben wie mein eigenes Kind. Er hat
seinen Beruf gelernt und hat auch seine Arbeit und ist wirklich sehr in Ordnung. Komme
mit dem Kind sehr gut zurecht."
Nach dem ersten Scheitern der Familiengründung unternimmt Angelika dann
große Anstrengungen, um letztlich doch noch zur Familiengründung zu gelan-
gen. Sie verlobt sich mit Egon, einem gleichaltrigen Bergmann, der ebenfalls in
der Siedlung "Beim Bergwerk" aufgewachsen ist. Wie sie im Interview be-
richtet, ist sie erst nach der förmlichen Verlobung bereit, mit Egon ,,richtig se-
xuell zu verkehren". Im sechsten Monat schwanger, heiratet sie dann mit 22
Jahren Egon. Nach der Heirat verbleibt der vierjährige Armin weiterhin im
Haushalt seiner Großeltern und wird nicht in Angelikas neue Familie integriert.
Angelika gründet eine eigene Familie, ohne Armin - die ,,Frucht" der vorange-
gangenen und gescheiterten Familiengründung - in die neue Familie zu inte-
grieren und letztlich zu akzeptieren. Sie beginnt ihren eigenen Familienzyklus
damit ,jungfräulich". Angelika bringt dann 1979, 1981 und 1986 Armins Halb-
geschwister zur Welt, zu denen Armin kaum Kontakt hat.
An dieser Stelle stellen sich zwei Fragen, einmal danach, warum Angeli-
ka so früh ihre Herkunftsfamilie verlassen will und zum zweiten die Frage
nach der Ablehnung von Armin. Angelika will ihre Familie unter allen Um-
ständen verlassen, um einen eigenen Haushalt zu gründen und autonom zu
sein oder auch um sozial aufzusteigen. Im Verhältnis zwischen Angelika und
Armin wiederholt sich die Geschichte ihrer Großmutter, mit dem Unter-
schied, dass Angelika Armin nicht aufziehen muss, sondern ihn bei ihren El-
tern in Verwahrung geben kann. Somit gelingt ihr die Lösung von der Her-
kunftsfamilie nur ungenügend, da sie in unmittelbarer räumlicher und sozia-
ler Nähe, ja im selben Haus verbleibt. In der Person von Armin, Angelikas
erstem Sohn, materialisiert sich nun die Familientragödie. Armin stottert seit
seinem vierten Lebensjahr (Zeitpunkt der Heirat seiner Mutter mit Egon).
Seine starke Sprechstörung (Stottern) dürfte das Ergebnis einer tiefgreifenden
Störung der Mutter-Kind-Beziehung sein:
298 Bernhard Haupert

a) Zu Beginn der ödipalen Phase heiratet die Mutter Egon. Armin ist somit
nicht nur mit einem "neuen" Vater und einer neuen Familienkonstellation
konfrontiert, sondern auch mit einem neuen Konkurrenten um die Auf-
merksamkeit der Mutter, die Armin wegen des "neuen" Vaters tatsäch-
lich "sitzen lässt".
b) Armin verliert den Konkurrenzkampf mit dem übermächtigen Vater und
bleibt als ,,Pfand" zurück in den Händen seiner Großeltern.
c) Zusätzlich wird diese Situation für Armin durch die erneute Schwanger-
schaft seiner Mutter erschwert. Sein Halbbruder wird in die neue Familie
integriert. Armin wächst ohne Familie auf.

Armin erlernt gleichfalls den Beruf des Bergmanns und ist dann in einem
Saarberg Tochterunternehmen beschäftigt. Im Alter von 24 Jahren heiratet er
im Jahre 1998 die zwanzigjährige Lisa, die bei ihrer Großmutter aufgewach-
sen ist und zu ihrem Vater - wie Armin - keinen Kontakt hat. Obwohl Lisa
einen mittleren Schulabschluss erreicht hat, gelingt ihr vorläufig die Integra-
tion in den Arbeitsmarkt nicht. Im weiteren Verlauf berichtet Angelika von
weiteren ,,Problemen", die sie mit ihren Söhnen hat. Neben Armin, der stot-
tert, ist der 19jährige Peter in einer rechtsorientierten Gruppe Jugendlicher
aktiv, beim mittlerweile 14jährigen Fabian wiederholt sich die Familienge-
schichte der Verwahrlosung und Auffälligkeit. Im Kindergarten reagiert Fa-
bian regressiv, zieht sich von Kameraden zurück, ist Bettnässer und nicht in
der Lage, den Stuhlgang zu kontrollieren. Fabian fällt, wie Armin sprachlich,
verhaltensspezifisch in die Artikulationsformen eines Dreijährigen zurück.

5. Zusammenfassung: Das Familiengeheimnis

"Ich fange ganz von vorne an. Ich bin 1932 geboren, als Kind eines Bergmanns. Und hab
dann die Schule besucht, also als es soweit war erst mal zur Kommunion gang und dann
zur Schule gegangen, normale Volksschule."
Der Rückgriff auf die Anfangssequenz des Interviews mit Anton zeigt, dass
es sich bei der Familienproblematik - jedenfalls in der familieninternen
Wahrnehmung - um den Typus ,ger "sozialen Überforderung" auf Seiten der
Mutter gehandelt haben muss. Anton verkörpert die berufliche Identität des
Bergmanns, ohne aber über dessen soziale und milieuspezifische Besonder-
heiten und Integrationsmöglichkeiten zu verfügen. Stattdessen wird er durch
die Umstände, das Schicksal und die Familiendramatik in eine Obdachlosen-
siedlung einquartiert, so dass die Erinnerung an die berufliche Vergangenheit
allemal positiver ist als die Konfrontation mit der unerfreulichen Gegenwart.
Der Beginn des Interviews verweist jedoch latent bereits auf die Familien-
dramatik. Anton wurde nicht als Sohn eines, seines Vaters, geboren, sondern
Die Genogrammanalyse als qualitatives Veifahren 299

als Sohn eines, irgendeines Bergmanns. Hier deutet sich eines der "sozialen
Überforderungselemente" der Mutter an: Sie unterhielt in jungen Jahren se-
xuelle Beziehungen mit verschiedenen Männern, sodass den Kindern die
Väter nicht eindeutig zuzuordnen sind; dies gilt gesichert für Anton. Famili-
enintern wird die "Überforderung" der Mutter als solche nicht thematisiert,
sondern als "Verfehlung" behandelt, über die bis zum Tod des Vaters ein
,,Mantel des Schweigens" gebreitet wird. Mit dessen Tod zerbricht nun die
Familienkohäsion, da nun keine Rücksichten mehr zu nehmen sind.
Die Mutter von Anton hat sich aber neben der "unbekannten, geheimen
Tat" noch mindestens einer weiteren Verfehlung schuldig gemacht: Sie hat
die Kinder in der extremen Notzeit des Krieges sich selbst überlassen und be-
suchte, wie dargestellt, ihren Ehemann im Lazarett in Schlesien. Dieses Ver-
halten war nicht nur für die Kriegszeit außerordentlich ungewöhnlich und be-
darf innerfamilial besonderer Anstrengungen, um dieses Verhalten zu er-
klären. Möglicherweise wurde es auch nie gekittet, sondern lediglich bis zum
Tod des Vaters unterdrückt, um dann in seiner ganzen Dramatik aufzubre-
chen. Der Mutter wird von daher, mittelbar, die Verantwortung für den Tod
von drei Geschwistern zugeschrieben.
"Meine Geschwister hab ich groß gezogen, das war - der Vater war auch nie da, und die
Mutter, die war ständig beim Vater, der wo also Kriegsverletzungen hatte, teilweise mona-
telang in Schlesien. Und ich hab allein mit den Kindern, also mit meine Geschwister ge-
haust ( ... ) Wir sind klaue gang und alles mögliche gemacht, nur damit meine Kinder, also
mein Geschwister sag ich mal, dass die zu essen hatten. Drei davon sind tot, also zwei töd-
lich verunglückt, eine, die Schwester ist damals gestorben an Lungenentzündung."

Die skizzierte Struktur der Verwahrlosung und Überforderung weist auf in-
teraktionelle Muster innerhalb der Familie Meier hin, die aus anderen Unter-
suchungen (vgl. Hantel-Quitmann 1996, S. 283) bekannt sind und Struktur-
muster von Verwahrlosung und ,,Misshandlung" andeuten. Die Vorfälle müs-
sen schwerwiegend gewesen sein, um einen derart tiefgreifenden Bruch von
Normalität herbeizuführen, ohne Möglichkeit diesen Bruch über den Tod der
Mutter hinaus zu heilen. Offensichtlich fand keine "Versöhnung am Grab"
und damit die Schließung der Familienkrise statt. Dieses Versäumnis wird in
die späteren Generationen hineinwirken, da die Mutter, Großmutter und Ur-
großmutter nicht nur ohne die Begleitung der Angehörigen von Fremden zu
Grabe getragen wurde, sondern die Nachkommen wissen noch nicht einmal
(sie wollen es nicht wissen), wo ihre Stammmutter beerdigt liegt. Die Mutter
muss sich an ihren Kindern so schwer "versündigt" haben, dass der Bruch
von allen Geschwistern vollzogen und eine Versöhnung bis zum Tode und
über den Tod hinaus nicht mehr möglich war und ist. Für die Kinder bedeutet
die nicht zustandegekommene Versöhnung mit der Mutter die Quelle erheb-
licher Schuldgefühle, die strukturell nicht (mehr) zu bewältigen sind, da der
Familienkonflikt mit in den Tod genommen wurde.
300 Bernhard Haupert

Dieser unbewältigte Konflikt markiert den zentralen Punkt der Familien-


geschichte und gewinnt die Dynamik eines ,,Fluchs". Denn "das eben ist der
Fluch der bösen Tat, dass sie fortwährend immer Böses muss gebären"
(Schiller). Die Schuldgefühle und die damit zusammenhängenden Belastun-
gen und Bewährungsanforderungen werden bis ins dritte und vierte Glied
weitergereicht und können von den nachwachsenden Generationen strukturell
nicht bewältigt werden. Der endgültige Bruch am Grab der Mutter markiert
das definitive Ende der bisherigen Anstrengungen innerhalb der Familie, Ko-
häsion, Gemeinschaft und Verbundenheit herzustellen. Da dieser Bruch kurz
vor dem Tode der Mutter vollzogen wurde, bestand keine Möglichkeit der
Revision und der Bearbeitung der Emotionen.
Die Disharmonien und Kohäsionsbrüche, die von Antons Seite der Fa-
milie ausgehen, belasten auch das Binnenverhältnis von Emma und Anton.
Emma entstammt gleichfalls dem traditionellen Arbeitermilieu, wobei Emma
in ihrer Herkunftsfamilie als Älteste eine ähnliche Position wie auch Anton
innehatte. Der Bruch mit Antons Mutter erzwingt nun ständig Rechtfertigun-
gen, das ,,Richtige" getan zu haben und belastet das Binnenverhältnis zu ih-
ren Kindern. Die Harmonie der Familie muss permanent präsentabel sein, um
den Schein von Ordnung trotz des Familienbruchs aufrechtzuerhalten. Auf-
tretende Konflikt werden zum Wohle der Familie schnell gelöst, verheim-
licht, heruntergespielt oder gar verdrängt, um der Kohäsion der Familie wil-
len und um die familiale Zukunft zu sichern. Jede Andeutung eines Konflikts
wird somit zur ständigen Bewährungsprobe, immer mit der latenten Angst
verbunden, eine Fehlentscheidung zu treffen, die in ihren familieninternen
Auswirkungen als unwiderruflich erscheint und den Ausschluss der Mutter
aus dem Familienverbund nachträglich als Fehlentscheidung entlarven wür-
de. Ein Misslingen der Bewährung würde das Bild der intakten Familie zer-
stören; die Schuldgefühle gegenüber der Mutter könnten nicht mehr länger
verdrängt werden. Im Bild des Fluchs bleibend, werden Krisen von den Fa-
milienmitgliedern als Bestrafung für die begangenen "bösen Taten" gesehen,
auch wenn dieser Sachverhalt nicht bewusst artikuliert wird. Somit können
selbst kleinere Krisen, die im Alltag jederzeit auftreten können, in den Fluch-
zusammenhang gestellt und dramatisiert werden, wodurch die Familie in ih-
rer Handlungsfähigkeit eingeschränkt und somit in ihrem Zusammenleben
empfindlich gestört wird. Somit sind die Auswirkungen des Fluchs nicht nur
für Antons Generation, sondern,"auch für die nachwachsenden Generationen
spürbar.
Ein zentrales Milieumuster, die sich in Haus- und Grunderwerb manife-
stierende Bodenständigkeit und die rudimentär kleinbäuerlichen Deutungs-
muster, die mit dem Grunderwerb verbunden sind, konnte von der Familie
Meier nicht realisiert werden. Damit dokumentiert sich eine strukturelle Mar-
ginalität, die ihren Ausdruck u.a. in der innerfamilialen Unfähigkeit findet,
die Berufswahlentscheidungen für die nachwachsenden Generationen so zu
zentrieren, dass zukunfts- und nicht vergangenheitsorientiert Berufswahlen
Die Genogrammanalyse als qualitatives Veifahren 301
getroffen werden. Bereits in der Großeltern generation bzw. in der Urgroßel-
terngeneration ist es zu ersten Brüchen mit dem Normalmodell der saarländi-
schen Bergarbeiterfamilie gekommen. Diese Brüche und der damit verbun-
dene soziale Abstieg konnten jedoch wegen der positiven Konjunktur im
Bergbau und den politischen Krisenzeiten innerfamilial aufgefangen werden.
Erst die beschleunigten Wandlungsprozesse der Spätmoderne nach dem
Zweiten Weltkrieg lassen den familialen Kitt zerbröseln und beschleunigen
den sozialen Abstieg. Dieser Bruch wird mit der Einweisung in die Obdach-
losensiedlung manifest. Zu Beginn der 60er Jahre, als der private Wohnungs-
bau nicht nur staatlich subventioniert, sondern auch von den Saargruben ge-
fördert wurde, wäre es bei offener Planungsbereitschaft der Familie möglich
gewesen, ein Eigenheim zu erwerben, zumal Anton als qualifizierter Berg-
mann (Hauer) über ein regelmäßiges Einkommen verfügte. Die mangelnde
Fähigkeit, die familiale Zukunft gestaltend zu planen, das Schicksal in die ei-
genen Hände zu nehmen und sich gegen den ,,Milieufatalismus" zu immuni-
sieren, wird auch von der nachfolgenden Generation (Angelika, Armin, Fabi-
an) reproduziert, welche die "subproletarische" Familientradition fortsetzen.
Eine Ausnahme bildet lediglich Dirk, der erhebliche Bildungsanstren-
gungen unternommen hat. Ihm gelingt der Ausbruch über den Umweg einer
Einheirat in ein anderes Milieu (bäuerlich) und die spätere Trennung von sei-
ner ersten Frau. Dirk lebt mittlerweile in Frankreich und hält kaum Kontakt
zur Herkunftsfamilie. Der innerfamiliale Kommunikations- und Interaktions-
stil ist durch mannigfache strukturelle Defizite gekennzeichnet; Konflikte
werden nicht kommunikativ gelöst und bearbeitet, sodass generell davon
ausgegangen werden kann, dass die Fähigkeit zur ,,Perspektivenübernahme"
nur mangelhaft entwickelt ist. In den familientypischen Kommunikationsrnu-
stern und -formen dokumentiert sich die innerfamiliale Unfähigkeit, Krisen
und Konflikte autonom zu bewältigen; diese werden vielmehr verdrängt.
Damit ist die Fähigkeit zur Autonomie erheblich eingeschränkt, eine inhaltli-
che Konfrontation mit der Umwelt findet nur eingeschränkt statt.
Die durch die Analyse gewonnene Fallstrukturhypothese beschreibt, wie
die jeweilige Familie "in der Dialektik von Autonomie und Heteronomie
immer wieder Entscheidungen als geordnete (=strukturierte) und zukunftsof-
fene hervorbringt" (Hildenbrand 1999, S. 32). Mit der ,,Fallrekonstruktions-
methode in der Sozialen Arbeit" (Kraimer 2000, S. 36; vgl. HaupertJKraimer
1991; Kraimer 1997) steht somit ein Verfahren zur Verfügung, relevantes
Ausdrucksmaterial auf seine Strukturlogik hin zu untersuchen. Die Struktu-
rierungsgesetzlichkeit, die einem individuellen Fall zugrunde liegt, ist jenes
Muster, das die "Geschichte des Falls als die Geschichte seiner Entscheidun-
gen insgesamt kennzeichnet" (Hildenbrand 1991, S. 52f.).
302 Bernhard Haupert

Literatur

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New York 1998
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Marpingen - Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes. Reinbek b. Ham-
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Blaesy, S.lHoff, N.: Das Familiengeheimnis. Rekonstruktion familiärer Strukturen
anhand einer Fallstudie in einem sozialen Brennpunkt. Diplomarbeit Katholische
Hochschule für Soziale Arbeit. Saarbrücken 2000
Bude, H.: Deutsche Karrieren. Lebenskonstruktionen sozialer Aufsteiger aus der
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Hantel-Quitmann, W.: Beziehungsweise Familie: Familienpsychologie und Famili-
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und methodische Grundlagen. Freiburg i. Br. 1996
Harig, L.: Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf. MünchenfWien 1996
Haupert, B.: Zwischen Anpassung und Widerstand: Priester in der NS-Zeit. Rekon-
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Fallrekonstruktion. Sinnverstehen in der sozialwissenschaftlichen Forschung.
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Haupert, B.lKraimer, K.: "Ich bin ein Bauembub" - Zur Analyse lebensgeschichtli-
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Haupert, B.lKraimer, K. (Hrsg.): Zur Profession und Gegenstandsbestimmung der So-
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Hildenbrand, B.: Alltag als Therapie. Stuttgart 1991
Hildenbrand, B.: Fallrekonstruktive Familienforschung. Opladen 1999
Hildenbrand, B.: Wandel und Kontinuität in sozialisatorischen Interaktionssystemen:
Am Beispiel der Abwesenheit des Vaters. In: Bosse, H.lKing, V. (Hrsg.): Männ-
lichkeitsentwürfe. Wandlungen und Widerstände im Geschlechterverhältnis.
FrankfurtlM. 2000, S. 168-177
Hofmann, M.lRink, D.: Milieu als Form sozialer Kohäsion. Zur Theorie und Opera-
tionalisierung eines Milieukonzepts. In: Matthiesen, U. (Hrsg.): Die Räume des
Milieus. Neue Tendenzen in der sozial- und raumwissenschaftlichen Milieufor-
schung, in der Stadt- und Raumplanung. Berlin 1998, S. 279-288
Kraimer, K.: Die Rückgewinnung des Pädagogischen. WeinheirnJMünchen 1994
Kraimer, K: Narratives als Erkenntnisquelle. In: Friebertshäuser, B./Prengel, A.
(Hrsg.): Handbuch qualitative Forschungsmethoden in den Erziehungswissen-
schaften. WeinheimIMünchen 1997, S. 459-467
Kraimer, K. (Hrsg.): Die Fallrekonstruktion. Sinnverstehen in der sozialwissenschaft-
lichen Forschung. Frankfurt/M. 2000
Lepsius, M.R.: Demokratie in Deutschland. Göttingen 1993
Mallmann, K.M. u.a. (Hrsg.): Richtig daheim waren wir nie. Entdeckungsreisen ins
Saarrevier 1815-1955. Bonn 1987
Die Genogrammanalyse als qualitatives Verfahren 303
McGoldrick, M./Gerson, R: Genogramme in der Familienberatung. BernlGöttingen
2000
Merten, R (Hrsg.): Systemtheorie Sozialer Arbeit. Neue Ansätze und veränderte Per-
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Meuser, M./Sackmann, R (Hrsg.): Analyse sozialer Deutungsmuster. Beiträge zur
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Oevermann, U.: Zur Analyse der Struktur von sozialen Deutungsmustem. Manuskript.
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Oevermann, D.: Die Struktur sozialer Deutungsmuster - Versuch einer Aktualisie-
rung. Manuskript. Delmenhorst 2000
Schelsky, H.: Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend.
FrankfurtJBerJinlWien (1957) 1984
Simon, F.B./Stierlin, H.: Die Sprache der Familientherapie. Ein Vokabular. Stuttgart
1995
Sozialpädagogische Evaluationsforschung

