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in der Sozialpädagogik
Cornelia Schweppe (Hrsg.)
Qualitative Forschung
in der Sozialpädagogik
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung
außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages
unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro-
verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Inhalt
Wem er Thole
"Wir lassen uns unsere Weitsicht nicht verwirren". Rekonstruktive,
qualitative Sozialforschung und Soziale Arbeit - Reflexionen über
eine ambivalente Beziehung ................................................................... 43
Hans-Jürgen v. Wensierski
Rekonstruktive Sozialpädagogik im intermediären Feld eines
Wissenschaft-Praxis-Diskurses. Das Beispiel Praxisforschung.............. 67
Thomas Klatetzki
Skripts in Organisationen. Ein praxistheoretischer Bezugsrahmen
für die Artikulation des kulturellen Repertoires sozialer Einrichtungen
und Dienste ..................................................................................... ,....... 93
Cornelia Schweppe
Wie handeln Sozialpädagoglnnen?
Rekonstruktionen der professionellen Praxis der Sozialen Arbeit ......... 145
Klaus Kraimer
Zwischen Disziplin und Profession.
Ein Beitrag zur faIlrekonstruktiven Erforschung der
professionalisierten Praxis am Beispiel der "Hilfen zur Erziehung" ...... 167
Eberhard Nölke
Klinische Sozialarbeit. Annäherungen mittels qualitativer Forschung... 185
Karin Bock
Erleidensprozesse im Berufsalltag eines Sozial beamten .. ...................... 207
Adrienne S. Chambon
SociaIly Committed Discourse Analysis and Social Work Practice ....... 225
Sozialpädagogische AdressatInnenforschung
Hansjoerg Sutter
Die sozialisatorische Relevanz des Alltäglichen
in einem demokratisierten JugendstrafvoIlzug ....................................... 245
Bernhard Haupert
Die Genogrammanalyse als qualitatives Verfahren zur Rekonstruktion
von Deutungsmustern. Eine Fallstudie über "Familiengeheimnisse"
im Bergarbeitermilieu ............ ......... ..................................... ................... 279
Sozialpädagogische Evaluationsforschung
Die Diagnosen über die Entwicklung und den gegenwärtigen Stand der sozial-
pädagogischen Forschung sind nicht immer eindeutig. So konstatieren Rau-
schenbachffhole (1998) ein geringes Ausmaß des derzeitigen sozialpädagogi-
schen Forschungsvolumens, während Jakob (1997) resümiert: ,,Der Eindruck
eines generellen Forschungsdefizits in der Sozialpädagogik, der sowohl inner-
halb der Disziplin selbstkritisch angemerkt als auch aus der Außenperspektive
formuliert wird, lässt sich angesichts der entfalteten Forschungsaktivitäten m.E.
nicht mehr aufrechterhalten. Insbesondere die neuere Entwicklung zeigt die
Vielfalt bearbeiteter Fragestellungen und die Bedeutung der empirischen Er-
gebnisse für den fachlichen und wissenschaftlichen Diskurs" (S. 127). Sicher-
lich besteht kein Zweifel daran, dass die Forschungsaktivitäten in der Sozial-
pädagogik in den letzten Jahren einen erheblichen Aufschwung erfahren haben.
Vielfältige Fragestellungen in zahlreichen Arbeits- und Forschungsfeldern der
Sozialen Arbeit wurden mithilfe eines breiten Spektrums unterschiedlicher
Methoden bearbeitet. Allerdings sind die Forschungsaktivitäten in den rele-
vanten Bereichen der Sozialpädagogik ungleich verteilt. Die Jugendhilfefor-
schung ist weiter fortgeschritten als die Altenhilfeforschung, Forschungsakti-
vitäten im Bereich des professionellen HandeIns ausdifferenzierter als im Be-
reich der sozialpädagogischen Adressatlnnen- oder Institutionenforschung.
Letztendlich lassen sich aber verlässliche Aussagen weder über das Ausmaß
und das Volumen sozialpädagogischer Forschung noch über die Frage, was in
der Sozialen Arbeit mittels Forschung beobachtet und nicht beobachtet worden
ist, kaum treffen (Rauschenbachffhole 1998). Denn eine Forschung über die
sozialpädagogische Forschung, die dazu beitragen könnte, auch diese Fragen
zu klären, ist bislang kaum zu erkennen. Läge diese vor, müsste vielleicht fest-
gestellt werden, dass die sozialpädagogische Forschung doch weiterentwickel-
ter ist, als ihr Ruf vermuten lässt.
Qualitative Forschungsbemühungen, d.h. jener Teil, der das Feld mithilfe
qualitativer Forschungsmethoden erfasst, nehmen innerhalb der sozialpäd-
agogischen Forschung ein großes Segment ein und können mittlerweile auf
eine lange Geschichte zurückblicken. Begrenzt man die qualitative sozial-
pädagogische Forschung nicht vorschnell auf die neuere sozialwissenschaft-
8 Einleitung
Hanses wendet sich der (bislang ungeklärten) Frage zu, über welche
theoretischen bzw. methodologischen Konzepte sich eine originäre, qualitativ
angelegte sozialpädagogische Forschung fassen lässt und greift diesbezüglich
das Konzept der Biographie auf. Er arbeitet vier Dimensionen heraus, die in
biographischen Selbstthematisierungen eingelagert sind, nämlich den Zu-
sammenhang von Subjekt und Struktur, die Bedeutung des Körpers und des
Leibes, die Relevanz von Prozess- bzw. Leidensstrukturen sowie institutio-
nelle und professionelle Interaktionsordnungen und diskutiert, ob und inwie-
weit diese Dimensionen sinnvolle heuristische Kategorien im Hinblick auf
eine qualitative sozialpädagogische Forschung darstellen. Er kommt zu dem
Schluss, dass der Biographieforschung keineswegs die Bedeutung des Kö-
nigsweges in der sozialpädagogischen Forschung beigemessen werden kann,
Biographie sich aber als ein wesentliches Rahmenkonzept und eine Kernka-
tegorie zur Konstituierung einer sozialpädagogischen Forschung erweist und
die Frage nach der Eigenständigkeit sozialpädagogischer Forschung ein we-
sentliches Stück weiterbringen könnte.
Auch Thole wendet sich methodologischen Grundfragen einer sozialpäd-
agogischen Forschung zu. Er bettet die qualitative sozialpädagogische For-
schung in den Gesamtzusammenhang des "sozialpädagogischen Projektes"
(Theorie, Praxis, Ausbildung und Forschung) ein und wendet sich der Frage
zu, über welchen Zuschnitt und welches Profil sich eine mit dem Etikett "so-
zialpädagogisch" versehene Forschung im Rahmen des sozialpädagogischen
Gesamtprojektes legitimiert und inwieweit die Sozialpädagogik bislang auf
eine systematische, methodisch abgesicherte und über allgemeine Standards
fundierte Forschungspraxis verfügt. Ein kritischer Blick hinter die bisherige
qualitative Forschungspraxis in der Sozialpädagogik führt ihn zur Notwen-
digkeit der Formulierung von Qualitätsstandards, ohne die nicht nur die Pro-
filierung qualitativer Ansätze innerhalb der sozialpädagogischen Forschung
zur Debatte stehe, sondern auch ihr Beitrag zur Weiterentwicklung der Sozi-
alpädagogik insgesamt und insbesondere ihrer Theorieentwicklung.
V. Wensierski greift die die sozialpädagogische Forschung schon lange be-
gleitende Frage nach dem Verhältnis von Forschung und Praxis auf. Auf dem
Hintergrund des historisch engen Bezugs (qualitativer) sozialpädagogischer
Forschungsbemühungen zur sozialpädagogischen Praxis und den vielfältigen
konzeptionellen Überlegungen, die auch heute Forschung und Praxis zusam-
menführen und Forschung als Instrument zur Optimierung von praktischen
Handlungsproblemen verstehen, ist es in der Forschungstradition der Sozialen
Arbeit bis in die Gegenwart hinein oftmals zu einer unreflektierten bzw. unbe-
fangenen Vermischung der Ebenen von wissenschaftlicher Forschung und so-
zialpädagogischer Praxis und der mangelnden Beachtung struktureller Diffe-
renzen zwischen wissenschaftlichen und handlungspraktischen Strukturlogiken
gekommen. V. Wensierski negiert diese Differenzen keineswegs. Er geht aber
davon aus, dass es eine Schnittmenge zwischen sozialpädagogischer Praxis und
Forschung gibt, zumal es sich in bei den Fällen um Kommunikationsgemein-
Einleitung 11
Literatur
Flösser, G.: Soziale Arbeit jenseits der Bürokratie. Über das Management des Sozia-
len. Neuwied 1994
Jakob, G.: Sozialpädagogische Forschung. Ein Überblick über Methoden und Ergeb-
nisse qualitativer Studien in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit. In: Jakob, G./
Wensierski, H.-J. v. (Hrsg.): Rekonstruktive Sozialpädagogik. Konzepte und Me-
thoden sozialpädagogischen Verstehens in Forschung und Praxis. Weinheiml
München 1997, S. 125-160
Lüders, Chr.: Qualitative Kinder- und Jugendhilfeforschung. In: Friebertshäuser, B./
Prengel, A. (Hrsg.): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erzie-
hungswissenschaft. WeinheimlMünchen 1997, S. 795-810
Lüders, Chr.: Sozialpädagogische Forschung - was ist das? Eine Annäherung aus der
Perspektive qualitativer Sozialforschung. In: Rauschenbach, Th.rrhole, W.
(Hrsg.): Sozialpädagogische Forschung. WeinheimIMünchen 1998, S. 113-132
Lüders, Chr.lRauschenbach, Th: Forschung: sozialpädagogische. In: Otto, H.-U./
Thiersch, H. (Hrsg.): Handbuch Sozialarbeit/Sozialpädagogik. NeuwiedlKriftel
2001,2. völlig überarbeitete Auflage, S. 562-575
Rauschenbach, Th.rrhole, W.: Sozialpädagogik - ein Fach ohne Forschungskultur?
In: Rauschenbach, Th.rrhole, W. (Hrsg.): Sozialpädagogische Forschung. Ge-
genstand und Funktionen. Bereiche und Methoden. Weinheim 1998, S. 9-28
Wensierski, H.-J. v.: Verstehende Sozialpädagogik. Zur Geschichte und Entwicklung
qualitativer Forschung im Kontext der Sozialen Arbeit. In: Jakob, G.lWensierski,
H.-J. v. (Hrsg.): Rekonstruktive Sozialpädagogik. Konzepte und Methoden sozi-
alpädagogischen Verstehens in Forschung und Praxis. WeinheimIMünchen 1997,
S.77-124
Cornelia Schweppe
Frankfurt, im Sommer 2002
I. Sozialpädagogik und
qualitative Forschung:
theoretische und
methodologische Grundfragen
Andreas Hanses
1. Einleitung
ons- und fallbezogenen Diskussionen in der Sozialen Arbeit nach sich, ob-
wohl- wie Christian Lüders (1999) treffend bemerkt - beide Entwicklungs-
linien zwei Seiten der gleichen Medaille thematisieren (S. 217).
