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Markus P. Neuenschwander
University of Applied Sciences and Arts Northwestern Switzerland,
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All content following this page was uploaded by Markus P. Neuenschwander on 04 April 2020.
Rüegger Verlag
Das Projekt wurde von der Stiftung Mercator Schweiz gefördert.
ISBN: 978-3-7253-0953-5
Gestaltung: Südostschweiz Presse und Print AG, Glarus
Druck: Südostschweiz Presse und Print AG, Glarus
5
Inhalt
Einleitung
Markus P. Neuenschwander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Hauptbeiträge
Workshopbeiträge
Einleitung
Markus P. Neuenschwander
In der nationalen und internationalen Debatte haben Schulübergänge, Se-
lektions- und Berufswahlprozesse in den letzten Jahren hohe Aufmerksam-
keit erhalten. Während Schulübergängen und Selektionsprozessen werden
individuelle Bildungsverläufe festgelegt und der Zugang zu verschiedenen
Segmenten im Arbeitsmarkt reguliert. Während Schulübergängen werden
Bildungsentscheidungen gefällt und Chancen verteilt, die für die weiteren
Bildungs- und Entwicklungsprozesse von Jugendlichen weit reichende Fol-
gen haben. Möglicherweise sind die in der Schule erworbenen Zertifikate
und Diplome für die berufliche und persönliche Entwicklung von Erwach-
senen einflussreicher als die erlernten fachlichen Kompetenzen. In Schul-
übergängen manifestiert sich überdies die Qualität eines Bildungssystems:
In Schulübergängen ist die Durchlässigkeit zwischen den Bildungsformen
erhöht und in der Vielfalt der Anschlusslösungen verdeutlicht sich die Of-
fenheit eines Bildungssystems, flexibel auf individuelle Entwicklungssitua-
tionen zu reagieren. Zudem zeigt sich während Schulübergängen, in wel-
chem Ausmass Schülerinnen und Schüler das in der Schule erworbene
Wissen in ausserschulische, berufliche Lebenskontexte zu übertragen fähig
sind. Nicht zuletzt beeinflusst die Koordination zwischen zwei aufeinander
folgenden Schul- und Ausbildungsformen den Umstand, wie belastend Ler-
nende einen Schulübergang erleben und wie schnell sie sich auf die neue
Lernsituation produktiv einzustellen vermögen.
Aus der Transitionsperspektive wird ersichtlich, dass Kinder kontinuierlich
zwischen schulischen und ausserschulischen Kontexten wie Familie, Frei-
zeitvereine und Gleichaltrigengruppen (sog. synchrone Transition) pendeln
und von einem Ausbildungskontext in einen anderen Kontext (sog. diachro-
ne Transition) treten und somit Kompetenzen und Erfahrungen aus dem
einem in einen anderen Kontext übertragen. Damit wird die Schule zu einer
offenen Institution, insofern ausserschulische Einflüsse auf das Schulgesche-
hen sichtbar werden. Das Verhältnis der schulischen Bildungs- und Soziali-
sationsprozesse zu ausserschulischen Sozialisationsinstanzen rückt in den
Vordergrund. In diachroner Perspektive verdeutlicht sich Senecas Diktum,
dass Kinder in der Schule nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen
(wollen), dass also ihre schulischen Bildungsprozesse in einem grösseren
Neuenschwander, M.P. (2010). Einleitung. In: M.P. Neuenschwander, H.-U. Grunder (Hrsg.).
Schulübergang und Selektion (pp. 9–13). Chur: Rüegger.
10 Einleitung
Markus P. Neuenschwander 1
Abstract
Der Übergang von der Primarschule in die Sekundarstufe I und die Berufs-
bildung ist in der Schweiz an Selektionsprozesse geknüpft, die einerseits
durch individuelles Handeln und andererseits durch Vorgaben des Bil-
dungssystems gesteuert werden. Übereinstimmend mit ausgewählten Theo-
rien wird anhand von eigenen Studien gezeigt, wie die Struktur des Bil-
dungssystems, die Familie und das soziale Verhalten der Kinder neben ihren
Leistungen und Noten den Übergang in die Sekundarstufe I und II wesent-
lich steuern. Zum Schluss wird die Passung zwischen der Berufslehre und
den Interessen und Fähigkeiten von Jugendlichen als Erfolgskriterium für
Übergangsprozesse vorgeschlagen und ihre Bedingungen empirisch unter-
sucht. In den Schlussfolgerungen weise ich auf die unterschätzte Bedeutung
von Sozialkompetenzen von Kindern beim Übergang von der Schule in den
Beruf hin.
1 Einleitung
1 Der Autor dankt dem Schweizerischen Nationalfonds (Projektnummer 10013-107733), der Pädagogischen Hoch-
schule Bern (Projektnummer 0101s017) sowie der Bildungsdirektion Zürich für die finanziellen Beiträge an die Unter-
suchung.
Neuenschwander, M. P. (2010). Selektionsprozesse beim Übergang von der Primarschule in die Berufsbildung. In: M. P. Neuen-
schwander, H.-U. Grunder (Hrsg.). Schulübergang und Selektion (pp. 15–34). Chur: Rüegger.
16 Theoretische Voraussetzungen
ten. Arbeitsmarktsegmenttheorien gehen davon aus, dass sich die Art der Se-
lektionsprozesse, das Verhältnis von Stellenangebot und -nachfrage sowie
die erforderlichen Qualifikationen zwischen Arbeitsmarktsegmenten unter-
scheiden. Damit definieren Bildungsverläufe die Startbedingungen der be-
ruflichen Karriere, unabhängig von den inhaltlichen Kompetenzen, die die
jungen Erwachsenen aus der Ausbildung in den Arbeitsmarkt mitbringen.
Schulische Selektionsprozesse bestimmen daher in hohem Mass die Startbe-
dingungen der beruflichen Karriere.
Allerdings hat Neuenschwander (2003) eine Zieldiskrepanz zwischen Lehr-
personen und Schülerinnen und Schülern belegt. Während sich viele Schü-
lerinnen und Schüler auf den Beruf und ausserschulische Aufgaben vorbe-
reiten wollen, möchten viele Lehrpersonen in erster Linie fachliches Wissen
vermitteln. Offenbar ist der Konsens über die wesentlichen Ziele zwischen
Lehrpersonen und Lernenden brüchig. Man könnte die Spannung mit An-
schlussorientierung vs. Abschlussorientierung charakterisieren. In der Tran-
sitionsperspektive steht im Zentrum, wie Jugendliche auf die Anschluss-
lösung vorbereitet werden und nicht, wie die laufende Ausbildung
abgeschlossen werden kann.
Allerdings basiert die Organisation von schulischen Selektionsprozessen auf
gesellschaftlichen und politischen Werten, die unabhängig von Wirkungs-
überlegungen sind. Übertrittsverfahren orientieren sich primär an Chancen-
gleichheit, an Elitenbildung oder an Elternmitsprache. Sie können dem
Bildungsziel der Lebenstüchtigkeit der Kinder oder der Wirtschaftsorientie-
rung verpflichtet sein, Persönlichkeit oder aber Leistung ins Zentrum stel-
len. Diese Werte konkurrenzieren sich und sind nicht beliebig miteinander
kombinierbar. Entsprechend erfordert ein Selektionsverfahren, das Bestand
haben soll, einen gewissen Wertekonsens zwischen den politischen Parteien
und in der Gesellschaft. Ich vermute, dass dieser Wertekonsens ins Wanken
geraten ist.
2 Theoretische Voraussetzungen
Zu Beginn formuliere ich drei wichtige konzeptuelle Leitideen, die für die
folgende Argumentation zentral sind.
1. Schulübergänge und Bildungsverläufe sind einerseits durch institutionel-
le Vorgaben, Angebote und Übertrittsverfahren gesteuert. Die Schulni-
veaus in der Sekundarstufe I, die grundlegende Trennung von schulischer
und beruflicher Ausbildung in der Sekundarstufe II, die Institutionen bei
Theoretische Voraussetzungen 17
für sie passende Lösung finden. Der Erfolg wird also nicht strukturell
über die Art der Anschlusslösung definiert, sondern über das Verhältnis
des Entwicklungsstands einer Person und deren Ausbildungsumwelt. Der
Berufswahlprozess von Jugendlichen und der Selektionsprozess von Insti-
tutionen sollten dem Ziel verpflichtet sein, eine Anschlusslösung zu fin-
den, die eine optimale Passung sicherstellt. Ich werde im fünften Teil auf
dieses Postulat zurückkommen.
3 Bildungssystem:
Struktur und Selektionsverfahren steuern Bildungsverlauf
dass Jugendliche auch nach dem 9. Schuljahr ins Gymnasium, ins sog. Kurz-
zeitgymnasium, übertreten können. Der Kanton Bern schliesslich führte vor
allem zwei Bildungsniveaus. In der sog. Spez Sek, die zur Sekundarschule ge-
hört, bereiten sich Jugendliche auf das Gymnasium vor. Es fällt auf, dass der
Männeranteil mit 42,5% in der Spez Sek sehr tief ist. Der Migrantenanteil
in den Bildungsniveaus unterscheidet sich in Bern aber weniger stark als in
den anderen Kantonen.
Die Zahlen belegen die unterschiedlichen Bildungschancen, die die vier
Kantone anbieten. Die Chance auf einen Abschluss in einem anspruchsvol-
len Bildungsniveau unterscheidet sich zwischen den Kantonen stark, unab-
hängig von den Fachkompetenzen der Schülerinnen und Schüler. Bei glei-
chen Leistungen haben die Kinder also je nach Kanton sehr unterschiedliche
Chancen auf einen Bildungsabschluss in einem anspruchsvollen Niveau.
Gleichwohl werden die Schulabschlüsse im Schweizer Lehrstellenmarkt als
etwa gleichwertig behandelt. Wenn wir die Bildungschancen zwischen den
Kantonen angleichen wollen, ist im Hinblick auf die Beteiligungsquoten
eine Harmonisierung zwischen den Kantonen notwendig. Überdies sind
Migranten/-innen in anspruchsvolleren Schulniveaus generell seltener als in
weniger anspruchsvollen. Männliche Jugendliche sind in anspruchsvollen
Schulniveaus seltener als Frauen. Wenn diese Daten mit den kantonalen
Übertrittsverfahren in Beziehung gesetzt werden, resultieren zwei Thesen,
die in Folgeuntersuchungen weiter zu erhärten sind.
1. Ein geringer Jungenanteil in anspruchsvollen Ausbildungen hängt mit ei-
ner hohen Gewichtung von überfachlichen Kompetenzen im Übertritts-
verfahren zusammen. Im Kanton Bern ist beispielsweise das Kriterium
Lern- und Arbeitshaltung im Übertrittsverfahren wichtig, was die gerin-
ge Quote von Jungen in der Spez Sek erklärt. Im Kanton Basel Stadt (in
Tabelle 1 nicht erwähnt) spielt dieses Kriterium hingegen eine weniger
zentrale Rolle, weshalb der Männeranteil im Gymnasium überdurch-
schnittlich hoch ist.
2. Wenn die Beteiligungsquote zwischen den Bildungsniveaus stark variiert,
ist der Migrantenanteil in Ausbildungen mit hohen Ansprüchen beson-
ders gering. Wenn Schulniveaus mit geringen Ansprüchen und geringen
Beteiligungsquoten geführt werden, entsteht eine Schulform, die vor al-
lem Personen aus Kroatien, Serbien, Albanien und der Türkei besuchen.
Wenn hingegen wenige Schulniveaus mit ausgeglichenen Quoten geführt
werden, werden Migranten weniger stark benachteiligt (vgl. die Kantone
Basel-Landschaft und Bern).
Individuelle Determinanten von Übertrittsentscheiden und Bildungsverläufen 21
Schliesslich dürfte neben der Leistung und dem Elternengagement auch das
Schülerverhalten im Unterricht den Übertrittsentscheid beeinflussen. Ver-
mutlich haben Kinder schlechtere Übertrittschancen, die häufig den Unter-
richt aktiv stören (Disziplinprobleme). Zusammenfassend vermute ich, dass
neben den Noten und den Leistungen auch die soziale Herkunft der Eltern
und ihre Bildungserwartungen sowie Disziplinprobleme im Unterricht den
Übertrittsentscheid beeinflussen.
Diese Hypothesen wurden im Rahmen des Forschungsprojekts Familie-
Schule-Beruf (FASE B) überprüft (Neuenschwander & Malti, 2009). In die-
sem Längsschnittprojekt werden Sozialisationsprozesse in Schule und Fami-
lie, und wie diese die Schülerleistungen beeinflussen, untersucht sowie die
Frage, wie sie den Übergang in die Berufsbildung und in den ersten Beruf
vorbereiten, bearbeitet. Dem Projekt liegt ein Längsschnittdesign mit zwei
Jahrgangskohorten zu Grunde. Es startete mit einer Datenerhebung im Jahr
2002 (vgl. Forschungsdesign in Abbildung 1). Es wurden rund 1000 Ju-
gendliche des Kantons Bern, die damals im 6. oder 8. Schuljahr waren,
schriftlich befragt und unter Beizug von standardisierten Leistungstests in
Deutsch und Mathematik getestet. Zudem wurden Fragebogen für Eltern
und Lehrpersonen eingesetzt. Die gleichen Jugendlichen wurden im Jahr
2006 ein zweites Mal befragt und in den Jahren 2007 und 2008 ein drittes
und viertes Mal. Im Jahr 2006 wurde die Stichprobe mit Jugendlichen aus
den Kantonen Zürich und Aargau ergänzt, insbesondere mit gut 600
Berufslernenden im Kanton Zürich, was eine breitere Grundlage für die
Analyse der Prozesse in der Berufsbildung und den Übergang in den Arbeits-
markt versprach. Die Daten erlauben die Rekonstruktion von Bildungs-
verläufen von der Primarschule bis ans Ende der Berufsbildung bzw. vom
8. Schuljahr bis in den ersten Beruf in Realzeit.
Individuelle Determinanten von Übertrittsentscheiden und Bildungsverläufen 23
1. Welle
2002
2. Kohorte
1. Kohorte
Ergänzungs-
2. Welle 2006 Ergänzungs- stichprobe
stichprobe
3. Welle 2007
4. Welle 2008
Unter Beizug dieser Daten und zur Prüfung der eingeführten Hypothesen
wurden Determinanten des Übertrittsentscheids Realschule (Grundansprü-
che) vs. Sekundarschule (erweiterte Ansprüche) analysiert. Ergebnisse von
stufenweisen logistischen Regressionsanalysen zeigen, dass die Noten in Ma-
thematik und Deutsch am Ende des 5. Schuljahrs eine signifikante Vorher-
sage des Übertrittsentscheids zulassen. Wenn zusätzlich die Ergebnisse der
Leistungstests in Mathematik und Deutsch berücksichtigt werden, erlauben
auch diese beiden Testwerte signifikante Vorhersagen. Wenn zusätzlich der
berufliche Status der Eltern einbezogen wird, gemessen mit dem sog. ISEI
Wert (Standard International Socio-Economic Index of Occupational Sta-
tus), wird dieser auf dem 10%-Niveau signifikant. Dieser letztgenannte Zu-
sammenhang verschwindet aber, wenn in einer nächsten Gleichung zusätz-
lich die Bildungsaspirationen der Eltern einbezogen werden. Sie wurden mit
dem Item gemessen, welchen höchsten Ausbildungsabschluss das Kind ver-
mutlich erreichen werde, bevor es in das Erwerbsleben tritt. In der fünften
Regressionsgleichung wurden schliesslich noch das Geschlecht sowie Dis-
ziplinprobleme im Unterricht einbezogen. Die Ergebnisse zeigten keinen
Geschlechtseffekt, doch haben Kinder eine geringere Übertrittschance in
die Sekundarschule, wenn sie berichten, oft den Unterricht zu stören (eine
ausführlichere Ergebnisdarstellung findet sich in Neuenschwander & Malti,
2009).
Die Ergebnisse zeigen zusammenfassend, dass sowohl die Noten in Deutsch
und Mathematik als auch die Leistungstestergebnisse in Deutsch und Ma-
24 Selektionsprozesse beim Übergang in die Berufsbildung
scher sich ihr Berufswahlprozess vollzogen hat. Der Zeitfaktor, das Timing,
scheint ein wichtiger Erfolgsfaktor zu sein.
Für das Verständnis der Prozesse im Lehrstellenmarkt aber auch für die
Schulen, die Jugendliche auf den Lehrstellenmarkt vorbereiten, führte ich
im Jahr 2008 mit Nathalie Wismer eine Befragung von Berufsbildnern in
den Branchen Handel, Wirtschaft und Verwaltung sowie im Baugewerbe
durch (vgl. auch Neuenschwander & Wismer, 2010). Das Ziel war zu erfah-
ren, nach welchen Kriterien Berufsbildnerinnen und Berufsbildner Lehrstel-
len vergeben. Die Lehrstellenvergabe ist in zahlreiche Kontroversen einge-
bettet. Insbesondere interessierte uns, wie wichtig die fachlichen Noten im
Vergleich zu überfachlichen Kompetenzen wie Sozialkompetenzen, positive
Bildungseinstellungen und Motivation beurteilt werden.
unentschuldigte Absenzen
entschuldigte Absenzen
Selektionskriterien
Sozial- und
Selbstkompetenzen
Handel
Selektionshilfen Wirtschaft und Verwaltung
Baugewerbe
Methodenkompetenzen
schul. Fachkompetenzen
bes. Eigenschaften
In der einschlägigen Literatur wurden immer wieder Kriterien für einen er-
folgreichen Übergang in die Berufsbildung postuliert. Häfeli & Schellen-
berg (2009, S. 7, vgl. auch in diesem Band) schlugen folgende Erfolgskrite-
rien vor: (1) das Finden eines Ausbildungsplatzes, (2) das Durchhalten in
der Lehre, (3) ein erfolgreicher Ausbildungsabschluss und (4) eine erfolgrei-
che berufliche Integration. Auch die Eidgenössische Erziehungsdirektoren-
konferenz (EDK) postulierte ein strukturelles Erfolgskriterium, nämlich das
Erreichen eines Abschlusses auf dem Niveau der Sekundarstufe II (Berufs-
lehre, Maturität). Im Unterschied dazu schlugen Berufswahltheorien (Hol-
land, 1973; Gottfredson, 2005) und neuere soziologische Theorien (Heinz,
2008) die Passung zwischen der Persönlichkeit des Jugendlichen und der
Ausbildungssituation vor: Unabhängig von Art und Prestige der Anschluss-
lösung ist der Übergang dann gelungen, wenn eine Passung zwischen den
Jugendlichen und der Ausbildung entsteht. In entwicklungspsychologischer
Perspektive präzisierten Eccles et al. (1993) diesen Ansatz anhand der «stage-
environment-fit» Theorie. Sie nehmen an, dass Passung einerseits eine An-
passungsleistung des Jugendlichen darstellt. Es ist eine Intelligenzleistung,
sich mit einer Situation so zu arrangieren, dass Menschen optimal funktio-
nieren. Damit sind sowohl eine kognitive wie auch eine soziale Anpassung
gemeint. Neben dem Individuum trägt aber auch die Gestaltung des Ausbil-
dungsplatzes wesentlich zur Passung bei. Eccles et al. forderten entsprechend
Ausbildungskontexte, Schulen und Lehrstellen, die mit dem Entwicklungs-
stand eines Jugendlichen kompatibel sind. Nach der Analyse von Eintritts-
bedingungen in mehrere Schulformen sollen im nächsten Schritt Bedingun-
gen der Passungswahrnehmung in der Sekundarstufe II beschrieben werden.