Christian Lüders/Karin Haubrich

Qualitative Evaluationsforschung

Einleitung

Obwohl in den letzten Jahren der Ruf nach Evaluationen und Evaluationsfor-
schung immer lauter wurde und mittlerweile auch alle pädagogischen Praxis-
felder erreicht hat, lässt sich bis heute im deutschsprachigen Raum von allen
Beteiligten eine vornehme Zurückhaltung hinsichtlich der Frage beobachten,
was dies eigentlich für die qualitative Sozialforschung bedeutet. Die Mehrheit
der im engeren Feld der Evaluationsforschung Tätigen scheint - gemessen an
ihren Publikationen - eher quantifizierenden Verfahren zuzuneigen. Die weni-
gen vorliegenden deutschsprachigen Methodenhandbücher aus jüngerer Zeit,
die sich explizit auch auf Evaluation beziehen, haben ihren Schwerpunkt im
Bereich quantifizierender Verfahren (vgl. z.B. Wottawaffhierau 1998; Bortz/
Döring 2002); qualitative Sozial forschung kommt dabei nur am Rande vor,
zumal die entsprechenden Kapitel nicht immer von gründlichen Kenntnissen
zeugen. In den Veröffentlichungen, Handbüchern und Journalen der deutsch-
sprachigen qualitativen Sozialforschung sucht man nach methodologischen
Beiträgen zur qualitativen Evaluationsforschung - sieht man einmal von dem
jüngst erschienenen Handbuch-Beitrag von E. v. Kardorff (2000) ab - verge-
bens. Jüngere einschlägige Überblicksdarstellungen zu Evaluation bzw. Eva-
luationsforschung scheinen schließlich davon auszugehen, dass methodologi-
sche Fragen selbst keine eigenen Kapitel wert und nur im Kontext von Projekt-
darstellungen zu erörtern seien (vgl. Heiner 1998; HollingiGediga 1999; Mül-
ler-KohlenberglMünstermann 2000; Stockmann 2000a; HeillHeinerlFeldmann
2001).
Dieser dürftigen Diskussionslage gegenüber steht eine breite, diffuse und
schon länger nicht mehr überschaubare Forschungspraxis, die sich zunehmend
gerne mit dem Begriff Evaluation schmückt. Dies gilt auch für die verschiede-
nen pädagogischen Forschungsfelder. Verantwortlich dafür ist nicht zuletzt ei-
ne staatliche Förderpraxis, die in den letzten Jahren Evaluation als ein wichti-
ges Thema für die politische Steuerung entdeckt hat, ohne jedoch selbst ein an-
gemessenes Verständnis von Evaluation und den möglichen Ergebnissen zu
306 Christian LüderslKarin Haubrich

haben. Diffus ist die auf diese Weise entstandene Praxis vor allem deshalb,
weil mittlerweile in begrifflicher und konzeptioneller Hinsicht erhebliche Ver-
wirrung herrscht. Dies beginnt schon bei der Frage, was eigentlich unter Eva-
luation verstanden werden soll. Das Angebot an Antworten und Konzepten ist
reichlich. M.Q. Patton (1997) z.B. listet allein knapp 60 Typen von Evaluation
auf (S. 192ff.) und verwendet dabei nur das eine Unterscheidungskriterium der
jeweiligen Zielsetzung des Ansatzes. Im deutschsprachigen Raum ist die Dis-
kussion durch vielfältige fließende Übergänge geprägt. Oft muss man zweimal
hinsehen, ob Z.B. die Begriffe ,,Evaluation", "wissenschaftliche Begleitung",
,,Evaluierung", ,,Evaluationsforschung" synonym gebraucht werden oder ob
sich dahinter unterschiedliche Konzeptionen, Aufgaben, Rollenverständnisse,
Zugänge etc. verbergen. Im Zusammenhang mit Ansätzen der Qualitätsent-
wicklung bzw. des Qualitätsmanagements wird immer wieder von Evaluation
gesprochen, ohne dass sofort erkennbar ist, ob damit etwas anderes bezeichnet
werden soll als Berichterstattung oder - was wiederum etwas anderes wäre -
Controlling. In der pädagogischen Praxis fungiert Evaluation derzeit als Aus-
weis professioneller Fortschrittlichkeit, sodass nahezu alles, was früher als
Teamsitzung, Nachbereitung, Reflexion und Auswertung bezeichnet wurde,
nun als Evaluation auftritt. Und wie sich Evaluation zur Forschung verhält, wä-
re noch eine ganz eigene Frage.
Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden der Versuch unternommen
werden, zunächst qualitative Evaluationsforschung einerseits als einen eigen-
ständigen Typus qualitativer bzw. rekonstruktiver Sozialforschung und ande-
rerseits als eine voraussetzungsvolle Form von Evaluation zu beschreiben (1).
Darauf aufbauend soll in einem zweiten Schritt kurz der Stand der methodo-
logischen Diskussion zusammengefasst werden (2 und 3), um daran an-
schließend sich abzeichnende konzeptionelle und methodologische Heraus-
forderungen qualitativer Evaluationsforschung zu skizzieren (4). Im Schluss-
kapitel soll dann auf den Stand der Dinge im engeren Zusammenhang der
Sozialpädagogik eingegangen werden (5).

1. Qualitative Evaluationsforschung - was ist das?

Qualitative Evaluationsforschung als einen eigenständigen Forschungstyp zu


beschreiben, setzt zunächst eine Klärung dessen voraus, was dabei unter Eva-
luation zu verstehen ist. Man könnte sich die Antwort leicht machen und auf
eine häufig verwendete Definition zurückgreifen, die besagt, dass Evaluation
die Güte, den Nutzen oder den Wert ("merit", "worth" und "value") eines
Gegenstandes zu bestimmen habe (vgl. z.B. Scriven 1991, S. 139). D. Stuf-
flebeam (2001) variiert diese Definition, indem er die Rolle der Evaluation
vor allem darin sieht, eine "audience" zu unterstützen, die Güte oder den
Qualitative Evaluationsforschung 307
Nutzen eines Gegenstandes zu bestimmen (S. 11). B. Worthen, l.R. Sanders
und l.L. Fitzpatrick (1997) beziehen darüber hinaus in die Definition von
Evaluation die Bestimmung von Standards, anhand derer die Gegenstände
bewertet werden sollen, explizit mit ein: ,,Evaluation uses inquiry and judge-
ment methods inc1uding (1) determining standards for judging quality and
deciding whether those standards should be relative or absolute, (2) collect-
ing relevant information, and (3) applying the standards to determine value,
quality, utility, effectiveness, or significance. It leads to recommendations
intended to optimize the evaluation object in relation to its intended purpose"
(S. 5; Hervorh. im Orig.). Oder kurz: Evaluation ,,( ... ) is the identification,
c1arification, and application of defensible criteria to determine an evaluation
object's value (worth or merit), quality, utility, effectiveness, or significance
in relation to those criteria" (WortheniSanderslFitzpatrick 1997, S. 5). In die-
ser und ähnlich breit gefassten Definitionen bleibt es offen, ob für die Be-
stimmung der Güte oder des Wertes eines Gegenstandes wissenschaftliche
Methoden herangezogen werden (sollten) oder nicht. Dass wissenschaftliche
Verfahren als Grundlagen von Evaluationen keineswegs selbstverständlich
sind, wird deutlich, wenn z.B. M. Scriven (1991) betont, dass Evaluation als
eine "Transdisziplin" zu begreifen sei, deren Ursprünge in der Menschheits-
geschichte viel früher zu finden seien als die der Sozialwissenschaften (S.
141f.). Unweigerlich provozieren derartige Positionen die Frage nach dem
Verhältnis von sozialwissenschaftlicher Forschung und Evaluation.
Einen anderen Zugang wählen Definitionsversuche, die zwar Evaluatio-
nen als forschungsbasiert verstehen, jedoch vor allem auf die Nützlichkeit
und faktische Verwendung von Evaluationsergebnissen abzielen. M.Q. Pat-
ton - einer der großen und weithin anerkannten Namen in der amerikani-
schen Diskussion - ist der prominenteste Vertreter dieser Position: ,,1 use the
term evaluation quite broadly to inc1ude any effort to increase human effect-
iveness through systematic data based inquiry" (patton 1990, S. 11). Betont
wird in dieser Definition die Steigerung menschlicher Wirksamkeit auf der
Basis systematischer empirischer Analysen. Evaluation wird über ihre -
wenn es gut geht - Leistung, man könnte theoretisch auch strenger formulie-
ren: über ihre Funktion definiert. In einem ähnlichen, in den Details etwas
differenzierteren Sinne definiert auch W. Beywl Evaluation: Sie ,,( ... ) zielt
auf die Verbesserung gesellschaftlicher Praxis, in dem sie Programme, Maß-
nahmenbündel oder Materialien systematisch, d.h. methodisch angeleitet und
an Gütekriterien überprüfbar, beschreibt und bewertet" (Beywl 1988, S. 1).
Auch bei diesem Begriffsverständnis wird die Optimierung gesellschaftlicher
Praxis in das Zentrum gerückt; der Weg dorthin sind an Standards gebundene,
überpfÜfbare, empirisch-systematische Beschreibungen und Bewertungen.
Diese enge Verkoppelung von Evaluation im Sinne der empirischen Be-
schreibung und Bewertung und der Verwendung von Evaluationsergebnissen
im Sinne der Verbesserung gesellschaftlicher Praxis ist keineswegs selbstver-
ständlich, wie z.B. der Definitionsversuch von H. Kromrey (1995) zeigt. Er
308 Christian Lüders/Karin Haubrich

betont zunächst, dass Evaluation ,,( ... ) nichts weiter als ,Bewertung' meint
( ... )" (Kromrey 1995, S. 313) und grenzt Evaluation in einem fachsprachli-
chen Sinne zunächst durch vier Momente ein: Evaluiert werden Programme,
Maßnahmen, gelegentlich auch ganze Organisationen; sie werden durchge-
führt von Sachverständigen oder ,,( ... ) Experten für die zu bewertenden Sach-
verhalte (... )". Das Urteil erfolgt nach Kriterien, die ,,( ... ) explizit auf den zu
bewertenden Sachverhalt bezogen sein und vorher präzise festgelegt (... )"
sein müssen und schließlich ist das Verfahren zu objektivieren, d.h. ,,( ... ) im
Detail zu planen und in einem ,Evaluations-Design' verbindlich für alle Be-
teiligten festzuschreiben ( ... )" (1995, S. 313f.). Bei dieser Definition werden
keine Weltverbesserungsansprüche formuliert. Zwar begreift auch H. Krom-
rey (1995) Evaluationen als "anwendungsorientierte empirische Sozialfor-
schung" (S. 315): ,,Für sie gilt jedoch als ,hinderliche' Bedingung, dass im
Mittelpunkt nicht die Logik einer auf Erkenntnisgewinnung, Verallgemeine-
rung und Übertragbarkeit ausgerichteten Wissenschaft steht, sondern die
Handlungslogik eines auf ,Erfolg' seines Tuns ausgerichteten Praxisprojek-
tes, häufig eines staatlich-administrativen oder von sozialen Organisationen
getragenen Interventionsprogramms" (Kromrey 1995, S. 315). Was von den
einen also als konstitutives Moment von Evaluation ausgewiesen wird, er-
scheint aus anderer Perspektive als hinderlicher Faktor, wenn es um die Ein-
lösung von wissenschaftstheoretischen Ansprüchen geht.
Ein weiterer Zugang ergibt sich, wenn man den schon angesprochenen
Aspekt, dass Evaluation forschungsbasiert sei, aufnimmt und sich dem Ver-
hältnis von Evaluation und Evaluationsforschung zuwendet. Auch hier
herrscht keineswegs Einigkeit vor. So unterscheidet eine ganze Reihe von
Autoren und Autorinnen seit E. Suchmans 1967 erschienenem Buch ,,Eva-
luative Research" zwischen Evaluation und Evaluationsforschung (vgl. z.B.
RossilFreeman 1993, S. 5ff.; Wottawaffhierau 1998, S. 13ff.) - im Gegen-
satz etwa zu Ansätzen, die die Begriffe explizit oder de facto synonym ver-
wenden (vgl. z.B. Shaw 1999; Clarke 2000; Stockmann 2000b, S.ll). Eva-
luationsforschung bezeichnet dabei jede Evaluation, bei der (sozial)wissen-
schaftliche Forschungsmethodologien angewendet werden. Bei sonstigen
Evaluationen können dagegen auch andere Bewertungsmethoden eingesetzt
werden. Beispiele hierfür wären die verschiedenen Formen der Berichterstat-
tung, des Teamgesprächs und des Erfahrungsaustausches.
In der jüngeren deutschsprachigen Diskussion wurde mit der Erstellung
der Standards für Evaluation durch die Deutsche Gesellschaft für Evaluation
(DeGEval) insofern eine etwas anders gelagerte Unterscheidung zwischen
Evaluation und Evaluationsforschung getroffen, als - aus unserer Sicht irri-
tierender Weise - Evaluationsforschung mit Forschung über Evaluation
gleichgesetzt wird (Deutsche Gesellschaft für Evaluation 2002, S. 36).
Schon diese wenigen Zitate und Anmerkungen indizieren, auf welch
vielschichtiges, diffuses und gelegentlich auch heikles Feld man sich begibt,
wenn man von qualitativer Evaluationsforschung spricht. Da es in der Eva-
Qualitative Evaluationsforschung 309
luationsdebatte keine weithin favorisierte Definition von Evaluation gibt,
hilft nur noch die Flucht nach vorn. In einer ersten Annäherung scheint es uns
zunächst einmal hilfreich auf die von Suchman (1976) eingeführten Unter-
scheidung zwischen Evaluation und Evaluationsforschung zurückzugreifen.
Evaluation beinhaltet eine Vielzahl von Konzepten und Strategien, um
Verfahren, Maßnahmen, Programme und Organisationen bzw. Institutionen
etc. zu beschreiben und bewerten. Eine Form z.B. sind die verschiedenen An-
sätze der Selbstevaluation (vgl. z.B. v. Spiegel 1993; Liebald 1998); eine an-
dere Form sind bspw. sozialwissenschaftliche, forschungsbasierte Evaluatio-
nen, die meist aus der externen Perspektive erfolgen. Unter Evaluationsfor-
schung fassen wir dabei diejenigen Evaluationen, die sozialwissenschaftliche
Forschungsverfahren als Mittel der Erkenntnisgewinnung einsetzen und sich
an Standards der empirischen Sozialforschung orientieren. Der qualitativen
Evaluationsforschung wären dann jene Studien und Methodologien zuzuord-
nen, die auf primär qualitativen bzw. rekonstruktiven Verfahren der Sozial-
forschung und den entsprechenden Standards basieren und in deren Mittel-
punkt evaluative Fragestellungen und entsprechende Gegenstände stehen.
Dieses Verständnis bindet Evaluation und Evaluationsforschung nicht
unmittelbar an wie auch immer geartete praktische Optimierungsinteressen.
Zwar kann man sich die Frage stellen, ob es Sinn macht, Ressourcen für
Evaluationen aufzuwenden, wenn man danach nichts aus den Ergebnissen
lernen möchte. Aber erstens wäre darauf hinzuweisen, dass zumindest im
Alltag genau dies allzu häufig geschieht. Würde man Evaluation eng an Ver-
besserungs- oder etwas allgemeiner formuliert: Veränderungsabsichten kop-
peln, käme man angesichts dieser Fälle in konzeptionelle Schwierigkeiten.
Wichtiger - aus systematischen Gründen - ist uns aber eine zweite Überle-
gung: Die Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Verwendungsforschung
(vgl. Beck/ Bonß 1989; Lüders 1993) haben unmissverständlich deutlich ge-
macht, dass die Praxis sozialwissenschajtliches Wissen autonom nutzt. Auto-
nome Nutzung bedeutet, dass der Umgang mit wissenschaftlichem, d.h. theo-
riegeleitet gewonnenem und methodisch geprüftem Wissen den Eigenlogiken
der Praxis folgt und dass der praktische Umgang mit dem sozialwissen-
schaftlichen Wissen nicht von Seiten des Wissenschaftssystems plan-,
vorhersag- und steuerbar ist. Schließlich hat sich gezeigt, dass die Frage, ob
und unter welchen Bedingungen sozialwissenschaftliches Wissen praktisch
wird, offensichtlich nicht unbedingt von der Qualität dieses Wissens abhängt.
Es gibt keinen Grund, warum dies nicht auch für die Evaluationsforschung
gelten sollte.
Dies hat zur Konsequenz, dass ein Verständnis von Evaluation z.B. im
Sinne von W. Bewyl oder M.Q. Patton unvermeidlich in unauflösbare ver-
wendungstheoretische Probleme führt (vgl. hierzu auch HaubrichlLüders
310 Christian Lüders/Karin Haubrich

2001).1 Aus diesem Grund erscheint es uns hilfreich, Evaluationsforschung


als einen eigenständigen Forschungstyp zu verstehen und die praktischen und
politischen Voraussetzungen sowie die Einbettung dieser Forschung bzw.
den praktischen Umgang mit ihren Ergebnissen als ein eigenes Thema zu
diskutieren. 2
Dieses Verständnis von Evaluation und qualitativer Evaluationsfor-
schung ist mit einer Reihe von Herausforderungen und offenen Fragen ver-
bunden, auf die weiter unten eingegangen werden soll.

2. Zum Stand der Diskussion

Versucht man den Stand der Diskussion zur qualitativen Evaluationsfor-


schung zusammenzufassen, muss zunächst festgestellt werden, dass im
deutschsprachigen Raum so gut wie keine eigenständige Diskussion existiert.
Im Kontext der hiesigen qualitativen Methodologiediskussion wird das The-
ma - wie eingangs erläutert - mit großer Beharrlichkeit ausgeklammert.
Zwar gibt es eine Reihe von qualitativ angelegten Evaluationsstudien, doch
methodologische Reflexionen ihrer Voraussetzungen und Erfahrungen, Her-
ausforderungen und Schwierigkeiten fehlen weitgehend - zumindest sind sie
nicht veröffentlicht (vgl. Lüders 2002).
Demgegenüber zeichnet sich die englischsprachige und dabei vor allem
die nordamerikanische Diskussion durch ein breites Spektrum von Arbeiten
zu diesem Themenkomplex aus. Sieht man einmal von zahlreichen empiri-
schen Studien ab, lassen sich drei Zugänge zum Thema unterscheiden:

• Ein erster Zugang besteht darin, dass die Autorinnen und Autoren sich
auf ein spezifisches Anwendungsfeld von Evaluation (wie Programm-
evaluation, Politikevaluation, Personalevaluation) konzentrieren, um
dann die unterschiedlichen Forschungsverfahren in diesem Zusammen-

Man kann die strategische Bedeutung dieses Arguments gar nicht oft genug betonen ange-
sichts einer Diskussionslage, bei der der weit überwiegende Teil aller einschlägigen Auto-
rinnen und Autoren regelmäßig die Nutzungsorientierung, die Anwendungsperspektive, die
Entscheidungsrelevanz u.ä. als wesentliche Besonderheiten von Evaluation bzw. Evaluati-
onsforschung ausweisen. Ein exemplarisches Beispiel für diese Position sind die Formulie-
rungen von H. Kromrey: ,,zur Evaluation wird empirische Wissenschaft somit nicht durch
die Methode, sondern durch ein spezifisches Erkenntnis- und Verwertungsinteresse"
(Kromrey 2000, S. 22; Hervorh. im Orig.). H. Kromrey (2000) spricht vom ,,Primat der
Praxis". In diesem Sinne sei das Ziel von Evaluation, ,,( ... ) wissenschaftliche Verfahren
und Erkenntnisse einzubringen, um sie für den zu evaluierenden Gegenstand nutzbar zu
machen. Wissenschaft liefert hier - ähnlich wie im Ingenieurwesen - Handlungswissen für
die Praxis" (Kromrey 2000, S. 23; Hervorh. im Orig.).
2 Als ein anregender Versuch in diese Richtung für den Bereich schulbezogener vergleichen-
der Leistungsstudien vgl. Terhart 2002.
Qualitative Evaluationsjorschung 311
hang zu diskutieren. Qualitative Verfahren der Sozialforschung haben in
einer Reihe dieser Darstellungen einen festen, wenn auch - je nach Per-
spektive der Autorinnen und Autoren - unterschiedlich umfänglichen
bzw. systematischen Platz. Charakteristische Beispiele aus dem Bereich
der Programmevaluation sind z.B. der Sammelband von W.R. Shadish
Jr., Th.D. Cook und Laura C. Leviton (1991) mit dem Beitrag von RE.
Stake (1991), der Beitrag von S.L. Caudle (1994) in dem Handbuch von
J.S. Wholey, H.P. Hatry und K.E. Newcomer (1994) und das Kapitel
"Collecting, Analyzing, and Interpreting Qualitative Information" in dem
Grundlagenwerk von B.R Worthen, J.R Sanders und J.L. Fitzpatrick zur
Programmevaluation (1997, S. 371ff.). Als ein weiteres Beispiel für die-
sen Zugang wäre aus der Perspektive der Politikevaluation die Monogra-
phie von W. Bussmann, U. Klöti und P. Knoepfel (1997) aus dem
deutschsprachigen Raum zu nennen.
• Ein zweiter Zugang besteht über die Forschungsdisziplinen bzw. die For-
schungsfelder. In dem hier anstehenden Zusammenhang interessieren
dabei vor allem die erziehungswissenschaftlichen und sozialpädagogi-
schen bzw. sozialarbeiterischen Perspektiven. Da sich im englischspra-
chigen Bereich erziehungswissenschaftliche Forschung zu wesentlichen
Teilen auf Schule und Hochschule bezieht und zugleich Evaluation eine
selbstverständliche Komponente nahezu aller Programme darstellt, liegen
hierzu auch die meisten Arbeiten vor (vgl. z.B. Fetterman 1984, 1988;
LeComptelPreissleffesch 1993). Einen guten Überblick über die Para-
digmen im Bereich qualitativ angelegter erziehungswissenschaftlicher
Evaluationsforschung liefern nach wie vor M.A. PitmanlJ.A. Maxwell
(1992). Einen exemplarischen Überblick über die Diskussion in der So-
zialarbeit gibt der Reader von I. Shaw und J. Lishman (1999). Anwen-
dungsbeispiele qualitativer und quantitativer Methoden in den Bereichen
Kriminalitätsprävention, Gesundheitspflege und Schulen finden sich bei
A. Clarke und R Dawson (2000). Im deutschsprachigen Raum wurden
v.a. in der Reihe ,,Materialien zur Qualitätssicherung in der Kinder- und
Jugendhilfe" des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend Anwendungsbeispiele qualitativer Methoden überwiegend im
Kontext der Selbstevaluation dokumentiert.
• Ein dritter Zugang ergibt sich, wenn man die qualitativen Methodologien
der Evaluationsforschung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellt.
Da dieser Zugang für die qualitative Methodologiediskussion von zen-
tralem Interesse ist, sollen im Folgenden die Positionen der beiden ge-
genwärtig wichtigsten Autoren vorgestellt werden.
312 Christian Lüders/Karin Haubrich

3. Qualitative Methoden in der Evaluationsforschung -


bereits eine Selbstverständlichkeit?