Sowohl parallel als auch quer durch beide thematische Schwerpunkte
hindurch hat der Diskurs zur Professionalisierung der Sozialen Arbeit einen
weiten Raum in der gegenwärtigen sozialpädagogischen Debatte eingenom-
men. Die Dienstleistungsdiskussionen ebenso wie der neu definierte Fallbe-
zug verleihen auf ihre je eigene Art und Weise den Debatten über die Profes-
sionalisierung der Sozialen Arbeit neue Impulse und Konturen. Dagegen se-
hen die Erörterungen zur Disziplinbildung der Sozialpädagogik und Sozialen
Arbeit relativ bescheiden aus. Diskussionen zur sozialpädagogischen For-
schung' lassen sich nur gelegentlich finden. Die "bescheidene Selbstver-
ständlichkeit" von forschungsbezogenen Beiträgen korrespondiert mit gerin-
gen Forschungsaktivitäten in den Feldern der Sozialen Arbeit. Bernd Dewe
und Hans-Uwe Otto (1996) sprechen sogar von einem "gewaltigen For-
schungsdefizit" (S. 21). Der starke Praxisbezug in der Sozialen Arbeit und
die vergleichsweise schwache disziplinäre Ausrichtung lassen eine (eigen-
ständige) sozialpädagogische Forschung zurücktreten. Haben sich in den
letzten Jahren Konzepte der Praxisforschung stärker etabliert (vgl. Müller
1998), so fehlt es dennoch an einer disziplinorientierten "anwendungsbezo-
genen Grundlagenforschung" (OUo 1998, S. 134).
Noch schwieriger wird der Sachverhalt, wenn geklärt werden soll, was
denn eine sozialpädagogische Forschung konstitutiv ausmacht, zum al Werner
Thole (1999) darauf hinweist, dass ein Teil sozialpädagogischer Forschung
entweder als "sozialpädagogische Import- oder Export-Forschung" zu verste-
hen ist. Gemeint sind also Forschungen, die sich entweder nicht auf sozial-
pädagogische Diskurse oder nicht auf sozialpädagogische Fragestellungen
beziehen. Sozialpädagogische Forschung müsste nach Thole (1999) ein De-
sign besitzen, das unterschiedliche Perspektiven zu verknüpfen vermag: Sie
müsste mit einem "sensibilisierenden Konzept" ausgestattet sein, das sowohl
,,Feld- und Bildungsbezug", "Subjekt- und Strukturperspektive" und "institu-
tionelle und personale Aspekte" erfassen kann (S. 230; auch Rauschen-
bachfThole 1998, S. 20). Sozialpädagogische Forschung erfordert somit ei-
nen multiperspektivischen Zugang zum ,,Feld"; die Problemlagen der Adres-
satInnen müssen folglich vor dem Hintergrund des lebensweltlichen Kontex-
tes und der professionellen Praxis mit ihren Interaktionsordnungen und in-
stitutionellen Rahmungen analysiert werden.
Vor dem Hintergrund der defizitären Situation sozialpädagogischer For-
schung und dem Anspruch nach Komplexitätserfassung sozialer Praxis soll in
Unter dem Begriff sozialpädagogische Forschung ist in diesem Beitrag keine im engeren
Sinne pädagogische Forschung gemeint, sondern das umfassende Repertoire sozial wissen-
schaftlicher Forschungskonzepte, wie sie im gesamten Gegenstandsbereich der Sozialen
Arbeit angewendet werden.
Biographie und sozialpädagogische Forschung 21
diesem Beitrag die Frage gestellt werden, welche Bedeutung das theoretische
und methodische Konzept ,,Biographie" für die Entwicklung und Ausgestal-
tung einer qualitativen anwendungsbezogenen Grundlagenforschung in der
Sozialen Arbeit hat. In der Soziologie und den Erziehungswissenschaften hat
die Biographieforschung ihren festen Platz im methodischen Diskurs qualita-
tiver Sozialforschung erhalten, was sich anhand vielzähliger Publikationen
hinreichend belegen lässt. Auch in der Sozialen Arbeit hat die Biographiefor-
schung Einzug in den Kanon wissenschaftlicher Methoden gehalten (vgl. v.
Wensierski 1999). Dennoch bleibt zu fragen, welche Bedeutung einer bio-
graphieorientierten Methode als ein qualitativer Ansatz hinsichtlich der Ent-
wicklung einer "originären" sozialpädagogischen Forschung zukommt. Ist
die biographische Methode nur eine mögliche Option angesichts der anvi-
sierten sozialpädagogischen Methodenpluralität? Oder ist die Biographiefor-
schung für die Soziale Arbeit - wie in anderen Diskursen zur qualitativen So-
zialforschung programmatisch formuliert - als Königsweg zu beschreiben?
Liefert Biographie als theoretisches und methodologisches Rahmenkonzept
wichtige Beiträge für eine sozialpädagogische Forschung?
Diesen Fragen wird im Folgenden nachgegangen. Zuerst werde ich an
einem Fallbeispiel explizieren, welche Kategorien sozialer Wirklichkeit in
einem biographischen Text zur Sprache kommen. Anschließend werden theo-
retische Dimensionen von Biographie vorgestellt, die für die Etablierung ei-
ner qualitativen sozialpädagogischen Forschung von hoher Relevanz sein
dürften. An diesen grundlegenden Erörterungen anknüpfend, wird abschlie-
ßend die Bedeutung der Biographie für Forschungskonzepte in der Sozialen
Arbeit diskutiert.
Wenn im Folgenden von Biographie die Rede ist, dann beziehen sich die
Erörterungen zentral auf Beobachtungen biographischer Analysen. Biogra-
phie als mögliche Kemkategorie einer sozialpädagogischen Forschung ist da-
bei immer als Konzept einer qualitativen Sozial forschung zu denken. Auf
methodische Erörterungen oder eine systematische Übersicht über biographi-
sche Forschungen in der Sozialen Arbeit wird allerdings im Rahmen dieses
Beitrags verzichtet (v gl. dazu Jakob/v. Wensierski 1997; v. Wensierski
1999). Vielmehr steht die Frage nach der heuristischen Qualität von Biogra-
phie für qualitative Forschungsstrategien in der Sozialen Arbeit im Zentrum
der folgenden Ausführungen.
Historisch lässt sich nachzeichnen, dass Biographie mit der Entwicklung der
Moderne nicht mehr nur als Lebensablauf zu beschreiben, sondern vielmehr
als eine soziale Wissens/orm zu verstehen ist (vgl. Alheit 2000, S. 152ff.).
22 Andreas Hanses
Biographie ist also nicht einfach die Summe der Lebensereignisse und -pas-
sagen, sondern vielmehr die Leistung der AkteurInnen, sich in einer moder-
nen Gesellschaft biographisch zu verorten, eine Selbstkonsistenz in der Zeit
hervorzubringen und sich nach außen hin zu präsentieren. Wir haben heute
nicht nur die Freiheit, eine Biographie zu haben. Vielmehr wird sie uns ab-
verlangt, und wir benötigen Biographie für unsere Existenz im sozialen
Raum. Biographie ist somit einerseits als "soziale Konstruktion" (Fischer/
Kohli 1987, S. 27f.) zu begreifen, und andererseits wird sie erzählerisch re-
konstruiert. Diese doppelte Konstruiertheit von Biographie - die soziale wie
die narrative Konstruktion - enthebt die Lebensbeschreibung einem ontologi-
schen Zugriff. Sie erfordert einen Zugang, der der zeitlichen (historischen)
Dimension und der Erzeugungsqualität von Biographie Rechnung trägt.
Biographie als erzählte Lebensgeschichte zu begreifen, impliziert fol-
genden Sachverhalt: Erzählen ist soziale Praxis. Die biographische Narration
bedient sich des Gegenübers, des "signifikanten Anderen", dem Biographi-
sches erzählt wird. Erzählen ist somit in konkreten Interaktionen und sozialen
Settings situiert. Es wird nicht in jeder Situation und nicht jedem Gegenüber
die gleiche biographische Selbstdarstellung präsentiert. Biographie als er-
zählte Lebensgeschichte kann als "sozialer Text" mit stark situativem Ge-
genwartsbezug betrachtet werden. Gleichzeitig ist biographische Selbstprä-
sentation - auch über die Interaktion der Gesprächssituation hinaus - nur
dann möglich, wenn ,,Erinnerungsarbeit" geleistet wird. Das erlebte Leben
wird in der gegenwärtigen Situation neu reformuliert und mittels "kognitiver
Figuren" (vgl. Schütze 1984) in einer ,,Erzählordnung" präsentiert. Wolfram
Fischer-Rosenthal (1999) spricht diesbezüglich von "biographischer Arbeit"
(S. 33ff.), in der eine "strukturelle Koppelung" zwischen kommunikativer
Situiertheit und Erinnerungsarbeit hergestellt wird.
Dabei haben lebensgeschichtliche Narrationen für die Erzählenden nicht
nur die Funktion, sich durch Erinnerungsarbeit der eigenen Lebensgeschichte
zu vergewissern, sondern aus der konkreten Erzählsituation heraus die eigene
Lebensgeschichte zu reformulieren. Das erzählerische Konstruieren der eige-
nen Biographie ist konstitutives Element einer Neuorientierung und Neuset-
zung der ProtagonistInnen. Allerdings sind Erzählungen nicht beliebig: Viel-
mehr besitzen sie eine ,,Erzähl gestalt" (vgl. Rosenthai 1995) oder "Gesamt-
formung" (vgl. Schütze 1981, 1984), mit der Erzählende ihrer biographischen
Selbstdarstellung eine innere Strukturiertheit und Sinnhaftigkeit verleihen.
Die Erzählgestalt ist im Wesentlichen der gegenwärtigen Erzählsituation wie
dem evozierten Erinnerungsstrom geschuldet. Bedeutsam an dieser "Geord-
netheit" inszenierter Neuproduktion erzählter Wirklichkeit ist, dass so der
Blick auf die den biographischen Erzählungen innewohnenden Lebenskon-
struktionen frei wird. Lebenskonstruktionen emergieren aus biographisch
aufgeschichteter sozialer Praxis und konstituieren wesentlich die weiteren
Handlungsausrichtungen und Sinnkonstruktionen der Erzählenden. Biogra-
phie als "biographische Konstruktion" (vgl. Alheit u.a. 1992; Dausien 1996;
Biographie und sozialpädagogische Forschung 23
Hanses 1996) zu begreifen, eröffnet die Perspektive auf die Strukturiertheit
wie das Strukturierende des biographischen Erzählens.
Die Frage bleibt: Welche Bedeutung kommt dieser Erkenntnisperspekti-
ve im Hinblick auf sozialpädagogische Forschung zu? Was eröffnet der so-
ziale Text biographischer Erzählung an neuen oder bedeutsamen Einsichten
in sozialpädagogische Problemstellungen? Anhand einer kurzen biographi-
schen Skizze sollen für die Soziale Arbeit relevante Dimensionen des biogra-
phischen Erzählens deutlich gemacht werden.
formieren. Biographische Erzählungen bieten sich hier als Zugang zur sozia-
len Wirklichkeit der Protagonistlnnen geradezu an. So wird in den Erzählun-
gen etwas über die Handlungen, Handlungsinitiierungen und ihre Einbettun-
gen in soziale Kontexte deutlich (vgl. Schütze 1984). Ebenso werden Prozes-
se des Erleidens, deren Ereignisverkettungen und Lösungen thematisiert (vgl.
Schütze 1981, 1999; Hanses 1999a). Darüber hinaus informieren narrative
Selbstpräsentationen nicht nur darüber, was im Leben geschehen ist, sondern
geben Auskunft, was in der eigenen Lebensgeschichte nie Wirklichkeit wer-
den konnte: eben über das "ungelebte Leben" in der Biographie (vgl. Weiz-
säcker 1956; Hanses 1996, 1999a). Autobiographische Stegreiferzählungen
sind aber vor allem Zeugnisse einer subjektiven Konstruktion eigener Wirk-
lichkeit. Die Thematisierung von Handlungen, Erleidensprozessen, die Dar-
legung von Eigentheorien und Evaluationen sind Präsentationen aus der Sub-
jektperspektive. Mit Hilfe des Zugangs zu biographischen Erzählungen erfah-
ren wir Wesentliches über die Selbstkonstitution des Subjekts.