Korrelationsanalysen von Neuenschwander (eingereicht) mit Daten des
oben eingeführten Projekts FASE B zeigen, dass Jugendliche, die eine hohe
Passung mit ihrer Ausbildung und Arbeit wahrnehmen, motivierter und
produktiver arbeiten und lernen, zufriedener mit ihrer Ausbildung sind und
bessere Leistungen erbringen. Es stellt sich die Frage, welche individuellen
und kontextuellen Merkmale zur Passungswahrnehmung beitragen. Wie an-
gesprochen, dürften schulische Leistungen und soziale Kompetenzen zum
Entstehen der Passungswahrnehmung beitragen. Gleichzeitig sind auch die
28 Passung – ein Erfolgskriterium von Übergängen
Geschlecht
Staatsangehörigkeit
Fähigkeitsselbst-
Gesamtnote konzept Dt /Math ns ns
Passung Passung
(-)
2
Konfliktlösungs- R = 25%
fähigkeit (-) Aggr. Verhalten (-)
Unter Beizug der Daten des Projekts FASE B wurden zahlreiche stufenwei-
se multiple Regressionsanalysen zur Vorhersage der Passungswahrnehmung
im 1. und 2. Jahr nach Abschluss der obligatorischen Schule durchgeführt
(ausführlicher in Neuenschwander, eingereicht). Die Passung wurde mit vier
Items wie zum Beispiel «die Lehre/die Schule ist für mich im Moment die
beste Lösung» operationalisiert. Die Ergebnisse sind zusammenfassend in
Abbildung 3 dargestellt. Sie zeigt, dass eine hohe Gesamtnote am Ende des
5. Schuljahrs zu einem hohen Fähigkeitsselbstkonzept in Deutsch und Ma-
thematik im 9. Schuljahr führt. Es handelt sich um eine Art Verinnerlichung
der schulischen Leistungsrückmeldungen ins fachliche Selbstkonzept. Auf
der anderen Seite sagt eine hohe selbstbeurteilte Konfliktlösungsfähigkeit im
sechsten Schuljahr geringes selbstbeurteiltes aggressives Verhalten im neun-
ten Schuljahr vorher. Jugendliche, die kompetent Konflikte mit Gleichaltri-
gen zu lösen fähig sind, greifen seltener auf ausagierende, sozial uner-
wünschte Konfliktlösestrategien wie Aggression zurück. Ein hohes
Fähigkeitsselbstkonzept in Deutsch und Mathematik sowie geringe aggres-
sive Verhaltenstendenzen sagen die Passungswahrnehmung im 10. Schuljahr
(d.h. 1. Lehrjahr, Mittelschule) voraus. Diese Passungswahrnehmung sagt
zudem die Passungswahrnehmung ein Jahr später vorher. Geschlecht und
Staatsangehörigkeit (Schweiz vs. nicht-Schweiz) erklären die Passungswahr-
nehmung zwei Jahre nach Schulaustritt nicht, aber das aggressive Verhalten.
Passung – ein Erfolgskriterium von Übergängen 29
Staatsangehörigkeit
Passung t-1
30 Schlussfolgerungen
Die Ergebnisse zeigen, dass die aktuellen Noten in der Berufsfachschule so-
wie die selbstbeurteilte Konfliktlösungsfähigkeit die Wahrnehmung des Ar-
beitsplatzes beeinflussen: Je nach schulischen Noten und Konfliktlösungs-
kompetenzen erleben Jugendliche ihren Arbeitsplatz als mehr oder weniger
neuartig oder belastend. Im Gegensatz zum Prestige der gewählten Berufs-
lehre erklären diese beiden Arbeitsplatzmerkmale die Veränderung der Pas-
sungswahrnehmung in hohem Mass (Varianzaufklärung 43%). Während
die Passungswahrnehmung nicht geschlechtsspezifisch ausgeprägt ist, be-
richten Einheimische über eine höhere Passungswahrnehmung als Auslän-
der. Die Ergebnisse zeigen, dass wahrgenommene Arbeitsplatzmerkmale wie
Abwechslung der Arbeitsaufträge und Arbeitsbelastungen in hohem Aus-
mass die Veränderung der Passungswahrnehmung beeinflussen. Die Jugend-
lichen vermögen zwar aufgrund einschlägiger schulischer und sozialer Kom-
petenzen zur Arbeitsplatzgestaltung beizutragen, doch dürften dafür die
Ausbildner in höherem Mass verantwortlich sein. Die Ergebnisse zeigen,
dass die Passungswahrnehmung zwar bereits aufgrund der Kompetenzen im
6. Schuljahr vorhersagbar ist, doch erlaubt der Einbezug der Arbeitsplatzge-
staltung eine bessere Vorhersage.
Aus diesen Ergebnissen folgt, dass Bedingungen und Folgen der Passung
und der Passungswahrnehmung in der Berufsbildung genauer untersucht
werden sollten. Möglicherweise bilden sie ein Schlüsselkonzept für das Ver-
ständnis der Transitionsprozesse von der Schule in den Beruf.
7 Schlussfolgerungen
sen, hat sich nun auch für Bildungsverläufe bestätigt. Immerhin dürften
beim Übergang in die Sekundarstufe I die fachlichen Noten wichtiger sein
als soziales Verhalten. Beim Übergang in die Berufsbildung dürften sich hin-
gegen fachliche und soziale Kompetenzen die Waage halten – bei grossen
Unterschieden je nach Ausbildungsfeld. Müsste demnach Meritokratie so
gefasst werden, dass diejenigen Jugendlichen schulisch Karriere machen, die
kognitiv und sozial besonders kompetent sind?
Offenbar schliesst eine schulische Vorbereitung der Jugendlichen auf die Be-
rufsbildung die Förderung von sozialen Kompetenzen ein. In der Tat obliegt
Schulen ein Erziehungsauftrag, nicht nur um die Voraussetzungen für fach-
liches Lernen in der Schülerschaft zu sichern sowie Gewalt und Suchtmittel-
konsum vorzubeugen, sondern auch um soziale Kompetenzen von Jugend-
lichen zu fördern und damit ihre Lebenstüchtigkeit in Beruf, Familie und
Öffentlichkeit zu erhöhen. Diese Förderung kann sich angesichts der hohen
Bedeutung nicht auf die Gestaltung von sozialen Lernsettings (Klassenzu-
sammensetzung, Zusammensetzung von Gruppen bei Lernaufgaben) und
Klassenführung beschränken, sondern schliesst die gezielte Anleitung und
Instruktion von sozialem Verhalten ein. Wenn Kinder gemeinsam lernen,
entwickeln sie nicht notwendigerweise die gewünschten sozialen Kompe-
tenzen, soziales Lernen in der Schule ist in hohem Ausmass latentes, unre-
flektiertes Lernen. Leider gibt es nicht sehr viele Hilfsmittel und Trainings-
programme für Lehrpersonen, die soziales Lernen in der Schule geplant
fördern (vgl. etwa Petermann et al., 2007; Malti & Perren, 2008). Vielmehr
ist es in hohem Mass den Gleichaltrigen bzw. den Eltern überlassen, welche
sozialen Kompetenzen Kinder und Jugendliche erwerben.
Eine zweite Schlussfolgerung ergibt sich zur Struktur von Bildungssyste-
men. Unsere Daten zeigen, dass Bildungsabschlüsse früh festgelegt sind. Es
gelingt aufgrund der Bildungserwartungen der Eltern, deren sozialen
Schicht und den schulischen Leistungen der Kinder den Bildungsabschluss
am Ende der Sekundarstufe II frühzeitig recht präzis vorherzusagen. Mögli-
cherweise ist zwar für die Geradlinigkeit von Bildungsverläufen primär die
Konstanz von personalen und familiären Ressourcen der Kinder verantwort-
lich (schulische Leistungen, stabile Elternunterstützung). Gleichwohl ist zu
befürchten, dass ein strukturiertes Bildungssystem, das nur geringe Durch-
lässigkeit zulässt, die Kanalisierung von Bildungswegen verstärkt. Immerhin
ist in Transitionssituationen eine gewisse Flexibilität und Durchlässigkeit
möglich. Überdies hat sich das Schweizer Bildungssystem geöffnet, Durch-
lässigkeit ist erhöht worden, vielfältige Anschlusslösungen bei Schulüber-
32 Literatur
gängen nach Austritt der Volksschule wurden geschaffen. Damit wurden im-
merhin die Restriktionen in Bildungsverläufen seitens der Bildungsangebo-
te verkleinert.
Literatur
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Literatur 33
Abstract
Mit den Daten einer Stichprobe aus Bayern und Sachsen werden die Über-
gänge von der Grundschule in die weiterführenden Schulen (Hauptschule,
Realschule, Gymnasium) in Abhängigkeit von den Empfehlungen zum
Schulübertritt durch die Lehrkräfte und dem Anmeldeverhalten der Eltern
untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass der weitaus grösste Teil der Eltern
das Kind an der Schulform anmeldet, für die von der Lehrkraft eine Emp-
fehlung ausgesprochen wurde. Anmeldung an einer höheren Schulform als
der empfohlenen nehmen eher Eltern der oberen sozialen Schichten vor,
hinter der Empfehlung zurück bleiben eher Eltern der unteren Schichten.
Bei den abweichenden Schulanmeldungen kommt den früheren Bildungs-
aspirationen der Eltern, ihrer Einschätzung zur Erfolgswahrscheinlichkeit
auf den höheren Schulen sowie der Beratung durch die Lehrkraft eine be-
sondere Bedeutung zu. Das damit deutlich werdende Zusammenspiel von
institutionellen Regelungen und Entscheidungsverhalten der Eltern bietet
Anlass, die in der Forschung zum Verlauf von Bildungskarrieren dominie-
rende Ausrichtung an Rational-Choice-Modellen kritisch zu hinterfragen.
Ditton, H., Krüsken, J. (2010). Effekte der sozialen Herkunft auf die Schulformwahl beim Übergang von der Primar- in die Sekun-
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36 Schulübergänge – Grundlagen und Fragestellung der Untersuchung
Nach Erhalt der Übertrittsempfehlungen müssen die Eltern sich für eine Se-
kundarschulform entscheiden. Ausgangspunkt der Analysen ist deshalb die
Verteilung der Schulempfehlungen in beiden Ländern. In Sachsen erhalten
46% der befragten Eltern eine Gymnasial- und 54% der Eltern eine Mittel-
schulempfehlung. 41% aller Eltern melden ihr Kind an einem Gymnasium
an, 59% an einer Mittelschule. In Bayern erhalten 44% der Kinder eine
Gymnasial-, 27% eine Real- und 29% eine Hauptschulempfehlung von der
Lehrkraft. Die Quoten der Schulanmeldungen durch die Eltern entsprechen
fast diesen Empfehlungsquoten (GY/RS/HS 43%/28%/29%). Dies bedeu-
tet allerdings nicht, dass in Bayern nur empfehlungskonforme Anmeldun-
gen erfolgen, vielmehr halten sich abweichende höhere und tiefere Schulan-
meldungen in etwa die Waage.
Um die Schulanmeldungen in Relation zur vorliegenden Schulartempfeh-
lung zu untersuchen, wurde aus beiden Merkmalen eine kombinierte Grup-
penvariable gebildet. Die sich daraus ergebenden Anmeldegruppen in bei-
den Ländern zeigt Abbildung 1. In der bayrischen Teilstichprobe melden
81% aller Eltern ihre Kinder konform mit der erhaltenen Empfehlung an,
in Sachsen sind es sogar 91% aller Eltern. In der Abbildung sind dies die
Gruppen «GY wie empfohlen», «RS wie empfohlen», «HS wie empfohlen».
Ein direkter Vergleich der abweichenden Anmeldungen zwischen den Län-
42 Schulanmeldungen am Ende der Grundschulzeit
dern ist nur bei der Entscheidung zwischen Gymnasium und mittlerem
Schulzweig möglich: Nicht ausgenutzte Gymnasialempfehlungen sind in
beiden Ländern mit 8% aller Fälle gleich stark vertreten. Die Gruppe der
Schüler, die bei einer Empfehlung für den mittleren Schulzweig trotzdem
auf ein Gymnasium angemeldet wird, ist in Sachsen deutlich kleiner als in
Bayern («GY statt RS» in SN 2% vs. in BY 7%).
Aufgrund des dreigliedrigen Schulsystems ergeben sich in Bayern zusätzliche
Möglichkeiten, von der Schulempfehlung abzuweichen, die allerdings recht
selten vorkommen: 2% aller Eltern wählen bei einer Realschulempfehlung
die Hauptschule und weitere 2% wählen anstatt der empfohlenen Haupt-
schule die Realschule. Im Folgenden werden die Elterngruppen, die mit der
Schulanmeldung von der Empfehlung abweichen, untersucht. Als Ver-
gleichsgruppen werden dazu jeweils diejenigen Eltern mit gleicher Schul-
empfehlung und konformer Schulanmeldung herangezogen.
RS statt HS n=15, 2%
HS anstatt RS n=12, 2%
10% 20% 30% 40% 50% 10% 20% 30% 40% 50%
Prozente Prozente
Sozialer Status der Eltern. In einer ersten Erhebung zeigten sich anhand ei-
ner bayrischen Stichprobe aus den Jahren 2003 bis 2004 bereits klare Effek-
te des sozialen Status auf die Umsetzung der erhaltenen Übertrittsempfeh-
lung in Schulanmeldungen. Eltern der oberen Sozialschichten nahmen
häufiger höhere Schulanmeldungen als empfohlen vor; Eltern aus den unte-
ren Schichten neigten häufiger dazu, trotz höherer Empfehlung eine niedri-
gere Schulform zu wählen.
Schulanmeldungen am Ende der Grundschulzeit 43
mittlere
Schicht
Schicht
Schicht
Schicht
Schicht
Schicht
untere
untere
obere
obere
Frühere Aspirationen der Eltern (T2) und Schulandmeldung in Sachsen und Bayern
100
92,3
90 9 0 ,4
79,8 85,2 81,0
80
72,3
70
62,4 63,3
60
50
RS -Wunsch T2 (BY) 4 2 ,9
40 G Y-W unsch T2 (BY) 36,4
30 G Y-W unsch T2 (S N)
27,2 2 6 ,5
20 19,4
14,8 18,6
1 3 ,6
10 9,0 7,7
0
HS – wie RS bei HS- ungenutzte RS- RS/MI wie GY bei mittlerer ungenutzte GY- GY wie
empfohlen Empfehlung Empfehlung empfohlen Empfehlung Empfehlung empfohlen
Ein Teil der abweichenden Schulanmeldungen der Eltern könnte damit in-
folge der Beratung der Grundschullehrkräfte veranlasst worden sein. Eine
Ausnahme besteht bei den Schülern mit Hauptschulempfehlung in Bayern,
die an einer Realschule angemeldet werden. Nur in 13% dieser Fälle hatte
die Lehrkraft zum Anstreben der Realschullaufbahn geraten.
100% 100%
Übereinstimmung
90% 22,2 zwischen angeratenem 90%
Bildungsgang und er- 30,8
80% 33,3 33,3
teilter Empfehlung 80%
70% 60,0 70%
60% 60%
85,1
höherer 92,6
50% 98,3 Bildungsgang 50% 95,6 91,5
40% angeraten 86,7
77,8 40%
66,7 66,7 69,2
30% keine Abweichung 30%
5,0
Index Erreich-
barkeit höheren
4,5
Schulabschlusses
T3
4,0
Mittelwert
Instrumentalität
3,5 RS-Abschluss
T2
3,0
Instrumentalität
GYM-Abschluss
2,5
T2
2,0
MI wie GY bei Ungenutzte GY wie
emfohlen mittlerer GY- empfohlen
Empfehlung Empfehlung
5,0
Index Erreich-
4,5 barkeit höheren
Schulabschlusses
4,0 T3
Mittelwert
3,5
Instrumentalität
3,0 HS-Abschluss
T2
2,5
Instrumentalität
2,0 RS-Abschluss
T2
1,5
HS wie RS bei HS- Unge- RS wie GY bei RS- Unge- GY wie
empfohlen Empfehlung nutzte RS- empfohlen Empfehlung nutzte GY- empfohlen
Empfehlung Empfehlung
3,4 BY
3,2
Mittelwert
3,0
2,8
2,6
2,4
2,2
2,0
HS wie RS statt HS statt RS/MI wie GY statt RS/MI GY wie
empfohlen HS RS empfohlen RS/MI statt GY empfohlen
Bayern
Schulabschluss Eltern 1.8 n.s.
I ISEI Eltern (z) 1.8 n.s.
Einkommensgruppe n.s. n.s.
Elternaspiration T1 4.5 7.2
II
Elternaspiration T2 11.0 6.6
III GY-Laufbahn von LK angeraten** 25.1 17.7
Spätere Nachholbarkeit von Abschüssen n.s. n.s.
Instrumentalität RS-Abschluss 0.24 n.s.