Wer sich über qualitative Evaluationsforschung informieren will, kommt der-


zeit nicht umhin, zwei englischsprachige Bücher zu lesen: M.Q. Pattons fast
schon zum Klassiker avancierte Arbeit "Qualitative Research and Evaluation
Methods", die gerade in einer Neuauflage erschienen ist (Patton 2002; vgl.
auch Patton 1987), und die Studie von I. Shaw "Qualitative Evaluation"
(1999). Zu erwähnen sind schließlich auch die Arbeiten von R. Stake (1991,
1995) sowie von E.G. Guba und Y. Lincoln (1981, 1989), die wesentlich für
die Weiterentwicklung qualitativer Evaluation in der nordamerikanischen
Diskussion verantwortlich waren (vgl. Beywl 1988, S. 139ff.; Grohmann
1997, S. 57ff.; v. Kardorff2000, S. 24Iff.).
In beiden Büchern von M.Q. Patton und I. Shaw ist nur noch wenig zu
spüren von dem in den 60er/70er Jahre in den Sozialwissenschaften ausgetra-
genen Methodenstreit über den Einsatz quantitativer oder qualitativer Verfah-
ren und deren epistemologischen Grundlagen. In der Evaluationsforschung
wird im englischsprachigen und dabei vor allem im nordamerikanischen Dis-
kussionszusammenhang vielmehr betont, dass in Abhängigkeit vom Zweck
der Evaluation die geeigneten Erhebungsmethoden gewählt werden müssen,
um den Gegenstand möglichst genau und vollständig beschreiben und be-
werten zu können. 3
Gleichwohl gibt es hinsichtlich des Stellenwerts qualitativer Verfahren in
der Evaluationsforschung unterschiedliche Positionen, die in der nordameri-

3 Auch in den Standards des Joint Committee on Standards for Educational Evaluation fmdet
diese Position ihren Niederschlag: "Die Verfahren zur Infonnationsgewinnung sollten so
gewählt oder entwickelt und dann umgesetzt werden, dass die Gültigkeit der gewonnenen
.nterpretationen fur den gegebenen Zweck sichergestellt ist" (G5 Valide Infonnationen)
(Joint Committee 1999, S. 175) und ,,( ...) dass die Zuverlässigkeit der gewonnenen inter-
pretationen für den gegebenen Zweck sichergestellt ist" (06 Reliable Infonnationen) (Joint
Committee 1999, S. 183). Dabei wird weder den qualitativen noch den quantitativen Ver-
fahren ein Vorrang eingeräumt; für die Analyse gewonnener Infonnationen wurde vielmehr
fur qualitative und quantitative Verfahren jeweils ein eigener Standard (G8 und G9) fonnu-
liert. In den Erläuterungen zu den Standards wird deutlich, dass eine Mischung unter-
schiedlicher Verfahren als das Ideal angesehen wird: ,,Die Verwendung einer Kombination
von Verfahren erhöht die Validität, da die Stärken eines Ansatzes die Schwächen eines an-
deren ausgleichen können" (Joint Committee 1999, S. 176). Auch in den deutschen Stan-
dards wurde diese Position übernommen: "Die Verfahren zur Gewinnung von Daten sollen
so gewählt oder entwickelt und dann eingesetzt werden, dass die Zuverlässigkeit der ge-
wonnenen Daten und ihre Gültigkeit bezogen auf die Beantwortung der Evaluationsfrage-
stellungen nach fachlichen Maßstäben sichergestellt sind. Die fachlichen Maßstäbe sollen
sich an den Gütekriterien quantitativer und qualitativer Sozialforschung orientieren" (Deut-
sche Gesellschaft für Evaluation 2001, S. 23). Für die Auswahl der adäquaten Erhebungs-
und Analyseverfahren ,,( ... ) sollen Vorlieben der auswertenden Personen keine Rolle spie-
len" (Joint Committee 1999, S. 25).
Qualitative Evaluationsforschung 313

kanischen Evaluationsforschung deutlich diskutiert werden - in der deut-


schen Diskussion dagegen eher implizit bleiben.

3.1 Horsesfor courses?

In der nordamerikanischen Evaluationsdiskussion dominiert ein methodischer


und methodologischer Pragmatismus. M.Q. Patton ist einer der renommier-
testen Vertreter dieser Position: "In short, in real-world practice, methods
can be separatedfrom the epistemology out ofwhich they have emerged. One
can use statistics in straightforward ways without doing a philosophical lit-
erature review of logical empiricism or realism. One can make an interpreta-
tion without studying hermeneutics. And one can conduct open-ended inter-
views or make observations without reading treatises on phenomenology. The
methods of qualitative inquiry now stand on their own as reasonable ways to
find out what is happening in programs and other human settings" (Patton
2002, S. 136f.; Hervorh. im Orig.)
Ebenso pragmatisch wie in Bezug auf die epistemologischen Grundlagen
unterschiedlicher Forschungs- und Evaluationsmethoden argumentiert M.Q.
Patton auch im Hinblick auf das Verhältnis zwischen quantitativen und qua-
litativen Methoden. Beide hätten ihre Stärken und Schwächen und bedingten
alternative, aber sich gegenseitig nicht ausschließende Forschungsstrategien
(Patton 2002, S. 14). Um einen Forschungs- bzw. Evaluationsgegenstand
möglichst umfassend und angemessen beschreiben zu können, favorisiert
M.Q. Patton (2002) - wie auch der mainstream nordamerikanischer Evaluati-
onsforscher - einen Methodenmix. ,,Measurement, design, and analysis alter-
natives can be mixed to create eciectic designs, like customizing an architec-
tural plan to tastefully integrate modern, postmodern, and traditional ele-
ments, or preparing an elegant dinner with a French appetizer, a Chinese en-
tree, and an American desert - not to everybody's taste, to be sure, but the
possibilities are endless" (patton 2002, S. 248). Dabei betont er die Vorteile
einer sich wechselseitig ergänzenden Perspektive qualitativer und quantitati-
ver Verfahren, da jede Methode in besonderem Maße geeignet sei, bestimmte
Fragen zu beantworten und bestimmte Aspekte der Wirklichkeit zu beleuch-
ten: "Triangulation strengthens a study by combining methods. This can
mean using several kinds of methods or data, inciuding using both quantita-
tive and qualitative approaches" (Patton 2002, S. 247; siehe auch S. 555ff.).
Dahingegen wendet sich I. Shaw gegen eine pragmatische Position, die
eine Kombination qualitativer und quantitativer Methoden zum Königsweg
erklärt. Er argumentiert, dass quantitative und qualitative Methoden nicht un-
bedingt zu vereinbarenden Ergebnissen kämen. Bei gemischten Methodenan-
sätzen müsste daher überlegt werden, wie man mit entstehenden Diskrepan-
zen umginge und wie diese zu erklären seien. Zugleich wendet er sich gegen
eine, wie er es nennt, ,,horses for courses"-Vorstellung: "The lurking suspi-
314 Christian Lüders/Karin Haubrich

cion remains, however, that in a world of sunny days and dry evaluation race
courses the methods of choice are those wh ich will promise us firm informa-
tion ab out outcomes, effects and efficiency. While qualitative evaluation will
do when the course is soft, the ground will sooner or later dry out and it will
become possible and desirable to find out whether programmes, policies or
projects have had any measurable effect" (Shaw 1999, S. 2). Qualitative
Methoden seien aus dieser Perspektive gerechtfertigt, wenn noch keine Klar-
heit über die angestrebten und möglichen Ergebnisse bestünde und die Studi-
en eher explorativ angelegt werden müssten.
Demgegenüber - und im Unterschied zu M.Q. Patton - argumentiert I.
Shaw (1999), dass qualitative Methoden angesichts der spezifischen Heraus-
forderungen und Beschränkungen, mit denen Evaluationen konfrontiert seien,
in der Regel zur Methodologie der Wahl werden: "The particular challenges
and constraints facing evaluation will usually require qualitative evaluation
as the methodology of choice" (S. 5). Er bezeichnet dies als eines seiner
,,Leitmotive" seiner Argumentation und bezieht sich dabei auf eine Reihe von
Entscheidungskriterien für den Einsatz eines qualitativen Evaluationszugan-
ges, die von D.D. Williams (1986) ausgearbeitet wurden:

• ,,Evaluation issues are not clear in advance.


• Official definitions of the evaluand are not sufficient, and insider
('emic') perspectives are needed.
• 'Thick description' ( ... ) is required.
• It is desirable to convey the potential for vicarious experience of the
evaluand on the part of the reader.
• Formative evaluation, aimed at improving the programme, policy or
practice, is appropriate.
• The outcome includes complex actions in natural settings.
• Evaluation recipients want to know how the evaluand is operating in its
natural state.
• There is time to study the evaluand through its natural cycle. The true
power of naturalistic evaluation is dissipated if there is not time to ob-
serve the natural functions of the evaluand in their various forms.
• The situation permits intensive inquiry, without posing serious ethical
obstacles.
• The evaluand can be studied unobtrusively, as it operates, and in an ethi-
cal way.
• Diverse data sources are available.
• There are resources and consent to search for negative instances and
counterevidence.
• There is sufficient customer and end-user agreement on methodological
strategy" (Shaw 1990, S. 14f.).
Qualitative Evaluationsjorschung 315
Bei genauer Hinsicht zeigt sich allerdings, dass diese Kriterien nur begrenzt
weiterhelfen. Sie nehmen sehr Unterschiedliches in den Blick, übertragen be-
kannte und zumindest teilweise naive Ansprüche qualitativer Sozial forschung
auf den Bereich Evaluation, ohne zu fragen, wie z.B. eine unauWiliige ("un-
obtrusive") Evaluation überhaupt vorstellbar ist. Es wird nicht klar, ob schon
ein Kriterium ausreicht, einen qualitativen Zugang zu bevorzugen - was zur
Folge hätte, dass eigentlich nur noch qualitative Verfahren im Bereich der
Evaluationsforschung in Frage kämen, weil kaum ein Evaluationsprojekt denk-
bar ist, bei dem nicht mindestens eines dieser Kriterien erfüllt ist - oder ob es
mehrerer Kriterien bedarf, und wenn ja welcher.
I. Shaw (1999) hat die Probleme wohl selbst gesehen, denn er fährt un-
mittelbar im Anschluss fort: "One may be forgiven for thinking that this pro-
vides a powerful battery of reasons for qualitative evaluation" (S. 15). Letzt-
endlich bleibt sein eigener Standpunkt - auch in der Gegenüberstellung zu
M.Q. Patton - reichlich vage und für die Forschungspraxis wenig hilfreich.
Er favorisiert keinen epistemologischen Purismus; eklektizistischen Pragma-
tismus - was immer darunter jeweils im Einzelnen verstanden werden mag -
unterstützt er jedoch noch weniger: "It will become dear that I am unhappy
with the rhethoric of paradigms, although I am equally, perhaps more, dis-
mayed whenever naive methodological pragmatism surfaces in evaluation"
(Shaw 1999, S. 16).
Deutlicher wird seine Gegenposition hinsichtlich der Frage der Nut-
zungsorientierung von Evaluationen, die mit dem methodologischen Prag-
matismus M.Q. Pattons eng verknüpft ist. Nach M.Q. Pattons Ansatz der
"utilization-focused evaluation" (1997) soll die Frage der Nützlichkeit und
Verwendbarkeit von Evaluationsergebnissen die Vorbereitung, Planung, Um-
setzung und Auswertung der Evaluation leiten. Notwendig ist dafür die Klä-
rung der Nutzungsabsichten mit den "intendierten Nutzern", also mit kon-
kreten Personen, so genannten "stakeholders" (Beteiligte und Betroffene), die
an den Evaluationsergebnissen ein ernsthaftes Interesse haben. Geklärt wer-
den muss, welche Fragen beantwortet werden müssen und was dies für die
Bestimmung des Evaluationsgegenstandes, die Anlage der Studie, die Wahl
der Verfahren etc. bedeutet und wie durch die intendierten Nutzer die Ergeb-
nisse der Evaluation tatsächlich genutzt werden sollen. I. Shaw (1999) hält
hier sehr deutlich dagegen: "We should not be persuaded for example, by the
rationalist grounds on which Patton (1988) defends an instrumentalist theory
of use" (S. 94). Er argumentiert unter Bezugnahme auf die Arbeiten von C.
Weiss (1980) und E. Chelimsky (1997), dass die Verwendung von For-
schungsergebnissen meist nicht im Sinne instrumenteller Nutzung erfolge,
sondern - im günstigen Fall - als diffus wirkende Aufklärung ("enlighten-
ment") (Shaw 1999, 27ff. und 92ff.). Zudem ließen enlightenment-Modelle
eher Raum für qualitative Erhebungs- und Auswertungsverfahren, weil Ver-
stehen und Theoriebildung hierbei stärkeres Gewicht zukomme. M.a.W.:
Ähnlich, wie wir zuvor schon argumentiert haben, ist I. Shaw vor dem Hin-
316 Christian Lüders/Karin Haubrich

tergrund der Ergebnisse der empirischen Verwendungsforschung und der


breiten Debatte zum Umgang mit sozialwissenschaftlichem Wissen (vgl. Z.B.
Böhme1Stehr 1986) skeptisch hinsichtlich einer grundsätzlichen Orientierung
der Evaluationsforschung an den intendierten Nutzungsabsichten und Nut-
zungsmöglichkeiten.

3.2 Die Frage nach der Qualität qualitativer Forschung und


qualitativer Evaluation

So unterschiedlich die Positionen von M.Q. Patton und I. Shaw hinsichtlich


der Aspekte "methodologischer Pragmatismus" und ,,Nutzungsorientierung"
von Evaluationen auch sind, so weisen sie doch eine große Übereinstimmung
darüber auf, inwiefern sich qualitative Methoden in Forschung und Evaluati-
on unterscheiden und worin Gemeinsamkeiten bestehen. Beide gehen davon
aus, dass qualitative Methoden in erster Linie Forschungsmethoden sind, die
gleichermaßen auch in der Evaluationsforschung angewendet werden kön-
nen. Betont wird von beiden, dass Forschung und Evaluation sich in ihrer
Zwecksetzung unterscheiden. Während Forschung die Wirklichkeit beschrei-
ben will und einen Beitrag zur Theorieentwicklung leisten soll, ist der Zweck
der Evaluation, die Güte, den Nutzen oder den Wert eines Gegenstandes zu
bestimmen (Shaw 1999, S. 8ff.; Patton 2002, S. 9ff.). M.Q. Patton (2002)
betont: ,,Purpose is the controlling force in research. Decisions about design,
measurement, analysis, and reporting all flow from purpose" (S. 213).4
Entlang eines Kontinuums von Theorie zu Praxis unterscheidet er ver-
schiedene Zwecksetzungen:

,,1. Basic research: To contribute to fundamental knowledge and theory


2. Applied research: To illuminate a societal concern
3. Summative evaluation: To determine program effectiveness
4. Formative evaluation: To improve a program
5. Action research: To solve a specific problem" (Patton 2002, S. 213).

Die Standards für die Beurteilung der Qualität einer qualitativen Studie hän-
gen dementsprechend von der jeweiligen Zwecksetzung ab. Leistungen von
Forschung und Evaluation werden daher an jeweils anderen Kriterien gemes-
sen. M.Q. Patton (2002) benennt als Beurteilungsstandards für

1) Grundlagenforschung: die Rigorosität der Forschung und die Universa-


lität sowie Verifizierbarkeit der Theorie

4 Aus dem Zusammenhang des Zitates wird deutlich, dass mit ,,research" hier auch "evalua-
tion research" gemeint ist.
Qualitative Evaluationsforschung 317

2) Anwendungsforschung: die Rigorosität und theoretische Einsichten in


bestimmte Probleme
3) Summative Evaluation: die Generalisierbarkeit hinsichtlich zukünftiger
Initiativen, anderer Programme und "policy issues"
4) Formative Evaluation: die Nützlichkeit und tatsächliche Nutzung der Er-
gebnisse durch die intendierten Nutzer im untersuchten "setting"
5) Aktionsforschung: die den Prozess zwischen den Forschungsbeteiligten
betreffenden Gefühle und die Durchführbarkeit gefundener Lösungen (S.
224).

Es fällt auf, dass nur bei der so genannten Grundlagen- und Anwendungsfor-
schung die Rigorosität der Methoden als Beurteilungsstandard explizit ge-
nannt und bei der summativen Evaluation mit Generalisierbarkeit ein Stan-
dard der Forschung postuliert wird. Nützlichkeit und tatsächliche Nutzung
von Evaluationsergebnissen innerhalb des "settings", das evaluiert wird, sind
dagegen Standards, die keine Entsprechung in der Wissenschaft finden.
Gleichwohl würde M.Q. Patton - ebenso wie I. Shaw - wohl zustimmen,
dass wissenschaftliche Gütekriterien auch bei der Evaluationsforschung, die
mit wissenschaftlichen Methoden arbeitet, anzuwenden sind.5 In den deut-
schen und amerikanischen Standards für Evaluation wird ebenfalls betont,
dass die eingesetzten Instrumente und gewonnenen Informationen den Güte-
kriterien wissenschaftlicher Forschung, insbesondere Validität und Reliabili-
tät, unterliegen und daran zu messen sind. Es besteht also ein weithin akzep-
tierter Konsens, dass auch an Evaluationen - sofern sie mit wissenschaftli-
chen Methoden arbeiten - die entsprechenden wissenschaftlichen Gütekrite-
rien angelegt werden müssen. 6
Der Beurteilung der Güte und Qualität einer Evaluationsstudie werden
damit jedoch zwei vollkommen verschiedene Bewertungssysteme zugrunde
gelegt: Während auf der einen Seite Evaluationsforschung den Anforderun-
gen der wissenschaftlichen Forschung zu entsprechen hat, soll sie auf der an-
deren Seite die Erwartungen hinsichtlich einer Weiterentwicklung der Praxis
erfüllen. Diese unterschiedlichen Standards können aber zu Widersprüchen
führen. Obwohl von M.Q. Patton, I. Shaw und vielen anderen Evaluations-
forschern gesehen wird, dass der Einsatz qualitativer Methoden in Evaluatio-
nen in aller Regel anderen Bedingungen unterliegt als in dem, was üblicher-
weise Grundlagenforschung genannt wird, vermeidet man zu thematisieren,
welche Widersprüche das Anlegen unterschiedlicher Standardsysteme an

5 Beide Evaluationsforscher bestätigten diese Position bei mündlichen Nachfragen während


bzw. im Anschluss an Veranstaltungen, die sie auf der Annual Conference der American
Evaluation Association im November 200 I in St. Louis anboten.
6 Sowohl die amerikanischen, aber noch deutlicher die deutschen Standards bergen damit aus
unserer Sicht einen Widerspruch bzw. eine Unklarheit in sich, wenn sie einerseits von
Evaluationen sprechen und eben nicht nur solche meinen, die den wissenschaftlichen Krite-
rien genügen, gleichzeitig aber die Güte der Evaluation daran messen.
318 Christian Lüders/Karin Haubrich

Evaluationsforschung nach sich zieht. Ebenfalls wird nicht diskutiert, wie


sich diese widersprüchlichen Anforderungen auf die Anwendung qualitativer
Methoden in der Evaluationsforschung auswirken. Immerhin nähert sich
M.Q. Patton (2002) diesem Problem an, indem er in seinem neuen Buch fünf
Typen von Kriterien ,,( ... ) from different perspectives and within different
philosophical frameworks ( ... )" (S. 542) zur Beurteilung der Qualität qualita-
tiver Forschung herausarbeitet - und zwar gewissermaßen querliegend zu
Anwendungsfeldern, wie sie zuvor von ihm in einem Kontinuum von Theorie
zu Praxis unterschieden wurden:
"The five contrasting and to some extent competing sets of criteria flow
from the following:

Traditional scientific research criteria


Social construction and constructivist criteria
Artistic and evocative criteria
Critical change criteria
• Evaluation standards and principles" (patton 2002, S. 542).