So sehr erzählte Biographien die Perspektive auf die Konkretheit ihrer Er-
zählerInnen eröffnen, so ist doch mit Betrachtung der subjektiven Konstruktion
von Sozialwelt nur ein Aspekt von Biographie hinreichend beschrieben. So-
ziologische Theorien (vgl. Giddens 1988; Bourdieu 1994; Mead 1998) und
methodische Diskurse (vgl. Schütze 1984, 1999; Fischer/Kohli 1987; Alheit
1997, 2000; Alheit/Dausien 2000, 2000a; Oevermann 2000) zeigen nur zu gut
auf, dass die Konkretheit des Einzelfalls und das Subjektive der biographischen
Selbstpräsentation gleichzeitig Ausdruck sozialer Strukturiertheit ist. So sehr
wir in biographischen Selbstpräsentationen unsere Einzigartigkeit hervorzuhe-
ben suchen oder uns als ZuhörerIn beeindruckt von der Einzigartigkeit der ver-
nommenen Geschichte fühlen, so zeigt sich doch, dass wir diese Besonderheit
nur deshalb erzählen können, da wir auf ähnliche gesellschaftliche Erfahrungen
zurückgreifen. Die Erzählung einer Bildungskarriere oder einer beruflichen
Rehabilitation ist in ihren persönlichen Facetten in der Interaktion präsentier-
und verstehbar, weil ohne ausführliche Erklärung ein geteilter Wissensbestand
über institutionelle Erfahrungen vorausgesetzt werden kann. Damit wird aber
auch deutlich, dass unsere Erzählungen immer mehr Sinn haben, als wir expli-
zit zum Ausdruck bringen. Dieser Sinnüberschuss kann als allgemeiner, gesell-
schaftlicher Referenzrahmen verstanden werden. Unsere Biographie können
wir eben nicht jenseits der sozialen Kategorie Geschlecht, der Erfahrungen mit
unserer sozialen Lebenswelt, der kulturellen und der spezifisch zeitgeschichtli-
chen Kontexte hervorbringen. So hat Bettina Dausien sehr überzeugend aufzei-
gen können, dass biographische Erzählungen nicht nur wichtige Referenzen an
das eigene Geschlecht beinhalten. Vielmehr sind lebens geschichtliche Erzäh-
lungen gleichzeitig geschlechtstypische Selbstpräsentationen. Pointiert formu-
liert ist Geschlecht als eine soziale Kategorie nicht nur in autobiographischen
Narrationen enthalten, sondern gehen förmlich durch sie hindurch (vgl. Dausi-
en 1996, 1997, 1998).
Biographie und sozialpädagogische Forschung 27
Gleichzeitig sind die sozialen Strukturierungen biographischer Erzählun-
gen häufig nicht jener Teil der Selbstpräsentationen, der den Erzählenden refle-
xiv zur Verfügung steht. Geschlecht, soziale Lage, Kultur und Generation fun-
gieren als institutionalisierte Wissens bestände sozialer Wirklichkeit und damit
als Basisstrategien zur Bewältigung und Partizipation an sozialen Lebens- und
Alltagswelten. Die Relevanz solcher Institutionalisierungsprozesse liegt darin,
dass die Einzelnen sich ihrer nicht immer vergewissern müssen, sondern dass
sie ihnen als Basisstrategien eigenen Handeins selbstverständlich zur Verfü-
gung stehen. Aufgrund dessen sind Ressourcen frei, um neue und komplexe
Aufgaben der sozialen Praxis zu bewältigen. Die Erfahrungen der Sozialwelt
sind somit Teil eines "praktischen Bewusstseins" (Giddens 1988, S. 91 ff.), auf
das immer wieder Bezug genommen werden kann, ohne dass wir es stetig und
ausdrücklich (reflexiv) explizieren müssen. Sie sind - mit Pierre Bourdieu
(l997a) gesprochen - Ressourcen eines "praktischen Sinns", um sich in gesell-
schaftlichen ,,Feldern" bewegen zu können. Das Soziale in der Biographie
agiert somit hinter unserem Rücken, als inkorporierte soziale Praxis, als habitu-
ell verankerte Wahrnehmungs-, Handlungs- und Deutungsdisposition. Diese
Hintergründe erweisen sich nicht nur als biographische und soziale Ressourcen,
sondern gleichzeitig als Form eines einverleibten gesellschaftlichen "Unge-
wussten", das sich eigenen Reflexionen - und damit einer potenziellen Verän-
derung - verschließt. Das "Rückwärtige" des Sozialen in der Lebensgeschichte
wird zum konstitutiven Merkmal für die häufig zu beobachtende Konstanz bio-
graphischer Prozesse und Selbstthematisierungen.
Wenn Pierre Bourdieu (1998) darauf hinweist, dass der innere Zusam-
menhang von Biographie weniger auf der Sinnkonstitution der Erzählenden,
sondern auf der Abfolge von Positionen im sozialen Raum basiert, markiert
er die hohe Relevanz der sozialen Distribuierungsstrukturen auf die Ausge-
staltung von biographischen Prozessen. Dennoch trifft sein Bild, dass die
Fahrt einer U-Bahn nicht sinnvoll ohne die Struktur des Netzes zu beschrei-
ben ist, nur einen Teil von biographischen Verläufen und Prozessen (vgl.
Bourdieu 1998, S. 82). Der von Pierre Bourdieu gewählten Metapher ließe
sich entgegen halten, dass mit der Beschreibung des U-Bahn-Netzes noch
keine Aussage über die konkrete Fahrt gewonnen ist. Mit diesem Beispiel
soll auf einen weiteren Aspekt biographischer Erzählungen verwiesen wer-
den: Biographie ist bei aller Strukturiertheit selbst strukturierende Struktur.
. So zeigen beispielsweise die Analysen von Bettina Dausien (1996, 1997)
zum Zusammenspiel von Biographie und Geschlecht, dass nicht nur die so-
ziale Kategorie Geschlecht die biographischen Selbstthematisierungen
durchdringt. Genauso strukturiert das Erzählen die Geschlechterkonstituie-
rung. Doing-Gender ist nicht nur als inkorporierte soziale Praxis, sondern
gleichzeitig als biographische (Re-)konstruktionsleistung der AkteurInnen zu
verstehen. Auch in biographischen Analysen zur Krankheitsbewältigung hat
sich gezeigt, dass Krankheit nicht als life-event in das Leben der Einzelnen
"einbricht" und die Biographie bestimmt. Vielmehr wird deutlich, dass
28 Andreas Hanses
Krankheit vor dem Hintergrund lebensgeschichtlicher Etfahrungsaufschich-
tungen auch als biographische Konstruktion zu beschreiben ist (vgl. Hanses
1996, 2000; Hanses/Börgartz 200 I). Diese Beispiele verweisen auf einen we-
sentlichen Sachverhalt: Biographien sind nicht allein Ausdruck gesellschaft-
licher Determiniertheit, sondern besitzen biographischen Eigensinn und bre-
chen somit die lebensweltliche Einflussnahme auf ihre je eigene Weise, ohne
sich allerdings der Strukturiertheit durch soziale Praxis entziehen zu können.
Der konstruktivistische Ansatz der Autopoiesis, wie Humberto Maturana
und Francisco Varela (1991) ihn anhand ihrer biologischen Studien entwik-
kelt haben, mag diese Dialektik zwischen Struktur und Subjekt plausibel be-
schreiben. Entsprechend des Verhältnisses von Organismus und Umwelt lässt
sich auch die Beziehung von Subjekt und Lebenswelt durch eine "strukturelle
Koppelung" beschreiben, in der dennoch Folgen der ,,Perturbationen" nicht
aus der "Störung" selbst, sondern aus der Strukturdeterminiertheit des Sub-
jekts zu erklären sind (vgl. Maturana/Varela 1991, S. 106). Bei allen sozialen
Anpassungsprozessen ist gleichzeitig ein offener Horizont, ein nicht zu pro-
gnostizierender Rahmen gesetzt, der abhängig von biographischen Disposi-
tionen konzipiert wird.
In diesem Zusammenhang ist auf das Konzept ,,Biographizität" zu ver-
weisen. Es beschreibt die - wenn auch begrenzte - Gestaltbarkeit der eigenen
Biographie, eben die Leistungen der Subjekte, "praktisches Bewusstsein" in
"biographische Reflexivität" zu transformieren und aus dem "ungelebten Le-
ben" Handlungs- und Orientierungspotenziale zu gewinnen, ohne die Einge-
bundenheit der ProtagonistInnen in die sozialen Strukturen aus dem Auge zu
verlieren (vgl. Alheit 1995, S. 300). Biographizität kann als wichtige Schlüs-
selqualifikation des Menschen in der Modeme beschrieben werden, die eine
Anschlussfähigkeit biographischer Wissensbestände an sich verändernde Le-
benswelten ermöglicht.
Das Besondere am Konzept der Biographie ist, dass es - trotz einer vor-
dergründigen Fokussierung auf die Individualität einzelner Personen - das
Soziale in den Blick nimmt, ohne wiederum in eine strukturalistische Per-
spektive zu vetfallen. Es ist diese "soziopoietische" Qualität von Biographie
(Alheit 1997, S. 25), die sie für eine (qualitative) sozialpädagogische For-
schung so bedeutend werden lässt. Mit einem biographischen Ansatz ist die
in der sozialpädagogischen Forschung geforderte Verbindung von Subjekt-
und Strukturperspektive einzulösen. Biographie erlaubt es über den Dualis-
mus von Individuum und Gesellschaft hinauszugehen, die Perspektive für die
,,Dualität von Struktur" (Giddens 1988, S. 77) zu eröffnen. Mit dieser Ambi-
guität von Biographie ist theoretisch und methodisch ein anspruchsvolles
Konzept vorhanden, das - pointiert formuliert - nicht nur eine integrierende
Perspektive erlaubt, sondern zwingend erfordert. Biographische Analysen,
die sich auf einen Aspekt von Biographie begrenzen, drohen wichtige
Aspekte bei lebens geschichtlichen Rekonstruktionen zu vernachlässigen.
Biographie und sozialpädagogische Forschung 29
3.2 Biographie und Leib
3 Im Rahmen dieses Beitrags kann nicht auf die Differenzen zwischen Körperkonzepten, die
stark aus der angloamerikanischen, soziologischen Traditionen hervorgehen (vgl. Loenhoff
1999), und den leiborientierten Ansätzen der europäischen, phänomenologischen Strömung
eingegangen werden (vgl. Petzold 1986).
30 Andreas Hanses
ler Einverleibungen. "Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein
wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man" (Bourdieu 1997a, S. 135).
Körper und Leib übernehmen die wichtige Funktion, über den Prozess des
Inkorporierens sozialer Praxis "praktisches Bewusstsein" herzustellen, also
die Bedeutung eigenen Handeins aus der reflexiven Verfügbarkeit zu neh-
men. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich die Institutionalisierung von In-
teraktionen und rekursiv die Stabilisierung sozialer Ordnung organisieren.
Verbleibt der Leib aus dieser Perspektive als inkarnierter Speicher sozialer
Erfahrungen? Erweist sich vor diesem Hintergrund die Biographie nur als
temporäre Folie, auf der sich soziale Prozesse als Erfahrungsaufschichtung in
den Leib eingravieren?