IV Instrumentalität GY-Abschluss n.s. n.s.
Urteil zur Erreichbarkeit höherer
Schulabschlüsse 12.6 5.0
IV Spätere Nachholbar-
keit von Abschlüssen n.s. 0.59 n.s. n.s.
Instrumentalität
HS-Abschluss n.s. 0.32 n.s. 0.34
Instrumentalität
RS-Abschluss n.s. n.s. n.s. n.s.
Instrumentalität
GY-Abschluss n.s. n.s. n.s. n.s.
Erreichbarkeit höhe-
rer Schulabschluss 0.03 7.9 0.02 16.5
einer Realschule angemeldeten Schüler ist mit n=15 ebenfalls recht klein (s.
Abb. 1) und in der deskriptiven Darstellung der untersuchten Variablen-
gruppen wurde bereits erkennbar, dass diese Gruppe sich hinsichtlich der so-
zialen Herkunft dem abweichend angeratenem Bildungsgang und den El-
ternurteilen nicht klar von der Referenzgruppe «HS wie empfohlen»
unterscheidet. Logistische Regressionen zeigen denn auch bis auf einen zu-
verlässigen Effekt der Erreichbarkeits- und einen marginalen Effekt der Re-
vidierbarkeitseinschätzung keine weiteren Effekte der bisher untersuchten
Variablengruppen. Zusätzliche Analysen belegen jedoch, dass es daneben
noch andere Einflussgrössen auf die Schulanmeldung nach Hauptschulemp-
fehlungen gibt. Dies sind zum einen gute Testleistungen im vierten Schul-
jahr, die die Chance auf eine Realschulanmeldung deutlich erhöhen. Ergän-
zende Analysen zeigen, dass nur die Testleistungen zu T3, nicht aber die
Testleistungen zu T1 oder T2 relevant für die Anmeldung an der Realschu-
le sind. Zum anderen besteht noch ein positiver Effekt des Elternurteils be-
züglich der Wichtigkeit eines hohen Schulabschlusses. In der gemeinsamen
Analyse erreicht allerdings nur der Leistungseffekt das konventionelle Signi-
fikanzniveau, die Urteilseffekte verfehlen aufgrund der kleinen Gruppen-
grösse knapp das Signifikanzniveau. Die Umsetzung der Hauptschulemp-
fehlungen lässt sich damit weniger gut erklären als die Anmeldungen bei
mittlerer oder gymnasialer Schulempfehlung.
4 Diskussion
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Anhang 59
Anhang
Anzahl Items
cr α bzw. r
N gültig
Tabelle A1: Übersicht zu den Erhebungsinstrumenten/
SD
M
Skalen der Untersuchung
Mechtild Gomolla
Abstract
Gomolla, M. (2010). Schulische Selektion und institutionelle Diskriminierung. In: M. P. Neuenschwander, H.-U. Grunder (Hrsg).
Schulübergang und Selektion (pp. 61–90). Chur: Rüegger.
62 Abstract
mischen Status werden jedoch aus den Debatten über Diskriminierung bis-
her weitgehend ausgeklammert (vgl. in kritischer Perspektive Scherr 2008).
Eine wichtige Tendenz der Menschenrechtsdebatte der vergangenen Jahr-
zehnte liegt in der Erweiterung der Perspektive von formaler Gleichberech-
tigung zu materieller De-facto-Gleichberechtigung.1 Zunehmend werden
auch die indirekten und strukturellen Formen von Diskriminierung in zen-
tralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, einschliesslich Bildung und
Ausbildung, als Menschenrechtsverstösse gewertet, für deren Überwindung
Staat und Gesellschaft Verantwortung tragen (vgl. Bielefeldt 2005, S. 4).
Die Antidiskriminierungsrichtlinien der Europäischen Union (vgl. EU
2000a; EU 2000b; ECRI 2002) und das 2006 verabschiedete bundesdeut-
sche Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (vgl. Bundesministerium der Jus-
tiz 2006) ahnden neben dem Tatbestand der unmittelbaren Diskriminierung
Formen der mittelbaren Diskriminierung, d.h.
«wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Per-
sonen, die einer Rasse2 oder ethnischen Gruppe angehören, in besonderer Weise
benachteiligen können» (EU 2000a, Art. 2, Abs. 2 a, b; vgl. auch den entspre-
chenden Passus im AGG § 3, Abschnitt 2).3
Damit werden Ungleichheitseffekte – auch ohne dass man von unmittelbar
diskriminierenden Absichten und Einstellungen der Akteure ausgeht – mit
institutionellen Handlungskontexten als Problemursache in Beziehung ge-
setzt.
Im angelsächsischen Raum hat die Thematisierung sozial- und bildungspo-
litischer Fragen unter dem Begriff der Diskriminierung im sozialwissen-
schaftlichen Diskurs wie als Anlass für staatliches Handeln eine lange Tradi-
tion (vgl. Steiner-Khamsi 1992; Hormel/Scherr 2004; Gomolla 2005). In
Deutschland ist dies jedoch eine ungewohnte Perspektive. Insbesondere die
Frage, ob die im Durchschnitt niedrigeren Bildungsabschlüsse und die
1 Analog ist in der internationalen Bildungsdiskussion ein umfassendes Kriterium sozialer Gerechtigkeit etabliert, das
über den formal und faktisch gleichberechtigten Zugang zu Bildungsangeboten hinaus Gerechtigkeit in der Partizi-
pation und Behandlung in Unterricht und Schulleben sowie in den Bildungsresultaten (Ergebnisgerechtigkeit) an-
strebt (vgl. UNESCO 1994; Campbell 2002).
2 Leider wird in solchen Gesetzestexten oft der Begriff «Rasse» benutzt, ohne dass er genauer erläutert würde. Immer-
hin wird in der Gesetzesbegründung zum AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Bundesministerium der Jus-
tiz 2006) darauf hingewiesen, dass es «menschliche Rassen im biologischen Sinne» nicht gibt (Schiek 2007, S. 72).
Andere europäische Rechtsordnungen im Antidiskriminierungsbereich benutzen den Begriff überhaupt nicht (Finn-
land, Österreich) oder mit einem «so genannt» (z.B. Belgien).
3 Die Unterscheidung von direkter und indirekter Diskriminierung ist auch im Schweizer Recht relevant; ausführlich
zu den Rechtsgrundlagen zum Schutz vor Diskriminierung in der Schweiz vgl. die Websites der Eidgenössischen Kom-
mission gegen Rassismus (www.ekr.admin.ch/themen/...) und «www.humanrights.ch».
Abstract 63
4 Für einen Überblick vgl. Stanat et al. (2002), Bos et al. (2003; 2004), Konsortium Bildungsberichterstattung (2006),
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2008), Auernheimer (2009).
5 Konträre Positionen hängen z.T. mit unterschiedlichen Theoriemodellen von Diskriminierung zusammen; vgl. Kris-
ten (2006, 2006a), Schofield (2006), Schofield/Alexander (im Erscheinen), Gomolla/Radtke (2009).
64 Institutionelle Diskriminierung – Geschichte des Begriffs
6 Für eine ausführliche theoretische Kritik (sozial-)psychologischer und ökonomischer Diskriminierungstheorien vgl.
Henriques (1984), Rizvi (1993), Rommelspacher (1997), Terkessidis (1998), Hormel (2007).
66 Institutionelle Diskriminierung – Geschichte des Begriffs
Miles (1991) hebt ferner hervor, dass die Definition von Rassismus als
strukturelle Beherrschung von Schwarzen durch Weisse die Analyse auf be-
stimmte historische Beispiele beschränke. Inwiefern Ausgrenzungspraktiken
auch in anderen Fällen, die sich nicht auf «schwarze» Menschen beziehen,
durch rassistische Ideologien gerechtfertigt werden können, lasse sich in die-
sem theoretischen Rahmen nicht erfassen.
schichtig. Sie können zwar theoretisch postuliert, letztlich aber nur empi-
risch geklärt werden (vgl. Troyna/Williams 1986).
Im Hinblick auf die Dilemmata von intentionaler vs. nicht-intentionaler,
sowie bewusster vs. nicht-bewusster Diskriminierung hebt Wieviorka
(1995) des Weiteren hervor, dass die Lokalisierung von Diskriminierung auf
institutioneller Ebene keineswegs bedeute, dass man pauschal jede Intentio-
nalität ausschliessen und jedes Bewusstsein über die Diskriminierung ver-
neinen müsse. Im Gegenteil: Institutionelle Diskriminierung sei in der Pra-
xis nie vollkommen unsichtbar und maskiert für diejenigen, die davon
profitieren. Die Idee eines institutionellen Rassismus, der vom Bewusstsein
der Akteure abgespalten sei, führt Wieviorka zufolge zu unhaltbaren Parado-
xien. In einem solchen Verständnis würde nicht nur die dominierende
Gruppe als Ganzes des Rassismus beschuldigt. Die Thematisierung von in-
stitutionellem Rassismus könne auch leicht als Einladung an die Akteure
missverstanden werden, sich von jeglicher Verantwortung frei zu sprechen.
Barry Troyna und Jenny Williams schlagen insbesondere in ihrem Buch «Ra-
cism, Education and the State» (Troyna/Williams 1986, S. 55f.) eine Agen-
da zur theoretischen Klärung des Konzepts vor. Demnach muss die Beschäf-
tigung mit Phänomenen der institutionellen Diskriminierung zumindest
auf drei Sachverhalten basieren:
• einer klaren theoretischen Ausformulierung der Beziehungen zwischen
den (diskriminierenden) Institutionen,
• einem Verständnis der internen Operationen und Praktiken der Institu-
tionen und
• einem Verständnis der Beziehung zwischen den Individuen, die Teil der
Institution sind, und den Strukturen, innerhalb derer sie arbeiten.
Bei diesen Überlegungen lässt sich anknüpfen, wenn es darum geht, das
Konzept weiter zu operationalisieren und empirische Forschungen anzu-
schliessen.
Ein organisationsbezogenes Erklärungsmodell 73
10 Für eine ausführliche Diskussion der Probleme quantitativer Analysen zur Ermittlung der Effekte institutioneller
Diskriminierung s. Gomolla/Radtke (2009, S. 86ff.).
Ein organisationsbezogenes Erklärungsmodell 75
«[…] the variable to be explained is justifiability; that is, on what basis can a par-
ticular distribution pattern be justified. [...] The central and exciting part of the
analysis takes place in the identification and articulation of antecendent and in-
tervening variables by which to characterize normatively the process as eventual-
ly justifiable or not.» (Alvarez 1979, S. 7f.; Hervorhebungen M.G.)
Alvarez macht dabei auf einen wichtigen Punkt aufmerksam: Die i.d.R. als
illegitim geltende Verwendung askriptiver Merkmale der Klientinnen und
Klienten kann für die Aufgabenerfüllung und die Bestandsinteressen der
Organisationen ebenso funktional sein wie Leistungskriterien, die Ansprü-
che begründen. Denn Askriptionen erhöhen die Entscheidungsoptionen.11
Um diese Dynamiken empirisch untersuchen und theoretisieren zu können,
sind die Organisationen in ihrer historischen Gewordenheit zu begreifen
und in ihrem jeweiligen sozialen, politischen, ökonomischen und kulturel-
len Kräftefeld zu situieren.
Organisationales Handeln und gesellschaftlicher Kontext
Allokation qua Askription als gesamtgesellschaftlicher Mechanismus setzt
Machtarrangements innerhalb und ausserhalb der Organisation voraus, die
sich mit dieser Praxis in Übereinstimmung befinden (vgl. Alvarez 1979).
Die Analyse institutioneller Diskriminierung gewinnt ihre Perspektive gera-
de aus der Annahme, dass Diskriminierung in Organisationen nicht gänz-
lich spontan entsteht und dass die Gelegenheiten für einzelne Organisatio-
nen, zu diskriminieren, nicht zufällig verteilt sind. Die ursächlichen
Konstellationen können auf unterschiedlichen Ebenen liegen – im lokalen,
nationalen oder internationalen Kontext (vgl. Wight 2003, S. 173). Um sol-
che strukturellen Konfigurationen, die dazu beitragen, dass Diskriminie-
rung in Organisationen stattfinden und aufrechterhalten werden kann, zu
identifizieren, ist v.a. nach dem Einfluss rechtlicher Vorgaben, politischer
Prozesse, professioneller Normen und Wertorientierungen im sozio-kultu-
rellen Kontext der Organisationen, die auf die alltägliche Praxis normierend
einwirken, zu fragen (vgl. Gomolla/Radtke 2009; Gomolla 2005). Die je-
weilige Bedeutung dieser Faktoren für die Entstehung von Ungleichheit
lässt sich nur empirisch ermitteln.
11 Beispielsweise können bei der Neuaufnahme von Erstklässlerinnen und Erstklässlern in einer Grundschule das Inte-
resse, eine bestimmte Zügigkeit zu erhalten, eine Vorbereitungsklasse mit der nötigen Schülerzahl zu füllen, Proble-
me zu delegieren oder zukünftige zeitraubende Konflikte mit Eltern zu vermeiden, Strategien der Ethnisierung Vor-
schub leisten. Diese sind für die Organisation funktional – diskriminierende Wirkungen für die betroffenen Kinder
werden mit Verweis auf die begrenzten Kapazitäten und Möglichkeiten der Schule offenbar hingenommen (vgl. Go-
molla/Radtke 2009, S. 161ff.).
76 Ein organisationsbezogenes Erklärungsmodell
12 Christian Imdorf hat diesen Erklärungsansatz in seinen Untersuchungen der Lehrlingsselektion in Schweizer Betrie-
ben aufgegriffen und weiterentwickelt (vgl. Imdorf 2008).
Konstruktion sozialer Differenz in schulischen Entscheidungspraktiken 77
15 Das General Certificate of Secondary Education (GCSE) wird regulär am Ende der Sekundarstufe I (11. Klasse) abge-
legt und entscheidet über das Vorrücken in die Sekundarstufe II.
80 Effekte von Diskriminierung auf den Lernerfolg
lichkeit für schwarze Jugendliche, nur für das unterste Niveau zugelassen
zu werden, erheblich grösser als für Weisse.16
• Am sichtbarsten wurde die Rationierung von Unterricht und Betreuung
bei der Identifikation derjenigen, die mit gezielter Förderung in den Ab-
schlussexamina in einzelnen Prüfungsfächern einen Sprung von einem
niedrigen D-Abschluss zu einem C-Abschluss schaffen könnten. Eine
solche «zweite Chance» erhielten tendenziell eher weisse, männliche
Jugendliche aus der Mittelschicht. Zu den «hoffnungslosen Fällen»
gehörten vor allem schwarze Kinder aus ökonomisch deprivierten Ver-
hältnissen.
Die britische Studie macht die Verschärfung der sozialen Selektivität in
marktförmig organisierten Bildungssystemen deutlich. In Verbindung mit
den öffentlichen Schulrankings, auf deren Grundlage Eltern und Kinder
ihre Schule auswählen, wurden rückschrittliche und wissenschaftlich unzu-
reichend fundierte Konzepte von «Begabung» bzw. «underachievement» als
zentrale Problemursache identifiziert. Diese Konzepte von Begabung als ei-
nem festen, generalisierbaren und messbaren Potenzial erwiesen sich an-
schlussfähig für verbreitete Stereotype von schwarzen Jugendlichen als an-
geblich weniger begabt oder störend.
Der hohe Stellenwert, der der Auseinandersetzung mit Phänomenen der in-
dividuellen und institutionellen Diskriminierung im Kontext schulischer
Erziehung und Bildung zukommt, wird durch eine Fülle neuerer sozial- und
pädagogisch-psychologischer Studien unterstrichen, welche die Auswirkun-
gen von Diskriminierung auf das schulische Lernen und die Leistungsent-
wicklung von Schülerinnen und Schülern zu erfassen suchen. Solche For-
schungsarbeiten basieren zumeist auf Theorien über «Stereotype Threat»
(Bedrohung durch Stereotype) und Erwartungseffekten oder sie stehen in
der Tradition der in den USA, Grossbritannien u.a. Ländern etablierten
«Tracking»-Forschung, die die Auswirkungen von Leistungsgruppierung
und curricularer Differenzierung auf den Bildungserfolg unterschiedlicher
16 Die GCSE-Examina werden in vielen Schulen als gestufte Prüfungen durchgeführt. Die Schülerinnen und Schüler
erhalten in gleichen Fächern unterschiedliche Aufgabenblätter, die nur bestimmte erreichbare Noten zulassen. Somit
kommt der Entscheidung der Lehrpersonen, zu welchem Examen jemand zugelassen wird, eine wichtige Selektions-
funktion zu (vgl. Gillborn/Youdell 2000, 102ff.).
Effekte von Diskriminierung auf den Lernerfolg 81
dazu bei, dass sich die Schere zwischen den Bildungserfolgen unterschiedli-
cher Gruppen weiter öffnet. Als Hauptfaktoren, die das Lernen in homoge-
nen Gruppen leistungsschwächerer Schüler/innen beeinträchtigen, werden
genannt: weniger anspruchsvolle Lerninhalte, weniger pädagogisch effekti-
ves Verhalten der Lehrgruppe und Peergruppen-Prozesse, die das Lernen ne-
gativ beeinflussen.
Ausgrenzung genutzt werden. Wie v.a. die umfangreiche Literatur aus Eng-
land belegt, werden solche Tendenzen in marktförmig organisierten Bil-
dungssystemen dramatisch verstärkt. Hier werden Kinder mit erwarteten
Defiziten in der Unterrichtssprache oder Lernbeeinträchtigungen verstärkt
als besonders kostenträchtige und daher unattraktive Gruppen wahrgenom-
men, die ein Mass an pädagogische Instabilität in den Unterricht bringen,
das die Homogenität der «effektiven Schule» bedroht.
Der sicherste Weg, die für die Lebensperspektiven Tausender junger Er-
wachsener, die Jahr für Jahr die Schule verlassen, aber auch für die Gesell-
schaft als Ganzes, schwerwiegenden negativen Effekte von Diskriminierung
im Schulalltag zu vermeiden, besteht zweifellos darin, die segregativen
Schulstrukturen abzuschaffen und sie durch eine gemeinsame Schule für alle
zu ersetzen. Wie die jüngsten politischen Debatten über die Abschaffung der
Hauptschulen in Deutschland bestätigen, rufen solche Vorhaben gewöhn-
lich beträchtlichen politischen Protest, v.a. von Eltern, deren Kinder die hö-
heren Bildungsgänge besuchen, auf den Plan.