M.Q. Patton (2002) betont, dass obwohl jedes dieser Kriteriensysteme in sich
kohärent ist und anderen zum Teil widerspricht, ,,( ... ) many researcher mix
and match approaches" (S. 551). Auch im Hinblick auf die Kombination un-
terschiedlicher Kriteriensysteme dominiert in seiner Argumentation eine
pragmatische und "utilization-focused" Orientierung: ,,As an evaluator, I
have worked with and mixed criteria from all five frameworks to match par-
ticular designs to the needs and interests of specific stakeholders and clients"
(Patton 2002, S. 551). Er sieht zwar, dass dadurch Widersprüche aufgeworfen
werden: ,,Mixing and combining criteria means dealing with the tensions
between them" (patton 2002, S. 551). Er geht aber nicht näher darauf ein,
dass jede Evaluation per se, sobald sie auf wissenschaftlichen Methoden be-
ruht, den Widerspruch zwischen mindestens zwei Kriteriensystemen bein-
haltet. Denn jede Evaluation kann an den Standards für Evaluation gemessen
werden, gleichzeitig beruht die Wahl der Methoden - folgt man M.Q. Patton
- auf einem der vier "philosophischen Bezugssysteme": traditionelle wissen-
schaftliche Forschung, konstruktivistische, evokative oder kritische For-
schungsansätze. Das Spannungs verhältnis zwischen der Beantwortung der
Frage nach Wahrheit und nach Nützlichkeit ist damit in der Evaluationsfor-
schung immer präsent - und keine Folge davon, Ansätze und Bezugssysteme
zu mischen und zu kombinieren. Denn wahre und sozialwissenschaftlich gül-
tige Ergebnisse müssen noch lange nicht praktisch hilfreich oder für die Nut-
zer akzeptabel sein. Und umgekehrt können im Sinne von Nützlichkeit und
Verwendung angestrebte Ergebnisse zwar relevant sein für Entscheidungen,
die die Verantwortlichen bereit sind zu treffen, nicht aber für solche, die
vielleicht vor dem Hintergrund einer fachlichen Debatte angemessener wären
(vgl. auch HaubrichlLüders 2001).
Qualitative Evaluationsforschung 319

4. Herausforderungen

Selbst in der differenzierter geführten englischsprachigen Debatte über qua-


litative Evaluationsforschung wird die aus unserer Sicht zentrale methodolo-
gische Frage, die mit der Verwendung qualitativer Methoden der Sozialfor-
schung für den Zweck der Bewertung von Untersuchungsgegenständen auf-
geworfen wird, nicht einmal ansatzweise diskutiert. M.Q. Patton nähert sich
dieser Frage zwar mit seiner Differenzierung unterschiedlicher wissenschaft-
licher und evaluationsbezogener Kriteriensysteme für die Bewertung der
Qualität qualitativer Studien ein Stück weit an. Er belässt es aber bei der
Schlussfolgerung, dass man eben als Evaluator oder Evaluatorin mit dem
Spannungsverhältnis zwischen unterschiedlichen Kriteriensystemen umgehen
müsse. Die methodologische Frage, wie eine Bewertung der Güte oder des
Nutzens eines Untersuchungsgegenstandes als Ergebnis qualitativer For-
schung möglich ist und welche Gütekriterien hierfür herangezogen werden
können, bleibt damit jedoch weiterhin unbeantwortet. Gerade wenn man, wie
wir zuvor, Evaluation als einen eigenständigen Forschungstyp begreift, muss
man sich der mit dieser Frage verbundenen Herausforderung stellen. Auf der
Suche nach Antworten gehen wir von der - zunächst defensiven, in der Sache
aber erschwerenden - These aus, dass die weithin bekannten Verfahren qua-
litativer Sozialforschung nicht ohne weiteres auf den Bereich Evaluation
übertragen werden können.?
Die Argumentation dafür ist einfach und erfolgt in zwei Schritten. In ei-
nem ersten Schritt ist eine folgenreiche Unterscheidung der bewertenden In-
stanzen zu berücksichtigen: Wenn man etwas qualitativ-forschungsbasiert
evaluieren möchte, hat man prinzipiell zwei MöglichkeitenH:

• Eine Möglichkeit besteht darin, Personen um ihre Bewertung zu befra-


gen, von denen man annimmt, dass sie den Evaluationsgegenstand an-

7 Die Gegenposition hierzu würde z.B. behaupten, dass ,,( ... ) keine prinzipiellen Unterschiede
(... ) zwischen Evaluations- und Grundlagenforschung im Hinblick auf die Auswahl des
Untersuchungsgegenstandes sowie die Verwendung von Datenerhebungs- und Analyse-
methoden zur Identifizierung von Wirkungen und die Bearbeitung der Kausalitätsfrage zu
erkennen (sind)" (Stockmann 2000b, S. 12; vgl. ähnlich Kromrey 2000, S. 22). Indem die
meisten Autoren und Autorinnen bei ihren Darstellungen und Einführungen in den Bereich
"Qualitative Evaluation" die aus der allgemeinen Diskussion um qualitative Sozialfor-
schung bekannten Paradigmen, qualitativen Methodologien und Methoden einfach über-
nehmen, gehen sie implizit von der gleichen Annahme aus, ohne diese jedoch eigens zu
diskutieren.
8 Rein theoretisch gibt es eine dritte Möglichkeit: Man betreibt wie gewohnt empirische So-
zialforschung und überlässt die Bewertung Dritten, also der Fachdiskussion, den Auftrag-
gebern, letztendlich allen Leserinnen und Lesern. Weil damit aber der Begriff Evaluations-
forschung vollständig entgrenzt würde, werden wir diese Möglichkeit nicht weiter diskutie-
ren.
320 Christian Lüders/Karin Haubrich
gemessen kennen und einschätzen können. Dies können die Akteure der
Maßnahmen, des Programms bzw. die Angehörigen der Organisation
selbst sein, dies können programmexterne Expertinnen und Experten sein
und dies können schließlich auch die betroffenen Adressatinnen und
Adressaten oder die Nutzerinnen und Nutzer sein. Selbstverständlich
können diese auch beobachtet werden, und es können entsprechende Do-
kumente oder Materialien analysiert werden. In diesen Fällen besteht die
Evaluation in der systematisierenden Beschreibung bzw. Rekonstruktion
der Bewertungen der Beteiligten und es ist Aufgabe der Evaluationsfor-
schung, die unterschiedlichen Einschätzungen sichtbar zu machen (a).
• Die Alternative hierzu wäre, dass der Evaluator bzw. die Evaluatorin
Daten erhebt, die ausreichend Informationen über den Gegenstand ent-
halten, um diesen dann selbst zu bewerten. Dabei ist es zunächst gleich-
gültig, woher die Kriterien der Bewertung stammen. Entscheidend ist aus
methodologischen Gründen zunächst, dass Forschung die übliche Positi-
on der distanzierten Beschreibung und Analyse ausdrücklich verlässt und
selbst explizit zur wertenden Instanz wird (b).

In vielen Fällen - auch weil die beiden Alternativen oft nicht präzise genug
auseinander gehalten werden - findet in Evaluationsprojekten beides, nicht
selten implizit, statt. Evaluatorinnen und Evaluatoren nutzen dann die Analy-
sen der Bewertungen der Beteiligten, um ihre eigenen Einschätzungen zu be-
gründen und umgekehrt. Aus methodologischer Sicht ist allerdings von zen-
traler Bedeutung, dass beide Zugänge je spezifische, bislang weitgehend un-
gelöste und undiskutierte Herausforderungen enthalten, sodass in einem
zweiten Schritt diese genauer unter die Lupe zu nehmen sind.
Ad (a): Akzeptiert man zunächst das Postulat der Gegenstandsangemes-
senheit von qualitativen Methoden, also die Einsicht, dass Forschungsverfah-
ren, Fragestellung und Untersuchungsgegenstand in einem gegenseitigen
Passungsverhältnis stehen müssen bzw. - konstruktivistisch gesprochen -
sich gegenseitig konstituieren, so ergibt sich daraus, weil Bewertungen ein
spezifischer Analysegegenstand sind und die entsprechenden Fragestellungen
besondere Antworten erfordern, dass auch die dafür notwendigen Verfahren
diesen Besonderheiten "gerecht" werden müssen.
Wenn nun qualitative Evaluationsforschung ihre Aussagen wesentlich
auf den Bewertungen der Beteiligten basieren möchte, muss sie akzeptieren,
dass sie es - so unsere These - mit einem spezifischen Analysegegenstand zu
tun hat. Da tragfähige Theorien, die diese These plausibel machen könnten,
soweit zu sehen, nicht zur Verfügung stehen, helfen wir uns mit einer argu-
mentativen Hilfskonstruktion. Wir greifen dazu auf das Konzept der kommu-
nikativen Gattungen zurück (vgl. Luckmann 1986). Kommunikative Gattun-
gen in diesem Sinne sind gesellschaftlich verfestigte Handlungs- bzw. Kom-
munikationsmuster. ,,Die allgemeine Funktion dieser Gattungen der allge-
meinen Kommunikation besteht darin, dass in und mit ihnen Ereignisse,
Qualitative Evaluationsforschung 321
Sachverhalte und allgemein: intersubjektive Erfahrungen der Lebenswelt
unter verschiedenen Sinnkriterien in mehr oder weniger verbindlichen For-
men thematisiert, bewältigt, vermittelt und tradiert werden" (Bergmann 1999,
S; 40). In diesem Sinne gehen wir davon aus, dass auch Bewerten - im weite-
ren Sinne - eine derartige spezifische Kommunikations-, Interaktions- bzw.
Handlungsform darstellt.
Erleichtert wird die dafür notwendige Beweisführung durch die Ergeb-
nisse des Konstanzer DFG-Forschungsprojektes ,,Moral. Formen der kommu-
nikativen Konstruktion von Moral. Gattungsfamilien der moralischen Kom-
munikation in informellen, institutionellen und massenmedialen Kontexten",
dessen wesentliche Ergebnisse in beiden von J. Bergmann und Th. Luckmann
herausgegebenen Bänden "Kommunikative Konstruktion von Moral" (Berg-
mannlLuckmann I 999a,b) veröffentlicht wurden. Obwohl die Autorinnen
und Autoren selbst nicht von Bewerten als einer eigenen kommunikativen
Gattung sprechen, belegen eine ganze Reihe von Untersuchungsergebnissen,
dass kommunikative Handlungsformen wie Z.B. Klagen, Vorwerfen, Sich-
Entrüsten, Beschwerden u.ä. unterschiedliche Formen der Bewertung bzw.
Einschätzung von Sachverhalten, Ereignissen, Entwicklungen und Erfahrun-
gen darstellen, implizieren und voraussetzen (vgl. z.B. Christman 1999;
ChristmannlGünther 1999; Günther 1999a!b ). Kennzeichnend für die Kon-
stanzer Analysen ist, dass sie Moral nicht im Sinne eines substanzhaften Re-
gel- oder Kriteriensystems denken, sondern versuchen nachzuzeichnen, wie
im Prozess der Kommunikation Moral fortlaufend konstituiert wird. ,,Ent-
scheidendes Kriterium für moralische Kommunikation ist (dabei), dass es zu
einer Moralisierungshandlung kommt, also zu sozial wertenden Stellungnah-
men, die sich auf Handlungen oder Personen beziehen und geeignet sind, das
Ansehen, das Image, die Ehre oder den Ruf der benannten oder identifizier-
baren Personen zu beeinträchtigen oder zu steigern" (BergmannlLuckmann
1999c, S. 23). Anders formuliert: Im Zentrum der Untersuchungen stehen
"Bewertungsleistungen", die sich auf Akteure beziehen (BergmannlLuck-
mann 1999c, S. 25ff.).
Damit ist ein wesentlicher Teil alltäglicher evaluativer Praxis in den
Blick genommen. Aus der Perspektive der Evaluationsforschung müssten
zwei Aspekte ergänzt werden:

Externe Evaluationsforschung bezieht sich erstens weniger auf einzelne


Akteure - es sei denn die Evaluation bezieht sich auf das Handeln von
Personen - als vielmehr, wie schon erwähnt, auf Maßnahmen, Program-
me, Strukturen und Organisationen, also eher auf "akteursunabhängige"
Gegenstände - womit selbstverständlich nicht behauptet werden soll,
dass diese Gegenstände unabhängig von den Akteuren gedacht werden
können oder sollten.
• Zweitens stellen Moral und Ethik - je nach Fragestellung - nur einen
möglichen Bezugsrahmen für die Bewertung in qualitativen Evaluations-
322 Christian Lüders/Karin Haubrich

studien dar. Daneben gibt es aber eine ganze Reihe weiterer Bezugssy-
steme und Relevanzkriterien. Maßnahmen, Programme, Strukturen und
Organisationen können Z.B. auch unter fachlichen, ökonomischen, recht-
lichen, funktionalen u.a., nicht zuletzt auch unter subjektiven Akzeptanz-
und Zufriedenheitsaspekten bewertet werden.

Wenn diese Argumentation plausibel ist, ergibt sich daraus, dass die systema-
tische Anregung und Analyse von "Bewertungsleistungen" spezifischer me-
thodischer Schritte bedarf. Genau an dieser Stelle beginnen die Probleme.
Die Anregung und Auswertung evaluativer Textpassagen, z.B. in Interviews
oder Gruppengesprächen, werden üblicherweise nicht zum Thema gemacht
und stehen meist eher am Rand der methodologischen Aufmerksamkeiten.
Nicht zuletzt durch die Arbeiten von F. Schütze wurde die Aufmerksamkeit
vor allem der deutschsprachigen qualitativen Methodologiedebatte auf die
Gewinnung und Analyse von Sachverhaltsdarstellung und narrative Beschrei-
bungen gelenktY Aus der Perspektive eines Zuganges, der sich jedoch expli-
zit für die Bewertungen der Beteiligten eines Programmes, die zugrunde lie-
genden Bewertungsmuster, -regeln und -kriterien interessiert, gewinnen je-
doch gerade jene Passagen - z.B. in Interviews - an Bedeutung, in denen die
Befragten explizit und implizit Stellung gegenüber dem Evaluationsgegen-
stand beziehen.
Um das Problem auf die Spitze zu treiben, wäre darauf hinzuweisen, dass
man zwar in jedem offenen Interview und in jeder Gruppendiskussion eva-
luative Passagen findet. Es liegt jedoch nahe, gerade wenn man häufiger
Evaluationsforschungsprojekte durchzuführen hat, zu überlegen, ob man die-
se Äußerungen nicht gezielt anregen könnte. Doch für diesen Fall schweigt
sich die Forschungsliteratur vornehm aus. Weder haben wir bislang Hinweise
gefunden, wie man kunstvoll z.B. in Interviews bewertungsgenerierende Im-
pulse setzt, noch wie "evaluative Interviews" sachgerecht geführt werden
könnten. lO Sicher ist nur, dass Antworten wie "das finde ich gut", "das gefällt
mir nicht" für eine qualitative Analyse wenig hilfreich sind.
Ein zweites Problem wird sichtbar, wenn man sich die Frage stellt, wie
derartige Passagen eigentlich ausgewertet werden sollen. In keinem Hand-

9 Die Dominanz dieses Blickes lässt sich erahnen, wenn F. Schütze (1983) als ersten Schritt
der Analyse biographischer Inte~iews die formale Textanalyse fordert, die darin bestünde,
,,( ... ) zunächst einmal alle nicht-narrativen Textpassagen zu eliminieren und sodann den
,bereinigten' Erzähltext auf seine formalen Abschnitte hin zu segmentieren" (S. 286). Da
vor allem explizit bilanzierende, bewertende, verurteilende oder ähnliche Äußerungen un-
strittig nicht als narrative Textpassagen verstanden werden können, impliziert diese Emp-
fehlung, dass diese Passagen nicht mehr Gegenstand der Analyse wären.
10 Eine Ausnahme hierzu bilden die Ausführungen von M.Q. Patton, die zum Teil auf die be-
sonderen Anwendungsbedingungen qualitativer Methoden in Evaluationen eingehen und
punktuell solche Hinweise geben. "Opinion and values Questions" (Patton 2002, S. 350)
werden von ihm als ein eigenständiger Fragetypus beschrieben - ohne jedoch auf die Aus-
wertungsfragen näher einzugehen.
Qualitative Evaluationsjorschung 323

buch qualitativer Sozialforschung findet man praktikable Hinweise, wie eva-


luative Äußerungen ordentlich analysiert und rekonstruiert werden können
bzw. sollen. Zwar finden sich hin und wieder Hinweise, wie man im Rahmen
narrativer Interviews bilanzierende und bewertende Äußerungen für die Ana-
lyse des jeweiligen Falles auswertet (vergleichsweise ausführlich vgl. z.B.
Glinka 1998, S. 165ff.), doch üblicherweise werden dabei die evaluativen
Äußerungen als Momente der Struktur des meist individuellen Falles selbst
genommen und nicht als der eigentliche Gegenstand der Analyse.
Ad (b): Nicht viel geringer sind die methodologischen Probleme beim
zweiten Zugang. Die beliebteste Strategie, sie zu umschiffen, besteht darin, ei-
ne handwerklich ordentliche, nach den Regeln der Kunst durchgeführte Rekon-
struktion des Falles vorzunehmen, um dann im Schlusskapitel zu einer Ein-
schätzung des Evaluationsgegenstandes zu kommen. Der Haken bei diesem
Vorgehen besteht darin, dass niemand genau angeben kann, auf Grund welcher
Kriterien, auf der Basis welcher Verfahren und unter Inanspruchnahme welcher
Standards das Urteil gefcillt worden ist. Die "eigentliche" Evaluation wird an
die sozialwissenschaftliche Beschreibung bzw. Rekonstruktion des Falles "an-
geklebt", ohne dass deren methodologischen Grundlagen geklärt sind. Bei die-
sem Vorgehen wird typischerweise auch nicht näher darauf eingegangen, ob
und inwiefern die Absicht der Bestimmung der Güte, des Nutzens oder Wertes
eines Gegenstandes bereits die Formulierung der Fragestellung, die Wahl und
den Einsatz der Erhebungsmethoden, die Auswertung und Berichterstattung
beeinflusst.
Der Ausweg, der üblicherweise aus diesen Problemen gesucht wird, be-
steht darin, auf der Basis der empirischen Beschreibungen der Sachlage und
der Explizierung der Maßstäbe Bewertungen auf der Basis des scheinbar Of-
fensichtlichen vorzunehmen.
Geadelt wird dieser Zugang zunehmend häufiger durch Begriffe wie "evi-
dence-based evaluation" o.ä. Dabei wird allerdings gerne vergessen, dass mit
dem Konzept "evidence-based" in anderen Fächern - vor allem der Medizin -
sehr spezifische Untersuchungsdesigns (Kontrollgruppen, Doppelblindversuche
etc.) verbunden sind, die die unverzichtbare systematische Voraussetzung für
das jeweils "evidente" Ergebnis darstellen. Im Bereich qualitativer Evaluations-
forschung ist uns bislang kein Projekt bekannt, das mit einem analogen For-
schungsdesigns arbeiten würde.
Wenn man dies als eine wenig befriedigende Verfahrens weise akzeptiert,
bleibt aber die Frage bestehen, wie denn dann Bewertungen als Ergebnisse
systematischer qualitativer Forschung erfolgen und welche Gütekriterien da-
für Geltung beanspruchen können. Die Diskussion ist weit davon entfernt,
hierauf Antworten geben zu können.
324 Christian Lüders/Karin Haubrich

5. Qualitative Evaluationsforschung in der Sozialpädagogik

Weder die englischsprachige noch die hiesige Diskussion zur (qualitativen)


