Sie sind auf Seite 1von 179

See discussions, stats, and author profiles for this publication at: https://www.researchgate.

net/publication/304704682

Schulübergang und Selektion

Book · January 2010

CITATIONS READS

5 7,225

2 authors, including:

Markus P. Neuenschwander
University of Applied Sciences and Arts Northwestern Switzerland,
163 PUBLICATIONS 1,214 CITATIONS

SEE PROFILE

Some of the authors of this publication are also working on these related projects:

Fernunterricht 2020 – Lernen während der Coronavirus-Pandemie View project

Bildungschancen in sozial heterogenen Schulklassen fördern SCALA View project

All content following this page was uploaded by Markus P. Neuenschwander on 04 April 2020.

The user has requested enhancement of the downloaded file.


Schulübergang und Selektion
Herausgeber:
Markus P. Neuenschwander
Hans-Ulrich Grunder

Schulübergang und Selektion


Forschungsbefunde – Praxisbeispiele – Umsetzungsperspektiven

Rüegger Verlag
Das Projekt wurde von der Stiftung Mercator Schweiz gefördert.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek


Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im
Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Rüegger Verlag, Zürich/Chur 2010


www.rueggerverlag.ch
info@rueggerverlag.ch

ISBN: 978-3-7253-0953-5
Gestaltung: Südostschweiz Presse und Print AG, Glarus
Druck: Südostschweiz Presse und Print AG, Glarus
5

Vorwort der Herausgeber

Am 23. Oktober 2009 fand an der Pädagogischen Hochschule der Fach-


hochschule Nordwestschweiz in Solothurn die internationale Tagung Schul-
übergang und Selektion statt. Es waren gegen 120 Personen aus der Bildungs-
forschung (Schweiz und Deutschland), der Bildungsverwaltung, privaten
Institutionen sowie einzelne Schulleiterinnen und Schulleiter aus der
Schweiz und Deutschland anwesend. Fachlich einschlägig interessierte Ex-
pertinnen und Experten der meisten Universitäten und Pädagogischen
Hochschulen der Deutschschweiz haben teilgenommen. In Referaten,
Workshops und in einer Podiumsdiskussion wurden Forschungsergebnisse
zu Selektionsprozessen und Bildungsverläufen erörtert.
Mit der internationalen Tagung Schulübergang und Selektion wurde eine
Plattform geschaffen, auf welcher ein Austausch zwischen Forschung, Bil-
dungspolitik und Bildungspraxis stattfinden konnte. Forschungsergebnisse
bilden Grundlagen für politische Entscheidungen und liefern Sicherheit im
praktischen Handeln. Umgekehrt richteten nach diesem Anlass Bildungs-
politiker und Praktiker ihre Fragen an die Forschung. So beeinflussen sie zu-
künftige Forschungsstrategien.
Um die Nachhaltigkeit der Tagung zu erhöhen, haben wir die überarbeite-
ten Tagungsbeiträge im vorliegenden Reader zusammengestellt, was sie einer
weiteren Öffentlichkeit zugänglich macht.
Im Band haben wir die Tagungsstruktur abgebildet, sodass die unterschied-
lichen Ausrichtungen und Charaktere der Gefässe an der Tagung noch spür-
bar sind, was das Buch bunter und reichhaltiger werden lässt.
Wir danken an dieser Stelle herzlich allen Autorinnen und Autoren, die uns
ihren Aufsatz zur Publikation zur Verfügung gestellt haben. Weil die Beiträ-
ge einerseits wissenschaftlich anspruchsvoll sind, sie jedoch andererseits eine
bildungsinteressierte Öffentlichkeit verstehen sollte, haben forschungsme-
thodische Aspekte gegenüber den inhaltlichen Thesen und Schlussfolgerun-
gen weniger Raum erhalten.
Nun hoffen wir, dass dieser Band zur Versachlichung der oft emotional ge-
führten Diskussionen zu Schulübergang und Selektion beiträgt.

Solothurn, 28. Februar 2010 Markus P. Neuenschwander


Hans-Ulrich Grunder
7

Inhalt

Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

Einleitung
Markus P. Neuenschwander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Hauptbeiträge

Selektionsprozesse beim Übergang in die Sekundarstufe I und II


Markus P. Neuenschwander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

Effekte der sozialen Herkunft auf die Schulformwahl beim


Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe
Hartmut Ditton, Jan Krüsken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

Schulische Selektion und institutionelle Diskriminierung


Mechtild Gomolla . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

Soziale Ungleichheit im Schweizer Bildungssystem und was man


dagegen tun kann
Rolf Becker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

Workshopbeiträge

Selbst- oder fremdbestimmt? Erfahrungen junger Erwachsener


im Umgang mit den Institutionen und Angeboten der
Arbeitsverwaltung in der Bundesrepublik Deutschland
Jan Skrobanek, Ralf Kuhnke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

Passungswahrnehmung, Selbstkonzept und Jugendarbeitslosigkeit


Michelle Gerber-Schenk, Benno Rottermann,
Markus P. Neuenschwander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

Passungsprobleme beim Übergang von der Schule


in die Ausbildung und neue Lernkonzepte –
Ergebnisse aus dem Projekt Schule und Betrieb (SchuB)
Martin Weingardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .131
8 Inhalt

Resilienz, Risiko- und Schutzfaktoren beim Übergang von der


Schule ins Berufsleben
Kurt Häfeli, Claudia Schellenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

Podiumsdiskussion und Schlussfolgerungen

Übertrittskonzeptionen in der Schweiz (Podiumsdiskussion)


Hans-Ulrich Grunder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

Implikationen der Tagungsbeiträge für das theoretische


Verständnis von Selektion und Übergängen
Andreas Hirschi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .167

Kommentar zur Tagung in der Perspektive der Bildungsverwaltung


Hans Georg Signer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .173

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .177


9

Einleitung

Markus P. Neuenschwander
In der nationalen und internationalen Debatte haben Schulübergänge, Se-
lektions- und Berufswahlprozesse in den letzten Jahren hohe Aufmerksam-
keit erhalten. Während Schulübergängen und Selektionsprozessen werden
individuelle Bildungsverläufe festgelegt und der Zugang zu verschiedenen
Segmenten im Arbeitsmarkt reguliert. Während Schulübergängen werden
Bildungsentscheidungen gefällt und Chancen verteilt, die für die weiteren
Bildungs- und Entwicklungsprozesse von Jugendlichen weit reichende Fol-
gen haben. Möglicherweise sind die in der Schule erworbenen Zertifikate
und Diplome für die berufliche und persönliche Entwicklung von Erwach-
senen einflussreicher als die erlernten fachlichen Kompetenzen. In Schul-
übergängen manifestiert sich überdies die Qualität eines Bildungssystems:
In Schulübergängen ist die Durchlässigkeit zwischen den Bildungsformen
erhöht und in der Vielfalt der Anschlusslösungen verdeutlicht sich die Of-
fenheit eines Bildungssystems, flexibel auf individuelle Entwicklungssitua-
tionen zu reagieren. Zudem zeigt sich während Schulübergängen, in wel-
chem Ausmass Schülerinnen und Schüler das in der Schule erworbene
Wissen in ausserschulische, berufliche Lebenskontexte zu übertragen fähig
sind. Nicht zuletzt beeinflusst die Koordination zwischen zwei aufeinander
folgenden Schul- und Ausbildungsformen den Umstand, wie belastend Ler-
nende einen Schulübergang erleben und wie schnell sie sich auf die neue
Lernsituation produktiv einzustellen vermögen.
Aus der Transitionsperspektive wird ersichtlich, dass Kinder kontinuierlich
zwischen schulischen und ausserschulischen Kontexten wie Familie, Frei-
zeitvereine und Gleichaltrigengruppen (sog. synchrone Transition) pendeln
und von einem Ausbildungskontext in einen anderen Kontext (sog. diachro-
ne Transition) treten und somit Kompetenzen und Erfahrungen aus dem
einem in einen anderen Kontext übertragen. Damit wird die Schule zu einer
offenen Institution, insofern ausserschulische Einflüsse auf das Schulgesche-
hen sichtbar werden. Das Verhältnis der schulischen Bildungs- und Soziali-
sationsprozesse zu ausserschulischen Sozialisationsinstanzen rückt in den
Vordergrund. In diachroner Perspektive verdeutlicht sich Senecas Diktum,
dass Kinder in der Schule nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen
(wollen), dass also ihre schulischen Bildungsprozesse in einem grösseren

Neuenschwander, M.P. (2010). Einleitung. In: M.P. Neuenschwander, H.-U. Grunder (Hrsg.).
Schulübergang und Selektion (pp. 9–13). Chur: Rüegger.
10 Einleitung

biografischen Zusammenhang ihre Funktion erhalten. Die Transitionsper-


spektive ermöglicht es, Schule in einer Aussenperspektive zu betrachten und
ihre Geschlossenheit in zeitlicher und räumlicher Hinsicht zu überwinden.
Schulübergänge lassen sich sowohl in der Entwicklungsperspektive als auch in
der Selektionslogik analysieren. So viel versprechend und innovativ die Ver-
bindung dieser beiden Perspektiven ist, so anspruchsvoll ist sie auch, umso
mehr sie auf mehrere wissenschaftliche Disziplinen, die Entwicklungspsycho-
logie und die Bildungssoziologie, Bezug nimmt. In erziehungswissenschaftli-
cher Sicht schliesslich stellt sich einerseits die normative Frage nach der diffe-
rentiellen Funktion von Erziehungs- und Bildungsakteuren bzw. -kontexten
in Transitionssituationen und andererseits die empirische Frage nach den Pro-
zessen und ihren Wirkungen. Es sind diese Leitfragen, die im vorliegenden
Band diskutiert werden, weil sie im Zentrum der aktuellen öffentlichen De-
batte stehen. Zur Illustration sollen einführend kurz zwei Diskurse in Praxis-
feldern auf verschiedenen Systemebenen genannt werden:
- Lehrpersonen bringen Beurteilungs- und Selektionsprozessen oft negative
Gefühle entgegen. Es ist für manche Lehrpersonen belastend, sich zu ver-
gegenwärtigen, wie sehr sie die Bildungschancen einzelner Kinder in Selek-
tionssituationen verantworten müssen. Sie müssen Kinder mit schlechten
Prädikaten enttäuschen und beeinträchtigen deren Selbstwert und schuli-
sches Wohlbefinden. Denn für sie bilden die Förderung und Unterstüt-
zung möglichst aller Kinder ein attraktiveres Ziel. Umgekehrt entfalten
Lehrpersonen in Beurteilungs- und Selektionssituationen erhebliche Wir-
kungen auf die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler, und erhalten
damit eine wichtige gesellschaftliche Stellung.
- Entscheidungsträger auf kantonaler Ebene sind unsicher, wie Schulüber-
gänge und Selektionsprozesse zu organisieren sind. Die Kantone unter-
scheiden sich in der Ausgestaltung dieser Prozesse deutlich und sie ändern
ihre Praxis kontinuierlich. Empirische Forschungsergebnisse dürften die
Funktionen und Wirkungen von Selektionsprozessen am ehesten aufzei-
gen können und damit Fakten für die Optimierung von Bildungssystemen
schaffen. Allerdings basiert die Organisation von Schulübergängen und
Selektionsprozessen nicht nur auf Forschungsergebnissen. Ebenso spielen
gesellschaftliche Werte und Traditionen eine Rolle. Soll die Schule auf das
Berufsleben vorbereiten oder allgemeine Lebenstüchtigkeit vermitteln?
Wollen wir frühe Elitenbildung oder aber Förderung der Schwachen? Set-
zen wir auf strukturierte Bildungsangebote mit klaren Zielvorgaben oder
auf offene, durchlässige Bildungssysteme mit vielfältigen Anschluss-
Einleitung 11

optionen? Wie sollen wir die Bildungsverantwortung auf unterschiedliche


Bildungskontexte wie Schule, Familie oder Gleichaltrigengruppen vertei-
len?
Werte steuern jenseits des Wissens über Wirkmechanismen die Organisati-
on von Selektionsverfahren. Ein Problem entsteht dann, wenn in einer Ge-
sellschaft kein Wertekonsens erreicht wird, wenn Werte beliebig sind, oder
wenn das Zusammenleben von Minderheiten und Mehrheiten gefährdet ist.
Mag sein, dass hier die Gründe für die gegenwärtig heftigen Kontroversen
über die Ausgestaltung der Bildungsstrukturen und Selektionsverfahren
liegen.
In diesem Band werden neue Konzepte und Forschungsbefunde aus der
Schweiz und Deutschland präsentiert, die die Mechanismen und Prozesse
der Schulübergänge in die Sekundarstufe I, II und die tertiäre Bildung illus-
trieren. Damit reagieren die Beiträge auf eine aktuelle öffentliche Debatte
mit wissenschaftlichen Argumenten. Die Beiträge sind interdisziplinär aus-
gerichtet, sie orientieren sich aber an den genannten Leitfragen. Einige Auf-
sätze fokussieren eher die individuellen Bildungs- und Berufentscheidun-
gen, andere eher die institutionelle Steuerung von Bildungsverläufen – oder
die beiden Instanzen werden als interagierende Akteure behandelt.
Der Aufbau des Bandes orientiert sich an der vorausgegangenen Tagung
Schulübergang und Selektion: Am Anfang stehen die vier Hauptreferate.
Danach folgen Auszüge aus den Workshops, eine Zusammenfassung der Po-
diumsdiskussion sowie zwei Kapitel mit Schlussfolgerungen in der Perspek-
tive der Forschung und der Bildungsverwaltung.
Im Beitrag von Markus P. Neuenschwander wird der Übergang in die Se-
kundarstufe I und II theoretisch und empirisch analysiert. Um die Ver-
schränkung von Systemsteuerung und individueller Bildungsplanung zu il-
lustrieren, wurden einerseits Daten zum Bildungssystem und andererseits
individuumszentrierte Längsschnittdaten aus der Schweiz analysiert. Die
Ergebnisse zeigen, dass Selektionsentscheide nicht nur von den Schülerleis-
tungen, sondern von vielen anderen Bedingungen abhängen. Wichtig ist der
familiäre Hintergrund, unterschätzt werden aber auch die sozialen Kompe-
tenzen der Kinder im Selektionsprozess.
Diese Befunde bestätigen Hartmut Ditton und Jan Krüsken, die Daten aus
Bayern und Sachsen präsentieren, in hohem Mass. Sie analysieren die
Zuordnung der Kinder in die Niveaus der Sekundarstufe I und zeigen, dass
Eltern in der Regel die Übertrittsempfehlungen der Lehrpersonen akzeptie-
12 Einleitung

ren, dass die Schichtzugehörigkeit und die Bildungsaspirationen Abwei-


chungen dieser Regel wesentlich erklären. Die Ergebnisse relativieren nach
Ansicht der Autoren die Erklärungskraft der Rational-Choice-Theorie.
Mechtild Gomolla stellt in ihrem Beitrag implizite Regeln und Erwartungen
zur Diskussion, aufgrund derer Kinder und Jugendliche mit besonderen
Merkmalen Gefahr laufen, in Institutionen und Schulen diskriminiert zu
werden. Sie geht dabei von Debatten zum institutionellen Rassismus aus.
Unter Beizug von qualitativen Daten werden Schulen darauf hin analysiert,
wie sie Selektionsentscheide unabhängig von den erbrachten Leistungen der
Schülerinnen und Schüler beeinflussen.
Rolf Becker bezieht sich auch auf die Rational-Choice-Theorie zur Erklä-
rung von Selektionsentscheiden und Bildungsverläufen. Anhand von Se-
kundärdatenanalysen vorliegender Schweizer Studien belegt er die Bedeu-
tung von primären und sekundären Herkunftseffekten zur Erklärung von
Bildungsungleichheiten. Aufgrund von Simulationen wird die Wirkung bil-
dungspolitischer Massnahmen modelliert, welche zur Abnahme ungerecht-
fertigter Bildungsungleichheiten beitragen könnten.
In vier kürzeren Beiträgen aus den Tagungsworkshops werden Teilfragen ver-
tieft bearbeitet. Jan Skrobanek und Ralf Kuhnke gehen in soziologischer Per-
spektive der Frage nach, wie selbst- bzw. fremdbestimmt Jugendliche in
Deutschland den Übergang in das Erwerbsleben vollziehen, und betrachten da-
für die Rolle der Arbeitsagenturen. Zu diesem Zweck beschreiben und reflek-
tieren sie Erfahrungen von Jugendlichen im Umgang mit Arbeitsagenturen.
Martin Weingardt untersucht ebenfalls die Berufsvorbereitung in der Se-
kundarstufe I. Er behauptet, gute fachliche Leistungen seien für einen er-
folgreichen Übertritt besonders wichtig. Daher diskutiert er fachdidaktische
Konzepte und Befunde über die Vorbereitung Jugendlicher aus Hauptschu-
len auf die Berufslehre.
Die Konstruktion von Passung gilt als Leitkonzept und Erfolgskriterium
zahlreicher Berufswahl- und Transitionsstudien. Michelle Gerber-Schenk,
Benno Rottermann und Markus P. Neuenschwander präsentieren Längs-
schnittdaten dazu, wie sich die Passungswahrnehmung auf das berufliche
Fähigkeitsselbstkonzept auswirkt, und inwieweit sie Vorhersagen zum Auf-
treten von Arbeitslosigkeit nach dem Abschluss der Berufslehre zulässt. Die
Ergebnisse bestätigen die hohe prognostische Bedeutung der Passung für die
berufliche Entwicklung.
Eine interessante Forschungsübersicht liefern Kurt Häfeli und Claudia
Schellenberg. Sie fassen Schweizer Übergangsstudien und Interventionspro-
Einleitung 13

jekte zusammen und beschreiben Risikofaktoren und Ressourcen beim


Übergang von der Schule in den Beruf. Überdies schildern sie, wie Jugend-
liche Schutzfaktoren wie Selbstwirksamkeitserwartungen und Zielorientie-
rung aufbauen können.
Dank dem Einsatz mannigfaltiger Theorien und Forschungsmethoden er-
lauben die Beiträge eine differenzierte Sicht auf Übergangs- und Selektions-
prozesse. Obwohl jeder normative Übergang mit Selektionsprozessen ver-
bunden ist, streichen die meisten Texte die besonderen Anforderungen jedes
einzelnen Übergangs hervor. Einzig Häfeli und Schellenberg argumentieren
stufenübergreifend und identifizieren allgemeine Erfolgsfaktoren. Interes-
sant sind die ähnlichen Ergebnisse, die in den deutschen und den schweize-
rischen Studien aufgetreten sind, obwohl sich die beiden Bildungssysteme
deutlich unterscheiden. Ebenfalls fällt im Vergleich der Beiträge auf, dass bei
allen Übergängen sowohl schulische wie auch ausserschulische Bedingungen
für Bildungsentscheidungen eine zentrale Rolle spielen. Damit rückt die
Frage nach der Aufgabenkoordination zwischen den schulischen und ausser-
schulischen Bildungsakteuren in den Vordergrund.
In der Podiumsdiskussion, zusammengefasst von Hans-Ulrich Grunder, so-
wie in den beiden Kommentaren von Andreas Hirschi und Hans Georg Sig-
ner wird unter anderem das Verhältnis von Forschung und Politik angespro-
chen. Sie bilden unabhängige Systeme mit je unterschiedlichen Strukturen
und Regulativen, haben aber gegenseitige Wünsche und Hoffnungen. We-
gen der prinzipiellen Differenzen ist aber der Diskurs schwierig und der
Übersetzungsbedarf in beide Richtungen gross. So bilden wissenschaftlich
generierte Fakten zwar Referenzen für politische Entscheidungen, allerdings
erst in ihrer wertbasierten Interpretation durch die politischen Entschei-
dungsträger und Parteien. Obwohl die meisten Parteien etwa Chancen-
gleichheit oder Chancengerechtigkeit in schulischen Entscheidungsprozes-
sen fordern, fällt es der Politik schwer, aus der wissenschaftlich
nachgewiesenen Ungleichheit der Bildungsbeteiligung im Schweizer Bil-
dungssystem Schlussfolgerungen zu ziehen. Ob fehlendes technisches Wis-
sen der Grund dafür ist, wie Chancengleichheit bzw. -gerechtigkeit zu erhö-
hen wäre, oder ob die Forderung nach mehr Chancengleichheit bzw.
-gerechtigkeit zu wenig wichtig ist, um politische Handlungen zu motivie-
ren, lässt sich nicht entscheiden. In jedem Fall zeigen Podiumsdiskussion
und Kommentare, dass die Forschung die Komplexität schulischer Selekti-
onsentscheide noch nicht befriedigend durchdrungen hat, und dass die Po-
litiker wirksame «Rezepte» suchen, aufgrund derer die Situation verbessert
werden kann. Es gibt also Forschungsbedarf.
15

Selektionsprozesse beim Übergang


von der Primarschule in die Berufsbildung

Markus P. Neuenschwander 1

Abstract
Der Übergang von der Primarschule in die Sekundarstufe I und die Berufs-
bildung ist in der Schweiz an Selektionsprozesse geknüpft, die einerseits
durch individuelles Handeln und andererseits durch Vorgaben des Bil-
dungssystems gesteuert werden. Übereinstimmend mit ausgewählten Theo-
rien wird anhand von eigenen Studien gezeigt, wie die Struktur des Bil-
dungssystems, die Familie und das soziale Verhalten der Kinder neben ihren
Leistungen und Noten den Übergang in die Sekundarstufe I und II wesent-
lich steuern. Zum Schluss wird die Passung zwischen der Berufslehre und
den Interessen und Fähigkeiten von Jugendlichen als Erfolgskriterium für
Übergangsprozesse vorgeschlagen und ihre Bedingungen empirisch unter-
sucht. In den Schlussfolgerungen weise ich auf die unterschätzte Bedeutung
von Sozialkompetenzen von Kindern beim Übergang von der Schule in den
Beruf hin.

1 Einleitung

In der Schweiz sind Schulübergänge eng mit Selektionsprozessen verbun-


den. In den meisten Schweizer Kantonen ist das Bildungssystem der Sekun-
darstufe in Schulformen mit unterschiedlichen Bildungsniveaus gegliedert,
welche Selektionsprozesse und Allokationsprozesse erfordern. Auch beim
Übergang in die Sekundarstufe II müssen Jugendliche Selektionsprozesse
durchlaufen, etwa das Bestehen von Aufnahmeprüfungen in das Gymnasi-
um oder andere Vollzeitmittelschulen oder das erfolgreiche Durchlaufen
von Aufnahmeverfahren in eine Lehrstelle im dualen Berufsbildungssystem.
Mit dem Eintritt in Schulformen und Ausbildungen werden Jugendliche
Bildungskanälen zugewiesen, die sie auf verschiedene Segmente des Arbeits-
markts (zum Beispiel Akademiker vs. Facharbeiter; Berufsfelder) vorberei-

1 Der Autor dankt dem Schweizerischen Nationalfonds (Projektnummer 10013-107733), der Pädagogischen Hoch-
schule Bern (Projektnummer 0101s017) sowie der Bildungsdirektion Zürich für die finanziellen Beiträge an die Unter-
suchung.

Neuenschwander, M. P. (2010). Selektionsprozesse beim Übergang von der Primarschule in die Berufsbildung. In: M. P. Neuen-
schwander, H.-U. Grunder (Hrsg.). Schulübergang und Selektion (pp. 15–34). Chur: Rüegger.
16 Theoretische Voraussetzungen

ten. Arbeitsmarktsegmenttheorien gehen davon aus, dass sich die Art der Se-
lektionsprozesse, das Verhältnis von Stellenangebot und -nachfrage sowie
die erforderlichen Qualifikationen zwischen Arbeitsmarktsegmenten unter-
scheiden. Damit definieren Bildungsverläufe die Startbedingungen der be-
ruflichen Karriere, unabhängig von den inhaltlichen Kompetenzen, die die
jungen Erwachsenen aus der Ausbildung in den Arbeitsmarkt mitbringen.
Schulische Selektionsprozesse bestimmen daher in hohem Mass die Startbe-
dingungen der beruflichen Karriere.
Allerdings hat Neuenschwander (2003) eine Zieldiskrepanz zwischen Lehr-
personen und Schülerinnen und Schülern belegt. Während sich viele Schü-
lerinnen und Schüler auf den Beruf und ausserschulische Aufgaben vorbe-
reiten wollen, möchten viele Lehrpersonen in erster Linie fachliches Wissen
vermitteln. Offenbar ist der Konsens über die wesentlichen Ziele zwischen
Lehrpersonen und Lernenden brüchig. Man könnte die Spannung mit An-
schlussorientierung vs. Abschlussorientierung charakterisieren. In der Tran-
sitionsperspektive steht im Zentrum, wie Jugendliche auf die Anschluss-
lösung vorbereitet werden und nicht, wie die laufende Ausbildung
abgeschlossen werden kann.
Allerdings basiert die Organisation von schulischen Selektionsprozessen auf
gesellschaftlichen und politischen Werten, die unabhängig von Wirkungs-
überlegungen sind. Übertrittsverfahren orientieren sich primär an Chancen-
gleichheit, an Elitenbildung oder an Elternmitsprache. Sie können dem
Bildungsziel der Lebenstüchtigkeit der Kinder oder der Wirtschaftsorientie-
rung verpflichtet sein, Persönlichkeit oder aber Leistung ins Zentrum stel-
len. Diese Werte konkurrenzieren sich und sind nicht beliebig miteinander
kombinierbar. Entsprechend erfordert ein Selektionsverfahren, das Bestand
haben soll, einen gewissen Wertekonsens zwischen den politischen Parteien
und in der Gesellschaft. Ich vermute, dass dieser Wertekonsens ins Wanken
geraten ist.

2 Theoretische Voraussetzungen

Zu Beginn formuliere ich drei wichtige konzeptuelle Leitideen, die für die
folgende Argumentation zentral sind.
1. Schulübergänge und Bildungsverläufe sind einerseits durch institutionel-
le Vorgaben, Angebote und Übertrittsverfahren gesteuert. Die Schulni-
veaus in der Sekundarstufe I, die grundlegende Trennung von schulischer
und beruflicher Ausbildung in der Sekundarstufe II, die Institutionen bei
Theoretische Voraussetzungen 17

Schulübergängen (schulische und berufliche Brückenangebote, Motivati-


onssemester usw.) sind Beispiele für die institutionelle Steuerung. Ande-
rerseits können Jugendliche auf der Grundlage ihrer Leistungen und
Werthaltungen zwischen mehreren schulischen und beruflichen Angebo-
ten wählen. Sie entscheiden, ob sie sich für eine bestimmte Berufslehre
bewerben wollen. Je besser ihre schulischen Ausgangsbedingungen sind,
desto mehr Optionen stehen ihnen zur Auswahl bzw. desto eher vermö-
gen sie die getroffene Wahl auch tatsächlich zu realisieren (vgl. Übersicht
in Heinz, 2000). Oder sie entscheiden sich für einen nonnormativen Bil-
dungsverlauf (Neuenschwander & Garrett, 2008) und treten in eine An-
schlusslösung über, die deutlich unter oder über dem Anforderungs-
niveau der Herkunftsausbildung liegt. Man geht davon aus, dass
Selektionsentscheidungen und Bildungsverläufe aus einer komplexen In-
teraktion von Bildungsstrukturen mit ihren institutionellen Regelungen
und Gesetzen und individuellen Wahlen, gestützt auf personale und so-
ziale Ressourcen der Jugendlichen, resultieren.
2. Individuelle Bildungs- bzw. Berufsentscheidungen lassen sich recht gut
mit den Erwartungen und Werten von Jugendlichen erklären (Übersicht
in Maaz, Hausen, McElvany & Baumert, 2006). Die sozialkognitive
Theorie von Hackett (1995), Lent (2005) und Eccles (2005) kann erfolg-
reich eingesetzt werden, um individuelle Wahlen zu erklären. Bildungs-
und Leistungserwartungen von Kindern basieren auf eigenen früheren
Leistungen sowie Bildungserwartungen von Eltern und anderen nahen
Bezugspersonen. Sie sagen das Anspruchsniveau der gewählten Ausbil-
dung bzw. des Berufs vorher. Werte definieren inhaltliche Bildungspräfe-
renzen, welche Tätigkeiten und Präferenzen bei der Berufsausbildung als
besonders wichtig und wertvoll beurteilt werden. Die Kombination aus
dem erwarteten leistungsbezogenen Anspruchsniveau und inhaltlichen
Präferenzen erlaubt gute Vorhersagen von Bildungs- und Berufsentschei-
dungen.
3. Schliesslich gilt der Schulübergang bzw. der Bildungsverlauf dann als er-
folgreich, wenn zwischen dem aktuellen Entwicklungsstand und der Aus-
bildungssituation von Jugendlichen eine Passung entsteht (z.B. Holland,
1973; Eccles, Midgley, Wigfield, Buchanan, Reumann, Flanagan et al.,
1993). Eine hohe Passung wirkt sich auf das Fähigkeitsselbstkonzept der
Jugendlichen in der Berufsbildung und auf die Chance, eine Anstellung
nach dem Lehrabschluss zu erhalten, positiv aus (vgl. Gerber-Schenk,
Rottermann & Neuenschwander, in diesem Band). Ein erfolgreicher
Übergang impliziert, dass Jugendliche nicht primär eine möglichst pres-
tigeträchtige oder anspruchsvolle Anschlusslösung antreten, sondern die
18 Theoretische Voraussetzungen

für sie passende Lösung finden. Der Erfolg wird also nicht strukturell
über die Art der Anschlusslösung definiert, sondern über das Verhältnis
des Entwicklungsstands einer Person und deren Ausbildungsumwelt. Der
Berufswahlprozess von Jugendlichen und der Selektionsprozess von Insti-
tutionen sollten dem Ziel verpflichtet sein, eine Anschlusslösung zu fin-
den, die eine optimale Passung sicherstellt. Ich werde im fünften Teil auf
dieses Postulat zurückkommen.

3 Bildungssystem:
Struktur und Selektionsverfahren steuern Bildungsverlauf

Zur Illustration der Wechselwirkung von institutionellen Strukturen und


individuellen Bildungsentscheidungen beschreibe ich im nächsten Schritt
anhand von Beispielen das Bildungssystem in der Sekundarstufe I. In den
meisten Schweizer Kantonen umfasst die Sekundarstufe I das 7. bis 9.
Schuljahr. Danach werde ich individuelle Determinanten von Bildungsent-
scheidungen beschreiben.
Die Sekundarstufe I ist in den meisten kantonalen Bildungssystemen der
Schweiz in zwei bis vier Bildungsniveaus strukturiert, die in manchen Orten
getrennt, in anderen Orten integriert bzw. kooperativ geführt werden. Neu-
enschwander (2007) berichtete am Beispiel des Kantons Zürich eine insge-
samt geringe Durchlässigkeit zwischen diesen Schulniveaus. Etwa 4%–6%
der Kinder eines Jahrgangs wechseln das Schulniveau während des 7. bis 9.
Schuljahrs (Aufstieg oder Abstieg). Entsprechend müssen wir davon ausge-
hen, dass die meisten Jugendlichen die obligatorische Schulzeit in dem Ni-
veau abschliessen, dem sie zugewiesen werden (Kanalisierung). Durchlässig-
keit gibt es eher bei Schulübergängen, auch beim Übergang vom 9.
Schuljahr in die Anschlusslösung.
Überdies ist auf der Ebene des Bildungssystems interessant zu analysieren, wie
das Selektionsverfahren in die Sekundarstufe I sowie deren Struktur die Chan-
cengleichheit beeinflusst. Die Organisation der Schule wird anhand von vier
Kantonen im Sinn von Einzelfällen und mit Daten aus dem Schuljahr 2007/08
der achten Klassenstufe beschrieben (vgl. auch Neuenschwander, 2009).
In Tabelle 1 sind die Bildungsniveaus in vier Kantonen mit den jeweiligen
Beteiligungsquoten dargestellt, sortiert nach dem Anspruchsniveau und be-
ginnend mit dem tiefsten Anspruchsniveau. In der dritten Spalte ist der
Männeranteil, in der vierten Spalte der Ausländeranteil je Bildungsniveau
aufgeführt. In der ersten Zeile je Kanton sind der Jungenanteil und der
Migrantenanteil in der Population aufgeführt.
Theoretische Voraussetzungen 19

Tabelle 1: Bildungsbeteiligung nach Kantonen (2007/08, 8. Schuljahr)

Quote in % Anteil Jungen in % Anteil Migranten in %


Solothurn 50.3 21.5
Oberschule 15.8 56.3 49.2
Sekundarschule 31.7 51 27.6
Bezirksschule 43.1 48.1 11.4
Untergymnasium 8.5 48.1 0

Basel Landschaft 50 19.2


Sek Allgemein 26 54.8 35.7
Sek Erweitert 39.2 49.4 16.7
Sek Progymnasial 31.8 46.7 9.3

Zürich 50.8 20.4


Sek C 5.5 60.3 54.9
Sek B/Grundansprüche 32.1 54.4 30.9
Sek A/erweiterte Ansprüche 47.2 48.5 12
Langgymnasium 12.5 46.1 7.2
Bern dt 50.5 11.1
Realschule 40.72 56.1 16.4
Sekundarschule 47 48 6.3
Spezielle Sekundarschule 12.3 42.8 4.9

Der Kanton Solothurn führte 2007/08 vier hauptsächliche Bildungsniveaus,


wobei nur 15,8% der Jugendlichen in die Oberschule, das tiefste Bildungs-
niveau, übertraten. Die Quoten unterschieden sich zwischen den vier Bil-
dungsniveaus deutlich. In den anspruchsvolleren Schulniveaus war der An-
teil Schüler im Vergleich zu den Schülerinnen etwas geringer. Im
Untergymnasium, dem anspruchsvollsten Niveau, gab es keine Migrantin-
nen oder Migranten, während der Migrantenanteil in der Oberschule mit
49,2% deutlich überdurchschnittlich war. Allerdings wird gegenwärtig die
Bildungsstruktur im Kanton Solothurn reorganisiert und vereinfacht. Im
Kanton Basel-Landschaft durchlaufen die Kinder bereits im 5. Schuljahr das
Selektionsverfahren und treten in eines von drei Schulniveaus mit ähnlichen
Bildungsquoten über. Die Männerquote im progymnasialen Zug Sek P ist
mit 46,7% leicht unterdurchschnittlich. Auch die Migrantenquote streut
zwischen den Schulniveaus, aber nicht so stark wie in Solothurn. Im Kan-
ton Zürich werden ebenfalls vier Oberstufenniveaus geführt, wobei nur
5,5% in die sog. Sek C übertreten, in das Bildungsniveau mit den gerings-
ten Anforderungen. Zum Langzeitgymnasium muss angemerkt werden,

2 Ohne Sonderschulung und Privatschulen.


20 Theoretische Voraussetzungen

dass Jugendliche auch nach dem 9. Schuljahr ins Gymnasium, ins sog. Kurz-
zeitgymnasium, übertreten können. Der Kanton Bern schliesslich führte vor
allem zwei Bildungsniveaus. In der sog. Spez Sek, die zur Sekundarschule ge-
hört, bereiten sich Jugendliche auf das Gymnasium vor. Es fällt auf, dass der
Männeranteil mit 42,5% in der Spez Sek sehr tief ist. Der Migrantenanteil
in den Bildungsniveaus unterscheidet sich in Bern aber weniger stark als in
den anderen Kantonen.
Die Zahlen belegen die unterschiedlichen Bildungschancen, die die vier
Kantone anbieten. Die Chance auf einen Abschluss in einem anspruchsvol-
len Bildungsniveau unterscheidet sich zwischen den Kantonen stark, unab-
hängig von den Fachkompetenzen der Schülerinnen und Schüler. Bei glei-
chen Leistungen haben die Kinder also je nach Kanton sehr unterschiedliche
Chancen auf einen Bildungsabschluss in einem anspruchsvollen Niveau.
Gleichwohl werden die Schulabschlüsse im Schweizer Lehrstellenmarkt als
etwa gleichwertig behandelt. Wenn wir die Bildungschancen zwischen den
Kantonen angleichen wollen, ist im Hinblick auf die Beteiligungsquoten
eine Harmonisierung zwischen den Kantonen notwendig. Überdies sind
Migranten/-innen in anspruchsvolleren Schulniveaus generell seltener als in
weniger anspruchsvollen. Männliche Jugendliche sind in anspruchsvollen
Schulniveaus seltener als Frauen. Wenn diese Daten mit den kantonalen
Übertrittsverfahren in Beziehung gesetzt werden, resultieren zwei Thesen,
die in Folgeuntersuchungen weiter zu erhärten sind.
1. Ein geringer Jungenanteil in anspruchsvollen Ausbildungen hängt mit ei-
ner hohen Gewichtung von überfachlichen Kompetenzen im Übertritts-
verfahren zusammen. Im Kanton Bern ist beispielsweise das Kriterium
Lern- und Arbeitshaltung im Übertrittsverfahren wichtig, was die gerin-
ge Quote von Jungen in der Spez Sek erklärt. Im Kanton Basel Stadt (in
Tabelle 1 nicht erwähnt) spielt dieses Kriterium hingegen eine weniger
zentrale Rolle, weshalb der Männeranteil im Gymnasium überdurch-
schnittlich hoch ist.
2. Wenn die Beteiligungsquote zwischen den Bildungsniveaus stark variiert,
ist der Migrantenanteil in Ausbildungen mit hohen Ansprüchen beson-
ders gering. Wenn Schulniveaus mit geringen Ansprüchen und geringen
Beteiligungsquoten geführt werden, entsteht eine Schulform, die vor al-
lem Personen aus Kroatien, Serbien, Albanien und der Türkei besuchen.
Wenn hingegen wenige Schulniveaus mit ausgeglichenen Quoten geführt
werden, werden Migranten weniger stark benachteiligt (vgl. die Kantone
Basel-Landschaft und Bern).
Individuelle Determinanten von Übertrittsentscheiden und Bildungsverläufen 21

Diese Thesen bilden Arbeitsgrundlagen aufgrund der Analyse von kantona-


len Einzelfällen, die weiter überprüft werden müssen. Allerdings werden die
beiden Thesen von deutschen Befunden gestützt, wonach die abnehmende
Beteiligungsquote in deutschen Hauptschulen nach der Bildungsexpansion
zu ähnlichen strukturellen Problemen geführt hat (vgl. Baumert, Artelt,
Klieme, Neubrand, Prenzel, Schiefele et al., 2002).

4 Individuelle Determinanten von Übertrittsentscheiden


und Bildungsverläufen

Unabhängig von strukturellen Bedingungen des Bildungssystems in der Se-


kundarstufe I stellt sich die Frage, wie Selektionsentscheide in die Sekundar-
stufe I zu Stande kommen (vgl. auch Ditton, in diesem Band). Immer wie-
der wird gefordert, dass die besten in unserem Bildungssystem schulisch
Karriere machen sollen. Übertrittsentscheide sollen nicht durch das Ge-
schlecht, den Namen, den Migrationshintergrund oder die soziale Herkunft
bestimmt werden. Die Selektion soll gemäss dem Prinzip der Meritokratie
alleine auf Leistungen der Kinder basieren (Kronig, 2007).
Allerdings verlangt ein demokratisches Schulverständnis nach Elternmitwir-
kung in Selektionsentscheiden. Schulen müssen Elternanliegen aufnehmen,
um Akzeptanz nicht zu verlieren. Überdies zeigte die US-amerikanische Pa-
rental Involvement Forschung für alle Schulstufen, dass Kinder mehr ler-
nen, höhere Kompetenzen entwickeln und Leistung erbringen, wenn Eltern
bei Schulentscheiden involviert sind und wenn sie sich für die Schule inte-
ressieren (Epstein, Sanders, Simon, Salinas, Jansorn, Van Voorhis, 2002;
Henderson & Berla, 2004). Aus diesen Gründen ist es nachvollziehbar, dass
viele Kantone die Elternmitwirkung im Selektionsverfahren in die Sekun-
darstufe I vorsehen und den Übertrittsentscheid nicht alleine auf Leistungen
abstützen.
Kinder zeigen je nach ihrer sozialen Herkunft unterschiedliche Leistungen
(sog. primäre Disparitäten) und ihre Eltern verfolgen schichtbedingt unter-
schiedliche Bildungsaspirationen (sog. sekundäre Disparitäten, nach Bou-
don, 1974). Eltern bringen sich je nach Ausbildungsstand und Bildungs-
aspirationen mit unterschiedlichem Engagement im Übertrittsgespräch ein.
Obwohl die Kinder formal gleiche Bildungschancen haben, dürften sub-
stanzielle Zusammenhänge zwischen der familiären Herkunft und der Bil-
dungsbeteiligung empirisch zu beobachten sein.
22 Individuelle Determinanten von Übertrittsentscheiden und Bildungsverläufen

Schliesslich dürfte neben der Leistung und dem Elternengagement auch das
Schülerverhalten im Unterricht den Übertrittsentscheid beeinflussen. Ver-
mutlich haben Kinder schlechtere Übertrittschancen, die häufig den Unter-
richt aktiv stören (Disziplinprobleme). Zusammenfassend vermute ich, dass
neben den Noten und den Leistungen auch die soziale Herkunft der Eltern
und ihre Bildungserwartungen sowie Disziplinprobleme im Unterricht den
Übertrittsentscheid beeinflussen.
Diese Hypothesen wurden im Rahmen des Forschungsprojekts Familie-
Schule-Beruf (FASE B) überprüft (Neuenschwander & Malti, 2009). In die-
sem Längsschnittprojekt werden Sozialisationsprozesse in Schule und Fami-
lie, und wie diese die Schülerleistungen beeinflussen, untersucht sowie die
Frage, wie sie den Übergang in die Berufsbildung und in den ersten Beruf
vorbereiten, bearbeitet. Dem Projekt liegt ein Längsschnittdesign mit zwei
Jahrgangskohorten zu Grunde. Es startete mit einer Datenerhebung im Jahr
2002 (vgl. Forschungsdesign in Abbildung 1). Es wurden rund 1000 Ju-
gendliche des Kantons Bern, die damals im 6. oder 8. Schuljahr waren,
schriftlich befragt und unter Beizug von standardisierten Leistungstests in
Deutsch und Mathematik getestet. Zudem wurden Fragebogen für Eltern
und Lehrpersonen eingesetzt. Die gleichen Jugendlichen wurden im Jahr
2006 ein zweites Mal befragt und in den Jahren 2007 und 2008 ein drittes
und viertes Mal. Im Jahr 2006 wurde die Stichprobe mit Jugendlichen aus
den Kantonen Zürich und Aargau ergänzt, insbesondere mit gut 600
Berufslernenden im Kanton Zürich, was eine breitere Grundlage für die
Analyse der Prozesse in der Berufsbildung und den Übergang in den Arbeits-
markt versprach. Die Daten erlauben die Rekonstruktion von Bildungs-
verläufen von der Primarschule bis ans Ende der Berufsbildung bzw. vom
8. Schuljahr bis in den ersten Beruf in Realzeit.
Individuelle Determinanten von Übertrittsentscheiden und Bildungsverläufen 23

Abbildung 1: Forschungsdesign FASE B

6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. Schuljahr

1. Welle
2002
2. Kohorte
1. Kohorte
Ergänzungs-
2. Welle 2006 Ergänzungs- stichprobe
stichprobe
3. Welle 2007
4. Welle 2008

Übertritt in S-1 Ü bertritt in S-2

Unter Beizug dieser Daten und zur Prüfung der eingeführten Hypothesen
wurden Determinanten des Übertrittsentscheids Realschule (Grundansprü-
che) vs. Sekundarschule (erweiterte Ansprüche) analysiert. Ergebnisse von
stufenweisen logistischen Regressionsanalysen zeigen, dass die Noten in Ma-
thematik und Deutsch am Ende des 5. Schuljahrs eine signifikante Vorher-
sage des Übertrittsentscheids zulassen. Wenn zusätzlich die Ergebnisse der
Leistungstests in Mathematik und Deutsch berücksichtigt werden, erlauben
auch diese beiden Testwerte signifikante Vorhersagen. Wenn zusätzlich der
berufliche Status der Eltern einbezogen wird, gemessen mit dem sog. ISEI
Wert (Standard International Socio-Economic Index of Occupational Sta-
tus), wird dieser auf dem 10%-Niveau signifikant. Dieser letztgenannte Zu-
sammenhang verschwindet aber, wenn in einer nächsten Gleichung zusätz-
lich die Bildungsaspirationen der Eltern einbezogen werden. Sie wurden mit
dem Item gemessen, welchen höchsten Ausbildungsabschluss das Kind ver-
mutlich erreichen werde, bevor es in das Erwerbsleben tritt. In der fünften
Regressionsgleichung wurden schliesslich noch das Geschlecht sowie Dis-
ziplinprobleme im Unterricht einbezogen. Die Ergebnisse zeigten keinen
Geschlechtseffekt, doch haben Kinder eine geringere Übertrittschance in
die Sekundarschule, wenn sie berichten, oft den Unterricht zu stören (eine
ausführlichere Ergebnisdarstellung findet sich in Neuenschwander & Malti,
2009).
Die Ergebnisse zeigen zusammenfassend, dass sowohl die Noten in Deutsch
und Mathematik als auch die Leistungstestergebnisse in Deutsch und Ma-
24 Selektionsprozesse beim Übergang in die Berufsbildung

thematik den Übertrittsentscheid in die Sekundarschule vs. Realschule vor-


hersagen. Obwohl die Leistungstestergebnisse den am Übertrittsverfahren
beteiligten Akteuren nicht bekannt waren, enthalten sie offenbar Informatio-
nen, die den Übertrittsentscheid beeinflussen. Vor allem beeindruckt die
hohe Bedeutung der Bildungsaspirationen der Eltern für den Übertrittsent-
scheid. Schliesslich zeigen die Ergebnisse, dass die Verhaltensprobleme im
Unterricht bei statistisch gleichen Noten, Leistungen und familiärem Hinter-
grund den Selektionsentscheid beeinträchtigen. Das soziale Verhalten von
Kindern im Unterricht beeinflusst offenbar den Übertrittsentscheid. Die for-
male Grundlage dafür bildet vermutlich das offizielle Berner Selektionskrite-
rium «Lern- und Arbeitshaltung». Die Lern- und Arbeitshaltung von Kin-
dern, die oft den Unterricht stören, beurteilen Lehrpersonen eher negativ.
Die Befunde korrespondieren insofern gut mit dem geltenden Übertrittsver-
fahren, wonach neben den Noten auch die Elternmitwirkung und das Schü-
lerverhalten im Unterricht in den Übertrittsentscheid einfliessen.

5 Selektionsprozesse beim Übergang in die Berufsbildung

Nach der Analyse der Bildungsbeteiligung in der Sekundarstufe I und der


Selektionsbedingungen in die Sekundarstufe I sollen jetzt Selektionsprozes-
se beim Übergang in die Berufsbildung thematisiert werden. Bekanntlich
treten rund zwei Drittel der Jugendlichen in der Schweiz in die dual organi-
sierte Berufsbildung über (Wettstein & Gonon, 2009). Die Jugendlichen
müssen sich für einen Beruf entscheiden, sich um Lehrstellen bewerben und
Bewerbungsverfahren erfolgreich durchlaufen, bis sie ihre Berufslehre be-
ginnen können. Im Unterschied zum Selektionsverfahren in Mittelschulen,
wo in erster Linie die Zeugnisnoten ausreichend sein müssen und/oder eine
Aufnahmeprüfung zu bestehen ist, durchlaufen die Jugendlichen ein Aus-
wahlverfahren, das dem Bewerbungsverfahren im Arbeitsmarkt ähnlich ist.
Weil Lehrstellen aber Ausbildungsplätze sind, haben Staat und Wirtschaft
grosses Interesse, ein ausreichendes und qualitativ gutes Angebot von Lehr-
stellen bereit zu stellen. Allerdings stimmt das Verhältnis von nachgefragten
Berufslehren mit dem Angebot nur teilweise überein. Dadurch war es
schwieriger für die Jugendlichen, eine Lehrstelle zu erhalten, die ihren
Wunschvorstellungen, aber auch ihren Fähigkeiten und Interessen ent-
sprach. Herzog, Neuenschwander & Wannack (2006) beschrieben den
Trend, dass Jugendliche umso erfolgreicher im Lehrstellenmarkt sind, je ra-
Selektionsprozesse beim Übergang in die Berufsbildung 25

scher sich ihr Berufswahlprozess vollzogen hat. Der Zeitfaktor, das Timing,
scheint ein wichtiger Erfolgsfaktor zu sein.
Für das Verständnis der Prozesse im Lehrstellenmarkt aber auch für die
Schulen, die Jugendliche auf den Lehrstellenmarkt vorbereiten, führte ich
im Jahr 2008 mit Nathalie Wismer eine Befragung von Berufsbildnern in
den Branchen Handel, Wirtschaft und Verwaltung sowie im Baugewerbe
durch (vgl. auch Neuenschwander & Wismer, 2010). Das Ziel war zu erfah-
ren, nach welchen Kriterien Berufsbildnerinnen und Berufsbildner Lehrstel-
len vergeben. Die Lehrstellenvergabe ist in zahlreiche Kontroversen einge-
bettet. Insbesondere interessierte uns, wie wichtig die fachlichen Noten im
Vergleich zu überfachlichen Kompetenzen wie Sozialkompetenzen, positive
Bildungseinstellungen und Motivation beurteilt werden.

Abbildung 2: Wichtigkeit verschiedener Selektionskriterien differenziert nach


Ausbildungsfeldern

unentschuldigte Absenzen

entschuldigte Absenzen
Selektionskriterien

Sozial- und
Selbstkompetenzen
Handel
Selektionshilfen Wirtschaft und Verwaltung
Baugewerbe
Methodenkompetenzen

schul. Fachkompetenzen

bes. Eigenschaften

1 1.5 2 2.5 3 3.5 4 4.5 5 5.5 6


Wichtigkeit (1: überhaupt nicht wichtig, 6: äusserst wichtig)

Grundsätzlich spielen die Selektionskriterien in den einzelnen Phasen des


Bewerbungsverfahrens eine unterschiedliche Rolle. In Abbildung 2 sind die
Mittelwerte für die Selektionskriterien differenziert nach den drei berück-
sichtigten Berufsfeldern dargestellt. Diese Mittelwerte setzen sich aus den
Mittelwerten verschiedener Items zusammen, die faktoranalytisch zu einem
reliablen Faktor gruppiert worden sind. Die Kriterien sind in der Reihenfol-
ge der Wichtigkeit sortiert. Einzig wurde aus inhaltlichen Gründen das Kri-
terium «entschuldigte Absenzen» direkt nach dem Kriterium «unentschul-
26 Selektionsprozesse beim Übergang in die Berufsbildung

digte Absenzen» platziert. Die unentschuldigten Absenzen bilden das wich-


tigste Selektionskriterium. Es lässt auf Devianzneigung und Schulmüdigkeit
schliessen, welche Berufsbildner zu einem Negativentscheid veranlassen.
Ebenfalls werden die Sozial- und Selbstkompetenzen als besonders wichtig
eingeschätzt, wichtiger als die Selektionshilfen wie Eindruck im Bewer-
bungsgespräch, Schnupperlehre, «Bauchgefühl» sowie Sorgfalt und Voll-
ständigkeit der Bewerbungsunterlagen. Vergleichsweise weniger wichtig be-
urteilen die Berufsbildner die schulischen Fachkompetenzen in Deutsch
und Mathematik.
Generell zeigen diese Ergebnisse, dass die Selektionskriterien unabhängig
von Betriebsgrösse, Kanton (Bern vs. Luzern) und Geschlecht des Berufsbil-
denden beurteilt werden. Alle Selektionskriterien werden aber zwischen den
drei Ausbildungsfeldern signifikant unterschiedlich wichtig bewertet. So
gelten beispielsweise Sozial- und Selbstkompetenzen im Handel als wichti-
ger als in den zwei anderen Berufsfeldern.
Auf einer sechsstufigen Skala mit den Polen 1 (überhaupt nicht wichtig) und
6 (äusserst wichtig) erreicht das Kriterium Motivation den höchsten Mittel-
wert (M=5.63), gefolgt von den Items Pünktlichkeit (M=5.48), Teamfähig-
keit (M=5.47), angenehme Umgangsformen (M=5.43), Fleiss und Pflicht-
bewusstsein (M=5.43) und Persönlichkeit (M=5.08). Eine hohe Motivation
ist für die Berufsbildner offenbar das wichtigste Selektionskriterium bei der
Lehrstellenvergabe überhaupt. Allerdings unterliegt diesem Ergebnis keine
präzise Definition von Motivation. Vermutlich bevorzugen Berufsbildner
Jugendliche, die sich im Betrieb engagiert, fleissig und kooperativ verhalten.
Die Ergebnisse zeigen, dass traditionelle Arbeitstugenden wie Pünktlichkeit,
Höflichkeit, Fleiss, gepflegtes Aussehen im Lehrstellenmarkt nach wie vor
gefragter sind als gute Noten in Deutsch und Mathematik. Dies gilt in allen
drei untersuchten Branchen, obwohl etliche Kriterien je nach Ausbildungs-
bereich unterschiedlich wichtig beurteilt werden. Interessanterweise unter-
scheiden sich diese Selektionskriterien nicht nach Betriebsgrösse.
Die Selektionskriterien gewichten vermutlich in den einzelnen Phasen des
Selektionsverfahrens unterschiedlich (vgl. auch Imdorf, 2007). Möglicher-
weise definieren unentschuldigte Absenzen und Zeugnisnoten, von welchen
die Berufsbildner aus den Bewerbungsunterlagen erfahren, ein erstes Aus-
schlusskriterium. Je nach Berufsfeld liegt diese Schwelle auf unterschiedli-
chem Niveau. Wenn diese Kriterien einen Minimalstandard der Berufsbild-
ner nicht erfüllen, erhalten die Jugendlichen die Lehrstelle nicht.
Motivation, Sozialkompetenz und Persönlichkeit spielen im Bewerbungsge-
Passung – ein Erfolgskriterium von Übergängen 27

spräch und in einem Assessment-Verfahren eine zentrale Rolle, werden aber


gemäss den vorliegenden Daten generell als besonders wichtig bewertet.