Analysen von Lebensgeschichten kranker Menschen haben einen ande-
ren Zugang zur Leiblichkeit entwickelt. In der biographischen Erfahrung
leiblich gespürter Krisen hat sich ein Potenzial biographischer Neukonzep-
tualisierung gezeigt (vgl. Hanses 1996, 1999). Dem Leib kommt potenziell
Macht über Prozesse der Umstrukturierung und Neuordnung zu. Anders for-
muliert: Der Leib kann als "generatives Prinzip sozialen Eigensinns" be-
schrieben werden (vgl. Hanses 1999a). Laut Wolfram Fischer-Rosenthal
kommt insbesondere dem (Leib-)Erleben die Qualität zu, das in der Erfah-
rung Erarbeitete wie das Erwartete verflüssigen zu können, ohne das Kon-
struierte einer Biographie auszulöschen (vgl. Fischer-Rosenthal 1989, S. 11).
Dieser Potenzialität des leiblich Gespürten steht allerdings die Erfahrung ge-
genüber, dass nicht jede (leiblich) erlebte Krisensituation zur Veränderung,
sondern häufig zur Verfestigung von bestehenden Lebensstrategien und -pro-
blemen führt. Erst in der Verschränkung von Leib und Biographie, wenn die
leibliche Krise gleichzeitig zu einer biographischen Krise avanciert, entsteht
die Potenzialität für eine Neuordnung. In dem Moment, in dem das Affektive
des Leiberlebens in biographische Reflexivität transformiert werden kann,
entsteht die Chance, Deutungs- und Handlungsmuster zu verändern und neue
soziale Praxis zu erzeugen (vgl. Hanses 1999, 1999a).
Der Zusammenhang von Biographie und LeiblKörper lässt sich generell
als Wechselverhältnis thematisieren: "Sie stehen aneinander und durcheinan-
der, sie entwickeln jeweils autonome Strukturen, aber stets in Verbindung,
das eine stützt und irritiert das andere" (Fischer-Rosenthal 1999, S. 15f.).
Über den Leib können wir einen wichtigen Erklärungszusammenhang für den
Einlass des Sozialen in die Biographie entwickeln. Gleichzeitig ermöglicht
die Perspektive auf das Biographische, die Eingebundenheit des Leiblichen in
die biographischen Sinnhorizonte und (reflexiven) Bedeutungszuweisungen
der sozialen Kontexte zu thematisieren. Forschungsstrategisch besitzt der en-
ge Zusammenhang von Biographie und LeiblKörper für eine sozialpädagogi-
sche Forschung einen ganz eigenen Charme. Die biographische Perspektive
eröffnet eine fallorientierte Perspektive: Der leiblich vermittelte Subjekt-
Struktur-Zusammenhang kann immer wieder vor dem Hintergrund des ein-
zelnen Falles (re-)formuliert werden. Zudem eröffnet das biographische Er-
Biographie und sozialpädagogische Forschung 31
Eröffnen die Analysen von Verlaufskurven eine Perspektive auf das Leiden
an der sozialen Wirklichkeit, so ist damit keineswegs eine einseitige Patholo-
Biographie und sozialpädagogische Forschung 33
gisierung der AdressatInnen Sozialer Arbeit intendiert. Biographische Analy-
sen zeigen vielmehr, dass ein problemorientierter Blick durch eine res sour-
cenorientierte Perspektive zu ergänzen ist. Biographische Erzählungen sind
durch eine große Ambiguität gekennzeichnet: Das Kritische und die Poten-
ziale liegen in den Narrationen nah beieinander (vgl. Hanses 2000a, S. 373f.).
Die Analyse biographischer Selbstthematisierungen ermöglicht eine Antwort
auf die Frage, wie schwierige Lebenslagen und Lebenskrisen - unter Um-
ständen auf sehr eigensinnige Art und Weise - bewältigt werden, wie es zu
einem Umschlag, einem "Wandlungsprozess" (vgl. Schütze 1981, 1984)
kommen kann, wie in der Krise das Subjekt zu verschwinden droht, aber in
dem Zerreißen von Kohärenzen neue Zusammenhänge geschaffen werden
können (vgl. auch Weizsäcker 1997, S. 295ff.; Hanses 1996, 1999; Hanses/
Börgartz 2001). Krisen verweisen auf einen "qualitativen Sprung" hin zu ei-
ner Neuorganisation von Kompetenzen (vgl. Mennemann 2000, S. 224).
Sozialpädagogische Forschung benötigt ein sensibilisierendes Konzept, um
die Brüchigkeit menschlicher Existenz und die Potenziale der Subjekte wahr-
zunehmen. Hugo Mennemann (2000) fordert diesbezüglich, Krise als einen
Zentralbegriff der Sozialpädagogik zu begreifen. Krise kann als heuristisches
Konzept betrachtet werden, das es ermöglicht, die Komplexität von Lebens-
und Alltagswelten, den interaktiven Aspekt sozialer Praxen und Lebensvollzü-
ge sowie Formen des Aneignungshandelns zu untersuchen (S. 225). Biographi-
sche Erzählungen erweisen sich wiederum als zentraler Zugang zu Verlaufs-
kurven- und Bewältigungsprozessen aus der Perspektive der Subjekte. Vor al-
lem aber werden mit einem biographie- und krisenorientierten Konzept zwei
Erfordernisse sozialpädagogischer Forschung bedient. Zum einem wird mit ei-
nem solchen Konzept die Forderung, das Spannungsfeld zwischen Feld- und
Bildungsbezug zu erfassen, einlösbar. Biographie eröffnet sowohl die Perspek-
tive auf die Einlagerungen biographischer Veriaufskurven, Krisen und Bewäl-
tigungsprozesse im Kontext unterschiedlicher Felder sozialer Realität. Gleich-
zeitig ist Auskunft über die Aneignungsleistungen, die handlungsschemati-
schen Initiierungen und ihre sozialen Einbettungen zu erhalten. Mit diesem
Wissen sind Anknüpfungspunkte für einen (biographieorientierten) sozialpäd-
agogischen Bildungsbezug eröffnet (vgl. Kraimer 1994). Zum anderen illustrie-
ren biographische Analysen, dass Krisen- und Krisenveriäufe nur vor dem Hin-
tergrund der Interaktionen mit Professionellen und im institutionellen Kontext
zu verstehen sind. Damit ist ein weiterer wichtiger Bezugspunkt genannt: das
Verhältnis von Biographie und Institution.
Dennoch ist die entscheidende Frage, wie das Verhältnis von Biographie und
Institution, von sozialpädagogischen (personenbezogenen) Dienstleistungen
und ihren AdressatInnen, zu bestimmen ist. Die Relevanz des Zusammenhangs
von Biographie und Institution für sozialpädagogische Forschung möchte ich
auf drei Ebenen skizzieren:
hält (S. 129), so wäre vor dem Hintergrund der oben geführten Diskussion
Biographie zumindest als ein Konzept zu betrachten, das die Frage nach der
Eigenständigkeit sozialpädagogischer Forschung ein bedeutendes Stück wei-
ter bringen könnte. Diese Verortung würde allerdings eine theoretische Dis-
kussion erfordern, die die Trennung zwischen Dienstleitungsdebatte und fall-
orientierter Sozialpädagogik auflöst. Notwendig wäre es auch, Biographie
aus dem Bereich der ,,rekonstruktiven Sozialpädagogik" herauszuheben und
sie stärker als heuristische Zentralkategorie für den Gesamtbereich der So-
zialen Arbeit und sozialpädagogischen Forschung zu nutzen. Dessen unge-
achtet wird sich nicht über theoretische und methodologische Erörterungen
allein sozialpädagogische Forschung konstituieren lassen. Im Sinne Christian
Lüders (1998) wird es wichtig sein, die Praxis sozialpädagogischer For-
schung zu verstärken, um vor dem Hintergrund empirischer Analysen, me-
thodischer Erfahrungen und gegenstandsbezogener Theoriebildung ein Kon-
zept sozialpädagogischer Forschung zu konturieren. Wird eine solche Option
favorisiert, bedarf es aber den Mut der Sozialen Arbeit sich mit einem gewis-
sen Selbstverständnis als forschende Disziplin zu begreifen.
Literatur
Forschung hat inzwischen ihren Platz in der Sozialpädagogik. Mehr als je zu-
vor wird in der sozialpädagogischen Praxis, in der akademischen Ausbildung
und in der wissenschaftlichen Kommunikation auf empirische Daten zurück-
gegriffen. Dies trifft auch - vielleicht sogar insbesondere - auf rekonstrukti-
ve, qualitative Forschungszugänge und -ergebnisse zu, wenn auch keines-
wegs in der Exklusivität, wie zuweilen angenommen oder unterstellt wird
(vgl. u.a. Kraimer 1994). Gelegentlich drängt sich sogar der Eindruck auf,
dass mit rekonstruktiven, qualitativen Methodendesigns durchgeführte Pro-
jekte und ihre Befunde immer noch skeptisch begutachtet werden. Die Wahr-
nehmung, dass das rekonstruktive, qualitative Forschungsspektrum nicht von
allen gleichermaßen akzeptiert wird, stützt sich zum einen auf die zuweilen
bemitleidenswerte Charakterisierung derjenigen durch die disziplinäre sozi-
alpädagogische ,,zunft", die ihre Fragen mithilfe rekonstruktiver, qualitativer
Methoden aufzuklären versuchen. Leider korrespondiert diese Beobachtung
aber auch mit der gegenwärtigen Forschungsrealität. Nicht durchgängig alle
Projekte, die rekonstruktiven, qualitativen Methoden vertrauen, operationali-
sieren diese in einer Form, die den minimalsten Standards, so weit solche
überhaupt zu identifizieren sind, entsprechen. Der Beitrag stellt sich diesem
Problem und wirft einen flüchtigen Blick hinter die Fassaden der rekonstruk-
tiv qualitativen sozialpädagogischen Forschungslandschaft (Abschnitt 4).
Implizit wird damit erstens die Frage evoziert, inwieweit die Sozialpädagogik
auf eine systematische, breite und methodisch abgesicherte, über allgemeine
Standards fundierte Forschungspraxis verweisen kann (Abschnitt 2 und 5)
und zweitens wird angeregt, darüber nachzudenken, welche Rolle Forschung
im Kanon des sozialpädagogischen Gesamtprojekts spielt (Abschnitt 1).
Drittens und im Grunde zuvor ist allerdings zu klären, über welchen spezifi-
schen Zuschnitt sich eine Forschung mit dem Etikett "sozialpädagogisch" le-
gitimiert, ob also die Rede von "sozialpädagogischer Forschung" überhaupt
zurecht erfolgt und wenn ja, welches Profil diese zeigt beziehungsweise zei-
Der Titel variiert spielerisch ein Zitat des kritischen Gesellschafts- und Kunsttheoretikers
M. Raphael (vgl. Heinrichs 1989).
44 Werner Thole
gen kann (Abschnitt 2 und 3). Der Beitrag wird dementsprechend auch nach
dem methodologischen Grundgerüst einer mit dem Adjektiv "sozialpädago-
gisch" versehenen Forschung Ausschau halten. Unabhängig von der Antwort
auf diese Frage ist sicherlich leicht ein Konsens dahingehend zu erzielen,
dass - im Gegensatz beispielsweise zur sozialwissenschaftlichen Jugendfor-
schung, wo insbesondere in den 1980er Jahren eine dezidierte Methodendis-
kussion zu beobachten war und heute noch ist - die sozialpädagogische For-
schung respektive die Forschung, die sich auf die Handlungsfelder der So-
zialen Arbeit bezieht, auf eine ausgewiesene methodenorientierte Diskussion
nicht verweisen kann. Gelegentlich wird diese Diskussion sogar durch frag-
würdige Konvergenzannahmen zwischen Forschungs- und Handlungsmetho-
den überlagert beziehungsweise als wenig fruchtbar etikettiert, weil, so die
Vermutung, das rekonstruktive, qualitative Forschungsparadigma im Kon-
trast zu quantitativen Zugängen eine besondere Affinität zur Sozialen Arbeit
auszeichnet (Abschnitt 3). Der kritische Blick auf die Praxis rekonstruktiver,
qualitativer Forschung im Feld der Sozialen Arbeit wird mit einem die ge-
genwärtige Realität verlassenden kurzen Ausblick abgeschlossen (Abschnitt
5). Votiert wird hier abschließend wie auch schon in dem folgenden Ab-
schnitt für eine über empirische Befunde abgesicherte Theorie der Sozialpäd-
agogik.