Evaluationsforschung sind bislang durch - im uns vertrauten Sinne - diszi-
plinäre Akzentsetzungen geprägt. So kann es auch nicht überraschen, dass
man auf die Frage nach den Besonderheiten sozialpädagogischer Evaluati-
onsforschung kaum Antworten findet. Sozialpädagogische Evaluationsfor-
schung bedeutet deshalb vor diesem Hintergrund gegenwärtig nichts anderes,
als Evaluationsforschung in sozialpädagogischen Praxisfeldern bzw. Evalua-
tion sozialpädagogischer Praxis. In den wenigen Veröffentlichungen, die im
Titel oder in der Sache auf Sozialpädagogik verweisen (vgl. z.B. Grohmann
1997; Müller-Kohlenberg/Autrata 1997; HeillHeinerlFeldmann 2001; Heiner
2001a), wird dementsprechend auch gar nicht erst der Versuch einer Klärung
unternommen, was es denn nun mit diesem Adjektiv "sozialpädagogisch" auf
sich hat. Dies ist allerdings kein besonderes Problem der Sozialpädagogik.
Auch aus anderen pädagogischen Feldern gibt es Hinweise, dass sich die
Evaluationsdiskussion mit der pädagogischen Semantik offenbar (noch?)
schwer tut. Die Folge davon ist, dass man auf eine pädagogische Beschrei-
bung des Evaluationsgegenstandes weitgehend verzichtet - und dies selbst in
Fällen, bei denen sie gleichsam auf der Hand liegt wie z.B. der Jugendver-
bandsarbeit (vgl. Beywl u.a. 2001; vgl. die Beiträge in HeillHeinerlFeldmann
2001).
Aus alledem ergibt sich, dass die methodologische Diskussion im Be-
reich qualitativer Evaluationsforschung im Fall der Sozialpädagogik offen-
sichtlich noch ganz am Anfang steht. Abgesehen von der eher konzeptionell
angelegten Überblicksdarstellung von R. Grohmann (1997) fehlt es darüber
hinaus auch an Versuchen, den Stand der empirischen Forschung in diesem
Bereich und die dabei gemachten methodologischen Erfahrungen zu bündeln
und im Hinblick auf zukünftige Herausforderungen auszuwerten. Zwar findet
man zunehmend Beiträge zu einzelnen Aspekten (z.B. Heiner 1998, 2001a, b;
Müller-Kohlenberg/Autrata 1997; Beywl 2000; Beywl/Müller-Kohlenberg
2001), doch bislang handelt es sich dabei um Einzelbeiträge, die auch kaum
aufeinander Bezug nehmen, geschweige denn so etwas wie einen gemeinsa-
men diskursiven Kern erkennen lassen.
Daneben nimmt langsam die Zahl der einschlägigen empirischen Pro-
jekte zu (am bekanntesten vermutlich das Projekt Jule, vgl. Bundesministeri-
um für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 1998; vgl. auch HeillHeinerl
Feldmann 2001). Ein nicht unerheblicher Teil der Studien sind wissenschaft-
liche Begleitungen von Bundesmodellprogrammen, die von Seiten des Bun-
desministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend finanziert werden
und in mehrfacher Hinsicht besonderen Bedingungen unterliegen (vgl. Frank!
Seifert 1998). Aber auch viele der größeren jüngeren Evaluationsstudien
werden entweder von Seiten des Bundes oder der Länder finanziert. Umge-
Qualitative Evaluationsforschung 325

kehrt fällt auf, dass im Bereich der Sozialpädagogik die sonst üblichen Fi-
nanziers für Drittmittelprojekte - wie vor allem die Deutsche Forschungsge-
meinschaft, aber auch die Stiftungen (sieht man einmal von der Stiftung Ju-
gendmarke ab) - bislang kaum auftreten.
Einschränkend muss allerdings festgehalten werden, dass in besonderer
Weise für dieses Forschungsfeld gilt, dass ein Großteil der Studien das Licht
der breiteren Fachöffentlichkeit nie erblickt, sodass es derzeit kaum möglich
ist, den tatsächlichen Stand der Forschungspraxis angemessen zu beschreiben.
Sowohl von Seiten der einzelnen Einrichtungen, Träger und Dachverbände als
auch von Seiten der Fachhochschulen - weniger der Universitäten - erhält
man, wenn man einmal in die Verteiler kommt, immer wieder graue Papiere
mit Projektberichten und -ergebnissen, ohne dass diese jemals in einer Fach-
zeitschrift oder in Buchform publiziert werden. Wer geduldig ist und weiß, wo
er suchen muss, findet gelegentlich im Internet den einen oder anderen Bericht.
Man mag darüber spekulieren, was der Grund für diese Öffentlichkeits-
scheu ist; in jedem Fall spiegelt sie getreu den Stand der Dinge in diesem
Feld wider. Denn auch gemeinsame Fachtagungen für den Erfahrungsaus-
tausch oder entsprechende Fachforen gibt es bislang nicht, geschweige denn,
dass man systematisch die Erfahrungen aus anderen ähnlich gelagerten For-
schungsfeldern, wie z.B. der Schulevaluationsforschung, der Therapiefor-
schung oder der Evaluation von Arbeitsmarktprogrammen (vgl. z.B. Schmidl
O'Reilly/Schömann 1996), aufarbeiten würde. Immerhin sind innerhalb der
Deutschen Gesellschaft für Evaluation (DeGEval) erste Schritte unternom-
men worden, den internen Erfahrungsaustausch zu verbessern. I I
Vielleicht liegt ein Grund für diese unbefriedigende Situation darin, dass
innerhalb der Sozialpädagogik die Diskussion um Evaluation noch immer
eng im Zusammenhang mit der Qualitätsdiskussion geführt wird (vgl. Z.B.
Heiner 1996; BrunnerIBauerNolkmar 1998; Bundesvereinigung kulturelle
Jugendbildung 1998; IrskensNogt 2000). Dies hat zwar den Vorteil, dass die
Einsicht in die fachliche Notwendigkeit von Evaluationen gestiegen ist und
auch die Frage nach der Bewertung pädagogischer Praxis eine thematisierba-
re Form angenommen hat 12 ; zugleich hat die Fachszene sich aber vornehm-
lich auf die eher "weichen" Konzepte von Evaluation konzentriert. Dadurch
wurde nicht nur ein Boom im Bereich der Selbstevaluation ausgelöst (vgl.

ll Informationen über den Arbeitskreis "Soziale Dienstleistungen" findet man auf der Home-
page der DeGEval (http://www.degeval.de/).
12 Die sozialpädagogische Qualitätsdiskussion hat trotz vieler Probleme im Detail insofern aus
unserer Sicht einen wesentlichen Fortschritt gebracht, als nun die Antworten auf die Frage,
wie man eigentlich die Strukturen, Prozesse und Effekte pädagogischer Praxis beschreiben
kann, ein Stück näher gerückt sind. Zwar sind die alten grundSätzlichen Bedenken, vor al-
lem die Einsicht in die fehlenden Technologien und das daraus sich ergebende Problem der
Zurechnung von beobachtbaren Effekten auf "verursachende" Faktoren nicht gelöst (vgl.
Lüders 1998, S. 28); doch zugleich kann man nicht umhin, zuzugeben, dass zumindest dis-
kutierbare Annäherungen in den letzten Jahren vorgelegt worden sind.
326 Christian Lüders/Karin Haubrich

Heiner 1988, 1994; ebenso die einschlägigen Hefte aus der Reihe "Materiali-
en zur Qualitätssicherung in der Kinder- und Jugendhilfe" des Bundesmini-
steriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, z.B. Nr. 19; v. Spiegel
1993 und die entsprechenden Beiträge in ReillHeinerlFeldmann 2001), son-
dern immer wieder auch eine Neigung zu Strategien der dialogischen und
kommunikativen Validierung provoziert. Ergebnisse von Studien gelten in
diesem Sinne als gültig, wenn die Betroffenen die Ergebnisse kommunikativ
validiert haben. Auf diese Weise feierten methodologisch schon lange erle-
digt geglaubte und gegenstandstheoretisch problematische Validierungsstra-
tegien fröhliche Urstände.
Zugleich ahnt man wohl aber, dass diese Ergebnisse und Erfahrungen im
günstigen Fall eher lokale Gültigkeit beanspruchen können. Sie helfen die ei-
gene Praxis weiterzuentwickeln, sind aber meistens nicht von überregionaler
fachlicher Bedeutung. Vor diesem Hintergrund kann man sich dann auch die
Mühen einer Veröffentlichung sparen.
Dabei verweisen die verschiedenen Verfahren der kommunikativen Vali-
dierung von Evaluationsergebnissen auf ein methodologisch und konzeptio-
nell offenes Problem. Wenn es zutrifft, dass Sozialpädagogik - wie alle ande-
ren sozialen Dienstleistungen auch - als Koproduktion zwischen den Fach-
kräften und den Adressatinnen und Adressaten begriffen werden muss, wenn
also die Qualität und die ,,Ergebnisse" pädagogischen HandeIns nur als Re-
sultate koproduktiven Agierens verstanden werden können, stellt sich die
Frage, was dies eigentlich für die Evaluation eben dieser sozialpädagogischen
Praxis bedeutet. Dabei liegt es nahe, die These zu vertreten, dass die Evalua-
tion die in die Koproduktion eingegangenen Perspektiven zu berücksichtigen
hat. Dies würde bedeuten, dass - streng genommen - Evaluationen sozial-
pädagogischer Praxis, wenn sie die Qualität pädagogischen Randelns in den
Blick nehmen, ohne den Einbezug der Adressatinnen und Adressaten kaum
möglich erscheinen. Dies würde jedoch die oben skizzierten Probleme bei der
empirischen Analyse von Bewertungsleistungen von Adressatinnen und
Adressaten, weil nun systematisch unverzichtbar, in einem neuen Licht er-
scheinen lassen.
All dies belegt: Qualitative Evaluationsforschung ist eine Forschungs-
praxis, die sich derzeit größter fachöffentlicher und politisch-administrativer
Beliebtheit erfreut, die aber bislang wenig über sich selbst, ihre Vorausset-
zungen, ihre Möglichkeiten und. Grenzen weiß.
Qualitative Evaluationsforschung 327

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Stephan WoljflThomas Schejfer

Begleitende Evaluation in sozialen Einrichtungen

1. Qualitative Evaluation als begleitende Evaluation l

Nach einer Flaute in den 80er Jahren erlebt die Evaluation ab Mitte der 90er
Jahre einen neuen Aufschwung. Es haben sich neue Betätigungsfelder eröff-
net: in den Hochschulen, in der Wirtschaft, im Gesundheitswesen und durch
die Modernisierungsbemühungen im Öffentlichen Dienst. Man spricht wieder
über Evaluation und stellt verstärkt konzeptuelle Überlegungen an. In diesem
Zusammenhang erfährt auch die qualitative Evaluationsforschung einen be-
merkenswerten Popularitätszuwachs (vgl. v. Kardorff 2000).
Qualitative Evaluation ist weder theoretisch noch von den verwendeten
Methoden her ein klar definiertes Unterfangen. Weder erscheint es sinnvoll
die qualitative Evaluation als Ergänzung oder als Korrektur "quantitativer
Ansätze" zu positionieren noch mit der Verwendung qualitativer Verfahren
gleichzusetzen. Eher schon ließe sich von einem alternativen Paradigma der
Evaluation sprechen. Der gedankliche Zielpunkt verschiebt sich von der Wis-
sensakkumulation (bezüglich der Resultate von Veränderungsprogrammen)
auf den organisatorischen Wandlungsprozess selbst. Kriterium für den Ein-
satz der jeweiligen Methoden wäre dann deren Gegenstandsangemessenheit
und Anpassungsfähigkeit im Hinblick auf die praktischen Umstände des je-
weiligen Reformprozesses. Das bedeutet: Die Wahl der Methoden erfolgt im
Hinblick auf Gesichtspunkte wie situative Nutzbarkeit, Glaubwürdigkeit oder
"politische Relevanz" der betreffenden Daten. Von daher kann der gelegent-
liche Einsatz quantitativer Verfahren bzw. die Erstellung und Verwendung
quantitativer Kennwerte auch im qualitativen Verständnis angemessen und
wünschenswert (und für die Akzeptanz des Gesamtprojekts äußerst hilfreich)
sein. Qualitative Ansätze zur Evaluation eint bei aller Unterschiedlichkeit
(vgl. als Überblick Shaw 1999, S. 19ff.) die Absicht, nicht nur bei der Wirk-
samkeitskontrolle, sondern schon im Prozess, d.h. bei der Entwicklung und
Umsetzung entsprechender Reformmaßnahmen mitzuwirken.
Diese Prozessorientierung bezieht sich konsequenterweise auch auf die
Evaluation selbst. Sie sollte gleichfalls als (Kommunikations-)Prozess struk-

Der folgende Text greift Argumente aus einer ftiiheren Arbeit des ersten Autors auf (vgl.
FreundlieblWolff 1999).
332 Stephan WoljffThomas Schejfer

turiert sein. Es findet also eine Akzentverschiebung von der Suche nach all-
gemeinen Programmeffekten zu kurzfristigen Kontrollen und zu erfahrungs-
gestützten Korrekturen ablaufender Prozesse statt. Zur qualitativen Evaluati-
on gehört die regelmäßige Rückmeldung über den Zustand des zu verändern-
den Systems an die verschiedenen Beteiligtengruppen, sei es als Nachweis
für Zielerreichung und Zielverfehlung oder als Anregung für Neuanpassun-
gen und weitergehende Überlegungen. Die qualitative Evaluation bemüht
sich also um einen direkten und kontinuierlichen Anwendungsbezug.
Ein derartiges Vorgehen eignet sich insbesondere für Veränderungspro-
zesse im Rahmen komplexer, lose verkoppelter Organisationen und bei tur-
bulenten Umwelten, die sukzessives Vortasten verbunden mit fallweisen Ent-
scheidungen über das weitere Vorgehen erfordern. Qualitative Evaluation be-
gleitet Abläufe in natürlichen Settings. Die Untersuchungen finden in dem-
selben zeitlichen, räumlichen und sozialen Kontext statt, den die Evaluatoren2
sich zu verstehen vorgenommen haben. Die Evaluation wird damit selbst zu
einem Element des Feldes und hat sich reflexiv und praktisch darauf einzu-
stellen. Die beobachtenden Evaluatoren werden kritisch beobachtet und müs-
sen dies in ihr Vorgehen einplanen. Allein schon deshalb weiß man als Eva-
luator nie genug, wenn man ins Feld geht. Die qualitative Evaluation macht
aus dieser Not eine Tugend: Evaluatoren verstehen und verhalten sich grund-
sätzlich als Lernende, allerdings als solche, die gelernt haben, wie Lernpro-
zesse strukturiert und angeregt werden können. Von daher wird auch ver-
ständlich, warum qualitative Evaluationen meist die Form von Fall-Studien
mit einer Vielzahl verschiedener Typen von (Zwischen-)Ergebnissen anneh-
men.
Die qualitative Evaluation geht davon aus, dass die verschiedenen Betei-
ligten(-grup-pen) und Interessenten von unterschiedlichen Situationsdefini-
tionen ausgehen und sich danach in ihrem Handeln ausrichten. Man hat es
somit grundsätzlich mit multiplen Realitäten zu tun. Defizitanalysen, Pro-
grammziele und Erfolgskriterien können sich je nach den beteiligten "Stake-
holders" eminent unterscheiden. Es gibt so gesehen keine abstrakten und
kontextfreien Evaluationskriterien. Die qualitative Evaluation kann sich auf
diese Situation dadurch einstellen, indem sie die Übereinstimmungen und
Widersprüche der verschiedenen Vorstellungen von Effektivität und Effi-
zienz markiert und entsprechende Vereinbarungen der Beteiligten einfordert.
Einigkeit unter qualitativen Evaluatoren besteht darüber,

dass nicht nur die Außensicht, sondern auch die Selbstbewertung der
evaluierten Einrichtungen und Personen zu berücksichtigen ist,

2 Wir verwenden in diesem Text aus Lesbarkeitsgründen und vor allem, weil wir uns aus-
führlich auf ein Evaluationsprojekt beziehen, in dem nur ein Evaluator beteiligt war, durch-
gängig die männliche Form.
Begleitende Evaluation in sozialen Einrichtungen 333
• dass Evaluationen responsiv sein, d.h. auf die Bedürfnisse des Feldes
antworten sollten,
• dass sie eher Prozesse begleiten und Lernen unterstützen als deren Re-
sultate beurteilen oder gar richten sollten und vor allem,
• dass Evaluatoren nicht in der Position eines neutralen, außen stehenden
Beobachters verharren sollen (und können), der hin und wieder einmal
,,hereinschneit", sondern in einer professionell disziplinierten Weise in-
volviert und beteiligt sein müssen.

Qualitative Evaluation bedeutet daher im Wesentlichen begleitende Evaluati-


on. Das bei einem solchen Vorgehen unvermeidliche Involviertsein stellt so-
wohl die organisierte Evaluation wie die evaluierte Organisation vor neue
Anforderungen und verstrickt sie in wechselseitige Abhängigkeiten.
Die begleitende Evaluation kommt bestimmten Tendenzen in sozialen
Dienstleistungsorganisationen entgegen: Auch soziale Einrichtungen versu-
chen sich zunehmend an dem Leitbild einer flexiblen und lernenden Organi-
sation zu orientieren. Daraus ergeben sich bestimmte Anforderungen an ein
Evaluationsdesign und an die Gestaltung der Beziehung zwischen Evaluation
und Organisation. Die neuen Anforderungen an Evaluation gehen dabei weit
über rein methodische Fragen hinaus:

• Es entsteht erhöhter Bedarf an kürzeren, auf spezifische Projekt-Manage-


ment-Fragen bezogene fonnative Studien. Diese lösen zunehmend die
summativen Programmevaluationen ab.
• Es kommt verstärkt zu Kooperationen zwischen der Evaluation und dem
Projektmanagement. Zum Teil wird die Evaluation - etwa als Stabsstelle -
sogar ins Management integriert. Dem korrespondiert eine Entwicklung
hin zu mehr interner Evaluation.
• Weil man jetzt mit den Abnehmern der Evaluationsergebnisse unmittel-
barer und häufiger konfrontiert ist, stellt sich die Rezeptions- und Trans-
ferfrage eindringlicher als früher. Evaluatoren müssen zunehmend Mar-
keting für ihre Anstrengungen betreiben. Sie sind darauf angewiesen, ih-
re Produkte zu verkaufen, und müssen dabei realisieren, dass es hier
Märkte mit Sättigungsgrenzen - nämlich der Aufnahmebereitschaft und
Aufnahmefähigkeit - gibt.
• Mit zunehmender Nähe zum Feld drängt sich für Evaluatoren die Frage
auf, ob Parteinahme und Empfehlungen nicht doch (und ggf. bis zu wel-
cher Grenze) als integrale Bestandteile ihres professionellen Handeins
anzusehen sind. Durch Konfrontation mit ganz verschiedenen "Stakehol-
ders" bei gleichzeitigem Einbau in hierarchische Strukturen wird es für
Evaluatoren zugleich schwieriger ihre Neutralität glaubhaft zu machen.
• Die zu evaluierenden Einrichtungen und Programme leben in immer tur-
bulenteren Umwelten. Die Rahmenbedingungen der zu evaluierenden
Vorhaben ändern sich daher ständig und in schwer vorhersehbarer Wei-
334 Stephan WoljffThomas Scheffer

se. Projektergebnisse veralten schneller und darauf bezogene Evaluati-


onsberichte bilden oft einen Zustand ab, der zum Zeitpunkt ihrer Vorlage
schon gar nicht mehr besteht.

2. Ein Beispiel: Begleitende Evaluation einer


Reorganisation im Bereich Erziehungshilfe

Wir möchten versuchen, dieses neue Verhältnis von Evaluation und Organi-
sation sowie die sich daraus ergebenden Folgerungen an einem Beispiel
schlaglichtartig zu beleuchten. Wir beziehen uns dabei auf ein komplexes
Evaluationsprojekt, das über einen Zeitraum von zwei Jahren von einem der
Autoren (T.S.) in einem großstädtischen Jugendamt Süddeutschlands durch-
geführt wurde. Mit diesem sog. ,,HzE-Projekt" (Hilfen zur Erziehung) sollte
eine tiefgreifende Umsteuerung der angebotsorientierten Erziehungshilfe er-
reicht werden (vgl. Früchtel u.a. 2001). Aus der standardisierten, Fälle pro-
duzierenden, die teure Fremdunterbringung fördernden und die Beziehungen
zum Umfeld kappenden Hilfe, sollte eine "partizipative, flexible, ressourcen-
orientierte Hilfe" werden, die sich primär an der Nachfrage der Hilfesuchen-
den orientiert. Das Vorgehen der Evaluation war methodisch stark am Modell
der teilnehmenden Beobachtung (vgl. Wolff 2000) orientiert.
Der Evaluator stieg als Fachfremder zu einem Zeitpunkt in diesen Re-
formprozess ein, als die ersten Umsetzungen der Projekt-Philosophie bereits
Fuß fassten. In einem Bezirk waren vier sog. "Stadtteilteams" installiert, die
sich einerseits aus Mitarbeitern des einen gebietszuständigen Erziehungshil-
feträgers und andererseits aus den Sozialen Diensten des Jugendamtes (All-
gemeiner Sozialer Dienst plus wirtschaftliche Hilfen) zusammensetzten. Die
Teams arbeiteten organisations- und professionsübergreifend, was einerseits
den Reiz und andererseits die zentrale Herausforderung des Projektes aus-
machte. Unter den Mitarbeitern wurde "das Experiment" bereits angeregt dis-
kutiert. Es herrschte eine gewisse Aufbruchstimmung, zugleich aber bestan-
den anhaltende Zweifel an seiner Durchführbarkeit hinsichtlich der zu gewär-
tigenden Verwerfungen und generell bezüglich seiner Praxistauglichkeit. Die
Mitarbeiter hatten sich mit neuen Rollendefinitionen, Formularen, Hilfeplan-
verfahren, Arbeitsnachweisen und ungewohnten (flexiblen) Hilfe-Settings
auseinander zu setzen bzw. diese selbst erst noch zu erfinden.
Etablierte Strukturen waren mit Vehemenz aufgebrochen worden. Die
bestehenden Tagesgruppen (sowie andere feste Angebote) hatte man aufge-
löst, um die nötigen Aufnahmekapazitäten für die einzelfallspezifischen,
nachfrageorientierten Hilfen freizusetzen. Stationäre Gruppen öffneten sich
für Familienhilfen, während Familienhelfer stärker als bisher in Teamstruktu-
ren und Fachöffentlichkeiten eingebunden wurden. In den Stadtteilteams dis-
Begleitende Evaluation in sozialen Einrichtungen 335