6 Passung – ein Erfolgskriterium von Übergängen

In der einschlägigen Literatur wurden immer wieder Kriterien für einen er-
folgreichen Übergang in die Berufsbildung postuliert. Häfeli & Schellen-
berg (2009, S. 7, vgl. auch in diesem Band) schlugen folgende Erfolgskrite-
rien vor: (1) das Finden eines Ausbildungsplatzes, (2) das Durchhalten in
der Lehre, (3) ein erfolgreicher Ausbildungsabschluss und (4) eine erfolgrei-
che berufliche Integration. Auch die Eidgenössische Erziehungsdirektoren-
konferenz (EDK) postulierte ein strukturelles Erfolgskriterium, nämlich das
Erreichen eines Abschlusses auf dem Niveau der Sekundarstufe II (Berufs-
lehre, Maturität). Im Unterschied dazu schlugen Berufswahltheorien (Hol-
land, 1973; Gottfredson, 2005) und neuere soziologische Theorien (Heinz,
2008) die Passung zwischen der Persönlichkeit des Jugendlichen und der
Ausbildungssituation vor: Unabhängig von Art und Prestige der Anschluss-
lösung ist der Übergang dann gelungen, wenn eine Passung zwischen den
Jugendlichen und der Ausbildung entsteht. In entwicklungspsychologischer
Perspektive präzisierten Eccles et al. (1993) diesen Ansatz anhand der «stage-
environment-fit» Theorie. Sie nehmen an, dass Passung einerseits eine An-
passungsleistung des Jugendlichen darstellt. Es ist eine Intelligenzleistung,
sich mit einer Situation so zu arrangieren, dass Menschen optimal funktio-
nieren. Damit sind sowohl eine kognitive wie auch eine soziale Anpassung
gemeint. Neben dem Individuum trägt aber auch die Gestaltung des Ausbil-
dungsplatzes wesentlich zur Passung bei. Eccles et al. forderten entsprechend
Ausbildungskontexte, Schulen und Lehrstellen, die mit dem Entwicklungs-
stand eines Jugendlichen kompatibel sind. Nach der Analyse von Eintritts-
bedingungen in mehrere Schulformen sollen im nächsten Schritt Bedingun-
gen der Passungswahrnehmung in der Sekundarstufe II beschrieben werden.
Korrelationsanalysen von Neuenschwander (eingereicht) mit Daten des
oben eingeführten Projekts FASE B zeigen, dass Jugendliche, die eine hohe
Passung mit ihrer Ausbildung und Arbeit wahrnehmen, motivierter und
produktiver arbeiten und lernen, zufriedener mit ihrer Ausbildung sind und
bessere Leistungen erbringen. Es stellt sich die Frage, welche individuellen
und kontextuellen Merkmale zur Passungswahrnehmung beitragen. Wie an-
gesprochen, dürften schulische Leistungen und soziale Kompetenzen zum
Entstehen der Passungswahrnehmung beitragen. Gleichzeitig sind auch die
28 Passung – ein Erfolgskriterium von Übergängen

Berufsbildner und Ausbildner aufgrund der Gestaltung des Ausbildungs-


platzes für die Passungswahrnehmung verantwortlich.

Abbildung 3: Biografische Determination der Passungswahrnehmung


(zusammenfassende Ergebnisse von stufenweisen Regressionsanalysen)

Geschlecht

Staatsangehörigkeit
Fähigkeitsselbst-
Gesamtnote konzept Dt /Math ns ns

Passung Passung
(-)
2
Konfliktlösungs- R = 25%
fähigkeit (-) Aggr. Verhalten (-)

6. Klasse 9. Klasse 10. Klasse 11. Klasse

Unter Beizug der Daten des Projekts FASE B wurden zahlreiche stufenwei-
se multiple Regressionsanalysen zur Vorhersage der Passungswahrnehmung
im 1. und 2. Jahr nach Abschluss der obligatorischen Schule durchgeführt
(ausführlicher in Neuenschwander, eingereicht). Die Passung wurde mit vier
Items wie zum Beispiel «die Lehre/die Schule ist für mich im Moment die
beste Lösung» operationalisiert. Die Ergebnisse sind zusammenfassend in
Abbildung 3 dargestellt. Sie zeigt, dass eine hohe Gesamtnote am Ende des
5. Schuljahrs zu einem hohen Fähigkeitsselbstkonzept in Deutsch und Ma-
thematik im 9. Schuljahr führt. Es handelt sich um eine Art Verinnerlichung
der schulischen Leistungsrückmeldungen ins fachliche Selbstkonzept. Auf
der anderen Seite sagt eine hohe selbstbeurteilte Konfliktlösungsfähigkeit im
sechsten Schuljahr geringes selbstbeurteiltes aggressives Verhalten im neun-
ten Schuljahr vorher. Jugendliche, die kompetent Konflikte mit Gleichaltri-
gen zu lösen fähig sind, greifen seltener auf ausagierende, sozial uner-
wünschte Konfliktlösestrategien wie Aggression zurück. Ein hohes
Fähigkeitsselbstkonzept in Deutsch und Mathematik sowie geringe aggres-
sive Verhaltenstendenzen sagen die Passungswahrnehmung im 10. Schuljahr
(d.h. 1. Lehrjahr, Mittelschule) voraus. Diese Passungswahrnehmung sagt
zudem die Passungswahrnehmung ein Jahr später vorher. Geschlecht und
Staatsangehörigkeit (Schweiz vs. nicht-Schweiz) erklären die Passungswahr-
nehmung zwei Jahre nach Schulaustritt nicht, aber das aggressive Verhalten.
Passung – ein Erfolgskriterium von Übergängen 29

Genauer: Bei Jugendlichen mit einer Neigung zu aggressivem Verhalten im


9. Schuljahr ist einerseits die Passungswahrnehmung ein Jahr nach Schul-
austritt tiefer und sie verschlechtert sich vom ersten zum 2. Jahr nach Schul-
austritt.
Die Ergebnisse zeigen, dass die Passungswahrnehmung sowohl von schuli-
schen als auch von sozialen Kompetenzen (Konfliktlösungsfähigkeit) abhän-
gen. In Übereinstimmung mit den Ergebnissen der oben erwähnten Berufs-
bildner-Befragung (Neuenschwander & Wismer, 2010) haben soziale
Kompetenzen im Lehrstellenmarkt offenbar einen hohen Stellenwert. Eben-
falls ist auf die hohe Stabilität der Passungswahrnehmung während der Be-
rufslehre hinzuweisen.
Allerdings erlauben diese Analysen keine Aussagen darüber, wie der Ausbil-
dungskontext die Passungswahrnehmung beeinflusst. Zur Beantwortung
dieser Frage wurden weitere stufenweise multiple Regressionsanalysen für
die Situation der Berufsbildung gerechnet und die Ergebnisse summarisch
in Abbildung 4 dargestellt (ausführlicher in Neuenschwander, eingereicht).
Dabei sollte untersucht werden, wie Arbeitsplatzmerkmale wie zum Beispiel
Neuartigkeit von Arbeitsaufträgen und Belastungen während der Arbeit die
Veränderung der Passungswahrnehmung vom ersten ins zweite Lehrjahr er-
klärten. Ausserdem sollte überprüft werden, ob das Prestige der Berufslehre
(operationalisiert mit der Standard Index of Occupational Prestige Scala,
SIOPS, nach Treiman, 1977), Geschlecht und Staatsangehörigkeit die Pas-
sungswahrnehmung erklärten.

Abbildung 4: Kontextfaktoren der Passungswahrnehmung in Berufslehren (zusammen-


fassende Ergebnisse von stufenweisen Regressionsanalysen)

Staatsangehörigkeit

Prestige Lehre ns Geschlecht


ns
Aktuelle schulische Noten Arbeitsplatz 2
Passung R = 43%
- Neuartigkeit
Konfliktlösungsfähigkeit - wenig Belastungen

Passung t-1
30 Schlussfolgerungen

Die Ergebnisse zeigen, dass die aktuellen Noten in der Berufsfachschule so-
wie die selbstbeurteilte Konfliktlösungsfähigkeit die Wahrnehmung des Ar-
beitsplatzes beeinflussen: Je nach schulischen Noten und Konfliktlösungs-
kompetenzen erleben Jugendliche ihren Arbeitsplatz als mehr oder weniger
neuartig oder belastend. Im Gegensatz zum Prestige der gewählten Berufs-
lehre erklären diese beiden Arbeitsplatzmerkmale die Veränderung der Pas-
sungswahrnehmung in hohem Mass (Varianzaufklärung 43%). Während
die Passungswahrnehmung nicht geschlechtsspezifisch ausgeprägt ist, be-
richten Einheimische über eine höhere Passungswahrnehmung als Auslän-
der. Die Ergebnisse zeigen, dass wahrgenommene Arbeitsplatzmerkmale wie
Abwechslung der Arbeitsaufträge und Arbeitsbelastungen in hohem Aus-
mass die Veränderung der Passungswahrnehmung beeinflussen. Die Jugend-
lichen vermögen zwar aufgrund einschlägiger schulischer und sozialer Kom-
petenzen zur Arbeitsplatzgestaltung beizutragen, doch dürften dafür die
Ausbildner in höherem Mass verantwortlich sein. Die Ergebnisse zeigen,
dass die Passungswahrnehmung zwar bereits aufgrund der Kompetenzen im
6. Schuljahr vorhersagbar ist, doch erlaubt der Einbezug der Arbeitsplatzge-
staltung eine bessere Vorhersage.
Aus diesen Ergebnissen folgt, dass Bedingungen und Folgen der Passung
und der Passungswahrnehmung in der Berufsbildung genauer untersucht
werden sollten. Möglicherweise bilden sie ein Schlüsselkonzept für das Ver-
ständnis der Transitionsprozesse von der Schule in den Beruf.

7 Schlussfolgerungen

Die Ergebnisse verweisen auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Se-


lektion für die Sekundarstufe I und II. Eine Gemeinsamkeit liegt darin, dass
neben fachlichen Kompetenzen und der familiären Unterstützung soziales
Verhalten und soziale Kompetenzen bei beiden Schulübergängen in die Se-
kundarstufe I und in die Berufsbildung eine zentrale Rolle spielen. Dieser
Befund trat sowohl beim strukturellen Kriterium der Anschlusslösung
(Schulniveau) auf wie auch beim subjektiven Kriterium der Passungswahr-
nehmung in der Sekundarstufe II. Überdies weisen längsschnittliche Daten-
analysen sowie Aussagen von Berufsbildnern über die Lehrstellenvergabe in
die gleiche Richtung. Schulische Selektionsprozesse basieren nicht nur auf
fachlichen Leistungen, sondern auch auf sozialen Kompetenzen und sozia-
lem Verhalten. Was wir von der Stellenvergabe im Arbeitsmarkt längst wis-
Schlussfolgerungen 31

sen, hat sich nun auch für Bildungsverläufe bestätigt. Immerhin dürften
beim Übergang in die Sekundarstufe I die fachlichen Noten wichtiger sein
als soziales Verhalten. Beim Übergang in die Berufsbildung dürften sich hin-
gegen fachliche und soziale Kompetenzen die Waage halten – bei grossen
Unterschieden je nach Ausbildungsfeld. Müsste demnach Meritokratie so
gefasst werden, dass diejenigen Jugendlichen schulisch Karriere machen, die
kognitiv und sozial besonders kompetent sind?
Offenbar schliesst eine schulische Vorbereitung der Jugendlichen auf die Be-
rufsbildung die Förderung von sozialen Kompetenzen ein. In der Tat obliegt
Schulen ein Erziehungsauftrag, nicht nur um die Voraussetzungen für fach-
liches Lernen in der Schülerschaft zu sichern sowie Gewalt und Suchtmittel-
konsum vorzubeugen, sondern auch um soziale Kompetenzen von Jugend-
lichen zu fördern und damit ihre Lebenstüchtigkeit in Beruf, Familie und
Öffentlichkeit zu erhöhen. Diese Förderung kann sich angesichts der hohen
Bedeutung nicht auf die Gestaltung von sozialen Lernsettings (Klassenzu-
sammensetzung, Zusammensetzung von Gruppen bei Lernaufgaben) und
Klassenführung beschränken, sondern schliesst die gezielte Anleitung und
Instruktion von sozialem Verhalten ein. Wenn Kinder gemeinsam lernen,
entwickeln sie nicht notwendigerweise die gewünschten sozialen Kompe-
tenzen, soziales Lernen in der Schule ist in hohem Ausmass latentes, unre-
flektiertes Lernen. Leider gibt es nicht sehr viele Hilfsmittel und Trainings-
programme für Lehrpersonen, die soziales Lernen in der Schule geplant
fördern (vgl. etwa Petermann et al., 2007; Malti & Perren, 2008). Vielmehr
ist es in hohem Mass den Gleichaltrigen bzw. den Eltern überlassen, welche
sozialen Kompetenzen Kinder und Jugendliche erwerben.
Eine zweite Schlussfolgerung ergibt sich zur Struktur von Bildungssyste-
men. Unsere Daten zeigen, dass Bildungsabschlüsse früh festgelegt sind. Es
gelingt aufgrund der Bildungserwartungen der Eltern, deren sozialen
Schicht und den schulischen Leistungen der Kinder den Bildungsabschluss
am Ende der Sekundarstufe II frühzeitig recht präzis vorherzusagen. Mögli-
cherweise ist zwar für die Geradlinigkeit von Bildungsverläufen primär die
Konstanz von personalen und familiären Ressourcen der Kinder verantwort-
lich (schulische Leistungen, stabile Elternunterstützung). Gleichwohl ist zu
befürchten, dass ein strukturiertes Bildungssystem, das nur geringe Durch-
lässigkeit zulässt, die Kanalisierung von Bildungswegen verstärkt. Immerhin
ist in Transitionssituationen eine gewisse Flexibilität und Durchlässigkeit
möglich. Überdies hat sich das Schweizer Bildungssystem geöffnet, Durch-
lässigkeit ist erhöht worden, vielfältige Anschlusslösungen bei Schulüber-
32 Literatur

gängen nach Austritt der Volksschule wurden geschaffen. Damit wurden im-
merhin die Restriktionen in Bildungsverläufen seitens der Bildungsangebo-
te verkleinert.

Literatur
Baumert, J., Artelt, C., Klieme, E., Neubrand, M., Prenzel, M., Schiefele, U., et al. (Eds.).
(2002). PISA 2000 – Die Länder der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich. Opladen:
Leske & Budrich.
Boudon, R. (1974). Education, opportunity, and social inequality: Changing prospects in
Western society. New York.
Eccles, J. S., Midgley, C., Wigfield, A., Buchanan, C. M., Reuman, D., Flanagan, C., et al.
(1993). Development during adolescence: The impact of stageenvironment fit on young ado-
lescents’ experiences in schools and in families. American Psychologist, 48, S. 90–101.
Eccles, J. S. (2005). Subjective task value and the Eccles et al. Model of Achievement-Rela-
ted Choices. In: Elliot, A. J., Dweck, C. S. (Eds.), Handbook of Competenece and Motiva-
tion (S. 105–121). London: Guilford Press.
Epstein, J. L., Sanders, M. G., Simon, B. S., Salinas, K. C., Jansorn, N. R., Van Voorhis, F.
L. (2002). School, Family, and Community Partnerships: Your Handbook for Action. Thou-
sand Oaks, CA: Corwin Press.
Gerber-Schenk, M., Rottermann, B., Neuenschwander, M. P. (2010). Passungswahrneh-
mung, Selbstkonzept und Jugendarbeitslosigkeit. In: Neuenschwander, M. P., Grunder, H.-
U. (Eds.), Schulübergang und Selektion. Chur: Rüegger.
Gottfredson, L. S. (2005). Applying Gottfredson’s Theory of Circumscription and Compro-
mise in Career Guidance and Counseling. In: Brown, S. D., Lent, R. W. (Eds.), Career De-
velopment and Counseling. Putting Theory and Research to Work (S. 71–100). Hoboken:
John Wiley & Sons.
Hackett, G. (1995). Self-efficacy in career choice and development. In: Bandura, A. (Ed.),
Self-efficacy in changing societies (S. 232–258). Cambridge: Cambridge University Press.
Häfeli, K., Schellenberg, C. (2009). Erfolgsfaktoren in der Berufsbildung bei gefährdeten Ju-
gendlichen. Bern: EDK.
Häfeli, K., Schellenberg, C. (2010). Resilienz, Risiko- und Schutzfaktoren beim Übergang
von der Schule ins Berufsleben. In: Neuenschwander, M. P., Grunder, H.-U. (Eds.), Schul-
übergang und Selektion. Chur: Rüegger.
Holland, J. L. (1973). Making vocational choices, a theory of careers. Englewood Cliffs:
Prentica-Hall.
Literatur 33

Heinz, W. (Ed.). (2000). Übergänge: Individualisierung, Flexibilisierung und Institutionali-


sierung des Lebensverlaufs. Weinheim: Juventa.
Heinz, W. R. (2008). Ausbildung, Arbeit und Beruf. In: R. K. Silbereisen, Hasselhorn, M.
(Eds.), Entwicklungspsychologie des Jugendalters (S. 255–290). Göttingen: Hogrefe.
Henderson, A. T., Berla, N. (Eds.). (2004). A new Generation of Evidence. The Family is
Critical to Student Achievement. US: National committee for citizens in education.
Herzog, W., Neuenschwander, M. P., Wannack, E. (2006). Berufswahlprozess. Wie sich Ju-
gendliche auf ihren Beruf vorbereiten. Bern: Haupt.
Holland, J. L. (1973). Making vocational choices, a theory of careers. Englewood Cliffs:
Prentica-Hall.
Imdorf, C. (2007). Die relative Bedeutsamkeit von Schulqualifikationen bei der Lehrstellen-
vergabe in kleineren Betrieben. In: Eckert, T. (Ed.), Übergänge im Bildungssystem (S. 183–
197). Münster: Waxmann.
Kronig, W. (2007). Die systematische Zufälligkeit des Bildungserfolgs. Bern: Haupt.
Lent, R. W. (2005). A social cognitive view of career development and counseling. In: Brown,
S. D., Lent, R. W. (Eds.), Career Development and Counseling. Putting Theory and Re-
search to Work (S. 101–130). Hoboken: John Wiley & Sons.
Maaz, K., Hausen, C., McElvany, N., Baumert, J. (2006). Stichwort: Übergänge im Bil-
dungssystem. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 9(3), S. 299–327.
Malti, T., Perren, S. (Eds.). (2008). Soziale Kompetenz bei Kindern und Jugendlichen. Stutt-
gart: Kohlhammer.
Neuenschwander, M. P. (2003). Bildungserwartungen und Identitätsstatus. Längsschnitter-
gebnisse zur Abstimmung von schulischen Erwartungen zwischen Jugendlichen und Lehr-
personen. In: Reinders, H., Wild, E. (Eds.), Jugendzeit – time out? Die Ausgestaltung des Ju-
gendalters als Moratorium (S. 219–234). Opladen: Leske & Budrich.
Neuenschwander, M. P. (2007). Bedingungen und Anpassungsprozesse bei erwartungswidri-
gen Bildungsverläufen. In: Eckert, T. (Ed.), Übergänge im Bildungswesen (S. 83–104).
Münster: Waxmann.
Neuenschwander, M. P., Garrett, J. L. (2008). Causes and Consequences of Unexpected Edu-
cational Transitions in Switzerland. Journal of Social Issues, 64(1), S. 41–57.
Neuenschwander, M. P., Malti, T. (2009). Selektionsprozesse beim Übergang in die Sekun-
darstufe I und II. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 12(2), S. 216–232.
Neuenschwander, M. P. (2009). Systematisch benachteiligt? Ergebnisse einer Studie zu Bil-
dungssystem und -beteiligung. Pädagogische Führung, 20(3), S. 36–39.
Neuenschwander, M. P., Wismer, N. (2010). Selektion von Lernenden in der Berufsbildner-
perspektive. Panorama.
34 Literatur

Neuenschwander, M. P. (eingereicht). Passungswahrnehmung nach dem Übergang in die Se-


kundarstufe II.
Petermann, F., Koglin, U., Natzke, H., von Marées, N. (2007). Ein Präventionsprogramm
zur Förderung emotionaler und sozialer Kompetenzen. Göttingen: Hogrefe.
Treiman, D. J. (1977). Occupational Prestige in Comparative Perspective. New York: Acade-
mic Press.
Wettstein, E., Gonon, P. (2009). Berufsbildung in der Schweiz. Bern: hep.
35

Effekte der sozialen Herkunft auf die Schulformwahl


beim Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe

Hartmut Ditton, Jan Krüsken

Abstract

Mit den Daten einer Stichprobe aus Bayern und Sachsen werden die Über-
gänge von der Grundschule in die weiterführenden Schulen (Hauptschule,
Realschule, Gymnasium) in Abhängigkeit von den Empfehlungen zum
Schulübertritt durch die Lehrkräfte und dem Anmeldeverhalten der Eltern
untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass der weitaus grösste Teil der Eltern
das Kind an der Schulform anmeldet, für die von der Lehrkraft eine Emp-
fehlung ausgesprochen wurde. Anmeldung an einer höheren Schulform als
der empfohlenen nehmen eher Eltern der oberen sozialen Schichten vor,
hinter der Empfehlung zurück bleiben eher Eltern der unteren Schichten.
Bei den abweichenden Schulanmeldungen kommt den früheren Bildungs-
aspirationen der Eltern, ihrer Einschätzung zur Erfolgswahrscheinlichkeit
auf den höheren Schulen sowie der Beratung durch die Lehrkraft eine be-
sondere Bedeutung zu. Das damit deutlich werdende Zusammenspiel von
institutionellen Regelungen und Entscheidungsverhalten der Eltern bietet
Anlass, die in der Forschung zum Verlauf von Bildungskarrieren dominie-
rende Ausrichtung an Rational-Choice-Modellen kritisch zu hinterfragen.

1 Schulübergänge – Grundlagen und Fragestellung


der Untersuchung

Übergänge im Bildungssystem haben eine hohe Bedeutung für den Verlauf


von Bildungskarrieren. Besonders in gegliederten Schulsystemen sind sie
wichtige Weichenstellungen, da mit ihnen Vorentscheidungen bezüglich der
erreichbaren Schulabschlüsse getroffen werden (Blossfeld, 1988). Wechsel
zwischen einmal gewählten Schulformen finden in der schulischen Lauf-
bahn vergleichsweise selten statt und wenn, dann eher von oben nach unten
(Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2008). Auch die zunehmend

Ditton, H., Krüsken, J. (2010). Effekte der sozialen Herkunft auf die Schulformwahl beim Übergang von der Primar- in die Sekun-
darstufe. In: M. P. Neuenschwander, H.-U. Grunder (Hrsg). Schulübergang und Selektion (pp. 91–108). Chur: Rüegger.
36 Schulübergänge – Grundlagen und Fragestellung der Untersuchung

besser gegebenen Möglichkeiten, Abschlüsse im weiteren Bildungsverlauf


nachzuholen, und die partiell vorhandene Entkopplung von besuchter
Schulform und erreichbarem Abschluss heben die hohe Bedeutung des
Übergangs von der Primar- in die Sekundarstufe nicht auf (Baumert, Traut-
wein & Artelt, 2003). Die Situation in der Schweiz und Deutschland stellt
sich in dieser Hinsicht sehr ähnlich dar.
Der Schulübergang nach der Primarstufe und die dafür gültigen Regelungen
erfahren daher viel Aufmerksamkeit und stehen immer wieder zur Diskussi-
on. Sowohl in den Kantonen der Schweiz als auch in den Ländern Deutsch-
lands existiert eine Vielzahl teils sehr unterschiedlicher Regelungen für das
Übertrittsverfahren. Die endgültige Entscheidung über den Zugang zu einer
höheren Schulform kann dabei primär bei der Schule oder bei den Eltern
liegen, eine Abstimmung zwischen beiden Seiten, z.B. ein Beratungsge-
spräch, ist allerdings nahezu immer vorgesehen. Die zentrale Entschei-
dungsgrundlage sollen in dem Verfahren die in der Grundschule erzielten
schulischen Leistungen darstellen, weshalb üblicherweise bestimmte Noten-
grenzen für den Zugang in die höheren Schulformen gelten oder zumindest
empfohlen werden, wenn die Entscheidung vorrangig bei den Eltern liegt.
In den Übergangsregelungen wird allerdings auch häufig hervorgehoben,
dass ein schematisches Vorgehen vermieden und die Gesamtpersönlichkeit
des Schülers bzw. der Schülerin gewürdigt werden soll. So ist in einer Ver-
einbarung der Kultusminister in Deutschland die Rede davon, dass die für
den Schulerfolg wichtigen allgemeinen Fähigkeiten und das jeweilige Umfeld,
die Lernausgangslagen und die Lernmöglichkeiten der Schülerinnen und Schü-
ler mit zu berücksichtigen seien (KMK – Sekretariat der Ständigen Konfe-
renz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland,
2003). In diesem Zusammenhang spielen beim Übergang teilweise auch
Wortgutachten, Testergebnisse bzw. Aufnahmeverfahren (Prüfungen, Pro-
beunterricht) eine massgebliche Rolle. Insgesamt deutet die Pluralität der
Verfahrensregelungen und die Unterschiedlichkeit der herangezogenen In-
formationen auf eine nicht unerhebliche Unsicherheit hin, wie das Verfah-
ren am besten zu gestalten sei.
Im wissenschaftlichen Kontext werden zur Erklärung der Wahl von Bil-
dungslaufbahnen vorwiegend Rational-Choice-Modelle herangezogen
(Maaz, Hausen, McElvany & Baumert, 2006). Die grundlegende Annahme
in diesen Modellen besteht darin, dass Akteure bei den anstehenden Ent-
scheidungen die erwarteten Erträge und Kosten sowie die Erfolgswahr-
scheinlichkeit bei der Wahl einer Laufbahn gegeneinander abwägen. Wie
und wann diese Kalkulation im Einzelnen erfolgt, ist nicht wirklich geklärt,
Schulübergänge – Grundlagen und Fragestellung der Untersuchung 37

da für keinen der drei relevanten Faktoren (Ertrag, Kosten, Erfolgswahr-


scheinlichkeit) exakte Zahlenwerte bestimmt werden können; vielmehr han-
delt es sich um subjektiv eingeschätzte und nicht eindeutig quantifizierte
Grössen. Insofern überrascht es nicht, dass sich teilweise harsche Kritik an
den Modellannahmen und ihrer Anwendbarkeit in der realen Welt findet
(Coleman & Fararo, 1992). Ohne darauf im Einzelnen eingehen zu können,
sind einige Aspekte hervorzuheben, die für die nachfolgenden Analysen von
Bedeutung sind (Ditton, 2007a): Wie bereits oben erwähnt, setzt die Ent-
scheidung beim Schulübertritt ein in irgendeiner Form abgestimmtes Han-
deln zwischen den Lehrkräften (bzw. der institutionellen Seite) und den El-
tern voraus. Diese Handlungsabstimmung kann indessen nicht beliebig
erfolgen, sondern muss sich an den jeweils gültigen Verfahrensregeln orien-
tieren. Besonders sind die in nahezu allen Fällen definierten Notengrenzen
für den Übertritt mit zu berücksichtigen. Dabei darf nicht übersehen wer-
den, dass es sich bei Schullaufbahnentscheidungen um längerfristige Prozes-
se handelt und nicht um eine mehr oder weniger spontan erst am Ende der
Primarstufe erfolgende Güterabwägung.
Im Rahmen der Längsschnittstudie Kompetenzaufbau und Laufbahnen im
Schulsystem (KOALA-S) geht es daher darum, die bei der Schulformwahl ab-
laufenden Prozesse in längerfristiger zeitlicher Perspektive nachzuzeichnen
(Ditton, 2007b). Dabei wurde mit Daten der zweiten Erhebungswelle, die
in Deutschland in den Bundesländern Bayern und Sachsen stattfand, bereits
gezeigt, dass in vielen Fällen (60%–70%) bereits nach der zweiten Klassen-
stufe feststeht, welche Schullaufbahn gewählt wird (Ditton & Krüsken,
2009). Sehr häufig fällt dabei die Entscheidung weder den Lehrkräften noch
den Eltern besonders schwer. Schwierig wird eine Entscheidungssituation in
erster Linie dann, wenn das Leistungsniveau des Kindes uneindeutig ist. Für
die Lehrkraftempfehlungen spielen in diesem Fall mehrere Faktoren eine
Rolle: Sie beziehen Einschätzungen zur Begabung der Schüler ein, orientie-
ren sich an Schülermerkmalen (Schüchternheit, schulisches Interesse), be-
rücksichtigen auch die Schuleinstellung und Schulformwahl der Freunde
des Kindes und dessen eigenen Schulformwunsch. Von Bedeutung ist auch,
wie die Lehrkräfte die Unterstützungsmöglichkeiten der Eltern einschätzen.
Daneben wirken sich auch Merkmale und Entscheidungsstrategien der
Lehrkraft auf die erteilten Schulformempfehlungen aus (Ditton & Krüsken,
2009; Pohlmann, 2009).
Während in den genannten Analysen der KOALA-Daten die Empfehlungen
der Lehrkräfte im Mittelpunkt standen, geht es in den nachfolgenden Ana-
lysen um die Untersuchung der nächsten Etappe im Übergangsverfahren:
38 Schulübergänge – Grundlagen und Fragestellung der Untersuchung

die Umsetzung der Empfehlungen in Schulanmeldungen, die die Eltern vor-


nehmen. Wie viele Eltern folgen der Empfehlung, wie viele weichen davon
ab? Welche Faktoren sind geeignet, abweichende Anmeldungen zu erklären?
Bezüglich dieser Fragen gehen wir von den folgenden Erwartungen für die
untersuchten Stichproben in Bayern und Sachsen aus:
In Sachsen sind weniger von der Empfehlung abweichende Schulanmeldun-
gen durch die Eltern zu erwarten als in Bayern. Zum einen schon deshalb,
weil in Sachsen nur zwei (Mittelschule, Gymnasium), in Bayern dagegen
drei Optionen (Hauptschule, Realschule, Gymnasium) wählbar sind. Zum
anderen könnte eine von den Eltern antizipierte höhere Durchlässigkeit zwi-
schen der Mittelschule und dem Gymnasium in Sachsen ein Grund sein,
weniger von den Empfehlungen der Lehrkräfte abzuweichen.
Unabhängig vom Bundesland erscheint es als vergleichsweise riskant, von
der Lehrkraftempfehlung nach oben abzuweichen. Diese Option dürfte eher
für Eltern mit höherem sozialem Status und besserer Kapitalausstattung in
Frage kommen. Ein Zurückbleiben hinter der Empfehlung, um eventuelle
Risiken zu umgehen, ist dagegen eher für untere soziale Gruppen zu erwar-
ten (Bourdieu, Boltanski, de Saint Martin & Maldidier, 1981). Entspre-
chende Befunde finden sich auch in den bisherigen Analysen unserer Daten.
Es ist davon auszugehen, dass abweichende Anmeldungen von entsprechen-
den früheren Bildungsaspirationen der Eltern begleitet werden. Da die
Übergangsentscheidung eher als langfristiger Prozess denn als einmalige
Entscheidung zu verstehen ist, könnten die Statuseffekte auf die Anmeldung
aufgrund der entsprechenden, relativ früh feststehenden elterlichen Aspira-
tionen vermittelt sein. Zusätzlich sollte dabei die Einschätzung der Erreich-
barkeit des gewünschten Schulabschlusses durch die Eltern eine zentrale
Rolle spielen und schliesslich auch die Instrumentalität des an der gewähl-
ten Schulform erreichbaren Schulabschlusses zum Erhalt der erreichten so-
zialen Position.
Ein weiterer Einflussfaktor, den wir berücksichtigen, ist die Beratung der El-
tern durch die Lehrkraft. Nahezu alle Eltern der Stichprobe, sowohl in Sach-
sen als auch in Bayern, haben an einem persönlichen Beratungsgespräch mit
der Lehrkraft teilgenommen. Teilweise wurde den Eltern in diesem Ge-
spräch der Besuch einer anderen als der offiziell empfohlenen Schulform na-
hegelegt. Dies kann dadurch bedingt sein, dass ein bestimmter Notenschnitt
formal zwar für eine Schulform berechtigt, die Lehrkraft aber dennoch eine
andere Schulform für besser geeignet hält.
Anlage der Studie 39

Schliesslich wird berücksichtigt, dass die Schulformentscheidung dann als


weniger gravierend wahrgenommen werden müsste, wenn die Eltern davon
überzeugt sind, dass ein höherer Abschluss auch später noch nachgeholt
werden kann, und damit die aktuelle Entscheidung spätere höhere Bil-
dungsoptionen nicht ausschliesst.

2 Anlage der Studie

Die Längsschnittstudie Kompetenzaufbau und Laufbahnen im Schulsystem


(KOALA-S) untersucht in einer Stichprobe sächsischer und bayrischer
Grundschulklassen den Erwerb schulischer Kompetenzen und den Prozess
des Übergangs in die Sekundarstufe im Längsschnitt. In der vorliegenden
Stichprobe wurden, seit dem Schuljahr 2005, beginnend zum Ende der
zweiten Jahrgangsstufe (T1) zu drei Erhebungszeitpunkten (Jahrgangsstufe
3=T2, Jahrgangsstufe 4=T3) jeweils zum Schuljahresende die Fachleistun-
gen der Schüler in Deutsch und Mathematik, zusammen mit Lehrerurteilen
zu Schülerleistungen, Zeugnisnoten und übergangsbezogenen Einschätzun-
gen erfasst. Daneben wurden zu jedem Messzeitpunkt schriftliche Befragun-
gen der Schüler und Eltern durchgeführt.
Vom ersten bis zum dritten Erhebungszeitpunkt 2007 nahmen 77 Schul-
klassen (N=1453 Schüler) an allen drei Erhebungen teil (Sachsen: 35 Schul-
klassen mit n=582 Schülern; Bayern: 42 Schulklassen mit n=871 Schülern).
Für die folgenden Analysen wurden die Daten der Probanden herangezogen,
für die im Längsschnitt alle relevanten Informationen einschliesslich der An-
gaben zur Schulanmeldung durch die Eltern verfügbar sind. Dies ist eine
Stichprobe von N=1208 Schülern (83% der Stichprobe von T1; in SN
N=454 und in BY N=754).
Aus den Befragungsdaten der Eltern verwenden wir die Angaben zu den
Bildungsaspirationen zu T1 und T2, erwartungs- und wertbezogene Urteile
zu den verfügbaren Bildungsgängen, Angaben zur vorgenommenen Schul-
anmeldung und dem Sozialstatus der Eltern. Kennwerte und Beispielitems
der verwendeten Skalen finden sich in einer Tabelle im Anhang. Aus der Be-
fragung der Lehrkräfte am Ende der vierten Jahrgangsstufe stammen die
Angaben zur formal erteilten Schulempfehlung und zum Bildungsgang. Die
formale Empfehlung der Lehrkraft hat für die Eltern in Bayern eine erheb-
liche Bindungskraft. Der Besuch einer höheren Schulform als der empfoh-
lenen ist nur möglich, wenn das Kind erfolgreich an einem mehrtägigen
40 Anlage der Studie

Probeunterricht an der gewünschten Schulform teilnimmt. In Sachsen war


es für die Eltern zum Zeitpunkt der Erhebung möglich, sich auch gegen den
Rat der Lehrkraft für den Besuch eines Gymnasiums zu entscheiden; inzwi-
schen wurde diese Regelung geändert.
In Bayern bestand im Erhebungszeitraum die Möglichkeit, für das Gymna-
sium oder die Realschule bedingte bzw. eingeschränkte Empfehlungen aus-
zusprechen. Bei Berücksichtigung dieser Differenzierung ergibt sich eine
Einteilung in fünf Empfehlungsgruppen (HS, bedingt RS, RS, bedingt GY
und GY geeignet), durch die der mittlere Leistungsbereich weiter differen-
ziert werden soll. Allerdings wird sowohl den bedingt realschul- als auch den
bedingt gymnasialgeeigneten Schülern und den «uneingeschränkt» real-
schulgeeigneten Schülern jeweils mehrheitlich von den Lehrkräften der Re-
alschulbesuch angeraten (zu über 80%). Das Prädikat der «bedingten» Eig-
nung wird daher im Folgenden nicht berücksichtigt und bedingte
Realschul- und Gymnasialempfehlungen werden zur Kategorie Realschul-
empfehlung zusammengefasst. Stattdessen wird neben der dreistufigen
Schulempfehlung zusätzlich der von der Lehrkraft angeratene Bildungsgang
berücksichtigt.

Merkmale der sozialen Herkunft. Der Bildungsstatus der Schülereltern wurde


über die Angaben der Elternbefragungen ermittelt. Die Abschlüsse wurden
zu drei Kategorien zusammengefasst («nicht höher als Hauptschule», «mitt-
lerer Abschluss bis Klasse 10», «Hochschulreife/Abitur»). Für die Analysen
verwendet wird der höchste erreichte Abschluss im Haushalt. Die berufliche
Position der Eltern wurde über eine offene Angabe zum ausgeübten Beruf
und geschlossene Angaben zur Sozialversicherungsklasse, der Weisungsbe-
fugnis und dem zeitlichen Umfang der Tätigkeit erfasst. Aus diesen Anga-
ben wurde der sozioökonomische Status (ISEI) gebildet (Ganzeboom, de
Graaf & Treiman, 1992). Bezüglich der Verteilung des ISEI ergeben sich
Länderunterschiede: Der mittlere ISEI liegt in Bayern über dem Wert in
Sachsen, die Streuung ist dagegen gleich (M=46.0 vs. M=43.3; SD=16.3).
Das Haushaltsnettoeinkommen der Schülerfamilien wurde im Elternfragebo-
gen über ein Item mit geschlossenen Antwortvorgaben zu neun aufsteigen-
den Einkommensgruppen erfasst. Die Verteilung auf die Einkommensgrup-
pen unterscheidet sich zwischen beiden Ländern ebenfalls. Während in
Sachsen 30% der Familien angeben, ein monatliches Nettoeinkommen von
unter 1500 € zur Verfügung zu haben, sind dies in Bayern nur etwa 15%.
Über 3000 € im Monat verdienen in Sachsen nur 17%, in Bayern dagegen
29% aller Eltern.
Schulanmeldungen am Ende der Grundschulzeit 41

Entsprechend der Konzeption des ISEI-Index zeigen sich deutliche Bezie-


hungen zwischen dem sozioökonomischen Status der Eltern und deren Bil-
dungsstatus (r=.51) sowie dem Haushaltseinkommen (r=.48). Die Bezie-
hung zwischen dem Einkommen und dem Bildungsstatus der Eltern fällt
etwas geringer aus (r=.37). Wir verwenden in den nachfolgenden Analysen
alle drei Indikatoren für das Konstrukt «soziale Herkunft», da die drei Indi-
katoren neben einem gemeinsamen Varianzanteil jeweils noch spezifische
Dimensionen sozialer Ungleichheit in der Stichprobe abbilden.
Die Muttersprache der Kinder und der Migrationshintergrund der Eltern
wurden ebenfalls erfasst. Allerdings wird im Folgenden nicht weiter darauf
eingegangen, da einerseits beide Merkmale in der sächsischen Stichprobe zu
geringe Fallzahlen für die Analysen aufweisen und sich andererseits in der
bayerischen Stichprobe zeigt, dass sich keine eigenständigen Effekte der mi-
grationsbezogenen Merkmale mehr finden, wenn die übrigen Merkmale der
sozialen Herkunft kontrolliert werden.

3 Schulanmeldungen am Ende der Grundschulzeit

Nach Erhalt der Übertrittsempfehlungen müssen die Eltern sich für eine Se-
kundarschulform entscheiden. Ausgangspunkt der Analysen ist deshalb die
Verteilung der Schulempfehlungen in beiden Ländern. In Sachsen erhalten
46% der befragten Eltern eine Gymnasial- und 54% der Eltern eine Mittel-
schulempfehlung. 41% aller Eltern melden ihr Kind an einem Gymnasium
an, 59% an einer Mittelschule. In Bayern erhalten 44% der Kinder eine
Gymnasial-, 27% eine Real- und 29% eine Hauptschulempfehlung von der
Lehrkraft. Die Quoten der Schulanmeldungen durch die Eltern entsprechen
fast diesen Empfehlungsquoten (GY/RS/HS 43%/28%/29%). Dies bedeu-
tet allerdings nicht, dass in Bayern nur empfehlungskonforme Anmeldun-
gen erfolgen, vielmehr halten sich abweichende höhere und tiefere Schulan-
meldungen in etwa die Waage.
Um die Schulanmeldungen in Relation zur vorliegenden Schulartempfeh-
lung zu untersuchen, wurde aus beiden Merkmalen eine kombinierte Grup-
penvariable gebildet. Die sich daraus ergebenden Anmeldegruppen in bei-
den Ländern zeigt Abbildung 1. In der bayrischen Teilstichprobe melden
81% aller Eltern ihre Kinder konform mit der erhaltenen Empfehlung an,
in Sachsen sind es sogar 91% aller Eltern. In der Abbildung sind dies die
Gruppen «GY wie empfohlen», «RS wie empfohlen», «HS wie empfohlen».
Ein direkter Vergleich der abweichenden Anmeldungen zwischen den Län-
42 Schulanmeldungen am Ende der Grundschulzeit

dern ist nur bei der Entscheidung zwischen Gymnasium und mittlerem
Schulzweig möglich: Nicht ausgenutzte Gymnasialempfehlungen sind in
beiden Ländern mit 8% aller Fälle gleich stark vertreten. Die Gruppe der
Schüler, die bei einer Empfehlung für den mittleren Schulzweig trotzdem
auf ein Gymnasium angemeldet wird, ist in Sachsen deutlich kleiner als in
Bayern («GY statt RS» in SN 2% vs. in BY 7%).
Aufgrund des dreigliedrigen Schulsystems ergeben sich in Bayern zusätzliche
Möglichkeiten, von der Schulempfehlung abzuweichen, die allerdings recht
selten vorkommen: 2% aller Eltern wählen bei einer Realschulempfehlung
die Hauptschule und weitere 2% wählen anstatt der empfohlenen Haupt-
schule die Realschule. Im Folgenden werden die Elterngruppen, die mit der
Schulanmeldung von der Empfehlung abweichen, untersucht. Als Ver-
gleichsgruppen werden dazu jeweils diejenigen Eltern mit gleicher Schul-
empfehlung und konformer Schulanmeldung herangezogen.

Abbildung 1: Schulanmeldungen differenziert nach Schulempfehlungen in Bayern und


Sachsen
Sachsen Bayern
GY wie empfohlen n=175, 39% n=271, 36%

GY statt RS n=92%, 2% n=52%, 7%

RS statt GY n=35, 8% n=57, 8%

RS wie empfohlen n=235, 52% n=142, 19%

RS statt HS n=15, 2%

HS anstatt RS n=12, 2%

HS wie empfohlen n=205, 27%

10% 20% 30% 40% 50% 10% 20% 30% 40% 50%
Prozente Prozente

(Erläuterung: HS = Hauptschule, RS = Real/ bzw. Mittelschule; GY = Gymnasium)

Sozialer Status der Eltern. In einer ersten Erhebung zeigten sich anhand ei-
ner bayrischen Stichprobe aus den Jahren 2003 bis 2004 bereits klare Effek-
te des sozialen Status auf die Umsetzung der erhaltenen Übertrittsempfeh-
lung in Schulanmeldungen. Eltern der oberen Sozialschichten nahmen
häufiger höhere Schulanmeldungen als empfohlen vor; Eltern aus den unte-
ren Schichten neigten häufiger dazu, trotz höherer Empfehlung eine niedri-
gere Schulform zu wählen.
Schulanmeldungen am Ende der Grundschulzeit 43

Abbildung 2 zeigt die Umsetzung der erteilten Schulempfehlungen in Ab-


hängigkeit vom sozialen Status der Eltern. Abgebildet ist jeweils der Pro-
zentsatz von der Schulformempfehlung abweichenden Anmeldungen mit
Gymnasial- und mit mittlerer Schulempfehlung. Komplementär dazu ergibt
sich der Anteil der empfehlungskonformen Anmeldungen als Differenz zu
100% in jeder Statusgruppe. In Sachsen melden Eltern der oberen Schicht
bei einer Gymnasialempfehlung ihre Kinder zu 91% konform an, in der un-
teren Statusgruppe beträgt diese «Ausschöpfungsquote» nur 78%. Bei Vor-
liegen einer Mittelschulempfehlung bestehen dagegen kaum Unterschiede
zwischen den Statusgruppen in Bezug auf die vorgenommenen Anmeldun-
gen. In Bayern finden sich ähnliche Schichteffekte wie in Sachsen in Bezug
auf die ungenutzten Gymnasialempfehlungen: In der unteren ISEI-Gruppe
erfolgen konforme Gymnasialanmeldungen nur zu 63%, in der oberen
Gruppe dagegen zu 91%. Zusätzlich findet sich in Bayern ein spiegelbildli-
cher Effekt in Form höherer Anmeldungen bei Vorliegen einer Realschul-
empfehlung: Diese werden in der unteren Statusgruppe nur zu 9% vorge-
nommen, in der oberen Statusgruppe dagegen zu 39%. Nicht abgebildet
sind die Abweichungsquoten der Schüler mit Hauptschulempfehlung. Hier-
bei finden sich keine Schichteffekte in Bayern.

Abbildung 2: Anteile abweichender Schulanmeldungen nach Sozialstatus in Sachsen


und Bayern (Prozentualer Anteil der Eltern innerhalb der Statusgruppen)
50 GY bei mittlerer
45 Empfehlung (MI/RS)
40 38,5
36,5 ungenutzte GY-
35 Empfehlung
30 (MI/RS statt GY)
25 22,0 24,0
20 20,5 20,0
15
8,8
10 9,3 8,8
6,7
5
0
mittlere

mittlere
Schicht

Schicht

Schicht

Schicht

Schicht

Schicht
untere

untere
obere

obere

Sachsen: Statusgruppe Bayern: Statusgruppe


(nach ISEI-Wert) (nach ISEI-Wert)
44 Schulanmeldungen am Ende der Grundschulzeit

Bildungsaspirationen der Eltern. Falls die Bildungswünsche der Eltern mit


der empfohlenen Schulform übereinstimmen, besteht für eine abweichende
Schulanmeldung kein Anlass. Für die Analyse der nicht empfehlungskon-
formen Anmeldungen dürften die frühen Elternaspirationen interessanter
sein als die zum Übertrittszeitpunkt erfassten Wünsche, die bereits in
Kenntnis der Elternentscheidung zur Anmeldung erhoben wurden. Abbil-
dung 3 stellt exemplarisch die Aspirationen zum Ende der dritten Klasse
(T2) nach vorgenommener Schulanmeldung in beiden Ländern dar. In
Sachsen ist das eine binäre Variable (Mittelschul- vs. Gymnasialwunsch), ab-
gebildet wird daher nur die Quote der Gymnasialwünsche, komplementär
dazu innerhalb der Gruppen ergeben sich die Mittelschulwünsche. Bei den
konform anmeldenden Eltern stimmt die frühere Aspiration mit der erhal-
tenen Empfehlung stark überein (Gymnasium 90% und Mittelschule 86%).
Bei den nonkonformen Gruppen in Sachsen ist das anders: Eltern, die eine
Gymnasialempfehlung nicht nutzen, hatten zu T2 in der Mehrzahl einen
Mittelschulwunsch (73 %). Eltern, die trotz Mittelschulempfehlung das
Gymnasium wählen, hatten zu T2 immerhin zu 43 % einen Gymnasial-
wunsch angegeben.

Abbildung 3: Frühere Bildungsaspirationen der Eltern (T2) nach Schulanmeldung und


Schulempfehlung in Sachsen und Bayern

Frühere Aspirationen der Eltern (T2) und Schulandmeldung in Sachsen und Bayern
100
92,3
90 9 0 ,4
79,8 85,2 81,0
80
72,3
70
62,4 63,3
60

50
RS -Wunsch T2 (BY) 4 2 ,9
40 G Y-W unsch T2 (BY) 36,4
30 G Y-W unsch T2 (S N)
27,2 2 6 ,5
20 19,4
14,8 18,6
1 3 ,6
10 9,0 7,7
0
HS – wie RS bei HS- ungenutzte RS- RS/MI wie GY bei mittlerer ungenutzte GY- GY wie
empfohlen Empfehlung Empfehlung empfohlen Empfehlung Empfehlung empfohlen

Schulanmeldung nach empfohlener Schulart


Schulanmeldungen am Ende der Grundschulzeit 45

In Bayern ist die Übereinstimmung zwischen Anmeldeverhalten und frühe-


ren Aspirationen noch grösser als in Sachsen. In der Abbildung sind für Bay-
ern sowohl die Gymnasial- als auch die Realschulwünsche abgebildet, kom-
plementär dazu ergeben sich die Anteile mit Hauptschulwunsch in jeder
Gruppe. Eltern, die eine Gymnasialempfehlung tatsächlich umsetzen, hat-
ten zu 81% zu T2 einen Gymnasialwunsch. Eltern, die eine Gymnasialemp-
fehlung nicht nutzen, äusserten zu T2 überwiegend einen Realschulwunsch
(85%). Ein ähnliches Bild zeigt sich für die «nach oben» abweichenden
Schulanmeldungen, bei denen jeweils die Mehrzahl der Eltern eine Aspira-
tion im Sinn der später vorgenommenen Anmeldung am Ende der Jahr-
gangsstufe drei angab: Die Gruppe «GY statt RS» hatte zu 72% Gymnasial-
wünsche; die Gruppe «RS statt HS» zu 92% Realschulwünsche. Bei Eltern,
die eine Realschulempfehlung nicht nutzen, zeigt sich hingegen keine der
Anmeldung entsprechende frühere Aspiration.
Beratung durch die Lehrkraft. Bei der Erhebung zu T3 wurden die Lehr-
kräfte gefragt, zu welchem Bildungsgang sie den Eltern im Beratungsge-
spräch geraten haben. Um die weiteren Analysen übersichtlich zu gestalten,
werden diese Angaben in einer neuen Variable zusammengefasst, die angibt,
ob der in der Beratung angeratene Bildungsgang der schriftlich erteilten Schul-
formempfehlung entspricht oder darüber bzw. darunter liegt (Abb. 4). In den
meisten Fällen stimmen empfohlene Schulart und persönlich angeratener
Bildungsgang überein (in Sachsen zu 91% und in Bayern zu 87%). Bei den
Abweichungen zwischen Empfehlung und angeratenem Bildungsgang über-
wiegt der Fall, dass zu einer niedrigeren Schullaufbahn geraten wird (in
Sachsen in 8% und in Bayern in 9% aller Fälle).
Differenziert nach den zuvor vorgestellten Anmeldegruppen ergeben sich er-
hebliche Unterschiede in der Verteilung der abweichenden Ratschläge der
Lehrkräfte (Sachsen χ2(6) = 107.07, p < .001; Bayern χ2(12) = 394.21, p <
.001; s. Abb. 6). Eltern, die mit der Anmeldung unter der empfohlenen
Schulform bleiben, hatten die Lehrkräfte recht häufig auch zu einem nied-
rigeren Bildungsgang als empfohlen geraten. In Sachsen ist dies bei 40% der
Schüler aus der Gruppe «MS statt GY» der Fall, in Bayern jeweils bei zwei
Dritteln der Schüler aus der Gruppe «HS statt RS» bzw. «RS statt GY». Bei
den Elterngruppen, die höhere Anmeldungen als empfohlen vornehmen, er-
gibt sich nur in Bayern für die Gruppe «GY statt RS» eine Übereinstimmung
mit dem Ratschlag der Lehrkräfte. Bei allen konform anmeldenden Grup-
pen stimmt der angeratene Bildungsgang mit den ausgestellten Übertritts-
zeugnissen in hohem Mass überein (über 85% der Fälle).
46 Schulanmeldungen am Ende der Grundschulzeit

Ein Teil der abweichenden Schulanmeldungen der Eltern könnte damit in-
folge der Beratung der Grundschullehrkräfte veranlasst worden sein. Eine
Ausnahme besteht bei den Schülern mit Hauptschulempfehlung in Bayern,
die an einer Realschule angemeldet werden. Nur in 13% dieser Fälle hatte
die Lehrkraft zum Anstreben der Realschullaufbahn geraten.

Abbildung 4: Von der Lehrkraft angeratener Bildungsgang und vorgenommene


Schulanmeldung in Sachsen und in Bayern

100% 100%
Übereinstimmung
90% 22,2 zwischen angeratenem 90%
Bildungsgang und er- 30,8
80% 33,3 33,3
teilter Empfehlung 80%
70% 60,0 70%
60% 60%
85,1
höherer 92,6
50% 98,3 Bildungsgang 50% 95,6 91,5
40% angeraten 86,7
77,8 40%
66,7 66,7 69,2
30% keine Abweichung 30%

20% 40,0 niedrigerer 20%


Bildungsgang
10% 14,9 10%
angeraten
0% 0%
MI wie MI statt GY statt GY wie HS wie HS statt RS statt RS wie RS statt GY statt GY wie
empfohlen GY RS empfohlen empfohlen RS HS empfohlen GY RS empfohlen
Schulanmeldung und erhaltene Schulanmeldung und erhaltene Schulformempfehlung in Bayern
Schulformempfehlung in Sachsen

Erwartungs- und wertbezogene Einstellungen der Eltern. Im Zug der


Elternbefragungen wurden Elternurteile zu den Sekundarschulformen und
-abschlüssen erfasst. Aus entscheidungstheoretischer Perspektive sollten vor
allem die Einschätzungen zur Erreichbarkeit und Nützlichkeit der verfüg-
baren Abschlüsse interessant sein. Abbildung 5 zeigt die Mittelwerte der
Urteile für die Anmeldegruppen in Sachsen, Abbildung 6 die Werte für Bay-
ern. Eltern in Sachsen, die ihr Kind am Gymnasium anmelden, schätzen die
Erreichbarkeit höherer Abschlüsse deutlich günstiger ein als Eltern, die eine
Mittelschule wählen – und zwar unabhängig davon, ob die Gymnasialan-
meldung empfehlungskonform ist oder nicht. Eltern, die eine Gymnasial-
empfehlung nicht ausnutzen, beurteilen dagegen die Erreichbarkeit eines
höheren Abschlusses sehr niedrig (Eta-Quadrat [η2] = .21). In Bezug auf die
Instrumentalitätseinschätzungen ergibt sich nur bei der Gruppe «GY bei
mittlerer Empfehlung» ein Muster, das der nonkonformen Schulanmeldung
entspricht: Diese Eltern schätzen die Instrumentalität eines Abiturs beson-
ders hoch ein (η2 = .07). Die Instrumentalitätseinschätzung des Haupt-
Schulanmeldungen am Ende der Grundschulzeit 47

schulabschlusses wurde in Sachsen ebenfalls erhoben, allerdings ergeben sich


hierbei keine Gruppenunterschiede.