Wenn solche Reformen in der gegenwärtigen politischen Situation nicht
durchsetzbar sind, besteht eine vielversprechende Alternative, um einerseits
die Dynamik der Benachteiligung und Ausgrenzung «anderer» Schülerinnen
und Schüler beim Zugang zu und in Schulen zu durchbrechen und anderer-
seits, da wo die Selektion schon stattgefunden hat – d.h. in Klassen mit nied-
rigen Leistungen und oder Schulen mit hohen Anteilen von Kindern mit
Migrationshintergrund und aus Familien mit geringen materiellen Ressour-
cen – die Lernentwicklung und Leistungen der Schülerinnen und Schüler zu
verbessern, darin, bewusst die Qualität der Curriculumsinhalte und der pä-
dagogischen Praktiken zu verbessern.
Umfassende Strategien einer solchen Schul- und Unterrichtsentwicklung,
die der migrationsbedingten Heterogenität auf den unterschiedlichen Ge-
staltungsebenen der Schulentwicklung Rechnung trägt, könnte – wenn sie
konsequent genug betrieben wird – längerfristig dazu beitragen, die Spiel-
räume für grundlegendere Strukturreformen zu erweitern. Bei einer solchen
Schulentwicklung wären v.a. die folgenden Aspekte zu berücksichtigen:
• Kohärente politische Strategien: Um eine Bildungs- und Erziehungskultur
zu schaffen, die die Auseinandersetzung mit institutioneller Diskriminie-
rung ermutigt, müssen die entsprechenden politischen Instanzen eine
führende Rolle übernehmen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Bil-
dungsungleichheit in keinem politischen Handlungsfeld isoliert be-
kämpft werden kann. Initiativen sind auch auf integrationspolitischer
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92 Ausgangslage und Problemstellung
2007). Den Volkszählungsdaten von 1990 zufolge erwarben 44% der Kin-
der von Vätern mit akademischen Berufen oder Kinder von Vätern, die dem
oberen Kader angehören, die Studienberechtigung, während lediglich 6%
der Kinder un- und angelernter Arbeiter und Angestellten die Maturitäts-
schule abgeschlossen hatten. Rund 31% der Akademiker- und Kaderkinder,
aber nur rund 4% der Kinder un- und angelernter Arbeiter und Angestell-
ten erwarben einen Hochschulabschluss (eigene Berechnungen nach Lam-
precht und Stamm 1996, S. 34 und 36). Im Vergleich zu den Kindern aus
bildungsfernen Gruppen hatten diese sozial privilegierten Kinder eine rund
14-mal bessere Chance, die Maturität, und 12-mal bessere Chancen, einen
Hochschulabschluss zu erwerben. Für die Schweiz liessen sich zu dieser Zeit
rund 33% der Variation im Bildungserfolg durch die Bildung und den Be-
ruf des Vaters beschreiben (Lamprecht 1991, S. 145). Diese hochgradige in-
tergenerationale Transmission von Bildungschancen hat sich bis Ende der
1990er-Jahre nicht gravierend verändert (Stamm et al. 2003). Für die
Schweiz belegte PISA 2000 nicht nur die fortwährende «Bildungsverer-
bung», sondern auch dass die Korrelation zwischen sozialer Herkunft und
Lesekompetenzen am stärksten unter den teilnehmenden OECD-Staaten ist
(Ramseier und Brühwiler 2003). Offensichtlich scheinen herkunftsbezoge-
ne Leistungsdisparitäten, das zwischen den Sozialschichten differierende
Bildungsverhalten sowie ihr Zusammenspiel in gegebenen Strukturen und
Regelungen des Bildungssystems für dauerhafte Bildungsungleichheiten
verantwortlich zu sein (Becker und Schubert 2006).
Zum anderen ist ein rohstoffarmes Land wie die Schweiz jetzt und in Zu-
kunft auf ein steigendes Angebot qualifizierter und hochqualifizierter Ar-
beitskräfte angewiesen, um wirtschaftliche Prosperität und allgemeine
Wohlfahrt dauerhaft sicherstellen zu können. Gemessen an der gleichaltri-
gen ständigen Wohnbevölkerung in der Schweiz lag im Jahre 2008 die Ma-
turitätsquote bei 32% (19,7% gymnasialer Maturitätsabschluss und 12%
Berufsmaturität). Die Hochschuleintrittsquote (d.h. die Quote des erstma-
ligen Studienbeginns gemessen an der altersgleichen Wohnbevölkerung) lag
im Jahre 2008 bei 34,5%. Jedoch weist die Schweiz im internationalen
OECD-Vergleich eine deutlich niedrigere Studienberechtigtenquote auf. Im
Jahre 2007 nahmen – gemessen an der gleichaltrigen ständigen Wohnbevöl-
kerung – rund 39% der Schweizer ein Hochschulstudium auf; der OECD-
Durchschnitt für die Netto-Studierquote betrug 56% (BfS 2009). Der An-
teil von Personen mit Hochschulabschluss lag im Jahre 2008 bei rund 20%.
Offensichtlich geht die soziale Ungleichheit von Bildungschancen mit einer
geringen Quote von hochqualifizierten Absolventen und Arbeitskräften ein-
Theoretischer Hintergrund 93
2 Theoretischer Hintergrund
erweist sich die Unterscheidung von primären und sekundären Effekten der so-
zialen Herkunft nach Boudon (1974) als hilfreich (Becker 2009; Müller und
Pollak 2008). Primäre Herkunftseffekte spiegeln den Zusammenhang von so-
zialer Herkunft (gemessen an sozioökonomischen Ressourcen des Eltern-
hauses oder am Bildungsniveau der Eltern) und schulischen Leistungen und
den darauf basierenden Bildungserfolgen wieder. Je mehr ökonomische, kul-
turelle und soziale Ressourcen den Eltern zur Verfügung stehen, desto eher
wachsen die Kinder in anregungsreichen Kontexten auf. Aufgrund dieser
vorteilhaften Sozialisationsbedingungen werden Kinder aus höheren Sozial-
schichten besser den jeweiligen schulischen Leistungsanforderungen gerecht
und haben daher vergleichsweise grössere Chancen, auf der Schule zu ver-
bleiben und die Studienberechtigung zu erwerben. Da Studienberechtigte
aus höheren Sozialschichten bessere schulische Leistungen aufweisen und
eher erwarten, ein Studium erfolgreich bewältigen zu können, entscheiden
sie sich mit grösserer Wahrscheinlichkeit für ein Studium. Sekundäre Her-
kunftseffekte umfassen die Wirkungen von sozialer Herkunft auf elterliche
und individuelle Bildungsentscheidungen zugunsten weiterführender und
höherer Bildung. Aufgrund verfügbarer ökonomischer Ressourcen und ver-
gleichsweise geringer sozialer Distanz zum System höherer Bildung ent-
scheiden sich Elternhäuser in höheren Sozialschichten für ihre Kinder eher
für die gymnasiale Maturität als «bildungsfernere» Sozialschichten. Bei glei-
chen Leistungen oder bei gleichen Erfolgserwartungen entscheiden sich Stu-
dienberechtigte aus höheren Sozialschichten eher für ein Studium als Studi-
enberechtigte aus «bildungsferneren» Schichten. Aufgrund ihrer Position in
der gesellschaftlichen Schichtung (Klassenstruktur) sind höhere Sozial-
schichten, insbesondere Akademikerfamilien, «gezwungen», in die weiter-
führende Schulbildung und Hochschulbildung ihrer Kinder zu investieren,
wenn sie den bislang erreichten Sozialstatus aufrechterhalten und einen Sta-
tusabstieg vermeiden wollen. Für die Mittel- und Arbeiterschichten ist eine
qualifizierte Schul- und Berufsausbildung für ihre Kinder ausreichend für
den intergenerationalen Statuserhalt. Auch wenn die Bildungsrenditen eher
vom erworbenen Bildungszertifikat als von der sozialen Herkunft abhängen,
sind wegen dem Statuserhaltmotiv die Bildungsmotivationen von höheren
Sozialschichten (insb. Akademiker bzw. obere Dienstklasse) deutlich grösser
als bei «bildungsferneren» Schichten (insb. Arbeiterklasse). Aufgrund ver-
fügbarer Ressourcen ist der (subjektiv erwartete) Kostendruck für «bildungs-
fernere» Schichten bei Bildungsinvestitionen höher als für ökonomisch pri-
vilegierte, mit dem Hochschulsystem vertraute Sozialschichten. Da die
subjektive Erwartung, bei weiterführender Schulausbildung und tertiärer
Ausbildung erfolgreich zu sein, für untere Schichten geringer als für höhere
Datengrundlage 95
Schichten ist, und sie eher fürchten, im höheren Bildungssystem wegen un-
zureichender Leistung zu scheitern, sind für sie die Investitionsrisiken, d.h.
das Verhältnis zwischen erwarteten Bildungskosten und erwarteten Erfolgs-
wahrscheinlichkeiten, vergleichsweise höher (Becker und Hecken 2008).
Somit ergibt sich bei gegebenen institutionellen Rahmenbedingungen des
Bildungssystems die sogenannte «Bildungsferne» aus dem Zusammenspiel
von sozialen Disparitäten der schulischen Leistungen und des erwarteten
Bildungserfolgs einerseits und sozialen Disparitäten von Bildungsmotivatio-
nen und Investitionsrisiken andererseits. Die Bedeutung dieses Zusammen-
spiels für ungleiche Bildungschancen und den unterdurchschnittlichen,
aber sozial selektiven «output» des Bildungssystems wurde in mehreren em-
pirischen Studien nachgewiesen (Müller 1994; Becker und Hecken 2008).
In bildungspolitischer Hinsicht ergeben sich, wenn man daran interessiert
wäre, das Potenzial studierfähiger Kinder in sozial benachteiligten Gruppen
an die Hochschulen zu bringen, folgende «Stellschrauben»: Zum einen
könnte der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Leistungsfähig-
keit (primärer Herkunftseffekt) modifiziert werden. Zum anderen könnten
soziale Disparitäten von Bildungsentscheidungen verringert werden (Mül-
ler-Benedict 2007). Auf Wirkungen der Bildungsexpansion zu setzen, wäre
sicherlich eine naheliegende Lösung. Da diese – wie Entwicklungen in an-
deren Ländern zeigen (Blossfeld und Shavit 1993) – langwierig und nicht
sofort zum umfassenden Abbau herkunftsbedingter Bildungsungleichheiten
führt, wären Massnahmen bei der Finanzierung von Bildung und Steuerung
des Bildungssystems aussichtsreicher (Becker 2009). Um die Effizienz und
Effektivität solcher bildungspolitischer Massnahmen beurteilen zu können,
müssten jedoch Schulversuche und andere Experimente vorgenommen wer-
den, deren Evaluation langwierig und mit Kosten verbunden ist. Eine kos-
tengünstige und schnelle Resultate liefernde Alternative wäre, die Folgen
von Bildungspolitik mittels Simulationen zu eruieren (Boudon 1974).
3 Datengrundlage
4 Empirische Befunde
4.1 Soziale Ungleichheit von Bildungschancen im Lebenslauf
Betrachten wir zunächst die Struktur der Bildungsverläufe der um 1985 Ge-
borenen in der deutschsprachigen Schweiz (Tabelle 1), so wechseln von allen
Primarschülern dieses Jahrgangs rund 74% auf die Sekundarschule mit ge-
hobenen Ansprüchen bzw. das Gymnasium (erste Schwelle). Hierbei gibt es
deutliche Differenzen von relativen Bildungschancen nach sozialer
Herkunft. So haben Akademikerkinder – gemessen an den Chancenverhält-
nissen (odds ratios) – eine rund (82,7% : 17,3%)/(56,6% : 43,4%) = 3,7-
mal bessere Chance, auf anspruchsvolle wie weiterführende Schullaufbah-
nen in der Sekundarstufe I zu gelangen, als Schulkinder von Eltern mit
niedriger Bildung. Schulkinder aus den mittleren Bildungsschichten haben
eine (77,3% : 22,7%)/(56,6% : 43,4%) = 2,6-mal bessere Chance, auf diese
Schullaufbahnen zu wechseln als Kinder von niedrig qualifizierten Eltern.
Empirische Befunde 97
Soziale Herkunft
Für die Kategorie «Insgesamt» werden die relativen Anteile des gesamten
Jahrgangs 1985 berechnet. Ansonsten beschränkt sich bei der dritten
Schwelle die in Betracht gezogene Risikomenge auf die Teilgruppe, die zu-
vor die weiterführende Sekundarstufe I (Sekundarschule bzw. Gymnasium)
besucht hat, und für die vierte Schwelle auf diejenige Teilgruppe, die
schliesslich die Studienberechtigung (Berufsmaturität oder gymnasiale Ma-
turität) erworben haben.
Rund 48% des gesamten Jahrgangs 1985 erwirbt danach die Studienbe-
rechtigung (gymnasiale Matur bzw. Berufsmaturität). Betrachtet man nur
die 1985 Geborenen, die zuvor die Sekundarschule mit gehobenen An-
sprüchen bzw. das Gymnasium besucht haben, dann haben 58,6% dieser
Jugendlichen mit der gymnasialen Maturität bzw. Berufsmaturität die
Studienberechtigung erworben und sind daher zum Studium auf der Uni-
versität oder Fachhochschule berechtigt (dritte Schwelle). Akademiker-
98 Empirische Befunde
kinder haben eine rund 2-mal bessere Chance, die Maturität zu erreichen,
als Kinder von Eltern mit mittlerer Bildung und eine rund 4-mal günstige-
re Chance als Kinder aus bildungsfernen Schichten.
Schliesslich beginnen 38,4% der 1985 Geborenen ein Studium an den Uni-
versitäten oder Fachhochschulen. Betrachtet man nur die studienberechtig-
ten Absolventen dieses Jahrgangs, so wechseln rund 71% der Maturan-
dinnen und Maturanden an die Hochschulen. Während 79% der
studienberechtigten Akademikerkinder studieren, beginnen lediglich 63%
der studienberechtigten Kinder aus den anderen Schichten ein Hochschul-
studium. Auch bei der vierten Schwelle haben Akademikerkinder eine rund
2-mal bessere Chance als Mittelschichtkinder und eine rund 3-mal bessere
Chance als Kinder aus bildungsfernen Gruppen, ein Hochschulstudium zu
beginnen. Oder anders ausgedrückt: Akademikerkinder haben eine 2,2-mal
günstigere Studienchance als Kinder aus anderen Sozialschichten.
Soziale Herkunft
Niedrige Bildung 1 1 1 1
Mittlere Bildung 1.57* 1.88* 1.62* 1.53
Hohe Bildung 5.27* 3.71* 3.53* 2.92*
Leistung
Notendurchschnitt 21.7*
Leseleistung 3.17* 2.26* 1.85*
* mindestens p 0,05
Quellen: Moser und Rhyn (2000) sowie TREE (Welle 1–7) – eigene Berechnungen ohne Gewichtung
1 Die sogenannten «odds ratios» entsprechen den Chancenverhältnissen, die für die Bildungsübergänge in Tabelle 1
diskutiert wurden. Bei den multivariaten Analysen in Tabelle 2 besagt ein Odds-Ratio-Wert von 1, dass es keinen
Zusammenhang zwischen einer erklärenden Variablen und dem Bildungsübergang gibt. Ist der Odds-Ratio-Wert
grösser als 1, dann gibt es einen positiven Einfluss der erklärenden Variablen auf den Bildungsübergang, und ist er
kleiner als 1, dann liegt ein negativer Einfluss dieser Variablen auf die Wahrscheinlichkeit, einen bestimmten Bildungs-
übergang zu vollziehen, vor.
Empirische Befunde 99
Allerdings könnte man einwenden, dass diese sozialen Disparitäten der Bil-
dungschancen aufgrund unterschiedlicher Leistungsfähigkeiten, Motivatio-
nen und Anstrengungen gerechtfertigt wären. So wird oftmals argumentiert,
die Kinder aus bildungsfernen Gruppen hätten von Natur aus geringere
Leistungspotenziale oder Motivationen (siehe hierzu Becker und Hadjar
2009). Daher werden die einzelnen Bildungsübergänge erneut – und dies-
mal unter Kontrolle von Leistungsindikatoren – betrachtet (Tabelle 2). Je
besser die Schulnoten (gerundeter Notendurchschnitt für Deutsch und Ma-
thematik) am Ende der Primarschulzeit sind, desto eher erfolgt ein Wechsel
auf die weiterführenden Schullaufbahnen in der Sekundarstufe I, und je bes-
ser die Leseleistungen im Alter von 15 Jahren sind, desto wahrscheinlicher
ist der Verbleib auf dem Gymnasium (Sekundarstufe II), der Erwerb der
Studienberechtigung und der Beginn eines Hochschulstudiums. Ersichtlich
ist auch, dass der Einfluss primärer Herkunftseffekte im Bildungsverlauf ab-
nimmt. Während bei der ersten Schwelle die Wahrscheinlichkeit, in die Se-
kundarschule bzw. das Gymnasium zu wechseln, um den Faktor von 21,7
zunimmt, wenn die Note um eine Einheit zunimmt, so nimmt sie um den
Faktor von 1,85 bzw. um (1,85-1) 100% = 85% zu, wenn die Leseleistung
um eine Einheit zunimmt.2 Diese primären Herkunftseffekte nehmen von
Bildungsstufe zu Bildungsstufe unter anderem deswegen ab, so die statisti-
sche Selektionsthese von Mare (1980), weil nach jedem Bildungsübergang nur
die leistungsfähigen Personen eines Jahrgangs im Bildungssystem «überle-
ben». Gleichzeitig bleiben die Einflüsse der sozialen Herkunft statistisch sig-
nifikant, was auf die stets bedeutsame Rolle sekundärer Herkunftseffekte
hinweist. Während bei Kontrolle der schulischen Leistung die Akademiker-
kinder eine 5,27-mal bessere Chance als Kinder aus unteren Bildungsschich-
ten haben, auf die Sekundarschulen zu wechseln, so haben die studien-
berechtigten Akademikerkinder immer noch eine 2,93-mal bessere
Studienchance als die Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern mit der glei-
chen Leseleistung (Übergang 4 in Tabelle 2). Der Lebensverlaufsthese von
Müller (1994) zufolge nehmen die sekundären Herkunftseffekte im Bil-
dungsverlauf deswegen ab, weil die späteren Bildungsübergänge in einem
geringeren Masse von den sozioökonomischen Ressourcen des Elternhauses
abhängen. Mit zunehmendem Alter entscheiden Jugendliche unabhängig
von den materiellen Ressourcen des Elternhauses selbständig über ihren Bil-
dungsweg (siehe Schneider 2008).