• wie "sich die Migration, die Toleranz und das Untolerierbare im dritten
Jahrtausend zueinander" (Eco 1999, S. 89) verhalten, wie sich die So-
ziale Arbeit zu dem Problem positionieren kann, einerseits ImmigrantIn-
nen das Leben ihrer sozialen und kulturellen Identität auch in der ,,Frem-
de" zu ermöglichen, anderseits jedoch auch wahrnimmt, dass diese Un-
terstützungen dazu betragen, noch nicht säkularisierte Orientierungen
politisch zu radikalisieren und fundamentalistische Deutungsmuster der
Ungleichheit zu stabilisieren,
• mit welchen Folgen die Soziale Arbeit durch ihre aktiven Integrations-
und Inklusionsleistungen Subjekten nicht auch erleichtert, normative ge-
sellschaftliche Standards zu internalisieren,
• inwieweit sich die ökonomische und ökologische Neuordnung auch auf
die Soziale Arbeit auswirkt und eine Neubewertung der ,,Arbeit" in der
"flexiblen" Erwerbsarbeitsgesellschaft provoziert und
• ob und wenn in welcher Form sich die Profession der Sozialen Arbeit mit
welchen empirischen Argumenten in die sich dynamisierenden sozial-
und kulturpolitischen Diskussionen neu einzubringen vermag.
Die Sozialpädagogik ist über diese neuen wie alten Fragen herausgefordert,
sich bezüglich ihrer theoretischen Vergewisserungen und handlungsprakti-
schen Operationalisierungen wesentlich deutlicher als bislang über empiri-
sche Beobachtungen abzusichern. Damit ist in Erinnerung gerufen, dass das
Nachdenken über sozialpädagogische Forschung sich nicht auf methodische
Fragestellungen reduzieren darf. Das Neu-Denken ist zu verorten in ein
Nachdenken über die Sozialpädagogik als ein Projekt, das sich erst mit der
Durchsetzung der Moderne konstituierten konnte und jetzt, zumindest wenn
den weitreichendsten gesellschaftlichen Theoriekonzepten nicht abgesagt
wird, vor der Aufgabe steht, einen Platz in den dynamischen Prozessen hin
zur "zweiten Moderne" zu finden, . die, so scheint es, kaum zu bremsen,
gleichwohl kritisch zu reflektieren und in ihrer Entwicklungsrichtung zu be-
einflussen sind.
Relativ souverän, vielleicht sogar frech wurde bis dato von der Realität einer
sozialpädagogischen Forschung ausgegangen. Ob und wenn überhaupt mit
welchen inhaltlichen Akzentuierungen jedoch von "sozialpädagogischer For-
schung" gesprochen werden kann, ist strittiger als manche Annahmen unter-
stellen (vgl. u.a. Hornstein 1998; Lüders 1998; Mollenhauer 1998; Schulze-
Krüdener/Homfeldt 2002). Wird eine schnelle und einfache Klärung gesucht,
dann könnte sozialpädagogische Forschung einfach über die Forschungspra-
"Wir lassen uns unsere Weitsicht nicht verwirren" 49
xis der SozialpädagogInnen geortet und erkundet werden, also über jenes,
was im Rahmen der Sozialpädagogik als Forschung stattfindet. Sozialpäd-
agogische Forschung wäre dann die Forschung, die sich mit Fragestellungen
der Sozialen Arbeit im Allgemeinen und Besonderen beschäftigt oder aber
das Feld der Sozialen Arbeit als Forschungsgegenstand betrachtet. Oder wird
Forschung zu sozialpädagogischer Forschung erst durch eigenständige, spezi-
fische Fragestellungen, durch einen besonderen Gegenstandsbereich, durch
entsprechende Methoden und einen "sozialpädagogischen Blick"? Oder
kommt vielmehr erst in einer spezifischen Kombination und Verknüpfung
von Gegenstand, Fragestellung und Methode sozialpädagogische Forschung
zum Vorschein? Auch dieser Frage- und Themenkomplex ist bislang keines-
wegs klar, geschweige denn konsensual beantwortet (vgl. hierzu und zum
Folgenden RauschenbachfThole 1998). Bei genauerer Betrachtung sind min-
destens drei unterschiedliche Forschungsperspektiven auf das Feld der So-
zialen Arbeit zu erkennen. Erstens können wir eine sozialpädagogische Im-
port-Forschung entdecken. Hier liegt ein Typus von sozialpädagogischer
Forschung vor, der zwar auf ein sozialpädagogisches Interesse trifft, jedoch
wenig mit der disziplinären Fachkultur gemein hat, das heißt nicht aus sozial-
pädagogischen Diskursen heraus entwickelt und auch nicht dezidiert auf sie
rückbezogen wird. Einen solchen Typus von Forschung stellen beispielswei-
se jene Forschungsprojekte dar, die aus einer allgemein-sozialwissenschaftli-
chen, juristischen, historischen, medizinischen oder psychologischen Per-
spektive sozialpädagogisch relevante Fragestellungen und Gegenstandsberei-
che beleuchten, ohne den sozialpädagogischen Diskurs ausdrücklich im Blick
zu haben. Zweitens scheint es eine sozialpädagogische Export-Forschung zu
geben, also eine Forschung, die zwar von SozialpädagogInnen durchgeführt
wird, jedoch nicht auf sozialpädagogische Fragestellungen im engeren Sinne
bezogen ist. Dies wäre, etwas salopp formuliert, eine Art sozialwissenschaft-
liche Forschung aus dem "sozialpädagogischem Milieu". Und drittens kön-
nen wir eine sozialpädagogische Forschung im engeren Sinne erkennen, die
von sozialpädagogisch orientierten WissenschaftlerInnen zu Fragestellungen
der Sozialen Arbeit durchgeführt wird.
Im Unterschied zur sozialpädagogischen Import- und Export-Forschung
koppelt die genuin sozialpädagogische Forschung Forschungsfrage und For-
schungsgegenstand, basiert auf den Zusammenhang von sozialpädagogi-
schem Diskurs, einem daraus resultierenden "sozialpädagogischen Blick"
und dem sozialpädagogischen Beobachtungsgegenstand innerhalb des sozial-
pädagogischen Koordinatensystems. Als sozialpädagogische Forschung ist
folglich jene Forschung zu bezeichnen, die im Kern allgemeine, möglicher-
weise auch von anderen Disziplinen zu beobachtende Fragestellungen über
die Verknüpfung unterschiedlicher Aspekte, gesellschaftlicher Bereiche und
Spektren um einen der Sozialpädagogik eigenen, typischen "sozialpädago-
gischen Blick" anreichert, einen Blick, der zwischen ,,Feld- und Bildungs-
bezug", zwischen Subjekt- und Strukturperspektive, zwischen institutionellen
50 Werner Thole
Die hier vorgetragene Annahme, wonach erstens gute Argumente dafür spre-
chen, von der Existenz einer eigenständigen sozialpädagogischen Forschung
auszugehen, diese sich jedoch zweitens nicht durch eine neue Meta-Methodo-
logie in Konkurrenz zu den Sozialwissenschaften begründet, sondern über die
punktgenaue thematische Herausarbeitung und Präzisierung des jeweiligen
Forschungsgegenstandes und fundierte Wahl des methodischen Designs, aus-
gewählt aus dem Methodenreservoir der Sozialwissenschaften, ist eben genau
hinsichtlich der methodischen Repertoires zu präzisieren. Insbesondere
scheint dies angemessen, weil von "forschungsfernen", sozialpädagogischen
Konzepten immer noch ein auffälliges Unbehagen gegenüber der konventio-
nellen Sozialforschung auf Grund ihrer demonstrativen Unterstreichung stan-
dardisierter Erhebungsinstrumente signalisiert wird. Mit anderen Worten: So-
zialpädagogischer Forschung wird - zumindest in den vielen praxisorientier-
ten Projekten - eine deutliche Affinität insbesondere zu "qualitativen" Erhe-
bungsformen zugesprochen. Zuweilen wird sogar angenommen, insbesondere
die qualitative Sozialforschung erhält im Mantel der Sozialpädagogik das ihr
eigene Profil (vgl. u.a. Kraimer 1994).
Das Unbehagen gegenüber standardisierten, quantitativen Verfahren war
jedoch zu keiner Zeit Gegenstand einer ausgewiesenen fachlichen Methodenre-
flexion bzw. -debatte, obwohl - historisch betrachtet - Forschungsprojekte zu
Fragestellungen der Sozialen Arbeit im letzten Jahrzehnt deutliche Sympathien
" Wir lassen uns unsere WeItsicht nicht verwirren" 53
für qualitative, induktive Verfahren zeigten und eine wenig begründete und
ausgewiesene Skepsis gegenüber der quantitativen, hypothetisch-deduktiven
Methodologie entwickelten. In der Sozialpädagogik gibt es offensichtlich ähn-
lich wie in der Erziehungswissenschaft Gründe, über die Schwierigkeiten des
Umgangs mit der Entscheidung für oder gegen qualitative oder quantitative
Methoden nachzudenken bzw. ,,Reservate für die Entwicklung und Anwen-
dung dieser Methoden zu fordern" (Prein/Erzberger 2000, S. 344).
Erst im Zuge der sich in jüngster Zeit profilierenden sozialpädagogischen
Forschung, insbesondere als Kinder- und Jugendhilfeforschung, rücken for-
schungsmethodische Fragen dezidiert (vgl. u.a. aktuell Jakob 1997; Lüders
1997) und im Kontext oder als Resultat von konkreten Forschungsprojekten
(vgl. u.a. Haupert 1991; Helsper u.a. 1991; Thole 1991; Nölke 1994; Projekt-
gruppe Jugendhilfe im Umbruch 1994; Thole/Küster-Schapfl 1997) stärker
ins Blickfeld. Über die sich hierüber anzeigende Entwicklung ist die Frage,
inwieweit sich eine eigenständige sozialpädagogische Forschung gegenüber
Projekten und Fragestellungen in Bezug auf andere disziplinäre Forschungs-
zugänge nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch zu profilieren vermag
oder sich nur im Kontext dieser generell ausbuchstabieren lässt, neu auf die
Tagesordnung gesetzt. Gegenüber den tendenziell primär handlungs- respek-
tive aktionsorientierten und praxisevaluierenden Projekten der 1970er Jahre
und den stark an aktuelle, theoretische Fragen angekoppelten Forschungs-
projekten der 1980er Jahre sind die methodischen Vergewisserungen seit der
ersten Hälfte der 1990er Jahre möglicherweise erste Indizien für eine deutli-
chere und selbstvergewissernde Rahmung der methodischen Designs und
Verfahren der neueren Forschungen im Feld der Sozialpädagogik. Neben den
handlungsorientierten Forschungen und text- und sozialgeschichtlich ange-
legten Untersuchungen sind seit diesem Zeitpunkt verstärkt qualitativ orien-
tierte, mit narrativen Verfahren, teilnehmenden Beobachtungen, Verfahren
der Gruppendiskussion und anderen rekonstruktiven Methoden operierende
Projekte (vgl. die Übersichten bei Jakob 1997; Lüders 1997; Schefold 2002)
als auch repräsentativ angelegte, kinder- und jugendhilfeorientierte Panora-
ma- und Längsschnittstudien sowie sekundäranalytische Auswertungsverfah-
ren und kritisch aufarbeitende, theoriegeleitete, felderschließende Studien
(vgl. u.a. Thimm 2000) zu entdecken.