Abbildung 5: Beurteilung der Sekundarschulabschlüsse bzgl. Erreichbarkeit und Nütz-


lichkeit nach Schulanmeldungen der Eltern in Sachsen
g g

5,0
Index Erreich-
barkeit höheren
4,5
Schulabschlusses
T3
4,0
Mittelwert

Instrumentalität
3,5 RS-Abschluss
T2
3,0
Instrumentalität
GYM-Abschluss
2,5
T2

2,0
MI wie GY bei Ungenutzte GY wie
emfohlen mittlerer GY- empfohlen
Empfehlung Empfehlung

Umsetzung der Schulempfehlung

Auch in Bayern kovariiert das Erreichbarkeitsurteil der Eltern erkennbar mit


der vorgenommenen Schulanmeldung (η2=.46). Hinsichtlich der Beurtei-
lung von Haupt- und Realschulabschluss ergeben sich einige Gruppenun-
terschiede im Sinn der vorgenommenen Schulformwahl (HS/RS
η2=.11/.12). Eltern, die eine Gymnasialempfehlung nicht nutzen, schätzen
die Instrumentalität von Haupt- und Realschulabschluss höher ein als die
Gruppe «GY wie empfohlen». Eltern aus der Gruppe «GY statt RS» schät-
zen die Instrumentalität von Real- und Hauptschulabschluss geringer ein als
konform anmeldende Eltern mit Realschulempfehlung. Bei der Gruppe
«HS statt RS» ergeben sich dagegen Effekte bei den Instrumentalitätsurtei-
len, die konsistent mit der vorgenommenen Schulwahl der Eltern sind.
Nicht abgebildet in Abbildung 6 sind die Mittelwerte für die Instrumenta-
lität des Abiturs, da hierbei in Bayern keine Gruppenunterschiede bestehen
und das Abitur in allen Gruppen nahezu gleiche, sehr hohe Werte erhält.
48 Schulanmeldungen am Ende der Grundschulzeit

Abbildung 6: Beurteilung der Sekundarschulabschlüsse bzgl. Erreichbarkeit und Nütz-


lichkeit nach Schulanmeldungen der Eltern in Bayern

5,0
Index Erreich-
4,5 barkeit höheren
Schulabschlusses
4,0 T3
Mittelwert

3,5
Instrumentalität
3,0 HS-Abschluss
T2
2,5
Instrumentalität
2,0 RS-Abschluss
T2
1,5
HS wie RS bei HS- Unge- RS wie GY bei RS- Unge- GY wie
empfohlen Empfehlung nutzte RS- empfohlen Empfehlung nutzte GY- empfohlen
Empfehlung Empfehlung

Umsetzung der Schulempfehlung

Für den Entscheidungskontext ist ebenfalls die Einschätzung der Konse-


quenzen der Schulanmeldung für die weitere Bildungslaufbahn wichtig. Wir
verwenden hierzu eine Skala zur Nachholbarkeit höherer Schulabschlüsse
nach dem Übergangszeitpunkt. Die Skala zielt auf die spätere Revidierbar-
keit der Entscheidung zur Schulanmeldung. Falls diese als gering eingestuft
wird, sind die Konsequenzen der Schulwahl schwerwiegender als bei hoher
subjektiver Revidierbarkeit.
Wie in Abbildung 7 zu sehen ist, wird die Revidierbarkeit in beiden Ländern
von Eltern, die Gymnasialanmeldungen vornehmen, ungünstiger einge-
schätzt als von Eltern, die an niedrigeren Schulformen anmelden. Einen Un-
terschied in den Gesamtmittelwerten zwischen den Bundesländern gibt es
nicht, wohl aber eine Interaktion zwischen der Anmeldegruppe und dem
Bundesland. Die Differenz zwischen den vier Anmeldegruppen ist in Sach-
sen sehr viel stärker ausgeprägt als bei den vergleichbaren Gruppen in Bay-
ern (SN η2 = .63 vs. BY η2 = .16). In Sachsen beurteilen Eltern, die eine
Gymnasialanmeldung vornehmen, die Revidierbarkeit sehr viel skeptischer
als Eltern, die eine Mittelschulanmeldung vornehmen. Diese Differenz ist
bei den nonkonformen Schulanmeldungen in Sachsen nochmals stärker
ausgeprägt als bei den empfehlungskonformen Anmeldungen. Besonders
gering wird die Revidierbarkeit der Entscheidung von der Gruppe «GY statt
Schulanmeldungen am Ende der Grundschulzeit 49

MI» in Sachsen beurteilt. Ob diese Einschätzung neben den anderen Effek-


ten als Erklärung für die Anmeldeentscheidung in Frage kommt, wird wei-
ter unter geprüft.

Abbildung 7: Elternbeurteilung der Nachholbarkeit von Schulabschlüssen nach vorge-


nommener Schulanmeldung in Bayern und Sachsen
3,8
3,6 SN

3,4 BY

3,2
Mittelwert

3,0
2,8
2,6
2,4
2,2
2,0
HS wie RS statt HS statt RS/MI wie GY statt RS/MI GY wie
empfohlen HS RS empfohlen RS/MI statt GY empfohlen

Schulanmeldung bei Schulempfehlung

Im Folgenden untersuchen wir mittels logistischer Regressionen den Effekt


der dargestellten Einflussgrössen auf die Umsetzung der Empfehlung. Dabei
ergibt sich für jede Schulformempfehlung jeweils eine Analyse, in der emp-
fehlungskonform anmeldende Eltern mit abweichend anmeldenden Eltern
verglichen werden.

Schulanmeldungen bei einer Gymnasialempfehlung. In Tabelle 1 sind die


Analysen zur Schulanmeldung der Gymnasialempfohlenen dargestellt. Alle
zuvor dargestellten Merkmalsgruppen weisen in getrennten Analysen jeweils
zuverlässige Effekte auf die Umsetzung einer Gymnasialempfehlung auf
(Modelle 1 bis 4). Die Effekte der sozialen Herkunft auf die Gymnasialan-
meldung sind in beiden Ländern zuverlässig (Modell 1). Wenn Schüler aus
Familien der oberen Schichten stammen, haben sie eine fast doppelt so hohe
Chance auf den Gymnasialbesuch als Schüler aus unteren Schichten. Die
Stärke der Herkunftseffekte ist allerdings geringer als die Effektstärke der
frühen Gymnasialaspirationen (Modell 2) oder die Effektstärke der relevan-
ten erwartungs- und wertbezogenen Elternurteile (Modell 4). Der Effekt der
50 Schulanmeldungen am Ende der Grundschulzeit

Beratung durch die Lehrkraft ist unterschiedlich stark in beiden Ländern


ausgeprägt (Modell 3): In Bayern ist ein abweichender Rat der Lehrkraft ein
sehr viel stärkerer Prädiktor für die Gymnasialanmeldung als in Sachsen. Im
kompletten Modell (letzte Spalte) werden schliesslich alle Variablengruppen
in einer gemeinsamen Analyse berücksichtigt. In Sachsen lassen sich
dadurch 70 % und in Bayern 73 % der Varianz der Gymnasialanmeldungen
erklären. In beiden Ländern gleichermassen sind die früheren Eltern-
aspirationen für die Umsetzung einer Gymnasialempfehlung bedeutsam.
Berücksichtigt man die Aspirationen, reduzieren sich in Sachsen die
Herkunftseffekte ganz, in Bayern reduziert sich zumindest der Effekt des
Bildungsstatus der Eltern auf die Anmeldungen. Das Erreichbarkeitsurteil
der Eltern hat ebenfalls in beiden Ländern einen gleichermassen starken
Effekt auf die Gymnasialanmeldung. Wie im Modell 3 zeigt sich auch in der
gemeinsamen Analyse ein deutlicher Länderunterschied. Falls die Lehrkraft
eine Gymnasialempfehlung erteilt und dies auch persönlich anrät, so hat
dies in Bayern einen starken Einfluss auf die Schulwahl der Eltern (mit
einem Odds-Ratio von 17.7), nicht jedoch in Sachsen. Dies impliziert
umgekehrt, dass im Fall der Nichtübereinstimmung von Empfehlung und
persönlichem Ratschlag der Lehrkraft in Bayern die Chance auf eine
Gymnasialanmeldung verschwindend gering wird, und zwar neben den
Effekten von Status, früherer Aspiration und der Erreichbarkeitsein-
schätzung der Eltern.
Schulanmeldungen am Ende der Grundschulzeit 51

Tabelle 1: Logistische Regressionen der Gymnasialanmeldungen (Odds Ratios)

Nur Nur Nur Nur Modell


Variablengruppe
I II III IV komplett
Sachsen
Schulabschluss Eltern 2.0 n.s.
I ISEI-Eltern (z) 1.6 n.s.
Einkommensgruppe n.s. n.s.
Elternaspiration T1 n.s. 2.3
II
Elternaspiration T2 24.4 66.1
III GY-Laufbahn von LK angeraten** 3.8 n.s.
Spätere Nachholbarkeit von Abschüssen 0.71 0.57
Instrumentalität RS-Abschluss 0.43 n.s.
IV Instrumentalität GY-Abschluss n.s. n.s.
Urteil zur Erreichbarkeit höherer
Schulabschlüsse 11.8 13.3

R-Q. (Nagelkerke) .120 .425 0.081 .333 .696

Bayern
Schulabschluss Eltern 1.8 n.s.
I ISEI Eltern (z) 1.8 n.s.
Einkommensgruppe n.s. n.s.
Elternaspiration T1 4.5 7.2
II
Elternaspiration T2 11.0 6.6
III GY-Laufbahn von LK angeraten** 25.1 17.7
Spätere Nachholbarkeit von Abschüssen n.s. n.s.
Instrumentalität RS-Abschluss 0.24 n.s.
IV Instrumentalität GY-Abschluss n.s. n.s.
Urteil zur Erreichbarkeit höherer
Schulabschlüsse 12.6 5.0

R-Q. (Nagelkerke) .158 .424 .401 .425 .730

Anm.: Untersuchte Gruppe (1) «GY-Anmeldung bei GY-Empfehlung» in SN n=172 und in BY


n=269; Referenzgruppe (0) «nicht genutzte GY-Empfehlung» in SN n=35, in BY n=56 in der
Analyse. ISEI-Index ist z-standardisiert; 9 aufsteigende Einkommensgruppen. Odds-Ratios p
<.05
** Codierung 0=MS/RS angeraten bei GYM-Empfehlung, 1=Gymnasium angeraten bei GY-
Empfehlung.

Schulformanmeldungen bei mittlerer Schulempfehlung. Die Analyse der ab-


weichenden Schulanmeldungen bei mittlerer Schulformempfehlung in
Sachsen ist aufgrund der kleinen Gruppengrösse nur bedingt möglich (GY
52 Schulanmeldungen am Ende der Grundschulzeit

statt MI mit n=71). Trotzdem lassen sich in binär logistischen Regressionen


zumindest zwei zuverlässige Effekte absichern: Eine günstige Erreichbar-
keitseinschätzung verdoppelt die Chance auf eine Gymnasial- gegenüber ei-
ner Mittelschulanmeldung (Odds-Ratio 2.5) und der Glaube an die Nach-
holbarkeit eines höheren Schulabschlusses im späteren Leben verkleinert die
Wahrscheinlichkeit einer abweichenden Gymnasialanmeldung drastisch
(Odds-Ratio 0.01, R.-QNagelkerke = .66).
In Bayern sind bei Realschulempfehlungen auch abweichende Anmeldun-
gen an Hauptschulen möglich, darum werden multinomiale logistische Re-
gressionen berechnet. Die beiden Gruppen mit abweichender Anmeldung
(HS oder GY) werden mit der Referenzgruppe «RS-Anmeldung wie emp-
fohlen» verglichen. In der oberen Hälfte von Tabelle 2 sind zunächst die Ef-
fekte der zuvor dargestellten Variablengruppen getrennt dargestellt. Der
engste Zusammenhang mit den abweichenden Anmeldungen zeigt sich für
das Erreichbarkeitsurteil der Eltern, gefolgt von der Beratung durch die
Lehrkräfte. Beide Effekte gelten sowohl für die Hauptschul- wie auch die
Gymnasialanmeldung. Darüber hinaus finden sich noch förderliche Effekte
des Status der Eltern und der früheren Aspirationen sowie hemmende Effek-
te der Instrumentalität eines Hauptschulabschlusses auf die nonkonforme
Anmeldung an einem Gymnasium.
Wenn die Variablengruppen gemeinsam berücksichtigt werden, lassen sich
76% der Varianz (R.-QNagelkerke) der Schulanmeldungen bei Realschulemp-
fehlung erklären. Dabei scheinen die Prädiktoren additive Effekt auf die
Umsetzung der Realschulempfehlung in Bayern zu haben, denn fast alle Ef-
fekte bleiben im Gesamtmodell zuverlässig. Für die nichtgenutzten Real-
schulempfehlungen spielt die ungünstige Erfolgsprognose von Eltern (nied-
rige Erreichbarkeitseinschätzung) und die Beratung der Lehrkräfte
(niedrigerer Bildungsgang nahegelegt) eine Rolle. Beide Faktoren spielen
mit positiver Ausprägung auch eine wichtige Rolle für die Erklärung der
Gymnasialwahl der Eltern. Hinzu kommt ein positiver Effekt einer früheren
Gymnasialaspiration (Odds-Ratio 3.9) und des elterlichen Bildungsstatus
(Odds-Ratio 3.1) sowie ein negativer Effekt eines hohen Instrumentalitäts-
werts eines Hauptschulabschlusses, der die Chance auf eine Gymnasialan-
meldung herabsetzt (Odds-Ratio 0.34).
Im Ländervergleich ergibt sich damit bei der Erklärung der Abweichungen
von einer mittleren Schulartempfehlung ein vergleichbarer Effekt bzgl. der
Erreichbarkeitseinschätzungen der Eltern. Darüber hinaus sind in Bayern
1 Nur in 7 von 9 Fällen im Datensatz sind listwise alle Angaben (Status, Aspiration, Eltern- und Lehrerurteile) vorhanden.
Schulanmeldungen am Ende der Grundschulzeit 53

noch Effekte der Beratung und der Instrumentalitätsurteile nachzuweisen


und in Sachsen Effekte des Revidierbarkeitsurteils der Eltern.

Tabelle 2: Multinomiale logistische Regressionen der Abweichungen von Realschul-


empfehlungen in Bayern (Odds-Ratios)

Nur I Nur II Nur III Nur IV komplettes


soziale frühere abweichende Elternurteile Modell
Herkunft Aspirationen Beratung LK
Variablengruppe HS GY HS GY HS GY HS GY HS GY
I Schulabschluss Eltern n.s. 2.4 n.s. 3.1
ISEI Eltern (z) n.s. 1.9 n.s. n.s.
EInkommensgruppe n.s. n.s. n.s. n.s.

II Elternaspiration T1 n.s. 2.3 n.s. n.s.


Elternaspiration T2 n.s. 7.2 n.s. 3.9

III Andere Laufbahn 0.03 12.2 0.01 14.1


von LK angeraten wie
empfohlen**

IV Spätere Nachholbar-
keit von Abschlüssen n.s. 0.59 n.s. n.s.
Instrumentalität
HS-Abschluss n.s. 0.32 n.s. 0.34
Instrumentalität
RS-Abschluss n.s. n.s. n.s. n.s.
Instrumentalität
GY-Abschluss n.s. n.s. n.s. n.s.
Erreichbarkeit höhe-
rer Schulabschluss 0.03 7.9 0.02 16.5

R2 (Nagelkerke) .263 .278 .328 .422 .764

Anm.: Referenzkategorie AV = RS wie empfohlen, n=122; HS statt RS n=8; GY statt RS n=39;


ISEI ist z–standardisiert;
**Codierung -1 = HS angeraten bei RS-Empfehlung; 0= RS-Abschluss angeraten, 1 = GY ange-
raten bei RS-Empfehlung.

Schulformanmeldungen bei einer Hauptschulempfehlung. Die Schulan-


meldungen von Schülern mit Hauptschulempfehlung in Bayern werden mit
binär logistischen Regressionen untersucht, bei denen konforme Anmel-
dungen die Referenzgruppe darstellen, höhere Anmeldungen die Unter-
suchungsgruppe («RS statt HS»; Tab. 3). Die Gruppe der abweichend an
54 Schulanmeldungen am Ende der Grundschulzeit

einer Realschule angemeldeten Schüler ist mit n=15 ebenfalls recht klein (s.
Abb. 1) und in der deskriptiven Darstellung der untersuchten Variablen-
gruppen wurde bereits erkennbar, dass diese Gruppe sich hinsichtlich der so-
zialen Herkunft dem abweichend angeratenem Bildungsgang und den El-
ternurteilen nicht klar von der Referenzgruppe «HS wie empfohlen»
unterscheidet. Logistische Regressionen zeigen denn auch bis auf einen zu-
verlässigen Effekt der Erreichbarkeits- und einen marginalen Effekt der Re-
vidierbarkeitseinschätzung keine weiteren Effekte der bisher untersuchten
Variablengruppen. Zusätzliche Analysen belegen jedoch, dass es daneben
noch andere Einflussgrössen auf die Schulanmeldung nach Hauptschulemp-
fehlungen gibt. Dies sind zum einen gute Testleistungen im vierten Schul-
jahr, die die Chance auf eine Realschulanmeldung deutlich erhöhen. Ergän-
zende Analysen zeigen, dass nur die Testleistungen zu T3, nicht aber die
Testleistungen zu T1 oder T2 relevant für die Anmeldung an der Realschu-
le sind. Zum anderen besteht noch ein positiver Effekt des Elternurteils be-
züglich der Wichtigkeit eines hohen Schulabschlusses. In der gemeinsamen
Analyse erreicht allerdings nur der Leistungseffekt das konventionelle Signi-
fikanzniveau, die Urteilseffekte verfehlen aufgrund der kleinen Gruppen-
grösse knapp das Signifikanzniveau. Die Umsetzung der Hauptschulemp-
fehlungen lässt sich damit weniger gut erklären als die Anmeldungen bei
mittlerer oder gymnasialer Schulempfehlung.

Tabelle 3: Logistische Regressionen der Schulanmeldungen bei einer Hauptschulemp-


fehlung in Bayern (Odds-Ratios)

Variablen I II III IV komplettes


Modell
(inkl I-IV)

I Leistungsindex T3 3.7 6.6


Skala Erreichbarkeit höherer
II 3.3 2.2*
Abschlüsse
Skala Nachholbarkeit höherer
III 0.3 0.4*
Abschlüsse
Urteil Wichtigkeit höheren
IV 2.6 2.7*
Abschlusses
R-Q. (Nagelkerke) .116 .137 0.089 0.095 .377

Anm.: Referenzgruppe: HS wie empfohlen, n=189 in der Analyse; Untersuchungsgruppe RS


statt HS, n=14. Leistungsindex T3 z-standardisiert. Fett gedruckte Koeffizienten p<.05;*p<.10.
Diskussion 55

4 Diskussion

Bereits vorliegende Analysen unserer Daten hatten gezeigt, dass Schulüber-


trittsentscheidungen bei einem grossen Teil der Schüler schon erhebliche
Zeit vor dem Ende der vierten Jahrgangsstufe feststehen, für zirka 60% der
Schüler trifft dies bereits am Ende der zweiten Jahrgangsstufe zu (Ditton &
Krüsken, 2009). In diesen Fällen und auch in jenen, bei denen die Schüler
eindeutig einem Leistungsniveau zugeordnet werden können, fallen die
Schulentscheidungen sowohl den Lehrkräften als auch den Eltern leicht. Bei
unklaren schulischen Leistungen ziehen Lehrkräfte für ihre Übertrittsemp-
fehlung weitere Informationen heran, z.B. Einschätzungen der Begabung
und schulbezogener Einstellungen des Kindes, den Schulbesuch von Freun-
den und auch Schülermerkmale wie die Schüchternheit. Auch die Einstel-
lungen und Entscheidungsmuster der Lehrkräfte sind hierbei von Bedeu-
tung.
Im vorliegenden Beitrag wurde der abschliessende Schritt in der Entschei-
dungskette des Schulübergangs betrachtet: Die Schulanmeldungen an den
weiterführenden Schulen, die von den Eltern nach Erhalt der Schulform-
empfehlung vorgenommen wurden. In der weit überwiegenden Zahl der
Fälle folgen die Eltern bei der Anmeldung an einer weiterführenden Schule
der Empfehlung der Lehrkraft. Nur wenige Eltern in Sachsen entscheiden
sich beim Vorliegen einer Empfehlung für das Gymnasium für die Anmel-
dung ihres Kindes an der Mittelschule (n=35; 8% aller Fälle), und in kaum
einem Fall wird das Kind bei einer nicht dafür ausgesprochenen Empfeh-
lung an einem Gymnasium angemeldet (n=9; 2% aller Fälle). In Bayern tre-
ten Abweichungen zwar doppelt so häufig auf (19% aller Fälle), die empfeh-
lungskonformen Schulanmeldungen überwiegen aber auch hier eindeutig
(81%). Die Abweichungen nach oben (Gymnasium statt Realschule bzw.
Realschule statt Hauptschule; 9%) und unten (10%) halten sich in Bayern
etwa die Waage.
Die hohen Anteile empfehlungskonformer Schulanmeldungen in beiden
Ländern geben wenig Anhaltspunkte dafür, dass die Eltern bei der Entschei-
dung über den weiteren Schulbesuch komplexe Kalkulationen zu Erträgen,
Kosten und Erfolgschancen anstellen. Für zirka 80% bzw. 90% der Eltern
in der Stichprobe besteht die letztlich umgesetzte Strategie bzw. Heuristik
bei der Schulanmeldung darin, sich der Empfehlung der Lehrkraft an-
zuschliessen.
56 Diskussion

Für die abweichenden Schulanmeldungen ergeben sich in beiden Ländern


eindeutige Beziehungen zum sozialen Status der Herkunftsfamilie der Kin-
der: Anmeldungen an einer höheren Schulform als der empfohlenen reali-
sieren eher Familien mit höherem sozialen Status, ein Zurückbleiben hinter
der Empfehlung ist weit eher für Familien der unteren Statusgruppe charak-
teristisch. Dahinter dürfte stehen, dass es mit einer besseren Ausstattung an
(ökonomischem, kulturellem, sozialem) Kapital leichter bzw. weniger be-
drohlich ist, riskante Entscheidungen zu treffen, dass zudem dem Erhalt der
sozialen Position Bedeutung zukommt und schliesslich die Vertrautheit mit
den Anforderungen, Regeln und Gepflogenheiten der höheren Bildungs-
gänge besser gegeben ist.
Obwohl in den Fällen abweichender Schulanmeldungen komplexe Ent-
scheidungskalküle anzunehmen sind, scheinen die Muster der Entschei-
dungsfindung aber selbst hier gut nachvollziehbar und von eher einfacher
Natur zu sein. So lassen sich durchgängig eindeutige Zusammenhänge mit
den Bildungsaspirationen nachweisen, die die Eltern in den Schuljahren zu-
vor für ihre Kinder hatten. Von den klassischen Komponenten des Rational-
Choice-Modells ist die (subjektiv erwartete) Erfolgswahrscheinlichkeit der
durchgängig bedeutsamste Faktor. Dabei wird (zumindest in Bayern) auch
nochmals die in der mündlichen Beratung von der Grundschullehrkraft an-
geratene Schulform, sofern sie von der offiziellen Empfehlung abweicht, mit
berücksichtigt. Insgesamt kommt somit den Erreichbarkeitseinschätzungen
ein besonders hoher Stellenwert zu, sowohl bei den Abweichungen von der
Übertrittsempfehlung nach oben als auch bei denen nach unten. Instrumen-
talitätsüberlegungen (und damit auch der Statuserhalt) spielen bei allen For-
men der abweichenden Anmeldungen eine nachgeordnete Rolle, am ehesten
kommen sie bei Entscheidungen für oder gegen das Gymnasium zum Tra-
gen. Schliesslich kommt noch den Einschätzungen, ob schulische Abschlüs-
se im späteren Verlauf der Bildungskarriere eher leicht oder nur schwer
nachgeholt werden können, eine Bedeutung bei der Wahl der schulischen
Laufbahn im Anschluss an die Primarstufe zu. Wer die Nachholbarkeit für
gegeben hält, ist eher geneigt, unter der für das Kind erhaltenen Empfeh-
lung zurückzubleiben, wer die Nachholbarkeit anzweifelt, entscheidet sich
auch entgegen dem Rat der Lehrkraft (sicherheitshalber) für die höhere
Schulform.
Wie die eingangs erwähnten und im vorliegenden Beitrag dargestellten Ana-
lysen zeigen, ist das Übergangsverfahren kein einfach technologisch geregel-
ter oder genau kalkulierbarer Prozess. Die Übergänge in die weiterführen-
den Schulen resultieren aus einem Zusammenspiel zahlreicher Faktoren und
Diskussion 57

dabei sind die zeitlichen Entwicklungsverläufe massgeblich für das Ergebnis.


Für viele Fälle zeigt sich, dass Entscheidungen entweder bereits früh festste-
hen, oder dass früh getroffene Entscheidungen (bzw. Vorentscheidungen)
die aktuelle Entscheidung massgeblich mit beeinflussen. Der Rational-
Choice-Ansatz liefert in diesem Zusammenhang nur bedingt überzeugende
Erklärungen, bildet die relevanten Faktoren nur unvollständig ab und über-
schätzt die Bedeutung von Kosten- und Nutzenaspekten. Für die Modellie-
rung des Abstimmungsprozesses zwischen mehreren Akteuren, der beim
Übergang in die Sekundarstufe gefordert ist, und für die Berücksichtigung
differenzierter institutioneller Regelungen ist Rational-Choice nur begrenzt
geeignet.
Möglicherweise könnte dem begegnet werden, indem man die Modelle mo-
difiziert oder noch mehr erweitert, als es in aller Regel ohnehin schon der
Fall ist (vgl. Lindenberg, 1981, 1996). Vielleicht ist der effizientere Weg
aber der, alternative Erklärungsansätze zu entwickeln. So hat bereits Meule-
mann (1985) von einer schichtspezifischen Selbstverständlichkeit von Bil-
dungsentscheidungen gesprochen und damit darauf hingewiesen, dass in aller
Regel Schichteffekte auf Laufbahnwahlen selbst dann bestehen bleiben,
wenn eine Vielzahl von Moderatorvariablen berücksichtigt werden. Daher
könnte die hinter diesem Prozess stehende Lebensplanung für das Kind als
etwas anderes verstanden werden als eine nüchterne Kosten-Nutzen-Kalku-
lation.
Abschliessend bleibt anzumerken, dass die Forschung zum Schulübergang
daran leidet, dass über die entscheidenden Erfolgsfaktoren für schulische
Laufbahnen in differenzierten Schulsystemen erhebliche Unklarheit besteht.
Es ist immer noch weitgehend unbekannt, welche Faktoren in welcher
Kombination letztlich für den Schulerfolg bedeutsam sind. Längsschnittstu-
dien, die die Schullaufbahnen nach dem Übergang in die Sekundarstufe
weiter verfolgen, liegen kaum vor. Ohne solche Studien lassen sich zur An-
gemessenheit der derzeit geltenden Übergangsregelungen und zu den immer
wieder neu aufkommenden Reformvorschlägen keine zuverlässigen Aussa-
gen machen.
58 Literatur

Literatur
Autorengruppe Bildungsberichterstattung. (2008). Bildung in Deutschland 2008. Ein indi-
katorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Übergängen im Anschluss an den Sekundar-
bereich I. Bielefeld: Bertelsmann.
Baumert, J., Trautwein, U., Artelt, C. (2003). Schulumwelten – institutionelle Bedingungen
des Lehrens und Lernens. In: Baumert, J., Artelt, C., Klieme, E., Neubrand, M., Prenzel, M.,
Schiefele, U., Schneider, W., Tillmann, K.-J., Weiss, M. (Hrsg.), PISA 2000 – Ein differen-
zierter Blick auf die Länder der Bundesrepublik Deutschland (S. 261–333). Opladen: Leske
+ Budrich.
Blossfeld, H.-P. (1988). Sensible Phasen im Bildungsverlauf. Zeitschrift für Pädagogik, 34, S.
45–64.
Bourdieu, P., Boltanski, L., de Saint Martin, M., Maldidier, P. (1981). Titel und Stelle. Über
die Reproduktion sozialer Macht. Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt.
Coleman, J. S., Fararo, T. J. (1992). Rational Choice Theory. Advocacy and Critique.
Newbury Park: Sage.
Ditton, H. (2007a). Einleitung: Übergänge im Bildungswesen – Ergebnis rationaler Wahlen?
In: Ditton, H. (Ed.), Kompetenzaufbau und Laufbahnen im Schulsystem. Eine Längs-
schnittuntersuchung an Grundschulen. (S. 9–23). Münster: Waxmann.
Ditton, H. (Hrsg.). (2007b). Kompetenzaufbau und Laufbahnen im Schulsystem. Eine
Längsschnittuntersuchung an Grundschulen. Münster: Waxmann.
Ditton, H., Krüsken, J. (2009). Bildungslaufbahnen im differenzierten Schulsystem. Ent-
wicklungsverläufe von Bildungsaspirationen und Laufbahnempfehlungen in der Grund-
schulzeit. In: Baumert, J., Maaz, K., Trautwein, U. (Hrsg.), Bildungsentscheidungen. Son-
derheft 12-2009 der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft (S. 74–102). Wiesbaden: VS
Verlag für Sozialwissenschaften.
Ganzeboom, H. B. G., de Graaf, P. M., Treiman, D. J. (1992). A Standard International So-
cio-Economic Index of Occupational Status. Social Science Research, 21, S. 1–56.
KMK – Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundes-
republik Deutschland. (2003). Übergang von der Grundschule in die Schulen des Sekundar-
bereichs I. Informationsunterlage. Bonn: (II A 1/Fu – 2411).
Lindenberg, S. (1981). Erklärung als Modellbau: Zur soziologischen Nutzung von Nutzen-
theorien. In: Schulte, W. (Ed.), Soziologie in der Gesellschaft. Bremen.
Lindenberg, S. (1996). Choice-Centred versus Subject-Centred Theories in the Social Sci-
ences: The Influence of Simplification on Explananda. European Sociological Review, 12(2),
S. 147–157.
Maaz, K., Hausen, C., McElvany, N., Baumert, J. (2006). Stichwort: Übergänge im Bil-
dungssystem. Theoretische Konzepte und ihre Anwendung in der empirischen Forschung
Anhang 59

beim Übergang in die Sekundarstufe. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 9(3), S. 299–


328.
Meulemann, H. (1985). Bildung und Lebensplanung. Die Sozialbeziehung zwischen Eltern-
haus und Schule. Frankfurt: Campus.
Pohlmann, S. (2009). Der Übergang am Ende der Grundschulzeit. Zur Formation der Über-
gangsempfehlung aus der Sicht der Lehrkräfte. Münster: Waxmann.

Anhang

Anzahl Items

cr α bzw. r

N gültig
Tabelle A1: Übersicht zu den Erhebungsinstrumenten/

SD
M
Skalen der Untersuchung

Skala: «Spätere Nachholbarkeit höheren Abschlusses» 3 .65 1151 3.13 0.71


«Ein höherer Schulabschluss kann auch später im Leben
nachgeholt werden.», «Ein Wechsel an eine höhere Schul-
form ist auch später in der Schullaufbahn noch problem-
los möglich.», «Einen späteren Schulformwechsel sollte
man Kindern nicht zumuten. (recodiert)»
Index Erreichbarkeit hohen Schulabschlusses 2 .67 1198 3.91 0.92
Wie sicher sind Sie sich aus heutiger Sicht, dass Ihr Kind
die folgenden Schulabschlüsse schaffen kann?
(Mittelwert aus Urteil Abitur und Realschulabschluss)
Instrumentalität HS-Abschluss 3 .81 1240 2.32 0.92
Instrumentalität RS-Abschluss 3 .77 1252 3.20 0.68
Instrumentalität Abitur 3 .66 1242 3.82 0.65
Instrumentalitätsskalen Mittelwert aus 3 Beurteilungen je
Abschluss, jeweils im Vergleich zur eigenen Position der
Eltern «erreichbaren Ansehens» «erreichbaren Wohl-
standes» und «beruflicher Chancen»
Item: Wie wichtig ist Ihnen aus heutiger Sicht, 1 – 1193 4.86 0.88
dass Ihr Kind einmal einen möglichst hohen
Schulabschluss erreichen wird? (6-stufiges Rating )
61

Schulische Selektion und institutionelle


Diskriminierung

Mechtild Gomolla

Abstract

Eine wichtige Tendenz der Menschenrechtsdebatte der vergangenen Jahr-


zehnte liegt in der Erweiterung der Perspektive von formaler Gleichberech-
tigung zu materieller De-facto-Gleichberechtigung. Dabei werden zuneh-
mend auch die indirekten und strukturellen Formen von Diskriminierung in
zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, einschliesslich Bildung
und Ausbildung, als Menschenrechtsverstösse gewertet, für deren Überwin-
dung Staat und Gesellschaft Verantwortung tragen. In diesem Text untersu-
che ich das aus den angelsächsischen Ländern stammende Konzept der «in-
stitutionellen Diskriminierung» als sozialwissenschaftlicher Kategorie zur
Erforschung von Bildungsungleichheit wie als Orientierungsrahmen für die
Entwicklung realisierbarer Praxiskonzepte, um der Ausgrenzung minorisier-
ter Gruppen entgegenzuwirken.
Der Begriff «Diskriminierung» bezeichnet nach Grundsätzen der Gleichheit
und Gleichbehandlung festgestellte Benachteiligungen aufgrund gruppen-
spezifischer Differenzen (z.B. Hautfarbe, ethnische und soziale Herkunft,
Geschlecht, Behinderung, Religion und Weltanschauung, Sprache oder se-
xuelle Orientierung). Diskriminierung ist notwendigerweise ein normativer
Begriff, dessen konkrete Bedeutung sich in gesellschaftlichen Auseinander-
setzungen ständig verschiebt. Kataloge mit Merkmalen und Feldern von
Diskriminierung sind ausdrücklich entwicklungsoffen, da im Bemühen um
die Verwirklichung gleichberechtigter Teilhabe neue Sensibilitäten für dis-
kriminierende Ausgrenzungen entstehen, die es dann politisch zu adressie-
ren gilt (vgl. Bielefeldt 2005, S. 3). Rechtliche, politische und wissenschaft-
liche Definitionen von Diskriminierung sind somit keineswegs deckungsgleich.
Beispielsweise wächst das Interesse der Forschung an der Interaktion unter-
schiedlicher Differenzmerkmale – v.a. Überlappungen von sozio-ökonomi-
schem Status, Geschlecht und ethnischer Herkunft – bei der Reproduktion
sozialer Ungleichheitslagen. Benachteiligungen aufgrund des sozio-ökono-

Gomolla, M. (2010). Schulische Selektion und institutionelle Diskriminierung. In: M. P. Neuenschwander, H.-U. Grunder (Hrsg).
Schulübergang und Selektion (pp. 61–90). Chur: Rüegger.
62 Abstract

mischen Status werden jedoch aus den Debatten über Diskriminierung bis-
her weitgehend ausgeklammert (vgl. in kritischer Perspektive Scherr 2008).
Eine wichtige Tendenz der Menschenrechtsdebatte der vergangenen Jahr-
zehnte liegt in der Erweiterung der Perspektive von formaler Gleichberech-
tigung zu materieller De-facto-Gleichberechtigung.1 Zunehmend werden
auch die indirekten und strukturellen Formen von Diskriminierung in zen-
tralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, einschliesslich Bildung und
Ausbildung, als Menschenrechtsverstösse gewertet, für deren Überwindung
Staat und Gesellschaft Verantwortung tragen (vgl. Bielefeldt 2005, S. 4).
Die Antidiskriminierungsrichtlinien der Europäischen Union (vgl. EU
2000a; EU 2000b; ECRI 2002) und das 2006 verabschiedete bundesdeut-
sche Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (vgl. Bundesministerium der Jus-
tiz 2006) ahnden neben dem Tatbestand der unmittelbaren Diskriminierung
Formen der mittelbaren Diskriminierung, d.h.
«wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Per-
sonen, die einer Rasse2 oder ethnischen Gruppe angehören, in besonderer Weise
benachteiligen können» (EU 2000a, Art. 2, Abs. 2 a, b; vgl. auch den entspre-
chenden Passus im AGG § 3, Abschnitt 2).3
Damit werden Ungleichheitseffekte – auch ohne dass man von unmittelbar
diskriminierenden Absichten und Einstellungen der Akteure ausgeht – mit
institutionellen Handlungskontexten als Problemursache in Beziehung ge-
setzt.
Im angelsächsischen Raum hat die Thematisierung sozial- und bildungspo-
litischer Fragen unter dem Begriff der Diskriminierung im sozialwissen-
schaftlichen Diskurs wie als Anlass für staatliches Handeln eine lange Tradi-
tion (vgl. Steiner-Khamsi 1992; Hormel/Scherr 2004; Gomolla 2005). In
Deutschland ist dies jedoch eine ungewohnte Perspektive. Insbesondere die
Frage, ob die im Durchschnitt niedrigeren Bildungsabschlüsse und die

1 Analog ist in der internationalen Bildungsdiskussion ein umfassendes Kriterium sozialer Gerechtigkeit etabliert, das
über den formal und faktisch gleichberechtigten Zugang zu Bildungsangeboten hinaus Gerechtigkeit in der Partizi-
pation und Behandlung in Unterricht und Schulleben sowie in den Bildungsresultaten (Ergebnisgerechtigkeit) an-
strebt (vgl. UNESCO 1994; Campbell 2002).
2 Leider wird in solchen Gesetzestexten oft der Begriff «Rasse» benutzt, ohne dass er genauer erläutert würde. Immer-
hin wird in der Gesetzesbegründung zum AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Bundesministerium der Jus-
tiz 2006) darauf hingewiesen, dass es «menschliche Rassen im biologischen Sinne» nicht gibt (Schiek 2007, S. 72).
Andere europäische Rechtsordnungen im Antidiskriminierungsbereich benutzen den Begriff überhaupt nicht (Finn-
land, Österreich) oder mit einem «so genannt» (z.B. Belgien).
3 Die Unterscheidung von direkter und indirekter Diskriminierung ist auch im Schweizer Recht relevant; ausführlich
zu den Rechtsgrundlagen zum Schutz vor Diskriminierung in der Schweiz vgl. die Websites der Eidgenössischen Kom-
mission gegen Rassismus (www.ekr.admin.ch/themen/...) und «www.humanrights.ch».
Abstract 63

schlechteren beruflichen Positionierungen von Immigrantinnen und Im-


migranten und ihren Nachfahren, welche v.a. dank PISA, IGLU u.a. Schul-
leistungsvergleichsstudien vermehrt beachtet werden,4 auf Diskriminierung
zurückzuführen seien, ist Gegenstand polarisierender Diskussionen gewor-
den.5
Grob schematisiert konzentriert sich der Grossteil der deutschsprachigen
Forschung über die Reproduktion sozialer Ungleichheiten im Bildungssys-
tem auf die strukturell unterschiedlichen Ausgangsbedingungen von Kindern
unterschiedlicher sozialer Herkunft. In diesen Strang der Forschung sind
auch Arbeiten, die die vermeintlich defizitären Voraussetzungen zum Er-
werb der deutschen Sprache in den Elternhäusern als Problemursache in den
Mittelpunkt rücken, einzuordnen (vgl. zusammenfassend Diefenbach 2007,
S. 89ff.).
Daneben werden als sekundäre Herkunftseffekte die Bildungsaspirationen
und -strategien der Eltern als Folge schichten- und milieutypischer Erfahrun-
gen und Tradierungen untersucht (vgl. z.B. Esser 1990; Becker 2000; Mül-
ler-Benedict 2008; zusammenfassend Diefenbach 2007, S. 108ff.). Untersu-
chungen der Bildungsaspirationen blenden jedoch i.d.R. aus, inwiefern
Bildungsentscheidungen auch von den Interaktionen im Kontext von Schu-
le beeinflusst werden können – z.B. in Kontakten der Kinder untereinander,
der Kinder und Lehrkräfte oder zwischen Lehrkräften und Eltern.
Andere Widersprüche, die die Aufmerksamkeit eher auf die Problemursa-
chen in den Bildungsinstitutionen als einer dritten Erklärungsperspektive
lenken, betreffen v.a. die grossen Schwankungen in der Bildungsbeteiligung
unterschiedlicher Gruppen abhängig von Ort und Zeit des Schulbesuchs
(vgl. z.B. Kornmann 2003; Radtke 2004; Kronig 2003, 2007; von Olberg
2006; Hauf 2007). V.a. empirische Evidenzen, dass Schülerinnen und Schü-
ler, die am Ende ihrer Grundschulzeit gleiche Leistungen aufweisen, auf un-
terschiedliche Bildungsgänge des hierarchisch gestuften Sekundarschulsys-
tems überwiesen werden (vgl. Bos et al. 2003, 2004), sowie die festgestellten
erheblichen Leistungsüberschneidungen zwischen hierarchischen Schulfor-
men (vgl. auch Kronig 2003, 2007) lenken den Blick auf die strukturelle
Gestaltung und Erreichbarkeit von Bildungsangeboten, die Qualität der pä-
dagogischen Prozesse und die Mechanismen der Selektion, die in den schu-

4 Für einen Überblick vgl. Stanat et al. (2002), Bos et al. (2003; 2004), Konsortium Bildungsberichterstattung (2006),
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2008), Auernheimer (2009).
5 Konträre Positionen hängen z.T. mit unterschiedlichen Theoriemodellen von Diskriminierung zusammen; vgl. Kris-
ten (2006, 2006a), Schofield (2006), Schofield/Alexander (im Erscheinen), Gomolla/Radtke (2009).
64 Institutionelle Diskriminierung – Geschichte des Begriffs

lischen Strukturen und Praktiken selbst angelegt sind. In der deutschspra-


chigen Literatur sind Studien, die die subtilen und offenen schulischen Me-
chanismen der Benachteiligung und des Ausschlusses bestimmter Gruppen
und ihre Verankerung auf unterschiedlichen Handlungsebenen in Unter-
richt, Schulen und Schulsystem empirisch untersuchen und theoretisieren,
jedoch noch immer die Ausnahme.
Ich beschäftige mich hier mit den Wegen, in denen Lehrkräfte und Schulen
zumeist unbeabsichtigt die Leistungen und Bildungskarrieren von Schüle-
rinnen und Schülern unterminieren. Dabei will ich die Bedeutung des Kon-
zepts der institutionellen Diskriminierung als sozialwissenschaftlicher Kate-
gorie genauer bestimmen und seine Brauchbarkeit für die Analyse von
Phänomenen der Bildungsungleichheit zeigen.
Ich gehe zunächst auf den historischen Entstehungskontext der Erklärungs-
perspektive des institutionellen Rassismus bzw. der institutionellen Diskri-
minierung ein (1) und diskutiere zentrale konzeptionelle Mängel früher
Theoriemodelle (2). Vor diesem Hintergrund wird ein grundlagentheo-
retisch angelegtes, deskriptiv-analytisches Modell institutioneller Diskrimi-
nierung vorgeschlagen, das die Mechanismen der sozialen Selektion in Schu-
len aus dem Entscheidungsverhalten in Bildungsorganisationen in
bestimmten historischen, politischen und sozialräumlichen Kontexten zu
erklären sucht (3). Der heuristische Nutzen dieses Ansatzes wird anhand der
Ergebnisse empirischer Studien schulischer Selektions- und Allokations-
praktiken illustriert (4). Im nächsten Abschnitt werfe ich ein kurzes Schlag-
licht auf neuere sozial- und pädagogisch-psychologische Forschungsarbei-
ten, welche die gravierenden Beeinträchtigungen infolge Diskriminierung
für das schulische Lernen und die Leistungsentwicklung von Schülerinnen
und Schülern untermauern (5). Zum Schluss umreisse ich zentrale Interven-
tionspunkte, um individuelle und institutionelle Diskriminierung im
Schulalltag sichtbar zu machen und zu unterbinden (6).

1 Institutionelle Diskriminierung – Geschichte des Begriffs

Im deutschen Sprachraum werden Rassismus, Sexismus oder Diskriminie-


rungen «behinderter» Menschen zumeist in einem «minimalistischen» Ver-
ständnis als Resultat von Vorurteilen einzelner Personen oder relativ klar ein-
zugrenzender sozialer Gruppen (z.B. rassistische oder rechtsextremistische
Orientierungen sozio-ökonomisch marginalisierter Jugendlicher) definiert.
Institutionelle Diskriminierung – Geschichte des Begriffs 65

Dabei wird vielfach unterstellt, diskriminierende Praktiken stellten eine Art


«Unfall» dar – eine Ausnahmeerscheinung in einer gesellschaftlichen Praxis,
in der demokratische Prinzipien der Fairness und Meritokratie die Regel
sind.6
Im Unterschied zum Vorurteilsansatz versteht der Begriff der «institutionel-
len Diskriminierung» Rassismus oder Sexismus als Ergebnis sozialer Prozes-
se. Das Wort «institutionell» lokalisiert die Ursachen von Diskriminierung
im organisatorischen Handeln im Netzwerk zentraler gesellschaftlicher In-
stitutionen (z.B. Bildungs- und Ausbildungssektor, Arbeitsmarkt, Woh-
nungs- und Stadtentwicklungspolitik, Gesundheitswesen und Polizei). Der
Begriff der institutionellen Diskriminierung wurzelt in den Debatten über in-
stitutionellen Rassismus, die Ende der 1960er-Jahre von Bürgerrechtsgruppen
und den Black Movements in den USA angestossen wurden. Diese Entwick-
lung sollte sich unter vergleichbaren ökonomischen und politischen Bedin-
gungen etwa fünfzehn Jahre später in Grossbritannien wiederholen (vgl.
Williams 1985; Feagin/Feagin 1986; Omi/Winant 1994).
Die Bezeichnung «institutioneller Rassismus» wurde erstmalig prominent
von den beiden Aktivisten und Theoretikern Stokely Carmichael und
Charles Hamilton benutzt, um zu beschreiben, wie die Interessen und Ein-
stellungen der «weissen» Mehrheit in den Institutionen des amerikanischen
Lebens inkorporiert sind. Im Vorwort zu ihrer berühmten politischen
Kampfschrift «Black Power» (1967) unterscheiden sie zwischen offenem und
individuellem Rassismus einerseits und verdecktem und institutionellem
Rassismus andererseits. Letzteren definieren sie als
«less overt, far more subtle, less identifiable in terms of specific individuals com-
mitting the acts. But it is no less destructive of human life. [It] originates in the
operation of established and respected forces in the society, and thus receives far less
public condemnation» (Carmichael/Hamilton 1967, S. 20; Hervorh. i.Orig.)
Das Neuartige an dieser Definition bestand v.a. darin, dass die Absichten
einzelner Personen oder kleiner Gruppen für das Zustandekommen und die
Aufrechterhaltung von Diskriminierung als relativ irrelevant betrachtet wur-
den. Die Aufmerksamkeit verlagerte sich stattdessen auf die Wirkungen
etablierter gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Betont wurde die Produkti-
on rassischer Ungleichheit in einem breiten Spektrum von Institutionen
durch deren normale Operationen. Dadurch gerieten die wechselseitigen

6 Für eine ausführliche theoretische Kritik (sozial-)psychologischer und ökonomischer Diskriminierungstheorien vgl.
Henriques (1984), Rizvi (1993), Rommelspacher (1997), Terkessidis (1998), Hormel (2007).
66 Institutionelle Diskriminierung – Geschichte des Begriffs

Abhängigkeiten unterschiedlicher Institutionen und die daraus resultieren-


de Verstärkung eines Teufelskreises von Unterklassenstatus und institutio-
nellem Rassismus in den Blick. Beispielsweise führten Carmichael und Ha-
milton (1967) das statistisch messbare Phänomen der im Vergleich mit
Weissen erhöhten Sterblichkeit bei schwarzen Neugeborenen auf die Verket-
tung von struktureller Armut, Ernährungsmängeln, ungenügender medizi-
nischer Versorgung und der Entstehung «schwarzer» Slums und Ghettos
zurück.
Hier eröffnet sich ein weites Feld zur Erforschung der Mechanismen, die
solche Korrelationen hervorbringen. Aber die frühen Arbeiten zum institu-
tionellen Rassismus waren primär daran interessiert, die Effekte von institu-
tionellem Rassismus nachzuweisen. Infolge der von Carmichael und Hamil-
ton angestossenen Diskussion wurde institutioneller Rassismus rasch als
brauchbares deskriptives und erklärendes Konzept akzeptiert. Der Begriff
wurde systematisch auf eine Vielzahl von Institutionen bezogen (z.B. Ar-
beits- und Wohnungsmarkt, Gesundheitsversorgung, Ausbildung, Gerichts-
barkeit, politische Partizipation, Präsentation in den Medien), theoretisch
ausdifferenziert (vgl. Knowles/Prewitt 1969; Blauner 1970; Jones 1972;
Wellman 1977) und zu einem allgemeinen Konzept institutioneller Diskri-
minierung weiterentwickelt, das unterschiedliche relevante Diskriminie-
rungsmuster (v.a. Geschlecht, sozio-ökonomischer Hintergrund, Behin-
derungen, sexuelle Orientierung, Alter) einzuschliessen sucht. In den
1970er-Jahren verschob sich das Interesse wissenschaftlicher Arbeiten von
der Identifizierung der Effekte institutioneller Diskriminierung allmählich
auf die Aufklärung der Mechanismen, die hinter Korrelationsmassen stehen,
die z.B. auf unterschiedliche Gesundheitsprofile oder Bildungsresultate be-
stimmter Bevölkerungsgruppen verweisen. An diesem Prozess waren auch
Gerichte und Regierungsorgane, die in den 1960er- und 1970er-Jahren ge-
zwungen waren, Regulierungsmechanismen für die gewaltförmigen sozialen
Konflikte zwischen rassifizierten Gruppen zu finden und in konkrete Poli-
tik umzusetzen, wesentlich mitbeteiligt.
Die von Joe R. Feagin und Clairece B. Feagin (1986) ausgearbeitete Unter-
scheidung von direkter und indirekter institutioneller Diskriminierung ist in
die Antidiskriminierungsgesetze in den USA, Grossbritannien und in jüngs-
ter Zeit auch auf der Ebene der Europäischen Union eingegangen. Formen
direkter institutioneller Diskriminierung sind Feagin und Feagin zufolge re-
gelmässige, intentionale Handlungen in Organisationen. Dies können
hochformalisierte, gesetzlich-administrative Regelungen sein, aber auch in-
formelle Praktiken, die in der Organisationskultur als Routine abgesichert
sind (implizite Übereinkünfte, «ungeschriebene Regeln»). Der Begriff der
Institutionelle Diskriminierung – Geschichte des Begriffs 67

indirekten institutionellen Diskriminierung zielt dagegen auf die gesamte


Bandbreite institutioneller Vorkehrungen, die Angehörige bestimmter
Gruppen überproportional negativ treffen (vgl. zusammenfassend auch Go-
molla/Radtke 2009, S. 48ff.).
Ein Ereignis in der jüngeren britischen Geschichte, das auch in anderen eu-
ropäischen Ländern intensive Diskussionen über institutionellen Rassismus
auslöste, war die Veröffentlichung des Abschlussberichts der Macpherson-
Kommission (Macpherson of Cluny 1999) im Frühjahr 1999. In einem in
der britischen Geschichte beispiellosen fast 70-tägigen Tribunal war die fehl-
geschlagene polizeiliche Aufklärung der Ermordung des schwarzen College-
Schülers Stephen Lawrence untersucht worden. In dem Verfahren wurde in-
stitutioneller Rassismus auf allen Hierarchiestufen des Polizeiapparats, wie
auch in anderen Feldern von Politik und Verwaltung, detailliert zur Sprache
gebracht und als Ursache für die fehlgeschlagenen Ermittlungen bestimmt7.
Institutioneller Rassismus wird definiert als das
«kollektive Versagen einer Organisation, Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe,
Kultur oder ethnischen Herkunft eine angemessene und professionelle Dienstleis-
tung zu bieten. Er [institutioneller Rassismus] kann in Prozessen, Einstellungen
und Verhaltensweisen gesehen und aufgedeckt werden, die durch unwissentliche
Vorurteile, Ignoranz und Gedankenlosigkeit zu Diskriminierung führen und
durch rassistische Stereotypisierungen, die Angehörige ethnischer Minderheiten be-
nachteiligen. Er überdauert aufgrund des Versagens der Organisation, seine Exis-
tenz und seine Ursachen offen und in angemessener Weise zur Kenntnis zu neh-
men und durch Programme, vorbildliches Handeln und Führungsverhalten
anzugehen. Ohne Anerkennung und ein Handeln, um solchen Rassismus zu be-
seitigen, kann er als Teil des Ethos oder der Kultur der Organisation weit verbrei-
tet sein.» (Macpherson of Cluny 1999, S. 34; Übersetzung M.G.)
Diese Definition stellt einerseits ein vorbildliches Beispiel für die Übernah-
me politischer Verantwortung für institutionellen Rassismus als gesellschaft-
liches Problem dar. Bei genauerem Hinsehen weist sie jedoch einige konzep-
tionelle Schwächen und Widersprüche auf, die Theorien des institutionellen
Rassismus von Anfang an anhafteten.8
7 Stephen Lawrence wurde im April 1993 in Südlondon an einer Bushaltestelle von fünf weissen Jugendlichen, die
«What, what, nigger?» riefen, niedergestochen (Macpherson of Cluny 1999, 1.3). Die Polizei lehnte es ab, den Vorfall
als rassistische Attacke einzuordnen und verschleppte die Aufklärung bis zur Einstellung des Verfahrens. Aufgrund der
Beharrlichkeit der Eltern des Opfers kam es zu zwei Untersuchungen der polizeilichen Aufklärungsarbeit. Die im
Juli 1997 begonnene zweite offizielle Untersuchung, in deren Verlauf die gesamte polizeiliche Version der Ereignisse
zusammenbrach, kam zu dem Ergebnis, dass die Bearbeitung durch die Metropolitan Police «beeinträchtigt war durch
eine Kombination von beruflicher Inkompetenz, institutionellem Rassismus und mangelnder Führung durch leitende
Beamte» (ebd., 46.1).
8 Zu den theoretischen Implikationen und politischen Konsequenzen dieser Definition vgl. Marlow/Loveday (2000),
Bhavnani (2001), Hall (2001), Gillborn (2002, 2008), Wight (2003), Gomolla (2005, 2005a).
68 Probleme der empirischen Forschung und Theoriebildung

2 Probleme der empirischen Forschung und Theoriebildung

Trotz seines grossen Einflusses wurde das Konzept des institutionellen


Rassismus in den USA wie in Grossbritannien in den 1970er- und 1980er-
Jahren kontrovers diskutiert. Kritische Kommentatorinnen und Kommen-
tatoren (z.B. Williams 1985; Troyna/Williams 1986; Miles 1991; Omi/Wi-
nant 1994) bemängelten schon früh einen inflationären Gebrauch des
Begriffs, der losgelöst von seinem historischen Entstehungskontext jegliche
spezifische Erklärungskraft verloren habe. Diesseits wie jenseits des Atlantik
wurde eine sorgfältige Überprüfung und Weiterentwicklung der methodo-
logischen Grundlagen von der Vermischung mit politischen Taktiken und
dem Druck, schnelle, einfache und handhabbare Lösungen für die Praxis zu
entwickeln, überdeckt. Daraus resultierten zahlreiche Missverständnisse
und theoretische Kurzschlüsse, die z.T. auch in neueren Antidiskrimi-
nierungspolitiken noch nicht überwunden sind. Zentrale Problembereiche
lassen sich unter drei Aspekten zusammenfassen:

1) Soziologische Überdehnung und Essentialisierung des Rassismusbegriffs


Robert Miles (1991, S. 74ff.) betont ähnlich wie zahlreiche andere Autorin-
nen und Autoren (z.B. Williams 1985; Troyna/Williams 1986; Troyna
1993; Bhavnani 2001; Hormel 2007), dass die Perspektive des institutionel-
len Rassismus auf einer simplifizierenden Theorie der sozialen Stratifizierung
basiere. Die hierarchische Beziehung von Weissen und Schwarzen, die als
homogene Gruppen betrachtet werden, werde als hauptsächliche soziale
Konfliktlinie definiert. Die Bedeutung anderer Differenzachsen für den Zu-
gang zu gesellschaftlicher Macht und für die Aufrechterhaltung von Un-
gleichheit, wie v.a. die soziale Klassenstruktur und Geschlechterungleichhei-
ten, würde ausgeblendet.
Damit verbunden werde der Begriff «institutioneller Rassismus» auch sozio-
logisch überdehnt, indem – ausgehend von vorfindbaren Unterschieden
und Machtverhältnissen – pauschal «all diejenigen Vorgänge … welche be-
absichtigter- oder unbeabsichtigterweise in der fortgesetzten Ausgrenzung
einer untergeordneten Gruppe resultieren» (Miles 1991, S. 69) als rassistisch
definiert wurden. Miles kritisiert diese simplifizierende Definition von
(«weissem») Rassismus als «Vorurteil plus Macht» als teleologischen Rassis-
musbegriff, welcher bereits voraussetze, was im konkreten Fall erst empirisch
nachzuweisen wäre.
Probleme der empirischen Forschung und Theoriebildung 69

Miles (1991) hebt ferner hervor, dass die Definition von Rassismus als
strukturelle Beherrschung von Schwarzen durch Weisse die Analyse auf be-
stimmte historische Beispiele beschränke. Inwiefern Ausgrenzungspraktiken
auch in anderen Fällen, die sich nicht auf «schwarze» Menschen beziehen,
durch rassistische Ideologien gerechtfertigt werden können, lasse sich in die-
sem theoretischen Rahmen nicht erfassen.