2 Um die Vergleichbarkeit mit den durchschnittlichen Schulleistungen zu gewährleisten, wurde für die Leseleistung
eine ähnliche Kategorisierung vorgenommen (vgl. Tabelle 3).
100 Empirische Befunde
3 Zieht man eine Befragung der Züricher Maturanden aus dem Jahre 1985 (Beck und Kiener 1988) heran, dann sind
trotz historischer Daten weiterführende Informationen verfügbar. Im Jahre 1985 beabsichtigten 87% der Akademi-
ker-kinder und 77% der Studierberechtigten aus den anderen Sozialschichten ein Universitätsstudium. Würde man
primäre und sekundäre Herkunftseffekte neutralisieren, dann würde man eine Zunahme der Studienbeteiligung bei
den Maturanden aus bildungsferneren Gruppen von 2,6 bzw. 8,6 Prozentpunkten erreichen. Wären die letzteren Grup-
pen ebenso wie die Akademikerkinder davon überzeugt, bei gegebenen Leistungsfähigkeiten das Einkommen maxi-
mieren zu können, dann wäre eine Steigerung der Studienbeteiligung um 2,6 Prozentpunkte realisierbar. Eine Neu-
tralisierung der sozialen Disparitäten bei den Statuserwartungen erbrächte eine Steigerung um 2,8 Prozentpunkte. Die
Neutralisierung des Investitionsrisikos – des Verhältnisses erwarteter Studienkosten und der erwarteten Wahrschein-
lichkeit, erfolgreich das Studium bewältigen zu können – würde in einer Zunahme der Studienbeteiligung um 2,4
Prozentpunkte resultieren. Der Gesamteffekt der gleichzeitigen Neutralisierung primärer und sekundärer Herkunfts-
effekte erbrächte eine Steigerung der Studienbeteiligung um 7,8 Prozentpunkte, was eine recht umfassende, aber nicht
vollständige Neutralisierung der Herkunftseffekte bedeuten würde.
102 Empirische Befunde
des Konzepts statistischer Unabhängigkeit vor Augen, dass rund 16% der
Maturandinnen und Maturanden ihre Bildungsentscheidung revidieren
müssten, damit es keinen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und
Studienentscheidung gibt, so müssten 23,6% der in der höheren Sekundar-
stufe II verbliebenen Jugendlichen und 30,2% der Kinder des ein und dem-
selben Jahrgangs beim Übergang von der Primar- auf die Sekundarstufe I
ihre Bildungsentscheidungen revidieren (Tabelle 4).4
Legende:
Sek. I: Übergang in die Sekundarstufe I mit erweiterten Anforderungen bzw. Gymnasium (Sek.
I) vs. Ober- oder Realschule; Matur: Erwerb der Studienberechtigung (Gymnasiale Matur bzw.
Berufsmatur vs. andere Abschlüsse); BA/HS: Berufsausbildung vs. Hochschulstudium (Universi-
tät oder Fachhochschule)
Quellen: Moser und Rhyn (2000) sowie TREE (Welle 1–7) – eigene Berechnungen ohne Ge-
wichtung
4 Würde man für den ersten Bildungsübergang die Verteilungen der Akademikerkinder mit der für die Kinder aus
anderen Sozialschichten kontrastieren, dann würde Wert für den Dissimilaritätsindex bei 26,4 liegen. Demnach
müsste für 26,4% der Schulkinder ihre Übergänge revidiert werden, damit eine Gleichverteilung unabhängig von der
sozialen Herkunft vorliegt. Allerdings unterschätzt der Dissimilaritätsindex das gesamte Ausmass der sozialen
Ungleichheit von Bildungschancen.
Empirische Befunde 103
Die Fakten für die Schweiz sind hinlänglich bekannt und müssen nicht im
Detail wiederholt werden. Das Schweizer Bildungssystem hat ähnlich wie
das deutsche Bildungswesen eine hohe Ablenkungswirkung, die bestehende
Ungleichheiten von Startchancen bei der Einschulung verstärkt und die zur
Bildungsvererbung nach leistungsfremden Kriterien beiträgt. Folge sind
hochgradige Selektivitäten der Bildungsübergänge in Abhängigkeit von so-
zialer Herkunft, ein hohes Mass dauerhafter sozialer Ungleichheiten von
Bildungschancen und – gemessen an der vorherrschenden Leistungsideolo-
gie und den Vorstellungen eines fairen Wettbewerbs im Bildungssystem –
5 Dass die von der OECD vorgelegten Statistiken und Definitionen von Quoten erhebliche methodische Mängel auf-
weisen und zu irreführenden Ergebnissen beim internationalen Vergleich führen, ist an dieser Stelle unerheblich. So
ist beispielsweise in Betracht zu ziehen, dass in einigen Ländern fast die gesamte höhere berufliche Ausbildung in das
Hochschulsystem integriert ist, während in der Schweiz wie in Deutschland ein Teil der tertiären Ausbildung an
Bildungsinstitutionen ausserhalb der Hochschulen durchgeführt wird.
Zusammenfassung und Fazit 105
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108 Literatur
Abstract
1 Einleitung
Jugendliche als handelnde Akteure wollen ihr Leben auf bestimmte Ziele
hin gestalten bzw. managen, sie wollen Alternativen erkennen und Entschei-
dungen im Hinblick auf ihre berufliche Biographie treffen und damit einen
selbstbestimmten Weg in die Arbeitsgesellschaft finden (Blossfeld 2008;
Heinz 2009, Skrobanek et al. 2009). Von diesen Entscheidungen hängen
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Schulübergang und Sektion (pp. 109–120). Chur: Rüegger.
110 Cooling Out durch Arbeitsverwaltung bzw. deren Agenten
1 Der Ansatz wurde später von Burton R. Clark (1960) weiterentwickelt und empirisch getestet.
112 Datenbasis
3 Datenbasis
Die Datenbasis dieser Studie sind die Ergebnisse aus einer Befragung von Ju-
gendlichen bzw. jungen Erwachsenen zu ihren Erfahrungen mit Angeboten
und Prozessen in der Schnittstelle der Rechtskreise des SGB II und des SGB
III im 3. Quartal 2006. Die Stichprobe bilden Jugendliche, die als Teilneh-
merinnen und Teilnehmer berufsvorbereitender Massnahmen in den Jahren
2000 bis 2004 erstmals befragt wurden (Förster, Kuhnke, Skrobanek 2006).
Dies betraf zum einen Jugendliche, die am Freiwilligen Sozialen Trainings-
Ergebnisse 113
4 Ergebnisse
4.1 Allgemeine Nachfragemuster
Fast alle der 192 jungen Erwachsenen, die nach Beendigung der damaligen
Massnahme (FSTJ bzw. BBE) arbeitslos waren (ein Viertel von ihnen war
das mehrmals) hatten konkrete Erfahrungen mit Einrichtungen der Arbeits-
verwaltung seit 2005. Sie wurden differenzierter zum letzten Anliegen be-
fragt, mit dem sie bei der Arbeitsverwaltung vorstellig waren.
114 Ergebnisse
Ja=188 Ja=188
Nein=153
Hauptanliegen
Nach den Angaben der Befragten lassen sich folgende Nachfragemuster un-
terscheiden:
• Bei der zahlenmässig grössten Gruppe von 40% (N=76 junge Erwachse-
ne) steht die Nachfrage nach (weiterer) Qualifizierung im Vordergrund.
• Jeweils 20% machen die vorwiegende Nachfrage nach Arbeit (N=36)
bzw. das sich (lediglich) Arbeitslosmelden oder Arbeitslosengeld beantra-
gen aus (N=38).
• Ausschliesslich von der Behörde einbestellt worden zu sein, geben 3%
(N=6) an.
• Zirka 15% nennen anderes als Hauptanliegen (BAB-Beantragung, Kin-
dergeld, Nachhilfe, Wohngeldzuschuss, Unterstützung bei Umzug …)
(N=27).
• 2% machen keine Angaben.
In den Anteilen von jungen Erwachsenen mit bzw. ohne Migrationshinter-
grund und auch in den Geschlechteranteilen gibt es zwischen den Nachfra-
gegruppen keine Unterschiede (ausser bei den sechs Hinbestellten, die aus-
schliesslich Befragte ohne Migrationshintergrund sind und fünf sind junge
Frauen).
Ergebnisse 115
Im Folgenden soll der Weg der Gruppe von jungen Erwachsenen durch die
Institutionen der Arbeitsverwaltung, die primär als Ausbildungsnachfrager
zugeordnet wurden, differenzierter nachverfolgt werden.
63 junge Erwachsene,
die bei der richtigen Stelle
angekommen sind
Weitergeschickt
Weiteren Kontakt zur
Dort geklärt, wie weiter? Weiteren Kontakt? Arbeitsverwaltung?
Angelegenheit geklärt?
Bei 39 von ihnen wurde an der vorgegebenen Stelle geklärt, wie es bei ihnen
weitergehen soll, und sie erhielten entsprechende Angebote. Sieben der Ju-
gendlichen wurden nochmals weitergeschickt und erhielten erst dann min-
destens ein Angebot.
Insgesamt bekamen 46 junge Erwachsene (das sind knapp drei Viertel jener
63, die an den richtigen Stellen waren bzw. nunmehr deutlich unter zwei
Drittel der insgesamt betrachtenden 76 Jugendlichen) Angebote von der
Einrichtung der Arbeitsverwaltung, in der sie (angekommen) waren.
Allerdings war von den Nachfragern nach Qualifizierung mehr als jeder
Dritte auf dem Weg zu konkreten Angeboten «auf der Strecke» geblieben.
Die Mehrzahl der Angebote bezieht sich entsprechend der Nachfrage der Ju-
gendlichen auf den Erwerb beruflicher Abschlüsse bzw. Umschulungen oder
Fortbildungen oder auch das Nachholen schulischer Abschlüsse (vgl. Tabel-
le 1). In seltenen Fällen wurden daneben auch Arbeitsangebote gemacht.
Von den 76 Befragten, die wegen einer weiterführenden Ausbildung bei der
Arbeitsverwaltung vorstellig wurden, erhielten zirka 40% entsprechende ab-
schlussorientierte Qualifizierungsangebote2. Geht man davon aus, dass die
ausserdem offerierten Angebote berufsvorbereitender Art3 tatsächlich weite-
re notwendige nachholende Qualifizierungsschritte darstellen, so kommen
weitere knapp 20% hinzu. Da die von uns befragten jungen Erwachsenen
bereits mindestens eine Massnahme absolviert hatten, stellt sich die Frage,
inwiefern es sich u. U. um sich fortsetzende Massnahmekarrieren handelt.
Tabelle 1: Angebote an junge Erwachsene, die nach Qualifizierung nachfragen, und de-
ren Bewertung und Realisierungsstand (Mehrfachnennungen) (Angabe in absolut)
nicht angenommen
überhaupt nicht
weiss nicht/kA
keine Angabe
gerade dabei
eher nein
eher ja
Anzahl
völlig
Angebote
Berufsausbildung 20 8 7 3 2 3 12 2 3
Schulabschluss 3 1 1 1 1 2
Umschulung 7 3 3 1 2 1 1 2 1
Praktikum 2 1 1 1 1
Berufsvorbereitung 11 4 5 1 1 4 2 4 1
Training 4 2 1 1 2 1 1
Arbeitsgelegenheit 3 1 1 1 2a) 1
a) Die Arbeit wurde aufgenommen, die Befragten wurden aber wieder arbeitslos.
Nach den von den Jugendlichen vorliegenden Informationen hatte die Ab-
lehnung von Angeboten – ausgenommen ein Fall – keinerlei Folgen.
4.3 Bilanzierung
Bilanziert man die Kontakte derjenigen Jugendlichen (vgl. Tabelle 2), die bei
der Arbeitsverwaltung nach Unterstützung bei ihrer (weiteren) beruflichen
Qualifizierung nachsuchen, sei – bezogen auf unsere Befragung – zunächst
vorangestellt, dass es sich hier lediglich um eine Momentaufnahme handelt.
Die Ergebnisse unterstreichen, dass der im Rahmen der Untersuchung be-
trachtete biografische Zeitraum für die Mehrheit der befragten Jugendlichen
eine Phase vielfältiger Entwicklung darstellt. Insofern repräsentieren die an-
gegebenen Status der Jugendlichen in vielen Fällen noch keine stabile Platzie-
rung, sondern vielmehr Status des Übergangs von der Schule in Arbeit.
118 Ergebnisse
In der nachfolgenden Bilanz gelten jene Fälle als positiv, bei denen Angebo-
te erst einmal erfolgreich absolviert wurden bzw. gerade realisiert werden.
Als vom Ergebnis her negativ bilanziert werden alle Nachfrager, deren Kon-
takte nicht zu konkreten Angeboten führten, die Angebote ohne Erfolg be-
endeten bzw. abbrachen oder die Angebote ablehnten und keine weiteren
Angebote erfolgreich absolvierten.
Auf Grundlage der verfügbaren Informationen lässt sich für insgesamt 70
der 76 Nachfrager nach weiterer Qualifizierung feststellen: Zum Befra-
gungszeitpunkt sieht die Bilanz des Kontakts zum Arbeitsamt für 40% erst
einmal positiv aus. Andererseits sind 60% ihrer Zielstellung über den in der
Befragung geschilderten Kontakt zur Arbeitsverwaltung eher nicht näher ge-
kommen.
N zum Erhebungszeitpunkt
5 Fazit
Die vorliegende Untersuchung belegt einmal mehr, dass ein nicht zu ver-
nachlässigender Teil von Jugendlichen mit schlechten Startchancen den
Kontakt zu Stellen der Arbeitsverwaltungen aktiv sucht und dies mit dem
Ziel verbindet, sich weiterzuqualifizieren. Weiterhin zeigt sich, dass es einem
Teil der jungen Leute nicht gelingt, auf direktem Weg an die für ihr Anlie-
gen zuständige Stelle zu gelangen. Oft werden sie weitergeschickt mit der
Folge, dass sie sich zurückziehen, ohne dass eine systematische Verfolgung
ihrer Anliegen seitens der Ämter erkennbar wurde. Beim Weg durch das
komplexe System gehen viele Jugendliche «verloren». Verantwortlich dafür
sind insbesondere Unsicherheiten über Zuständigkeiten in den Arbeitsver-
waltungen, ungeeignete bzw. an den Bedürfnissen bzw. Lagen der Jugendli-
chen vorbeigehende Angebote sowie Unübersichtlichkeiten und Unwissen-
heit hinsichtlich tatsächlich vorhandener Möglichkeiten bzw. Angebote vor
bzw. in der Region.
Die Ergebnisse belegen ein weiteres Mal, wie wichtig ein überschaubares auf
Zielgruppen zugeschnittenes Angebots- und Zuständigkeitsspektrum inner-
halb der Arbeitsverwaltungen ist. Je unkoordinierter und intransparenter
das Spektrum der Zuständigkeiten und der damit verbundenen Angebote
für Jugendliche allgemein und für Jugendliche mit schlechten Startchancen
am Übergang zwischen Schule, Ausbildung und Beruf speziell ist, desto
grösser ist die Gefahr eines misslingenden Cooling Out, mitverursacht von
den Agenten der Arbeitsverwaltung. Genau dies unterstreicht die vorliegen-
de Untersuchung: Die meisten Jugendlichen suchen eigengesteuert und da-
mit aktiv den Kontakt zu den Arbeitsverwaltungen, werden über Zuständig-
keits- oder Angebotsdiffusität (unitendiert) ausgekühlt und wenden sich
von den Agenten der Arbeitsverwaltung ab. Insofern gilt etwas zugespitzt
formuliert, dass jeder Schritt in Richtung Transparenz und Koordination
zwischen den zuständigen Stellen und Adäquatheit der Angebote einen
Schritt in Richtung Integration von Jugendlichen in den Ausbildungs- und
Arbeitsmarkt ist.
Wenig aussagekräftig sind in diesem Zusammenhang deshalb auch die Zu-
friedenheitsquoten: Denn zufrieden mit der Beratung und Betreuung durch
120 Literatur
die Einrichtungen von Arbeitsagenturen zeigt sich auch ein grosser Teil der-
jenigen, die gleichzeitig angeben, dass diese Beratung und Betreuung sie
hinsichtlich des Ziels «berufliche Integration» nicht weitergebracht habe.
Die Befragung der jungen Erwachsenen verdeutlicht schliesslich auch, dass
die Komplexität der Verhältnisse in den Rechtskreisen von SGB II und III
nicht nur die jungen Leute und die Agenten der Arbeitsverwaltung, sondern
auch – zumindest teilweise – die Analysemöglichkeiten der Sozialwissen-
schaften auf eine harte Probe stellt. Hier ist methodisch und in Verfahren
der Datenauswertung weiter Pionierarbeit zu leisten.
Literatur
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121
Abstract
Berufswahl- und Transitionstheorien postulieren tiefere berufliche Leistung
und Zufriedenheit als Folge einer geringen Passung zwischen der Ausbil-
dung und den Fähigkeiten bzw. Interessen von Berufslernenden. Gestützt
auf Längsschnittergebnisse des Forschungsprojekts Familie-Schule-Beruf
(FASE B) belegen wir negative Auswirkungen einer gering ausgeprägten Pas-
sungswahrnehmung auf die weitere berufliche Entwicklung von Lernenden.
Jugendliche mit einer geringen Passungswahrnehmung haben ein niedrige-
res berufliches Fähigkeitsselbstkonzept während der Lehre und ein erhöhtes
Arbeitslosigkeitsrisiko nach dem Lehrabschluss als Jugendliche mit einer ho-
hen Passungswahrnehmung. Arbeitslosigkeit hängt zudem auf individueller
Ebene von einer tieferen Leistungsmotivation (im Sinn der Wert-Erwar-
tungs-Theorie) ab. Eltern sind eine Ressource für Berufslernende, wenn sie
Interesse an der beruflichen Ausbildung ihrer Kinder zeigen.