kutierten die Fachleute ihre Fälle, und zwar nach festgelegten Ablaufsche-
mata, welche die "Ressourcenschau" und den Blick auf das zu nutzende Le-
bensumfeld ins Zentrum rücken sollten. Das Projekt war also bereits in vol-
lem Gange, auch wenn das Gros der Praxisprobleme sowie die möglichen
Bearbeitungsweisen erst noch ins Blickfeld geraten sollten.
Im folgenden lassen wir den Evaluator, Thomas Scheffer, selbst zu Wort
kommen:
Ich startete meine Amtszeit mit zwei je einmonatigen Hospitationen beim ASD und bei ei-
nem Erziehungshilfeträger. Wie ein teilnehmender Beobachter saß ich in den Amtsstuben,
kam mit auf Hausbesuche, verfolgte die Sprechstunden, nahm teil an den Teamsitzungen,
war in der Spielgruppe dabei, bei der Schulaufgabenhilfe, bei Hilfekonferenzen in Heimen
"weit draußen". Zusätzlich führte ich an Arbeitssituationen anknüpfende Expertengesprä-
che, um mir ein Bild von den betreffenden Arbeitsweisen zu machen. Ich partizipierte
schließlich in einem Stadtteilteam und nahm über den Zeitraum eines Jahres an den Fallbe-
sprechungen teil. Ich lernte durch die Fall-Debatten das "sozialarbeiterische Denken" ken-
nen, d.h. die Formen und Methoden, in denen Probleme identifiziert, zugeschnitten, darge-
stellt und angegangen werden. Ich wurde über den gesamten Zeitraum von 2 Jahren mit
den Stadtteil team-Protokollen aller Teams und mit allen Hilfekontrakten versorgt. Dies
versetzte mich in die Lage, Fälle in ihrer Entwicklung zu verfolgen, die Bandbreite der Ar-
beitsweisen und Problemlösungen zu beobachten, sowie festzustellen, ob und wenn, in
welche Richtungen sich die Teams nach und nach entwickelten bzw. verselbstständigten.
Ich lernte Erziehungshilfe-Fälle nicht nur persönlich kennen, sondern gewann auch Ein-
blick in deren sozialarbeiterische und amtliche Repräsentation in Akten und Sitzungen
(vgl. Scheffer 200lb).
Ich wurde mehr und mehr ins Feld verwickelt und erfuhr auf diese Weise die Potenziale
und Restriktionen des Reformprojektes hautnah. Mir wurden Probleme zugetragen und
Anpassungsschwierigkeiten anvertraut. Die Rede war von Ängsten, Unsicherheiten und
Zumutungen (etwa: wiederholte interne Arbeitsplatzwechsel). Mitarbeiter erläuterten mir
die Vorteile gegenüber der herkömmlichen Erziehungshilfe und schwärmten von den neu-
en Freiheiten und Gestaltungsmöglichkeiten. Ich vernahm die unterschiedlichsten Deutun-
gen, worum es sich bei dem Projekt "eigentlich" handele: vom (politischen) "wieder ne
Idee, Geld zu sparen", zum (humanitären) "endlich das Kind in den Mittelpunkt stellen!"
bis hin zur (coolen/effizienten) "Professionalisierung der Sozialen Arbeit".
Meine begleitende Evaluation war durch einen vielschichtigen Dialog zwischen mir und
den Fachkräften vor allem des mittleren Managements und des sog. "Bodenpersonals" ge-
prägt. Der Dialog zwischen dem Feld und mir wurde in den folgenden Gremien und auf
folgenden Ebenen institutionalisiert. (I) Durch die Teilnahme an den Stadtteilteams, bei
denen die "von oben" kommenden Anforderungen und Probleme bearbeitet wurden. (2)
Durch die Einrichtung einer AG-Evaluation, die mich vor allem beim Einsatz von Erhe-
bungsinstrumenten (von der teilnehmenden Beobachtung bis zur Klientenbefragung) und
bei der Vermittlung der Resultate beriet. (3) Bei den teilnehmenden Beobachtungen selbst,
welche die Grundlage für persönliche Beziehungen mit Fachkräften vor Ort und für deren
kritische Rückmeldungen von neuen Projektprogrammen oder meinen Ergebnissen schu-
fen. (4) Bei den Evaluationsworkshops, Trainings und Plenumveranstaltungen, bei denen
die Sorgen, Nöte und Zweifel der Basiskräfte zur Sprache kamen und Vorschläge zur Flan-
kierung des Projektes gemacht wurden sollten. (5) Durch die Teilnahme an den Leitungs-
sitzungen, bei denen die kritischen Punkte des Projektes explizit (oder doch zumindest im-
plizit) behandelt wurden. Hier erwarb ich Einblicke in die komplexe Erziehungshilfeland-
336 Stephan WolfflThomas Scheffer
schaft und lernte die "Philosophie" des Projektes sowie jene Ideen kennen, die hinter den
diversen Steuerungsversuchen standen.
Erst nach einem halben Jahr konnte ich mich mit dem ersten von insgesamt sechs Evaluati-
onsberichten zuriickmelden. Über eine Art "Evaluationsbeirat" stellte ich meine Ergebnisse
(der erste Bericht diskutierte die bislang wenig erbaulichen Versuche "fallunspezifischer
Arbeit im Lebensfeld") in einem Workshop den Mitarbeitern und danach im Leitungsgre-
mium zur Diskussion. Es folgten turnusmäßige Berichte zu den Fallbesprechungen im
Stadtteilteam (mit Vorschlägen zu ihrer möglichen Rolle für die Hilfeplanung) (vgl. Schef-
fer 2001c), zum Sinn und Unsinn der gängigen Fall-Dokumentation (mit Vorschlägen zur
Informationspolitik), zur Ausgestaltung der Hilfekontrakte (mit Vorschlägen zur Rollen-
verteilung und zur kollegialen Selbst-Hilfe), zur Messbarkeit der Qualität geleisteter Hilfen
(mit Vorschlägen zum Controlling und einem Leistungsbonussystem) und zur Arbeitsver-
teilung beim ASD (mit Überlegungen z.B. von Strassen- auf Teamzuständigkeit umzu-
schalten).

3. Evaluation als Zumutung

Ein Evaluator, der länger bleibt, stellt für eine Organisation und ihre Mitglie-
der eine ungewohnte Zumutung dar. Er produziert nicht, sondern beobachtet
zunächst nur. Er löst keine Probleme, sondern erfindet möglicherweise zu-
sätzliche. Er ist von oben geschickt, um - keiner weiß es genau - die Regel-
befolgung zu kontrollieren. Er hilft nicht bei der Arbeit, sondern verursacht
eher noch zusätzliche. Er beantwortet keine drängenden Fragen, sondern
stellt immer nur noch neue. Der Evaluator sieht sich daher schon beim Ein-
stieg mit gewichtigen Legitimationsproblemen konfrontiert. Dazu gesellt sich
die notorische Neigung vieler Organisationsmitglieder, sich selbst für ausrei-
chend reflektiert und "fachlich" zu halten, um die Evaluation gleich mit erle-
digen zu können.
Zum Amtsantritt legte mir ein Arbeitskreis "Evaluation" (dies war ein Kreis von Interes-
sierten in Schlüsselpositionen) eine Reihe bereits fertiger Evaluationskonzepte und -sche-
mata vor. Abgefragt werden sollten alle möglichen Eigenschaften des Falles und seiner Be-
handlung, um so zu einer "Kritik der Hilfe" zu gelangen. "All das muss nur mal gemacht
werden!", hieß es erwartungsvoll. Die Vorstellung des Arbeitskreises war eindeutig: End-
lich haben wir den Mann, der alles das ausarbeitet, wofür uns in der Praxis neben all den
anderen Aufgaben keine Zeit bleibt.
Im Vergleich zu den angelsächsischen Ländern fällt in der deutschen Evalua-
tionsdiskussion innerhalb der Sozialen Arbeit die starke Betonung der Selbst-
evaluation auf (vgl. Heiner 1998). Dies wird nicht selten verbunden mit einer
Stilisierung des Gegensatzes zwischen Selbstevaluation als dem Inbegriff
methodischen Arbeitens auf der einen und professioneller Evaluation als ei-
ner von außen kommenden, im Grunde entfremdenden Tätigkeit auf der an-
deren Seite. Die Selbstevaluation gilt im Vergleich zur Fremdevaluation als
die angemessenere, sensiblere und für die Bedürfnisse der Mitarbeiter aufge-
Begleitende Evaluation in sozialen Einrichtungen 337

schlossenere Vorgehensweise. 3 Auch begleitende Evaluatoren geraten von


daher als von außen kommende und vermeintlich fachfremde Beobachterl
leicht in Verdacht, die Praxis nach unpassenden Standards zu beurteilen, ihrer
Komplexität nicht gerecht zu werden und auf diese Weise die erworbene
Fachlichkeit eher zu bedrohen, denn fortzuentwickeln. In gewisser Weise
überträgt sich hier die Kritik an der Ergebnisevaluation auf die neueren qua-
litativen und prozessbezogenen Evaluationsansätze, zumal diese bzw. die
diesbezüglichen Unterschiede unter den Mitarbeitern in sozialen Diensten
nach wie vor kaum bekannt sind.
Von daher kann man im Sinne einer qualitativen Evaluationsstrategie nur
davor warnen, das eine Extrem (traditionelle Ergebnisevaluation) gegen das
andere (Selbstevaluation) auszuspielen, zumal im Zuge begleitender Evalua-
tion selbstverständlich immer wieder auch auf selbst-evaluative Elemente zu-
rückgegriffen wird, insofern diese notwendiger, aber eben keineswegs hinrei-
chender Bestandteil organisatorischen Lernens sind.

4. Der Anwendungsbezug

Konstitutiver Bestandteil jeder Evaluation ist die Rückmeldung der erzielten


Ergebnisse an definierte Auftraggeber. Für die begleitende Evaluation stellt
sich allerdings das Darstellungs- bzw. Vermittlungsproblem nicht unwesent-
lich anders dar als für nachträgliche Ergebnisevaluationen. Während deren
Abschlussberichte, wenn überhaupt, eher von Projektfinanziers und der Lei-
tungsebene gelesen werden, kommen die Zwischenberichte der begleitenden
Evaluation vermehrt ins Blickfeld jener, deren Arbeit unmittelbar oder mit-
telbar untersucht wurde. Mit der Praxisnähe und dem Engagement der Eva-
luatoren steigt das Risiko, dass sich die Praktiker kontrolliert oder gar per-
sönlich angegriffen fühlen und mit Abwehr und Versuchen der Ausgrenzung
der Evaluation reagieren. 5
Um dem entgegenzuwirken wählte ich für die Rückmeldung meiner Beobachtungen die
Form konstruierter, aber gleichwohl "aus dem Leben gegriffener" Lehrbeispiele. Es sollten

3 Dabei agiert die Selbstevaluation in der Praxis - oft notgedrungen aufgrund von Zeit- und
Kompetenzmängeln - mit standardisierten und pauschalisierenden Formen der Datenerhe-
bung, die eher an das Berichtswesen als an eine fokussierte Evaluation erinnern.
4 Trotz einiger Forschungserfahrung im Bereich sozialer Organisationen und ihrer Verfah-
rensweisen (vgl. Scheffer 1995, 2001a) und eines entsprechend ausgerichteten sozialwis-
senschaftlichen Studiums fehlte mir doch der spezifische professionelle "Stallgeruch" eines
Pädagogen oder Sozialarbeiters.
5 Die Evaluation nimmt immer auch, ob gewollt oder nicht, ob explizit oder nur in der Phan-
tasie der Beteiligten, eine Kontrollfunktion wahr. Dies gilt womöglich gerade für unsere
Form der begleitenden Evaluation, insoweit sie detaillierte Einblicke in den Projektalltag
möglich macht.
338 Stephan Wolff/Thomas Schejfer
die Wirkungen der jeweiligen Arbeitsschritte im Hilfeprozess deutlich werden: An wel-
chem Punkt finden Eltern oder Jugendliche mit ihrem Anliegen beim ASD Gehör? Wann
gibt der ASD-Mitarbeiter den Fall ins Team und wann hält er ihn zurück? Wann gilt ein
Fall als ausreichend besprochen? Wie werden die Besprechungsergebnisse in die späteren
"Hilfekontraktgespräche" transportiert? In der Praxis fanden sich taugliche Prototypen, die
sich als Vorbilder der Problembearbeitung zur Konzeptentwicklung eigneten - und die in
dieser Weise nie und nimmer geplant werden könnten.
Ein Aspekt der Anwendungsbezogenheit von Evaluation besteht darin, dass
professionelle Evaluatoren im Auftrag primärer Projektbeteiligter und damit
als Dienstleister tätig werden. Als solche können sie keineswegs nach Gut-
dünken zweckfreie oder parteiliche Forschung betreiben. In Analogie etwa zu
einer Organisationsberatung ist zur Abwicklung einer Evaluationsmaßnahme
die Installierung eines eigenen Handlungssystems notwendig, für das zwi-
schen den Evaluatoren, den Auftraggebern und Beteiligten verbindliche Re-
gelungen, Absprachen und Zeithorizonte zu vereinbaren sind.
Gerade eine relativ unstandardisierte Form von Evaluation bedarf solcher
Formen, um Verlässlichkeit und Erwartungssicherheit zu gewährleisten. Die
Abnehmer müssen wissen, was sie wann zu erwarten haben - und was nicht.
Es gilt sich möglichst frühzeitig auf eine detaillierte Liste an Evaluationsthe-
men und auf einen verbindlichen Zeitplan zu einigen, um so nicht nur für die
nötige Transparenz zu sorgen, sondern zugleich auch unrealistische Ansprü-
che hinsichtlich der Möglichkeiten der Evaluation frühzeitig abzuwehren. Es
muss für alle Beteiligten klar sein und bleiben, was dem Evaluator zugemutet
werden kann. Es muss zudem geklärt werden, wie viel Evaluation die Orga-
nisation zu kommunizieren und verarbeiten bereit ist. Daraus folgt übrigens,
dass die Sicherstellung der Nutzbarkeit der Evaluation und ihrer Ergebnisse
zu einem nicht unerheblichen Teil in der Verantwortung der Auftraggeber
bzw. Abnehmer verbleibt.
Auch wenn es paradox klingt, ein wesentlicher Schritt zur Verselbständigung der Evaluati-
on bestand darin, ihren Fortgang konsequent von Gremienentscheidungen abhängig zu ma-
chen. Als Evaluator legte ich nach einer Orientierungszeit von zwei Monaten im Praxisfeld
ein Evaluationskonzept vor, das im Wesentlichen aus einem noch relativ allgemeinen Un-
tersuchungsdesign bestand. Ich zeigte meinen Zugangs- und Materialbedarf an und entwik-
kelte didaktische Überlegungen, wie ein Austausch zwischen Evaluation und den Prakti-
kern erfolgen könnte. Schrittweise wurde das Konzept dann um Themen und eine Termin-
planung erweitert.
Ein wichtiger Effekt der Diskussion des Evaluationskonzeptes bestand in der Vereinbarung
eines Verfahrens zur Beauftragung des Evaluators. Es wurde eine feste Themenliste verab-
schiedet, was spontane Beauftragungen durch Vorgesetzte verunmöglichte. Neue Themen
konnten nur vom Evaluator oder durch das Leitungsgremium eingebracht werden. Im Falle,
dass man sich gemeinsam entscheiden sollte, ein zusätzliches Thema anzugehen, musste
ein anderes Thema dafür weichen. Festgelegt wurde außerdem, wie Ergebnisse zurückzu-
melden sind. So wurde beschlossen, dass die Resultate sowie Ort, Zeit und Form ihrer Prä-
sentation zunächst mit den begleiteten Praktikern diskutiert und erst danach projektöffent-
lich gemacht werden sollten. Auf diesem Wege konnten meine Missdeutungen korrigiert
und den Leitungsgremien erste praktische Lösungsvorschläge oder Einschätzungen zur
Begleitende Evaluation in sozialen Einrichtungen 339
Machbarkeit vorgelegt werden. Die "AG Evaluation" organisierte diesen Einspeisungspro-
zess - und sorgte ganz nebenbei für die wirkungsvolle Interessensvertretung der Evaluation
auf den verschiedenen Hierarchieebenen der beteiligten Organisationen.

Gerade weil ihnen das Prinzip der Offenheit und Transparenz so am Herzen
liegt, tendieren qualitative Evaluatoren dazu die Empfänger ihrer Botschaften
mit Daten zu überhäufen. Diese Form der gut gemeinten ,,Ehrlichkeit" fördert
aber vielfach weniger die Aufklärung, als sie Frustration, Widerstand oder
zumindest ironische Bemerkungen über die Unerfahrenheit des betreffenden
Evaluators in organisatorischen Belangen provoziert. Eine realistische Ein-
schätzung der Verarbeitungskapazität des Projektes sowie der Organisation
hinsichtlich der Informationen der Evaluation, ist die zentrale Voraussetzung
dafür, dass der Evaluator nicht vergebens produziert. In unserem Fall verlän-
gerte sich der Rhythmus der Präsentationen von anfangs drei über vier auf
schließlich fünf Monate.
Auf der anderen Seite muss der Evaluator ein Interesse daran haben,
Themen zügig zu erledigen und zurückzugeben. Dies hilft ihm, sich von or-
ganisationsinternen Auseinandersetzungen und ihrer Dynamik abzukoppeln
und klarzustellen, dass die Verantwortung für die Umsetzung der Projekter-
gebnisse bei den zuständigen Leitungskräften liegt und eben nicht still-
schweigend der Evaluation zu- bzw. dorthin abgeschoben werden kann.

5. Eigen-Evaluation versus professionelle Evaluation

Oft wird übersehen, dass in Projekten der Organisationsentwicklung neben


der professionellen Evaluation auch wichtige eigen-evaluative Tätigkeiten
vorkommen. 6 Gerade vor dem Hintergrund einer qualitativen Grundhaltung
werden professionelle Evaluatoren sinnvoller Weise versuchen, diese eigen-
evaluativen Tätigkeiten zu unterstützen, sie arbeitsteilig zu vernetzen und
nutzbar zu machen. Eigen-Evaluation gibt es auf

• der Ebene der Projektgruppen, die durch Moderatoren bzw. Berater an-
geleitet werden. Hier bringen Protokolle, Seminarbewertungen, ,,Blitz-

6 Wir sprechen von Eigen-Evaluation und nicht von Selbst-Evaluation, um deutlich zu ma-
chen, dass die allgemeine Funktion der Evaluation in Projekten grundSätzlich in verschie-
dener und zum Teil funktional äquivalenter Weise wahrgenommen werden kann. Der Be-
griff der Selbstevaluation bezieht sich demgegenüber auf eine bestimmte Vorstellung von
fachlich qualifiziertem und reflektiertem Arbeiten in der Sozialen Arbeit. Selbstevaluation
wird als "systematische Nach-Denk- und Bewertungs-Hilfe" verstanden, die "Handeln in
Situationen reflektierbar, diskutierbar und somit auch kontrollierbar" machen soll (v. Spie-
gel 1993, S. 124).
340 Stephan WolfflThomas Schejfer

lichter" etc. eine Vielzahl eigen-evaluativer Elemente in den routinemä-


ßigen Betrieb;
der Ebene des Projektmanagements, das sich, um seine Aufgabe erfüllen
zu können, immer wieder mit Fragen der Maßnahmenplanung, der Wie-
dervorlage und der Erfolgskontrolle beschäftigt;
der Ebene der Projektsteuerung, die sich über den Erfolg des Gesamt-
projekts Gedanken macht und dabei nicht zuletzt die eigene Rolle prüft.
Nebenbei ist dies letztlich die Ebene, auf der über den Erfolg der Eva-
luation als Maßnahme zu befinden ist.