2) Betrachtung isolierter Institutionen und Strategien, statt des sozialen Kontextes


Konträr zur soziologischen Überdehnung des Rassismusbegriffs wird die
Auseinandersetzung mit institutionellem Rassismus fälschlicherweise oft
auch auf isolierte Institutionen und deren innerer Dynamik beschränkt. Da-
bei werden direkte und kausale Beziehungen zwischen einer Form der Un-
gleichheit (z.B. Disparitäten in den Schulleistungen unterschiedlicher
Gruppen) und den Praktiken in dem jeweiligen institutionellen Sektor (dem
Bildungssystem) oder sogar in einzelnen Organisationen (z.B. einzelnen
Schulen oder Ämtern) unterstellt. Mit solchen vereinfachten Kausalzuschrei-
bungen werden jedoch die vielschichtigen Ursachen von Diskriminierung,
die nicht nur in den Organisationen selbst, sondern v.a. auch im breiteren
politischen und sozialen Kräftefeld zu suchen sind, verfehlt (vgl. Williams
1985; Troyna/Williams 1986; Troyna 1993; Bhavnani 2001). Die Rolle von
Rassismus für die Aufrechterhaltung von Machtstrukturen in der Gesell-
schaft gerät gar nicht erst in den Blick (vgl. Essed 1991):
«Understanding racism with reference to ideology, nation, identity construction,
the role of whiteness and the nature of ethnicity are rendered invisible. Tackling
racism comes to be seen as primarily about changing policies and procedures. Ra-
cism becomes redefined in social policy, away from its theoretical underpinnings,
resulting in confusion in practice and in the design of training courses.» (Bhavna-
ni 2001, S. 9)
In der Praxis führt eine isolierte Betrachtung einzelner Organisationen als
Problemursache unweigerlich zu pauschalisierenden Schuldzuweisungen
(nach dem Motto: «Dont’t blame individuals, blame the organization»;
Bhavnani 2001, S. 22) – die bei den beteiligten Akteuren nicht ganz zu Un-
recht oft Abwehr hervorrufen. Eine differenzierte Untersuchung der Pro-
blemursachen in den Einrichtungen selbst wie in ihrem politischen und so-
zialen Umfeld wird durch eine solche Verdinglichung von Organisationen
versperrt.
70 Probleme der empirischen Forschung und Theoriebildung

In Verbindung mit einem reduktionistischen Verständnis von institutionel-


lem Rassismus als Problem einzelner Organisationen beschränkt sich die
Diskussion auch oft auf die Entwicklung, Implementierung und Verbesse-
rung einzelner Massnahmen. Beide Probleme sind im Kontext der neuen
output-orientierten Steuerungsregime, die seit den 1980er-Jahren in den
(ehemaligen) westlichen Wohlfahrtsstaaten die Sozial- und Bildungspolitik
– und damit auch Antidiskriminierungspolitiken – rahmen, hoch aktuell
(Stichworte: Autonomisierung, New Public Management, Marktöffnung).
Ein lehrreiches Beispiel für diese Tendenz sind die in Grossbritannien nach
dem Macpherson-Tribunal (s.o. unter 2.) von der Regierung ergriffenen Ini-
tiativen zur Bekämpfung von Bildungsungleichheit und rassistischer Diskri-
minierung im Schulsystem. Nach der Veröffentlichung des Macpherson-Be-
richts hat die Regierung das Problem der institutionellen Diskriminierung
offiziell anerkannt und auf die Agenda gesetzt. Zahlreiche der von der Kom-
mission formulierten 70 weitreichenden Empfehlungen zur Verstärkung der
Rechenschaftslegung, zur Verbesserung der Gleichstellungsgesetze und zur
Überprüfung sämtlicher Vorkehrungen im öffentlichen Bereich (einschliess-
lich aller sich direkt auf die Schule beziehenden Empfehlungen) wurden
vom Innenministerium in einen Handlungsplan umgesetzt. Ziele der Anti-
diskriminierung wurden z.T. vorbildlich in das reguläre schulische Quali-
tätsmanagement (school improvement) integriert. Zu den zentralen Instru-
menten zählen differenziertes ethnisches Monitoring der Schulleistungen
auf allen Ebenen des Erziehungssystems, sowie die Vergabe spezieller Mittel
an die Schulen für lokale Schulentwicklung unter Zielen der Gleichstellung
benachteiligter ethnischer Gruppen.
Leider lässt diese für sich genommen innovative politische Strategie breitere
strukturelle Rahmenbedingungen im Erziehungssystem, von denen ein we-
sentlicher Einfluss auf schulischen Handeln unter Gesichtspunkten der
Gleichstellung zu erwarten ist, wie v.a. die hochgradig selektiven Schul-
strukturen, die Markt- und Wettbewerbsmechanismen und die autoritären
Top-Down-Systeme der Qualitätskontrolle, vollkommen unangetastet. Sol-
che strukturellen Widersprüche sind aber als eine wichtige Ursache für die
sich im Lauf des vergangenen Jahrzehnts immer deutlicher abzeichnende
Wirkungslosigkeit dieser Massnahmen anzusehen (vgl. Tikly 2006). U.a.
stellen sie die Akteure in der Praxis zwangsläufig vor Dilemmata, in denen
die Nichtbeachtung oder Preisgabe demokratischer Bildungsziele angelegt
ist (vgl. die unter 4. vorgestellte Studie von Gillborn & Youdell 2000; Go-
molla 2005, 2005a).
Probleme der empirischen Forschung und Theoriebildung 71

3) Ein System ohne Akteure?


Durchgehend problematisiert wird in der Literatur, dass unter dem Begriff
des institutionellen Rassismus die Unterscheidungen zwischen Überzeugun-
gen und Handlungen sowie zwischen Intentionalität und Nicht-Intentiona-
lität verwischt würden (vgl. Williams 1985; Miles 1991; Wieviorka 1995).
Für die Analyse der vielschichtigen Mechanismen von Diskriminierung in
Institutionen wie für die Gestaltung realisierbarer und wirksamer Gegen-
massnahmen ist es jedoch keineswegs trivial, ob Diskriminierung aus Ab-
sicht oder Überzeugungen resultiert; als unbeabsichtigte Folge von Ent-
scheidungen, bei denen Absichten und Überzeugung keine Rolle spielten,
zustande kommt oder eine Folge von für selbstverständlich gehaltener Pro-
zesse darstellt (vgl. Miles 1991, S. 81ff.).
Augrund dieser konzeptionellen Uneindeutigkeiten, so Williams (1985),
würden unter dem Label «institutioneller Rassismus» historisch-soziologi-
sche und (sozial)psychologische Erklärungen von Rassismus und Diskrimi-
nierung vermischt. Dabei wird – wie der britische Politikwissenschaftler Co-
lin Wight (2003) am Beispiel des Macpherson-Reports herausarbeitet –
auch unter dem Begriff des institutionellen Rassismus der erkenntnistheore-
tische Rahmen des methodologischen Individualismus nicht überwunden –
die Ursachen der Diskriminierung werden weiterhin auf der Ebene indivi-
dueller Einstellungsmuster und Entscheidungen gesucht.
Der französische Rassismustheoretiker Michel Wieviorka (1995) argumen-
tiert, dass die Eigenart von institutioneller Diskriminierung gerade darin be-
stehe, dass Repräsentationen und Wahrnehmungen von «Anderen» nicht di-
rekt und unmittelbar in Vorurteile und Entscheidungen übersetzt würden.
Gerade weil es eine erhebliche Institutionalisierung von Rassismus bzw. Dis-
kriminierung gebe, funktioniere Diskriminierung auf einer Ebene, die nicht
die gleiche sei wie die, auf der das Phänomen produziert werde. Zu untersu-
chen sei ein Set von Praktiken, die eine gewisse Autonomie und Eigendyna-
mik erreicht haben. Dies sei aber eine Dynamik, die von widersprüchlichen
Gefühlen und Interessen der einzelnen Akteure geformt sei, die aus der Ge-
schichte resultieren und der Selbstreproduktion der Gesellschaft dienen
(z.B. historisch gewachsene organisatorische Differenzierungen schulischer
Bildungsgänge und etablierte Normen und Praktiken der Leistungsbeur-
teilung und Differenzierung von Schülergruppen). Dabei sind die Bezie-
hungen zwischen diskriminierenden Einstellungsmustern und Absichten,
Praktiken und Effekten (in Form von Ungleichheiten) komplex und viel-
72 Probleme der empirischen Forschung und Theoriebildung

schichtig. Sie können zwar theoretisch postuliert, letztlich aber nur empi-
risch geklärt werden (vgl. Troyna/Williams 1986).
Im Hinblick auf die Dilemmata von intentionaler vs. nicht-intentionaler,
sowie bewusster vs. nicht-bewusster Diskriminierung hebt Wieviorka
(1995) des Weiteren hervor, dass die Lokalisierung von Diskriminierung auf
institutioneller Ebene keineswegs bedeute, dass man pauschal jede Intentio-
nalität ausschliessen und jedes Bewusstsein über die Diskriminierung ver-
neinen müsse. Im Gegenteil: Institutionelle Diskriminierung sei in der Pra-
xis nie vollkommen unsichtbar und maskiert für diejenigen, die davon
profitieren. Die Idee eines institutionellen Rassismus, der vom Bewusstsein
der Akteure abgespalten sei, führt Wieviorka zufolge zu unhaltbaren Parado-
xien. In einem solchen Verständnis würde nicht nur die dominierende
Gruppe als Ganzes des Rassismus beschuldigt. Die Thematisierung von in-
stitutionellem Rassismus könne auch leicht als Einladung an die Akteure
missverstanden werden, sich von jeglicher Verantwortung frei zu sprechen.
Barry Troyna und Jenny Williams schlagen insbesondere in ihrem Buch «Ra-
cism, Education and the State» (Troyna/Williams 1986, S. 55f.) eine Agen-
da zur theoretischen Klärung des Konzepts vor. Demnach muss die Beschäf-
tigung mit Phänomenen der institutionellen Diskriminierung zumindest
auf drei Sachverhalten basieren:
• einer klaren theoretischen Ausformulierung der Beziehungen zwischen
den (diskriminierenden) Institutionen,
• einem Verständnis der internen Operationen und Praktiken der Institu-
tionen und
• einem Verständnis der Beziehung zwischen den Individuen, die Teil der
Institution sind, und den Strukturen, innerhalb derer sie arbeiten.
Bei diesen Überlegungen lässt sich anknüpfen, wenn es darum geht, das
Konzept weiter zu operationalisieren und empirische Forschungen anzu-
schliessen.
Ein organisationsbezogenes Erklärungsmodell 73

3 Ein organisationsbezogenes Erklärungsmodell


institutioneller Diskriminierung im Erziehungs- und
Bildungssystem

Die oben beschriebenen Probleme legen nahe, als allgemeinere analytische


Kategorie den Begriff der «institutionellen Diskriminierung» – statt des in-
stitutionellen Rassismus – zu verwenden. Ersterer weist den Vorteil auf, dass
nicht von vornherein festgelegt wird, welche Differenzaspekte für das Zu-
standekommen von Diskriminierung eine Rolle spielen – dies ist empirisch
zu klären (vgl. Bhavnani 2001). Damit bleibt die Analyse anschlussfähig für
breitere Fragen der sozialen Ungleichheitsforschung und v.a. für intersektio-
nelle Forschungsansätze, die an der Interaktion unterschiedlicher Differenz-
aspekte in Prozessen der Diskriminierung interessiert sind.9
Diskriminierung als Organisationsgeschehen
Um die am Zustandekommen und an der Aufrechterhaltung von Diskrimi-
nierung in Organisationen konkret beteiligten Strukturen und Verfahrens-
weisen präzise zu erfassen, schlägt Rodolpho Alvarez (1979) vor, institu-
tionelle Diskriminierung ausschliesslich mit Organisationsvariablen zu
beschreiben und auf den Prozess der Belohnungsverteilung in Organisatio-
nen zu fokussieren (in der Schule v.a. Ressourcen und weitere Zugänge er-
öffnende Leistungsresultate und Abschlüsse):
«Institutional discrimination is a set of social processes through which organizatio-
nal decision making, either implicitly or explicitly, results in a clearly identifiable
population receiving fewer psychic, social, or material reward per quantitative
and/or qualitative unit of performance than a clearly identifiable comparison
population within the same organizational constraints.» (Alvarez 1979, S. 2;
Hervorhebung M.G.)
In Anlehnung an Alvarez (1979) müssen Untersuchungen institutioneller
Diskriminierung – da diese nicht direkt zu beobachten ist – in zwei Schritten
vorgehen:
Zunächst sind geeignete statistische Indikatoren zu entwickeln, die anzeigen,
dass bestimmte soziale Gruppen systematisch weniger Belohnungen oder
9 Dabei muss der Begriff des institutionellen Rassismus nicht gänzlich aufgegeben werden. Dass dieser eine zentrale Pro-
blemursache darstellen kann, könnte durchaus das Ergebnis empirischer Analysen sein. In einem solchen Verständnis
schlägt Miles (1991) vor, den Begriff des institutionellen Rassismus v.a. in zwei Fällen anzuwenden: «…erstens in sol-
chen, in denen Ausschliessungspraxen aus einem rassistischen Diskurs entstanden sind und ihn daher voraussetzen,
aber nicht mehr ausdrücklich mit ihm gerechtfertigt werden. Zweitens in Fällen, in denen ein explizit rassistischer Dis-
kurs modifiziert wird, so dass der offen rassistische Inhalt eliminiert ist, andere Worte, aber die ursprüngliche Bedeu-
tung transportieren.» (Miles 2000, S. 27)
74 Ein organisationsbezogenes Erklärungsmodell

Leistungen erhalten als klar identifizierbare Vergleichsgruppen. Empirische


Untersuchungen der Wirkungsweisen institutioneller Diskriminierung im
Erziehungs- und Bildungssystem müssen zeigen können, dass Unterschiede
in der Bildungsbeteiligung von Bevölkerungsgruppen nicht ursächlich auf
Eigenschaften der jeweiligen Teilpopulationen zurückzuführen sind, son-
dern als Effekte der Strukturen, Programme, Regeln und Routinen in den
Organisationen gelten können.
Angesichts der Schwierigkeiten bei der Interpretation statistischer Ver-
gleichsmasse ist ein vorsichtiger Pragmatismus ratsam. In der Praxis können
gemessene Unterschiede in der relativen Bildungsbeteiligung (Anteilswerte
und Beteiligungsquoten von Gruppen in Schulformen), den Schulleistun-
gen (Noten, Testergebnisse, Übergänge, Sitzenbleiberquoten) oder den Bil-
dungserfolgen (formale Abschlüsse) die Aufmerksamkeit auf Diskrepanzen
lenken (vgl. Diefenbach 2007, S. 14ff.). Wo diese signifikant sind, ist es
wahrscheinlich, dass die Gruppen mit den niedrigeren Werten nicht die
gleichen Bildungschancen erhalten. Sie könnten zusätzlichen Barrieren aus-
gesetzt sein, die verhindern, dass sie ihr volles Potenzial entfalten können.10
An diesen Stellen sind eingehendere Untersuchungen erforderlich, die v.a.
unter Anwendung qualitativer Verfahren der Frage nachgehen, wie die Un-
terschiede auf der Mikroebene der Organisationen in ihrem jeweiligen po-
litischen und sozialen Umfeld zustande kommen und welche Bedingungen
in den Organisationen und ihrem institutionellen Umfeld es möglich ma-
chen, dass Diskriminierung im organisationalen Handeln geschehen und
aufrechterhalten werden kann. Bezogen auf die Schule ist demnach sichtbar
zu machen, wie in einem Kontext, in dem i.d.R. nur Leistungskriterien eine
legitime Entscheidungsgrundlage darstellen, systematisch von askriptiven
Merkmalen (der ethnischen und sozialen Herkunft oder des Geschlechts)
Gebrauch gemacht wird; wie Prozesse, in denen bestimmte Gruppen weni-
ger bekommen als das, was ihnen normativ zusteht, mit Sinn ausgestattet
und legitimiert werden und welche institutionelle und organisatorische Fak-
toren – die vielleicht auf den ersten Blick mit Diskriminierung wenig zu tun
haben – daran beteiligt sind, dass askriptive Merkmale entscheidungsrele-
vant werden und dennoch der Anschein der Legitimität und Fairness ge-
wahrt bleibt:

10 Für eine ausführliche Diskussion der Probleme quantitativer Analysen zur Ermittlung der Effekte institutioneller
Diskriminierung s. Gomolla/Radtke (2009, S. 86ff.).
Ein organisationsbezogenes Erklärungsmodell 75

«[…] the variable to be explained is justifiability; that is, on what basis can a par-
ticular distribution pattern be justified. [...] The central and exciting part of the
analysis takes place in the identification and articulation of antecendent and in-
tervening variables by which to characterize normatively the process as eventual-
ly justifiable or not.» (Alvarez 1979, S. 7f.; Hervorhebungen M.G.)
Alvarez macht dabei auf einen wichtigen Punkt aufmerksam: Die i.d.R. als
illegitim geltende Verwendung askriptiver Merkmale der Klientinnen und
Klienten kann für die Aufgabenerfüllung und die Bestandsinteressen der
Organisationen ebenso funktional sein wie Leistungskriterien, die Ansprü-
che begründen. Denn Askriptionen erhöhen die Entscheidungsoptionen.11
Um diese Dynamiken empirisch untersuchen und theoretisieren zu können,
sind die Organisationen in ihrer historischen Gewordenheit zu begreifen
und in ihrem jeweiligen sozialen, politischen, ökonomischen und kulturel-
len Kräftefeld zu situieren.
Organisationales Handeln und gesellschaftlicher Kontext
Allokation qua Askription als gesamtgesellschaftlicher Mechanismus setzt
Machtarrangements innerhalb und ausserhalb der Organisation voraus, die
sich mit dieser Praxis in Übereinstimmung befinden (vgl. Alvarez 1979).
Die Analyse institutioneller Diskriminierung gewinnt ihre Perspektive gera-
de aus der Annahme, dass Diskriminierung in Organisationen nicht gänz-
lich spontan entsteht und dass die Gelegenheiten für einzelne Organisatio-
nen, zu diskriminieren, nicht zufällig verteilt sind. Die ursächlichen
Konstellationen können auf unterschiedlichen Ebenen liegen – im lokalen,
nationalen oder internationalen Kontext (vgl. Wight 2003, S. 173). Um sol-
che strukturellen Konfigurationen, die dazu beitragen, dass Diskriminie-
rung in Organisationen stattfinden und aufrechterhalten werden kann, zu
identifizieren, ist v.a. nach dem Einfluss rechtlicher Vorgaben, politischer
Prozesse, professioneller Normen und Wertorientierungen im sozio-kultu-
rellen Kontext der Organisationen, die auf die alltägliche Praxis normierend
einwirken, zu fragen (vgl. Gomolla/Radtke 2009; Gomolla 2005). Die je-
weilige Bedeutung dieser Faktoren für die Entstehung von Ungleichheit
lässt sich nur empirisch ermitteln.

11 Beispielsweise können bei der Neuaufnahme von Erstklässlerinnen und Erstklässlern in einer Grundschule das Inte-
resse, eine bestimmte Zügigkeit zu erhalten, eine Vorbereitungsklasse mit der nötigen Schülerzahl zu füllen, Proble-
me zu delegieren oder zukünftige zeitraubende Konflikte mit Eltern zu vermeiden, Strategien der Ethnisierung Vor-
schub leisten. Diese sind für die Organisation funktional – diskriminierende Wirkungen für die betroffenen Kinder
werden mit Verweis auf die begrenzten Kapazitäten und Möglichkeiten der Schule offenbar hingenommen (vgl. Go-
molla/Radtke 2009, S. 161ff.).
76 Ein organisationsbezogenes Erklärungsmodell

Schule als organisierte Institution


Um sichtbar zu machen, wie die institutionellen Arrangements in Schulen
und ihrem Umfeld – d.h. die organisatorischen Strukturen, Programme, ex-
pliziten und impliziten Regeln, Routinen und Praktiken – die soziale Kon-
struktion und Rekonstruktion von Differenzen im pädagogischen Alltag,
v.a. in schulischen Allokations- und Selektionsentscheidungen als einem
zentralen gesellschaftlichen Verteilungsprozess, (mit)hervorbringen und
steuern, ist es erforderlich, vorliegende Diskriminierungskonzepte mit wei-
teren Theorien zu ergänzen, die das Verhältnis von Individuen, die Teil von
Institutionen sind, und den institutionellen Strukturen, in denen sie arbei-
ten und agieren, genauer fassen.
Zu diesem Zweck lassen sich theoretische Überlegungen zur Organisation
der Schule heranziehen, die unter den Bezeichnungen «lose Kopplung», «ver-
haltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie» und «Neo-Institutionalismus»
bekannt sind. Diese stellen die im scientific management vermittelte Vorstel-
lung, Organisationen seien technisch-rationale Instrumente, um organisato-
rische Aktivitäten effizient zu steuern, in Frage. Im Vordergrund stehen
stattdessen Fragen, wie Entscheidungen in Organisationen über die Eigen-
rationalität und die Mikropolitik in Organisationen hervorgebracht und be-
grenzt werden und welche Faktoren im Umfeld der Organisationen solche
konkreten Prozesse beeinflussen (vgl. Meyer/Rowan 1977, 1978; Weick
1976; March 1990; Olsen 1991; Powell/DiMaggio 1991). Die normativen
und inhaltlichen Handlungsprämissen der Akteure werden dazu zwar als
unabdingbares Element organisatorischer Entscheidungsprozesse aufgefasst;
im Vordergrund steht jedoch die Frage, wie die systemische Rationalität der
gesamten Organisation Schule das individuelle Verhalten von Lehrperso-
nen, Schulleiterinnen und Schulleitern oder Fachkräften in um die Schulen
gelagerten Behörden u.a. Institutionen strukturiert und steuert (vgl. Go-
molla/Radtke 2009; Gomolla 2005).12
Im nächsten Abschnitt illustriere ich das Potenzial der Perspektive der insti-
tutionellen Diskriminierung für die Analyse schulischer Selektionsprozesse
an zwei Untersuchungen. Beide Studien zeigen, dass Diskriminierung im
Schulalltag mitnichten allein aus individuellen Einstellungsmustern und so-
zialen Interaktionen resultiert, sondern zu einem Grossteil in den formalen
Rahmenbedingungen des professionellen Handelns angelegt ist.

12 Christian Imdorf hat diesen Erklärungsansatz in seinen Untersuchungen der Lehrlingsselektion in Schweizer Betrie-
ben aufgegriffen und weiterentwickelt (vgl. Imdorf 2008).
Konstruktion sozialer Differenz in schulischen Entscheidungspraktiken 77

4 Konstruktion sozialer Differenz in schulischen


Entscheidungspraktiken

In einer in den 1990er-Jahren von der Verfasserin mit durchgeführten Stu-


die (vgl. Gomolla/Radtke 200913) wurden am Fallbeispiel der Stadt Biele-
feld zentrale Bildungsübergänge von Kindern aus Einwandererfamilien im
Grundschulbereich untersucht (Einschulung, Umschulung auf eine Sonder-
schule für Lernbehinderte und Übertritt auf die weiterführende Schule).
Schulstatistische Daten verwiesen auf gravierende Benachteiligungen von
Kindern mit ausländischem Pass14 an den drei Übergangsschwellen (vgl.
ebd., S. 125ff.). Mit Hilfe qualitativer Verfahren (v.a. Interviews mit Schul-
leitungen, Lehrkräften und Vertreterinnen und Vertretern der städtischen
Schulbehörde) wurden die Entscheidungsprozesse in den Schulen unter-
sucht.
Im Gesamtergebnis liess sich eine Fülle von Mechanismen der direkten und
indirekten Diskriminierung, eingebettet in den schulischen Routinen, re-
konstruieren. Die Studie zeichnet nach, wie Muster der Diskriminierung
und Abweisung entlang von Normalitätserwartungen in Bezug auf die Lern-
und Sprachfähigkeit, wie sie deutschsprachigen, im weitesten Sinne christ-
lich sozialisierten Mittelschicht-Kindern entsprechen, die Schullaufbahn
von Kindern mit Migrationshintergrund von der Einschulung bis zum Ver-
lassen der Schule prägten. Schulen machen in den allfälligen Prozessen der
Differenzierung und Auslese unter dem vorrangigen Ziel, homogene Lern-
gruppen zu bilden, systematisch von Zuschreibungen hinsichtlich des
sprachlichen und sozio-kulturellen Hintergrundes eines Kindes als Indika-
toren für das Lern- und Leistungsvermögen Gebrauch. Kinder mit Migrati-
onshintergrund wurden auf vielfältige Weise negativer beurteilt als ihrem
Leistungsvermögen entsprach, vom Regelunterricht ausgegrenzt und in an-
forderungstieferen Bildungsgängen platziert. Diese Praktiken waren mit den
strukturellen Rahmenbedingungen des schulischen Handelns – v.a. verfüg-
bare Fördermöglichkeiten und das gegliederte Sekundarschulsystem – eng
verzahnt.
Einige wenige Beispiele illustrieren, wie institutionelle Diskriminierung
funktioniert:

13 Erstmalig veröffentlicht 2002.


14 Aufgrund der damals verfügbaren schulstatistischen Daten konnten nur die Staatsangehörigkeiten der Schülerpopu-
lation erfasst werden. Auch die Merkmale Geschlecht und soziale Herkunft wurden aufgrund der Datenlage bei der
Beschreibung der Schülerpopulation nicht systematisch kontrolliert. Im qualitativen Teil der Studie wurde die Rele-
vanz dieser Merkmale und ihre Verbindung mit Aspekten der Nationalität, Sprache, Ethnizität und Religion in den
Deutungshaushalten der Akteure aufgezeigt.
78 Konstruktion sozialer Differenz in schulischen Entscheidungspraktiken

• Bei der Einschulung wurden in Schulen ohne separate Förderklassen


zum Erwerb von Deutschkenntnissen Kinder mit anderen Erstsprachen
als Deutsch auch ersatzweise vermehrt in den Schulkindergarten oder so-
gar in den Kindergarten zurückgestellt. Eine der interviewten Schulleite-
rinnen kommentierte diese Praxis mit der Aussage: «Mangelnde Sprach-
kenntnisse gehen oft Hand in Hand mit anderen Schwierigkeiten, die
das Kind noch hat.» (Ebd., S. 172)
• Separate, die Schulzeit verlängernde Fördermassnahmen bei Schulbe-
ginn konnten im weiteren Ausleseprozess in der Grundschule die
Schwelle senken, dass zur Abklärung möglicher weiterer Lernschwierig-
keiten ein Sonderschulaufnahmeverfahren eingeleitet wurde – in den
Worten eines Schulleiters: «Dass man sich bereits am Ende des ersten
Schuljahres schon mal den Rat der Sonderschule holt, ob das Kind son-
derschulbedürftig ist. Das ist besonders dann der Fall, wenn das Kind
schon ein Jahr zu alt ist, also z.B. im Schulkindergarten gewesen ist.»
(Ebd., S. 222) Generell wurden in den Interviews wie in ausgewerteten
Sonderschulgutachten häufig der Sprachstand der Kinder und Annah-
men über ihr sozio-kulturelles Herkunftsmilieu und ihre religiöse Orien-
tierung («Rückzug in die Herkunftsgruppe», «Koranschulbesuch» und
«islamischen Fundamentalismus») als zentrale Argumente angeführt, um
das Vorliegen einer schwerwiegenden Lernstörung und eine Umschulung
zu begründen.
• Vor dem Hintergrund fehlender Sprachförderung an den höheren Se-
kundarschulformen wurde in der vierten Grundschulklasse selbst bei gu-
ten Noten vermehrt der Besuch der Real- oder Hauptschule empfohlen,
mit der Begründung, ohne perfekte Deutschkenntnisse sei kein Erfolg
auf dem Gymnasium möglich. Kulturalisierende Annahmen im Hin-
blick auf die Unterstützungsmöglichkeiten der Eltern wurden ebenfalls
als ausschlaggebendes Prognosekriterium für den künftigen Lernerfolg
auf der Sekundarstufe angeführt («dass die Realschule für ausländische
Eltern eine überschaubare Schulform ist»; ebd., S. 257). Entscheidungen
für eine Sekundarschulform wurden auch strategisch umgangen, indem
die Gesamtschule von vornherein als die Schule für Kinder mit Migrati-
onshintergrund erachtet wurde. Dabei wurde u.a. selten in Rechnung ge-
stellt, dass zum Zeitpunkt der Studie die Gesamtschulen in der unter-
suchten Kommune aufgrund des grossen Nachfrageüberhangs eine
«Ausländerquote» in Höhe des Anteils an der Gesamtpopulation an-
wandten oder versuchten, ihre Klientel gezielt in Mittelschichtbezirken
zu rekrutieren.
Konstruktion sozialer Differenz in schulischen Entscheidungspraktiken 79

Solche Prozesse resultieren oft aus der Verkettung von Einzelentscheidungen


innerhalb einer Schule oder im Zusammenwirken unterschiedlicher Institu-
tionen. Sie erklären sich aus dem Zusammenspiel von politischen Vorgaben,
Merkmalen des lokalen Schulsystems, organisatorischen Handlungszwän-
gen und etablierten Praktiken in einzelnen Schulen sowie einem pädagogi-
schen Handlungswissen, das stark von defizitorientierten Annahmen und
statischen Konzepten kultureller Identität bestimmt ist.
Einen ähnlichen Erklärungsansatz verfolgt eine britische Studie, in welcher
die Auswirkungen auf Chancengleichheit durch spezifische Bildungsreformen
untersucht werden; Bildungsreformen, die gegenwärtig in vielen Ländern um-
gesetzt werden und in besonderer Weise markt- und output-orientiert sind.
David Gillborn und Deborah Youdell (2000) gingen in einer zweijährigen
ethnografischen Feldforschung in zwei Sekundarschulen der Frage nach, wie
bei den in den 1990er-Jahren insgesamt jährlich steigenden Leistungsergeb-
nissen das Gefälle entlang der Trennlinien Gender, ethnische Herkunft und
soziale Herkunft kontinuierlich anwachsen konnte. In ihrer Arbeit zeichnen
sie detailliert nach, wie der Leistungswettbewerb die Schulen zwingt, ihr ge-
samtes Handeln an den für die öffentlichen Schulrankings relevanten Quoten
der höheren Abschlussprüfungen am Ende der 11. Klasse (Grade A* bis C im
General Certificate of Secondary Education, GCSE)15 zu orientieren. In den
Schulen wurde eine regelrechte «A-to-C-economy» identifiziert, die sich in ei-
nem Spektrum unterschiedlicher Strategien zur Selektion und damit verbun-
dener Rationierung von Unterricht und Betreuung – nicht nach Bedürfnissen
der Kinder, sondern nach Nutzenkalkülen der Schulen (!) – manifestierte:
• So wurde, um das «Begabungsprofil» zu verbessern, in einer Schule die
Zahl von Schülerinnen und Schülern aus der Mittelschicht erhöht.
• Zur effizienten Identifikation von «Begabungen» wurden Tests privater
Agenturen benutzt, deren Wirkungen unter Gesichtspunkten der Fair-
ness in sprachlich-kulturell heterogenen Kontexten zweifelhaft waren.
• Auf der Grundlage solcher Testdaten wurden vermehrt Niveaukurse (in
einzelnen Fächern) und «fast tracks» für besonders Begabte eingerichtet.
Besondere Lernbedürfnisse, einschliesslich Unterricht in Englisch als zu-
sätzlicher Sprache, galten als Defizite. Die Betroffenen fanden sich zumeist
in den Gruppen, in denen schulischer Erfolg als unwahrscheinlich galt. Bei
der Anmeldung zu den gestuften GCSE-Prüfungen war die Wahrschein-

15 Das General Certificate of Secondary Education (GCSE) wird regulär am Ende der Sekundarstufe I (11. Klasse) abge-
legt und entscheidet über das Vorrücken in die Sekundarstufe II.
80 Effekte von Diskriminierung auf den Lernerfolg

lichkeit für schwarze Jugendliche, nur für das unterste Niveau zugelassen
zu werden, erheblich grösser als für Weisse.16
• Am sichtbarsten wurde die Rationierung von Unterricht und Betreuung
bei der Identifikation derjenigen, die mit gezielter Förderung in den Ab-
schlussexamina in einzelnen Prüfungsfächern einen Sprung von einem
niedrigen D-Abschluss zu einem C-Abschluss schaffen könnten. Eine
solche «zweite Chance» erhielten tendenziell eher weisse, männliche
Jugendliche aus der Mittelschicht. Zu den «hoffnungslosen Fällen»
gehörten vor allem schwarze Kinder aus ökonomisch deprivierten Ver-
hältnissen.
Die britische Studie macht die Verschärfung der sozialen Selektivität in
marktförmig organisierten Bildungssystemen deutlich. In Verbindung mit
den öffentlichen Schulrankings, auf deren Grundlage Eltern und Kinder
ihre Schule auswählen, wurden rückschrittliche und wissenschaftlich unzu-
reichend fundierte Konzepte von «Begabung» bzw. «underachievement» als
zentrale Problemursache identifiziert. Diese Konzepte von Begabung als ei-
nem festen, generalisierbaren und messbaren Potenzial erwiesen sich an-
schlussfähig für verbreitete Stereotype von schwarzen Jugendlichen als an-
geblich weniger begabt oder störend.

5 Effekte von Diskriminierung auf den Lernerfolg

Der hohe Stellenwert, der der Auseinandersetzung mit Phänomenen der in-
dividuellen und institutionellen Diskriminierung im Kontext schulischer
Erziehung und Bildung zukommt, wird durch eine Fülle neuerer sozial- und
pädagogisch-psychologischer Studien unterstrichen, welche die Auswirkun-
gen von Diskriminierung auf das schulische Lernen und die Leistungsent-
wicklung von Schülerinnen und Schülern zu erfassen suchen. Solche For-
schungsarbeiten basieren zumeist auf Theorien über «Stereotype Threat»
(Bedrohung durch Stereotype) und Erwartungseffekten oder sie stehen in
der Tradition der in den USA, Grossbritannien u.a. Ländern etablierten
«Tracking»-Forschung, die die Auswirkungen von Leistungsgruppierung
und curricularer Differenzierung auf den Bildungserfolg unterschiedlicher

16 Die GCSE-Examina werden in vielen Schulen als gestufte Prüfungen durchgeführt. Die Schülerinnen und Schüler
erhalten in gleichen Fächern unterschiedliche Aufgabenblätter, die nur bestimmte erreichbare Noten zulassen. Somit
kommt der Entscheidung der Lehrpersonen, zu welchem Examen jemand zugelassen wird, eine wichtige Selektions-
funktion zu (vgl. Gillborn/Youdell 2000, 102ff.).
Effekte von Diskriminierung auf den Lernerfolg 81

sozialer Gruppen untersucht. Ich fasse in Anlehnung an umfassende Über-


blicksarbeiten der amerikanischen Sozialpsychologinnen Janet Schofield
und Kira Alexander (2006, 2010), zentrale Forschungstendenzen zusam-
men.
Stereotype Threat bezeichnet «Die Angst davor, dass die eigenen Leistungen
auf Basis von negativen Stereotypen über die eigene Gruppe beurteilt und
deshalb für unzulänglich befunden werden könnten.» (Schofield 2006) Un-
tersuchungen in vielen Ländern bestätigen, dass Stereotype Threat in Bezug
auf den nationalen Hintergrund u.a. Attribute wie niedriger sozio-ökono-
mischer Status oder geringe Kenntnisse der Schulsprache wahrgenommen
wird. Bedrohung durch negative Stereotype beeinträchtigt die Leistung in
Situationen, in denen sie wahrgenommen wird, durch gesteigerte Ängste
und den Abzug kognitiver Ressourcen für Gedanken oder die Unterdrü-
ckung von Gedanken, die sich um das Negativ-Stereotypisiert-Werden dre-
hen. Sie produziert ferner eine Reihe von selbst-behindernden Verhaltens-
mustern, die erfolgreiches Lernen langfristig untergraben. Hierzu zählen v.a.
mangelnde Bereitschaft, schwierigere Aufgaben anzugehen; verminderte
Leistungserwartungen; das Schaffen von Entschuldigungen für antizipiertes
Versagen, die nichts mit dem Stereotyp zu tun haben; die Attribution von
Problemursachen auf Dinge, über die man keine Kontrolle hat, statt persön-
liche Verantwortung zu übernehmen – was dazu führt, dass wichtige Infor-
mationen, um Leistung zu verbessern, verloren gehen. Eine verbreitete Re-
aktion besteht auch im Versuch, das Selbstwertgefühl zu schützen, indem
sich Betroffene vom bedrohlichen akademischen Bereich psychologisch dis-
tanzieren.
In Deutschland gibt es kaum Untersuchungen über die Angst vor Stereoty-
pen von Kindern mit Migrationshintergrund und/oder aus einkommens-
schwachen Familien in der Schule. Da Stereotype Threat auch bei kleinen
Kindern festgestellt wird, ist insbesondere in Verbindung mit der frühen Se-
lektion davon auszugehen, dass dieser Mechanismus auch im deutschen
Sprachraum für die Erklärung von Bildungsungleichheit eine wichtige Rol-
le spielt.
Der Begriff «Erwartungseffekt» bezieht sich auf unterschiedliche Lehrerer-
wartungen hinsichtlich des Leistungspotenzials ihrer Schülerinnen und
Schüler. Dabei verbessern diejenigen, an welche hohe Erwartungen her-
angetragen werden, ihre Leistungen und diejenigen, welche niedrigen
Erwartungen ausgesetzt sind, fallen ab. Viele Studien zeigen, dass
Erwartungseffekte i.d.R. klein aber reliabel sind. Kinder mit niedrigem so-
82 Effekte von Diskriminierung auf den Lernerfolg

zio-ökonomischen Status, Migrations- oder Minoritätenhintergrund sind


häufiger negativ betroffen (vgl. Jussim/Harber 2005). Als Verbindungsglied
zwischen Lehrererwartungen und der akademischen Entwicklung von Schü-
lerinnen und Schülern erweisen sich: 1. das sozio-emotionale Klima in Un-
terricht und Schulleben; 2. Formen des Feedback; 3. herausfordernder In-
put und Material; 4. Gelegenheiten für Schülerinnen und Schüler, dass sie
auf Material reagieren können (z.B. durch Aufrufen oder Augenkontakt).
Ähnlich wie Stereotype Threat sind Erwartungseffekte als Ursache des Bil-
dungsmisserfolgs von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshinter-
grund in Deutschland kaum erforscht. Es ist aber anzunehmen, dass sie eine
wichtige Rolle spielen, u.a. weil das Problem bewusst ist und Studien auf ne-
gative Stereotype über Bildungsinteressen und Potenziale bestimmter Grup-
pen verweisen. Auch gibt es nur wenige Lehrkräfte mit Migrationshinter-
grund. Zudem erweisen sich Erwartungseffekte als besonders gross bei
jüngeren Kindern, wenn Lehrkräfte wenig Chancen haben, Kinder als Indi-
viduen kennenzulernen und wenn Kinder wenig verbal interagieren. Diese
Tendenzen verstärken die frühe Selektion und die zentrale Rolle der Lehrer-
empfehlung für den Übergang in die Sekundarstufe.
Sowohl in Untersuchungen zum Stereotyp Threat als auch in Studien von Er-
wartungseffekten gerät das breitere Lernsetting bestenfalls indirekt in den
Blick. Demgegenüber fokussiert die in den USA, Grossbritannien u.a. Län-
dern etablierte «Tracking»-Forschung auf die Auswirkungen von Leistungs-
gruppierung und curricularer Differenzierung auf den Bildungserfolg unter-
schiedlicher sozialer Gruppen. Der Begriff «Leistungsgruppierung» bezieht
sich auf Praktiken der Zuweisung von Schülerinnen und Schülern zu unter-
schiedlichen Lernumgebungen, basierend auf Intelligenz, fachlichen Fähig-
keiten, Noten oder Testergebnissen. «Curriculare Differenzierung» meint
hingegen die Bereitstellung unterschiedlicher Lernangebote – von indivi-
dualisierten Aufgaben im gemeinsamen Unterricht bis hin zu komplett un-
terschiedlichen Programmen in unterschiedlichen Schulformen.
Schofield und Alexander ziehen die Bilanz, dass differenzierte Schulsysteme
und verwandte Formen der Leistungsdifferenzierung mit unterschiedlichen
Lehrplänen zur Verstärkung von Bildungsdifferenzen zwischen leistungs-
stärkeren und leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern beitragen,
indem die Entwicklung letzterer beeinträchtigt wird. Da Kinder und Ju-
gendliche mit Migrationshintergrund und geringem sozio-ökonomischen
Status vermehrt in den anforderungstieferen Bildungsgängen zu finden sind,
trägt Leistungsgruppierung mit curricularer Differenzierung wesentlich
Schlussfolgerungen und Handlungsperspektiven 83

dazu bei, dass sich die Schere zwischen den Bildungserfolgen unterschiedli-
cher Gruppen weiter öffnet. Als Hauptfaktoren, die das Lernen in homoge-
nen Gruppen leistungsschwächerer Schüler/innen beeinträchtigen, werden
genannt: weniger anspruchsvolle Lerninhalte, weniger pädagogisch effekti-
ves Verhalten der Lehrgruppe und Peergruppen-Prozesse, die das Lernen ne-
gativ beeinflussen.

6 Schlussfolgerungen und Handlungsperspektiven


Unter der Fragestellung nach realisierbaren und wirksamen Strategien, um
Diskriminierung im Schulalltag sichtbar zu machen und zu unterbinden,
lassen sich aus den eher bildungssoziologisch ausgerichteten Studien über
institutionelle Diskriminierung im Rahmen schulischer Allokations- und
Selektionsentscheidungen und aus psychologischen Untersuchungen der
Auswirkungen von Diskriminierung auf die akademische Entwicklung von
Kindern und Jugendlichen einige gemeinsame Konsequenzen ableiten.
Studien zur institutionellen Diskriminierung machen ersichtlich, dass die
Strategie der Förderung der «benachteiligten» Schülerinnen und Schüler
durch kompensatorische Zusatzmassnahmen, v.a. im Bereich der Sprachför-
derung, sowie die Sensibilisierung der einzelnen Lehrerinnen und Lehrer in
Aus- und Fortbildung im Umgang mit Diversität, etwa durch Fortbildun-
gen zur Verbesserung der pädagogischen Diagnosekompetenz, allein wenig
ausrichten können. Denn das breitere institutionelle Setting, in dem Diskri-
minierung durchaus funktional sein kann, wird in dieser Herangehensweise
weitgehend ausgeblendet.
Wenn schulische Organisationsstrukturen, Programme und Praktiken nicht
konsequent auf die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit einem
breiten Spektrum von sprachlichen Voraussetzungen und sozialen Identitä-
ten und Lebenshintergründen ausgerichtet sind, wird Heterogenität im Be-
rufsalltag von Erzieherinnen und Erziehern, Lehrkräften u.a. mit schuli-
scher Bildung befassten Professionellen zwangsläufig als Verunsicherung
erlebt. Unterschiedliche Bildungsvoraussetzungen und Entwicklungsstände
von Heranwachsenden, die zu bearbeiten Aufgabe des pädagogischen Han-
delns in Unterricht und Schulleben sein sollten, werden dann als Störung
und Beeinträchtigung der regulären Lehrerarbeit wahrgenommen. So ent-
steht eine Dynamik in den Organisationen, in der sprachliche und sozio-
kulturelle Differenzen v.a. zur Rechtfertigung für schulisches Scheitern und
84 Schlussfolgerungen und Handlungsperspektiven

Ausgrenzung genutzt werden. Wie v.a. die umfangreiche Literatur aus Eng-
land belegt, werden solche Tendenzen in marktförmig organisierten Bil-
dungssystemen dramatisch verstärkt. Hier werden Kinder mit erwarteten
Defiziten in der Unterrichtssprache oder Lernbeeinträchtigungen verstärkt
als besonders kostenträchtige und daher unattraktive Gruppen wahrgenom-
men, die ein Mass an pädagogische Instabilität in den Unterricht bringen,
das die Homogenität der «effektiven Schule» bedroht.
Der sicherste Weg, die für die Lebensperspektiven Tausender junger Er-
wachsener, die Jahr für Jahr die Schule verlassen, aber auch für die Gesell-
schaft als Ganzes, schwerwiegenden negativen Effekte von Diskriminierung
im Schulalltag zu vermeiden, besteht zweifellos darin, die segregativen
Schulstrukturen abzuschaffen und sie durch eine gemeinsame Schule für alle
zu ersetzen. Wie die jüngsten politischen Debatten über die Abschaffung der
Hauptschulen in Deutschland bestätigen, rufen solche Vorhaben gewöhn-
lich beträchtlichen politischen Protest, v.a. von Eltern, deren Kinder die hö-
heren Bildungsgänge besuchen, auf den Plan.
Wenn solche Reformen in der gegenwärtigen politischen Situation nicht
durchsetzbar sind, besteht eine vielversprechende Alternative, um einerseits
die Dynamik der Benachteiligung und Ausgrenzung «anderer» Schülerinnen
und Schüler beim Zugang zu und in Schulen zu durchbrechen und anderer-
seits, da wo die Selektion schon stattgefunden hat – d.h. in Klassen mit nied-
rigen Leistungen und oder Schulen mit hohen Anteilen von Kindern mit
Migrationshintergrund und aus Familien mit geringen materiellen Ressour-
cen – die Lernentwicklung und Leistungen der Schülerinnen und Schüler zu
verbessern, darin, bewusst die Qualität der Curriculumsinhalte und der pä-
dagogischen Praktiken zu verbessern.
Umfassende Strategien einer solchen Schul- und Unterrichtsentwicklung,
die der migrationsbedingten Heterogenität auf den unterschiedlichen Ge-
staltungsebenen der Schulentwicklung Rechnung trägt, könnte – wenn sie
konsequent genug betrieben wird – längerfristig dazu beitragen, die Spiel-
räume für grundlegendere Strukturreformen zu erweitern. Bei einer solchen
Schulentwicklung wären v.a. die folgenden Aspekte zu berücksichtigen:
• Kohärente politische Strategien: Um eine Bildungs- und Erziehungskultur
zu schaffen, die die Auseinandersetzung mit institutioneller Diskriminie-
rung ermutigt, müssen die entsprechenden politischen Instanzen eine
führende Rolle übernehmen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Bil-
dungsungleichheit in keinem politischen Handlungsfeld isoliert be-
kämpft werden kann. Initiativen sind auch auf integrationspolitischer
Literatur 85

Ebene, in der Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik und im Beschäf-


tigungssystem unabdingbar.
• Mainstreaming: Damit die Schule ihren Beitrag leisten kann, müssen
Massnahmen in antidiskriminierender Absicht relevant sein. Sie dürfen
nicht abgekoppelt sein von anderen Initiativen und Reformen, die die
schulischen Strukturen und Routinen beeinflussen. Themen der sozialen
Heterogenität und Gleichheitsziele müssen explizit in laufenden Re-
formvorhaben verankert und zum relevanten Prüfkriterium für die Qua-
lität anderer Reformelemente werden, wie etwa die Autonomisierung der
Schulen und die Einführung neuer Instrumente zum schulischen Quali-
tätsmanagement. Ein solcher Ansatz wird im Schweizer Kanton Zürich
mit dem Programm «Qualität in multikulturellen Schulen» verfolgt.
• Komplexe Strategie einer partizipationsorientierten Organisationsentwick-
lung: Generell müssen Handlungsansätze, um die Mechanismen institu-
tioneller Diskriminierung zu identifizieren, abzustellen und zu vermei-
den, eine zweifache Stossrichtung aufweisen: In Verbindung mit einer
besseren Adaption der Einrichtungen und ihrer Angebote und Arbeits-
weisen an veränderte Bildungserfordernisse ist eine Steigerung der Pro-
blemlöse- und Lernfähigkeit der Organisationen in Bezug auf Aspekte der
Heterogenität und Gleichheit anzustreben. Individuen und Organisatio-
nen sind darin zu unterstützen, ihre eigenen Handlungskontexte und Ar-
beitskulturen auf Einseitigkeiten und Diskriminierungen hin zu unter-
suchen und Veränderungen zu initiieren. Eine solche Arbeit erfordert
längerfristige Perspektiven, externe Vorgaben, Richtlinien und Über-
prüfungsmethoden, den Einbezug externer Fachleute und die Zusam-
menarbeit mit einer Vielzahl von Akteuren in den Organisationen und
aus ihrem Umfeld. Die Umsetzung einer solchen Schulentwicklung setzt
dialogische und konflikt- und partizipationsorientierte Arbeitsweisen
voraus.