1 Einleitung
Die Suche nach einem Ausbildungs- bzw. einem Arbeitsplatz ist eine
Herausforderung, welche vielen Jugendlichen Sorgen bereitet. Aufgrund des
knappen Lehrstellenangebots treffen manche von ihnen keine eigentliche
Berufswahl, sondern nehmen irgendeine Lehrstelle an (Heinz, 2008). Dies
ist bedenklich, wenn wir in Übereinstimmung mit Berufswahl-, Personal-
auswahl- und Transitionstheorien davon ausgehen, dass eine Passung zwi-
schen Interessen und Fähigkeiten einerseits und der Berufslehre andererseits
für eine günstige berufliche Entwicklung von Jugendlichen erforderlich ist.
Passung wird definiert als Übereinstimmung zwischen der Persönlichkeit
1 Die Autorin und die Autoren danken dem Schweizerischen Nationalfonds (Projektnummer 10013-107733), der Pä-
dagogischen Hochschule Bern (Projektnummer 0101s017) sowie der Bildungsdirektion Zürich für die finanziellen
Beiträge an die Untersuchung.
Gerber-Schenk, M., Rottermann, B., Neuenschwander, M. P. (2010). Passungswahrnehmung, Selbstkonzept und Jugendarbeits-
losigkeit. In: M. P. Neuenschwander, H.-U. Grunder (Hrsg). Schulübergang und Selektion (pp. 121–130). Chur: Rüegger.
122 Passungswahrnehmung und berufliches Fähigkeitsselbskonzept
und den Merkmalen des beruflichen Umfelds (Holland, 1997), als Kompro-
missprozess (Gottfredson, 2005) oder als dynamisch entstehende Überein-
stimmung zwischen dem Entwicklungsstand der Jugendlichen und der Aus-
gestaltung der Ausbildung (sog. stage-environment fit nach Eccles et al.,
1993). Diese Konzepte postulieren negative Auswirkungen einer geringen
Passung auf die berufliche Zufriedenheit, Leistung und berufliche Stabilität
von Jugendlichen (Holland, 1997) sowie auf Verhalten, Motivation und
psychische Gesundheit (Eccles et al., 1993). Wir wollen zeigen, dass sich die
subjektive Wahrnehmung einer geringen Passung während der Lehre nega-
tiv auf die weitere berufliche Entwicklung auswirkt. Das heisst, dass einer-
seits der Aufbau des Selbstbildes als Berufsfachperson während der Berufs-
ausbildung schlechter gelingt, und andererseits die Bewältigung des
Übergangs von der Lehre in die erste Anstellung mehr Schwierigkeiten
bereitet, sodass die jungen Erwachsenen eher arbeitslos werden. In diesem
Beitrag überprüfen wir zwei Hypothesen: 1) Eine geringe Passungswahr-
nehmung wirkt sich negativ auf die Entwicklung des beruflichen Fähigkeits-
selbstkonzepts aus. 2) Eine geringe Passungswahrnehmung stellt einen
Risikofaktor für Jugendarbeitslosigkeit nach Abschluss der Berufslehre dar.
von 59% weiblich) einbezogen, welche 2006 das 2. Lehrjahr –(M=18.4 Jah-
re, SD = 1.22 Jahre) und 2007 das 3. Lehrjahr absolviert haben.
Die wahrgenommene Passung zwischen den eigenen Interessen bzw. Fähig-
keiten und den Anforderungen der Berufslehre wird mittels dreier Items auf
einer vierstufigen Skala erfasst, welche zu einem reliablen Faktor zusammen-
gefasst wird. Eines dieser Items heisst: «Meine momentane berufliche Situa-
tion stimmt mit meinen persönlichen Interessen überein.»
Das berufliche Fähigkeitsselbstkonzept nach Sonntag und Schäfer-Rausser
(1993) setzt sich aus acht Items zusammen wie «Ich kann gelernte Handgrif-
fe gut auf neue Arbeitsaufgaben übertragen» oder «Es fällt mir schwer, Ar-
beitsschritte zu planen und einzuteilen». Die Faktoren lassen sich zu einem
reliablen Faktor zusammenfassen.
Wir prüfen mittels einer Varianzanalyse mit Messwiederholung die Hypo-
these, dass sich das berufliche Fähigkeitsselbstkonzept in Abhängigkeit der
Passungswahrnehmung unterschiedlich entwickelt. Das berufliche Fähig-
keitsselbstkonzept im zweiten und dritten Lehrjahr wird als Messwiederho-
lungsfaktor ausgewertet, die medianhalbierte Passungswahrnehmung als
Gruppierungsfaktor.
Die Varianzanalyse ergibt sowohl einen signifikanten Effekt der Passung
(FGruppe(1,672) = 65.6, p<.001, η=.09) als auch einen signifikanten Mess-
wiederholungseffekt (FZeit(1,672) = 117.1, p<.001, η=.15), jedoch keine sig-
nifikante Interaktion (FInteraktion(1,672) = .01, p=.94, η=.00) (vgl. Abbildung 1).
3.28
3.13
3 3.09
2.94
hohe Passungswahrnehmung
niedrige Passungswahrnehmung
2
2. Lehrjahr 3. Lehrjahr
124 Passungswahrnehmung und Jugendarbeitslosigkeit
tivation der Bewerbenden eine Rolle. Wir postulieren daher zwei weitere Ri-
sikofaktoren, die wir mit Daten aus dem FASE B-Projekt operationalisieren:
1) Geringe Qualifikation in Form von tiefen Lehrabschlussnoten. Empirische
Studien zeigen, dass bei schlechten Schulnoten (Pinquart, Juang & Sil-
bereisen, 2003) und schlechten Lehrabschlussnoten (Müller & Schweri,
2009) das Arbeitslosigkeitsrisiko erhöht ist.
2) Geringe Leistungsmotivation bezüglich des angestrebten Bildungsab-
schlusses. Nach der Wert-Erwartungs-Theorie (Eccles, 2005) ist die Leis-
tungsmotivation einer Person gering, wenn sie ein Ziel als unwichtig und
die Zielerreichung als unsicher beurteilt.
Die Leistungsmotivation wird mit zwei Indikatoren erfasst: Die Erwartung,
im Folgenden Bildungserwartung genannt, wurde mit dem Item «Wie sicher
sind Sie, den geplanten Ausbildungsabschluss zu erreichen?» auf einer vier-
stufigen Skala erhoben. Der Wert wurde als wahrgenommene Kosten
(Eccles, 2005) mit dem Faktor Verzichtsbereitschaft erfasst. Dieser besteht
aus sieben Items mit einer sechsstufigen Antwortskala, auf der die Teilneh-
menden den Grad ihrer Verzichtsbereitschaft (z.B. auf Hobbys) zugunsten
eines Abbildungsabschlusses angaben.
Da Familien in der Berufswahl und der Lehrstellensuche von Jugendlichen
eine wichtige Rolle spielen (Kracke & Hofer, 2002), postulieren wir, dass sie
auch beim Übergang ins Erwerbsleben eine wichtige Ressource für die jun-
gen Erwachsenen sind, vor allem dann, wenn die Autonomie der jungen Er-
wachsenen nicht eingeschränkt wird, die Eltern aber in den Ausbildungs-
prozess involviert sind. Ein hohes wahrgenommenes Interesse der Eltern an
der Ausbildung ihrer Kinder sollte deshalb für die jungen Erwachsenen hilf-
reich sein. Das Interesse der Eltern an der beruflichen Ausbildung wurde mit
dem Item «Wie sehr interessieren sich Ihre Eltern dafür, was im Lehrbetrieb
läuft?» auf einer vierstufigen Skala erfasst.
Die Stichprobe besteht aus 252 Personen, davon sind 64% Frauen. Das
Durchschnittsalter im Jahr 2008 beträgt 20.5 Jahre (SD=1.47). Die meisten
haben eine dreijährige duale Lehre absolviert. 36 sind mindestens einmal
zwischen dem Lehrabschluss und der Befragung 3/4 Jahre später arbeitslos
gewesen. Diese «Arbeitslosen» werden mit einer Gruppe von 216 jungen Er-
wachsenen verglichen, die den Übergang von der Lehre in die Erwerbstätig-
keit erfolgreich vollzogen haben.
Zur Untersuchung der individuellen Risikofaktoren und Ressourcen bei der
Bewältigung der zweiten Schwelle werden mehrere logistische Regressions-
126 Passungswahrnehmung und Jugendarbeitslosigkeit
analysen gerechnet (vgl. Tabelle 1). Als Kontrollvariablen werden das Ge-
schlecht, der Migrationshintergrund und der familiäre sozioökonomische
Status einbezogen. Da diese aber keinen signifikanten Einfluss auf das Ar-
beitslosigkeitsrisiko der jungen Erwachsenen haben, werden sie in den wei-
teren Analysen nicht mehr berücksichtigt.
4 Schlussfolgerungen
oft nur von kurzer Dauer sind. Dennoch erhöhen solche Schwierigkeiten
die Gefahr, dass nach der Lehre mittelfristig keine ausbildungsadäquate
Anstellung gefunden wird (Heinz, 2002).
Die Passung ist also ein Kriterium für eine erfolgreiche Berufswahl und -aus-
bildung. Es reicht nicht, dass Jugendliche irgendeine Lehre absolvieren, son-
dern es sollte eine Passung zwischen Interessen bzw. Fähigkeiten und Beruf
entstehen. Für den Übergang in den Arbeitsmarkt ist neben einer geringen
Passungswahrnehmung eine geringe Leistungsmotivation (Bildungswerte
und -erwartungen) ein Risikofaktor. Wichtig scheint insbesondere die Ver-
zichtsbereitschaft zu sein: Je weniger die Lernenden bereit sind, für das Er-
reichen eines Bildungsabschlusses Einschränkungen (Kosten) in anderen Le-
bensbereichen in Kauf zu nehmen, desto höher ist das Arbeitslosigkeitsrisiko
nach dem Übergang. Dieser Befund stimmt mit demjenigen von Neuen-
schwander (in diesem Band) überein, wonach die Lernmotivation von Ju-
gendlichen ein wichtiges Selektionskriterium für Berufsbildende bei der
Vergabe von Lehrstellen darstellt. Vermutlich sind die Lernenden mit einer
geringen Passungswahrnehmung bei der Suche nach einer Arbeitsstelle
ebenfalls weniger bereit, Einschränkungen wie etwa eine längere Reisezeit in
Kauf zu nehmen. Entsprechend länger brauchen sie, um eine geeignete Stel-
le zu finden.
Die Eltern sind für die Lernenden beim Übergang ins Erwerbsleben eine
Ressource, auch wenn diese bereits volljährig sind. Für junge Erwachsene ist
es wichtig, dass sie ein Interesse ihrer Eltern an ihrer beruflichen Ausbildung
wahrnehmen. Das Interesse der Eltern ist ein Ausdruck der Wertschätzung
gegenüber den jungen Erwachsenen, sodass sie sich in ihrer Rolle als Berufs-
leute bestätigt fühlen. Interesse kann zudem ein Ausgangspunkt für offene
Gespräche zwischen Eltern und den Lernenden über deren berufliche Zu-
kunft sein, in denen die Eltern Ratschläge geben oder ihre Kinder emotio-
nal unterstützen.
Wir können zeigen, dass für die Jugendarbeitslosigkeit nach der zweiten
Schwelle auch individuelle Faktoren eine Rolle spielen. Dies ist eine Ergän-
zung ökonomischer und soziologischer Analysen, welche einen Einfluss von
strukturellen Merkmalen nachweisen. Daraus lässt sich aber nicht schlies-
sen, dass von Arbeitslosigkeit betroffene Jugendliche an ihrer Situation
selbst schuld sind. Gerade relationale Konstrukte wie die wahrgenommene
Passung, welche aus einer Interaktion zwischen Individuum und sozialem
Kontext entsteht, scheinen uns für die weitere Forschung zum Verständnis
von Jugendarbeitslosigkeit vielversprechend.
Literatur 129
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130 Literatur
Martin Weingardt
Abstract
Das seit 2003 durchgeführte Projekt «Schule und Betrieb» (SchuB) unter-
suchte empirisch die Kompatibilität zwischen den Leistungsprofilen von
Hauptschulen und ihren Absolventen und den Anforderungsprofilen der
Ausbildung in Industrieberufen. Erhebliche Differenzen zwischen beiden
Profilen wurden bei den Kulturtechniken manifest. Die im fachlichen Dis-
kurs vertretene These, dass die zentrale Rolle der Schulnoten durch die der
Schlüsselkompetenzen abgelöst wird, liess sich nicht bestätigen. Die Ergeb-
nisse zeigen vielmehr, dass Mathematik- und Deutschnoten für das weitge-
hende Ausselektieren von Hauptschülern bereits in der Bewerbervorauswahl
massgeblich sind. Eine weitere Befragung erbrachte Hinweise, an welchen
mathematischen und sprachlichen Teilkompetenzen Lernmodule anzuset-
zen haben, die mit einem auf sieben Prinzipien fussenden didaktischen Kon-
zept anschliessend entwickelt, von über 2300 Schülern erprobt, evaluiert
und darauf an allen Hauptschulen Baden-Württembergs implementiert
wurden. Ausgewählte Ergebnisse aus der Evaluation auch zu weiteren As-
pekten des Übergangs von der Schule in die Arbeitswelt werden dargestellt.
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132 Das Projekt
Drittel der Auszubildenden – und zum anderen für die Jungen, die heute
mehr als die Mädchen die Verlierer der Hauptschule sind (Hiller, Richert
2000), sehr attraktiv sind. Drittens ist dieser Industriezweig für die Wirt-
schaft Baden-Württembergs und damit dessen Arbeitsmarkt von zentraler
Bedeutung.
ausschlaggebend sind, was auch Lehrkräften und Eltern oft nicht bewusst zu
sein scheint.
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2,00
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1 Dies zeigen erste Ergebnisse aus den noch laufenden Auswertungen jüngster Untersuchungen von Weingardt
(2006ff ) in ausgewählten Handwerks-, Dienstleistungs- und Pflegeberufen sowie von Rafael Frick, PH Ludwigs-
burg, im Bereich ausgewählter IHK-Berufsfelder (2007ff ).
138 Disparitäten von Leistungsprofilen der Schüler und Anforderungsprofilen der Betriebe
Mathematische Kompetenzen
(Anforderungsprofile: Ausbilder und Betriebs-/Werkstattleiter
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Ausbildung Betrieb
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Ausbildung Betrieb
Im Projekt «SchuB» arbeiteten wir in einer zweiten Phase (Tranche II) an ei-
ner optimierten schulischen Vorbereitung auf den Zugang zur Ausbildung
durch Förderung der Kernkompetenzen und zwar in den Klassenstufen un-
mittelbar vor dem Übergang in die Arbeitswelt. Eine Lernmodul-Konzepti-
on wurde entworfen, die in Klasse 8/9 der Hauptschule wie auch in anderen
allgemein- und berufsbildenden Schularten eine individuelle Förderung der
sprachlichen oder mathematischen Teilkompetenzen im Einzel- oder Klas-
senunterricht ermöglichen soll. Denn an die mittlerweile regelmässigen Di-
agnose- und Testvorgänge in den Schulen schliessen noch immer relativ sel-
ten individuell-differenzierende Fördermassnahmen an. Seitens der Verlage
liegt zu wenig gut aufbereitetes Differenzierungsmaterial vor, das es Lehr-
kräften ermöglicht, nicht in Einzelförderstunden, sondern in der schuli-
schen Standardsituation, dem Klassenunterricht mit 20–30 Schülern, mit
vertretbarem Aufwand eine differenzierende Lernförderung durchzuführen.
140 Förderung im Klassenunterricht (D/M) ermöglichen durch Lernmodule
Abbildung 6: Prinzipien bei der didaktischen Konzipierung der Lernmodule für Mathe-
matik und Deutsch
Ein Schülerfragebogen, der im Kontext der Tranche III von 1710 Achtkläss-
lern in allen Regierungsbezirken des Landes (43,4% Mädchen, 56,6% Jun-
gen; 41% mit Migrationshintergrund; 24,4% der HS lagen in Kommunen
bis 5000 Einw, 32,4% 5–20 000 Einw., 33,8% 20–100 000 Einw., 7,9%
über 100 000 Einw.) Daten erbrachte, spiegelt deren Erfahrungen in der
Lernmodularbeit sowie ihre Informiertheit und Orientierung in ausgewähl-
ten Fragen des Übergangsprozesses.
Auffallend war, wie Ende Klasse 8 nur wenige Hauptschüler eine klare Vor-
stellung aufweisen, zu welchem spätesten Zeitpunkt man sich bewerben soll-
te, um in vielerlei Berufsbildern und Betriebsgrössen gute Chancen auf ei-
nen Zugang zu einem Ausbildungsplatz direkt nach Klasse 9 zu haben. Bei
den einzelnen Berufsbildern liegt jeweils ein Drittel der Schüler ungefähr
richtig mit seiner Einschätzung, ein weiteres Drittel meint es zu wissen, aber
ist faktisch falsch orientiert, und ein Drittel gibt an, «keine Ahnung» in die-
ser Frage zu haben. Zu spätes Bewerben hängt also häufiger mit Ahnungslo-
Berufliche Ausrichtung und teilweise Desorientierung von Hauptschülern und ihren Eltern 143
sigkeit als mit Faulheit oder Unfähigkeit zusammen. Inwieweit die Lehrkräf-
te darüber Bescheid wissen und richtig beraten können, bleibt offen.
Dabei dürfte auch eine Rolle spielen, welche Berater die Schüler und Schü-
lerinnen in ihren Entscheidungen am stärksten bestimmen (vgl. Abb. 7).
Zum Befragungszeitpunkt am Ende der 8. Klasse (Juni) geben als bislang
wichtigsten Gesprächspartner hinsichtlich der eigenen Berufspläne (offene
Frage) 18% ihre beiden Eltern an. Sehr auffallend ist der hohe Einfluss der
Mutter, die weitere 26% als wichtigste Beraterin und damit doppelt so häu-
fig wie den Vater (13%) nennen, Geschwister haben bei 7% diese Position.