Für jede dieser Ebenen lassen sich freilich auch die Grenzen der Eigen-
Evaluation aufzeigen, deren Berücksichtigung und Reflexion für das Funk-
tionieren des Projekts wie für den Erfolg der begleitenden Evaluation von
entscheidender Bedeutung sind.
Die vier Stadteilteams aus Sozialem Dienst (des Jugendamtes) und Erziehungshelfern (des
gebietszuständigen Trägers) mussten über fallunabhängige Aktivitäten im Stadtteil, über
Anregungen zu neuen Projektregelungen sowie vordringlich über die "Falleigenschaft" von
individuellen, familialen oder schulischen Problem lagen entscheiden?
Ein wesentliches Mittel der Eigen-Evaluation bestand hier in der Protokollführung, die
wiederum den Diskussionsgang anleiten und abbilden sollte. Gleich einem Leitfaden wurde
das Team mit "Fragen an sich selbst" durch die Fallbearbeitung geführt. Das Protokoll -
und damit auch die Diskussion - musste bestimmte Angaben enthalten, um als angemessen
zu gelten: Aussagen zu den Stärken der Familienmitglieder, zu den Ressourcen im Lebens-
umfeld, zum Fokus der Hilfe (mit dem Kind, mit dem Vater, mit der Lehrerin etc.), zu den
Grenzen des Hilfeeinsatzes usw. Der Diskussionsgang sollte für Anschlusssitzungen sowie
für die Fallverantwortlichen nachvollziehbar sein. Diese Anforderung wurde allerdings
bald als Zumutung empfunden und somit nur selten als Chance zur Qualifizierung der ei-
genen Arbeit genutzt.
Ein anderes Mittel der Eigen-Evaluation ging mit Sonderrollen in den Teams einher. Neben
der Diskussionsleitung sollte in jedem Team ein Mitglied aus der Projektleitung als "Pro-
jektanwalt" vertreten sein. Diese "Wächter" sollten den "Geist des Projekts" repräsentieren
und immer wieder an die Projektziele sowie an den Sinn und Zweck der ganzen Unterneh-
mung erinnern. Um eine Abnutzung dieser Rolle zu verhindern und die betreffenden Per-
sonen nicht zu stark dem Druck der Gruppensolidarität auszusetzen, wurde die Rotation der
Projektanwälte zwischen den Teams vereinbart.
Das konsequente Beharren auf der Differenz zwischen der professionellen
Evaluation einerseits (d.h. den Personen und Institutionen, die dies betreiben,
und deren Maßnahmen) und der Evaluationsfunktion im Projekt andererseits
stellt ein wichtiges Element der Projektsteuerung dar. Das Verhältnis zwi-
schen Eigen-Evaluation und professioneller Evaluation sollte immer wieder
überprüft und bedarfsgerecht austariert werden. Es ist ein wesentliches
Merkmal professioneller Arbeit immer präzise angeben zu können, für was
man sich nicht oder nicht mehr zuständig fühlt. Gerade die oftmals hoch en-

7 Mit der Falleigenschaft ist die Übergabe vom Verfahren-verantwortlichen ASD zum Hilfe-
verantwortlichen Träger verbunden.
Begleitende Evaluation in sozialen Einrichtungen 341

gagierten, begleitenden Evaluatoren sollten sich immer wieder die Frage


stellen: "Wozu benötigen das Projekt, seine Teilnehmer oder die Gesamtor-
ganisation überhaupt (noch) professionelle Fremdevaluation?" Drei Szenarios
- und deren Mischformen - markieren die betreffenden Spielräume:

• Szenario 1: Die Eigenevaluation ist fragil, sie braucht Führung und Orga-
nisation (die professionelle Evaluation erfüllt dann Management-Funk-
tionen).
Szenario 2: Die Eigenevaluation ist eher fragil und benötig deshalb pro-
zessorientierte Unterstützung (die professionelle Evaluation erfüllt hier
Katalysator- und Beratungsfunktionen).
• Szenario 3: Die Eigenevaluation ist eher stabil, aber sie ist nicht ausrei-
chend systematisch und selbstreflexiv (die professionelle Evaluation er-
füllt dann die Funktion der wissenschaftlichen Begleitung und Supervisi-
on).

In aller Regel verändert sich die Funktion der Evaluation im Projektverlauf.


In jedem Fall scheint uns die dritte Funktion unverzichtbar. Die professio-
nelle Evaluation etabliert nämlich eine eigene Beobachtungsebene, die von
den Projekten zur Lokalisierung ihrer "blinden Flecken" wie zur Selbstrefle-
xion genutzt werden kann.
Eine weitere Antwort auf die Frage "Wozu braucht man Evaluation?" lau-
tet realistischerweise: "Weil man es heutzutage eben so macht!". Die Rück-
sichtnahme auf institutionalisierte und zum Teil gesetzlich verankerte Gebräu-
che dürfte für die konkrete Entscheidung über die Einrichtung und Dimensio-
nierung von Evaluationsmaßnahmen oft ausschlaggebender sein als die ande-
ren genannten Funktionen. 8 Daraus folgt, dass Projekte und Projektverantwort-
liche im Verlauf der Arbeit vielfach erst lernen müssen, was sie mit Evaluation
anfangen können bzw. was sie von ihr zu erwarten haben.

6. Gründe für ein fehlendes Interesse an begleitender


Evaluation

Evaluation wird - gerade wenn sie prozessnah operiert - fast automatisch in


das mikropolitische Ringen um Wissen, Information und Prestige verwickelt.
Evaluationsberichte sind oft die einzig verfügbaren Spuren dessen, "was vor
Ort los ist", was von einem Projekt "unten ankommt" und darüber, ob bzw. wie
ein Projekt "lebt". Dies lässt solche Berichte zu relevanten Informationsquellen
für höhere wie für außen stehende Stellen werden: für Manager, Planer, Geld-

8 Erhellende Einsichten dazu vermitteln BrunssonlOlsen (1993) und Bogumil/Kißler (1998).


342 Stephan WolfflThomas Schejfer

geber und Aufsichtsbehörden ebenso wie für Kollegen, die selbst nicht im
Projekt involviert sind. Gerade dieses Schaffen von (Organisations-)Öffent-
lichkeit macht Evaluation bei den Evaluierten verdächtig und unter Umständen
sogar gefürchtet - als eine Art des Ausspionierens "von uns hier unten"Y Eine
solche Ambivalenz findet sich gleichermaßen im Hinblick auf die Rezeption
von Evaluationsergebnissen, die oft zwischen positiver Neugier und dezidierter
Abwehr schwankt.
Ein und derselbe Bericht löste völlig konträre Reaktionen aus. In einem Gebiet wurde er
von vornherein als Chance wahrgenommen, über Schwachstellen im Konzept und über
Unvereinbarkeiten mit bzw. in der Praxis nachzudenken. Im anderen Gebiet ging es dage-
gen um Fragen des individuellen Scheiterns. Die Reaktionen wechselten entsprechend zwi-
schen Verteidigung ("Andere machen das aber auch so!" oder "So was wie im Bericht
steht, gibt es bei uns nicht!"), Rückzug ("Soll der doch schreiben!") und konstruktiver
Nachdenklichkeit ("Das kann auch uns passieren! Aber, wie kommen wir damit zurecht?").
Die Evaluationsergebnisse wurden nur dort als Lernmittel genutzt, wo Fehlerfreundlichkeit
und Veränderbarkeitswillen glaubhaft von Seiten der Leitung und relevanter Multiplikato-
ren propagiert wurden. Der direkte Gebietsvergleich unterstrich für mich, dass ich das Ein-
speisen des Berichts selbst, d.h. den zeitlichen Vorlauf, die Strukturierung des Präsentati-
onsworkshops und die Präsentation selbst, viel ernster nehmen musste.
Neben der gesteigerten Aufmerksamkeit (aufgrund von Neugier oder allerlei
Befürchtungen) findet sich auch die gegenteilige Erfahrung. Evaluatoren müs-
sen häufig erkennen, dass relevante Mitspieler an ihren Diensten kein son-
derliches Interesse zeigen. Die Evaluation wird mitunter schlicht vergessen. Für
eine solche Miss-Achtung lassen sich verschiedene Gründe anführen.
(l) Zum einen haben die beteiligten Insider gelernt, der Rhetorik von Or-
ganisationsreformen zu misstrauen. Sie wissen aus Erfahrung, dass entspre-
chende Verlautbarungen meist ein zu einfaches Bild der Realität, ihrer Ver-
änderbarkeit und der FeststeIlbarkeit entsprechender Ergebnisse zeichnen.
Im Erziehungshilfeprojekt wurden anfangs recht plakative Formeln bemüht, um das neue
Verfahren der Hilfeplanung und seine Ausrichtung begreiflich und attraktiv zu machen.
Statt "Konfektionsware von der Stange" sollten nun "Maßanzüge" geschneidert werden;
nicht "Nachfrageorientierung", sondern "Angebotsorientierung" sollte dominieren; statt der
Einrichtung sollte jetzt das "Lebensfeld" in den Mittelpunkt rücken. Gegen diese holz-
schnittartigen Gegenüberstellungen regte sich bald Widerstand: "Früher war nicht alles
verkehrt", hieß es, und "Was wissen diese Planer überhaupt schon, was wir vor Ort gelei-
stet haben!"

In Wirklichkeit sind, wie jeder weiß,1O Reformen keine linearen Prozesse, die
von der Planung und Entscheidung bis zur Durchführung gradlinig auf das

9 So wurde ich des öfteren gebeten, Teile von Berichten zurückzuziehen, weil diese oder jene
Beschreibung die lokale Praxis in ein falsches Licht rücke. Diesbezüglich half es auch
nichts, dass ich darauf hinwies, dass alle Beschreibungen über Fallbearbeitungen anonymi-
siert und als Lehrbeispiele konstruiert seien. Im Gegenteil: Meine Beteuerungen waren nur
Anlass zu weiteren Vermutungen und Irritationen.
10 Oder bei Autoren wie Luhmann (2000) oder BrunssoniOlsen (1993) nachlesen kann.
Begleitende Evaluation in sozialen Einrichtungen 343
vorgezeichnete Ziel hin verlaufen. Sobald eine Reformabsicht bekannt wird,
wird die Situation bekanntlich schon unübersichtlich. Es kommt zu Stellung-
nahmen dafür und dagegen, zu Festlegungen und zu Vorwegnahmen der ver-
schiedensten Art. Es treten Verzögerungen auf und es stellt sich ein Hin und
Her zwischen alten und neuen Vorstellungen ein. Die Reformabsicht muss in
Anpassung an die sich ändernden Situationen immer wieder neu beschrieben
und dabei oft unter der Hand modifiziert werden. Zudem operieren Reformer,
wie erwähnt, schon aus Gründen des Projekt-Marketings mit holzschnittarti-
gen Gegenüberstellungen von Mängeln und Verbesserungsmöglichkeiten und
tun so, als ginge es nur noch um Änderung oder Nichtänderung eindeutig un-
haltbarer in Richtung auf ebenso eindeutig wünschbare Zustände. Insoweit zu
befürchten ist, dass sich die Evaluation eher an der Reformrhetorik als an der
Reformwirklichkeit orientiert, lässt sich nachvollziehen, warum manche Be-
teiligte einem Evaluationsvorhaben mit Ablehnung, Skepsis oder zumindest
mit einem Schuss Zynismus begegnen.
(2) Ein zweiter struktureller Grund für die Miss-Achtung der Evaluation
besteht in einem eigenartigen Paradox von Reformen in Organisationen. Eine
erfolgreiche Reform zeichnet sich aus einer übergeordneten Perspektive näm-
lich vielmehr dadurch aus, dass sie ihre Ziele erreicht oder verfehlt, als da-
durch, dass sie Bereitschaft und Bedarf für weitere Veränderungen schafft
oder doch zumindest nicht gefährdet. Dies wiederum hat zur Voraussetzung,
dass man allzu dezidierte Feststellungen zu den einzelnen Reform-Ergebnis-
sen vermeidet und sich bei jedem neuen Versuch nicht allzu intensiv an den
Umstand erinnert, dass und mit welchen Resultaten ähnliche Versuche schon
früher unternommen worden waren. Evaluationsvorhaben, welche die Rheto-
rik der Reform zu wörtlich nehmen, gefährden so gesehen möglicherweise
einen späteren Neuanfang oder schränken zumindest die verfügbaren Optio-
nen ein.
(3) Die gelegentliche Missachtung der Evaluation hat auch damit zu tun,
dass Verwaltungsmodernisierung eben nicht jenes klinisch reine, rationale
Verfahren ll ist, wie sie möglicherweise bei der Lektüre von KGST-Papieren
erscheint. Solche Modernisierungsprozesse lassen sich vermutlich treffender
als eine Folge von Wettspielen beschreiben, wo sich verschieden zusammen-
gesetzte Mannschaften auf unterschiedlichen Feldern treffen und nach wech-
selnden und nicht ganz eindeutigen Regeln um die Durchsetzung ihrer z.T.
sehr unterschiedlichen Ambitionen kämpfen: die Politiker im Rat, die Ver-
waltungsspitzen, die Amtsleiter, die Personalvertretungen, das mittlere Ma-
nagement, die Beschäftigten an der Basis, die institutionellen Kooperations-
partner und last but - oft - least die betroffenen Bürger. Kompliziert wird das
Bild noch durch schwer berechenbare Akteure von außerhalb, zu denen ne-
ben Organisationsberatern und Evaluatoren die KGST und andere interes-

11 Gerne verwandt wird in diesem Zusammenhang die Metapher des "Experiments" oder des
"Modellversuchs".
344 Stephan WoljflThomas Schejfer

sierte Öffentlichkeiten zählen, bei denen bisweilen nicht klar ist, ob sie als
Zuschauer, Spieler oder Schiedsrichter fungieren. All diese verschiedenen
Perspektiven zu vereinen mag vielleicht der Traum mancher hoch gestimmter
qualitativer Evaluatoren (und Projektmanager) sein. An der praktischen Um-
setzung dieses Traums besteht aber auf Seiten der "Stakeholders", wenn
überhaupt, dann nur ganz selten wirkliches Interesse.
(4) Ein weiterer Grund für die Vernachlässigung von Evaluation mag
schließlich darin zu suchen sein, dass viele Praktiker bereits zwiespältige Er-
fahrungen mit Evaluationen gesammelt haben. Tatsächlich gibt es viele Bei-
spiele arbeitsintensiver und gleichwohl unergiebiger Evaluationen, die Er-
nüchterung bis hin zur habitualisierten Abwehrhaltung zur Folge haben. Zu
viele zu groß angelegte Evaluationen (vor allem summativer Art) haben dem
Glauben an einen Lerngewinn durch Evaluation Abbruch getan. Potenziell
bereitet jede aktuelle den Boden für eine nachfolgende Evaluation - oder ent-
zieht ihr denselben. Entsprechend haben Evaluatoren eine Verantwortung der
eigenen Zunft gegenüber, aber auch einen "allgemeinen Bildungsauftrag"
hinsichtlich dessen, was professionelle Evaluation ausmacht.
Im Jugendamt waren die Vorstellungen bei Management und Basis darüber, was und wie
evaluiert werden sollte, für die begleitende Evaluation wenig hilfreich. Dies lag nur zu ei-
nem geringeren Teil an mangelnden forschungsmethodischen Kenntnissen. Wichtiger war
das Unverständnis hinsichtlich der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten evaluativen Vor-
gehens überhaupt. In einigen Unterprojekten entstanden Disproportionen durch die Suche
nach "großenI' Kausalitäten. Man setzt sich z.B. das Ziel herauszufinden: "Warum sind die
Langzeitfälle so geworden?", statt kleiner zu fragen: "Welche Funktionen übernehmen wir
Sozialarbeiter in langen Hilfebeziehungen im Familiensystem (und wollen wir diese wahr-
nehmen)?" Typisch war der Wille, ein möglichst umfassendes Wissen über den jeweiligen
Fall zu sammeln, ohne die jeweilige Relevanz der Daten anzugeben. 12 Vielfach wurden
Fragen formuliert ohne sich Gedanken über Möglichkeiten ihrer Operationalisierbarkeit
und forschungspraktischen Umsetzung zu machen. In einem hausinternen Projekt zur ge-
zielten Sprachförderung wurden Erzieher/innen per Fragebogen befragt: "Wie war das
Sprachverhalten des Kindes vor und nach der Förderung?". Eigen-Evaluation von Projek-
ten zeichneten sich häufig durch einen starken politischen Impetus aus. Es wurden Fragen
passend zu den Projekt-Motiven gestellt, um durch Eigen-Lob eine weitere Projektförde-
rung sicherzustellen. Ein weiteres Merkmal unergiebiger Evaluation ist das bloße Aufzäh-
len der beschlossenen Maßnahmen. Es wird auf Nachfrage "von oben" lediglich der Voll-
zug gemeldet, ohne näher auf die Art und Weise einer (möglichen) Umsetzung der Ergeb-
nisse einzugehen.

12 Diese Art des Umgangs mit Informationen ist im Übrigen ein in Organisationen durchaus
typisches Verhalten (vgl. FeldmanlMarch 1981).
Begleitende Evaluation in sozialen Einrichtungen 345

7. Wirkungs grenzen

Ihre Gegenstands- und Prozessnähe verführt manche qualitative Evaluatoren


zu dem irrigen Glauben, sie könnten und sollten das Lernen der Organisation
nach ihren Vorstellungen und Erkenntnissen formen. 13 Dabei verkennen sie
jedoch bestimmte strukturelle Wirkungsgrenzen der Evaluation. Wir meinen
damit nicht nur den Umstand, dass in der Organisationspraxis das ,,Lob der
Routine" dominiert, dass eingespielte Prozesse grundsätzlich schwer und oft
nur zeitweilig zu irritieren sind oder Richtungsänderungen nachhaltiger Be-
mühungen bedürfen und für ihr Glücken auf günstige organisationspolitische
Konstellationen angewiesen sind. Die strukturellen Wirkungsgrenzen der
Evaluation sind durch ihre vergleichsweise randständige Positionierung be-
dingt, wobei diese Randständigkeit sie dennoch überhaupt erst in die Lage
versetzt, andere, d.h. irritierende Beobachtungen zu machen, die der Organi-
sation und dem Projekt zumindest so nicht zugänglich sind.
Die begleitende Evaluation ist grundsätzlich nur mit Projekten, Pro-
grammen oder Modell-Versuchen und dem, was dort passiert, befasst. Die
Verbindung der Projektpraxis mit der allgemeinen Organisationsentwicklung
ist aber keineswegs eindeutig und zwangsläufig. Projekte können ein munte-
res Eigenleben entwickeln, welches die Organisation als ganze völlig unbe-
rührt lässt, und dazu führt, dass voneinander schlicht keine Kenntnis genom-
men wird. Manche Projekte geraten so zu Spielwiesen, auf denen Neues er-
probt werden, dann aber dort auch ohne Konsequenzen verbleiben kann. Ex-
terne wie interne Evaluatoren vermögen Anstöße zu geben, Irritationen aus-
zulösen und Argumentationshilfen bereitzustellen. Sie befinden sich aber
nicht in der Hierarchie-Linie oder in einer anderen Machtposition, um diese
Impulse umsetzen zu können - und die Konsequenzen dieser Umsetzung ver-
antworten zu müssen.
Sich einerseits die Grenzen der eigenen Wirksamkeit zu vergegenwärti-
gen, andererseits von außen zugemuteten Verantwortlichkeiten gegebenen-
falls als Aufgaben anderer Beteiligter, insbesondere der Leitungsebene, mar-
kieren zu können, gehört zur Professionalität von Evaluatoren. Indem die
Evaluation auf ihre Grenzen achtet, erleichtert sie es den anderen Beteiligten
ihre Rollen beizubehalten und zu erfüllen. Bei aller Responsivität und Feld-
nähe sollte deshalb die grundsätzliche Differenz zwischen Zielen der Evalua-
tion und den Zielen der Arbeitsebene bzw. der Projekte nicht aus dem Blick
geraten. Es spricht viel dafür, dass wirkliches ,,Empowerment" nur bei klar
erkennbarer Differenz der Perspektiven und Verantwortlichkeiten funktio-
niert. Auch die begleitende Evaluation sollte auf einer eigenen und daher

13 Eine solche Tendenz beobachten wir etwa bei der unter qualitativen Evaluationsforschem -
zumindest programmatisch - recht populären "empowennent evaluation" (vgl. Fettennan
u.a. 1996).
346 Stephan WolfflThomas Scheffer

immer ein wenig "verfremdenden" Perspektive behalTen und diesbezüglich


ausdrücklich um Verständnis werben (vgl. AmannlHirschauer 1997). Solche
aus professionellen Gründe notwendigen Grenzziehungen werden sonst leicht
als Relativismus, Gleichgültigkeit oder Distanzierung missverstanden, was
verbunden mit der Zumutung der Rückmeldung zu Blockaden und Abwehr-
reaktionen führen kann.