Literatur
Alvarez, R. (1979). Institutional Discrimination in Organizations and their Environments.
In: Alvarez, R., Lutterman, K.G. and Associates, Discrimination in Organizations (S. 2–49).
San Francisco et al.: Jossey-Bass Publishers.
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2008). Bildung in Deutschland 2008. Ein indi-
katorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Übergängen im Anschluss an den Sekundar-
bereich I. Gütersloh: Bertelsmann.
86 Literatur

Auernheimer, G. (Hrsg.) (2009). Schieflagen im Bildungssystem. Die Benachteiligung der


Migrantenkinder. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. (4. Aufl.)
Becker, R. (2000). Klassenlage und Bildungsentscheidungen. Eine empirische Anwendung
der Wert-Erwartungstheorie. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie,
52(3), S. 450–474.
Bhavnani, R. (2001). Rethinking Interventions in Racism. Commission for Racial Equality.
Stoke-on-Trent: Trendham Books.
Bielefeldt, H. (2005). Diskriminierungsschutz als menschenrechtliche Verpflichtung. Berlin:
Deutsches Institut für Menschenrechte. Im Internet abrufbar unter: http://www.aric.de/file-
admin/users/aric/PDF/Antidiskriminierungsgesetz/inst_menschenrechte_stellungnahme_le
sung.pdf
Blauner, R. (1970). Racial Oppression in America. New York: Harper and Row.
Bos, W., Lankes, E.-M., Prenzel, M., Schwippert, K., Valtin, R., Walther, G. (2003). Erste
Ergebnisse aus IGLU. Schülerleistungen am Ende der vierten Jahrgangsstufe im internatio-
nalen Vergleich. Münster: Waxmann.
Bos, W., Lankes, E.-M., Prenzel, M., Schwippert, K., Valtin, R., Walther, G. (2004). Einige
Länder der Bundesrepublik Deutschland im nationalen und internationalen Vergleich.
Münster: Waxmann.
Bundesministerium der Justiz (2006). Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz. Im Internet
abrufbar unter: http://www.gesetze-im-internet.de/agg/BJNR189710006.html
Campbell, C. (Hrsg.) (2002). Developing inclusive schooling. Perspectives, policies and
practices. Institute of Education; University of London.
Carmichael, S., Hamilton, C.V. (1967). Black Power. The Politics of Liberation in America.
London: Penguin.
Diefenbach, H. (2007). Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien im deutschen Bil-
dungssystem. Erklärungen und empirische Befunde. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissen-
schaften.
Essed, P. (1991). Understanding Everyday Racism. London: Sage.
Esser, H. (1990). Familienmigration und Schulkarriere ausländischer Kinder und Jugendli-
cher. In: Esser, H., Friedrichs, J. (Hrsg.): Generation und Identität. Theoretische und emiri-
sche Beiträge zur Migrationssoziologie (S. 127–146). Opladen: Westdeutscher Verlag.
Europäische Union (EU) (2000a). Richtlinie 2000/43/EG DES RATES vom 29. 6. 2000 zur
Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethni-
schen Herkunft. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft, L 180/22, DE, 19. 7. 2000.
European Commission Against Racism and Intolerance (ECRI) (2002). General policy re-
commendation No 7 on national legislation to combat racism and racial discrimination. Im
Internet abrufbar unter: http://www.coe.int/ecri
Literatur 87

Europäische Union (EU) (2000b). Richtlinie 2000/78/EG DES RATES vom 27. 11. 2000
zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in
Beschäftigung und Beruf. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft, L 303/16, DE,
2.12.2000.
Feagin, J.R., Feagin, C.B. (1986): Discrimination American Style - Institutional Racism and
Sexism. Malabar: R.E. Krieger Publishing Company.
Gillborn, D. (2002). Education and institutional discrimination. Based on an Inaugural Pro-
fessorial Lecture delivered at the Institute of Education, University of London on 13 March
2002. Institute of Education; University of London.
Gillborn, D. (2008). Racism and Education. Coincidence or Conspiracy. London: Routledge.
Gillborn, D., Youdell, D. (2000). Rationing Education. Policy, Practice and Equity. Buck-
ingham: Open University Press.
Gomolla, M. (2005). Schulentwicklung in der Einwanderungsgesellschaft. Strategien gegen insti-
tutionelle Diskriminierung in England, Deutschland und in der Schweiz. Münster: Waxmann.
Gomolla, M. (2005a). Schulerfolg in der Einwanderungsgesellschaft: Lokale Strategien – internatio-
nale Erfahrungen. In: Krüger-Potratz, M. (Hrsg.), iks-QuerFormat, 9. Münster: Arbeitsstelle Inter-
kulturelle Pädagogik der Universität Münster. Im Internet abrufbar unter: http://www.uni-muens-
ter.de/InterkulturPaedagogik/Publikation/iks_querformat/IKS_Querpdf/gomolla2005iksQuer9.pdf
Gomolla, M. (2009). Interventionen gegen Rassismus und institutionelle Diskriminierung als
Aufgabe pädagogischer Organisationen. In: Scharathow, W., Leiprecht, R. (Hrsg.), Rassismus-
kritik. Band 2: Rassismuskritische Bildungsarbeit (S. 41–60). Schwalbach/Ts.: Wochenschau-
Verlag.
Gomolla, M., Radtke, F.-O. (2009). Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethni-
scher Differenz in der Schule. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften. 3. Aufl.
Hall, S. (2001). Von Scarman zu Stephen Lawrence. In: Schönwälder, K., Sturm-Martin, I.
(Hrsg.), Die britische Gesellschaft zwischen Offenheit und Abgrenzung: Einwanderung und
Integration vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (S. 154–168). Berlin: Philo.
Hauf, T. (2007). Innerstädtische Bildungsdisparitäten an der Übergangsschwelle von den
Grundschulen zum Sekundarschulsystem. In: Zeitschrift für Pädagogik, 53(3), S. 299–313.
Henriques, J. (1984). Social psychology and the politics of racism. In: Henriques, J., Holl-
way, W., Urwin, C., Venn, C., Walkerdine, V. (Hrsg.): Changing the Subject: Psychology, So-
cial Regulation and Subjectivity (S. 60–89). London: Methuen.
Hormel, U. (2007). Diskriminierung in der Einwanderungsgesellschaft. Begründungspro-
bleme pädagogischer Strategien und Konzepte. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaf-
ten.
Hormel, U., Scherr, A. (2004). Bildung für die Einwanderungsgesellschaft. Wiesbaden: VS
Verlag für Sozialwissenschaften.
88 Literatur

Imdorf, C. (2008). Migrantenjugendliche in der betrieblichen Ausbildungsplatzvergabe –


auch ein Problem für die Kommunen. In: Bommes, M., Krüger-Potratz, M. (Hrsg.), Migra-
tionsreport 2008. Fakten – Analysen – Perspektiven. Frankfurt: Campus Verlag.
Jones, J.M. (1972). Prejudice and Racism. Reading, Mass.: Addison-Wesley Publishing.
Knowles, L.L., Prewitt, K. (1969). Institutional Racism in America. Englewood-Cliffs: Pren-
tice-Hall Inc.
Konsortium Bildungsberichterstattung (2006). Bildung in Deutschland. Ein indikatorenge-
stützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Bielefeld: Bertelsmann.
Kornmann, R. (2003). Migrantenkinder in der Sonderschule – Sonderfälle? Unveröffentlich-
tes Manuskript eines Vortrags gehalten auf der Tagung «Migrantenkinder in Nordrhein-
Westfalen – sozialer Aufstieg oder Verelendung?» am 2.12.2003 in Wuppertal/Barmen. Im
Internet abrufbar unter: http://www.ph-heidelberg.de/wp/kornmann/veroeffentlichun-
gen/2.pdf
Kristen, C. (2006). Ethnische Diskriminierung in der Grundschule? Die Vergabe von Noten
und Bildungsempfehlungen. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie,
58(1), S. 79–97.
Kristen, C. (2006a). Ethnische Diskriminierung in der Schule: theoretische Positionen und
empirische Ergebnisse. AKI. WZB discussion paper SP IV 2005-601.
Kronig, W. (2003). Das Konstrukt des leistungsschwachen Immigrantenkindes. In: Zeit-
schrift für Erziehungswissenschaft, 6(1), S. 126–139.
Kronig, W. (2007). Die systematische Zufälligkeit des Bildungserfolgs. Theoretische Erklä-
rungen und empirische Untersuchungen zur Lernentwicklung und zur Leistungsbewertung
in unterschiedlichen Schulklassen. Bern: Haupt.
March, J.G. (1990). Entscheidung und Organisation: kritische und konstruktive Beiträge,
Entwicklungen und Perspektiven. Wiesbaden: Gabler.
Macpherson Of Cluny (1999). The Stephen Lawrence Inquiry. Im Internet abrufbar unter:
www.archive.official-documents.co.uk/document/cm42/4262/4262.htm
Marlow, A., Loveday, B. (Hrsg.) (2000). After Macpherson. Policing after the Stephen Law-
rence Inquiry. Dorset: Russel House Publishing Ltd.
Meyer, J.W., Rowan, B. (1977). Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth
and Ceremony. In: American Journal of Sociology, 83(2), S. 340–363.
Meyer, J.W., Rowan, B. (1978). The Structure of Educational Organizations. In: Meyer,
M.W. and Associates, Environments and Organizations (S. 78–109). San Francisco: Jossey-
Bass.
Miles, J. (1991). Rassismus: Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffs. Ham-
burg: Argument-Verlag.
Miles, J. (2000). Bedeutungskonstitution und der Begriff des Rassismus. In: Räthzel, N.
(Hrsg.), Theorien über Rassismus (S. 17–33). Hamburg: Argument Verlag.
Literatur 89

Müller-Benedict, V. (2008). Strukturveränderungen oder Fördermassnahmen. Analyse einer


unpopulären politischen Alternative mit Hilfe einer Simulationsstudie. In: Die Deutsche
Schule, 100(4), S. 412–424.
Olsen, J.P. (1991). Political Science and Organization Theory. Parallel Agendas but Mutual
Disregard. In: Czada, R.M., Windhoff-Héritier, A. (Hrsg.), Political Choice: institutions, ru-
les, and the limits of rationality (S. 87–119). Frankfurt/M.: Campus Verlag.
Omi, M., Winant, H. (1994). Racial Formation in the United States. From the 1960s to the
1990s. New York; London: Routledge.
Powell, W., DiMaggio, P.J. (Hrsg.) (1991). The New Institutionalism in Organizational Ana-
lysis. Chicago: University of Chicago Press.
Radtke, F.-O. (2004). Die Illusion der meritokratischen Schule. Lokale Konstellationen der
Produktion von Ungleichheit im Erziehungssystem. In: Bade, K.J., Bommes, M. (Hrsg.), Mi-
gration – Integration – Bildung. Grundfragen und Problembereiche. IMIS-Beiträge 23. (S.
143–178). Osnabrück: Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS)
der Universität Osnabrück.
Rizvi, F. (1993). Critical Introduction: Researching Racism and Education. In: Troyna, B.
(Ed.), Racism and Education (S.1–17). Buckingham; Philadelphia: Open University Press.
Rommelspacher, B. (1997). Psychologische Erklärungsmuster zum Rassismus. In: Mecheril,
P., Teo, T. (Hrsg.), Psychologie und Rassismus (S. 153–172). Reinbek b. Hamburg: Rowohlt
Taschenbuch.
Scherr, A. (2008). Diskriminierung – eine eigenständige Kategorie für die soziologische Analy-
se der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheiten in der Einwanderungsgesellschaft? Un-
veröffentlichtes Manuskript. Im Internet abrufbar unter: http://home.ph-freiburg.de/scherrfr/
Diskriminierung.pdf
Schiek, D. (Hrsg.) (2007). Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Ein Kommentar
aus europäischer Perspektive. Sellier: European Law Publishers.
Schofield, J. (2006). Migrationshintergrund, Minderheitenzugehörigkeit und Bildungser-
folg. Forschungsergebnisse der pädagogischen Entwicklungs- und Sozialpsychologie. AKI-
Forschungsbilanz 5. Berlin: Arbeitsstelle Interkulturelle Konflikte und gesellschaftliche Inte-
gration (AKI) am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).
Schofield, J., Alexander, K. Die Überwindung von Hindernissen für den schulischen Erfolg
von Kindern mit Migrationshintergrund. In: Fürstenau, S., Gomolla, M. (Hrsg.), Migration
und schulischer Wandel: Leistungsbeurteilung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft.
(in Vorbereitung)
Stanat, P., Artelt, C., Baumert, J., Klieme, E., Neubrand, M., Prenzel, M., Schiefele, U.,
Schneider, W., Schümer, G., Tillmann, K.-J., Weiss, M. (2002). PISA 2000: Die Studie im
Überblick. Grundlagen, Methoden und Ergebnisse. Im Internet abrufbar unter: www.mpib-
berlin.mpg.de/pisa/PISA_im_Ueberblick.pdf
90 Literatur

Steiner-Khamsi, G. (1992). Multikulturelle Bildungspolitik in der Postmoderne. Opladen:


Leske + Budrich.
Terkessidis, M. (1998). Psychologie des Rassismus. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Troyna, B. (1993). Racism and Education. Buckingham: Open University.
Troyna, B., Williams, J. (1986). Racism, Education and the State. Beckenham: Croom Helm.
UNESCO (1994). The Salamanca Statement and Framework for Action on Special Needs
Education. Adopted by the World Conference on Special Needs Education: Access and Qua-
lity, Salamanca, Spain, 7-10 June 1994. Paris: UNESCO.
von Olberg, H.-J. (2006). Anspruch und Wirklichkeit lokaler Schulentwicklung: das Beispiel
Münster. In: Gomolla, M. (in Zusammenarbeit mit der Arbeitsstelle für Interkulturelle Pä-
dagogik am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Münster) (Hrsg.), Schul-
qualität in der Einwanderungsgesellschaft: Strategien und Fallbeispiele. ZfL-Text Nr. 16 (S.
71–83). Münster: Zentrum für Lehrerbildung.
Wellman, D.T. (1977). Portraits of White Racism. Cambridge: Cambridge University Press.
Wieviorka, M. (1995). The Arena of Racism. London: Sage Publications Ltd.
Wight, C. (2003). The Agent-Structure Problem and Institutional Racism. In: Political Stu-
dies, 51, S. 706–721.
Williams, J. (1985). Redefining Institutional Racism. In: Ethnic and Racial Studies, 8(3),
S. 323–348.
91

Soziale Ungleichheit im Schweizer Bildungssystem


und was man dagegen tun könnte

Rolf Becker

Abstract

Soziale Ungleichheit von Bildungschancen zu Lasten von Arbeiter- oder


Migrantenkindern sind auch für die Schweiz hinreichend oft beschrieben
worden. Ursachen hierfür werden im Fall der Schweiz eher vermutet als dass
grundlegende Mechanismen aufgedeckt wären. Mittels Paneldaten der
TREE-Studie werden in diesem Beitrag Struktur, Ausmass und Wandel von
Bildungsungleichheiten in der Logik des Bildungsverlaufs im Längsschnitt
untersucht. Neben Struktur des Bildungssystems mache ich primäre und
sekundäre Effekte der sozialen Herkunft als zentrale Ursachen für sozial
ungleiche Bildungschancen aus. Ebenso wird die Wirkung bildungspoliti-
scher Massnahmen simuliert, die eine Aufhebung dieser Herkunftseffekte
anstreben. Es lässt sich zeigen, dass sie zur Abnahme ungerechtfertigter Bil-
dungsungleichheiten, Ausschöpfung von Begabungsreserven in bildungsfer-
nen Gruppen und Anhebung des Bildungsniveaus in der Bevölkerung bei-
tragen könnten.

1 Ausgangslage und Problemstellung

In Gesellschaften wie der Schweiz, die einerseits eine ausgeprägte Spreizung


von Einkommen (Stamm et al. 2003) und andererseits ein hochgradig stra-
tifiziertes und segmentiertes Bildungssystem mit einem breiten Angebot im
Berufsbildungssystem und ein relativ geschlossenes System der Hochschul-
bildung aufweisen (Buchmann et al. 2007), ist zum einen die soziale Un-
gleichheit von Bildungschancen relativ gross (Müller 1994). Trotz Bildungs-
expansion und Reformen des Bildungssystems ist die soziale Ungleichheit
von Bildungschancen in der Schweiz im internationalen Vergleich betrach-
tet weiterhin ausgeprägt (Buchmann und Charles 1993; Buchmann et al.

Becker, R. (2010). Soziale Ungleichheit im Schweizer Bildungssystem und was man dagegen tun könnte. In: M. P. Neuenschwan-
der, H.-U. Grunder (Hrsg). Schulübergang und Selektion (pp. 91–108). Chur: Rüegger.
92 Ausgangslage und Problemstellung

2007). Den Volkszählungsdaten von 1990 zufolge erwarben 44% der Kin-
der von Vätern mit akademischen Berufen oder Kinder von Vätern, die dem
oberen Kader angehören, die Studienberechtigung, während lediglich 6%
der Kinder un- und angelernter Arbeiter und Angestellten die Maturitäts-
schule abgeschlossen hatten. Rund 31% der Akademiker- und Kaderkinder,
aber nur rund 4% der Kinder un- und angelernter Arbeiter und Angestell-
ten erwarben einen Hochschulabschluss (eigene Berechnungen nach Lam-
precht und Stamm 1996, S. 34 und 36). Im Vergleich zu den Kindern aus
bildungsfernen Gruppen hatten diese sozial privilegierten Kinder eine rund
14-mal bessere Chance, die Maturität, und 12-mal bessere Chancen, einen
Hochschulabschluss zu erwerben. Für die Schweiz liessen sich zu dieser Zeit
rund 33% der Variation im Bildungserfolg durch die Bildung und den Be-
ruf des Vaters beschreiben (Lamprecht 1991, S. 145). Diese hochgradige in-
tergenerationale Transmission von Bildungschancen hat sich bis Ende der
1990er-Jahre nicht gravierend verändert (Stamm et al. 2003). Für die
Schweiz belegte PISA 2000 nicht nur die fortwährende «Bildungsverer-
bung», sondern auch dass die Korrelation zwischen sozialer Herkunft und
Lesekompetenzen am stärksten unter den teilnehmenden OECD-Staaten ist
(Ramseier und Brühwiler 2003). Offensichtlich scheinen herkunftsbezoge-
ne Leistungsdisparitäten, das zwischen den Sozialschichten differierende
Bildungsverhalten sowie ihr Zusammenspiel in gegebenen Strukturen und
Regelungen des Bildungssystems für dauerhafte Bildungsungleichheiten
verantwortlich zu sein (Becker und Schubert 2006).
Zum anderen ist ein rohstoffarmes Land wie die Schweiz jetzt und in Zu-
kunft auf ein steigendes Angebot qualifizierter und hochqualifizierter Ar-
beitskräfte angewiesen, um wirtschaftliche Prosperität und allgemeine
Wohlfahrt dauerhaft sicherstellen zu können. Gemessen an der gleichaltri-
gen ständigen Wohnbevölkerung in der Schweiz lag im Jahre 2008 die Ma-
turitätsquote bei 32% (19,7% gymnasialer Maturitätsabschluss und 12%
Berufsmaturität). Die Hochschuleintrittsquote (d.h. die Quote des erstma-
ligen Studienbeginns gemessen an der altersgleichen Wohnbevölkerung) lag
im Jahre 2008 bei 34,5%. Jedoch weist die Schweiz im internationalen
OECD-Vergleich eine deutlich niedrigere Studienberechtigtenquote auf. Im
Jahre 2007 nahmen – gemessen an der gleichaltrigen ständigen Wohnbevöl-
kerung – rund 39% der Schweizer ein Hochschulstudium auf; der OECD-
Durchschnitt für die Netto-Studierquote betrug 56% (BfS 2009). Der An-
teil von Personen mit Hochschulabschluss lag im Jahre 2008 bei rund 20%.
Offensichtlich geht die soziale Ungleichheit von Bildungschancen mit einer
geringen Quote von hochqualifizierten Absolventen und Arbeitskräften ein-
Theoretischer Hintergrund 93

her. Möglicherweise wird in der Schweiz das Reservoir leistungsstarker und


studierfähiger Personen in ökonomisch schwächeren oder «bildungsferne-
ren» Gruppen nicht ausgeschöpft. Es stellt sich zum einen die Frage, warum
dies so ist, und zum anderen die Frage, was man dagegen tun könnte, um
diese Bildungsreserven zu mobilisieren.

2 Theoretischer Hintergrund

Im stratifizierten und segmentierten Bildungssystem der Schweiz, das mit


dem recht frühen Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe, dem
breiten Angebot im Berufsbildungssystem und dem rigiden Zugang zur
Hochschulbildung von den Eltern und Jugendlichen viele wie konse-
quenzenreiche Bildungsentscheidungen abverlangt, werden vornehmlich
«bildungsferne» Gruppen (z.B. Arbeiterkinder oder Kinder aus unteren Mit-
telschichten) durch selektive Anreize und Restriktionen, die mit der Oppor-
tunitätsstruktur des Bildungssystems verbunden sind, vom Weg zur höheren
Bildung «abgelenkt». Diese Ablenkungswirkung zeigt sich zunächst bei der
frühen, kaum revidierbaren und für den weiteren Bildungsverlauf aber ent-
scheidende Weichenstellung am Ende der Primarschulzeit, indem sich
bildungsferne Gruppen in der Regel für kürzere wie weniger anspruchsvoll
erscheinende Bildungsgänge entscheiden, die den späteren Zugang zur aka-
demischen Ausbildung erschweren oder versperren. Sie werden zudem bei
den Weichenstellungen am Ende der Primarschulzeit bzw. der Sekundar-
stufe I bereits frühzeitig durch berufsbildende Komponenten des Schweizer
Ausbildungssystems abgelenkt, indem sie sich eher für eine qualifizierende,
ertragreiche und wenig riskant erscheinende nichttertiäre Berufsausbildung
entscheiden. Vor allem der Übergang in das Gymnasium auf der Sekundar-
stufe II erweist sich als «Flaschenhals» und der Erwerb der Maturität als «Na-
delöhr» auf dem Weg zum Hochschulstudium. So werden bildungsfernere
Gruppen auch nach Erwerb der Studienberechtigung vom direkten Zugang
zur Hochschule abgelenkt und entscheiden sich eher für sie attraktiver und
kostengünstiger erscheinende Alternativen des dualen Berufsbildungssys-
tems (Becker und Hecken 2008).
Um die Frage zu klären, warum «bildungsferne» Gruppen in einem stratifi-
zierten, segmentierten und viele Bildungsentscheidungen abverlangenden
Bildungssystem vom Hochschulstudium abgelenkt werden und warum ge-
rade bei ihnen Anreize und Restriktionen des Bildungssystems dergestalt
wirksam sind, dass sie vom Weg zur höheren Bildung abgedrängt werden,
94 Theoretischer Hintergrund

erweist sich die Unterscheidung von primären und sekundären Effekten der so-
zialen Herkunft nach Boudon (1974) als hilfreich (Becker 2009; Müller und
Pollak 2008). Primäre Herkunftseffekte spiegeln den Zusammenhang von so-
zialer Herkunft (gemessen an sozioökonomischen Ressourcen des Eltern-
hauses oder am Bildungsniveau der Eltern) und schulischen Leistungen und
den darauf basierenden Bildungserfolgen wieder. Je mehr ökonomische, kul-
turelle und soziale Ressourcen den Eltern zur Verfügung stehen, desto eher
wachsen die Kinder in anregungsreichen Kontexten auf. Aufgrund dieser
vorteilhaften Sozialisationsbedingungen werden Kinder aus höheren Sozial-
schichten besser den jeweiligen schulischen Leistungsanforderungen gerecht
und haben daher vergleichsweise grössere Chancen, auf der Schule zu ver-
bleiben und die Studienberechtigung zu erwerben. Da Studienberechtigte
aus höheren Sozialschichten bessere schulische Leistungen aufweisen und
eher erwarten, ein Studium erfolgreich bewältigen zu können, entscheiden
sie sich mit grösserer Wahrscheinlichkeit für ein Studium. Sekundäre Her-
kunftseffekte umfassen die Wirkungen von sozialer Herkunft auf elterliche
und individuelle Bildungsentscheidungen zugunsten weiterführender und
höherer Bildung. Aufgrund verfügbarer ökonomischer Ressourcen und ver-
gleichsweise geringer sozialer Distanz zum System höherer Bildung ent-
scheiden sich Elternhäuser in höheren Sozialschichten für ihre Kinder eher
für die gymnasiale Maturität als «bildungsfernere» Sozialschichten. Bei glei-
chen Leistungen oder bei gleichen Erfolgserwartungen entscheiden sich Stu-
dienberechtigte aus höheren Sozialschichten eher für ein Studium als Studi-
enberechtigte aus «bildungsferneren» Schichten. Aufgrund ihrer Position in
der gesellschaftlichen Schichtung (Klassenstruktur) sind höhere Sozial-
schichten, insbesondere Akademikerfamilien, «gezwungen», in die weiter-
führende Schulbildung und Hochschulbildung ihrer Kinder zu investieren,
wenn sie den bislang erreichten Sozialstatus aufrechterhalten und einen Sta-
tusabstieg vermeiden wollen. Für die Mittel- und Arbeiterschichten ist eine
qualifizierte Schul- und Berufsausbildung für ihre Kinder ausreichend für
den intergenerationalen Statuserhalt. Auch wenn die Bildungsrenditen eher
vom erworbenen Bildungszertifikat als von der sozialen Herkunft abhängen,
sind wegen dem Statuserhaltmotiv die Bildungsmotivationen von höheren
Sozialschichten (insb. Akademiker bzw. obere Dienstklasse) deutlich grösser
als bei «bildungsferneren» Schichten (insb. Arbeiterklasse). Aufgrund ver-
fügbarer Ressourcen ist der (subjektiv erwartete) Kostendruck für «bildungs-
fernere» Schichten bei Bildungsinvestitionen höher als für ökonomisch pri-
vilegierte, mit dem Hochschulsystem vertraute Sozialschichten. Da die
subjektive Erwartung, bei weiterführender Schulausbildung und tertiärer
Ausbildung erfolgreich zu sein, für untere Schichten geringer als für höhere
Datengrundlage 95

Schichten ist, und sie eher fürchten, im höheren Bildungssystem wegen un-
zureichender Leistung zu scheitern, sind für sie die Investitionsrisiken, d.h.
das Verhältnis zwischen erwarteten Bildungskosten und erwarteten Erfolgs-
wahrscheinlichkeiten, vergleichsweise höher (Becker und Hecken 2008).
Somit ergibt sich bei gegebenen institutionellen Rahmenbedingungen des
Bildungssystems die sogenannte «Bildungsferne» aus dem Zusammenspiel
von sozialen Disparitäten der schulischen Leistungen und des erwarteten
Bildungserfolgs einerseits und sozialen Disparitäten von Bildungsmotivatio-
nen und Investitionsrisiken andererseits. Die Bedeutung dieses Zusammen-
spiels für ungleiche Bildungschancen und den unterdurchschnittlichen,
aber sozial selektiven «output» des Bildungssystems wurde in mehreren em-
pirischen Studien nachgewiesen (Müller 1994; Becker und Hecken 2008).
In bildungspolitischer Hinsicht ergeben sich, wenn man daran interessiert
wäre, das Potenzial studierfähiger Kinder in sozial benachteiligten Gruppen
an die Hochschulen zu bringen, folgende «Stellschrauben»: Zum einen
könnte der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Leistungsfähig-
keit (primärer Herkunftseffekt) modifiziert werden. Zum anderen könnten
soziale Disparitäten von Bildungsentscheidungen verringert werden (Mül-
ler-Benedict 2007). Auf Wirkungen der Bildungsexpansion zu setzen, wäre
sicherlich eine naheliegende Lösung. Da diese – wie Entwicklungen in an-
deren Ländern zeigen (Blossfeld und Shavit 1993) – langwierig und nicht
sofort zum umfassenden Abbau herkunftsbedingter Bildungsungleichheiten
führt, wären Massnahmen bei der Finanzierung von Bildung und Steuerung
des Bildungssystems aussichtsreicher (Becker 2009). Um die Effizienz und
Effektivität solcher bildungspolitischer Massnahmen beurteilen zu können,
müssten jedoch Schulversuche und andere Experimente vorgenommen wer-
den, deren Evaluation langwierig und mit Kosten verbunden ist. Eine kos-
tengünstige und schnelle Resultate liefernde Alternative wäre, die Folgen
von Bildungspolitik mittels Simulationen zu eruieren (Boudon 1974).

3 Datengrundlage

Um solche Simulationen mit realen (Müller-Benedict 2007) statt mit fik-


tiven Daten (Boudon 1974) durchzuführen zu können, bedarf es informa-
tionsreicher Längsschnittdaten, die den gesamten Bildungsverlauf einer Ge-
burtskohorte (Jahrgang 1985) in ihrer strukturellen und zeitlichen Logik
erfassen. In der Schweiz liefert derzeit nur das Projekt TREE (Transitionen
von der Erstausbildung in das Erwerbsleben) die notwendige Datenbasis
96 Empirische Befunde

(TREE 2008). TREE ist eine nationale Längsschnittuntersuchung im


Panel-Design zum Übergang Jugendlicher von der Schule in den Arbeits-
markt in der gesamten Schweiz. Sie basiert auf der fortgesetzten Befragung
von ein und denselben Personen, die als 15-Jährige bei PISA 2000 Schweiz
bereits interviewt wurden. In der Zwischenzeit liegen trotz Panelmortalität
für 6000 Befragten detaillierte Informationen von sieben Befragungen vor.
Primärforscher sind Sandra Hupka-Brunner, Thomas Meyer und Max Berg-
mann (Institut für Soziologie, Universität Basel). Gegenwärtig wird TREE
durch den Schweizerischen Nationalfonds (SNF) sowie durch die Universi-
tät Basel finanziert. Zuvor erfolgte die Finanzierung von TREE durch den
SNF, ein Konsortium der Erziehungsdirektionen der Kantone Bern, Genf
und Tessin, das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) sowie
das Bundesamt für Statistik (BfS).
Um die Struktur des Übergangs von der Primar- in die Sekundarstufe I ab-
bilden zu können, die durch TREE nicht erhoben wurde, werden Daten he-
rangezogen, das im Jahre 1998 im Kanton Zürich von Moser und Rhyn
(2000) im Auftrag der Erziehungsdirektion des Kantons Zürich durchge-
führt wurde. Mit diesem Datensatz können Simulationen für 1539 Schul-
kinder in der 6. Klassenstufe durchgeführt werden. Da sich diese Studie auf
einen Deutschschweizer Kanton beschränkt, beschränken sich die Simula-
tionen mittels der Daten von TREE auf die deutschsprachige Schweiz.

4 Empirische Befunde
4.1 Soziale Ungleichheit von Bildungschancen im Lebenslauf
Betrachten wir zunächst die Struktur der Bildungsverläufe der um 1985 Ge-
borenen in der deutschsprachigen Schweiz (Tabelle 1), so wechseln von allen
Primarschülern dieses Jahrgangs rund 74% auf die Sekundarschule mit ge-
hobenen Ansprüchen bzw. das Gymnasium (erste Schwelle). Hierbei gibt es
deutliche Differenzen von relativen Bildungschancen nach sozialer
Herkunft. So haben Akademikerkinder – gemessen an den Chancenverhält-
nissen (odds ratios) – eine rund (82,7% : 17,3%)/(56,6% : 43,4%) = 3,7-
mal bessere Chance, auf anspruchsvolle wie weiterführende Schullaufbah-
nen in der Sekundarstufe I zu gelangen, als Schulkinder von Eltern mit
niedriger Bildung. Schulkinder aus den mittleren Bildungsschichten haben
eine (77,3% : 22,7%)/(56,6% : 43,4%) = 2,6-mal bessere Chance, auf diese
Schullaufbahnen zu wechseln als Kinder von niedrig qualifizierten Eltern.
Empirische Befunde 97

Tabelle 1: Übergänge im Schweizer Bildungssystem (nur Deutschschweiz) nach sozialer


Herkunft

Erste Schwelle Dritte Schwelle Vierte Schwelle


Von Primarschule in Erwerb der Studienbe- Übergang in das
die Sekundarstufe I rechtigung Hochschulstudium
(Sekundarschule und (Matur bzw. Berufs- (Universität oder
Gymnasium) maturität) Fachhochschule)

Risikomenge Ingesamt Ingesamt Nur höhe- Ingesamt Nur Ma-


re Sek. I turanden
Gesamter Jahr- 73.5 % 47.7 % 58.6 % 38.4 % 71.1 %
gang

Soziale Herkunft

Akademiker 82.7 % 62.9 % 71.4 % 54.5 % 78.8%


Mittlere Bildung 77.3 % 45.7 % 54.4% 34.5 % 66.3 %
Niedrige Bildung 56.6 % 26.1% 38.5 % 17.5 % 53.8 %

Fallzahl 2.755 1.987 1.513 1.930 889

Für die Kategorie «Insgesamt» werden die relativen Anteile des gesamten
Jahrgangs 1985 berechnet. Ansonsten beschränkt sich bei der dritten
Schwelle die in Betracht gezogene Risikomenge auf die Teilgruppe, die zu-
vor die weiterführende Sekundarstufe I (Sekundarschule bzw. Gymnasium)
besucht hat, und für die vierte Schwelle auf diejenige Teilgruppe, die
schliesslich die Studienberechtigung (Berufsmaturität oder gymnasiale Ma-
turität) erworben haben.

Quelle: TREE (ungewichtete Ergebnisse der Wellen 1–7) – eigene Berechnungen

Rund 48% des gesamten Jahrgangs 1985 erwirbt danach die Studienbe-
rechtigung (gymnasiale Matur bzw. Berufsmaturität). Betrachtet man nur
die 1985 Geborenen, die zuvor die Sekundarschule mit gehobenen An-
sprüchen bzw. das Gymnasium besucht haben, dann haben 58,6% dieser
Jugendlichen mit der gymnasialen Maturität bzw. Berufsmaturität die
Studienberechtigung erworben und sind daher zum Studium auf der Uni-
versität oder Fachhochschule berechtigt (dritte Schwelle). Akademiker-
98 Empirische Befunde

kinder haben eine rund 2-mal bessere Chance, die Maturität zu erreichen,
als Kinder von Eltern mit mittlerer Bildung und eine rund 4-mal günstige-
re Chance als Kinder aus bildungsfernen Schichten.
Schliesslich beginnen 38,4% der 1985 Geborenen ein Studium an den Uni-
versitäten oder Fachhochschulen. Betrachtet man nur die studienberechtig-
ten Absolventen dieses Jahrgangs, so wechseln rund 71% der Maturan-
dinnen und Maturanden an die Hochschulen. Während 79% der
studienberechtigten Akademikerkinder studieren, beginnen lediglich 63%
der studienberechtigten Kinder aus den anderen Schichten ein Hochschul-
studium. Auch bei der vierten Schwelle haben Akademikerkinder eine rund
2-mal bessere Chance als Mittelschichtkinder und eine rund 3-mal bessere
Chance als Kinder aus bildungsfernen Gruppen, ein Hochschulstudium zu
beginnen. Oder anders ausgedrückt: Akademikerkinder haben eine 2,2-mal
günstigere Studienchance als Kinder aus anderen Sozialschichten.

Tabelle 2: Bildungsübergänge im Lebensverlauf nach sozialer Herkunft und Leistung


(odds ratios, geschätzt mit binärer Logit-Regression)1

Sekundarschule Gymnasium Gymnasiale Ma- Hochschul-


bzw. Gymnasi- (Sek. II) tur bzw. Berufs- studium
um (Sek. I) matur
Übergang 1 2 3 4

Soziale Herkunft
Niedrige Bildung 1 1 1 1
Mittlere Bildung 1.57* 1.88* 1.62* 1.53
Hohe Bildung 5.27* 3.71* 3.53* 2.92*

Leistung
Notendurchschnitt 21.7*
Leseleistung 3.17* 2.26* 1.85*

Pseudo-R2 0.571 0.183 0.126 0.078


N 1212 1770 1513 889

* mindestens p  0,05
Quellen: Moser und Rhyn (2000) sowie TREE (Welle 1–7) – eigene Berechnungen ohne Gewichtung

1 Die sogenannten «odds ratios» entsprechen den Chancenverhältnissen, die für die Bildungsübergänge in Tabelle 1
diskutiert wurden. Bei den multivariaten Analysen in Tabelle 2 besagt ein Odds-Ratio-Wert von 1, dass es keinen
Zusammenhang zwischen einer erklärenden Variablen und dem Bildungsübergang gibt. Ist der Odds-Ratio-Wert
grösser als 1, dann gibt es einen positiven Einfluss der erklärenden Variablen auf den Bildungsübergang, und ist er
kleiner als 1, dann liegt ein negativer Einfluss dieser Variablen auf die Wahrscheinlichkeit, einen bestimmten Bildungs-
übergang zu vollziehen, vor.
Empirische Befunde 99

Allerdings könnte man einwenden, dass diese sozialen Disparitäten der Bil-
dungschancen aufgrund unterschiedlicher Leistungsfähigkeiten, Motivatio-
nen und Anstrengungen gerechtfertigt wären. So wird oftmals argumentiert,
die Kinder aus bildungsfernen Gruppen hätten von Natur aus geringere
Leistungspotenziale oder Motivationen (siehe hierzu Becker und Hadjar
2009). Daher werden die einzelnen Bildungsübergänge erneut – und dies-
mal unter Kontrolle von Leistungsindikatoren – betrachtet (Tabelle 2). Je
besser die Schulnoten (gerundeter Notendurchschnitt für Deutsch und Ma-
thematik) am Ende der Primarschulzeit sind, desto eher erfolgt ein Wechsel
auf die weiterführenden Schullaufbahnen in der Sekundarstufe I, und je bes-
ser die Leseleistungen im Alter von 15 Jahren sind, desto wahrscheinlicher
ist der Verbleib auf dem Gymnasium (Sekundarstufe II), der Erwerb der
Studienberechtigung und der Beginn eines Hochschulstudiums. Ersichtlich
ist auch, dass der Einfluss primärer Herkunftseffekte im Bildungsverlauf ab-
nimmt. Während bei der ersten Schwelle die Wahrscheinlichkeit, in die Se-
kundarschule bzw. das Gymnasium zu wechseln, um den Faktor von 21,7
zunimmt, wenn die Note um eine Einheit zunimmt, so nimmt sie um den
Faktor von 1,85 bzw. um (1,85-1)  100% = 85% zu, wenn die Leseleistung
um eine Einheit zunimmt.2 Diese primären Herkunftseffekte nehmen von
Bildungsstufe zu Bildungsstufe unter anderem deswegen ab, so die statisti-
sche Selektionsthese von Mare (1980), weil nach jedem Bildungsübergang nur
die leistungsfähigen Personen eines Jahrgangs im Bildungssystem «überle-
ben». Gleichzeitig bleiben die Einflüsse der sozialen Herkunft statistisch sig-
nifikant, was auf die stets bedeutsame Rolle sekundärer Herkunftseffekte
hinweist. Während bei Kontrolle der schulischen Leistung die Akademiker-
kinder eine 5,27-mal bessere Chance als Kinder aus unteren Bildungsschich-
ten haben, auf die Sekundarschulen zu wechseln, so haben die studien-
berechtigten Akademikerkinder immer noch eine 2,93-mal bessere
Studienchance als die Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern mit der glei-
chen Leseleistung (Übergang 4 in Tabelle 2). Der Lebensverlaufsthese von
Müller (1994) zufolge nehmen die sekundären Herkunftseffekte im Bil-
dungsverlauf deswegen ab, weil die späteren Bildungsübergänge in einem
geringeren Masse von den sozioökonomischen Ressourcen des Elternhauses
abhängen. Mit zunehmendem Alter entscheiden Jugendliche unabhängig
von den materiellen Ressourcen des Elternhauses selbständig über ihren Bil-
dungsweg (siehe Schneider 2008).

2 Um die Vergleichbarkeit mit den durchschnittlichen Schulleistungen zu gewährleisten, wurde für die Leseleistung
eine ähnliche Kategorisierung vorgenommen (vgl. Tabelle 3).
100 Empirische Befunde

Tabelle 3: Leseleistung und Hochschulzugang

Aus der Akademikerschicht stammende Maturanden


haben Leseleistung: niedrig ziemlich mittel ziemlich hoch
niedrig hoch
0,4% 4,5% 25,5% 42,8% 26,8%
und studieren: 0,0% 61,9% 71,4% 80,0% 88,0%
Aus den anderen Schichten stammende Maturanden
haben Leseleistung: niedrig ziemlich mittel ziemlich hoch
niedrig hoch
0,9% 5,5% 28,4% 42,7% 22,5%
und studieren: 0,0% 21,7% 51,7% 67,2% 78,9%

Quelle: TREE (ungewichtete Ergebnisse der Wellen 1–7) – eigene Berechnungen

Wie bedeutsam sekundäre Herkunftseffekte beim Hochschulzugang sind,


ist aus Tabelle 3 ersichtlich. Da sich beim Hochschulzugang eine Trennlinie
zwischen Akademikerkindern einerseits und den Absolventen aus anderen
Bildungsschichten andererseits ergibt, werden der Einfachheit wegen im
Folgenden diese beiden Gruppen miteinander verglichen. Zunächst ist fest-
zustellen, dass die Differenzen der Leseleistung zwischen den beiden Grup-
pen minimal sind. So weisen 26,8% der Akademikerkinder, aber nur 22,5%
der Absolventen aus anderen Schichten hohe Leseleistungen auf. Bei den
niedrigen Leseleistungen sind die Abstände zwischen den beiden Gruppen
noch geringer. Das ist nicht verwunderlich, da über die leistungsbezogenen
Sortier- und Selektionsleistungen des Schweizer Schulsystems die leistungs-
stärkeren Jugendlichen bis zur Maturität im Bildungssystem «überlebt»
haben. Augenfällig ist jedoch, dass bei Kontrolle der Leseleistung die Aka-
demikerkinder eher studieren als die Maturanden aus anderen Bildungs-
gruppen.
Wenn die Leseleistung hoch bzw. ziemlich hoch ist, dann setzen 88 bzw.
80% der Akademikerkinder in diesen Leistungskategorien ihre Ausbildung
an den Hochschulen fort. Auch wenn sie gleiche Leistungspotenziale auf-
weisen, beginnen mit einem Anteil von 79 bzw. 67% deutlich weniger Ab-
solventen aus anderen Schichten ein Hochschulstudium. Selbst bei den Ma-
turanden mit mittelmässiger oder ziemlich niedriger Leseleistung ist es so,
dass die Akademikerkinder signifikant eher studieren als die Referenz-
gruppe. Diese Strukturen sind ein Indiz für die besondere Rolle sekundärer
Empirische Befunde 101

Herkunftseffekte beim Hochschulzugang und für die suboptimale Aus-


schöpfung studierfähiger Absolventen in den anderen Sozialschichten.

4.2 Wirkungen bildungspolitischer Massnahmen


Was würde man aus bildungspolitischer Sicht gewinnen, wenn die
Herkunftseffekte beim Hochschulzugang neutralisiert werden? Würde man
unterstellen, die Absolventen aus nichtakademischen Kreisen hätten die
gleiche Leistungsfähigkeit wie die Akademikerkinder, während das
Bildungsverhalten (gemessen an den Übergangsraten) unverändert bleibt,
dann würden 0,4%  0 + 4,5%  0,217 + 25,5%  0,517 + 42,8% 
0,672 + 26,8%  0,789 = 64,1% der Nichtakademikerkinder studieren.
Verglichen mit der tatsächlichen Übergangsrate von 62,8%, wäre das eine
Steigerung um 1,3 Prozentpunkte. Würde man bei Kontrolle der Leistungs-
fähigkeiten das Bildungsverhalten der anderen Sozialschichten verändern,
also die sekundären Herkunftseffekte neutralisieren, dann würden 0,9% 
0 + 5,5%  0,619 + 28,4%  0,714 + 42,7%  0,8 + 22,5%  0,88 =
77,6% der Maturanden aus bildungsferneren Gruppen ein Hochschulstudi-
um beginnen. Die Steigerung der Übergangsrate um 14,8 Prozentpunkte
fällt dann deutlicher aus als bei der Neutralisierung der herkunftsbedingten
Leistungsdisparitäten.
An dieser Stelle stellt sich aus bildungspolitischer Sicht folgende Frage: Was
genau könnte man tun, um den studierfähigen Teil eines Jahrgangs aus
bildungsferneren Gruppen für das Hochschulstudium zu gewinnen? Diese
Frage lässt sich mit den bislang herangezogenen Daten wegen fehlender In-
formationen zu den erwarteten Bildungsrenditen und Kosten nicht im De-
tail beantworten.3 Aber die Frage nach möglichen Konsequenzen, würde
man die Ablenkungswirkung des Schweizer Schulsystems reduzieren, kann mit
den TREE-Längsschnittdaten beantwortet werden. Hält man sich gemäss

3 Zieht man eine Befragung der Züricher Maturanden aus dem Jahre 1985 (Beck und Kiener 1988) heran, dann sind
trotz historischer Daten weiterführende Informationen verfügbar. Im Jahre 1985 beabsichtigten 87% der Akademi-
ker-kinder und 77% der Studierberechtigten aus den anderen Sozialschichten ein Universitätsstudium. Würde man
primäre und sekundäre Herkunftseffekte neutralisieren, dann würde man eine Zunahme der Studienbeteiligung bei
den Maturanden aus bildungsferneren Gruppen von 2,6 bzw. 8,6 Prozentpunkten erreichen. Wären die letzteren Grup-
pen ebenso wie die Akademikerkinder davon überzeugt, bei gegebenen Leistungsfähigkeiten das Einkommen maxi-
mieren zu können, dann wäre eine Steigerung der Studienbeteiligung um 2,6 Prozentpunkte realisierbar. Eine Neu-
tralisierung der sozialen Disparitäten bei den Statuserwartungen erbrächte eine Steigerung um 2,8 Prozentpunkte. Die
Neutralisierung des Investitionsrisikos – des Verhältnisses erwarteter Studienkosten und der erwarteten Wahrschein-
lichkeit, erfolgreich das Studium bewältigen zu können – würde in einer Zunahme der Studienbeteiligung um 2,4
Prozentpunkte resultieren. Der Gesamteffekt der gleichzeitigen Neutralisierung primärer und sekundärer Herkunfts-
effekte erbrächte eine Steigerung der Studienbeteiligung um 7,8 Prozentpunkte, was eine recht umfassende, aber nicht
vollständige Neutralisierung der Herkunftseffekte bedeuten würde.
102 Empirische Befunde

des Konzepts statistischer Unabhängigkeit vor Augen, dass rund 16% der
Maturandinnen und Maturanden ihre Bildungsentscheidung revidieren
müssten, damit es keinen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und
Studienentscheidung gibt, so müssten 23,6% der in der höheren Sekundar-
stufe II verbliebenen Jugendlichen und 30,2% der Kinder des ein und dem-
selben Jahrgangs beim Übergang von der Primar- auf die Sekundarstufe I
ihre Bildungsentscheidungen revidieren (Tabelle 4).4

Tabelle 4: Neutralisierung der Herkunftseffekte an den Übergangsstellen im Bildungs-


system der deutschsprachigen Schweiz

Sek. I Matur BA/HS


Übergang 1 3 4
Tatsächliche Bildungsbeteiligung
Andere Bildungsschichten 60,2% 44,8% 62,8%
Akademikerschicht 82,2% 68,2% 78,8%
Odds ratios: Akademikerschicht vs. andere Bildungsschichten 3,0 2,6 2,2
Ausmass der Ungleichheit von Bildungschancen 30,2% 23,6% 16,2%
Effekte der Neutralisierung
Primärer Herkunftseffekt 16,6% 2,6% 1,3%
Sekundärer Herkunftseffekt 8,1% 22,2% 14,8%
Modifizierte Bildungsbeteiligung (andere Schichten)
nach neutralisiertem sekundären Herkunftseffekt 68,3% 67,0% 77,6%
Bildungsbeteiligung der Akademiker vs. modifizierte Bil-
dungsbeteiligung der anderen Schichten (odds ratios) 2,1 1,1 1,1
nach neutralisiertem primären Herkunftseffekt 76,8% 47,4% 64,1%
Bildungsbeteiligung der Akademiker vs. modifizierte Bil-
dungsbeteiligung der anderen Schichten (odds ratios) 1,4 2,4 2,1

Legende:
Sek. I: Übergang in die Sekundarstufe I mit erweiterten Anforderungen bzw. Gymnasium (Sek.
I) vs. Ober- oder Realschule; Matur: Erwerb der Studienberechtigung (Gymnasiale Matur bzw.
Berufsmatur vs. andere Abschlüsse); BA/HS: Berufsausbildung vs. Hochschulstudium (Universi-
tät oder Fachhochschule)

Quellen: Moser und Rhyn (2000) sowie TREE (Welle 1–7) – eigene Berechnungen ohne Ge-
wichtung

4 Würde man für den ersten Bildungsübergang die Verteilungen der Akademikerkinder mit der für die Kinder aus
anderen Sozialschichten kontrastieren, dann würde Wert für den Dissimilaritätsindex bei 26,4 liegen. Demnach
müsste für 26,4% der Schulkinder ihre Übergänge revidiert werden, damit eine Gleichverteilung unabhängig von der
sozialen Herkunft vorliegt. Allerdings unterschätzt der Dissimilaritätsindex das gesamte Ausmass der sozialen
Ungleichheit von Bildungschancen.
Empirische Befunde 103

Da bereits frühzeitig leistungsfähige Kinder vom direkten Weg zu den


Hochschulen abgelenkt werden und nach dem ersten und für den weiteren
Bildungsweg entscheidenden Bildungsübergang das Ausmass der Bildungs-
chancen sowie die soziale Selektivität der Bildungschancen zwar zurückgeht,
aber weiterhin sehr ausgeprägt ist, stellt sich die Frage, was bildungspoliti-
sche Massnahmen bringen würden, die an frühzeitige Bildungsprozesse und
Übergänge ansetzen. Würde man beim der ersten Schwelle – d.h. beim Bil-
dungsübergang von der Primar- auf die Sekundarstufe I – die primären Her-
kunftseffekte neutralisieren, dann würden 16,6% mehr Kinder von Nicht-
akademikern auf die weiterführende Sekundarschule bzw. auf das
Gymnasium wechseln statt die Ober- bzw. Realschule besuchen. Die Steige-
rung der Bildungsbeteiligung wäre bei einer Neutralisierung sekundärer Ef-
fekte sozialer Herkunft mit 8,1 Prozentpunkten deutlich niedriger. Würde
man die primären Effekte neutralisieren (etwa durch vorschulische Erzie-
hung und Bildung sowie durch Ganztagsschulen oder durch kurze Schulfe-
rien), dann wären die herkunftsbedingten, und dem Konzept der Chancen-
gerechtigkeit widersprechenden Bildungsungleichheiten fast vollständig
aufgehoben. Wie zuvor gesehen, haben ohne neutralisierende Massnahmen
die Akademiker rund 3-mal bessere Bildungschancen, aber nach Neutrali-
sierung sekundärer Herkunftseffekte immer noch 2-mal bessere Bildungs-
chancen als die Kinder aus anderen Sozialschichten. Neutralisiert man die
primären Effekte, also die an die Ressourcen des Elternhauses gebundenen
Startchancen, dann hätten die Akademikerkinder nur noch 1,4-mal bessere
Chancen, auf die Sekundarschule mit gehobenen Ansprüchen oder auf das
Gymnasium zu wechseln. Für den Erwerb der Studienberechtigung und den
Hochschulgang hingegen ist die Neutralisierung primärer Herkunftseffekte
ziemlich ineffektiv. Würde man jedoch die herkunftsbedingten Bildungs-
entscheidungen beeinflussen, dann würde man die Bildungsbeteiligung bei
den bildungsferneren Gruppen steigern und gleichzeitig die Ablenkungswir-
kung des Schweizer Bildungssystems deutlich verringern und ungerechtfer-
tigte Bildungsungleichheiten vollständig aufheben.

4.3 Wirkungen nachhaltiger Bildungspolitik


Was würden kumulative Massnahmen, die Bildungschancen eines gesamten
Jahrgangs betreffend, erbringen? Erinnern wir uns: Die Studienbeteiligung
der um 1985 Geborenen in der deutschsprachigen Schweiz liegt bei 38%.
Rund 22% des Jahrgangs studieren an der Universität und 16% an den
Fachhochschulen. Neutralisiert man ausschliesslich primäre Herkunftsef-
fekte, dann würden nur 0.768  0.474  0.641  100% = 23 statt 18% der
104 Zusammenfassung und Fazit

aus bildungsfernen Gruppen stammenden Absolventen studieren. Neutrali-


siert man den primären Herkunftseffekt beim ersten Bildungsübergang und
dann für die nachfolgenden Übergangsstellen die sekundären Effekte sozia-
ler Herkunft, dann würden 0.768  0.670  0.776  100% = 40% der bil-
dungsfernen Gruppen des hier betrachteten Jahrgangs studieren.
Im Zuge der Diskussion über PISA 2000 wurde auch argumentiert, dass die
frühe Selektion am Ende der Primarschulzeit zur hochgradigen sozialen Se-
lektivität von Bildungschancen und der suboptimalen Ausschöpfung von
Begabungsreserven durch das Bildungssystem beiträgt (Schütz und Wöss-
mann 2005). Was würde daraus resultieren, bräche man die Pfadabhängig-
keit der Bildungsentscheidungen im Schweizer Bildungssystem auf? Würde
man die erste Bildungsschwelle auf ein höheres Lebensalter aufschieben oder
gänzlich aufheben und danach auf die Neutralisierung sekundärer Effekte
für den Erwerb der Maturität und die darauffolgende Ausbildungsentschei-
dung setzen, dann würden 0.670  0.776  100% = 52% der Absolventen
aus nichtakademischen Schichten studieren. Damit würde man nicht nur
die soziale Ungleichheit bei Hochschulzugang aufheben, da die Absolventen
aus den unteren und mittleren Sozialschichten beim Hochschulzugang mit
den Akademikerkindern gleichziehen würden, sondern dann würde man
dem OECD-Durchschnitt bei der Netto-Studierquote sehr nahe kommen.5

5 Zusammenfassung und Fazit

Die Fakten für die Schweiz sind hinlänglich bekannt und müssen nicht im
Detail wiederholt werden. Das Schweizer Bildungssystem hat ähnlich wie
das deutsche Bildungswesen eine hohe Ablenkungswirkung, die bestehende
Ungleichheiten von Startchancen bei der Einschulung verstärkt und die zur
Bildungsvererbung nach leistungsfremden Kriterien beiträgt. Folge sind
hochgradige Selektivitäten der Bildungsübergänge in Abhängigkeit von so-
zialer Herkunft, ein hohes Mass dauerhafter sozialer Ungleichheiten von
Bildungschancen und – gemessen an der vorherrschenden Leistungsideolo-
gie und den Vorstellungen eines fairen Wettbewerbs im Bildungssystem –

5 Dass die von der OECD vorgelegten Statistiken und Definitionen von Quoten erhebliche methodische Mängel auf-
weisen und zu irreführenden Ergebnissen beim internationalen Vergleich führen, ist an dieser Stelle unerheblich. So
ist beispielsweise in Betracht zu ziehen, dass in einigen Ländern fast die gesamte höhere berufliche Ausbildung in das
Hochschulsystem integriert ist, während in der Schweiz wie in Deutschland ein Teil der tertiären Ausbildung an
Bildungsinstitutionen ausserhalb der Hochschulen durchgeführt wird.
Zusammenfassung und Fazit 105

ein Mangel an Chancengerechtigkeit. Neben dem Vorenthalten von Lebens-


chancen für Generationen werden Humanressourcen in einkommensschwä-
cheren oder «bildungsfernen» Gruppen verschwendet. In dieser Hinsicht ist
das Schweizer Bildungssystem wenig erfolgreich. Institutionelle Änderun-
gen wie die Einführung der Berufsmaturität und die Etablierung von Fach-
hochschulen haben zwar zur Verbesserung der Bildungschancen geführt,
aber noch nicht zur optimalen Mobilisierung leistungsfähiger Individuen
aus ökonomisch schwächeren und bildungsfernen Elternhäusern. Der Zu-
gang zur höheren Bildung im Allgemeinen und zum Hochschulstudium im
Besonderen ist wie in vielen anderen Ländern immer noch vornehmlich eine
Domäne sozial und ökonomisch privilegierter Gruppen.
Was könnte man tun, um ungerechtfertige Bildungsungleichheiten zu ver-
ringern und gleichzeitig leistungsfähige Jahrgänge mit besseren Bildungs-
chancen zu versehen? Die vorgelegten empirischen Analysen zeigen anhand
des Wechselspiels von institutionellen Strukturen und Regeln des Bildungs-
systems und sozialen Disparitäten bei der Leistungsentwicklung und den
Bildungsentscheidungen, dass die Verringerung sozioökonomischer Un-
gleichheiten ausserhalb des Bildungswesens und die Anhebung des
Bildungsstandes in der Bevölkerung eine notwendige, aber keine hinrei-
chende Strategie wäre. Abgesehen davon, dass diese Strategie langwierig und
mit Risiken wie Unwägbarkeiten der Bildungsexpansion verbunden wäre,
wäre sie politisch kaum durchsetzbar. Massnahmen im Bereich der Steue-
rung des Bildungswesens scheinen effizienter und effektiver zu sein. Für die
Herstellung von gleichen Startchancen und Reduzierung primärer Her-
kunftseffekte wären einerseits Massnahmen im Sinne frühzeitiger wie nach-
haltiger Investitionen in die vorschulische Erziehung und Bildung (Kinder-
krippe, Kindergarten, usw.) sinnvoll. Auch über die Ganztagsschule wie die
Reform des Unterrichts in der Primar- und Sekundarstufe könnten primäre
Herkunftseffekte verringert werden. Angesichts gestiegener Leistungsfähig-
keiten und Erfolgswahrscheinlichkeiten würde dadurch das Bildungsverhal-
ten bildungsfernerer Gruppen in positiver Weise zu Gunsten langfristiger
Bildungsplanung und -beteiligung beeinflusst werden. Die Modifikation
der Schulstrukturen und der Selektionsprozesse – wenn etwa die frühzeitige
Selektion am Ende der Primarstufe verschoben oder aufgehoben und die dif-
ferenzierte Sekundarstufe I durch ein Modell der Gesamtschule ersetzt wer-
den würde – würde zu positiven Entwicklungen bei der allgemeinen Bil-
dungsbeteiligung führen. Was den Zugang zu den Hochschulen anbelangt,
würde die Aufhebung der Studiengebühren, die ohnehin kontraproduktiv
bei der Ausschöpfung von Begabungsreserven sind, zu steigenden Bildungs-
106 Literatur

beteiligungen bei gleichzeitig sinkenden Bildungsungleichheiten beitragen.