Obgleich ein Ende der Diskussionen um die Adäquatheit qualitativer und
quantitativer Methoden auch in den Sozialwissenschaften noch nicht gänzlich
beendet scheint, der Methodenstreit fortdauert (vgl. u.a. Esser 1987; Hitzler/
Honer 1997; Prein/Erzberger 2000), geht es doch inzwischen nicht mehr so
sehr um weitere Abgrenzungen der unterschiedlichen Forschungsstrategien,
sondern darum, die gewählte methodische Orientierung zu präzisieren und ih-
re Angemessenheit für die gewählten Fragestellungen und die Validität der
erhobenen Wissenskontingente zu belegen (vgl. Schröer 1994; HitzlerlHoner
1997). Diese Ortsbestimmung erlangt auch in der Sozialpädagogik immer
mehr Aufmerksamkeit (vgl. RauschenbachlThole 1998; Thole 1999a). In der
54 Werner Thole
Damit ist kein Defizit reklamiert, welches nur die Soziale Arbeit alleine be-
trifft. In den Erziehungswissenschaften insgesamt mangelt es an einem breit
etablierten ,,Ritus der akademischen Selbst-Initiation" (Zinnecker 2000, S.
393) in die Forschungskultur des Faches. Solange diese sich nicht herausbil-
det, wird die Forschung insgesamt und die rekonstruktiv qualitative For-
schung im Konkreten innerhalb der Sozialen Arbeit aus einer doch mehr oder
weniger gut situierten Exotenrolle nicht herauskommen. Wünscht sie die
Würdigung zu erlangen, die die einschlägige Grundlagenforschung heute
schon genießt, ist sie angehalten, ihre grundsätzliche Skepsis gegenüber der
Qualität der erhobenen Daten nicht nur programmatisch zu bekunden, son-
dern auch belegend zu entwickeln (vgl. Honer 1993). Und dazu hat sie in der
Forschungspraxis wie -reflexion und -ausbildung ihre methodologischen
Hausaufgaben zu erledigen - sonst bleibt es bei einer fragwürdigen, unplausi-
bilisierten ,,hemdsärmeligen Praxis".
"Wir lassen uns unsere Weitsicht nicht verwirren" 61
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Hans-Jürgen von Wensierski
Das zentrale Thema der Sozialen Arbeit als Wissenschaft und Handlungssy-
stem ist die Frage: Wie und mit welchen sozialen und institutionellen Formen
und Konzepten ist eine sozialstaatlich organisierte demokratische Gesell-
schaft möglich?
Die so fokussierte ThemensteIlung macht zugleich auf das Apriori wie
auf die Zielstellung der Sozialen Arbeit aufmerksam. Sie ist als Wissen-
schafts- und Institutionensystem unauflösbar an die Existenz des modemen
und demokratischen Sozialstaats gebunden und stets auf ihn bezogen. Aller-
dings setzt sie nicht den Sozialstaat mit der Gesellschaft gleich. Der Sozial-
staat ist das Instrument zur Herstellung und Sicherung einer demokratischen
Rekonstruktive Sozialpädagogik 69
und tendenziell sozial gerechten Gesellschaft. Die in dieser Definition an-
klingende Objektstellung ist dabei wechselseitig. Der Sozialstaat ist der So-
zialen Arbeit Instrument, insofern ihre Aufgabenstellungen historisch nicht
erst durch sozialstaatliche Strukturen entstanden sind, sondern vorgängige
soziale und gesellschaftliche Problem- und Notlagen im Gefolge gesell-
schaftlicher Modernisierungsprozesse und nicht zuletzt unter dem Einfluss
sozialer Bewegungen die Soziale Arbeit im Verlauf des 19. Jahrhunderts her-
vorbrachten, institutionalisierten und professionalisierten. Im Gegenzug ist
die Soziale Arbeit aber auch das Instrument des Sozial staats, als die sozialen
Dienste im Prozess der Durchsetzung und Konsolidierung des modemen de-
mokratischen Verfassungsstaates als institutionelle Garanten einer sozialen
Ordnung zunehmend verrechtlicht und verwissenschaftlicht wurden.
Die Aufgabenstellung der Sozialen Arbeit, ihre Handlungsfelder und ihre
AdressatInnen leiten sich aus eben dieser Verwurzelung im modemen demo-
kratischen Verfassungs staat und seiner sozialen Gesellschaftsordnung ab, und
zwar auf drei Ebenen:
• Auf der Ebene der Individuen - als Frage nach den Biographien und Bil-
dungsprozessen
• Auf der Ebene der sozialen Lebenslagen - als Frage nach den sozialen
und institutionalisierten Beziehungsformen und kulturellen Ausdrucks-
formen
• Auf der Ebene der sozialstaatlichen Strukturen als Frage nach der Sozial-
ordnung und Sozialpolitik
Für jede dieser drei Ebenen rekurriert die Soziale Arbeit dabei auf eine spezi-
fische Bezugswissenschaft: für die Ebene der Individuen und die Gestaltung
ihrer Biographien und Bildungsprozesse auf die Pädagogik, für die gesell-
schaftlichen Lebenslagen auf die Soziologie und für die Ebene der sozial-
staatlichen Strukturen auf die Sozialpolitik. Für die Frage des Wissenschafts-
charakters und des Forschungsprogramms der Sozialen Arbeit bedeutet das,
dass ihr Bezugssystem interdisziplinär - eben sozialwissenschaftlich ist. Die
Eigenständigkeit und Autonomie der Sozialen Arbeit als Wissenschaftsdiszi-
plin ergeben sich auf dieser Basis gleichwohl aus ihrer exklusiven Aufgabe,
den Zusammenhang zwischen diesen drei Ebenen unter dem Gesichtspunkt
sozialer, ziviler und politischer Bürgerrechte theoretisch zu reflektieren,
Handlungsstrukturen für jede dieser drei Ebenen zu schaffen und diese in ei-
nem sozialen Netzwerk der Institutionen und Praxisfelder der Sozialen Arbeit
zusammenzubinden und untereinander zu koordinieren - und zwar im Blick
auf das Handlungssystem der Sozialen Arbeit, seine Aufgabenstellungen,
AdressatInnen, seine methodischen und institutionellen Anforderungen, seine
Systematik und Professionalität. Gegenstandsfeld der Sozialen Arbeit sind
damit nicht nur die empirisch vorfindlichen Praxisfelder, sondern die im Sin-
ne ihrer programmatischen Zielstellung notwendigen und sinnvollen.
70 Hans-Jürgen von Wensierski
Damit ist zugleich die Frage nach der Reichweite und Zuständigkeit So-
zialer Arbeit in der modernen Gesellschaft angesprochen. Soziale Arbeit ist
nicht die Metainstanz für das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft
und sie kann auch keine Allzuständigkeit für die Lebensführung in modernen
Gesellschaften schlechthin beanspruchen. Ihre Zuständigkeit leitet sich viel-
mehr aus den bürgerrechtlichen Postulaten des demokratischen Sozialstaates
ab: Es ist die Quintessenz moderner demokratischer Sozialstaaten, dass die
Garantie der Bürgerrechte und die Zivilität des gesellschaftlichen Gesamtzu-
sammenhangs auf dem Ziel der Chancengleichheit qua Bildungsprozessen,
auf der gestaltenden sozialen Sicherung der ökonomischen, sozialen und
kulturellen Partizipation pluralistischer Lebenslagen sowie auf dem gesell-
schaftlichen Interessenausgleich qua politischer Partizipation fußt.
Hervorstechendes Merkmal der Sozialen Arbeit ist heute die Entstruktu-
rierung ihrer Aufgabenfelder und institutionellen Zuständigkeiten. Die Aus-
differenzierungsprozesse moderner Gesellschaften haben mit der verfas-
sungsmäßigen Verankerung eines demokratischen Sozialstaatsgebots die öf-
fentlich verhandelten Gerechtigkeitsfragen und Gerechtigkeitsprobleme in-
nerhalb der gesellschaftlichen Organisation ungeheuer vergrößert - neben
Fragen der Armut und Marginalisierung treten zunehmend die Aspekte: Ge-
schlecht, Arbeit, Bildung, Behinderung, Krankheit, Sexualität, Ethnie, Kul-
tur, Generation, Alter, Familie, Gewaltstrukturen usw. in den Fokus gesell-
schaftlicher Debatten. Hierin vor allem - und nicht allein in den sozioökono-
mischen Individualisierungsprozessen - liegt der Grund für die parallel dazu
verlaufende Ausdifferenzierung und Entstrukturierung der Sozialen Arbeit
und ihrer Zuständigkeiten. Es ist die politische Skandalisierung und öffentli-
che Thematisierung von Gerechtigkeitsproblemen, die die Zuständigkeit und
Aufgabenstellung der Sozialen Arbeit bestimmen und tendenziell entgrenzen.
Insofern sind auch die Debatten um die Krise und den Umbau des Sozial-
staats nicht per se Ausdruck für dessen Auflösung und damit Menetekel für
ein drohendes Ende auch der Sozialen Arbeit (Winkler 1988, S. 227ff.). Im
Gegenteil sind diese Diskussionen die notwendige Konsequenz einer reflexi-
ven Modernisierung, in der die Diskussion von Gerechtigkeitsproblemen
auch auf die konzeptionellen und bürokratischen Instrumente sozialstaatli-
cher Regulative selbst bezogen werden.
Im seI ben Maße, wie solche Gerechtigkeitsprobleme durch sozialstaatli-
che Gestaltungsprozesse bearbeitbar erscheinen, verändern, verlagern, er-
weitern und vervielfältigen sich auch die Aufgabenstellungen der Sozialen
Arbeit. Das bedeutet aber keineswegs eine universelle sozialpädagogische
Rundumversorgung aller Bevölkerungsgruppen entlang des gesamten Le-
benslaufs und quer durch alle Lebenslagen. Eine Normalisierung der Sozialen
Arbeit lässt sich deshalb weniger in einem empirischen als in einem pro-
grammatischen Sinne konstatieren: Potenziell können alle Bereiche der Bil-
dung, des Sozialen und des Lebenslaufs heute zu Themen und Aufgaben-
steIlungen Sozialer Arbeit werden, insoweit in ihnen zentrale Fragen des so-
Rekonstruktive Sozialpädagogik 71
Erstens, die Ebene einer professionellen Reflexion der Praxis durch den
professionellen Sozialarbeiter im beruflichen Alltag
• Zweitens, die Ebene eines intermediären Feldes als kooperative und
handlungsbezogene Reflexion sozialpädagogischer Praxis durch Wissen-
schaft und Sozialpädagogik (wissenschaftliche Weiterbildung und Be-
gleitforschung (Praxis-, Evaluationsforschung; Planungsforschung)
Drittens, die Ebene einer wissenschaftlich-analytischen Forschung, deren
Methodologie und Gütekriterien allein den Anforderungen eines hand-
lungsentlasteten Wissenschaftssystems verpflichtet sind.
Ich will mich im Weiteren auf die mittlere Ebene beschränken und einige
Hinweise zur Struktur des intermediären Feldes am Beispiel der Praxisfor-
schung skizzieren. Das Feld der so genannten Praxisforschung innerhalb der
Sozialen Arbeit verstehe ich als einen exemplarischen Prototyp für die Struk-
tur des intermediären Feldes.