8. Evaluation als Modell für organisatorisches Lernen?

Ein erfolgreiches Zusammenspiel zwischen der Evaluation, der Projektarbeit


und der Organisation ist keineswegs selbstverständlich. Die Chancen dafür
verbessern sich in dem Maße, indem die Anerkennung und Einbindung der
Evaluation in den Organisationsalltag glücken. Dies zeigt sich beispielsweise
darin, dass die Bedürfnisse der Evaluation bei der Einführung von organisa-
torischen Verfahrensregelungen, Checklisten, Formularen etc. mitbedacht
werden. Allerdings sollte hier die Evaluation auch nicht von sich aus den
Aufwand in die Höhe treiben, sondern Fremd- und Selbstevaluation, die Er-
fordernisse guter Aktenführung und eines brauchbaren Berichtswesen mög-
lichst ressourcensparend zusammenführen. Gemeinsames Ziel sollte es wer-
den, eine Kultur der Schriftlichkeit zu etablieren, die das Projekt auf den ge-
nannten Ebenen hinreichend informativ und verbindlich abbildet und diese
Daten auch für spätere Selbst- und Fremdbeobachtungen - und Lernprozesse
- zugänglich macht.
Die geforderte Dokumentation des Hilfeplanverfahrens erzeugte mitlaufend Anhaltspunkte
für das Qualitätsmanagement der Arbeit vor Ort. So konnte anhand der Protokolle zur
Teambesprechung die Art und Weise der Fallvorstellung durch den ASD rekonstruiert
werden. Anhand der Hilfekontrakte zwischen Familie und Helfer ließ sich zeigen, ob und
wie die Aufgaben zwischen den Beteiligten verteilt wurden. Anhand von Evaluationsfällen
wurde das Qualitätskriterium der "arbeitsteiligen Hilfe" entwickelt. Der Kontrakt solle, so
die Forderung, von jedem Beteiligten zumindest einen festgeschriebenen Beitrag enthalten.
Später stellte sich überraschenderweise heraus, dass von Seiten mancher Stadtteilteams
phasenweise überhaupt keine Kontrakte dokumentiert (oder geschlossen?) wurden. Es
schien eine Art Selbst- und Generalbeauftragung der Helfer vorzuherrschen. Das per Eva-
luationsbericht bemängelte Fehlen der Kontrakte bzw. der obligatorischen Dokumente
sorgte für helle Aufregung in der Organisation: Ein unabhängig von Evaluation funktionie-
rendes Beobachtungssystem auf der Grundlage der Dokumentationspflichten hatte sich of-
fenbar noch nicht etabliert. Auf diese Weise übernahm die Evaluation die "sachfremde"
Funktion einer Revision (und machte sich damit unbeliebt!).
Damit wären wir bei der Frage, welchen Beitrag die begleitende Evaluation da-
zu leisten kann, dass sich Einrichtungen über die begrenzten Projektphasen
hinaus zu lernenden Organisationen entwickeln? Ein Problem bei der Beant-
wortung dieser Frage besteht darin, dass in der Organisationsforschung nie-
Begleitende Evaluation in sozialen Einrichtungen 347

mand so recht weiß, was lernende Organisationen eigentlich sind und wie bzw.
wo Lernen in Organisationen genau zu verorten ist. Wir wollen gar nicht erst
versuchen, den Flickenteppich der aktuellen theoretischen Angebote auszu-
breiten. Da in Organisationen gleichzeitig ganz verschiedene Lernprozesse ab-
laufen, mit unterschiedlichem Tempo und unterschiedlichen Effekten, ist eine
allgemeine und gleichzeitig instruktive Lerntheorie der Organisation auch gar
nicht zu erwarten. Vieles, was die Intelligenz einer Organisation, aber auch was
die Kompetenz ihrer Mitglieder ausmacht, ist zudem implizites Wissen, das sich
nicht durch dezidiertes Lernen, sondern eher über den allmählichen Erwerb ei-
ner bestimmten Sprache, Praxis und Organisationskultur aneignen lässt. Gerade
in sozialen Einrichtungen und professionalisierten Berufen wird der Novize erst
im Verlauf einer Art ,,Lehrzeit" zum anerkannten Mitglied einer "community
of practice" (BrownJ Duguid 1996). Das, worauf es dabei ankommt, ist nur
zum Teil in Köpfen, Lehrbüchern oder Qualitätshandbüchern verortet und von
dort abrufbar. Vieles manifestiert sich vielmehr darin, wie Kommunikations-
prozesse ablaufen und welche Geschichten erzählt werden, in einem bestimm-
ten Habitus oder auch darin, wie sich eine Organisation und ihre Mitglieder
durch Entwicklungen innerhalb und außerhalb der Organisationen überraschen,
irritieren und faszinieren lassen.
In einem solch komplexen Verständnis von organisatorischem Lernen
kommt der Evaluation durchaus eine strategische Rolle zu: nicht so sehr hin-
sichtlich ihrer konkreten Ergebnisse bezüglich, wohl aber bezüglich der Art
und Weise ihres Vorgehens. Grundsätzlich spielt gerade eine begleitende
Evaluation - anders als die Ergebnisevaluation - bei der Veralltäglichung der
Projektarbeit eine wichtige Rolle. Einerseits setzt eine lernende Organisation
ein einigermaßen intaktes Verhältnis zur Evaluationsfunktion voraus, wonach
Evaluationsergebnisse nicht als Kritik oder gar Angriff, sondern als Reflexi-
onsangebot aufgefasst werden. Andererseits ist die begleitende Evaluation
anschlussfähig an systemeigene Mechanismen der Kontrolle und der Eigen-
evaluation. Da die professionelle Evaluation in der Regel zeitlich mit der
Projektphase verknüpft ist, müssen sich begleitende Evaluatoren die Frage
stellen, welche Möglichkeiten bestehen, schon während der Zeit der prakti-
schen Arbeit zur Förderung evaluativen Denkens und Handeins in der Orga-
nisation beizutragen. Lernbereitschaft und Reflexionskultur können auf ver-
schiedenen Wegen durch den Evaluator gefördert werden: durch Hilfestel-
lungen bei projekteigenen Evaluationen, durch Anregung von selbst-
evaluativen Prozessen bei den Auftraggebern oder durch die Sicherstellung
der Öffentlichkeit des Vorgehens und der Ergebnisse der Evaluation.
Im HzE-Projekt bestand der letzte Bericht aus solchen Verfahrensvorschlägen. Behandelt
wurde u.a., wie in der Folge ein effektives Qualitätsmanagement und Qualitäts-Früh-Wam-
system installiert werden könnten. Es ging mir darum zu zeigen, wie Evaluation im Über-
gang vom Projekt zur Organisations entwicklung überflüssig gemacht oder zumindest von
bisherigen ThemensteIlungen entlastet werden kann. An die Stelle der Evaluation treten
dann routinisierte Formen von Selbst-Beobachtung: das allgemeine Controlling (aufge-
348 Stephan WolfflThomas Scheffer
hängt an den wahrgenommenen Terminen bzw. Leistungsstunden der Helfer), die einzel-
fallbezogene Revision (aufgehängt an den quartalsweisen Hilfekontrakten mit den Famili-
en), das gruppenvergleichende Benchmarking (aufgehängt an den Dokumentationen, an
Klientenbefragungen und an Controlling-Daten) sowie eine leistungsbezogene Budgetie-
rung. Als Konsequenz und Folge der Evaluation sollten, so lautete der Vorschlag, - ge-
meinsam mit anderen Kräften im Qualitätsmanagement - standardisierte, aber gleichwohl
flexible Instrumente der Begutachtung und Intervention entwickelt werden.
Der Beitrag der begleitenden Evaluation zur organisatorischen Lernkultur re-
duziert sich also nicht auf die von ihr vorgelegten inhaltlichen und schnell an
Aktualität verlierenden Ergebnisse. Er beruht vor allem in dem, was Michael
Patton (1997) als Prozessnutzen bezeichnet. Von zentraler Bedeutung dafür
sind das konsequente Einfordern und Einüben einer Maßnahmeorientierung.
Alle Projektbeteiligten werden an den Schnittstellen zur wissenschaftlichen
Begleitung dazu angehalten, ihre gestaltenden Aktivitäten, d.h. die Interven-
tionen der Projektleitung wie die Programm-Umsetzungen der Projektgrup-
pen, konsequent als Maßnahmen zu verstehen. Dazu sind Ziele, Vorgehens-
weisen, Fristen, personelle und sachliche Ressourcen sowie Zielerreichungs-
kriterien von vorneherein klar zu formulieren und zu dokumentieren. Für die-
ses Vorgehen spricht:

Die Maßnahmeorientierung führt zur Segmentierung und Entflechtung


vielschichtiger Problemlagen und Handlungsstränge.
• Die Maßnahmeorientierung macht die Projektarbeit kommunizierbar und
damit für Dritte anschlussfahig. Mit der Beschreibbarkeit einer Maßnah-
me wird der Gefahr entgegengetreten, dass lokale Erfahrungen in ande-
ren Zusammenhängen nicht genutzt werden. Schon die Verschriftlichung
bzw. die Präsentation der Erfahrungen setzt Bewertung (Eigenevaluati-
on) und auch systematische Analysen voraus. Die Maßnahmeorientie-
rung ist daher eine gute Basis für die modulare Entwicklung von "lessons
learned" bzw. von "examples of good practice".
Die Maßnahmeorientierung bringt summative Elemente in die - weiter-
hin maßgebliche - formative Grundstruktur der Evaluation ein. Eine ab-
schließende Bewertung der Maßnahme und darauf aufbauend die Neu-
planung weiterer Schritte werden möglich.
• Die Maßnahmeorientierung hat schließlich den Vorteil, dass sie an Me-
thodiken des Qualitätsmanagements und an Methoden der Qualitätssiche-
rung anschlussfähig ist.
Begleitende Evaluation in sozialen Einrichtungen 349

9. Maßnahmen zur Qualitätssicherung

Die Frage der Qualität betrifft nicht nur die Projektarbeit oder die Organisati-
onsentwicklung. Sie betrifft auch die Evaluation selbst. Ohne Anspruch auf
Vollständigkeit wollen wir deshalb noch auf einige Maßnahmen der Quali-
tätssicherung von Evaluationen hinweisen, die sich aus unserer Sicht als hilf-
reich erwiesen haben:

Die Evaluation formuliert ein Leistungsangebot, das die einzelnen Maß-


nahmen, ihre Ziele, Durchführungsmodalitäten, Zeitpläne, Dokumentati-
onsweisen und Verantwortlichkeiten definiert. Die Projektleitung ver-
sieht sie dann mit einem eindeutigen Auftrag.
• Es werden Feedbackvereinbarungen mit den Auftraggebern und eventu-
ell mit anderen Prozessbeteiligten getroffen. Zeitpunkte, Ort und Medien
des Feedbacks sollten darin geregelt sein.
Von Seiten der Evaluation muss auf ein hohes Maß an Transparenz des
Vorgehens und an Öffentlichkeit der Ergebnisse gedrungen werden. Öf-
fentlichkeit und Transparenz sollten durch Verwendung moderner Prä-
sentationsformen und Darstellungsmedien gesteigert werden.
• Ein früher Einstieg der Evaluatoren, möglichst vor der eigentlichen Pro-
jektgruppenarbeit ist zu gewährleisten.
Die Mitarbeit bei oder zumindest die Unterstützung von Maßnahmen der
Evaluation sollten als konstitutives Element der Projektarbeit angesehen
werden und im Auftrag der Projektgruppen enthalten sein.
• Begleitende Evaluatoren sollten neben qualitativen auch quantitative
Methoden der Datenerhebung und -analyse beherrschen und prozessbe-
zogen einsetzen bzw. anpassen können.
• Bei den Evaluierten und den Auftraggebern sollte das Verständnis für die
Logik der Datenerhebung und für die Vorgehensweisen bei der Daten-
aufbereitung - gegebenenfalls in einschlägigen Workshops - aktiv ge-
weckt und gefördert werden.
• Eine Evaluation der Evaluation ist zu gewährleisten bzw. von den Auf-
traggebern einzufordern. Die Evaluation der Evaluation kann schon mit-
laufend durch beratende Arbeitsgruppen erfolgen. Sie kann als kollegiale
Supervision zusammen mit anderen Evaluatoren organisiert sein. Nicht
zuletzt obliegt es auch den Auftraggebern, den Evaluator von Zeit zu Zeit
an die Einhaltung des eigenen Konzepts und an die gemeinsam verein-
barte eigene Rolle zu erinnern.
Empfehlungen gehören nicht notwendig zur Aufgabe der Evaluation.
Werden dennoch Empfehlungen formuliert, dann sollten diese eindeutig
aus den erhobenen Befunden ableitbar sein und als Diskussionseröffher
und Verständigungshilfen dienen. Oft erschließt sich dem Publikum die
350 Stephan WoljffThomas Schejfer

Relevanz von Beschreibungen erst vor dem Hintergrund "vorsichtiger"


Empfehlungen, die daran geknüpft werden.

10. Der geheime Lehrplan: lernen, beantwortbare Fragen zu


stellen

Der geheime Lehrplan begleitender Evaluationen lautet: Organisationen und


ihre Mitglieder sollen ein Gefühl für die Wirkung ihres Tuns entwickeln und
sich darin üben, komplexe Sachverhalte und hehre Absichten auf gangbare
Schritte und überprüfbare Kriterien herunterzubrechen. Ihnen wird nahe ge-
legt, vordringlich beantwortbare Fragen zu stellen. Wer sich die Kommuni-
kation in sozialen Einrichtungen einmal näher ansieht, der stellt fest, dass
dort derartige bescheidene Fragen eine eher untergeordnete Rolle spielen.
Zumindest besteht eine eindeutige Präferenz für den Austausch von grund-
sätzlichen Meinungen, Überzeugungen und Bekenntnissen. Wenn, dann geht
es um das Aufwerfen großer Fragen mit Ewigkeitswert (wie jenen nach Le-
bensweltorientierung, Klientenbezug, Flexibilisierung, Partizipation, Norma-
lisierung oder Wohnortnähe), vor denen man ehrfürchtig und staunend ver-
harrt oder sie als argumentative Spielmarken hin- und herschiebt. Was immer
eine lernende Organisation sein mag, eines ihrer wesentlichen Kennzeichen
dürfte sein, dass man sich dort ständig um beantwortbare Fragen bemüht,
immer im Bewusstsein, dass jede Konkretisierung, jedes Kriterium und jeder
Antwortversuch unweigerlich eine im Grunde unzulässige Vereinfachung
darstellt, aber auch im berechtigten Vertrauen darauf, dadurch Prozesse aus-
zulösen, bei denen Kommunikation, Lernen und im besten Falle Einsicht an-
fäUt. 14 Hierfür ist die begleitende Evaluation zweifellos hilfreich, aber natür-
lich keineswegs ausreichend.

14 In diesem Sinne bleibt die Maßnahmeorientierung der begleitenden Evaluation letztendlich


immer nur eine Fiktion. Sie tut so, als ob Organisationen nach diesem Muster tatsächlich
"durchgestyled" werden könnten. Dies ist natürlich nicht der Fall. Die Funktionsweise von
Organisationen hängt wesentlich von Latenzen, vom mehr oder weniger sturen Festhalten
an eingespielten Standardprozeduren und von Ressourcen schonenden Begrenzung der or-
ganisatorischen Selbstreflexivität ab. Dennoch gehört es zu der "Intelligenz" einer Organi-
sationen gegen alle realistischen Einreden zumindest gelegentlich im Modus des "als ob"-
Denkens und -Handeins zu verharren - und das heißt, so tun zu können, als wäre sie als
ganze ein evaluierbares Projekt.
Begleitende Evaluation in sozialen Einrichtungen 351

Literatur

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Die Autorinnen und Autoren

Bock, Karin, Jg. 1970, Dr. phil., Diplom-Pädagogin; wissenschaftliche Assi-


stentin am Lehrstuhl Allgemeine Erziehungswissenschaft der Philosophi-
schen Fakultät der Technischen Universität Chemnitz; Arbeitsschwerpunkte:
qualitative Methoden der Sozialforschung, Generationen- und Familienfor-
schung, Theorie der Kinder- und Jugendhilfe.

Chambon, Adrienne, Jg. 1949, Ph.D., M.A.; Professorin an der Fakultät für
Sozialarbeit der University of Toronto; Arbeitsschwerpunkte: Soziologie der
Sozialen Arbeit, Verhältnis von Subjektivität und Institutionen, Soziale Ar-
beit mit MigrantInnen, Flüchtlingen und Folteropfern.

Haubrich, Karin, Jg. 1965, Diplom-Soziologin; wissenschaftliche Mitarbeite-


rin am Deutschen Jugendinstitut in München; Arbeitsschwerpunkte: Evalua-
tionsforschung, Programmevaluation, Jugendsozialarbeit/Jugendberufshilfe.

Hanses, Andreas, Jg. 1958, Dr. phil., Diplom-Sozialpädagoge; wissenschaft-


licher Assistent am Studiengang Sozialpädagogik/Sozial arbeitswissenschaft
und Leitungsmitglied des Instituts für angewandte Biographie- und Lebens-
weltforschung (illL) der Universität Bremen; Arbeitsschwerpunkte: rekon-
struktive Soziale Arbeit, Diagnostik und Assessment, Gesundheits- und Re-
habilitationswissenschaften, Biographie- und qualitative Sozialforschung.

Haupert, Bemhard, Jg. 1952, Dr. phil. habil., Diplom-Soziologe; Professor


für Soziologie und Sozialarbeitsforschung an der Katholischen Hochschule
für Soziale Arbeit Saarbrücken, Privatdozent für Sozialarbeit/Sozialpädago-
gik an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg; Arbeitsschwerpunkte:
Biographieforschung, Theorie Sozialer Arbeit, historische Sozialforschung, qua-
litative Methoden der Sozialforschung, Professionstheorie, Sozial- und Devi-
anzpädagogik, Religionssoziologie.

Klatetzki, Thomas, Jg. 1956, Dr. phil., Diplom-Soziologe, Diplom-Psycho-


loge; Professor für Organisationssoziologie am Fachbereich Sozial wissen-
354 Die Autorinnen und Autoren
schaften der Universität Siegen; Arbeitsschwerpunkte: Kognitive Organisati-
onstheorie, Institutionentheorie, Organisationskultur, Strukturierung profes-
sionellen Handeins, Organisation erzieherischer Hilfen.

Kraimer, Klaus, Jg. 1951, Dr. phi!. habi!., Diplom-Pädagoge, Diplom-


Sozialpädagoge; Professor für Theorie und Interventionslehre Sozialer Arbeit
und für Pädagogik an der Katholischen Hochschule für Soziale Arbeit Saar-
brücken; Arbeitsschwerpunkte: Sozial- und Devianzpädagogik, fallrekon-
struktive Forschung und Methodenentwicklung.

Lüders, Christian, Jg. 1953, Dr. phi!., Diplom-Pädagoge; Leiter der Abtei-
lung Jugend und Jugendhilfe am Deutschen Jugendinstitut in München; Ar-
beitschwerpunkte: Kinder- und Jugendhilfe, Sozialpädagogik, qualitative So-
zialforschung, Evaluationsforschung.

Nölke, Eberhard, Jg. 1953, Dr. phi!., M.A., Psychotherapeut (KJP); Professor
für Theorie der Sozialen Arbeit am Fachbereich Sozialpädagogik der Fach-
hochschule Darmstadt; Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Methoden der So-
zialen Arbeit, hermeneutische Sozialforschung.

SchejJer, Thomas, Jg. 1967, Dr. phi!.; Research Fellow im Rahmen des Em-
my-Noether-Stipendiums der DFG an der University ofLancaster, Faculty of
Sociology, England. Arbeitsschwerpunkte: Mikrosoziologie, Wissenschafts-
forschung, Rechtssoziologie.

Schweppe, Cornelia, Jg. 1955, Dr. phi!. habi!., Diplom-Pädagogin, Master of


Arts (USA); Professorin für Sozialpädagogik am pädagogischen Institut der
Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Arbeitsschwerpunkte: Professionali-
sierung der Sozialen Arbeit, sozialpädagogische Forschung, qualitative Me-
thoden der Sozialforschung, Alters- und Altenhilfeforschung, Internationali-
tät und Interkulturalität in der Sozialen Arbeit, Soziale Arbeit in Entwick-
1ungsländern.

Seckinger, Mike, Jg. 1965, Dr. phi!., Diplom-Psychologe; wissenschaftlicher


Mitarbeiter am Deutschen Jugendinstitut in München; Arbeitsschwerpunkte:
Strukturen und Leistungen öffentlicher und freier Jugendhilfe, Kooperations-
beziehungen, Gemeindepsychologie, Qualität der Sozialen Arbeit, Methoden
der empirischen Sozialforschung.

Sutter, Hansjörg, Jg. 1960, Dr. phi!., M.A.; wissenschaftlicher Assistent am


Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Johann Wolfgang Goe-
the-Universität FrankfurtJM.; Arbeitsschwerpunkte: Bildungsprozesse des
Subjekts, Moral- und Demokratieerziehung, Grundlagen hermeneutischer So-
zialforschung.
Die Autorinnen und Autoren 355

Thole, Werner, Jg. 1955, Dr. phil. habil., Diplom-Pädagoge, Diplom-Sozial-


pädagoge/Sozialarbeiter; Professor für Jugend- und Erwachsenenbildung am
Fachbereich Sozialwesen der Universität Kassel; Arbeitsschwerpunkte: theo-
retische, professionsbezogene und disziplinäre Fragen der Sozialpädagogik,
Theorie und Praxis der Kinder- und Jugendhilfe, außerschulische Kinder- und
Jugendarbeit, Kinder- und Jugendforschung.

van Santen, Eric, Jg. 1961, Dr. phil., Diplom-Soziologe; wissenschaftlicher


Mitarbeiter am Deutschen Jugendinstitut in München; Arbeitsschwerpunkte:
Strukturen und Leistungen öffentlicher und freier Jugendhilfe, Kooperations-
beziehungen, Kinder- und Jugendhilfestatistik, Methoden der empirischen
Sozialforschung.

von Wensierski, Hans-Jürgen, Jg. 1954, Dr. phil., Diplom-Pädagoge; Profes-


sor für Sozialpädagogik an der Fachhochschule Jena, z. Zt. Vertretungspro-
fessor für Kindheits- und Jugendforschung am Institut für Allgemeine Päd-
agogik und Sozialpädagogik der Universität Rostock; Arbeitsschwerpunkte:
Jugendforschung, Biographieforschung, Rekonstruktive Sozialpädagogik,
Jugendarbeit.

Wolff, Stephan, Jg. 1947, Dr. rer. pol. habil., M.A.; Professor für Sozialpäd-
agogik am Institut für Sozialpädagogik und wissenschaftlicher Leiter des
Weiterbildungsstudiengangs "Organization Studies" der Universität Hildes-
heim; Arbeitsschwerpunkte: angewandte Organisationsforschung, Rechtsso-
ziologie, qualitative Sozialforschung, Ethnomethodologie.

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