Angesichts der positiven Effekte von akademischer Ausbildung für die öko-
nomische Entwicklung, die gesellschaftliche Prosperität und Sozialintegrati-
on würde die Finanzierung der Hochschulausbildung durch Steuern die in-
dividuellen Aufwendungen mehr als nur graduell aufwiegen. Nicht nur dass
die akademische Ausbildung immer notwendiger wird angesichts der Nach-
frage auf dem Arbeitsmarkt nach qualifizierten und hochqualifizierten Ar-
beitskräften, sondern auch die zunehmende Bedeutung wissenschaftlicher
Erkenntnisse als Legitimationswissen und die steigende Durchdringung der
berufspraktischen Ausbildung durch akademische Kompetenzen und Wis-
sensbestände ist nach Mayer (2008) bereits jetzt als zukünftige Entwicklung
abzulesen. Dieses humankapitaltheoretische Argument ist nicht neu und
muss nicht im Detail wiederholt werden, dass eine unzureichende Förde-
rung und suboptimale Nutzung von Talenten der Gesamtgesellschaft mehr
schadet als nützt (Cameron und Heckman 1998). Mit sinkendem Steuer-
aufkommen, geringer Wettbewerbsfähigkeit und steigenden sozialen Kosten
büsst sie – und die ökonomisch Privilegierten sind damit eingeschlossen –
an Prosperität, Integration und Legitimität ein, wenn von Generation zu
Generation knappes wie wertvolles Humankapital vergeudet wird. Der in-
dividuelle Verzicht von ökonomisch armen Talentierten auf ein Studium
kommt der Gesamtgesellschaft teuerer zu stehen als die Übernahme derer
Studienkosten durch die Allgemeinheit.

Literatur
Beck, P., Kiener, U. (1988). Studien- und Berufswahl der Zürcher Maturanden. Vorstellun-
gen über Ausbildung, Beruf, Gesellschaft. Ein Arbeitsbericht. Studien- und Berufsberatung
des Kantons Zürich. Zürich: unveröffentlichtes Manuskript.
Becker, R., Hecken, A. E. (2008). Warum werden Arbeiterkinder vom Studium an Universi-
täten abgelenkt? Eine empirische Überprüfung der «Ablenkungsthese» von Müller und Pol-
lak (2007) und ihrer Erweiterung durch Hillmert und Jacob (2003). Kölner Zeitschrift für
Soziologie und Sozialpsychologie 60: S. 3–29.
Becker, R., Schubert, F. (2006). Soziale Ungleichheit von Lesekompetenzen. Eine Matching-
Analyse im Längsschnitt mit Querschnittsdaten von PIRLS 2001 und PISA 2000. Kölner
Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 58: S. 253–284.
Becker, R., Hadjar, A. (2009). Meritokratie – Zur gesellschaftlichen Legitimation ungleicher
Bildungs-, Erwerbs- und Einkommenschancen in modernen Gesellschaften. In: Becker, R.
(Hg.), Lehrbuch der Bildungssoziologie (S. 35–59). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissen-
schaften.
Literatur 107

Becker, R. (2009). Wie können «bildungsferne» Gruppen für ein Hochschulstudium gewon-
nen werden? Eine empirische Simulation mit Implikationen für die Steuerung des Bildungs-
wesens. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 61: S. 563–593.
BfS (Bundesamt für Statistik), 2009: http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/the-
men/15.html (zuletzt gesichtet: 1. Dezember 2009).
Blossfeld, H.-P., Shavit, Y. (1993). Dauerhafte Ungleichheiten. Zur Veränderung des Einflus-
ses der sozialen Herkunft auf die Bildungschancen in dreizehn industrialisierten Ländern.
Zeitschrift für Pädagogik 39: S. 25–52.
Boudon, R. (1974). Education, Opportunity, and Social Inequality. New York: Wiley.
Buchmann, M., Charles, M. (1993). The Lifelong Shadow: Social Origins and Educational
Opportunities in Switzerland. In: Shavit, Y., Blossfeld, H.-P. (Eds.), Persistent Inequalities.
Changing Educational Stratification in Thirteen Countries. (S. 177–192). Boulder, Co.:
West View Press.
Buchmann, M., Sacchi, S., Lamprecht, M., Stamm, H.P. (2007). Tertiary Education Expan-
sion and Social Inequality in Switzerland. In: Shavit, Y., Arum, R., Gomoran, A. (Hg.), Stra-
tification in Higher Education. (S. 321–348) Stanford: Stanford University Press.
Cameron, S. V., Heckman, J. J. (1998). Life Cycle Schooling and Dynamic Selection Bias:
Models and Evidence for Five Cohorts of American Males. Journal of Political Economy 106:
S. 262–333.
Lamprecht, M., Stamm, H.P. (1996). Soziale Ungleichheit im Bildungswesen (Publikation
zur Volkszählung 1990). Bern: Bundesamt für. Statistik.
Lamprecht, M. (1991). Möglichkeiten und Grenzen schulischer Chancengleichheit in west-
lichen Gesellschaften. In: Bornschier, V. (Hg.), Das Ende der sozialen Schichtung? (S. 126–
153). Zürich: Seismo.
Mare, R. D. (1980). Social Background and School Continuation Decisions. Journal of the
American Statistical Association 75: S. 295–305.
Mayer, K. U. (2008). Das Ende der Pfadabhängigkeit? Probleme des deutschen Wissen-
schaftssystems. In: Wagner, G. (Hg.), Fortschritte der informationellen Infrastruktur in
Deutschland: Festschrift für Johann Hahlen zum 65. Geburtstag und Hansfried Krup zum
75. Geburtstag (S. 391–410). Frankfurt: Campus.
Moser, U., Rhyn, H. (2000). Lernerfolg in der Primarschule. Aarau: Sauerländer.
Müller, W. (1994). Bildung und soziale Platzierung in Deutschland, England und Frank-
reich. In: Peisert, H., Zapf, W. (Hg.), Gesellschaft, Demokratie und Lebenschancen (S. 115–
134). Frankfurt am Main: DVA.
Müller, W., Pollak, R. (2008). Weshalb gibt es so wenige Arbeiterkinder in Deutschlands
Universitäten? In: Becker, R., Lauterbach W. (Hg.), Bildung als Privileg (S. 307–346). Wies-
baden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (Dritte Auflage).
108 Literatur

Müller-Benedict, V. (2007). Wodurch kann die soziale Ungleichheit des Schulerfolgs am


stärksten verringert werden? Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 59: S.
615–639.
Ramseier, E., Brühwiler, C. (2003). Herkunft, Leistung und Bildungschancen im geglieder-
ten Bildungssystem: Vertiefte PISA-Analyse unter Einbezug der kognitiven Grundfähigkei-
ten. Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften 25: S. 23–58.
Schneider, T. (2008). Social Inequality in Educational Participation in the German School
System in a Longitudinal Perspective: Pathways into and out of the most Prestigious School
Track. European Sociological Review 24: S. 511–526.
Schütz, G., Wössmann, L. (2005). Wie lässt sich die Ungleichheit der Bildungschancen ver-
ringern. Ifo-Schnelldienst 58: S. 15–25.
Stamm, H.P., Lamprecht, M., Nef, R. (2003). Soziale Ungleichheit in der Schweiz. Struktu-
ren und Wahrnehmungen. Zürich: Seismo.
TREE (Hg.), 2008: Projekt-Dokumentation 2000–2008. Bern/Basel: TREE.
109

Selbst- oder fremdbestimmt? Erfahrungen junger


Erwachsener im Umgang mit den Institutionen und
Angeboten der Arbeitsverwaltung in der Bundes-
republik Deutschland

Jan Skrobanek, Ralf Kuhnke

Abstract

Ein erklärtes Ziel von Institutionen der Arbeitsverwaltung liegt darin,


spezifische Arrangements, Strategien und Reaktionsweisen zu schaffen, um
vor allem auch diejenigen aufzufangen, die im Wettlauf um Ausbildungs-
stellen und Platzierungen im Arbeitsmarkt trotz vielerlei Anstrengungen we-
niger oder überhaupt nicht erfolgreich sind. Vor diesem Hintergrund wird
in diesem Beitrag – unter Bezug auf das von Erving Goffman entwickelte
Konzept des Cooling Out – genauer beleuchtet, welche Erfahrungen junge
Erwachsene mit eher problematischen Bildungs-/Ausbildungsbiografien tat-
sächlich mit den Institutionen und Angeboten der Arbeitsverwaltung in der
Bundesrepublik Deutschland machen. Die Untersuchung zeigt, dass es ei-
nem bedeutenden Teil von Jugendlichen nicht gelingt, auf direktem Weg an
die für ihr Anliegen zuständige Stelle zu gelangen. Oft werden sie weiterge-
schickt mit der Folge, dass sich ein Teil der Ratsuchenden zurückzieht, ohne
dass eine systematische Verfolgung ihrer Anliegen durch die Ämter erkenn-
bar wurde. In diesen Fällen versagen die in den institutionellen Arrange-
ments angelegten Strategien und Reaktionsweisen.

1 Einleitung

Jugendliche als handelnde Akteure wollen ihr Leben auf bestimmte Ziele
hin gestalten bzw. managen, sie wollen Alternativen erkennen und Entschei-
dungen im Hinblick auf ihre berufliche Biographie treffen und damit einen
selbstbestimmten Weg in die Arbeitsgesellschaft finden (Blossfeld 2008;
Heinz 2009, Skrobanek et al. 2009). Von diesen Entscheidungen hängen

Skrobanek, J., Kuhnke, R. (2010). Selbst- oder fremdbestimmt? Erfahrungen junger Erwachsener im Umgang mit dem Institutio-
nen und Angeboten der Arbeitsverwaltung in der Bundesrepublik Deutschland. In: M. P. Neuenschwander, H.-U. Grunder (Hrsg).
Schulübergang und Sektion (pp. 109–120). Chur: Rüegger.
110 Cooling Out durch Arbeitsverwaltung bzw. deren Agenten

massgeblich die weiteren Lebens-, Karriere- und Entwicklungschancen des


Einzelnen und damit die Möglichkeiten personaler Entwicklung ab (Heinz
2009).
Damit Jugendliche im Prozess der sozialen und beruflichen Integration
Gestaltungschancen nutzen können, benötigen sie Fähigkeiten, Entscheidun-
gen zu treffen, Unsicherheit zu ertragen sowie Risiken einzugehen und sie pro-
duktiv zu handhaben (Förster et al. 2007). Hierauf sind nicht alle Jugendli-
chen gleichermassen gut vorbereitet, da ihnen unterschiedliche Ressourcen
und Potenziale zur Bewältigung entsprechender Anforderungen zur Verfü-
gung stehen (Braun et al. 2009; Skrobanek 2009). Für eine erfolgversprechen-
de Entwicklung von Fähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten sind neben
den primären Ressourcen wie Familie und Freundeskreis insbesondere auch
sogenannte sekundäre Ressourcen, also politische und institutionelle Akteure
(u.a. Schulen, Einrichtungen und Träger der Jugendsozialarbeit, Verbände,
Arbeitsagenturen, Betriebe) gefordert. Einerseits leisten sie wichtige Beiträge
zur Strukturierung und Stabilisierung der Lebensverläufe junger Menschen –
so beispielsweise die Schule bei der Platzierung in Bildungsgängen, das Aus-
bildungssystem beim Übergang von der Schule in das Erwerbsleben und die
Jugendsozialarbeit bei der Unterstützung dieses Übergangs (Baethge et al.
2007). Andererseits «kühlen sie Jugendliche aus», verwehren ihnen Zugang
zur Bildung durch Zuweisung in sogenannte «geeignete» oder «angemessene»
Angebote, reichen sie von Massnahme zu Massnahme oder stigmatisieren sie
direkt oder indirekt infolge der Teilnahme an spezifischen Bildungs- oder
Massnahmeangeboten (Baethge et al. 2007; Solga 2005).
Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden genauer beleuchtet, welche
Rolle die Institutionen der Arbeitsverwaltung – als ein zentraler Akteur im
Übergang von der Schule in Ausbildung oder Arbeit – beim Prozess der In-
tegration von Jugendlichen mit schlechten Startchancen in den Ausbil-
dungs-, Massnahmen oder Arbeitsmarkt spielen. Im Beitrag geht es speziell
um die Erfahrungen junger Erwachsener mit eher problematischen Bil-
dungs-/Ausbildungsbiografien mit den Institutionen und Angeboten der
Arbeitsverwaltung nach Inkrafttreten des Sozialgesetzbuchs II im Jahr 2005
in der Bundesrepublik Deutschland.

2 Cooling Out durch Arbeitsverwaltung bzw. deren Agenten

In der Arbeitsverwaltung sind spezifische Arrangements, Strategien und Re-


aktionsweisen vorgesehen, um u.a. diejenigen aufzufangen, die im Wettlauf
Cooling Out durch Arbeitsverwaltung bzw. deren Agenten 111

um Ausbildungsstellen und Platzierungen trotz vielerlei Anstrengungen we-


niger oder überhaupt nicht erfolgreich sind. Ziel dieser «Aktionen» ist es, die
Betroffenen zwar «am Laufen» zu halten, ihnen jedoch eine andere bzw.
neue Richtung im Lauf zu geben, ohne dass die Adressaten die «Lust» ver-
lieren bzw. frustriert oder aggressiv aus der Illusion einer zukünftigen Plat-
zierung aussteigen. Erving Goffman entwickelte dafür einen konzeptionel-
len Rahmen, sogenannte Cooling-Out-Prozesse, mittels derer die Strukturen
und Prozesse zu analysieren sind, die Stress und Frustrationen aufgrund
struktureller Disparitäten und individueller Erfahrungen des Scheiterns zu
reduzieren suchen (Goffman 1952).1 Nach Goffman wird diese Anpassung
von Plänen und Strategien von Wegbegleitern (Cooling-Out-Agents) mode-
riert, die alternative Handlungsmöglichkeiten vorschlagen und unterstützen
können, wenn ein angestrebtes Ziel – etwa eine Ausbildung zu beginnen –
nicht auf direktem Weg erreichbar ist. Solche Vorschläge und Unterstüt-
zungsangebote können zum Inhalt haben:
• einen neuen Versuch zu machen,
• eine (annähernd gleichwertige) Ersatzlösung zu verfolgen,
• eine attraktive Alternative zu wählen,
• Auswege zu verfolgen, die als «eigene Wahl» akzeptiert werden können
und erlauben, das Gesicht zu wahren,
• erlauben «Dampf abzulassen» und sich dadurch zu entlasten,
• Entlastung erhalten durch Zuhören und Verständnis (Goffman 1952:
457 f.).
Im Grunde kommen diese auf einen Erhalt der bestehenden Ordnung bzw.
bestehenden Trajectories zielenden Strategien insbesondere an spezifischen
Gelenkstellen des Bildungs-, Ausbildungs- oder Arbeitsmarktes zum Ein-
satz, wo die Nichtrealisierung spezifischer Ziele und Vorstellungen meist am
wahrscheinlichsten ist. Sie zielen auf die Integration in das bestehende
System bzw. auf die Abfederung von Kosten für den individuellen Akteur.
Darüber hinaus haben sie die Funktion, über Familie, Freunde, Schule, Me-
dien usw. sozialisierte Appetenzniveaus – z.B. Berufsausbildung für alle – zu
korrigieren und die Kosten von (meist geforderten) Investitionen abzu-
schwächen bzw. zu entwerten.

1 Der Ansatz wurde später von Burton R. Clark (1960) weiterentwickelt und empirisch getestet.
112 Datenbasis

Mit dem Inkrafttreten des Sozialgesetzbuchs II zu Beginn des Jahrs 2005


werden die Instrumente und Philosophien der neuen Arbeitsmarktpolitik in
der Bundesrepublik Deutschland (so z.B. die Anwendung des Prinzips För-
dern und Fordern) auch auf die Beratung, Betreuung und Vermittlung von
Jugendlichen im Rechtskreis dieses Sozialgesetzbuchs angewendet. Dies
wird mit der Erwartung einer verbesserten, passgenauen Förderung verbun-
den. Allerdings wurde damit auch das Spektrum möglicher Sanktionen er-
weitert, wenn die Jugendlichen den durch die Arbeitsverwaltung bzw. deren
Cooling-Out-Agents offerierten «Alternativen» nicht im erwarteten Mass
Folge leisten. Bei fehlender Kooperation wird ihnen z.B. das Arbeitslosen-
geld II für den Zeitraum von drei Monaten gestrichen.
Grundsätzlich gilt für die Arbeitsverwaltung und deren Agenten das propa-
gierte Ziel, Arrangements, Strategien und Reaktionsweisen bereitzuhalten,
um u.a. denjenigen weiterführende Alternativen für die berufliche Integra-
tion zu eröffnen, bei denen sich Probleme hinsichtlich der ausbildungs- oder
arbeitsmarktbezogenen Integration abzeichnen oder schon bestehen. Dem-
entsprechend ist zu erwarten, dass die Arbeitsverwaltung vielfältige Anstren-
gungen unternehmen wird, um diesen Anspruch – auch unter schwierigen
Bedingungen des Arbeitsmarkts – einzulösen.
Genau hier stellt sich die Frage, ob und in welchem Mass es tatsächlich der
Arbeitsverwaltung bzw. deren Agenten gelingt, das propagierte Ziel einzulö-
sen. Zudem ist zu beleuchten, inwieweit die Interessen, Bedürfnisse und
Ziele der betroffenen Jugendlichen in der institutionellen Logik der Arbeits-
verwaltung tatsächlich berücksichtigt werden können, wo die Angebote wei-
terführende Anschlüsse ermöglichen und in welchem Umfang Jugendliche
sich einfach im System «festlaufen» bzw. «herausfallen», weil sie in der Ar-
beitsverwaltung nur unzureichend problemadäquat beraten werden.

3 Datenbasis

Die Datenbasis dieser Studie sind die Ergebnisse aus einer Befragung von Ju-
gendlichen bzw. jungen Erwachsenen zu ihren Erfahrungen mit Angeboten
und Prozessen in der Schnittstelle der Rechtskreise des SGB II und des SGB
III im 3. Quartal 2006. Die Stichprobe bilden Jugendliche, die als Teilneh-
merinnen und Teilnehmer berufsvorbereitender Massnahmen in den Jahren
2000 bis 2004 erstmals befragt wurden (Förster, Kuhnke, Skrobanek 2006).
Dies betraf zum einen Jugendliche, die am Freiwilligen Sozialen Trainings-
Ergebnisse 113

jahr (FSTJ) teilnahmen, zum anderen Jugendliche aus Berufsvorbereitenden


Bildungsmassnahmen der Bundesagentur für Arbeit (BBE). Die Befragung
erfolgte zu drei Zeitpunkten: Zum Zeitpunkt des Eintritts in die Massnah-
me, zum Zeitpunkt des Ausscheidens aus der Massnahme sowie zirka sechs
Monate nach Verlassen der Massnahme.
Auf der Basis der von 1100 Jugendlichen angegebenen Kontaktdaten, die
überwiegend im Zeitraum von 2002 bis 2003 die betreffende Massnahme
beendeten, wurde im Juli/August 2006 ein Telefoninterview mit allen er-
reichbaren Jugendlichen durchgeführt. Das Problem dabei war, dass, trotz
Bemühung um weitere Kontaktadressen in der Bereitschaftserklärung, von
einem Grossteil der Jugendlichen nur Handynummern vorlagen und diese
inzwischen nicht mehr stimmten.
Trotz dieser schwierigen Rahmenbedingungen liessen sich immerhin 341
Interviews mit Jugendlichen realisieren, die überwiegend 2002/03 an den
genannten Massnahmen teilgenommen hatten. Schwerpunkte des Inter-
views waren folgende Fragen:
• berufliche Aktivitäten seit Massnahmeende,
• aktueller Status zum Befragungszeitpunkt,
• Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit seit Massnahmeende,
• Cooling-Out-Erfahrungen als Beratungs- und Betreuungskunden der
Arbeitsagentur beim zeitlich letzten Anliegen: Nachfrage- und Angebots-
strukturen, Angebotsinanspruchnahme und deren Beurteilung durch die
Jugendlichen, Sanktionsgeschehen, Bewertung des individuellen Nut-
zens für die weitere berufliche Entwicklung sowie die Bewertung der Ar-
beit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der entsprechenden Einrich-
tungen durch die Befragten.

4 Ergebnisse
4.1 Allgemeine Nachfragemuster
Fast alle der 192 jungen Erwachsenen, die nach Beendigung der damaligen
Massnahme (FSTJ bzw. BBE) arbeitslos waren (ein Viertel von ihnen war
das mehrmals) hatten konkrete Erfahrungen mit Einrichtungen der Arbeits-
verwaltung seit 2005. Sie wurden differenzierter zum letzten Anliegen be-
fragt, mit dem sie bei der Arbeitsverwaltung vorstellig waren.
114 Ergebnisse

Abbildung 1: Kontakt zur Arbeitsverwaltung seit 2005 und Anliegen (Absolutzahlen)

341 junge Erwachsene,


aus Berufsvorbereitenden
Massnahmen
Erfahrungen mit Institutionen der Arbeitsverwaltung ab 2005

Ja=188 Ja=188
Nein=153

Hauptanliegen

Nachfrage nach Keine Angabe


Qualifizierung N=5
N=76

Nachfrage nach arbeitslos hinbestellt anderes


Arbeit N=36 melden N=38 N=6 N=27

Nach den Angaben der Befragten lassen sich folgende Nachfragemuster un-
terscheiden:
• Bei der zahlenmässig grössten Gruppe von 40% (N=76 junge Erwachse-
ne) steht die Nachfrage nach (weiterer) Qualifizierung im Vordergrund.
• Jeweils 20% machen die vorwiegende Nachfrage nach Arbeit (N=36)
bzw. das sich (lediglich) Arbeitslosmelden oder Arbeitslosengeld beantra-
gen aus (N=38).
• Ausschliesslich von der Behörde einbestellt worden zu sein, geben 3%
(N=6) an.
• Zirka 15% nennen anderes als Hauptanliegen (BAB-Beantragung, Kin-
dergeld, Nachhilfe, Wohngeldzuschuss, Unterstützung bei Umzug …)
(N=27).
• 2% machen keine Angaben.
In den Anteilen von jungen Erwachsenen mit bzw. ohne Migrationshinter-
grund und auch in den Geschlechteranteilen gibt es zwischen den Nachfra-
gegruppen keine Unterschiede (ausser bei den sechs Hinbestellten, die aus-
schliesslich Befragte ohne Migrationshintergrund sind und fünf sind junge
Frauen).
Ergebnisse 115

Im Folgenden soll der Weg der Gruppe von jungen Erwachsenen durch die
Institutionen der Arbeitsverwaltung, die primär als Ausbildungsnachfrager
zugeordnet wurden, differenzierter nachverfolgt werden.

4.2 Junge Erwachsene, die weiterführende Qualifizierung


nachfragen
Von den 76 Jugendlichen, die eine Qualifizierung nachfragten, kamen 63
(d.h. mehr als 80% der insgesamt 76 Nachfrager nach Qualifizierung), mit
ihrem Anliegen zunächst an der richtigen Stelle an (vgl. dazu Grafik 2). Für
13 Jugendliche hiess das allerdings auch, nicht an der richtigen Stelle ange-
kommen zu sein, obwohl sie teilweise an andere Stellen der Arbeitsverwal-
tung – jedoch ohne adäquate Lösung ihrer Problemlage – geschickt wurden.

Abbildung 2: Der weitere Weg zu den Angeboten

63 junge Erwachsene,
die bei der richtigen Stelle
angekommen sind

Dort geklärt, wie weiter? Keine Angabe=1a)

Ja, aber weiter- Nur weiter- Nein, auch nicht


Ja=39
geschickt=7 geschickt=2 weitergeschickt=14b)

Kontakt damit beendet?


Dort geklärt, 1 selbst 1 Ab-
wie weiter? gesucht bruch

Nein=3 Ja=4 Nein=1 Ja=1 Nein=2 Ja=12

Weitergeschickt
Weiteren Kontakt zur
Dort geklärt, wie weiter? Weiteren Kontakt? Arbeitsverwaltung?

Weiss nicht=1 Ja=2 Nein=1 Ja=3 Nein=9

Angelegenheit geklärt?

Keine Angabe a) Befragte, die Angebote Ja=1 Nein=2


bekommen haben N=46
116 Ergebnisse

a) auch kein weiterer Kontakt zur Arbeitsverwaltung in diesem Kontext


b) Angaben der Befragten, warum nichts passierte:
• Das Arbeitsamt hat sich nicht gemeldet.
• Die haben nichts getan.
• Ich habe keine Anschriften für Bewerbungen bekommen.
• Habe keine Ahnung.
• Wurde von einem Mitarbeiter zum Nächsten gereicht.
• War nur eine Überbrückungszeit.

Bei 39 von ihnen wurde an der vorgegebenen Stelle geklärt, wie es bei ihnen
weitergehen soll, und sie erhielten entsprechende Angebote. Sieben der Ju-
gendlichen wurden nochmals weitergeschickt und erhielten erst dann min-
destens ein Angebot.
Insgesamt bekamen 46 junge Erwachsene (das sind knapp drei Viertel jener
63, die an den richtigen Stellen waren bzw. nunmehr deutlich unter zwei
Drittel der insgesamt betrachtenden 76 Jugendlichen) Angebote von der
Einrichtung der Arbeitsverwaltung, in der sie (angekommen) waren.
Allerdings war von den Nachfragern nach Qualifizierung mehr als jeder
Dritte auf dem Weg zu konkreten Angeboten «auf der Strecke» geblieben.
Die Mehrzahl der Angebote bezieht sich entsprechend der Nachfrage der Ju-
gendlichen auf den Erwerb beruflicher Abschlüsse bzw. Umschulungen oder
Fortbildungen oder auch das Nachholen schulischer Abschlüsse (vgl. Tabel-
le 1). In seltenen Fällen wurden daneben auch Arbeitsangebote gemacht.
Von den 76 Befragten, die wegen einer weiterführenden Ausbildung bei der
Arbeitsverwaltung vorstellig wurden, erhielten zirka 40% entsprechende ab-
schlussorientierte Qualifizierungsangebote2. Geht man davon aus, dass die
ausserdem offerierten Angebote berufsvorbereitender Art3 tatsächlich weite-
re notwendige nachholende Qualifizierungsschritte darstellen, so kommen
weitere knapp 20% hinzu. Da die von uns befragten jungen Erwachsenen
bereits mindestens eine Massnahme absolviert hatten, stellt sich die Frage,
inwiefern es sich u. U. um sich fortsetzende Massnahmekarrieren handelt.

2 Hier gemeint: Berufsausbildung, Schulabschluss nachholen, Umschulung/Fortbildung


3 Hier betrachtet: weitere Berufsvorbereitungsmassnahme, Trainingsmassnahme, Praktikum
Ergebnisse 117

Tabelle 1: Angebote an junge Erwachsene, die nach Qualifizierung nachfragen, und de-
ren Bewertung und Realisierungsstand (Mehrfachnennungen) (Angabe in absolut)

Angebot entsprach den Stand zum Befragungszeit-


Erwartungen punkt

abgebrochen ohne Erfolg

wird noch angetreten


erfolgreich beendet

nicht angenommen
überhaupt nicht

weiss nicht/kA

keine Angabe
gerade dabei
eher nein
eher ja
Anzahl

völlig

Angebote

Berufsausbildung 20 8 7 3 2 3 12 2 3
Schulabschluss 3 1 1 1 1 2
Umschulung 7 3 3 1 2 1 1 2 1
Praktikum 2 1 1 1 1
Berufsvorbereitung 11 4 5 1 1 4 2 4 1
Training 4 2 1 1 2 1 1
Arbeitsgelegenheit 3 1 1 1 2a) 1

37% 35% 11% 17% 17% 17% 42% 15% 9%

a) Die Arbeit wurde aufgenommen, die Befragten wurden aber wieder arbeitslos.

Nach den von den Jugendlichen vorliegenden Informationen hatte die Ab-
lehnung von Angeboten – ausgenommen ein Fall – keinerlei Folgen.

4.3 Bilanzierung
Bilanziert man die Kontakte derjenigen Jugendlichen (vgl. Tabelle 2), die bei
der Arbeitsverwaltung nach Unterstützung bei ihrer (weiteren) beruflichen
Qualifizierung nachsuchen, sei – bezogen auf unsere Befragung – zunächst
vorangestellt, dass es sich hier lediglich um eine Momentaufnahme handelt.
Die Ergebnisse unterstreichen, dass der im Rahmen der Untersuchung be-
trachtete biografische Zeitraum für die Mehrheit der befragten Jugendlichen
eine Phase vielfältiger Entwicklung darstellt. Insofern repräsentieren die an-
gegebenen Status der Jugendlichen in vielen Fällen noch keine stabile Platzie-
rung, sondern vielmehr Status des Übergangs von der Schule in Arbeit.
118 Ergebnisse

In der nachfolgenden Bilanz gelten jene Fälle als positiv, bei denen Angebo-
te erst einmal erfolgreich absolviert wurden bzw. gerade realisiert werden.
Als vom Ergebnis her negativ bilanziert werden alle Nachfrager, deren Kon-
takte nicht zu konkreten Angeboten führten, die Angebote ohne Erfolg be-
endeten bzw. abbrachen oder die Angebote ablehnten und keine weiteren
Angebote erfolgreich absolvierten.
Auf Grundlage der verfügbaren Informationen lässt sich für insgesamt 70
der 76 Nachfrager nach weiterer Qualifizierung feststellen: Zum Befra-
gungszeitpunkt sieht die Bilanz des Kontakts zum Arbeitsamt für 40% erst
einmal positiv aus. Andererseits sind 60% ihrer Zielstellung über den in der
Befragung geschilderten Kontakt zur Arbeitsverwaltung eher nicht näher ge-
kommen.

Tabelle 2: Bilanz der Kontakte zur Arbeitsverwaltung in unterschiedlichen Teilgruppen

N zum Erhebungszeitpunkt

positiv negativ verschollen

Nachfrager nach Qualifizierung 70 40% 17% 43%


Nachfrager nach Arbeit 36 22% 31% 47%
Arbeitslos melden / ALG beantragen 37 35% 8%/41% 16%
Hinbestellte 6 100% – –

gesamt 149 37% 27% 36%

Von den zu ihren Erfahrungen mit der Arbeitsverwaltung befragten jungen


Erwachsenen erhielten 82 ein Angebot oder mehrere, also insgesamt etwas
über 50%. Für 149 der befragten Jugendlichen liess sich entsprechend der
vorliegenden Informationen eine Bilanzierung ihres Kontakts vornehmen.
In der Gesamtbilanz stehen gut einem Drittel der Jugendlichen, bei denen
Angebote erst einmal erfolgreich absolviert wurden bzw. gerade realisiert
werden, knapp zwei Drittel gegenüber, bei denen (eher) von einem Misser-
folg der Bemühungen auszugehen ist (siehe Gesamtzeile Tabelle 2).
Vor diesem Hintergrund ist interessant, wie die Jugendlichen die Agenten
der Arbeitsverwaltung sowie deren Arbeit beurteilen. Trotz der mässigen Er-
folge der Arbeitsverwaltung fallen die Bewertungen der Agenten in den Ein-
richtungen recht positiv aus. Mit relativem Abstand wird dabei die Freund-
lichkeit der Mitarbeiter/innen in den Arbeitsverwaltungen am positivsten
Fazit 119

beurteilt, weniger zustimmend bewertet werden hingegen die Aussagen zur


Arbeitseffektivität und zum Resultat.

5 Fazit

Die vorliegende Untersuchung belegt einmal mehr, dass ein nicht zu ver-
nachlässigender Teil von Jugendlichen mit schlechten Startchancen den
Kontakt zu Stellen der Arbeitsverwaltungen aktiv sucht und dies mit dem
Ziel verbindet, sich weiterzuqualifizieren. Weiterhin zeigt sich, dass es einem
Teil der jungen Leute nicht gelingt, auf direktem Weg an die für ihr Anlie-
gen zuständige Stelle zu gelangen. Oft werden sie weitergeschickt mit der
Folge, dass sie sich zurückziehen, ohne dass eine systematische Verfolgung
ihrer Anliegen seitens der Ämter erkennbar wurde. Beim Weg durch das
komplexe System gehen viele Jugendliche «verloren». Verantwortlich dafür
sind insbesondere Unsicherheiten über Zuständigkeiten in den Arbeitsver-
waltungen, ungeeignete bzw. an den Bedürfnissen bzw. Lagen der Jugendli-
chen vorbeigehende Angebote sowie Unübersichtlichkeiten und Unwissen-
heit hinsichtlich tatsächlich vorhandener Möglichkeiten bzw. Angebote vor
bzw. in der Region.
Die Ergebnisse belegen ein weiteres Mal, wie wichtig ein überschaubares auf
Zielgruppen zugeschnittenes Angebots- und Zuständigkeitsspektrum inner-
halb der Arbeitsverwaltungen ist. Je unkoordinierter und intransparenter
das Spektrum der Zuständigkeiten und der damit verbundenen Angebote
für Jugendliche allgemein und für Jugendliche mit schlechten Startchancen
am Übergang zwischen Schule, Ausbildung und Beruf speziell ist, desto
grösser ist die Gefahr eines misslingenden Cooling Out, mitverursacht von
den Agenten der Arbeitsverwaltung. Genau dies unterstreicht die vorliegen-
de Untersuchung: Die meisten Jugendlichen suchen eigengesteuert und da-
mit aktiv den Kontakt zu den Arbeitsverwaltungen, werden über Zuständig-
keits- oder Angebotsdiffusität (unitendiert) ausgekühlt und wenden sich
von den Agenten der Arbeitsverwaltung ab. Insofern gilt etwas zugespitzt
formuliert, dass jeder Schritt in Richtung Transparenz und Koordination
zwischen den zuständigen Stellen und Adäquatheit der Angebote einen
Schritt in Richtung Integration von Jugendlichen in den Ausbildungs- und
Arbeitsmarkt ist.
Wenig aussagekräftig sind in diesem Zusammenhang deshalb auch die Zu-
friedenheitsquoten: Denn zufrieden mit der Beratung und Betreuung durch
120 Literatur

die Einrichtungen von Arbeitsagenturen zeigt sich auch ein grosser Teil der-
jenigen, die gleichzeitig angeben, dass diese Beratung und Betreuung sie
hinsichtlich des Ziels «berufliche Integration» nicht weitergebracht habe.
Die Befragung der jungen Erwachsenen verdeutlicht schliesslich auch, dass
die Komplexität der Verhältnisse in den Rechtskreisen von SGB II und III
nicht nur die jungen Leute und die Agenten der Arbeitsverwaltung, sondern
auch – zumindest teilweise – die Analysemöglichkeiten der Sozialwissen-
schaften auf eine harte Probe stellt. Hier ist methodisch und in Verfahren
der Datenauswertung weiter Pionierarbeit zu leisten.

Literatur
Baethge, M. Solga, H., Wieck, M. (2007). Berufsbildung im Umbruch. Signale eines über-
fälligen Aufbruchs. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.
Blossfeld, H-P. Klijzing, E. Mills, M., Kurz, K. (2005). Globalization, Uncertainty and Youth
in Society. London: Routledge.
Braun, F. Reissig B., Skrobanek, J. (2009). Jugendarbeitslosigkeit und Benachteiligtenförde-
rung. In: Tippelt, R., Handbuch Übergangsforschung (S. 953–966). Wiesbaden: VS-Verlag
für Sozialwissenschaften.
Clark, B. R. (1960). The «Cooling-Out» Function in Higher Education. In: American Jour-
nal of Sociology 65 Jg., S. 569–576.
Förster, H. Kuhnke, R., Skrobanek, J. (2006). Am Individuum ansetzen. Strategien und Ef-
fekte der beruflichen Förderung von benachteiligten Jugendlichen. München: DJI Verlag.
Goffman, E. (1952). On cooling the mark out: Some aspects of adaptation to failure. In: Psy-
chiatry 15. Jg., S. 451–463.
Heinz, W.R. (2009). Youth transitions in an age of uncertainty. In: Furlong, A. (Hrsg.),
Handbook of youth and young adulthood (S. 3–13). London: Routledge.
Skrobanek, J. (2009). Migrationsspezifische Disparitäten im Übergang von der Schule in den
Beruf. DJI-Arbeitspapier. Wissenschaftliche Texte 1/2009, München: DJI.
Skrobanek, J. Reissig, B., Gaupp, N. (2009). New Risks and New Opportunities in School-
to-Work Transition: The Transformation of the German Apprenticeship System. In: Hind-
man, D. H. (Hrsg.), Child Labour Atlas: a reference encyclopedia (S. 619–624). New York:
M.E.Sharp, Inc.
Solga, H. (2005). Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft. Opladen: Barbara Budrich.
121

Passungswahrnehmung, Selbstkonzept und


Jugendarbeitslosigkeit 1

Michelle Gerber-Schenk, Benno Rottermann & Markus P. Neuenschwander

Abstract
Berufswahl- und Transitionstheorien postulieren tiefere berufliche Leistung
und Zufriedenheit als Folge einer geringen Passung zwischen der Ausbil-
dung und den Fähigkeiten bzw. Interessen von Berufslernenden. Gestützt
auf Längsschnittergebnisse des Forschungsprojekts Familie-Schule-Beruf
(FASE B) belegen wir negative Auswirkungen einer gering ausgeprägten Pas-
sungswahrnehmung auf die weitere berufliche Entwicklung von Lernenden.
Jugendliche mit einer geringen Passungswahrnehmung haben ein niedrige-
res berufliches Fähigkeitsselbstkonzept während der Lehre und ein erhöhtes
Arbeitslosigkeitsrisiko nach dem Lehrabschluss als Jugendliche mit einer ho-
hen Passungswahrnehmung. Arbeitslosigkeit hängt zudem auf individueller
Ebene von einer tieferen Leistungsmotivation (im Sinn der Wert-Erwar-
tungs-Theorie) ab. Eltern sind eine Ressource für Berufslernende, wenn sie
Interesse an der beruflichen Ausbildung ihrer Kinder zeigen.

1 Einleitung

Die Suche nach einem Ausbildungs- bzw. einem Arbeitsplatz ist eine
Herausforderung, welche vielen Jugendlichen Sorgen bereitet. Aufgrund des
knappen Lehrstellenangebots treffen manche von ihnen keine eigentliche
Berufswahl, sondern nehmen irgendeine Lehrstelle an (Heinz, 2008). Dies
ist bedenklich, wenn wir in Übereinstimmung mit Berufswahl-, Personal-
auswahl- und Transitionstheorien davon ausgehen, dass eine Passung zwi-
schen Interessen und Fähigkeiten einerseits und der Berufslehre andererseits
für eine günstige berufliche Entwicklung von Jugendlichen erforderlich ist.
Passung wird definiert als Übereinstimmung zwischen der Persönlichkeit

1 Die Autorin und die Autoren danken dem Schweizerischen Nationalfonds (Projektnummer 10013-107733), der Pä-
dagogischen Hochschule Bern (Projektnummer 0101s017) sowie der Bildungsdirektion Zürich für die finanziellen
Beiträge an die Untersuchung.

Gerber-Schenk, M., Rottermann, B., Neuenschwander, M. P. (2010). Passungswahrnehmung, Selbstkonzept und Jugendarbeits-
losigkeit. In: M. P. Neuenschwander, H.-U. Grunder (Hrsg). Schulübergang und Selektion (pp. 121–130). Chur: Rüegger.
122 Passungswahrnehmung und berufliches Fähigkeitsselbskonzept

und den Merkmalen des beruflichen Umfelds (Holland, 1997), als Kompro-
missprozess (Gottfredson, 2005) oder als dynamisch entstehende Überein-
stimmung zwischen dem Entwicklungsstand der Jugendlichen und der Aus-
gestaltung der Ausbildung (sog. stage-environment fit nach Eccles et al.,
1993). Diese Konzepte postulieren negative Auswirkungen einer geringen
Passung auf die berufliche Zufriedenheit, Leistung und berufliche Stabilität
von Jugendlichen (Holland, 1997) sowie auf Verhalten, Motivation und
psychische Gesundheit (Eccles et al., 1993). Wir wollen zeigen, dass sich die
subjektive Wahrnehmung einer geringen Passung während der Lehre nega-
tiv auf die weitere berufliche Entwicklung auswirkt. Das heisst, dass einer-
seits der Aufbau des Selbstbildes als Berufsfachperson während der Berufs-
ausbildung schlechter gelingt, und andererseits die Bewältigung des
Übergangs von der Lehre in die erste Anstellung mehr Schwierigkeiten
bereitet, sodass die jungen Erwachsenen eher arbeitslos werden. In diesem
Beitrag überprüfen wir zwei Hypothesen: 1) Eine geringe Passungswahr-
nehmung wirkt sich negativ auf die Entwicklung des beruflichen Fähigkeits-
selbstkonzepts aus. 2) Eine geringe Passungswahrnehmung stellt einen
Risikofaktor für Jugendarbeitslosigkeit nach Abschluss der Berufslehre dar.

2 Passungswahrnehmung und berufliches


Fähigkeitsselbstkonzept

Selbstkonzepte sind zentrale Konstrukte in der Selbstwahrnehmung von


Menschen. Das berufliche Fähigkeitsselbstkonzept beschreibt, wie Men-
schen die eigenen beruflichen Fähigkeiten beurteilen. Selbstkonzept und
Leistung stehen in einer wechselseitigen Beziehung: Einerseits ist die tat-
sächlich erbrachte Leistung Ursache für das Fähigkeitsselbstkonzept (Skill
development-Ansatz nach Calsyn & Kenny, 1977), anderseits ist das Fähig-
keitsselbstkonzept Ursache für nachfolgend erbrachte Leistungen, damit
eine Person ein positives Bild von sich selbst aufrechterhalten kann (Self en-
hancement-Ansatz nach Pekrun, 1987).
Unsere Hypothesen werden mit Daten des Projekts Familie-Schule-Beruf
FASE B überprüft. In diesem Längsschnittprojekt mit vier Befragungswel-
len sind Jugendliche des 8. Schuljahrs, ihre Eltern und Lehrpersonen im Jahr
2002 erstmals untersucht worden. Die Jugendlichen wurden in den Jahren
2006, 2007 und 2008 erneut befragt (vgl. Neuenschwander & Frank, 2009
sowie Neuenschwander, in diesem Band). Für die vorliegende Analyse wer-
den die Daten von 819 Teilnehmenden in einer beruflichen Ausbildung (da-
Passungswahrnehmung und berufliches Fähigkeitsselbskonzept 123

von 59% weiblich) einbezogen, welche 2006 das 2. Lehrjahr –(M=18.4 Jah-
re, SD = 1.22 Jahre) und 2007 das 3. Lehrjahr absolviert haben.
Die wahrgenommene Passung zwischen den eigenen Interessen bzw. Fähig-
keiten und den Anforderungen der Berufslehre wird mittels dreier Items auf
einer vierstufigen Skala erfasst, welche zu einem reliablen Faktor zusammen-
gefasst wird. Eines dieser Items heisst: «Meine momentane berufliche Situa-
tion stimmt mit meinen persönlichen Interessen überein.»
Das berufliche Fähigkeitsselbstkonzept nach Sonntag und Schäfer-Rausser
(1993) setzt sich aus acht Items zusammen wie «Ich kann gelernte Handgrif-
fe gut auf neue Arbeitsaufgaben übertragen» oder «Es fällt mir schwer, Ar-
beitsschritte zu planen und einzuteilen». Die Faktoren lassen sich zu einem
reliablen Faktor zusammenfassen.
Wir prüfen mittels einer Varianzanalyse mit Messwiederholung die Hypo-
these, dass sich das berufliche Fähigkeitsselbstkonzept in Abhängigkeit der
Passungswahrnehmung unterschiedlich entwickelt. Das berufliche Fähig-
keitsselbstkonzept im zweiten und dritten Lehrjahr wird als Messwiederho-
lungsfaktor ausgewertet, die medianhalbierte Passungswahrnehmung als
Gruppierungsfaktor.
Die Varianzanalyse ergibt sowohl einen signifikanten Effekt der Passung
(FGruppe(1,672) = 65.6, p<.001, η=.09) als auch einen signifikanten Mess-
wiederholungseffekt (FZeit(1,672) = 117.1, p<.001, η=.15), jedoch keine sig-
nifikante Interaktion (FInteraktion(1,672) = .01, p=.94, η=.00) (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1: Gruppenunterschiede (hohe vs. niedrige Passungswahrnehmung) in der


Entwicklung des beruflichen Fähigkeitsselbstkonzepts

3.28
3.13

3 3.09
2.94

hohe Passungswahrnehmung

niedrige Passungswahrnehmung

2
2. Lehrjahr 3. Lehrjahr
124 Passungswahrnehmung und Jugendarbeitslosigkeit

Lernende mit einer eher hohen Passungswahrnehmung schätzen im zweiten


und dritten Lehrjahr ihre beruflichen Fähigkeiten höher ein als Lernende
mit eher tiefer Passungswahrnehmung. Das heisst, dass Jugendliche, welche
eine grosse Übereinstimmung mit ihren Fähigkeiten bzw. Interessen und
den beruflichen Anforderungen feststellen, sich ausgeprägtere berufliche
Kompetenzen zuschreiben. Dieser Effekt ist nachhaltig, insofern er ein Jahr
nach Messung der Passungswahrnehmung noch immer auftritt. Dafür mag
die hohe Stabilität der Passungswahrnehmung von r=.55 während eines
Lehrjahrs mitverantwortlich sein. Eine hohe Übereinstimmung zwischen
den eigenen wahrgenommenen Fähigkeiten bzw. Interessen und den Anfor-
derungen der Ausbildungssituation wirkt sich günstig auf das berufliche Fä-
higkeitsselbstkonzept aus.

3 Passungswahrnehmung und Jugendarbeitslosigkeit

Berufliche Karrieren verlaufen oft diskontinuierlich und Übergänge können


sich in die Länge ziehen. Dennoch spielt der Berufseinstieg für die spätere
berufliche Karriere junger Erwachsener eine grosse Rolle (Heinz, 2002).
Umso kritischer ist die hohe Verbreitung von Arbeitslosigkeit bei den 20–
24-Jährigen im Vergleich zur Gesamtarbeitslosigkeit in der Schweiz, insbe-
sondere bei ungünstiger konjunktureller Lage (Weber, 2004).
Der Übergang an der zweiten Schwelle (von der Berufslehre in die Erwerbs-
tätigkeit) wird aus einer entwicklungspsychologischen Perspektive als nor-
mative Entwicklungsaufgabe gedacht, welche die jungen Erwachsenen be-
wältigen müssen. In Ergänzung zu verbreiteten soziologischen und
ökonomischen Ansätzen, welche Jugendarbeitslosigkeit zum Beispiel mit
Arbeitsmarkttheorien erklären, fokussieren wir auf individuelle Risikofakto-
ren von Jugendarbeitslosigkeit. Wir vermuten aufgrund der hohen Wichtig-
keit der Passungswahrnehmung für die berufliche Entwicklung der Lernen-
den (vgl. oben), dass eine tiefe Passungswahrnehmung in der Berufslehre
Arbeitslosigkeit vorhersagen könnte. In der Tat weisen empirische Studien
in diese Richtung: So werden junge Erwachsene nach der Lehre eher arbeits-
los, wenn sie die Arbeit in ihrem Lehrberuf nicht gemocht haben (Müller &
Schweri, 2009) oder eine Lehre in einem ganz anderen als dem ursprünglich
gewünschten Beruf absolviert haben (Wagner, 2002).
Bei der Suche nach einer Arbeitsstelle spielen überdies Selektionskriterien
von potenziellen Arbeitgebenden, wie die Qualifikation und Leistungsmo-
Passungswahrnehmung und Jugendarbeitslosigkeit 125

tivation der Bewerbenden eine Rolle. Wir postulieren daher zwei weitere Ri-
sikofaktoren, die wir mit Daten aus dem FASE B-Projekt operationalisieren:
1) Geringe Qualifikation in Form von tiefen Lehrabschlussnoten. Empirische
Studien zeigen, dass bei schlechten Schulnoten (Pinquart, Juang & Sil-
bereisen, 2003) und schlechten Lehrabschlussnoten (Müller & Schweri,
2009) das Arbeitslosigkeitsrisiko erhöht ist.
2) Geringe Leistungsmotivation bezüglich des angestrebten Bildungsab-
schlusses. Nach der Wert-Erwartungs-Theorie (Eccles, 2005) ist die Leis-
tungsmotivation einer Person gering, wenn sie ein Ziel als unwichtig und
die Zielerreichung als unsicher beurteilt.
Die Leistungsmotivation wird mit zwei Indikatoren erfasst: Die Erwartung,
im Folgenden Bildungserwartung genannt, wurde mit dem Item «Wie sicher
sind Sie, den geplanten Ausbildungsabschluss zu erreichen?» auf einer vier-
stufigen Skala erhoben. Der Wert wurde als wahrgenommene Kosten
(Eccles, 2005) mit dem Faktor Verzichtsbereitschaft erfasst. Dieser besteht
aus sieben Items mit einer sechsstufigen Antwortskala, auf der die Teilneh-
menden den Grad ihrer Verzichtsbereitschaft (z.B. auf Hobbys) zugunsten
eines Abbildungsabschlusses angaben.
Da Familien in der Berufswahl und der Lehrstellensuche von Jugendlichen
eine wichtige Rolle spielen (Kracke & Hofer, 2002), postulieren wir, dass sie
auch beim Übergang ins Erwerbsleben eine wichtige Ressource für die jun-
gen Erwachsenen sind, vor allem dann, wenn die Autonomie der jungen Er-
wachsenen nicht eingeschränkt wird, die Eltern aber in den Ausbildungs-
prozess involviert sind. Ein hohes wahrgenommenes Interesse der Eltern an
der Ausbildung ihrer Kinder sollte deshalb für die jungen Erwachsenen hilf-
reich sein. Das Interesse der Eltern an der beruflichen Ausbildung wurde mit
dem Item «Wie sehr interessieren sich Ihre Eltern dafür, was im Lehrbetrieb
läuft?» auf einer vierstufigen Skala erfasst.
Die Stichprobe besteht aus 252 Personen, davon sind 64% Frauen. Das
Durchschnittsalter im Jahr 2008 beträgt 20.5 Jahre (SD=1.47). Die meisten
haben eine dreijährige duale Lehre absolviert. 36 sind mindestens einmal
zwischen dem Lehrabschluss und der Befragung 3/4 Jahre später arbeitslos
gewesen. Diese «Arbeitslosen» werden mit einer Gruppe von 216 jungen Er-
wachsenen verglichen, die den Übergang von der Lehre in die Erwerbstätig-
keit erfolgreich vollzogen haben.
Zur Untersuchung der individuellen Risikofaktoren und Ressourcen bei der
Bewältigung der zweiten Schwelle werden mehrere logistische Regressions-
126 Passungswahrnehmung und Jugendarbeitslosigkeit

analysen gerechnet (vgl. Tabelle 1). Als Kontrollvariablen werden das Ge-
schlecht, der Migrationshintergrund und der familiäre sozioökonomische
Status einbezogen. Da diese aber keinen signifikanten Einfluss auf das Ar-
beitslosigkeitsrisiko der jungen Erwachsenen haben, werden sie in den wei-
teren Analysen nicht mehr berücksichtigt.

Tabelle 1: Vorhersage des Erwerbslosigkeitsrisikos nach der zweiten Schwelle

Prädiktoren Erwerbslosigkeit (Odds Ratios)


Lehrabschlussnote 0.78
Passung 0.32** 0.47†
Verzichtsbereitschaft 0.40* 0.42*
Erfolgserwartung 0.50* 0.63
Interesse der Eltern 0.52** 0.59†
am Lehrbetrieb
R2 Nagelkerke 0.8% 7.7% 9.2% 5.8% 16.5%
Modell χ2 (df) 1.09 (1) 11.10 (1)** 11.14 (2)** 8.27 (1)** 20.36 (4)***
N 237 251 203 249 202

Anmerkungen: † = p <.10; *= p < .05; ** = p < .01; *** = p < .001

Die Lehrabschlussnote war hier, entgegen unserer Hypothese, kein signifi-


kanter Prädiktor für das Arbeitslosigkeitsrisiko. Unser Befund steht im Wi-
derspruch zu einer früheren Studie (vgl. Müller & Schweri, 2009), was mit
unterschiedlichen Operationalisierungen der Lehrabschlussnote oder unter-
schiedlichen Stichproben zusammenhängen könnte.
Eine geringe Passungswahrnehmung im letzten Lehrjahr ist hypothesenkon-
form ein signifikanter Prädiktor für ein erhöhtes Arbeitslosigkeitsrisiko,
ebenso wie die Leistungsmotivation im Sinn der eingeführten Wert-Erwar-
tungs-Theorie. Das Interesse der Eltern am Lehrbetrieb ist ebenfalls ein
signifikanter Prädiktor für einen erfolgreichen Berufseinstieg. Wenn Ler-
nende wahrnehmen, dass sich ihre Eltern für ihre Ausbildung interessieren,
ist ihr Risiko kleiner, nach der zweiten Schwelle arbeitslos zu werden.
Im nächsten Schritt wird die Jugendarbeitslosigkeit mit den vier signifikan-
ten Prädiktoren gleichzeitig vorhergesagt (Tabelle 1). Allerdings ist die
Stichprobe mit 36 Arbeitslosen dafür eher klein. In dieser Analyse bleibt die
Verzichtsbereitschaft signifikant, während der Einfluss der Passung und des
Schlussfolgerungen 127

Elterninteresses nur tendenziell signifikant sind. Diese Ergebnisse sollten


anhand einer grösseren Stichprobe überprüft werden.