• Sozialpädagogische Praxeologie
• Sozialpädagogische Planungs- und Entwicklungsforschung
• Sozialpädagogische Begleitforschung
• Sozialpädagogische Evaluationsforschung
Unter sozialpädagogischer Praxeologie fasse ich jene Konzepte, die auf das
reflexive und erkenntnistheoretische Potenzial der forschenden Praktikerln
(PädagogInnen, SozialarbeiterIn) selber zielen. Seine Wurzeln hat dieser Zu-
gang vor allem in den Traditionen der pädagogischen Kasuistik, die auf den
systematischen Stellenwert im ,,Erfahrungsurteil des reflektierenden Prakti-
kers" (Binnenberg 1979, S. 399) setzt: D.h. er beschreibt und reflektiert ein
konkretes Stück pädagogischer Praxis und ist in der Lage, eben daraus theo-
retischen Gewinn zu ziehen - die Erfahrung des Besonderen also in die Er-
kenntnis des Allgemeinen zu überführen. Die Exklusivität dieses Zugangs
wird darin gesehen, dass es eben nur der Praktiker selber sei, der gleichsam
aus der Binnenperspektive des pädagogisch Handelnden die jeweils spezifi-
schen Entscheidungs- und Begründungszusammenhänge pädagogischer All-
tagsprozesse rekonstruieren könne (vgl. Prengel 1997; Müller 2001).
Während in einem solchen praxeologischen Verständnis der Praktiker
selbst zum Forscher wird, stellen die anderen drei Bereiche in unterschiedli-
chen Formen Kooperationsmodelle zwischen ForscherInnen und PraktikerIn-
nen dar. In großen und komplexen Studien lassen sich zudem alle drei Ebe-
nen der Planung, der Prozessbegleitung und der Evaluation ausmachen - et-
82 Hans-Jürgen von Wensierski
Biographien oder die subjektiven Sinn welten in den Alltags- und Lebens-
weltstrukturen der sozialpädagogischen Praxis gegenstandsadäquat untersu-
chen und darstellen lassen. Dabei erweist sich zugleich die fallanalytische
Struktur qualitativer Studien als methodologisches Element, das auch der
professionellen Reflexion sozialpädagogischer Praktikerlnnen entgegen-
kommt. "In ihrer beruflichen Praxis müssen PädagogInnen Kenntnisse über
die lebensweltlichen Perspektiven der AdressatInnen besitzen; ein fallbezo-
genes Vorgehen erfordert Wissensbestände über biographische Verläufe,
über subkulturelle Sinnwelten und Orientierungsmuster, die dem Handeln der
Adressaten zugrundeliegen" (Jakob 1997, S. 126). Mit teilnehmender Beob-
achtung und Interaktionsanalyse lassen sich die Handlungsschemata der Indi-
viduen herausarbeiten, in die zudem biographische Perspektiven eingelassen
sind. Mit gesprächsanalytischen Verfahren können soziale Kategorisierungen
im Alltagshandeln systematisch erfasst und untersucht werden. Narrative
biographische Konzepte rekonstruieren die systematischen Prozessstrukturen
des Lebensablaufs in den Lebensgeschichten, etwa in Gestalt kollektiver
Verlaufskurven, wie sie auch in den institutionellen Betreuungsformen der
Sozialarbeit immer wieder vorkommen. Mit Hilfe von Gruppendiskussionen
lassen sich überdies kollektive und gruppenbezogene handlungsleitende Ori-
entierungsschemata und Interaktionsstrukturen, wie sie für vielfältige cli-
quenbezogene und gruppenpädagogisch relevante Kontexte typisch sind, un-
tersucht und mit Blick auf theoretische Erklärungsmodelle gefasst werden
(vgl. Schütze 1994, S. 194f.).
In Bezug auf die vorliegenden methodologischen Diskussionen und me-
thodischen Vorschläge zur Praxisforschung lässt sich m.E. kein grundsätzli-
cher Qualitätsunterschied gegenüber den sonstigen Methodendebatten in der
sozialpädagogischen Forschung ausmachen. Dafür spricht auch, dass die ver-
schiedenen Konzepte der Praxis-, Evaluations- und Begleitforschung in allen
einschlägigen methodischen Handbüchern zu qualitativen Forschungsmetho-
den vertreten sind (Flick u.a. 1991; Friebertshäuser/Prengel 1997; Flick!
v.Kardorff/Steinke 2000). Das gesamte Spektrum der qualitativen Verfahren
zwischen ethnographischen, biographieanalytischen und hermeneutischen
Ansätzen lässt sich auch im Spektrum der Praxisforschungsdebatte aufzeigen,
wobei auch hier allerdings ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen der
puristischen Strenge methodologischer Debatten und den pragmatischen
Zwängen der Forschungspraxis in Rechnung gestellt werden muss - ein
Hiatus, der aber in gleicher Weise auch auf die übrige empirische Sozialfor-
schung zutrifft (Bohnsack 1991, S. 25).
Im Übergang von den analytischen Verfahren der empirischen Erfor-
schung sozialarbeiterischer Praxis zu den handlungsorientierten Methoden,
durch die der Transfer der Praxisforschungsergebnisse gesichert und hand-
lungsleitende Konzepte für die Praxis gestaltet werden soll, bleiben die me-
thodologischen und methodischen Vorschläge innerhalb der Praxisforschung
dann allerdings überaus vage und bisweilen auch selbstkritisch (Schone 1995,
Rekonstruktive Sozialpädagogik 85
S. 52f.). Allerdings lässt sich in diesem Zusammenhang aber auch kein
Rückbezug auf die unbefangenen Theorie-lPraxismodelle der Aktionsfor-
schung ausmachen.
Insofern scheinen mir die vorliegenden Konzepte und Vorschläge zur
Praxisforschung auf einem bisher weitgehend umeflektierten widersprüchli-
chen Fundament aufgebaut: Während die Notwendigkeit einer empirischen
Erforschung der ,,Praxis" Sozialer Arbeit methodologisch fundiert und me-
thodisch differenziert begründet wird, bleibt die Frage der Bedeutung der
ForscherIn für die Planung und Gestaltung handlungsleitender Entwürfe vor
allem ein programmatisches Postulat.
Dieser Widerspruch innerhalb des Programms der Praxisforschung lässt
sich aber vielleicht auflösen, wenn man für das Konzept der Praxisforschung
gar nicht nach einer konsistenten einheitlichen Methodologie sucht, sie also
nicht als spezifischen Forschungs- oder gar Wissenschafts typus konzipiert,
sondern Praxisforschung vor allem als einen spezifischen sozialen Ort und
einen spezifischen Interaktionszusammenhang zwischen ForscherInnen und
Praktikerlnnen betrachtet. Aus der Sicht der Wissenschaft bedeutet Praxisfor-
schung dann im Grunde einen zweistufigen Forschungsprozess, in dessen
Verlauf der Wissenschaftler seine Funktion und vor allem seine soziale Rolle
wechselt. Auf der ersten Ebene ist er Forscher, der auf der Basis seiner wis-
senschaftlichen Geltungsansprüche und der methodologischen Prämissen sei-
nes Forschungsansatzes das analytische und methodische Instrumentarium
für eine empirische Sozialforschung entwirft und bereitstellt.
Auf der zweiten Ebene ist er aber nicht mehr nur wissenschaftlicher For-
scher, sondern auch fach wissenschaftlicher Experte, Berater und ggf. gestal-
tender Akteur im Handlungskontext der sozialen Praxis. Die Geltungsbe-
gründung für seine Aussagen und Konzepte basieren hier nicht mehr auf der
Konsistenz einer widerspruchslosen Erkenntnistheorie, sondern auf der per-
sönlichen und sozialen Verantwortung als fachlicher, kritischer und enga-
gierter Zeitgenosse. Für die Ergebnisse von Praxisforschungsprojekten be-
deutet das zugleich eine Differenzierung in der Validität ihrer Produkte. Eine
Beglaubigung von Forschungsergebnissen im Sinne wissenschaftlicher Güte-
kriterien kann - auch im Selbstverständnis der Praxisforschung - eigentlich
nur für den Teil auf der Basis ausgewiesener methodologischer und methodi-
scher Standards beansprucht werden - d.h. in der Regel für die analytisch-
empirischen Erhebungen.
Die Geltungsansprüche der Handlungskonzepte basieren demgegenüber
nicht auf solchen wissenschaftsimmanenten Kategorien, sondern auf der kon-
sensuellen Übereinkunft von forschenden PraktikerInnen und planend-
gestaltenden Wissenschaftierlnnen. Die Handlungskonzepte gelten vor dem
Hintergrund des fachlichen und gewissermaßen interdisziplinären Diskurses
und in prinzipieller Anerkennung der jeweils spezifischen Ressourcen des in-
stitutionellen Kontextes als (zunächst) bestmöglicher Entwurf. Ihre Reich-
weite ist prinzipiell zunächst begrenzt auf den konkreten sozialräumlich-
86 Hans-Jürgen von Wensierski
Literatur
Thomas Klatet:d<,i
Skripts in Organisationen
Ein praxistheoretischer Bezugsrahmen für die Artikulation des
kulturellen Repertoires sozialer Einrichtungen und Dienste
Wenn man anfängt, über die Anwendung qualitativer Methoden zur Erfor-
schung sozialer Einrichtungen und Dienste nachzudenken und wenn man da-
bei davon ausgeht, dass es den interpretativen Verfahren in der sozialwissen-
schaftlichen Forschung um das Verstehen von Sinn und Bedeutung geht, und
wenn man zudem annimmt, dass soziale Einrichtungen und Dienste als Sy-
steme aufzufassen sind, dann, nun dann stößt man fast unmittelbar auf fol-
gende Problemkonstellation:
Ein Blick in jene organisationstheoretische Literatur, die soziale Einrich-
tungen und Dienste als Systeme auffasst, lässt einen schnell gewahr werden,
dass soziale Systeme dort als eine überindividuelle Realität, eine Realität sui
generis, verstanden werden und dass diese Wirklichkeit im Allgemeinen
nicht als Träger von Sinn und Bedeutung gilt. l Vielmehr wird diese überindi-
viduelle Realität als eine objektive und mit determinierender Wirkung ausge-
stattete Wirklichkeit aufgefasst. Das Vorbild für diese organisationstheoreti-
sche Richtung sind die Naturwissenschaften: Organisationen als Systemen
wird ein dinghafter Charakter zugesprochen; sie werden als soziale Tatsachen
verstanden. Das wissenschaftliche Ziel ist dann die Entdeckung kausaler Ge-
setzesmäßigkeiten zwischen sozialen Fakten (z.B.: Je größer eine Organisati-
on ist, desto differenzierter ist sie). Für die empirische Erfassung solch ob-
jektiver Realität bedarf es dann aber keines interpretativen Vorgehens, son-
dern einer an den Naturwissenschaften orientierten quantitativen Methodolo-
Eine Ausnahme ist die Systemtheorie Niklas Luhmanns, in der Totalitäten Sinn zugespro-
chen wird. Die Theorie meint allerdings, darauf verzichten zu können, den empirischen
Nachweis für ihre Aussagen anzutreten. Aus diesem Grund kann sie hier unberucksichtigt
bleiben.
94 Thomas Klatetzki
gie. 2 Eine Ontologie, die darauf besteht, dass es Totalitäten gibt, scheint so
mit einer Erkenntnismethode zusammenzuhängen, die darauf verzichten
kann, den Gegenstand zuallererst zu interpretieren, denn objektive Sachver-
halte "verstehen" ja weder sich selbst noch ihre Umwelt. Was innerhalb die-
ses Bezugsrahmens empirisch ermittelt wird, sind determinierende Systeme.