Bei rund zwei Dritteln stellen die Eltern und Geschwister somit wichtigste
Berater in Berufsfragen dar, Lehrkräfte und Arbeitsverwaltung hingegen ha-
ben wenig Einfluss.
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Zugleich ist auffallend, dass eine starke Ausrichtung der Schülerinnen und
Schüler auf weitere vollzeitschulische Bildungswege besteht. Nur 35% der
Schüler können sich direkt nach Klasse 9 eine Lehre vorstellen. Dass dies
Ausdruck eines Votums der Eltern und insbesondere der Mütter ist, liegt
nahe: nur 15% der Schüler haben den Eindruck, dass eine Lehre das ist, was
ihre Eltern sich nach der Hauptschule «am liebsten» wünschen. Bei den
meisten favorisieren die Eltern den Besuch des 10. Schuljahrs (B-W: «Werk-
realschule»; 26%) oder einer zweijährigen Berufsfachschule (25%), also zu-
144 Bewertungen und Forschungsdesiderate
nächst Bildungswege, die zum mittleren Abschluss führen. Woher diese Aus-
richtung von Schülern und Eltern rühren mag, deutet ein anderer Befund
an. 49% der Jugendlichen halten die Mittlere Reife für «das sicherste Mit-
tel, um zu vermeiden, dass man zwischen 15 und 25 länger arbeitslos ist»;
nur 38% sprechen diesen Effekt dem Abschluss einer Lehre zu.
mit der ganzen Klasse eignen, erlangen zudem bei Lehrkräften hohe Zustim-
mungswerte.
Zugangsvoraussetzungen zur Ausbildung lassen sich nicht generalisierend,
sondern nur bezogen auf einzelne Berufsbilder angemessen beschreiben.
Beiträge der Übergangsforschung sind häufig wenig handlungsleitend für
die schulische Praxis, weil untaugliche Globalzahlen ermittelt werden. Oft
wird nicht berücksichtigt, dass sich die Anforderungen etwa an einen Hei-
zungsbauer, eine Kinderpflegerin, einen Teilkoch oder eine Bürokauffrau
nach Art und Niveau so grundlegend unterscheiden, dass errechnete Mittel-
werte allein schon dieser vier Berufe für eine weitere Schlussfolgerung oder
gar individuelle Schülerberatung völlig untauglich sind – wie erst, wenn sich
Dutzende oder gar Hunderte von Berufsbildern in statistischen Zahlen ge-
mittelt niederschlagen (vgl. dazu Gartz et al. 1999, Gaupp 2006). Diese
Einsicht wurde bereits in unserem Forschungsdesign berücksichtigt, sollte
aber weit häufiger in Studien ihren Niederschlag finden.
Anforderungsprofile und -niveaus beim Zugang zur Ausbildung unterschei-
den sich nach Berufen und Regionen stark. Sie werden jeweils bestimmt von
drei Faktoren:
1. berufsbildbezogenen Unterschieden;
2. teilweise starken regionalen Differenzen der Wirtschaftsstruktur und da-
mit des Ausbildungs- und Arbeitsmarkts;
3. demografischen und konjunkturellen Trends und (regionalen) Situationen.
Daraus leitet sich ab, dass berufsspezifisch ausgerichtete Erhebungen in regio-
nalen oder lokalen Kontexten noch am ehesten Daten erbringen, die einer ra-
tional begründbaren Berufswegeberatung durch Lehrkräfte oder weitere
Professionelle sowie einer Berufswahlentscheidung der Jugendlichen zu
Grunde gelegt werden können.
Die Daten zeigen weiter, dass die Stossrichtung der Berufsvorbereitung und
-information, die sich bislang fast ausschliesslich auf die Schüler konzen-
triert, möglicherweise inneffektiv sein muss. Wenn der Einfluss der Eltern so
beherrschend ist wie angezeigt, dann müssen diese stärker als bislang üblich
mit informiert und orientiert werden und zwar frühzeitig. Denn die innere
Grundentscheidung «weiterführende Schule oder sofortige Lehre» – so auch
Befunde des DJI-Übergangspanels (vgl. Reissig et al. 2008, Scherrer et al.
2007) – wird früh getroffen und scheint sich in Klasse 9 nur noch bei weni-
gen zu ändern. Die Eltern als wichtigste Berater der Schulabgänger müssen
146 Literatur
ihrerseits beraten werden und die Jugendlichen selbst bedürfen einer Über-
gangsbegleitung, die über den Schulabgang hinausreicht. Beides, Beratung
und Begleitung, weist auf veränderte Konturen der Lehrerprofessionalität in
der Sekundarstufe hin, die sich nicht länger auf eine erzieherische und fach-
unterrichtliche Transitionsvorbereitung reduzieren lässt.
Literatur
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Literatur 147
Abstract
In der Schweiz – wie in anderen Ländern auch – steht die Integration von
Jugendlichen und jungen Erwachsenen in eine qualifizierte nachobligatori-
sche Ausbildung oben auf der politischen Agenda. Die Schweizerische Kon-
ferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) hat denn auch ein Pro-
jekt initiiert, welches sich mit der Optimierung der Nahtstelle zwischen
obligatorischer Schule und Sekundarstufe II befasst (www.nahtstelle-transi-
tion.ch). Das übergeordnete Ziel dabei lautet, dass 95% der Jugendlichen
bis 2015 einen Abschluss auf Sekundarstufe II erreichen sollen (gegenüber
knapp 90% im Jahre 2008). Dahinter steht die Überlegung, dass sich mit ei-
nem solchen Abschluss die Chancen für einen erfolgreichen Übertritt in den
Arbeitsmarkt deutlich verbessern.
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150 Perspektivenwechsel: Von den Risiko- zu den Schutzfaktoren
ben zu Effektgrössen vor. Zudem gehen die Studien und Projekte meist von
unterschiedlichen theoretischen Konzepten aus.
3.2.1 TREE
3.2.2 ZLSE
Die Zürcher Längsschnittstudie «Von der Schulzeit bis zum mittleren Er-
wachsenenalter» (ZLSE) hat den beruflichen Erfolg (Status) im Alter von 20
Jahren und im mittleren Erwachsenenalter (36 Jahre) untersucht (Schallber-
ger & Spiess Huldi 2001, Spiess, Huldi 2009). Im letzten Schuljahr wurde
bei 15-jährigen Jugendlichen aus der Deutschschweiz eine ganze Reihe mög-
licher Berufswahlfaktoren erfasst (Intelligenz, Persönlichkeitseigenschaften,
Wertvorstellungen, Selbstkonzept, Freizeitaktivitäten, familiärer Hinter-
grund, elterlicher Erziehungsstil usw.). Die Persönlichkeit mit hohen kogni-
tiven Fähigkeiten (Intelligenz), aber auch Dimensionen wie Leistungsmoti-
154 Bilanz
3.2.3 Bilanz
der Fixierung auf Defizite und Risikofaktoren ist es möglich, bei der Person
und ihrem Umfeld Ressourcen und Schutzfaktoren zu entdecken und zu
aktivieren.
Werner und Smith berichten über eine Reihe von Interventionsprogram-
men und Massnahmen in den USA und in europäischen Ländern zur För-
derung von Resilienz (Werner & Smith 2001). Resilienz lässt sich in jedem
Alter erlernen, selbst wenn aus Kindheit und Jugend keine resilienzfördern-
den Erfahrungen vorliegen.
Resilienz und Schutzfaktoren lassen sich mittels Interventionsprogrammen
gezielt fördern. Für den Kontext der Schule ist dabei eine «Caring-Commu-
nity» (fürsorgliche Gemeinschaft) anzustreben, um Kindern die Möglich-
keiten zu geben, die widrigen Umstände, in denen sie leben, zu überwinden
(Opp 2007). Schule ist nicht nur als Ort der Wissensvermittlung zu begrei-
fen, sondern als fürsorgliche Gemeinschaft. Eine wichtige Rolle spielen da-
bei positive Beziehungen zu Erwachsenen (speziell auch zu Lehrpersonen)
ausserhalb der Familie, welche eine Quelle sozialer Unterstützung darstel-
len. «Die grössten Chancen entstehen, wenn es gelingt, entwicklungsför-
dernde Settings zu schaffen und Beratungsangebote für die flexible Gestal-
tung des Passungsverhältnisses zwischen Ressourcen und Umwelten machen
zu können.» (Fingerle 2007, S. 308)
Auch in der Schweiz sind erfolgreiche Programme und Reformprojekte zur
Erhöhung der Resilienz bei gefährdeten Jugendlichen entwickelt worden
(Häfeli, 2008, Häfeli & Schellenberg 2009). Die meisten Programme gehen
dabei vom Ansatz der Früherkennung und Frühintervention bei gefährdeten
Jugendlichen aus (selektive Prävention).
Supra-f ist ein wissenschaftlich evaluierter Ansatz zur Ressourcenstärkung
bei gefährdeten Jugendlichen (www.supra-f.ch ). Obwohl das Angebot zu-
nächst im Rahmen von Suchtpräventionsmassnahmen vom Bundesamt für
Gesundheit entwickelt wurde, richtet es sich nicht nur an Jugendliche mit
Substanzkonsum, sondern genereller an solche Jugendliche, welche bereits
einige Verhaltensauffälligkeiten zeigen (Meili 2008). Die Anliegen dieser se-
kundären Prävention bestehen darin, die inneren und äusseren Bedingun-
gen von Risikojugendlichen zu verbessern. Die inneren Bedingungen sind:
Befindlichkeit, Selbstwert, Bewältigung, Delinquenz und Substanzkonsum.
Die äusseren Bedingungen sind die Veränderungen der familiären Situation,
der beruflichen und schulischen Situation und die Ausprägung im Bereich
soziale Integration.
156 Fazit
Ein weiteres Projekt mit dem provokativen Titel «Zeitbombe des dummen
Schülers» befasst sich unmittelbar mit der Förderung von Resilienz im Aus-
bildungsbereich. Folgende Aspekte der Resilienz sollten positiv beeinflusst
werden: Selbstwirksamkeitserwartung, Kausalattribution, Copingstrate-
gien, Optimismus und Zielorientierung (Oser & Düggeli 2008). Jugendli-
che sollten etwa lernen, besser mit Frustrationsgefühlen bei häufigen Absa-
gen auf Lehrstellenbewerbungen umzugehen. Die Interventionen während
drei Monaten dauerten jeweils einen halben Tag pro Woche und beinhalte-
ten speziell entwickelte Übungen und Aktivitäten (z.B. Projektarbeit, Bi-
lanzierung persönlicher Kompetenzen, Bewerbungstraining, Lehrbetriebs-
suche).
Die Resultate der beiden sorgfältig durchgeführten und gut dokumentierten
Projekte zeigen, dass es möglich ist, die genannten internalen Ressourcen
der Jugendlichen zu stärken, sodass diese den schwierigen Übergang zwi-
schen Schule und Lehrstelle mit Optimismus und Ausdauer zu bewältigen
vermögen.
5 Fazit
Die Analyse hat ergeben, dass eine Vielzahl von Erfolgsfaktoren existiert, wel-
che sich auf die berufliche Entwicklung von Jugendlichen – auch aus un-
günstigen Verhältnissen – positiv auswirken. Der Erfolg im Bildungswesen
scheint wesentlich von der Persönlichkeit, aber auch von sozialstrukturellen
Merkmalen abhängig zu sein.
Der Resilienz-Ansatz mit der gleichzeitigen Berücksichtigung von Risiko-
und Schutzfaktoren ist für unsere Fragestellung vielversprechend. Wenn in
einem Bereich widrige Umstände oder grosse Defizite bestehen, mögen in
anderen Bereichen Ressourcen vorliegen oder aktiviert werden, die eine
günstige Entwicklung beeinflussen. Die in der vorliegenden Überblicksstu-
die zusammengetragenen, empirisch abgesicherten Erfolgsfaktoren bilden
eine Basis für eine systematische Abklärung.
Es zeigt sich zudem, dass Resilienz in der Jugend erlernt und gefördert wer-
den kann. Die Entwicklung von Selbstwirksamkeit, Selbstwertgefühl oder
Zielorientierung ist möglich, obwohl die Effekte manchmal nicht sehr gross
sind. Grössere Effekte dürften sich ergeben, wenn in einem systemischen
Ansatz mehrere Ebenen und Akteure einbezogen würden. Speziell bedeut-
Literatur 157
sam bei Jugendlichen ist ein stützendes familiäres Umfeld, aber auch der
Freundeskreis der Gleichaltrigen im Sinn einer «Positive Peer Culture» (Opp
& Teichmann 2008).
Es gibt auch deutliche Hinweise darauf, dass selektive Prävention bei gefähr-
deten Jugendlichen wirksamer und effizienter ist als eine breit angelegte Pri-
märprävention bei allen Jugendlichen. Fachleute im schulischen oder bera-
terischen Bereich müssen potenziell gefährdete Jugendliche frühzeitig
erkennen und eine geeignete Frühintervention einleiten.
Schliesslich sei darauf hingewiesen, dass zwar personenbezogene Aspekte für
die Förderung von Resilienz wichtig sind. Sie werden aber immer nur von
begrenzter Wirkung sein, wenn nicht auch strukturelle Faktoren – wie ein
ausreichendes und qualitativ hoch stehendes Ausbildungs- und Lehrstellen-
angebot – genügend berücksichtigt werden.
Literatur
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158 Literatur
Hans-Ulrich Grunder
Das Thema fokussiert in der Frage, wie die schweizerische Politik mit den
Ergebnissen der Forschung hinsichtlich des Übergangs von der Schule in
den Beruf umgeht, wie etwa die Idee des Case Managements umgesetzt wird
und ob dies eine Folgerung aus den wissenschaftlichen Studien sei. Weiter
steht die Erhöhung der Chancengerechtigkeit im Zentrum, die Frage, ob
diese Programmatik einen Schluss aus empirischen Studien darstelle, und
falls ja, wie sich die Politik dazu verhalte.
Wissenschaftliche Resultate, …
1 An der Podiumsdiskussion nahmen Jacqueline Fehr, Nationalrätin, Klaus Fischer, Regierungsrat und Bildungsdirek-
tor des Kantons Solothurn, Hartmut Ditton, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität München, und
Urs Vögeli-Mantovani, Mitarbeiter der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF), Aarau,
teil.
Grunder, H.-U. (2010). Übertrittskonzeptionen in der Schweiz (Podiumsdiskussion). In: M. P. Neuenschwander, H.-U. Grunder
(Hrsg). Schulübergang und Selektion (pp. 159–166). Chur: Rügger.
160 Ihr Transfer in die politische Praxis
Für Jacqueline Fehr ist es deshalb schwierig, in der Schweiz nationale Bil-
dungspolitik zu gestalten, weil die Beteiligten einander die Bälle reihum zu-
spielen. Die Forschungsergebnisse zeigten, «dass wir zwar immer davon
sprechen, wir wollten Chancengleichheit, dass wir uns aber darüber nicht
klar sind, weshalb sie so wichtig ist.» Fehr verweist auf den Umstand, ein
Konsens, Fähigkeiten und Leistung seien statt Herkunft entscheidend. Da-
Ihr Transfer in die politische Praxis 161
teren Zeitpunkt noch eine Klasse oder den Schultypus zu wechseln. Darum
reformiere man im Kanton Solothurn die Sekundarstufe I, wobei das Postu-
lat der Chancengleichheit und die Beschulung nach Fähigkeiten zentral sei-
en. Für die 7., 8. und 9. Klasse stünde infolgedessen die Berufswahl im Vor-
dergrund: «Im 9. Schuljahr werden die klassischen Fächer nur noch teilweise
angeboten, wichtiger ist die selbständige Arbeit» und die Spezialisierung der
Schülerinnen und Schüler in Richtung Handwerk oder einer Ausbildung in
einem sozialen oder pädagogischen Bereich.
Sind aus der Sicht des Beobachtens in den drei Voten Differenzen erkenn-
bar?
Für Hartmut Ditton liegt die Schwierigkeit darin, die Konsequenzen aus
den bisherigen Voten zu benennen: «Herr Fischer hat davon gesprochen,
den Fähigkeiten der Heranwachsenden entsprechend zu handeln, also den
schulgesetzlich verankerten Anspruch zu beherzigen, jedes Kinds sei indivi-
duell bestmöglich zu fördern. Genau das aber macht die Aufgabe so schwie-
rig, weil es impliziert, dass wir schon am Beginn einer schulischen Laufbahn
den schwächsten Schüler dort abholen müssen, wo er steht, um ihn dann zu
seinen besten Möglichkeiten zu führen – und dass dies selbstverständlich
auch für jenes Kind gilt, das schon mit sehr guten Voraussetzungen kommt.
Wie lassen sich da Chancenunterschiede ausgleichen?» Ditton erkennt das
Problem in der Kernfrage, ob Schule gezielt etwas für den Ausgleich zu leis-
ten vermöge, oder ob sie – wie wir in Schulprogrammen lesen – jedes Kind,
also das schwache und das exzellente fördert: «Ich erkenne einen gewissen
Grundkonsens darin, dass man davon ausgeht, bei Schuleintritt Kinder in
ihren sprachlichen Fähigkeiten zu unterstützen – besonders Kinder mit Mi-
grationshintergrund, die oft unzureichende sprachliche Voraussetzungen
mitbringen.» Weiter sei man sich einig, es sei nicht hinnehmbar, dass ein so
grosser Anteil von Schülerinnen und Schülern eine Schulkarriere beendet,
ohne einen aussichtsreichen Abschluss und ohne ausreichende Basiskompe-
tenzen erworben zu haben. «Hier lassen sich möglicherweise gewisse Min-
deststandards definieren, und damit wäre mit ethischen, demokratischen,
aber vor allem ökonomischen Argumenten zu punkten.» Dies gilt insbeson-
dere für die Bezifferung der Ausfallkosten, die schulische Absolventen ver-
ursachen, welche in der Arbeitswelt nicht mehr vermittelbar sind. Ditton er-
kennt hier den Beitrag der Frühförderung und gezielter Interventionen zur
Vermeidung von Problemkarrieren im Verlauf der Schullaufbahn.