4 Schlussfolgerungen

Unsere Ergebnisse zeigen, dass sich eine geringe Passungswahrnehmung zwi-


schen Fähigkeiten bzw. Interessen und der beruflichen Ausbildung negativ
auf die weitere berufliche Entwicklung von Lernenden auswirkt, indem die-
se a) ein geringeres berufliches Fähigkeitsselbstkonzept entwickeln und b)
ein erhöhtes Arbeitslosigkeitsrisiko beim Übergang in den Arbeitsmarkt
haben.
a) Jugendliche mit einer geringen Passungswahrnehmung haben ein tieferes
berufliches Fähigkeitsselbstkonzept. Diejenigen, die während der Lehre
meinen, dass ihre Ausbildung nicht mit ihren Interessen und Fähigkeiten
übereinstimmt, schätzen ihre beruflichen Fähigkeiten geringer ein. Die-
ser Befund belegt die Validität des Passungskonstrukts. Wenn die Fähig-
keiten von Jugendlichen nicht zu ihrem Beruf passen und sie deshalb
glauben, dass sie die für ihren Beruf erforderlichen Fähigkeiten nur im ge-
ringen Ausmass besitzen, dürften sie ein negatives Bild ihrer beruflichen
Fähigkeiten entwickeln. Korrespondierend mit dem Lernzuwachs im Ver-
lauf der Lehre erhöht sich zwar das berufliche Fähigkeitsselbstkonzept
auch von Lernenden mit einer geringen Passungswahrnehmung, dennoch
bleibt es bis gegen Ende der Lehre tiefer im Vergleich zu Lernenden mit
einer hohen Passungswahrnehmung. Die Erfahrung in der Berufsausbil-
dung vermag also diese Unterschiede im Selbstkonzept nicht auszuglei-
chen. Damit wird ein wichtiges Ausbildungsziel bei Lernenden mit einer
tiefen Passungswahrnehmung in geringerem Ausmass erreicht: Gegen
Ende der Lehre haben sie von sich noch kein Bild als kompetente Fach-
leute in ihrem Beruf entwickelt.
b) Eine geringe Passungswahrnehmung während der Lehre wirkt sich un-
günstig auf die berufliche Situation nach dem Lehrabschluss aus. Der
Übergang an der zweiten Schwelle bietet zwar die Möglichkeit, sich be-
ruflich neu zu orientieren. Zumindest kurzfristig müssen Lernende mit
einer geringen Passungswahrnehmung aber eher Schwierigkeiten in der
Stellensuche und eine daraus folgende Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen.
Dies muss für die weitere berufliche Entwicklung der jungen Erwachse-
nen nicht unbedingt problematisch sein, weil Phasen der Arbeitslosigkeit
128 Schlussfolgerungen

oft nur von kurzer Dauer sind. Dennoch erhöhen solche Schwierigkeiten
die Gefahr, dass nach der Lehre mittelfristig keine ausbildungsadäquate
Anstellung gefunden wird (Heinz, 2002).
Die Passung ist also ein Kriterium für eine erfolgreiche Berufswahl und -aus-
bildung. Es reicht nicht, dass Jugendliche irgendeine Lehre absolvieren, son-
dern es sollte eine Passung zwischen Interessen bzw. Fähigkeiten und Beruf
entstehen. Für den Übergang in den Arbeitsmarkt ist neben einer geringen
Passungswahrnehmung eine geringe Leistungsmotivation (Bildungswerte
und -erwartungen) ein Risikofaktor. Wichtig scheint insbesondere die Ver-
zichtsbereitschaft zu sein: Je weniger die Lernenden bereit sind, für das Er-
reichen eines Bildungsabschlusses Einschränkungen (Kosten) in anderen Le-
bensbereichen in Kauf zu nehmen, desto höher ist das Arbeitslosigkeitsrisiko
nach dem Übergang. Dieser Befund stimmt mit demjenigen von Neuen-
schwander (in diesem Band) überein, wonach die Lernmotivation von Ju-
gendlichen ein wichtiges Selektionskriterium für Berufsbildende bei der
Vergabe von Lehrstellen darstellt. Vermutlich sind die Lernenden mit einer
geringen Passungswahrnehmung bei der Suche nach einer Arbeitsstelle
ebenfalls weniger bereit, Einschränkungen wie etwa eine längere Reisezeit in
Kauf zu nehmen. Entsprechend länger brauchen sie, um eine geeignete Stel-
le zu finden.
Die Eltern sind für die Lernenden beim Übergang ins Erwerbsleben eine
Ressource, auch wenn diese bereits volljährig sind. Für junge Erwachsene ist
es wichtig, dass sie ein Interesse ihrer Eltern an ihrer beruflichen Ausbildung
wahrnehmen. Das Interesse der Eltern ist ein Ausdruck der Wertschätzung
gegenüber den jungen Erwachsenen, sodass sie sich in ihrer Rolle als Berufs-
leute bestätigt fühlen. Interesse kann zudem ein Ausgangspunkt für offene
Gespräche zwischen Eltern und den Lernenden über deren berufliche Zu-
kunft sein, in denen die Eltern Ratschläge geben oder ihre Kinder emotio-
nal unterstützen.
Wir können zeigen, dass für die Jugendarbeitslosigkeit nach der zweiten
Schwelle auch individuelle Faktoren eine Rolle spielen. Dies ist eine Ergän-
zung ökonomischer und soziologischer Analysen, welche einen Einfluss von
strukturellen Merkmalen nachweisen. Daraus lässt sich aber nicht schlies-
sen, dass von Arbeitslosigkeit betroffene Jugendliche an ihrer Situation
selbst schuld sind. Gerade relationale Konstrukte wie die wahrgenommene
Passung, welche aus einer Interaktion zwischen Individuum und sozialem
Kontext entsteht, scheinen uns für die weitere Forschung zum Verständnis
von Jugendarbeitslosigkeit vielversprechend.
Literatur 129

Literatur
Calsyn, R. J., Kenny, D. A. (1977). Self-concept of ability and perceived evaluations of ot-
hers: Cause or effect of academic achievement? Journal of Educational Psychology, 69, S.
136–145.
Eccles, J. S. (2005). Subjective task value and the Eccles et al. model of achievementrelated
choices. In: Elliot, A. J., Dweck, C. S. (Hrsg.), Handbook of competence and motivation (S.
105–121). New York: The Guilford Press.
Eccles, J. S., Midgley, C., Wigfield, A., Miller Buchanan, C., Reuman, D., Flanagan, C., Mac
Iver, D. (1993). Development during adolescence. The impact of stageenvironment fit on
young adolescents' experiences in schools and in families. American Psychologist, 48(2), S.
90–101.
Gottfredson, L. S. (2005). Applying Gottfredson’s theory of circumscription and compromi-
se in career guidance and counselling. In: Brown, S. D., Lent, R. W. (Hrsg.), Career develop-
ment and counselling. Putting theory and research to work (S. 71–100). San Francisco: Jon
Wiley & Sons.
Heinz, W. R. (2008). Ausbildung, Arbeit und Beruf. In: Silbereisen, R. K., Hasselhorn, M.
(Hrsg.), Entwicklungspsychologie des Jugendalters. (S. 255–290). Göttingen: Hogrefe.
Heinz, W. R. (2002). Transition discontinuities and the biographical shaping of early work
careers. Journal of Vocational Behavior, 60(2), S. 220–240.
Holland, J. L. (1997). Making vocational choices (3rd ed.). Odessa: Psychological Assess-
ment Resources.
Kracke, B., Hofer, M. (2002). Familie und Arbeit. In: M. Hofer, E. Wild,
P. Noack (Hrsg.), Lehrbuch der Familienbeziehungen. Eltern und Kinder in der Entwicklung
(S. 94–123). Göttingen: Hogrefe.
Müller, B., Schweri, J. (2009). Berufswechsel beim Übergang von der Lehre in den Arbeits-
markt. Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften, 31 (2), 199–225.
Neuenschwander, M. P., Frank, N. (2009). Familie-Schule-Beruf (FASE B) – Dokumentati-
on der Schülerbefragung 2008 (Forschungsbericht). Solothurn: Pädagogische Hochschule
Nordwestschweiz, Institut Forschung und Entwicklung.
Pekrun, R. (1987). Die Entwicklung leistungsbezogener Identität bei Schülern. In H.-P. Frey
& K. Hausser (Hrsg.), Identität: Entwicklungen psychologischer und soziologischer For-
schung (S. 43–57). Stuttgart: Enke.
Pinquart, M., Juang, L. P., Silbereisen, R. K. (2003). Selfefficacy and successful school-to-
work transition: A longitudinal study. Journal of Vocational Behavior, 63, S. 329–346.
Sonntag, K., Schäfer-Rausser, U. (1993). Selbsteinschätzung beruflicher Kompetenzen bei
der Evaluation von Bildungsmassnahmen. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsycho-
logie, 37(4), S. 163–171.
130 Literatur

Wagner, G. (2002). Arbeitsmarkt-Monitor Sachsen-Anhalt. Jugendliche an der «2. Schwel-


le». Überblick über die Ergebnisse der Befragung von Berufsschulabsolventinnen und -ab-
solventen der Abgangsjahrgänge 1997 und 2001. Halle: Institut für Strukturpolitik und
Wirtschaftsförderung Halle-Leipzig.
Weber, B. (2004). Jugendarbeitslosigkeit – Situationsanalyse 04 und Massnahmen für die
Zukunft. Determinanten und regionale Aspekte der Jugendarbeitslosigkeit. Zugriff im No-
vember 2009 http://www.amosa.net/webautor-data/120/Determinanten-und-regionale-As-
pekte.pdf
131

Passungsprobleme beim Übergang von der Schule


in die Ausbildung und neue Lernkonzepte –
Ergebnisse aus dem Projekt Schule und Betrieb (SchuB)

Martin Weingardt

Abstract

Das seit 2003 durchgeführte Projekt «Schule und Betrieb» (SchuB) unter-
suchte empirisch die Kompatibilität zwischen den Leistungsprofilen von
Hauptschulen und ihren Absolventen und den Anforderungsprofilen der
Ausbildung in Industrieberufen. Erhebliche Differenzen zwischen beiden
Profilen wurden bei den Kulturtechniken manifest. Die im fachlichen Dis-
kurs vertretene These, dass die zentrale Rolle der Schulnoten durch die der
Schlüsselkompetenzen abgelöst wird, liess sich nicht bestätigen. Die Ergeb-
nisse zeigen vielmehr, dass Mathematik- und Deutschnoten für das weitge-
hende Ausselektieren von Hauptschülern bereits in der Bewerbervorauswahl
massgeblich sind. Eine weitere Befragung erbrachte Hinweise, an welchen
mathematischen und sprachlichen Teilkompetenzen Lernmodule anzuset-
zen haben, die mit einem auf sieben Prinzipien fussenden didaktischen Kon-
zept anschliessend entwickelt, von über 2300 Schülern erprobt, evaluiert
und darauf an allen Hauptschulen Baden-Württembergs implementiert
wurden. Ausgewählte Ergebnisse aus der Evaluation auch zu weiteren As-
pekten des Übergangs von der Schule in die Arbeitswelt werden dargestellt.

1 Ausgangspunkte des Projekts

Schüler und Schülerinnen der Haupt- oder Volksschulen des deutschspra-


chigen Raums tun sich beim Zugang zum Ausbildungsmarkt meist schwe-
rer als Abgänger und Abgängerinnen anderer Schularten, dies ist unbestrit-
ten. In den politischen und fachlichen Diskussionen über die Gründe der
schlechteren Chancen werden jedoch unterschiedliche Argumente ins Feld
geführt. Wenn es deutlich mehr Ausbildungsbewerber als -plätze gibt, haben
die schwächsten Schulabgänger im System nur geringe Chancen, einen sol-

Weingardt, M. (2010). Passungsprobleme beim Übergang von der Schule in die Ausbildung und neue Lernkonzepte – Ergebnisse
aus dem Projekt Schule und betrieb (SchuB). In: M. P. Neuenschwander, H.-U. Grunder (Hrsg).
Schulübergang und Selektion (pp. 131–147. Chur: Rüegger.
132 Das Projekt

chen Platz zu erlangen, so das eine durchaus stichhaltige Argument (vgl.


Blossfeld 1985). Allerdings gibt es auch – wie etwa zum Stichtag 30.9.2007–
Zeiten, in denen deutschlandweit mehr offene Lehrstellen (19 507) als un-
versorgte Bewerber (14 497) gemeldet sind (BMBF 2009), Ausbildungs-
stellen also unbesetzt bleiben, obgleich unvermittelte Bewerber vorhanden
sind. Grund ist in diesem Fall nach Aussage der betroffenen Betriebe ein so
geringes Leistungsvermögen dieser verbleibenden Jugendlichen, dass die er-
forderliche Ausbildungsfähigkeit nicht gegeben sei – so das andere Ar-
gument, das ebenfalls gut belegbar ist (Gartz et al. 1999). Nicht wenige, vor
allem grössere Betriebe führen heute Einstellungstests mit Ausbildungsbe-
werbern durch. Und immer häufiger treten in diesen Tests nicht nur, aber
besonders häufig bei Haupt- bzw. Volksschülern, deutliche Schwächen bei
den basalen Fähigkeiten zu Tage.
Bei den Testerfahrungen der Ausbildungsbetriebe nahm das Projekt «Schu-
le und Betrieb» 2003 seinen Ausgang. Es verfolgt das Ziel, die Kompatibili-
tät der Hauptschule als einer abgebenden Institution und der Ausbildungs-
betriebe als aufnehmendem Teil des Bildungssystems zu überprüfen und sie
gegebenenfalls zu erhöhen. Denn in der Transitionsforschung wird dem
Matching von Jugendlichem und Ausbildungsplatz im Sinn einer Person-
Umwelt-Passung zu Recht hohe Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. Hutter
2004, Schellenberg 2008), daneben aber müsste die Kompatibilität oder
Passung von abgebenden und aufnehmenden Bildungssystemkomponenten
noch stärker ins Auge gefasst und erforscht werden. Darauf hebt unsere Un-
tersuchung ab, deren Leitfrage lautet: Besteht eine hinreichende Passung
zwischen Leistungsprofilen der Hauptschulen bzw. ihrer Absolventen und
den Anforderungsprofilen des Ausbildungssektors und falls nicht, wie kann
sie erhöht werden?
Finanziert wurde das Projekt vom Kultusministerium und die Landesverei-
nigung der Arbeitgeberverbände in Baden-Württemberg. Auf dieses Bun-
desland ist die Forschung konzentriert. Den Aufbau des Gesamtprojekts
verdeutlicht Abbildung 1. Einige Ergebnisse der Tranchen I–III will ich dar-
stellen. (Nähere Ausführungen zu Forschungsdesign und methodologischen
Einzelheiten bei Weingardt 2009.) Als Modellregionen wurden eine ländli-
che Region (Oberschwaben), eine urbane (Mannheim) und eine Mischregi-
on (Mittlerer Neckar/Ludwigsburg) gewählt, was erlaubte, regional beding-
te Unterschiede zu berücksichtigen. Wir konzentrierten die Untersuchung
auf Berufsbilder und Betriebe in der Metall- und Elektroindustrie. Hier fin-
den sich Berufe, die zum einen noch immer gut zugänglich sind für Haupt-
schüler – in den Metallberufen der untersuchten Betriebe stellten sie ein
Das Projekt 133

Drittel der Auszubildenden – und zum anderen für die Jungen, die heute
mehr als die Mädchen die Verlierer der Hauptschule sind (Hiller, Richert
2000), sehr attraktiv sind. Drittens ist dieser Industriezweig für die Wirt-
schaft Baden-Württembergs und damit dessen Arbeitsmarkt von zentraler
Bedeutung.

Abbildung 1: Tranchen im Projekt «Schule und Betrieb (SchuB)» in Baden-Württemberg

Tranche I 2003– Forschung In den 3 Modellregionen Experten-


2004 Datenerhebung in Industriebetrie- interviews (N=21), Ausbilder-/
ben, Hauptschulen und berufli- Werkstattleiterbefragung (N=42),
chen Schulen HS- und BS-Lehrerbefragung
(N=95)
Tranche II Entwicklung Zwei Expertenteams
2004–2005 Lernmodule für Mathematik und (Mathematik, Deutsch)
Deutsch entwickeln
Tranche III 2005– Einführung und Evaluation Ergebnisse Eingangs- u. Abschluss-
2006 der Lernmodule (Pilot) test (N=2284);
Erst in den drei Modellregionen, Schülerfragebögen (N=1710);
dann an weiteren 100 Hauptschu- Lehrerfragebögen (N=86)
len landesweit
Tranche IV 2007– Landesweite Implementierung Einführung über Lehrerfortbildun-
2009 an allen 1260 Hauptschulen Ba- gen in allen Schulämtern / Fortbil-
den-Württembergs nach evaluati- dungsstellen
onsbasierter Optimierung der
Lernmodule
Tranche V Analoge Anschlussforschungen Handwerksberufe; lokale Studien;
2008–2010 in weiteren Branchen / lokalen Teilzielgruppe Migranten
Studien

In einem ersten Projektabschnitt (Tranche I) wurden in 21 Interviews mit


Experten des Ausbildungssektors in Wirtschaftsunternehmen empirisch un-
tersucht
• die Entscheidungsprozesse: Wie sind die betrieblichen Bewerbungsver-
fahren gestaltet und an welchen Stellen entstehen die entscheidenden
Hindernisse für Ausbildungsbewerber und -bewerberinnen aus der
Hauptschule?
• die Kompetenzen: Welche Schwächen-Stärken-Profile zeigen sich bei
Achtklässlern der Hauptschule und wie verhält sich dies zu den Anfor-
derungsprofilen der Ausbildungsbetriebe?
134 Ausbildungsbewerber und die Auswahlverfahren der Betriebe

2 Ausbildungsbewerber und die Auswahlverfahren


der Betriebe

Die Auswertung der Interviews mit den Ausbildungsverantwortlichen ver-


deutlicht ein meist vierstufiges Verfahren in der Industrie, das über 1. die
Vorauswahl anhand schriftlicher Bewerbungsunterlagen, 2. den Einstel-
lungstest, 3. eine Gruppenprüfung und 4. das Bewerbergespräch zur Aus-
wahl der Auszubildenden führt. Gruppenprüfungen finden sich nur in grös-
seren Unternehmen, Einstellungstests sind weiter verbreitet, allerdings von
unterschiedlicher Qualität. Sie dienen weniger zur Feinanalyse des individu-
ellen Kompetenzprofils, sondern überprüfen vor allem die Validität der
Zeugnisnoten.
Dass bereits beim ersten Schritt, der Vorauswahl, 70%–90 % der Bewerber
aus dem weiteren Verfahren ausscheiden, ist ein entscheidender Tatbestand.
Denn für Jugendliche mit Hauptschulabschluss liegt dann der Prozentsatz
der Ausselektierten noch höher, da sie meist zur schwächeren Hälfte des Be-
werberfelds zählen. In der Vorauswahl wird nur anhand schriftlicher Unter-
lagen selektiert. Dabei gewinnt nach Aussage der Entscheider das Schul-
zeugnis die bei weitem höchste Relevanz unter allen eingereichten
Dokumenten. Innerhalb der Zeugnisse seien es wiederum fast stets die Ma-
thematik- und die Deutschnoten, die darüber entscheiden, ob ein Bewerber
im weiteren Verfahren (Test usw.) bleibt oder bereits ausgeschieden wird.
Hat man in diesen Fächern eine Note schlechter als die 3, so ist dies in In-
dustrieunternehmen – anders als im Handwerk – fast immer ein K.o.-Krite-
rium. Dasselbe gilt für die Kopfnoten im meist geforderten Zeugnis der
Klasse 8, wenn diese schlechter als «gut» sind.
Die Interviewpartner verdeutlichten unisono, dass Berufspraktika ebenso
wie diverse Zertifizierungen etwa von Schlüsselkompetenzen zwar geschätzt
werden, aber bei Bewerbungen in der Industrie selten bessere Chancen ver-
schaffen – was aber oft davon erhofft wird! –, wenn nicht zugleich die Kul-
turtechniken auf einem unabdingbaren Mindestniveau gesichert sind. Eben
das ist vielen Jugendlichen nicht bewusst. Sie schätzen die Bedeutung man-
cher Elemente im Bewerbungsverfahren falsch ein. So halten 79% der be-
fragten Achtklässler (N=1369) zwar den Hauptschulabschluss für sehr wich-
tig, aber nur zwei Dritteln (64%) ist bewusst, dass das Zeugnis Ende Klasse
8, an dem sie gerade «arbeiteten», u. U. noch entscheidender wird; deshalb,
weil zum Zeitpunkt einer Bewerbung im Lauf des 9. Schuljahrs dieses das
aktuell vorliegende ist. Weiter ist sich nicht einmal die Hälfte im Klaren da-
rüber, dass im Zeugnis wiederum die Deutsch- und die Mathematiknote
Disparitäten von Leistungsprofilen der Schüler und Anforderungsprofilen der Betriebe 135

ausschlaggebend sind, was auch Lehrkräften und Eltern oft nicht bewusst zu
sein scheint.

3 Disparitäten von Leistungsprofilen der Schüler


und Anforderungsprofilen der Betriebe

Schwächen der Schulabgänger bei den Kulturtechniken wurden zwar immer


wieder seitens der Wirtschaft moniert und waren insofern auch im fachli-
chen Diskurs präsent. Allein dass die Konsequenz schlechter Noten in den
Kernfächern dann in den Auswahlverfahren so durchschlagend ist für die
Klientel der Hauptschule, wurde weder in Forschung noch Schuladminis-
tration bislang in dieser Weise belegt bzw. berücksichtigt. In einer zweiten
Erhebung befragten wir erfahrene Lehrkräfte der Haupt- und Berufsschulen
(Berufsfachschule, Berufsvorbereitungsjahr, Teilzeit-Berufsschule Metall) in
den Modellregionen, inwieweit bestimmte sprachliche und mathematische
Teilkompetenzen am Ende der Hauptschulzeit gegeben sind (Ist-Stand des
Stärken-Schwächen-Profils). Sie unterschieden dabei eine obere Leistungs-
gruppe, die den mittleren Abschluss anstrebt, eine untere, deren Schüler in
maximal einem Kernfach eine Note besser als die 4 erzielen, und der dazwi-
schen liegenden mittleren Leistungsgruppe (Abb. 2 und 4).
Dem gegenübergestellt wurden die Anforderungsniveaus (Soll-Stände), wie
sie die betrieblichen Ausbilder verdeutlichten (Abb. 3 und 5). Die Gruppe
der Werkstattleiter befragten wir zusätzlich, um die Relevanz der in der Aus-
bildung eingeforderten Teilkompetenzen im anschliessenden betrieblichen
Alltag zu ermitteln. Die Werkstattleiter zeigen bei den meisten Sprach- und
Rechenkompetenzen ein niedrigeres Anspruchsniveau, wobei ihnen beson-
dere Rechentechniken wie Zinsrechnen, Potenzieren oder Wurzelziehen
eher unerheblich erscheinen. Ähnliches signalisieren sie im sprachlichen Be-
reich für Rechtschreibung, Schriftbild und das Präsentieren.
Dagegen gewichten sie deutlich höher als die Ausbilder die Schlüsselqualifi-
kationen. Diese scheinen zwar nicht für den Zugang zur Ausbildung ent-
scheidend zu sein, jedoch später, wenn sich an der zweiten Schwelle des
Übergangs in den Beruf entscheidet, wer nun in eine Festanstellung über-
nommen wird. Eben darin besteht die hohe Anforderung: Man hat sich als
junger Mensch flexibel darauf einzustellen, welche Teilkompetenzen jeweils
darüber entscheiden, dass man bei der nächsten Schwelle weiterkommt –
und dies sieht an jeder Schnittstelle des vielschrittigen Übergangs ins Er-
werbsleben (vgl. Weingardt 2008a) recht different aus.
136 Disparitäten von Leistungsprofilen der Schüler und Anforderungsprofilen der Betriebe

Weit auffälliger als die graduellen Unterschiede zwischen Ausbildern und


Werkstattleitern wird jedoch die starke Inkompatibilität von Ist-Profilen der
Schülerleistung und Soll-Profilen der Betriebe:
• Bei den mathematischen Kompetenzen wird von Wirtschaftsseite stark
abgehoben auf Grundrecharten, Kopfrechnen, Masseinheiten, Flächen-
berechnung. Die Leistungsprofile der Jugendlichen zeigen hier zugleich
deutliche Schwächen.
• Bei den sprachlichen Fähigkeiten legen die Ausbildungsbetriebe Wert auf
die Kompetenz zum Einarbeiten anhand schriftlicher Unterlagen und
das Dokumentieren – beides heute wichtige Tätigkeiten in der indus-
triellen Fertigung – und noch mehr auf den mündliche Sprachgebrauch
und die Lesefähigkeit. Die höchste Priorisierung während und nach der
Ausbildung erfährt jedoch das «Hörverständnis», sprich: das korrekte
Auffassen und Wiedergeben von mündlich Mitgeteiltem. Es geht hier
um einen Standardvorgang im Betriebsalltag, dessen reibungsloses Funk-
tionieren aber nicht mehr gewährleistet sei, da viele junge Menschen
nicht mehr aufmerksam hinhören und partnerbezogen kommunizieren
könnten.
Auf einen Teil dieser basalen Kompetenzen wird in den Einstellungstests,
auf einen anderen in den Einzelgesprächen mit Ausbildungsplatzbewerbern
abgehoben. Noch ein Jahr vor Verlassen der Schule zeigen Hauptschüler
und -schülerinnen aber gerade bei den grundlegenden Fähigkeiten eher ihre
Schwächen.
Die Einstellungstests der beteiligten Betriebe, die wir ebenfalls untersuch-
ten, heben etwa im Bereich Mathematik nach wie vor zentral auf routinisier-
te basale Rechenfähigkeiten ab. Das von der Mathematikdidaktik mittler-
weile stark favorisierte Denken in Lösungsvarianten hat hier fast keine
Bedeutung. Entscheidend für den Testerfolg ist vielmehr die Rechenge-
schwindigkeit, die hier weit stärker gefordert wird als in mancher Haupt-
schulabschlussprüfung. In derselben wurden etwa 2008 in Baden-Württem-
berg für zehn Aufgaben zu den Grundrechenfähigkeiten den Schülern 45
Minuten zugebilligt, in den Einstellungstest der Betriebe sind es dagegen oft
12–15 Aufgaben ähnlichen Typs und Umfangs, die in nur 20–30 Minuten
zu erledigen sind – also mehr als die doppelte Leistung wird erwartet. Ein
starker Schüler, der diese Aufgaben in einem Tempo bearbeitet, das in der
Hauptschulabschlussprüfung zu einem optimalen Ergebnis führen würde,
schafft damit in den Einstellungstests der Betriebe gerade die Hälfte der
Aufgaben; ein schwächerer Schüler kaum ein Viertel – er und wird dann
Disparitäten von Leistungsprofilen der Schüler und Anforderungsprofilen der Betriebe 137

höchstwahrscheinlich über den Test ausselektiert. Die Routinisierungsge-


schwindigkeit bei den Kulturtechniken entscheidet so darüber, wer im Be-
werbungsverfahren bleibt.
Dies hat die schulische Arbeit deutlicher als bislang zu berücksichtigen,
wenn einem daran gelegen ist, die Chancen der schwächeren Schüler im Sys-
tem beim Zugang zu Ausbildung und Beruf zu erhöhen. Denn nicht nur in
der Industrie, sondern auch in Handwerks-, Handels- und Dienstleistungs-
berufen wird analog auf dieselben basalen Kompetenzen abgehoben1, wenn-
gleich kleine Betriebe (vgl. Imdorf 2007) bei den geforderten Notenwerten
oft kulanter als grosse zu sein scheinen.

Abbildung 2: Ist-Stand: Stärken-Schwächen-Profile von Hauptschülern Kl. 8 im Bereich


Mathematik (LG = Leistungsgruppen in den Hauptschulklassen)

Mathematische Kompetenzen (Vergleich HS – BS)


3,00

2,50

2,00

1,50

1,00

0,50

0,00
n en r. . .
en ren gen ner ech mh iten eln r. e
be be en en nt tri
f ga fgab hen echn echn zieh nzie hun rech ndr sam inhe orm roze me
u l F o
xta sa
u läc
pf
r
ch
r e c
rze Pot Glei che
n u
Gr h. Zu asse z/P Ge
Te Zin F Ko Bru Wu s t i s at
Ta M
ma Dr
e

Obere LG mittlere LG untere LG BS Metall/Elektro 2-BFS BVJ

1 Dies zeigen erste Ergebnisse aus den noch laufenden Auswertungen jüngster Untersuchungen von Weingardt
(2006ff ) in ausgewählten Handwerks-, Dienstleistungs- und Pflegeberufen sowie von Rafael Frick, PH Ludwigs-
burg, im Bereich ausgewählter IHK-Berufsfelder (2007ff ).
138 Disparitäten von Leistungsprofilen der Schüler und Anforderungsprofilen der Betriebe

Abbildung 3: Soll-Stand: Anforderungsprofile in Wirtschaftsunternehmen


im Bereich Mathematik

Mathematische Kompetenzen
(Anforderungsprofile: Ausbilder und Betriebs-/Werkstattleiter
3,00

2,50

2,00

1,50

1,00

0,50

0,00
en ben r. n n n n r . . n r. rie
b n be hne hne ehen iere nge hne rech mh i
n
te mel zent et
ga
f f g a
h e r e c ec z i n z
h u ec n d a m h e o r r o o m
u u c f r l te c r u s in F
z/P
xta insa Flä Kop ruch urze Po Glei chen Gr . Zu asse at Ge
Te Z B W s a t h
M i s
Ta m Dr
e

Ausbildung Betrieb

Abbildung 4: Ist-Stand: Stärken-Schwächen-Profile von Hauptschülern Kl. 8


im Bereich Deutsch (LG = Leistungsgruppen in den Hauptschulklassen)

Sprachliche Kompetenzen (Vergleich HS-BS)

3,00

2,50

2,00

1,50

1,00

0,50

0,00
nis nis nd
. hr. g d ion ion t.
an
g
än
d
än
d ü sc bun bil at at Un g
rst
t em ch
e rei rif
t
en
t
en
t hr. Um
ers h ra h h äs sc l.
rve sev rac Sp tsc Sc k um Pr en nd
Hö Le Sp ec
h
Do rn u
R Le fre

Obere LG mittlere LG untere LG BS Metall/Elektro 2-BFS BVJ


Förderung im Klassenunterricht (D/M) ermöglichen durch Lernmodule 139

Abbildung 5: Soll-Stand: Anforderungsprofile der Wirtschaftsunternehmen im Bereich


Deutsch
Sprachliche Kompetenzen
(Anforderungsprofile: Ausbilder und Betriebs-/Werkstattleiter

3,00

2,50

2,00

1,50

1,00

0,50

0,00

dn
is nis nd
. hr. ng ild tio
n
tio
n nt
.
ng
n nd ü sc bu tb a a U a
stä rst
ä
em ch e rei rif e nt e nt c hr. mg
ve
r
ve ac
h ra sc
h
Sc
h
um äs ns l. U
r
es
e r Sp t k Pr e un
d
Hö L Sp ch Do ern
Re L fre

Ausbildung Betrieb

4 Förderung im Klassenunterricht (D/M) ermöglichen


durch Lernmodule

Im Projekt «SchuB» arbeiteten wir in einer zweiten Phase (Tranche II) an ei-
ner optimierten schulischen Vorbereitung auf den Zugang zur Ausbildung
durch Förderung der Kernkompetenzen und zwar in den Klassenstufen un-
mittelbar vor dem Übergang in die Arbeitswelt. Eine Lernmodul-Konzepti-
on wurde entworfen, die in Klasse 8/9 der Hauptschule wie auch in anderen
allgemein- und berufsbildenden Schularten eine individuelle Förderung der
sprachlichen oder mathematischen Teilkompetenzen im Einzel- oder Klas-
senunterricht ermöglichen soll. Denn an die mittlerweile regelmässigen Di-
agnose- und Testvorgänge in den Schulen schliessen noch immer relativ sel-
ten individuell-differenzierende Fördermassnahmen an. Seitens der Verlage
liegt zu wenig gut aufbereitetes Differenzierungsmaterial vor, das es Lehr-
kräften ermöglicht, nicht in Einzelförderstunden, sondern in der schuli-
schen Standardsituation, dem Klassenunterricht mit 20–30 Schülern, mit
vertretbarem Aufwand eine differenzierende Lernförderung durchzuführen.
140 Förderung im Klassenunterricht (D/M) ermöglichen durch Lernmodule

Die Auswahl der Lerngegenstandsbereiche für die Lernmodule folgte der


Maxime: Zu fördern ist nicht, wo das Defizit am grössten ist, sondern dort, wo
ein hoher Soll-Wert gesetzt ist und gleichzeitig die Diskrepanz zum Ist-Wert re-
lativ stark ausfällt. Deshalb entwickelten wir etwa im Bereich Deutsch kein
Lernmodul zur Rechtschreibung, obgleich hier die grössten Defizite erkenn-
bar wurden, jedoch zwei Lernmodule zur Lesekompetenz, eines zum Schrei-
ben, eines zur mündlichen Verständigung, und ergänzend dazu zwei Lern-
module, die auf einen angemessenen und versierten Sprachgebrauch etwa
im Umgang mit Fachbezeichnungen und Arbeitsvorgängen abheben.
Im Bereich Mathematik zielen zwei Module auf die Sicherung von Grund-
rechenarten, was Wiederholungen zum Operationsverständnis des Multi-
plizierens und Dividierens wie auch Überschlags- und Kopfrechnen um-
fasst. Ein drittes Modul übt das Rechnen mit Masseinheiten. Zwei
anspruchsvollere Lernmodule zu Gleichungen und zur Arbeit am PC sollen
leistungsstarke Schüler und Schülerinnen, die sich für Industrieberufe inte-
ressieren, noch weiter fördern. Denn bereits im Bewerbungsverfahren etwa
zum Mechatroniker muss man, um Erfolg zu haben, nicht selten solche
Kompetenzen unter Beweis stellen.
Grundsätzlich wurden die Inhalte der Lernmodule so gestaltet, dass keines-
falls nur Industrie-, sondern ebenso auch Handwerks-, Büro-, Handels-,
Dienstleistungs- und Pflegeberufe anvisiert und explizit thematisiert
werden. Dadurch wird das Lernmaterial für alle Schülerinnen und Schüler
einer Klasse interessant. Die doppelte didaktische Herausforderung, der wir
uns mit der Gesamtkonzeption der Lernmodularbeit stellen wollten,
lautete:
• Wir wollen Lehrkräften ermöglichen, mit der ganzen Klasse über vier bis
sechs Wochen hinweg eine Lernförderung zu betreiben, die individuell
unterschiedliche Lernniveaus, -ziele und Berufsperspektiven berücksich-
tigt.
• Der Vor- und Nachbereitungsaufwand sollte für die Lehrkräfte trotz ho-
her Differenzierung nicht höher als im sonstige Unterricht ausfallen.
Dann wird die Konzeption auch wiederholt eingesetzt.
Die Konzeption der SchuB-Lernmodule fusst zudem auf den in Abb. 6
dargestellten didaktischen Prinzipien. Experten und Expertinnen aus
Hauptschulen, Pädagogischen Hochschulen und Staatlichen Seminaren für
Didaktik und Lehrerbildung erstellten dementsprechend 40- bis 80-seitige
Lernmodule, die in rund 15 Stunden Fachunterricht, also vier bis sechs
Förderung im Klassenunterricht (D/M) ermöglichen durch Lernmodule 141

Schulwochen, von Schülern selbstständig durchgearbeitet werden. Selbst-


kontrolle, Lerntandems, Wandübersichten zum Lernfortschritt der Einzel-
nen sowie die Lernbegleiterrolle der Lehrkraft stellen weitere Elemente der
Konzeption dar. Dabei stehen drei pädagogisch-unterrichtliche Ziele im
Vordergrund:
• Methodenlernen: über vier bis sechs Wochen mit schriftlichen Unterlagen
eigenverantwortlich und selbst gesteuert arbeiten (eine in der Ausbil-
dung dann wichtige Kompetenz!);
• Selbstwirksamkeit erfahren;
• Fachliche Leistungsfähigkeit stärken.
Die beiden ersten Zieldimensionen haben mindestens dasselbe Gewicht wie
die dritte. Selbst in den Einzelfällen, wo der individuelle fachliche Leis-
tungszuwachs nur gering ausfällt, kann dennoch effektives Methodenlernen
anhand der Lernmodule entstehen.

Abbildung 6: Prinzipien bei der didaktischen Konzipierung der Lernmodule für Mathe-
matik und Deutsch

1) Konzentration auf die Kernkompetenzen


für gesellschaftlich-beruflichen Erfolg (Kulturtechniken Mathematik/Deutsch)
2) Individuelle Lernvoraussetzungen beachten:
Module für sehr schwache, aber auch solche für starke Schüler/innen
3) Arbeitsweltbezug bei den Kulturtechniken:
in den Aufgabenstellungen der Lernmodule Orientierung an Berufsfeldern
4) Differenzierung: Teilkompetenzen heranbilden,
den individuellen Defiziten, Potenzialen und Berufsperspektiven entsprechend
5) Selbstständiges Lernen über einen längeren Zeitraum
6) Evaluation: vor und nach Modularbeit ein Leistungsbild erheben
und so den Lernzuwachs messen
7) Kumulatives Lernen statt «Einzelblatt-Didaktik»

Die erprobenden Lehrkräfte bestätigten nach einem Durchgang in der Lern-


modularbeit die Relevanz der sieben didaktischen Prinzipien. Den Arbeits-
und Berufsweltbezug hielten 72% für «wichtig»/«sehr wichtig», die sechs an-
deren Maximen gar jeweils über 90%. Von den erprobenden Lehrkräften
stimmten zudem am Ende 86% tendenziell oder voll der Aussage zu: «Der
Vorbereitungsaufwand ist bei der Modularbeit insgesamt eher niedriger als
142 Berufliche Ausrichtung und teilweise Desorientierung von Hauptschülern und ihren Eltern

bei der sonstigen Unterrichtsvorbereitung.» Die Bereitschaft, künftig mit


den Modulen zu arbeiten, war fast durchgängig gegeben.
Die Schülermotivation ist bei der Lernmodularbeit nach Lehrer- und Schü-
leraussagen erheblich höher als im Regelunterricht. Der individuelle Leis-
tungsanstieg der Schüler wird dabei gemessen über die Differenz der erreich-
ten Punktzahl in den analog strukturierten Eingangs- und Abschlusstests,
die alle zu bearbeiten haben. Er lag im Mittel der elf Module bei 70,1% be-
zogen auf das Niveau im Eingangstest. Dabei variierte bei den elf Lernmo-
dulen der Zuwachs zwischen 29% und 145% (N = 2284). Zugleich wies der
bei der Evaluation 2005 auch klassenbezogen errechnete Leistungszuwachs
erhebliche Schwankungen auf, manche Klassen erreichten in der Summe al-
ler Schüler nur 12% Zuwachs in den vier bis fünf Wochen, andere über
60%. Dabei wurde deutlich, dass neben der jeweiligen Klassenzusammen-
setzung auch die Aktivität der Lehrkraft etwa hinsichtlich der Form der Ein-
führung und Begleitung der Lernmodularbeit die Unterschiede massgeblich
miterklärt (zu didaktischen Aspekten und Evaluationsdetails vgl. Weingardt
2008b und 2008c).

5 Berufliche Ausrichtung und teilweise Desorientierung


von Hauptschülern und ihren Eltern

Ein Schülerfragebogen, der im Kontext der Tranche III von 1710 Achtkläss-
lern in allen Regierungsbezirken des Landes (43,4% Mädchen, 56,6% Jun-
gen; 41% mit Migrationshintergrund; 24,4% der HS lagen in Kommunen
bis 5000 Einw, 32,4% 5–20 000 Einw., 33,8% 20–100 000 Einw., 7,9%
über 100 000 Einw.) Daten erbrachte, spiegelt deren Erfahrungen in der
Lernmodularbeit sowie ihre Informiertheit und Orientierung in ausgewähl-
ten Fragen des Übergangsprozesses.
Auffallend war, wie Ende Klasse 8 nur wenige Hauptschüler eine klare Vor-
stellung aufweisen, zu welchem spätesten Zeitpunkt man sich bewerben soll-
te, um in vielerlei Berufsbildern und Betriebsgrössen gute Chancen auf ei-
nen Zugang zu einem Ausbildungsplatz direkt nach Klasse 9 zu haben. Bei
den einzelnen Berufsbildern liegt jeweils ein Drittel der Schüler ungefähr
richtig mit seiner Einschätzung, ein weiteres Drittel meint es zu wissen, aber
ist faktisch falsch orientiert, und ein Drittel gibt an, «keine Ahnung» in die-
ser Frage zu haben. Zu spätes Bewerben hängt also häufiger mit Ahnungslo-
Berufliche Ausrichtung und teilweise Desorientierung von Hauptschülern und ihren Eltern 143

sigkeit als mit Faulheit oder Unfähigkeit zusammen. Inwieweit die Lehrkräf-
te darüber Bescheid wissen und richtig beraten können, bleibt offen.
Dabei dürfte auch eine Rolle spielen, welche Berater die Schüler und Schü-
lerinnen in ihren Entscheidungen am stärksten bestimmen (vgl. Abb. 7).
Zum Befragungszeitpunkt am Ende der 8. Klasse (Juni) geben als bislang
wichtigsten Gesprächspartner hinsichtlich der eigenen Berufspläne (offene
Frage) 18% ihre beiden Eltern an. Sehr auffallend ist der hohe Einfluss der
Mutter, die weitere 26% als wichtigste Beraterin und damit doppelt so häu-
fig wie den Vater (13%) nennen, Geschwister haben bei 7% diese Position.
Bei rund zwei Dritteln stellen die Eltern und Geschwister somit wichtigste
Berater in Berufsfragen dar, Lehrkräfte und Arbeitsverwaltung hingegen ha-
ben wenig Einfluss.

Abbildung 7: Wichtigster Gesprächspartner hinsichtlich der eigenen


Berufspläne (N = 311)

30
26
25
18
20

15 13
10
10 7
5 4 5
5 3
1 2 1 1 2 2
0
r er r er e is e n n e r r e t e
ut
te st hre
Va
t nd zub rieb one Elter und i ste ehre ndt sam ndt
M hwi Le rF e
u A bet r s r e h w L wa eit a
sc s Pe dF sc nd er Arb Verw
Ge u ng tige
n un d Ge rn u nd V
il d ns er e
sb un Elt nu
So Elt ern er
Au t E l t
El

Zugleich ist auffallend, dass eine starke Ausrichtung der Schülerinnen und
Schüler auf weitere vollzeitschulische Bildungswege besteht. Nur 35% der
Schüler können sich direkt nach Klasse 9 eine Lehre vorstellen. Dass dies
Ausdruck eines Votums der Eltern und insbesondere der Mütter ist, liegt
nahe: nur 15% der Schüler haben den Eindruck, dass eine Lehre das ist, was
ihre Eltern sich nach der Hauptschule «am liebsten» wünschen. Bei den
meisten favorisieren die Eltern den Besuch des 10. Schuljahrs (B-W: «Werk-
realschule»; 26%) oder einer zweijährigen Berufsfachschule (25%), also zu-
144 Bewertungen und Forschungsdesiderate

nächst Bildungswege, die zum mittleren Abschluss führen. Woher diese Aus-
richtung von Schülern und Eltern rühren mag, deutet ein anderer Befund
an. 49% der Jugendlichen halten die Mittlere Reife für «das sicherste Mit-
tel, um zu vermeiden, dass man zwischen 15 und 25 länger arbeitslos ist»;
nur 38% sprechen diesen Effekt dem Abschluss einer Lehre zu.

6 Bewertungen und Forschungsdesiderate

Betrachten und bewerten wir die referierten Ergebnisse im Kontext ander-


weitiger Befunde in diesem Feld, so wird zunächst die hohe Bedeutung der
Kulturtechniken für die Zugangschancen auf dem Ausbildungsmarkt auf-
fällig. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass wir in unserer Studie den
genauen Ablauf der betrieblichen Auswahlprozesse untersuchten und dabei
feststellten, dass entgegen der Rhetorik von der Bedeutung der Schlüssel-
kompetenzen bei der Vorauswahl fast immer die Mathematik- und Deutsch-
noten verantwortlich sind für das Ausscheiden aus dem weiteren Bewer-
bungsprozess. Oft sind es nur die Kleinbetriebe mit vergleichsweise wenigen
Bewerbungen, die sich Zeit nehmen, bereits im ersten Schritt (Vorauswahl)
Bewerbungsunterlagen in ihrer Gesamtheit gründlicher zu betrachten.
Innerhalb der Kulturtechniken sind es wieder die basalen Kompetenzen wie
Schreiben und Lesen oder die versierte Anwendung der Grundrecharten
und Masseinheiten, die von den Ausbildern eingeklagt werden, während
anspruchsvolle Teilkompetenzen wie Wurzelziehen eher unerheblich er-
scheinen. Lehrkräfte müssen in den Lernprozessen schwacher Schüler und
Schülerinnen dem wiederholenden Üben und nachhaltigen Routinisieren
des Grundlegenden mehr Raum geben, statt sich von stoff- und varianten-
reichen Lehrplänen unter Druck setzen und davon abhalten zu lassen.
Die Kompatibilität mit der Arbeitswelt ist gewiss nicht das einzige, aber ein
zentrales Kriterium für die schulische Arbeit mit dem «unteren Viertel» des
Bildungssystems. Die Passung der Leistungsprofile und der Anforderungsprofile
wäre nicht nur in allgemeinbildenden, sondern auch in beruflichen Schulen
zu verbessern. Die SchuB-Lernmodulkonzeption zielt auf die Erhöhung
dieser Passung der Systemebenen: Lerntechniken und Basiskompetenzen
werden gesichert und routinisiert; Lehr-, Lern- und Förderpläne lassen sich
damit verbinden. Lernkonzeptionen, die etwa den oben beschriebenen di-
daktischen Prinzipien folgen und sich für eine Anwendung im Unterricht
Bewertungen und Forschungsdesiderate 145

mit der ganzen Klasse eignen, erlangen zudem bei Lehrkräften hohe Zustim-
mungswerte.
Zugangsvoraussetzungen zur Ausbildung lassen sich nicht generalisierend,
sondern nur bezogen auf einzelne Berufsbilder angemessen beschreiben.
Beiträge der Übergangsforschung sind häufig wenig handlungsleitend für
die schulische Praxis, weil untaugliche Globalzahlen ermittelt werden. Oft
wird nicht berücksichtigt, dass sich die Anforderungen etwa an einen Hei-
zungsbauer, eine Kinderpflegerin, einen Teilkoch oder eine Bürokauffrau
nach Art und Niveau so grundlegend unterscheiden, dass errechnete Mittel-
werte allein schon dieser vier Berufe für eine weitere Schlussfolgerung oder
gar individuelle Schülerberatung völlig untauglich sind – wie erst, wenn sich
Dutzende oder gar Hunderte von Berufsbildern in statistischen Zahlen ge-
mittelt niederschlagen (vgl. dazu Gartz et al. 1999, Gaupp 2006). Diese
Einsicht wurde bereits in unserem Forschungsdesign berücksichtigt, sollte
aber weit häufiger in Studien ihren Niederschlag finden.
Anforderungsprofile und -niveaus beim Zugang zur Ausbildung unterschei-
den sich nach Berufen und Regionen stark. Sie werden jeweils bestimmt von
drei Faktoren:
1. berufsbildbezogenen Unterschieden;
2. teilweise starken regionalen Differenzen der Wirtschaftsstruktur und da-
mit des Ausbildungs- und Arbeitsmarkts;
3. demografischen und konjunkturellen Trends und (regionalen) Situationen.
Daraus leitet sich ab, dass berufsspezifisch ausgerichtete Erhebungen in regio-
nalen oder lokalen Kontexten noch am ehesten Daten erbringen, die einer ra-
tional begründbaren Berufswegeberatung durch Lehrkräfte oder weitere
Professionelle sowie einer Berufswahlentscheidung der Jugendlichen zu
Grunde gelegt werden können.
Die Daten zeigen weiter, dass die Stossrichtung der Berufsvorbereitung und
-information, die sich bislang fast ausschliesslich auf die Schüler konzen-
triert, möglicherweise inneffektiv sein muss. Wenn der Einfluss der Eltern so
beherrschend ist wie angezeigt, dann müssen diese stärker als bislang üblich
mit informiert und orientiert werden und zwar frühzeitig. Denn die innere
Grundentscheidung «weiterführende Schule oder sofortige Lehre» – so auch
Befunde des DJI-Übergangspanels (vgl. Reissig et al. 2008, Scherrer et al.
2007) – wird früh getroffen und scheint sich in Klasse 9 nur noch bei weni-
gen zu ändern. Die Eltern als wichtigste Berater der Schulabgänger müssen
146 Literatur

ihrerseits beraten werden und die Jugendlichen selbst bedürfen einer Über-
gangsbegleitung, die über den Schulabgang hinausreicht. Beides, Beratung
und Begleitung, weist auf veränderte Konturen der Lehrerprofessionalität in
der Sekundarstufe hin, die sich nicht länger auf eine erzieherische und fach-
unterrichtliche Transitionsvorbereitung reduzieren lässt.

Literatur
BMBF (Hrsg.) (2009): Berufsbildungsbericht 2009. Berlin.
Blossfeld, H.-P. (1985). Berufseintritt und Berufsverlauf. Eine Kohortenanalyse über die Be-
deutung des ersten Berufs in der Erwerbsbiografie. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt-
und Berufsforschung 18, H. 2, S. 177–197.
Eckert, T. (2007). Übergänge im Bildungswesen. Münster u.a.: Waxmann.
Förster, H., Kuhnke, R., Skrobanek, J. (Hrsg.) (2006). Am Individuum ansetzen. Strategien
und Effekte der beruflichen Förderung von benachteiligten Jugendlichen. München: Verlag
Deutsches Jugendinstitut.
Frick, R., Fuss, S., Mössner, A., Poyaskova-Grassler, E. (2010): Bedingungen eines gelingen-
den Übergangs von der Schule in den Beruf. Befunde einer Erhebung in ausgewählten
Berufsfeldern. In: Engagement – Zeitschrift für Erziehung und Schule, 28, H. 1, S. 20–29.
Gartz, M., Hüchternmann, M., Mrytz, B. (1999). Schulabgänger. Was sie können und was
sie können müssten. Köln. Deutscher Instituts-Verlag.
Gaupp, N. (2006). Hauptschüler – Schwierige Übergänge von der Schule in die Ausbildung.
In: Lehren und Lernen. Zeitschrift für Schule und Innovationen in Baden-Württemberg. 32.
Jg. H. 7/8. S. 34–43.
Hiller, G., Richert, B. (2000). Zur Ausbildungsreife führen – Aufgabe und Ziel der Haupt-
schulen? Vortrag im Rahmen des Symposiums «1900–2000 Jahrhundert des Kindes» des
Lehrerinnen- und Lehrerseminars Nürtingen am 29.Juli 2000. Nürtingen: Sonderveröffent-
lichung Staatl. Seminar Nürtingen (14 S.).
Hutter, J. (2004). Kompetenzfeststellung. Ein Weg zur erfolgreichen Vermittlung in Ausbil-
dung und Arbeit. Darmstadt: Hiba-Verlag.
Imdorf, C. (2007). Die relative Bedeutsamkeit von Schulqualifikationen bei der Lehrstellen-
vergabe in kleineren Betrieben. In: Eckert 2007. S.183–197.
Jung, E. (Hrsg.) (2008). Zwischen Qualifikationswandel und Marktenge. Konzepte und
Strategien einer zeitgemässen Berufsorientierung. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Ho-
hengehren.
Peschl, V. (2004). Hauptschulabschluss 2003. Wege der Hauptschulabgänger in Schule und
Beruf. Stuttgart: Landesinstitut für Erziehung und Unterricht.
Literatur 147

Radatz, J. (2001). Nachgehende Betreuung von Schulabsolventen mit Lernschwierigkeiten.


In: Hasenmann, K., Meschenmoser, H. (Hrsg.), Auf dem Weg zum Beruf. Der Übergang be-
hinderter und benachteiligter Jugendlicher von der Schule in die Arbeitswelt. Baltmannswei-
ler: Schneider Verlag Hohenhehren. S. 78–87.
Reissig, B., Gaupp, N., Lex, T. (2008). Hauptschüler auf dem Weg von der Schule in die Ar-
beitswelt. Das DJI-Übergangspanel. München: Verlag Deutsches Jugendinstitut.
Sackmann, R., Wingens, M. (Hrsg.) (2001). Strukturen des Lebenslaufs. Übergang – Se-
quenz – Verlauf. Weinheim und München: Juventa.
Schellenberg, C. (2008). Kontinuität versus Diskontinuität der beruflichen Entwicklung aus
der Sicht von J.Holland. Eine Untersuchung von Berufsverwandtschaften und der Person-
Umwelt-Passung in Berufsverläufen. Zürich: Hochschulschrift.
Scherrer, R., Bayard, S., Buchmann, M. (2007). Nicht-Passung zwischen Berufswunsch und
besuchtem Schulniveau an der ersten Schwelle. In: Eckert 2007. S. 105–122.
Schumacher, E. (Hrsg.) (2004). Übergänge in Bildung und Ausbildung. Gesellschaftliche,
subjektive und pädagogische Relevanzen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Schlemmer, E., Gerstberger, H. (Hrsg.) (2008). Ausbildungsfähigkeit im Spannungsfeld zwi-
schen Wissenschaft, Politik und Praxis. Wiesbaden: VS-Verlag.
Skrobanek, J. (2008). Wer mich nicht will, den will ich nicht. Zum Zusammenhang von
Misserfolg und Ethnisierung bei jugendlichen Zuwanderern. In: Reissig et al. 2008. S.157–
170.
Weingardt, M. (2008a). Hürdenlauf Richtung Arbeitswelt. Hindernisse und Unterstützungs-
strukturen beim Übergang von der Schule ins Erwerbsleben. In: Jung 2008. S. 115–129
Weingardt, M. (Hrsg.) (2008b). Übergang Schule – Betrieb. Individuelle Lernprofile för-
dern. Ordner 1: Lernmodule Deutsch. 3. überarb. Auflage. Baltmannsweiler: Schneider Ver-
lag Hohengehren.
Weingardt, M. (Hrsg.) (2008c). Übergang Schule – Betrieb. Individuelle Lernprofile fördern.
Ordner 2: Lernmodule Mathematik. 3. überarb. Auflage. Baltmannsweiler: Schneider Verlag
Hohengehren.
Weingardt, M. (2009). Inkompatibilitäten im Übergang Schule – Ausbildung. In: Schwab,
G., Schneider, K., Weingardt, M. (Hrsg.), Hauptschulforschung konkret. Themen, Ergeb-
nisse, Perspektiven. Baltmannsweiler. Schneider Verlag Hohengehren. S. 69–86.
149

Resilienz, Risiko- und Schutzfaktoren beim Übergang


von der Schule ins Berufsleben

Kurt Häfeli, Claudia Schellenberg

Abstract

Resilienz, Risiko- und Schutzfaktoren sind hilfreiche Konzepte, um den


Übergang von der Schule ins Berufsleben – speziell bei gefährdeten Jugend-
lichen – besser zu verstehen. Dies wurde anhand einer Übersichtsstudie ge-
zeigt, in welcher rund sechzig ausgewählte Schweizer Untersuchungen und
Projekte einer gezielten Analyse unterzogen wurden. Es lassen sich eine gan-
ze Reihe von personen- und umweltbezogenen Schutzfaktoren (hier auch
«Erfolgsfaktoren» genannt) identifizieren. Zudem konnte in mehreren In-
terventionsstudien demonstriert werden, dass sich Schutzfaktoren (z.B.
Selbstwirksamkeitserwartung oder Zielorientierung bei den Jugendlichen,
eine «Caring Community» in der Schule) fördern lassen. So lässt sich Resi-
lienz (oder Widerstandsfähigkeit) aufbauen, was ermöglicht, kritische Situa-
tionen besser zu bewältigen.