Handelnde, an Sinn orientierte Individuen sind innerhalb dieses Bezugsrah-
mens nicht von Interesse.
Für die Anwendung interpretativer Verfahren bietet somit die Auffas-
sung, dass soziale Einrichtungen und Dienste soziale Systeme mit einer Rea-
lität sui generis sind, keine Ansatzpunkte. Eine aus der Sicht qualitativer Me-
thoden attraktivere Alternative zur Erforschung von Organisationen besteht
daher darin, am Individuum anzusetzen, denn dass Individuen Träger von
Sinn und Bedeutung sind, scheint eine problemlose Annahme zu sein. Unter
dem Sinn- und Bedeutungssystem einer Organisation wäre dementsprechend
nichts weiter zu verstehen als die Gesamtheit dieser individuellen Sinnvor-
stellungen. Die verbleibende interessante Frage ist dann, auf welche Weise
die einzelnen Bedeutungswelten zu einer Ganzheit kombiniert werden kön-
nen. Die z.B. in der kognitiven Organisationstheorie präferierte Vorgehens-
weise besteht darin, die Gemeinsamkeiten bzw. Überlappungen der einzelnen
individuellen Sinnwelten herauszuarbeiten (Huff 1990; Cossette 1994), um
so das Sinnsystem der Einrichtung als Ganzheit empirisch zu erfassen. Gegen
ein solches Vorgehen ist im Prinzip nichts einzuwenden. Die mit diesem
Vorgehen verbundenen Probleme beginnen allerdings dann, wenn man fragt,
wie denn diese Gemeinsamkeiten zu Stande kommen. Zur Beantwortung die-
ser Frage liegt nun der Verweis auf eine übergeordnete Realität, die Organi-
sation als soziales System, nahe. Aber dann ist man wieder bei sozialen
Sachverhalten angekommen, die eine determinierende Wirkung haben sollen,
und man befindet sich in einem Bezugsrahmen, in dem Fragen nach Sinn und
Bedeutung keine Rolle spielen.
Wenn es also um die Untersuchung von Organisationen geht, dann
scheint man auf den ersten Blick wählen zu müssen zwischen einer atomisti-
schen Perspektive, die nur subjektiv sinnorientierte Individuen kennt, und ei-
ner holistischen Perspektive, für die es allein objektive, determinierende To-
talitäten gibt. Jeder Gegenstand - Individuen hier, Totalitäten dort - ist dabei
mit einer Erkenntnismethode liiert: qualitative, verstehende Verfahren auf der
einen, quantitative, erklärende Methoden auf der anderen Seite.
Wenn man weder die eine noch die andere Position für eine theoretische
und empirische Beschreibung von sozialen Einrichtungen und Diensten für
zufrieden stellend hält, dann stellt sich die Frage, ob es einen "dritten Weg"
gibt, um Organisationen zu konzeptualisieren. Die sich seit dem Anfang der
80er Jahre entwickelnden praxistheoretischen Ansätze (vgl. Giddens 1984;
2 Exemplarisch ist hierfür der Sammelband zur Messung von Organisations strukturen von
KubiceklWelter (1985) zu nennen.
Skripts in Organisationen 95
Ortner 1984; Swidler 1986; Schatzki 1996; Reckwitz 2000) offerieren eine
solche Variante. Die mit dem Begriff ,,Praxis" verbundene Perspektive hat
der britische Soziologe Anthony Giddens folgendermaßen beschrieben: ,,Das
zentrale Forschungsfeld der Sozialwissenschaften besteht ( ... ) weder in der
Erfahrung des individuellen Akteurs noch in der Existenz irgendeiner gesell-
schaftlichen Totalität, sondern in den über Zeit und Raum geregelten gesell-
schaftlichen Praktiken" (Giddens 1988, S. 52).
Die Idee des praxis theoretischen Ansatzes besteht also darin, weder von
Systemen noch von Individuen auszugehen, sondern von Praktiken. Praktiken
sind Aktivitäten aller Art (vgl. Ortner 1984), wobei die praxistheoretische
Perspektive aber nicht einzelne Aktivitäten zum Ausgangspunkt ihrer theore-
tischen Überlegungen nimmt, sondern "the active flow of sociallife", "series
of ongoing activities and practices" oder ,,recurrent social practices" (Gid-
denslPierson 1998, S. 76). Genauer gesagt setzen praxistheoretische Überle-
gungen an den Routinen des Alltagslebens an: "The routine (whatever is
done habitually) is a basic element of ,day-to-day' social activity. (... ) The
term encapsulates exactly the routinized character which social life has as it
stretches across time-space. The repetitiveness of activities which are und er-
taken in a like manner day after day is the material grounding of what I call
the recursive nature of sociallife" (Giddens 1984, xxiii).
Routinen, die sich über Zeit und Raum erstrecken, sind das Grundele-
ment der praxistheoretischen Perspektive. Sie bilden das Fundament für die
Entstehung größerer sozialer Konfigurationen. Durch die fortwährende Re-
petitivität ihrer sozialen Aktivitäten produzieren und reproduzieren die Indi-
viduen soziale Institutionen. Dabei weisen die sich wiederholenden Aktivi-
täten eine Doppelstruktur auf. Sie bestehen aus körperlichen Verhaltensmu-
stern und aus damit untrennbar verbundenen Sinnmustern: "Soziale Praktiken
stellen einen Komplex von kollektiven Verhaltensmustern und gleichzeitig
von kollektiven Wissensordnungen ( ... ) dar, die diese Verhaltensmuster er-
möglichen und sich in ihnen ausdrücken" (Reckwitz 2000, S. 565). Praktiken
bzw. Routinen haben also einen dualen Charakter; sie bestehen zugleich aus
(materiellen) Verhaltensweisen und (ideellen) Wissensbeständen. Das Ver-
hältnis zwischen den Wissensbeständen und den Verhaltenssequenzen lässt
sich als ein rekursives verstehen. Mittels des Wissens werden die Routinen
hervorgebracht und umgekehrt behalten die Wissensstrukturen ihre Geltung
nur durch die repetitiven Aktivitäten.
Soziale Einrichtungen und Dienste lassen sich aus einer praxistheoreti-
schen Sicht dementsprechend als ein Ensemble von ineinander greifenden
Verhaltensroutinen verstehen. Aufgabe einer qualitativ inspirierten Untersu-
chung sozialer Einrichtungen und Dienste ist die Erfassung und Erläuterung
dieses Zusammenhangs von Routinetätigkeiten. Es sind im Hinblick auf ein-
zelne Routinen (z.B. die von sozialpädagogischen MitarbeiterInnen, Haus-
wirtschaftskräften und dem Leitungspersonal) zum einen die Verhaltensmu-
ster zu ermitteln, zum anderen sind die damit verbunden Wissens be stände zu
96 Thomas Klatetzki
2. Wissen
Praxis theoretische Ansätze interessieren sich nicht für Wissen "an sich", son-
dern für das Wissen im Handeln. In einem praxistheoretischen Rahmen wird
das Individuum daher als ein "engaged actor" und nicht als ein "disengaged
subject" verstanden. Mit diesem Akteursverständnis unterscheidet sich der
praxistheoretische Ansatz von dem in den Sozialwissenschaften dominanten
rationalistisch-intellektualistischen Bild eines mental prozessierenden und
die Umwelt repräsentierenden Subjekts. Gemäß letzterer Auffassung stellt
das Subjekt zunächst Überlegungen über die äußere Realität an und interve-
niert dann höchstens in einem zweiten Schritt in die Außenwelt. Den philo-
sophischen Hintergrund für diese Ansicht bildet die cartesianische Separie-
rung zwischen dem Geist und seinen mentalen Prozessen und Strukturen auf
der einen Seite und der ,,Außenwelt" der Körper und Gegenstände auf der
anderen Seite. Das Subjekt ist in erster Linie kein ,,handelndes", sondern ein
"denkendes" Wesen. In einem praxistheoretischen Ansatz wird diese Relati-
on zwischen Mentalem und Handeln umgekehrt. Der theoretische Bezugs-
punkt sind somit nicht Meinungen, Einstellungen oder Ansichten des Sub-
jekts "an sich", sondern die repetitiv hervorgebrachten Verhaltensmuster und
die mit diesen Verhaltensroutinen untrennbar verbundenen typischen Wis-
sensmuster.
Der praxistheoretische Ansatz nimmt das mit den Verhaltensroutinen
verbundene Wissen zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen, weil es ihm
nicht darum geht zu begreifen, was das menschliche Bewusstsein bzw. eine
Sinnstruktur "an sich" ist, sondern was einen menschlichen Akteur, was des-
sen "agency", seine Handlungsfähigkeit ausmacht. An die Stelle der cartesia-
nischen Trennung von Subjekt und Objekt, von Geist und Außenwelt, tritt die
maßgeblich durch die Philosophie Martin Heideggers geprägte Vorstellung,
dass das Dasein immer schon ein "In-der-Welt-sein" ist. Das Subjekt ist stets
handelnd situiert, und das heißt zugleich, dass es notwendig ein wissendes,
verstehendes Subjekt ist (vgl. Taylor 1985).
Skripts in Organisationen 97
Um die mit diesem Subjektverständnis verbundene Auffassung von Wis-
sen zu verstehen, bietet sich eine Unterscheidung an, die der Psychologe Je-
rome Bruner (Bruner et al. 1966; Bruner 1996) eingeführt hat. Nach Bruner
lassen sich drei Arten von Wissen unterscheiden, in der die Welt, oder besser
gesagt, die Invarianzen der Erfahrung und des Handeins, die "Realität" ge-
nannt werden, repräsentiert werden. Die erste Repräsentationsweise besteht
im "enactment", d.h. dem Ausführen von Handlungen und Handlungssequen-
zen. Die zweite Repräsentationsweise ist die bildliche Vorstellung (imagery);
die dritte ist die Konstruktion von Symbolsystemen. Während vor dem Hin-
tergrund des cartesianischen Weltbildes dem symbolisch repräsentierten Wis-
sen eine übergeordnete Stellung eingeräumt wurde, nimmt ein praxistheoreti-
scher Ansatz eine solche Privilegierung nicht vor. 3 Vielmehr kann man sogar
das im "enactment" repräsentierte Wissen für das entscheidendere Wissen
halten, insofern Individuen durch ihr Verhalten in einer direkten kausalen
Beziehung zur Realität stehen.4 Für bildliche Vorstellungen oder symbolische
Repräsentationen in Form von Meinungen, Einstellungen und Auffassungen
gilt das hingegen nur mittelbar (vgl. Searle 1983; WinogradelFlores 1987).
Das im "enactment", im Hervorbringen von Handlungen repräsentierte
Wissen ist auch als ein "embodied knowledge" bezeichnet worden (Blackler
1995). Shoshana Zuboff (1988, S. 61ff.) hat dieses verkörperte Wissen durch
folgende vier Aspekte charakterisiert:
3 Diese Privilegierung lässt sich nicht mehr halten, seitdem in den Kognitionswissenschaften
der Versuch, den menschlichen Geist als einen körperlosen logischen Denkapparat zu mo-
dellieren, gescheitert ist. Neuere Modelle sehen den menschlichen Geist als "embodied
mind", der eingebettet ist in eine kulturelle und physikalische Umgebung (vgl. Clark 1997).
4 Statt Verhalten könnte auch Wahrnehmung als Ausgangspunkt genommen werden, denn
auch die Wahrnehmung von Individuen steht in einer unmittelbaren Beziehung zur äußeren
Realität. Allerdings sind Wahrnehmungen empirisch schwieriger zu erfassen als Verhal-
tensweisen.
98 Thomas Klatetzki