Jacqueline Fehr merkt vier Aspekte an: Das Postulat nach Chancengleich-
heit sei als gesellschaftlicher Grundkonsens permanent zu erarbeiten und zu
bestärken. Weiter zeigten die bisherigen Tagungsbeiträge die Notwendig-
keit, in die Elternbildung (etwa die aufsuchende Mütterberatung) und die
bildungspolitischen Frühförderungsangebote zu investieren. «Elternbildung
muss sich grundsätzlich anders ausrichten, soll sie einen Beitrag zur Verhin-
derung eines sich vergrössernden Grabens leisten, und Angebote müssen in
den ersten vier Lebensjahren eines Kindes ansetzen.» Sie verweist auf die
Frühinterventionsprogramme, die mehrere Schweizer Städte aufbauen und
die sie gezielt mit Kulturvermittlung verbinden. Weiter gelte es, die Krip-
penangebote zugänglich zu machen und sie bildungspolitisch aufzuwerten,
164 Und nochmals: Chancengleichheit,…
Urs Vögeli-Mantovani verweist auf die Übergänge und die Selektion, die an-
lässlich dieser Übergänge erfolge, und ihre Fehlerbehaftetheit. Insbesondere
fänden nach einem Übergang vergleichweise wenig Wechsel statt, wohl weil
wenige Möglichkeiten zur Verfügung stünden, falsche Zuteilungen zu kor-
Flexibilität 165
rigieren: «Beurteilt man die Schärfe der Selektion, erscheint der Wechsel von
der Primarschule3 in die verzweigte Sekundarstufe I als einer der härtesten
und einschneidendsten Übergänge, was mich den Begriff der ‹Kanalisie-
rung› verwenden lässt. Man ist in einem Kanal, einem Fahrwasser, einem
Laufbahnwasser, dem man kaum entfliehen kann.» Die vier Aspekte aufgrei-
fend, die Hartmut Ditton in die Diskussion eingeführt hat, merkt Vögeli-
Mantovani an, die Selektion sei wie in den nordischen Staaten gegen hinten
zu verschieben, klare und eindeutige Formen der Durchlässigkeit seien zu
konzipieren und auch zu nutzen, und schliesslich sei eine Reform der Schul-
strukturen unabdingbar. Zwar handle in der Schweiz jeder Kanton diesbe-
züglich anders als die anderen. Aber der Kanton Nidwalden habe in den
90er-Jahren eine Umstellung vollzogen, von der die ganze Schweiz nichts
gemerkt habe: «Innerhalb von vier Jahren hat der Kanton Nidwalden auf ko-
operative und integrative Schulformen umgestellt. Heute spricht dort nie-
mand mehr davon, dass man zum alten System zurückkehren möchte.»
Ähnlich verhalte es sich mit dem 9. Schuljahr, das gesamtschweizerisch um-
gebaut wird: «Stärkere Individualisierung, gezielter Ausbau von Stärken und
gezielter Abbau von Schwächen der Schülerinnen und Schüler.» Da würden
Strukturen eindeutig verändert.
… Flexibilität, …
3 Erste Stufe der Volksschule, die in den meisten Kantonen der Schweiz 6 Schuljahre, in wenigen anderen 5 oder 7
Schuljahre umfasst.
166 Selektion
… Selektion …
«Ich bin kein Migrationskind, aber ich habe als Mittelschichtkind schweize-
rischer Eltern erlebt, wie fremd und ablehnend das Milieu sein kann gegen-
über jenen Menschen, die sich nicht darin auskennen. Das hat mich geprägt
und motiviert, hier politisch Gegensteuer zu geben.» Die Botschaft an die
Lehrkräfte, ihre Verantwortung gegenüber den Kindern, auch als deren An-
wälte, wahrzunehmen und gegenüber Eltern Position zu beziehen, ist für
Jacqueline Fehr zentral. Weiter verweist sie auf die Bedeutung der Sprache
für die Einschätzung der Fähigkeiten eines Kindes, weil Tests und Noten ei-
nen starken Bezug zur Sprache aufweisen: «Welche Intelligenz steckt hinter
sprachlichen Unfähigkeiten oder Defiziten und wo liegt das Fähigkeitspo-
tenzial eines Kindes, wenn es sich sprachlich nicht fehlerfrei ausdrücken
kann? Wie erkennen wir Fähigkeiten und Potenziale hinter der Sprache?»
Als wesentliche Botschaft erachtet Jacqueline Fehr den Willen, «niemanden
zurücklassen» (no child left behind), was indessen nicht das Ende der Chan-
cenungleichheit bedeute. Sie versteht Chancengleichheit nicht nur als An-
schlussfähigkeit und Aufholchance. «Mein Konzept der Chancengleichheit
geht dahin, dass alle Menschen ihr Potenzial nutzen können. Es reicht dem-
zufolge in die Begabungsförderung. Chancengleichheit umfasst also An-
schlussfähigkeit und Begabtenförderung.»
Für Klaus Fischer liegt die Aufgabe der Selektion darin, jemanden aufgrund
seiner Fähigkeiten zu messen, damit er oder sie die richtige Laufbahn er-
greift. Ist dem nicht so, laufe etwas falsch. Darum sei Selektion breit abzu-
stützen, denn es gehe um die Fähigkeit, selbständig zu arbeiten, auch Leis-
tungen erbringen zu können, die notwendig sind für eine bestimmte
Richtung, die gewählt wird.
Urs Vögeli-Mantovani verweist auf die Kantone der Romandie und ihren
Versuch, Selektionsprozesse zu entschärfen. In Neuenburg oder im Kanton
Waadt verantwortet die Sekundarstufe den Prozess: «Die Schülerinnen und
Schüler beginnen in Neuenburg ein Jahr, in der Waadt zwei Jahre, alle ge-
meinsam an der Oberstufe in der Sekundarstufe I. Die dort unterrichtenden
Lehrkräfte übernehmen – zu einem späteren Moment – die weiteren Einstu-
fungen.»
167
Andreas Hirschi
Mein Kommentar identifiziert zwei zentrale Themen der Tagung und der
Beiträge in diesem Band. (1) Die Erkenntnis, dass Schulübergänge und Se-
lektionsprozesse in der Realität nicht nur von den objektiven Leistungen
von Jugendlichen beeinflusst werden, sondern dass das Geschlecht und die
soziale und ethnische Herkunft einen darüber hinausgehenden signifikan-
ten Einfluss ausüben; und (2) dass Jugendliche mit ihren eigenen Wünschen
und Zielen ihre schulische und berufliche Entwicklung massgeblich mit
beeinflussen. Dies impliziert, dass Forschung und Praxis sich auf die dyna-
mische Interaktion von Wünschen der Jugendlichen, Erwartungen des so-
zialen Umfelds sowie institutionelle und gesellschaftliche Strukturen kon-
zentrieren sollten. Auf dieser Basis ist ein besseres Verständnis von Selektion
und Übergang möglich und sind nachhaltig wirksame Interventionen in der
Praxis umsetzbar.
In diesem Band wird eine Reihe interessanter Studienbefunde diskutiert,
welche einen Einblick in die aktuelle Forschungslage zu Selektion und
Schulübergängen bieten. Etliche Autorinnen und Autoren gehen dabei auf
Praxisanwendungen ein, welche auf solchen Erkenntnissen basieren. In mei-
nem Kommentar greife ich zwei Aspekte heraus, welche für mich Kernthe-
men der Tagung waren. Darauf aufbauend leite ich Implikationen für das
theoretische Verständnis von Selektionsverläufen und Schulübergängen ab.
Ein erstes zentrales Thema der Tagung zeigt sich in mehreren Referaten und
Workshops in der Diskrepanz zwischen dem Ideal einer auf reinen Leis-
tungskriterien basierenden schulischen und beruflichen Selektion einerseits
und der beobachteten Realität andererseits. Einem Idealbild entsprechend,
Hirschi, A. (2010). Implikationen der Tagungsbeiträge für das theoretische Verständnis von Selektion und Übergängen. In: M. P.
Neuenschwander, H.-U. Grunder (Hrsg). Schulübergang und Selektion (pp. 167–172). Chur: Rüegger.
168 Selbstgestaltung eigener Entwicklung durch die Jugendlichen
Ein zweites zentrales Thema der Tagungsbeiträge bezog sich jedoch auch auf
den Ansatz, Jugendliche nicht nur als passive Opfer von sozialer Selektion
und Diskriminierung zu beurteilen. Denn neben den genannten Einflüssen
und den persönlichen schulischen Leistungen spielen auch die Wünsche
und Erwartungen der Jugendlichen selber eine wichtige Rolle. Eine Reihe
von Beiträgen in diesem Band befasst sich mit diesem Spannungsfeld zwi-
Selbstgestaltung eigener Entwicklung durch die Jugendlichen 169
Dieser Ansatz enthält aber auch wichtige Implikationen für die Praxis. So
folgt daraus, dass Interventionen nur unter einem systemischen Ansatz er-
folgreich sein können. Persönliche Ziele und Erwartungen von Jugendli-
chen, deren objektiven Schulleistungen, die Erwartungen des sozialen Um-
felds (Eltern, Lehrkräfte) sowie die organisatorischen, institutionellen und
gesellschaftlichen Strukturen bedingen einander. Wirksame Interventionen
sollten somit an allen Punkten ansetzen, sollen nachhaltige Veränderungen
eintreten. Darum sind in diesem Band ebenfalls Beispiele aus der Praxis er-
wähnt, mit denen diesem Ansatz gerecht zu werden versucht wird. Diese
Komplexität impliziert auch, dass Veränderungen nicht leicht und schnell
zu erreichen sind. Betrachtet man die positive Seite, verweist die Dynamik
des Systems jedoch auch auf die grundlegende Möglichkeit, dass Verände-
rungen bei allen Beteiligten herbeigeführt werden können.
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173
Ist mit der heutigen Tagung der Brückenschlag zwischen Forschung, Bil-
dungspraxis, Bildungsverwaltung und Professionsentwicklung gelungen? Ja,
sage ich: Es gab heute einen erwünscht anstössigen Informationsfluss von
der Forschung in die Praxis und Bildungsverwaltung. Forschung kann hel-
fen, Sachen zu klären und zu verstehen, und wenn Forschung sich dann
noch so mutig exponiert wie im Referat von Herrn Professor Neuenschwan-
der, und sie es wagt, handlungsleitende Empfehlungen abzugeben, dann ist
sie hoch willkommen. Ich gebe den Forschenden aber kritisch zu Bedenken,
dass eine Vervielfachung des immer gleichen analytischen Wissens nicht nö-
tig ist. Wir Schulpraktiker und Schulverwalter wissen, dass wir im ganzen
Bildungswesen ein gerüttelt Mass an Problemen mit der Chancengerechtig-
keit haben. Diese Analyse ist gemacht, internalisiert. Das Rätsel, die Not,
die Verzweiflung liegen anderswo: Warum sind, allem didaktischen, pädago-
gischen, schulorganisatorischen Bemühen, allen Investitionen in die Res-
sourcen der Schule zum Trotz, die Fortschritte in der Chancenpolitik so
klein? Ich gebe ein selbstkritisches Beispiel: Etwa 45 % der Kinder und Ju-
gendlichen in der Volksschule des Kantons Basel-Stadt haben einen Migra-
tionshintergrund; etwa gleich viele sind fremdsprachig. Wir investieren in
Basel auf allen Bildungsstufen – und in Zukunft schon auf der Vorschulstu-
fe – ausserordentlich viel in die Sprachförderung. Wir können zeigen, dass
die Sprachkompetenzen der jungen Menschen besser gefördert werden denn
je – und trotzdem werden ihre Bildungschancen nicht besser. So sind die
Migrantinnen und Migranten im Gymnasium mit zirka 15 % nicht nur
stark untervertreten, sondern ihr Anteil stagniert allen Anstrengungen zum
Trotz. Die Förderung wird immer besser – und trotzdem hat das nicht jene
Wirkungen, die wir erwarten. Über den Nachweis der ungleichen Chancen-
verteilung brauchen wir keine Forschung mehr, sondern über das Rätsel,
weshalb eine aktive Chancenpolitik nicht die erhofften Wirkungen hat.
1 Bei diesem Text handelt es sich um einen spontanen, in freier Rede gehaltenen, subjektiven Tagungsrückblick des
Autors, dessen Duktus die Herausgeber so belassen haben.
Signer, H. G. (2010). Kommentar zur Tagung in der Perspektive der Bildungsverwaltung. In: M. P. Neuenschwander H.-U. Grunder
(Hrsg). Schulübergang und Selektion (pp. 173–175). Chur: Rüegger.
174 Kommentar zur Tagung in der Perspektive der Bildungsverwaltung
aus – die Systeme selbst und die dem Systemerhalt dienenden Unterstüt-
zungssysteme – oder mit andern Worten: Wir basteln weiter und verlieren
uns im Differenzierungsdickicht der Moderne. Der zweite Weg lautet: Wir
kehren um und integrieren das System selbst wie auch die Unterstützungs-
systeme. Nehmen wir als Beispiel die Sekundarstufe I. Ihre dreigliedrige, se-
lektive Struktur bildet die dreigliedrige Gesellschaft der 19. Jahrhunderts ab.
Heute wollen wir es mit Hilfe von unterstützenden, also differenzierenden
Förderstrukturen weiterentwickeln. Die Ergebnisse stimmen wenig zuver-
sichtlich. Weder werden die Leistungen besser noch wächst die Zufrieden-
heit. Besser wäre: Die EDK verpflichtet jeden Kanton, Erfahrungen zu sam-
meln mit dem Unvorstellbaren: mit einem integrativen Modell auf der
Sekundarstufe I, das die Energie nicht von den Strukturen absorbieren lässt,
sondern sie direkt in die Pädagogik, Didaktik und Schulorganisation flies-
sen lässt. Nehmen wir als zweites Beispiel den Übergang in die Sekundarstu-
fe II. Auch dieser Übergang ist deshalb so schwer, weil wir das Einfachste
übersehen. Das Schulobligatorium umfasst wie im 19. Jahrhundert nur die
Volksschule, obwohl wir alle wissen, dass sich auf einen Volksschulabschluss
kaum mehr eine Existenz abstützen lässt. Ohne einen qualifizierenden Ab-
schluss auf der Sekundarstufe II geht es nicht mehr. Heute investieren wir
viel Mühsal und viel Geld, um junge Menschen zu einer Ausbildung auf der
Sekundarstufe II zu verführen – auch jene, die nicht dürfen oder die nicht
wollen. Besser wäre es zu sagen: Man muss! Das Obligatorium wird auf die
Sekundarstufe II ausgeweitet. Das wäre ein klarer Verpflichtungsrahmen für
die jungen Menschen, den Staat sowie – für die dualen Ausbildungen – das
Gewerbe und die Wirtschaft. Er würde das implizit Selbstverständliche ex-
plizit machen. Und er würde sinnlose Widerstände in sich zusammenfallen,
ausufernde Unterstützungsmassnahmen obsolet werden lassen und energie-
verzehrende Reibungsverluste eliminieren.
Es gilt auch in der Schule: Mitunter ist es gut, das Gegenteil zu denken von
dem, was man schon immer gedacht oder getan hat.
Ich danke Ihnen.
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Becker, Rolf, Prof. Dr., Jg. 1960, Professor für Bildungssoziologie, Institut für Erziehungs-
wissenschaft, Universität Bern, Muesmattstrasse 27, 3012 Bern
rolf.becker@edu.unibe.ch
Ditton, Hartmut, Prof. Dr., Jg. 1956, Professor für Allgemeine Pädagogik, Institut für Päda-
gogik, Ludwig-Maximilians-Universität München, Leopoldstr. 13, 80802 München
riedel@edu.lmu.de.
Hirschi, Andreas, Prof. Dr., Jg. 1976, Juniorprofessur Karriereforschung, Leuphana Univer-
sität Lüneburg, Wilschenbrucher Weg 84, 21335 Lüneburg
andreas.hirschi@leuphana.de
Gerber-Schenk, Michelle, lic. phil. Psychologin, Jg. 1981, Pädagogische Hochschule der
Fachhochschule Nordwestschweiz, Obere Sternengasse, 7, 4502 Solothurn
michelle.gerber@fhnw.ch
Gomolla, Mechtild, Prof. Dr., Jg. 1962, Professorin für Erziehungswissenschaft, insbesonde-
re interkulturelle und vergleichende Bildungsforschung, Helmut Schmidt-Universität / Uni-
versität der Bundeswehr Hamburg, Holstenhofweg 85, 22043 Hamburg
gomolla@hsu-hh.de
Grunder, Hans-Ulrich, Prof. Dr. phil. I habil., Jg. 1954, Professor für Schulpädagogik und
Leiter des «Zentrums Schule als öffentlicher Erziehungsraum», Pädagogische Hochschule der
Fachhochschule Nordwestschweiz, Obere Sternengasse 7, 4502 Solothurn
hansulrich.grunder@fhnw.ch
Häfeli, Kurt, Prof. Dr., Jg. 1950, Leiter Forschung & Entwicklung, Interkantonale Hoch-
schule für Heilpädagogik, Schaffhauserstr. 239, Postfach 5850, 8050 Zürich
kurt.haefeli@hfh.ch
Krüsken, Jan, Dr. phil., Jg. 1966, wiss. Mitarbeiter, Institut für Pädagogik, Ludwig-Maximi-
lians-Universität München, Leopoldstr. 13, 80802 München (bis 31. 3. 2010)
kruesken@edu.uni-muenchen.de
Kuhnke, Ralf, Jg. 1952, Dipl. Psychologe, Deutsches Jugendinstitut München/Halle, For-
schungsschwerpunkt «Übergänge im Jugendalter», Außenstelle Halle, Franckeplatz 1, Haus
12/13, 06110 Halle
kuhnke@dji.de
Neuenschwander, Markus P., Prof. Dr. habil., Jg. 1966, Professor für Pädagogische Psycho-
logie, Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz, Obere Sternengasse 7,
5402 Solothurn
markus.neuenschwander@fhnw.ch
Rottermann, Benno, lic. phil. Psychologe, Jg. 1976, Pädagogische Hochschule der Fachhoch-
schule Nordwestschweiz, Obere Sternengasse, 7, 4502 Solothurn
benno.rottermann@fhnw.ch
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