1 Perspektivenwechsel: Von den Risiko- zu den


Schutzfaktoren

In der Schweiz – wie in anderen Ländern auch – steht die Integration von
Jugendlichen und jungen Erwachsenen in eine qualifizierte nachobligatori-
sche Ausbildung oben auf der politischen Agenda. Die Schweizerische Kon-
ferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) hat denn auch ein Pro-
jekt initiiert, welches sich mit der Optimierung der Nahtstelle zwischen
obligatorischer Schule und Sekundarstufe II befasst (www.nahtstelle-transi-
tion.ch). Das übergeordnete Ziel dabei lautet, dass 95% der Jugendlichen
bis 2015 einen Abschluss auf Sekundarstufe II erreichen sollen (gegenüber
knapp 90% im Jahre 2008). Dahinter steht die Überlegung, dass sich mit ei-
nem solchen Abschluss die Chancen für einen erfolgreichen Übertritt in den
Arbeitsmarkt deutlich verbessern.

Häfeli, K., Schellenberg, C. (2010). Resilienz, Risiko- und Schutzfaktoren beim Übergang von der Schule ins Berufsleben. In: M. P.
Neuenschwander, H.-U. Grunder (Hrsg). Schulübergang und Selektion (pp. 149–158). Chur: Rügger.
150 Perspektivenwechsel: Von den Risiko- zu den Schutzfaktoren

Mittlerweile wurden auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene zahlreiche


Massnahmen getroffen und Studien durchgeführt, welche Hinweise und
Empfehlungen hervorbringen, wie bestimmte Defizite in den Angeboten
und Strukturen sowie in der Beratung und Begleitung der Jugendlichen be-
hoben werden können. Allerdings fehlt ein systematischer Überblick über
diese Projekte und Studien, ebenso fehlt eine qualitative Gewichtung nach
wissenschaftlichen und bildungspolitischen Kriterien.
Mit einer Überblicksstudie (Häfeli & Schellenberg 2009) haben wir ver-
sucht, diese Lücke zu beheben. Dabei wurde der Fokus nicht auf die Defizi-
te und Risiken gerichtet, sondern auf die personalen und strukturellen «Er-
folgsfaktoren», welche die Jugendlichen dabei unterstützen, den Übergang
von der obligatorischen Schule ins Erwerbsleben zu bewältigen. Ein beson-
derer Schwerpunkt liegt bei den schwächeren Jugendlichen, welche über
schlechtere Startchancen in die Berufslaufbahn (ungünstige familiäre Ver-
hältnisse, tiefe kognitive Leistungsfähigkeit oder körperliche und/oder psy-
chische Beeinträchtigungen) verfügen.
Während Jahrzehnten beschäftigten sich die Sozialwissenschaften primär
mit möglichen Ursachen von Entwicklungsschwierigkeiten, Störungen und
Pathologien. Dabei kristallisierten sich eine Reihe von Risikofaktoren heraus,
die als besonders einflussreich gelten (Oerter & Montada 2002). Zum einen
lassen sich externale Faktoren (Faktoren der Umwelt oder Umgebung) be-
stimmen (Armut, ungünstige Wohnbedingungen, Zugehörigkeit zu Rand-
gruppen, ungünstige familiäre Bedingungen). Anderseits finden sich inter-
nale Bedingungen oder «Vulnerabilitäten» (Faktoren in der Person selber)
wie Temperament, biologische Faktoren, ungünstiger Lebensstil oder Co-
pingstrategien.
Nicht zuletzt auf dem Hintergrund eines Paradigmenwechsels befasst sich
die sogenannte «Positive Psychologie» aber seit etwa fünfzehn Jahren ver-
mehrt mit positiven subjektiven Erfahrungen und Konzepten wie Optimis-
mus, Glück, Hoffnung, Weisheit, Kreativität und Verantwortung (Seligman
& Csikszentmihalyi 2000). Entsprechend werden neben Krisen zunehmend
auch positive Entwicklungen im Jugend- und Erwachsenenalter beachtet.
Gleichsam als Gegenstück zu Risikofaktoren wurde nach «Schutzfaktoren»
oder protektiven Faktoren gesucht. Besonderes Interesse hat dabei das Phäno-
men der Resilienz gefunden. In Längsschnittstudien zeigte sich, dass Kinder
und Jugendliche trotz des Vorhandenseins von Risikofaktoren eine günstige
Entwicklung nahmen. Dies wurde auf die «Widerstandsfähigkeit» (Resi-
lienz) der Betroffenen zurückgeführt.
Übersichtsstudie zu Erfolgsfaktoren in der Berufsbildung 151

Unter Resilienz wird die psychische Widerstandsfähigkeit von Kindern und


Jugendlichen gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen
Entwicklungsrisiken verstanden (Opp & Fingerle 2007). Resilienz zielt also
auf erfolgreiche Bewältigung trotz erhöhter Entwicklungsrisiken.
Allerdings hat die inflationäre Verbreitung des Resilienz-Konzeptes nicht
unbedingt zu einer Klärung, sondern öfters zu einer «Verklärung» geführt.
Die intensiv betriebene Resilienzforschung der letzten Jahre hat aber doch
folgende Erkenntnisse gebracht (Fingerle 2007, Kronig 2007, Wustmann,
2005):
• Resilienz ist ein dynamischer Anpassungs- und Entwicklungsprozess zwi-
schen einer Person und ihrer Umwelt.
• Resilienz ist eine variable Grösse und keine stabile Eigenschaft, die «Im-
munität» gegenüber negativen Lebensereignissen bietet.
• Resilienz ist situationsspezifisch und multidimensional. Resilienz in ei-
nem spezifischen Lebensbereich kann daher nicht einfach auf andere Le-
bensbereiche übertragen werden.
• Die Mechanismen und Wirkprozesse sind noch wenig erforscht.

2 Übersichtsstudie zu Erfolgsfaktoren in der Berufsbildung

Zur Beantwortung der Frage nach zentralen Erfolgsfaktoren, welche den


Übergang von der Schule ins Erwerbsleben bei gefährdeten Jugendlichen er-
leichtern, wurden in einem vom Bundesamt für Berufsbildung und Techno-
logie (BBT) und der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erzie-
hungsdirektoren (EDK) mitfinanzierten Projekt an der Hochschule für
Heilpädagogik rund 60 ausgewählte Schweizer Untersuchungen und Pro-
jekte der letzten fünf bis zehn Jahre zum Übergang von der obligatorischen
Schule in die Berufswelt einer gezielten vergleichenden Analyse unterzogen.
Das Kriterium «Erfolg» wurde objektiv bewertet als – je nach Laufbahnzeit-
punkt – das Finden eines Ausbildungsplatzes, das Durchhalten und Ab-
schliessen einer Berufsausbildung bis zur stabilen beruflichen Beschäf-
tigung.
Das methodische Vorgehen beinhaltete metaanalytische Auswertungen an-
hand eines differenzierten Kategoriensystems, soweit dies möglich war. Die
Studieninhalte sind oft sehr heterogen und längst nicht überall liegen Anga-
152 Zusammenspiel und Gewichtung der Faktoren

ben zu Effektgrössen vor. Zudem gehen die Studien und Projekte meist von
unterschiedlichen theoretischen Konzepten aus.

3 Zusammenspiel und Gewichtung der Faktoren

Welche Faktoren sind besonders wichtig und einflussreich? In einem ersten


Schritt wurden alle relevanten Einflussfaktoren aus den 58 Studien/Projek-
ten zusammengetragen und nach Bereichen (Person, Familie, Schule) geglie-
dert (vgl. Abschnitt «Bivariate Studien»). Leider beschränken sich die meisten
Studien auf wenige Merkmale aus einem (allenfalls zwei) Merkmals-
bereich(en), sodass der zweite Schritt einer gleichzeitigen Analyse mehrerer
Einflussbereiche (vgl. Abschnitt «Multivariate Studien») nur beschränkt
möglich war. Die Datenlage erlaubt darum nur sehr zurückhaltende Aus-
sagen über die Konstellation verschiedener Variablen in gegenseitiger Inter-
aktion.

3.1 Bivariate Studien


Die Analyse zeigte, dass es eine Vielzahl von fast 50 Einflussfaktoren gibt,
welche sich auf die berufliche Entwicklung von Jugendliche, – auch aus
ungünstigen Verhältnissen – positiv auswirken. Alle untersuchten Bereiche
sind mit mehreren Faktoren vertreten. Am meisten Erfolgsfaktoren wurden
bei der Person, bei der Schule und auf der gesellschaftlichen Ebene identifi-
ziert. Fast so viele Einflüsse finden wir beim Betrieb und der Familie. Etwas
weniger Faktoren sind es bei Beratungs- und Interventionsangeboten und
deutlich am wenigsten bei Freizeit oder Peer-Einflüssen. Familie, Schule und
Betrieb sind die wichtigsten Sozialisationsfelder für Jugendliche und so sind
die hier festgestellten Einflussfaktoren denn auch nicht überraschend. Es
lassen sich sowohl strukturelle Einflüsse (soziale Schicht, Schultypen auf Se-
kundarstufe I, Berufe und Berufsgruppen) als auch eher Prozess- und
Interaktionsvariablen (soziale Beziehungen in der Familie, Schule und am
Arbeitsplatz) und solche der Person selber (kognitive, personale, soziale
Kompetenzen) identifizieren. Auffällig ist, dass der Freizeitbereich und die
Peers (Gleichaltrige) im Zusammenhang mit beruflichem Erfolg noch kaum
thematisiert wurden. Hier bestehen eine Forschungslücke und wahrschein-
lich auch ein Potenzial für Interventionsprogramme.
TREE 153

3.2 Multivariate Studien


Einige wenige Studien befassen sich mit den Zusammenhängen zwischen
mehreren Ebenen (z.B. TREE, LEVA, FASE B, ZLSE). Eine bilanzierende
Gesamtschau daraus zu ziehen ist schwierig, da die Studien zu unterschied-
lich angelegt sind. Sie differieren nicht nur bezüglich der untersuchten Ein-
flussgrössen und –bereiche, sondern auch bezüglich des Erfolgskriteriums.
Dennoch sollen im Folgenden zwei Studien kurz präsentiert werden (für die
FASE B-Studie siehe Neuenschwander et al. in diesem Band).

3.2.1 TREE

Dieser nationale Jugendlängsschnitt untersucht die Laufbahnen von ur-


sprünglich 6'300 Personen zwischen 15 und 23 Jahren (Bertschy, Böni &
Meyer 2007, BFS & TREE 2003). TREE steht dabei für Transitionen von
der Erstausbildung ins Erwerbsleben.
Die multivariate Analyse zeigt nun, dass Jugendliche, denen der Direktein-
stieg in eine zertifizierende nachobligatorische Ausbildung gelingt, ein spezifi-
sches Profil aufweisen. Sie sind in der Tendenz eher männlich, haben auf der
Sekundarstufe I einen höheren Schultyp besucht, weisen dort wenig Absen-
zen auf, verfügen über hohe PISA-Lesekompetenzen und überdurchschnitt-
liche Mathematik-Noten, stammen aus Mittel- oder Oberschichtfamilien
und sind eher in ländlichen Gebieten aufgewachsen. In einem weiteren
Schritt betrachten wir die zweite Schwelle, d.h. das Merkmal «Ausbildungs-
losigkeit» (kein Sek-II-Abschluss) mit 23 Jahren. Auch hier spielen die sozia-
le Herkunft und die Lesekompetenzen weiterhin eine wichtige Rolle. Neu
kommt der bisherige Ausbildungsverlauf dazu, d.h. ein direkter Ausbil-
dungseinstieg nach der obligatorischen Schule erweist sich als günstig.

3.2.2 ZLSE

Die Zürcher Längsschnittstudie «Von der Schulzeit bis zum mittleren Er-
wachsenenalter» (ZLSE) hat den beruflichen Erfolg (Status) im Alter von 20
Jahren und im mittleren Erwachsenenalter (36 Jahre) untersucht (Schallber-
ger & Spiess Huldi 2001, Spiess, Huldi 2009). Im letzten Schuljahr wurde
bei 15-jährigen Jugendlichen aus der Deutschschweiz eine ganze Reihe mög-
licher Berufswahlfaktoren erfasst (Intelligenz, Persönlichkeitseigenschaften,
Wertvorstellungen, Selbstkonzept, Freizeitaktivitäten, familiärer Hinter-
grund, elterlicher Erziehungsstil usw.). Die Persönlichkeit mit hohen kogni-
tiven Fähigkeiten (Intelligenz), aber auch Dimensionen wie Leistungsmoti-
154 Bilanz

vation und Kontrollüberzeugung sind für den beruflichen Statuserwerb in


erheblichem Ausmass bestimmend. Überdies bilden Aspekte der Herkunfts-
familie günstige Voraussetzungen: Unterstützung in schulischen Belangen,
intellektuelle Förderung, eine warmherzige Erziehung und hoher sozioöko-
nomischer Status. Interessant ist, dass die psychische Robustheit (Extraver-
sion und emotionale Stabilität) erst für den beruflichen Aufstieg (im Alter
von 36 Jahren) eine Rolle spielt, aber noch nicht für die Statushöhe des Aus-
bildungsberufs.

3.2.3 Bilanz

Eine Bilanz zu ziehen ist schwierig, da die Studien zu unterschiedlich ange-


legt sind. Soziale Herkunft, Schultyp der Oberstufe und schulische Leis-
tungsfähigkeit, aber auch Geschlecht und Nationalität spielen eine wichtige
Rolle. Der Erfolg im Bildungswesen scheint also wesentlich von sozialstruk-
turellen Merkmalen abhängig zu sein. Insgesamt zeigen diese Befunde, dass
berufliche Kompetenzentwicklung und Berufserfolg als Produkt vielfältiger
Einflusssysteme (Person, Schule, Beruf, Familie) verstanden werden müssen
und sich nicht auf wenige Einflussbedingungen oder -systeme reduzieren
lassen. Zukünftige Forschungen sollten sich vermehrt mit der (gleichzeiti-
gen) Untersuchung aller Ebenen befassen.
Allerdings fehlen allgemein gültige, breit akzeptierte Modelle oder Theo-
rien, welche die Berufswahl und die weitere berufliche Entwicklung befrie-
digend erklären könnten. Fast jede der hier vorgestellten Studien geht von
einem anderen theoretischen Ansatz aus.

4 Konsequenzen für die Praxis: Förderung von Resilienz

Die Resilienzforschung betont das Zusammenspiel der Faktoren (Opp &


Fingerle 2007). Wenn in einem Bereich widrige Umstände oder grosse De-
fizite bestehen, ist es umso wichtiger, dass in anderen Bereichen Ressourcen
vorliegen oder aktiviert werden, damit ein Ausbildungs- oder Berufserfolg
erreicht werden kann. Wie diese Konstellation aber genau aussehen muss
und welches Gewicht die einzelnen Faktoren haben sollten, damit eine po-
sitive Entwicklung eintritt, ist nicht abschliessend geklärt. Die in der vorlie-
genden Überblicksstudie zusammengetragenen, empirisch abgesicherten
Erfolgsfaktoren dürften aber eine Basis für eine systematische Abklärung bil-
den. So könnte der Blick im konkreten Einzelfall ausgeweitet werden. Statt
Konsequenzen für die Praxis: Förderung von Resilienz 155

der Fixierung auf Defizite und Risikofaktoren ist es möglich, bei der Person
und ihrem Umfeld Ressourcen und Schutzfaktoren zu entdecken und zu
aktivieren.
Werner und Smith berichten über eine Reihe von Interventionsprogram-
men und Massnahmen in den USA und in europäischen Ländern zur För-
derung von Resilienz (Werner & Smith 2001). Resilienz lässt sich in jedem
Alter erlernen, selbst wenn aus Kindheit und Jugend keine resilienzfördern-
den Erfahrungen vorliegen.
Resilienz und Schutzfaktoren lassen sich mittels Interventionsprogrammen
gezielt fördern. Für den Kontext der Schule ist dabei eine «Caring-Commu-
nity» (fürsorgliche Gemeinschaft) anzustreben, um Kindern die Möglich-
keiten zu geben, die widrigen Umstände, in denen sie leben, zu überwinden
(Opp 2007). Schule ist nicht nur als Ort der Wissensvermittlung zu begrei-
fen, sondern als fürsorgliche Gemeinschaft. Eine wichtige Rolle spielen da-
bei positive Beziehungen zu Erwachsenen (speziell auch zu Lehrpersonen)
ausserhalb der Familie, welche eine Quelle sozialer Unterstützung darstel-
len. «Die grössten Chancen entstehen, wenn es gelingt, entwicklungsför-
dernde Settings zu schaffen und Beratungsangebote für die flexible Gestal-
tung des Passungsverhältnisses zwischen Ressourcen und Umwelten machen
zu können.» (Fingerle 2007, S. 308)
Auch in der Schweiz sind erfolgreiche Programme und Reformprojekte zur
Erhöhung der Resilienz bei gefährdeten Jugendlichen entwickelt worden
(Häfeli, 2008, Häfeli & Schellenberg 2009). Die meisten Programme gehen
dabei vom Ansatz der Früherkennung und Frühintervention bei gefährdeten
Jugendlichen aus (selektive Prävention).
Supra-f ist ein wissenschaftlich evaluierter Ansatz zur Ressourcenstärkung
bei gefährdeten Jugendlichen (www.supra-f.ch ). Obwohl das Angebot zu-
nächst im Rahmen von Suchtpräventionsmassnahmen vom Bundesamt für
Gesundheit entwickelt wurde, richtet es sich nicht nur an Jugendliche mit
Substanzkonsum, sondern genereller an solche Jugendliche, welche bereits
einige Verhaltensauffälligkeiten zeigen (Meili 2008). Die Anliegen dieser se-
kundären Prävention bestehen darin, die inneren und äusseren Bedingun-
gen von Risikojugendlichen zu verbessern. Die inneren Bedingungen sind:
Befindlichkeit, Selbstwert, Bewältigung, Delinquenz und Substanzkonsum.
Die äusseren Bedingungen sind die Veränderungen der familiären Situation,
der beruflichen und schulischen Situation und die Ausprägung im Bereich
soziale Integration.
156 Fazit

Ein weiteres Projekt mit dem provokativen Titel «Zeitbombe des dummen
Schülers» befasst sich unmittelbar mit der Förderung von Resilienz im Aus-
bildungsbereich. Folgende Aspekte der Resilienz sollten positiv beeinflusst
werden: Selbstwirksamkeitserwartung, Kausalattribution, Copingstrate-
gien, Optimismus und Zielorientierung (Oser & Düggeli 2008). Jugendli-
che sollten etwa lernen, besser mit Frustrationsgefühlen bei häufigen Absa-
gen auf Lehrstellenbewerbungen umzugehen. Die Interventionen während
drei Monaten dauerten jeweils einen halben Tag pro Woche und beinhalte-
ten speziell entwickelte Übungen und Aktivitäten (z.B. Projektarbeit, Bi-
lanzierung persönlicher Kompetenzen, Bewerbungstraining, Lehrbetriebs-
suche).
Die Resultate der beiden sorgfältig durchgeführten und gut dokumentierten
Projekte zeigen, dass es möglich ist, die genannten internalen Ressourcen
der Jugendlichen zu stärken, sodass diese den schwierigen Übergang zwi-
schen Schule und Lehrstelle mit Optimismus und Ausdauer zu bewältigen
vermögen.

5 Fazit

Die Analyse hat ergeben, dass eine Vielzahl von Erfolgsfaktoren existiert, wel-
che sich auf die berufliche Entwicklung von Jugendlichen – auch aus un-
günstigen Verhältnissen – positiv auswirken. Der Erfolg im Bildungswesen
scheint wesentlich von der Persönlichkeit, aber auch von sozialstrukturellen
Merkmalen abhängig zu sein.
Der Resilienz-Ansatz mit der gleichzeitigen Berücksichtigung von Risiko-
und Schutzfaktoren ist für unsere Fragestellung vielversprechend. Wenn in
einem Bereich widrige Umstände oder grosse Defizite bestehen, mögen in
anderen Bereichen Ressourcen vorliegen oder aktiviert werden, die eine
günstige Entwicklung beeinflussen. Die in der vorliegenden Überblicksstu-
die zusammengetragenen, empirisch abgesicherten Erfolgsfaktoren bilden
eine Basis für eine systematische Abklärung.
Es zeigt sich zudem, dass Resilienz in der Jugend erlernt und gefördert wer-
den kann. Die Entwicklung von Selbstwirksamkeit, Selbstwertgefühl oder
Zielorientierung ist möglich, obwohl die Effekte manchmal nicht sehr gross
sind. Grössere Effekte dürften sich ergeben, wenn in einem systemischen
Ansatz mehrere Ebenen und Akteure einbezogen würden. Speziell bedeut-
Literatur 157

sam bei Jugendlichen ist ein stützendes familiäres Umfeld, aber auch der
Freundeskreis der Gleichaltrigen im Sinn einer «Positive Peer Culture» (Opp
& Teichmann 2008).
Es gibt auch deutliche Hinweise darauf, dass selektive Prävention bei gefähr-
deten Jugendlichen wirksamer und effizienter ist als eine breit angelegte Pri-
märprävention bei allen Jugendlichen. Fachleute im schulischen oder bera-
terischen Bereich müssen potenziell gefährdete Jugendliche frühzeitig
erkennen und eine geeignete Frühintervention einleiten.
Schliesslich sei darauf hingewiesen, dass zwar personenbezogene Aspekte für
die Förderung von Resilienz wichtig sind. Sie werden aber immer nur von
begrenzter Wirkung sein, wenn nicht auch strukturelle Faktoren – wie ein
ausreichendes und qualitativ hoch stehendes Ausbildungs- und Lehrstellen-
angebot – genügend berücksichtigt werden.

Literatur
Bertschy, K., Böni, E., Meyer, T. (2007). An der zweiten Schwelle: Junge Menschen im Über-
gang zwischen Ausbildung und Arbeitsmarkt. Ergebnisübersicht des Jugendlängsschnitts
TREE, Update 2007. Bern: TREE.
BFS, TREE. (2003). Wege in die nachobligatorische Ausbildung: Die ersten zwei Jahre nach
Austritt aus der obligatorischen Schule. Zwischenergebnisse des Jugendlängsschnitts TREE.
Neuchâtel: Bundesamt für Statistik.
Fingerle, M. (2007). Der «riskante» Begriff der Resilienz – Überlegungen zur Resilienzförde-
rung im Sinn der Organisation von Passungsverhältnissen. In: Opp, G., Fingerle, M. (Hrsg.),
Was Kinder stärkt (S. 299–310). München & Basel: Reinhardt.
Häfeli, K. (Hrsg.). (2008). Berufliche Integration für Menschen mit Beeinträchtigungen –
Luxus oder Notwendigkeit? (Bd. 25). Luzern: Edition SZH/CSPS.
Häfeli, K., Schellenberg, C. (2009). Erfolgsfaktoren in der Berufsausbildung bei gefährdeten
Jugendlichen. Bern: EDK (Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren).
Kronig, W. (2007). Resilienz und kollektive Risiken in Bildungskarrieren – das Beispiel der
Kinder aus Zuwandererfamilien. In: Opp, G., Fingerle, M. (Hrsg.), Was Kinder stärkt.
München: Reinhardt.
Meili, B. (2008). Von der Innovation zum Regelangebot: Die Verbreitung und Implementie-
rung eines Präventionsprogramms. In: Meili, B. (Hrsg.), 10 Jahre supra-f: Erkenntnisse und
Folgerungen für die Frühintervention (S. 28–37). Bern: Bundesamt für Gesundheit (BAG)
& Infodrog.
158 Literatur

Oerter, R., Montada, L. (Hrsg.). (2002). Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz.


Opp, G. (2007). Schule – Chance oder Risiko. In: Opp, G., Fingerle, M. (Hrsg.), Was Kin-
der stärkt (S. 227–244). München & Basel: Reinhardt.
Opp, G., Fingerle, M. (Hrsg.). (2007). Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und
Resilienz (2., neu bearb. ed.). München/Basel: Ernst Reinhardt.
Opp, G., Teichmann, J. (2008). Positive Peerkultur. Best Practices in Deutschland. Bad Heil-
brunn: Julius Klinkhardt.
Oser, F., Düggeli, A. (2008). Zeitbombe «dummer Schüler». Resilienzentwicklung bei min-
derqualifizierten Jugendlichen, die keine Lehrstelle finden. Weinheim: Psychologie Verlags
Union.
Schallberger, U., Spiess Huldi, C. (2001). Die Zürcher Längsschnittstudie «Von der Schul-
zeit bis zum mittleren Erwachsenenalter». Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und So-
zialisation, 21(1), S. 80–89.
Seligman, M. E., Csikszentmihalyi, M. (2000). Positive psychology. An introduction. Ame-
rican Psychologist, 55(1), S. 5–14.
Spiess Huldi, C. (2009). Erfolg im Beruf. Zum Einfluss von Persönlichkeit und psychosozia-
lem Umfeld auf die berufliche Entwicklung Jugendlicher. Zürich/Chur: Rüegger.
Werner, E. E., Smith, R. S. (2001). Journeys from Childhood to Midlife. Risk, Resilience and
Recovery. Ithaca, N.Y.: Cornell University Press.
Wustmann, C. (2005). Die Blickrichtung der neueren Resilienzforschung. Zeitschrift für Pä-
dagogik, 51(2), S. 192–206.
159

Übertrittskonzeptionen in der Schweiz


(Podiumsdiskussion1)

Hans-Ulrich Grunder

Das Thema fokussiert in der Frage, wie die schweizerische Politik mit den
Ergebnissen der Forschung hinsichtlich des Übergangs von der Schule in
den Beruf umgeht, wie etwa die Idee des Case Managements umgesetzt wird
und ob dies eine Folgerung aus den wissenschaftlichen Studien sei. Weiter
steht die Erhöhung der Chancengerechtigkeit im Zentrum, die Frage, ob
diese Programmatik einen Schluss aus empirischen Studien darstelle, und
falls ja, wie sich die Politik dazu verhalte.

Wissenschaftliche Resultate, …

Hartmut Ditton fasste die Forschungsbefunde knapp zusammen: «Das zu-


mindest in Deutschland am meisten diskutierte und auch in der Schweiz
stark im Vordergrund stehende Thema ist die Abhängigkeit schulischer
Laufbahnen von Faktoren der sozialen Herkunft. So richten sich Laufbahn-
entscheidungen über Leistung hinaus auch an Merkmalen der sozialen Her-
kunft aus. Es besteht Konsens, dass diese Zusammenhänge nicht erwünscht
sind. Ein Beispiel: In einer Rede hat der deutsche Bundespräsident Köhler
2008 anlässlich der Eröffnung des Historikertags angemerkt, die Koppelung
von Schulerfolg und sozialer Herkunft sei derzeit in Deutschland der ‹gröss-
te Skandal›. Darum stellen wir zu diesem Aspekt gegenwärtig in der Wissen-
schaft und in der Politik viele Diskussionen fest.»
Ditton fragt nach der Regelung der Übergänge, also nach dem Übergangs-
verfahren. Müsste es verändert werden? Sollen bei der Vergabe von
Übertrittsempfehlungen härtere Leistungsdaten verwendet werden, also
standardisierte Leistungstests? Soll man die Übergänge auf einen späteren

1 An der Podiumsdiskussion nahmen Jacqueline Fehr, Nationalrätin, Klaus Fischer, Regierungsrat und Bildungsdirek-
tor des Kantons Solothurn, Hartmut Ditton, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität München, und
Urs Vögeli-Mantovani, Mitarbeiter der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF), Aarau,
teil.

Grunder, H.-U. (2010). Übertrittskonzeptionen in der Schweiz (Podiumsdiskussion). In: M. P. Neuenschwander, H.-U. Grunder
(Hrsg). Schulübergang und Selektion (pp. 159–166). Chur: Rügger.
160 Ihr Transfer in die politische Praxis

Zeitpunkt verlegen? Zeigte sich eine positivere Wirkung, wenn Selektion


später stattfände? Würde dies dazu führen, dass sich die Herkunftseffekte
abschwächen oder aufheben.
Einen weiteren Aspekt bildet die Frage nach grösserer Durchlässigkeit. Zu-
mindest in den Jahrgangsstufen fünf und sechs plädiert Ditton für eine
«Orientierungsphase», aufgrund derer – etwa im deutschen System, das
überwiegend nach der vierten Jahrgangsstufe Kinder in weitere Schulformen
zuweist – Übergangsmöglichkeiten eröffnet werden. So versteht Bayern die
fünfte Jahrgangsstufe gegenwärtig als eine Übergangsstufe, von der ein Kind
leicht noch in mehrere Schulformen wechseln kann.
Schliesslich geht es Ditton zufolge um grundsätzliche Fragen zur Verände-
rung von Schulstrukturen: «Wäre es sinnvoll, stärker integrierte Systeme an-
zubieten?» Etliche deutsche Bundesländer ergreifen derzeit Massnahmen,
Hauptschulen und Realschulen zu einer «Mittelschule» zusammenzuführen,
wovon man sich offenere Laufbahnentscheide verspricht.
Die Forschungslage erachtet Ditton als eindeutig: «Man findet sehr viele
unerwünschte Effekte bei allen Übergängen. Die Frage, wie darauf zu rea-
gieren sei, wird kontrovers gehandhabt. Auch die Frage, ob aufgrund einer
stärkeren Objektivierung des Übergangsverfahrens Herkunftseffekte abmil-
derbar seien, ist umstritten.»
Ein wichtiger Aspekt, der eine wesentliche Rolle spiele, sei die Durchlässig-
keit des Bildungssystems: «Wie kann man dafür sorgen, dass kein schuli-
scher Weg in einer Sackgasse endet, dass also Anschlüsse bestehen, die –
obwohl ein Kind ursprünglich keinen Bildungsgang mit erweiterten
Ansprüchen gewählt hat – über die weitere schulisch-berufliche Karriere
Zugang bis in die Hochschulen gewährleisten? Wie stellen sich diese Zusam-
menhänge im schweizerischen politischen Kontext dar?»

… ihr Transfer in die politische Praxis, …

Für Jacqueline Fehr ist es deshalb schwierig, in der Schweiz nationale Bil-
dungspolitik zu gestalten, weil die Beteiligten einander die Bälle reihum zu-
spielen. Die Forschungsergebnisse zeigten, «dass wir zwar immer davon
sprechen, wir wollten Chancengleichheit, dass wir uns aber darüber nicht
klar sind, weshalb sie so wichtig ist.» Fehr verweist auf den Umstand, ein
Konsens, Fähigkeiten und Leistung seien statt Herkunft entscheidend. Da-
Ihr Transfer in die politische Praxis 161

rum gelte zwar Chancengleichheit als sinnstiftendes Moment des Bildungs-


wesens. Allerdings blende man oft aus, dass viele Bevölkerungsgruppen exis-
tierten, die Chancengleichheit letztlich nicht befürworteten: «Wer sind die,
welche davon profitieren, dass ihre Kinder mehr Chancen haben, jene El-
tern etwa, welche bei den Hausaufgaben helfen können.» Die Bildungspoli-
tikerin plädiert dafür, erneut darüber nachzudenken, warum Chancen-
gleichheit der zentrale Wert des Bildungswesens dieser Gesellschaft sei. Fehr
fügt dafür eine ethische, eine demokratietheoretische und eine ökonomische
Begründung an: «Menschen sollen die Fähigkeiten entwickeln können, die
in ihnen stecken – ein ethischer Imperativ. Weiter ist es einer demokrati-
schen Gesellschaft nicht würdig, dass soziale Klassen oder sogar Kasten da-
rüber entscheiden, wer wie viel zu sagen hat, weil Demokratie und Offen-
heit zusammengehören. Und schliesslich ist eine Gesellschaft, die sehr
kompetitiv ausgerichtet ist, darauf angewiesen, dass man Leistung und Fä-
higkeit, aber nicht Herkunft ins Zentrum stellt und dass man darum auch
jene fördert, die von der Leistung und vom Bildungshunger her am moti-
viertesten sind.» Man müsse sich darüber im Klaren sein, dass das Fortkom-
men einer Gesellschaft sozial, wirtschaftlich und politisch weitgehend davon
abhänge, ob sie mehr Chancengleichheit zu realisiere vermag. Dies sei in ei-
ner differenzierten Gesellschaft schwieriger als etwa in den 50er- und 60er-
Jahren des 20. Jahrhunderts, als die Gesellschaft in der Schweiz homogener
war (breiter Mittelstand, vergleichbare Lebensformen, soziale Verhältnisse
und ökonomische Chancen): «Heute wächst die Unterschiedlichkeit in al-
len Dimensionen stark, nicht nur kulturell, nicht nur die Migrationsfrage
betreffend, sondern auch in ökonomischer, sozialer und individualbiografi-
scher Hinsicht strebt die Gesellschaft auseinander, wird heterogener – darin
Chancengleichheit zu verwirklichen ist eine besondere Herausforderung.»
Klaus Fischer, verantwortlich dafür, «dass alle unsere Jugendlichen ihren
Fähigkeiten entsprechend den Übergang von der Sekundarstufe I in eine
Sekundarstufe II bewältigen können», sei es eine gymnasiale Ausbildung
oder eine Ausbildung im Berufsbildungsbereich, fragt sich, was unter Chan-
cengleichheit oder Chancengerechtigkeit zu verstehen sei. Dieses bildungs-
politische Ziel im Blick verweist er auf jene Kinder, die aufgrund ihrer
Wohnsituation gewisse Schul- oder Ausbildungsmöglichkeiten nicht ergrei-
fen können, weil diese zu weit entfernt sind: «Deshalb ist es wichtig, dass die
Schulen möglichst dezentralisiert sind, damit die Durchlässigkeit gewährt
ist. Denn Durchlässigkeit ist eine wichtige Einflussgrösse.» Dies gelte auch
für jene Schülerinnen und Schüler, die erst später ihre Fähigkeiten erken-
nen, «den Knopf öffnen». Auch sie sollen die Chance erhalten, zu einem spä-
162 der Blick von der Seite

teren Zeitpunkt noch eine Klasse oder den Schultypus zu wechseln. Darum
reformiere man im Kanton Solothurn die Sekundarstufe I, wobei das Postu-
lat der Chancengleichheit und die Beschulung nach Fähigkeiten zentral sei-
en. Für die 7., 8. und 9. Klasse stünde infolgedessen die Berufswahl im Vor-
dergrund: «Im 9. Schuljahr werden die klassischen Fächer nur noch teilweise
angeboten, wichtiger ist die selbständige Arbeit» und die Spezialisierung der
Schülerinnen und Schüler in Richtung Handwerk oder einer Ausbildung in
einem sozialen oder pädagogischen Bereich.
Sind aus der Sicht des Beobachtens in den drei Voten Differenzen erkenn-
bar?

… der Blick von der Seite …

Urs Vögeli-Mantovani bemerkt, in der politischen Debatte um Chancen-


gleichheit und Chancengerechtigkeit seien klare Urteile Mangelware. Darin
erkennt er die Gefahr, «dass viele Daten die Schieflage, Chancengleichheit
betreffend, dokumentieren», dass indessen Schlüsse für politisches Handeln
fehlten. Zum einen bestehe die Forderung, 95% eines Jahrgangs einen Ab-
schluss auf der Sekundarstufe II zu ermöglichen, was die Konferenz der Kan-
tonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK2) proklamiere – bei
einem gegenwärtigen Stand von etwa 90%. Im Übrigen sei die Datenlage,
die uns heute präsentiert werde und die wir kennen, noch selten so komfor-
tabel gewesen – auch für die Schweiz. Entsprechende Programme seien im
Gang; es gelte nun, sie zu unterstützen. Es gehe um Case Management oder
den Übergang zwischen der Sekundarstufe I und der Berufsbildung, aber
auch um jüngere Kinder: «So will der Kanton Basel-Stadt Dreijährige, die
sprachlich zurückgeblieben sind, so fördern, dass sie im Kindergarten folgen
können.» Diese Gruppe am Beginn der Bildungslaufbahn sei bedeutend,
wenn es darum gehe, die in den PISA-Studien definierte Risikopopulation,
die in der Schweiz wie in Deutschland gegen 20% beträgt, zahlenmässig zu
verringern – «nicht morgen, nicht in einem Jahr, aber vielleicht in zehn Jah-
ren.»
Fühlt sich der Forscher, wenn er seine Ergebnisse präsentiert, von der Poli-
tik ernst genommen?

2 Konferenz der Kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren; in der BRD: KMK


und die Reaktion des Bildungsforschers 163

… und die Reaktion des Bildungsforschers

Für Hartmut Ditton liegt die Schwierigkeit darin, die Konsequenzen aus
den bisherigen Voten zu benennen: «Herr Fischer hat davon gesprochen,
den Fähigkeiten der Heranwachsenden entsprechend zu handeln, also den
schulgesetzlich verankerten Anspruch zu beherzigen, jedes Kinds sei indivi-
duell bestmöglich zu fördern. Genau das aber macht die Aufgabe so schwie-
rig, weil es impliziert, dass wir schon am Beginn einer schulischen Laufbahn
den schwächsten Schüler dort abholen müssen, wo er steht, um ihn dann zu
seinen besten Möglichkeiten zu führen – und dass dies selbstverständlich
auch für jenes Kind gilt, das schon mit sehr guten Voraussetzungen kommt.
Wie lassen sich da Chancenunterschiede ausgleichen?» Ditton erkennt das
Problem in der Kernfrage, ob Schule gezielt etwas für den Ausgleich zu leis-
ten vermöge, oder ob sie – wie wir in Schulprogrammen lesen – jedes Kind,
also das schwache und das exzellente fördert: «Ich erkenne einen gewissen
Grundkonsens darin, dass man davon ausgeht, bei Schuleintritt Kinder in
ihren sprachlichen Fähigkeiten zu unterstützen – besonders Kinder mit Mi-
grationshintergrund, die oft unzureichende sprachliche Voraussetzungen
mitbringen.» Weiter sei man sich einig, es sei nicht hinnehmbar, dass ein so
grosser Anteil von Schülerinnen und Schülern eine Schulkarriere beendet,
ohne einen aussichtsreichen Abschluss und ohne ausreichende Basiskompe-
tenzen erworben zu haben. «Hier lassen sich möglicherweise gewisse Min-
deststandards definieren, und damit wäre mit ethischen, demokratischen,
aber vor allem ökonomischen Argumenten zu punkten.» Dies gilt insbeson-
dere für die Bezifferung der Ausfallkosten, die schulische Absolventen ver-
ursachen, welche in der Arbeitswelt nicht mehr vermittelbar sind. Ditton er-
kennt hier den Beitrag der Frühförderung und gezielter Interventionen zur
Vermeidung von Problemkarrieren im Verlauf der Schullaufbahn.
Jacqueline Fehr merkt vier Aspekte an: Das Postulat nach Chancengleich-
heit sei als gesellschaftlicher Grundkonsens permanent zu erarbeiten und zu
bestärken. Weiter zeigten die bisherigen Tagungsbeiträge die Notwendig-
keit, in die Elternbildung (etwa die aufsuchende Mütterberatung) und die
bildungspolitischen Frühförderungsangebote zu investieren. «Elternbildung
muss sich grundsätzlich anders ausrichten, soll sie einen Beitrag zur Verhin-
derung eines sich vergrössernden Grabens leisten, und Angebote müssen in
den ersten vier Lebensjahren eines Kindes ansetzen.» Sie verweist auf die
Frühinterventionsprogramme, die mehrere Schweizer Städte aufbauen und
die sie gezielt mit Kulturvermittlung verbinden. Weiter gelte es, die Krip-
penangebote zugänglich zu machen und sie bildungspolitisch aufzuwerten,
164 Und nochmals: Chancengleichheit,…

weil da die Grundsteine für den späteren Bildungserwerb gelegt würden.


Dann müsse das Schulsystem auf das Geleistete angemessen reagieren, soll
der kompensatorische Effekt nicht verloren gehen: «Wir benötigen demzu-
folge eine Schule mit Tagesstrukturen mit Aufgabenhilfe, spät erfolgender
Selektion und ergänzt um ein Case Management, weil ein ans Elternhaus
delegierter Bildungsauftrag die weniger privilegierten Kinder benachteiligt.»
Schliesslich, so Fehr, fehle in der Schweiz eine Kultur der Nachholbildung:
«Wir glauben, wer nicht wolle, habe gehabt, wer sich in der Jugend nicht um
seine Bildung gekümmert habe, sei selber schuld und solle später ‹selber
schauen›.» Anders sei dies in den nordeuropäischen Ländern, welche die Er-
fahrung der «Knappheit des Nachwuchses» früh gemacht hätten und des-
halb wüssten, dass es auf jedes Kind ankommt. «Ein Jugendlicher, der mit
16 aufgrund einer Lebenskrise seine Schule abbricht, soll mit 20, 30 oder 40
die Chance haben, sie nachzuholen, weil wir daran interessiert sind, dass alle
ihr Bildungspotenzial nutzen. Darum muss die Weiterbildung in der
Schweiz wichtiger werden. weil wir erkannt haben, dass die Knappheit der
Bildungsressourcen auch bei uns zum Thema geworden ist.»
Jacqueline Fehr erkennt kein «Erkenntnisproblem». Wie Klaus Fischer ver-
ortet sie ein Handlungsproblem: «Letztlich kommt es auf die Lehrkräfte an,
die wach und bereit sein müssen, die kantonalen Angebote zu nutzen. Da-
rum bedeutet Case Management, dass auch Lehrkräfte Heranwachsende be-
sonders in den letzten zwei Schuljahren speziell betreuen, hat man einmal
festgestellt, dass sie Schwierigkeiten bekunden könnten, eine Lehrstelle zu
finden. Darum zählt dieses Thema zum Ausbildungsprogramm einer Päda-
gogischen Hochschule.» Fischer verweist auf die Notwendigkeit einer en-
gen, funktionierenden Zusammenarbeit zwischen Schule und Wirtschaft,
was auch das neue Berufsbildungsgesetz verlangt. Nicht dass die Schule
wirtschaftsfreundlich bilden solle, aber zugunsten der Schülerinnen und
Schüler müsse der Übergang von der Schule in das Berufsleben gut funktio-
nieren. Gerade auch im Sommer der Wirtschaftskrise habe die Wirtschaft
realisiert, dass sie künftig auch qualifiziertes Personal benötigen werde.

Und nochmals: Chancengleichheit, …

Urs Vögeli-Mantovani verweist auf die Übergänge und die Selektion, die an-
lässlich dieser Übergänge erfolge, und ihre Fehlerbehaftetheit. Insbesondere
fänden nach einem Übergang vergleichweise wenig Wechsel statt, wohl weil
wenige Möglichkeiten zur Verfügung stünden, falsche Zuteilungen zu kor-
Flexibilität 165

rigieren: «Beurteilt man die Schärfe der Selektion, erscheint der Wechsel von
der Primarschule3 in die verzweigte Sekundarstufe I als einer der härtesten
und einschneidendsten Übergänge, was mich den Begriff der ‹Kanalisie-
rung› verwenden lässt. Man ist in einem Kanal, einem Fahrwasser, einem
Laufbahnwasser, dem man kaum entfliehen kann.» Die vier Aspekte aufgrei-
fend, die Hartmut Ditton in die Diskussion eingeführt hat, merkt Vögeli-
Mantovani an, die Selektion sei wie in den nordischen Staaten gegen hinten
zu verschieben, klare und eindeutige Formen der Durchlässigkeit seien zu
konzipieren und auch zu nutzen, und schliesslich sei eine Reform der Schul-
strukturen unabdingbar. Zwar handle in der Schweiz jeder Kanton diesbe-
züglich anders als die anderen. Aber der Kanton Nidwalden habe in den
90er-Jahren eine Umstellung vollzogen, von der die ganze Schweiz nichts
gemerkt habe: «Innerhalb von vier Jahren hat der Kanton Nidwalden auf ko-
operative und integrative Schulformen umgestellt. Heute spricht dort nie-
mand mehr davon, dass man zum alten System zurückkehren möchte.»
Ähnlich verhalte es sich mit dem 9. Schuljahr, das gesamtschweizerisch um-
gebaut wird: «Stärkere Individualisierung, gezielter Ausbau von Stärken und
gezielter Abbau von Schwächen der Schülerinnen und Schüler.» Da würden
Strukturen eindeutig verändert.

… Flexibilität, …

Von dieser Flexibilität hatte Hartmut Ditton gesprochen: «Die Probleme in


der Umsetzung von Reformmassnahmen entstehen, weil man versucht, ein
verbindliches System über Regionen, soziale Kontexte, Einzugsgebiete, Er-
wartungen von Wirtschaftsverbänden, Abnehmern einheitlich durchzuset-
zen.» Eine grössere Chance aber erlaubten flexibilisierte Systeme. Man
könnte Ditton zufolge nach Region, lokalem Einzugsgebiet, nach Möglich-
keiten und Potenzialen der Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Va-
rianten innerhalb eines (Bundes)Landes oder Kantons zulassen. Als Parade-
beispiel nennt Ditton die Diskussion um die Hauptschule in Deutschland,
in deren Verlauf «Zerfallsszenarien» neben «Erfolgsmeldungen» existierten.
Gewährte man mehr Flexibilität, käme man schneller zu Reformprozessen,
die dann besser greifen und besser unterstützt würden. Darf Schule Selekti-
onsprozesse entschärfen?

3 Erste Stufe der Volksschule, die in den meisten Kantonen der Schweiz 6 Schuljahre, in wenigen anderen 5 oder 7
Schuljahre umfasst.
166 Selektion

… Selektion …

«Ich bin kein Migrationskind, aber ich habe als Mittelschichtkind schweize-
rischer Eltern erlebt, wie fremd und ablehnend das Milieu sein kann gegen-
über jenen Menschen, die sich nicht darin auskennen. Das hat mich geprägt
und motiviert, hier politisch Gegensteuer zu geben.» Die Botschaft an die
Lehrkräfte, ihre Verantwortung gegenüber den Kindern, auch als deren An-
wälte, wahrzunehmen und gegenüber Eltern Position zu beziehen, ist für
Jacqueline Fehr zentral. Weiter verweist sie auf die Bedeutung der Sprache
für die Einschätzung der Fähigkeiten eines Kindes, weil Tests und Noten ei-
nen starken Bezug zur Sprache aufweisen: «Welche Intelligenz steckt hinter
sprachlichen Unfähigkeiten oder Defiziten und wo liegt das Fähigkeitspo-
tenzial eines Kindes, wenn es sich sprachlich nicht fehlerfrei ausdrücken
kann? Wie erkennen wir Fähigkeiten und Potenziale hinter der Sprache?»
Als wesentliche Botschaft erachtet Jacqueline Fehr den Willen, «niemanden
zurücklassen» (no child left behind), was indessen nicht das Ende der Chan-
cenungleichheit bedeute. Sie versteht Chancengleichheit nicht nur als An-
schlussfähigkeit und Aufholchance. «Mein Konzept der Chancengleichheit
geht dahin, dass alle Menschen ihr Potenzial nutzen können. Es reicht dem-
zufolge in die Begabungsförderung. Chancengleichheit umfasst also An-
schlussfähigkeit und Begabtenförderung.»
Für Klaus Fischer liegt die Aufgabe der Selektion darin, jemanden aufgrund
seiner Fähigkeiten zu messen, damit er oder sie die richtige Laufbahn er-
greift. Ist dem nicht so, laufe etwas falsch. Darum sei Selektion breit abzu-
stützen, denn es gehe um die Fähigkeit, selbständig zu arbeiten, auch Leis-
tungen erbringen zu können, die notwendig sind für eine bestimmte
Richtung, die gewählt wird.
Urs Vögeli-Mantovani verweist auf die Kantone der Romandie und ihren
Versuch, Selektionsprozesse zu entschärfen. In Neuenburg oder im Kanton
Waadt verantwortet die Sekundarstufe den Prozess: «Die Schülerinnen und
Schüler beginnen in Neuenburg ein Jahr, in der Waadt zwei Jahre, alle ge-
meinsam an der Oberstufe in der Sekundarstufe I. Die dort unterrichtenden
Lehrkräfte übernehmen – zu einem späteren Moment – die weiteren Einstu-
fungen.»
167

Implikationen der Tagungsbeiträge für das theo-


retische Verständnis von Selektion und Übergängen

Andreas Hirschi

Mein Kommentar identifiziert zwei zentrale Themen der Tagung und der
Beiträge in diesem Band. (1) Die Erkenntnis, dass Schulübergänge und Se-
lektionsprozesse in der Realität nicht nur von den objektiven Leistungen
von Jugendlichen beeinflusst werden, sondern dass das Geschlecht und die
soziale und ethnische Herkunft einen darüber hinausgehenden signifikan-
ten Einfluss ausüben; und (2) dass Jugendliche mit ihren eigenen Wünschen
und Zielen ihre schulische und berufliche Entwicklung massgeblich mit
beeinflussen. Dies impliziert, dass Forschung und Praxis sich auf die dyna-
mische Interaktion von Wünschen der Jugendlichen, Erwartungen des so-
zialen Umfelds sowie institutionelle und gesellschaftliche Strukturen kon-
zentrieren sollten. Auf dieser Basis ist ein besseres Verständnis von Selektion
und Übergang möglich und sind nachhaltig wirksame Interventionen in der
Praxis umsetzbar.
In diesem Band wird eine Reihe interessanter Studienbefunde diskutiert,
welche einen Einblick in die aktuelle Forschungslage zu Selektion und
Schulübergängen bieten. Etliche Autorinnen und Autoren gehen dabei auf
Praxisanwendungen ein, welche auf solchen Erkenntnissen basieren. In mei-
nem Kommentar greife ich zwei Aspekte heraus, welche für mich Kernthe-
men der Tagung waren. Darauf aufbauend leite ich Implikationen für das
theoretische Verständnis von Selektionsverläufen und Schulübergängen ab.

1 Objektive Leistung versus soziale Selektion und


Diskrimination

Ein erstes zentrales Thema der Tagung zeigt sich in mehreren Referaten und
Workshops in der Diskrepanz zwischen dem Ideal einer auf reinen Leis-
tungskriterien basierenden schulischen und beruflichen Selektion einerseits
und der beobachteten Realität andererseits. Einem Idealbild entsprechend,

Hirschi, A. (2010). Implikationen der Tagungsbeiträge für das theoretische Verständnis von Selektion und Übergängen. In: M. P.
Neuenschwander, H.-U. Grunder (Hrsg). Schulübergang und Selektion (pp. 167–172). Chur: Rüegger.
168 Selbstgestaltung eigener Entwicklung durch die Jugendlichen

sollten Selektion und Schulübergänge vollständig auf den gegebenen per-


sönlichen Fähigkeiten und dem zukünftigen Potenzial der Schüler und
Schülerinnen beruhen. Für die Realität belegen jedoch einige Studien gut,
dass Selektion und Bildungszugang nicht nur auf Leistungen basieren. Wie
an der Tagung vielfach illustriert worden ist, haben das Geschlecht sowie die
soziale und ethnische Herkunft einen wesentlichen Einfluss, welcher unab-
hängig von objektiven Leistungsmerkmalen wirkt. Die Beiträge in diesem
Band verweisen auf die Komplexität dieses Effekts der Herkunft auf Selek-
tionsprozesse und Schulübergänge.
Das Spannungsfeld zwischen Effekten von Leistungen und sozialen Selekti-
onsmechanismen zeigt sich etwa in der Existenz von primären und sekundä-
ren Effekten (Boudon 1974). Erstere beschreiben einen Prozess, worin sich
der soziale Hintergrund auf die Schulleistungen auswirkt und diese als für
Unterschiede in Selektion und Übergängen heranzieht. Letztere beziehen
sich auf das Phänomen, dass der soziale Hintergrund auch bei gleichen schu-
lischen Leistungen dennoch Selektion und Übergang signifikant beeinflusst.
So sind beispielsweise in der Schweiz ausländische Jugendliche bei der Selek-
tion in höhere Schulen und bei der Lehrstellensuche auch bei gleichen schu-
lischen Leistungen gegenüber Schweizer Jugendlichen benachteiligt. Dieses
Faktum kommt unter anderem dadurch zustande, dass Bildungserwartun-
gen für ihre Kinder und die soziale Schicht der Eltern sowie die subjektive
Einschätzung von Lehrpersonen und Betriebsausbildnern hinsichtlich des
Leistungspotenzials von Jugendlichen richtungweisend auf Selektion und
Übergänge einwirken – trotz objektiv gleichen schulischen Leistungen (vgl.
die Beiträge von Becker, Ditton, Gomolla, und Neuenschwander in diesem
Band sowie Haeberlin, Imdorf, Kronig 2004). Somit wirken das Umfeld
und die Herkunft auf Selektion und Übergänge auch unabhängig von rea-
len Leistungen ein, was soziale Selektion und Diskriminierung zementiert.

2 Selbstgestaltung eigener Entwicklung durch die


Jugendlichen

Ein zweites zentrales Thema der Tagungsbeiträge bezog sich jedoch auch auf
den Ansatz, Jugendliche nicht nur als passive Opfer von sozialer Selektion
und Diskriminierung zu beurteilen. Denn neben den genannten Einflüssen
und den persönlichen schulischen Leistungen spielen auch die Wünsche
und Erwartungen der Jugendlichen selber eine wichtige Rolle. Eine Reihe
von Beiträgen in diesem Band befasst sich mit diesem Spannungsfeld zwi-
Selbstgestaltung eigener Entwicklung durch die Jugendlichen 169

schen Selbstbestimmung und sozialer Selektion – ein Verhältnis, das leider


in der Forschungsliteratur immer noch zu wenig bearbeitet wird.
Die Beiträge in diesem Band illustrieren, dass Selektionsprozesse und Schul-
übergänge immer in einem dynamischen Wechselspiel zwischen persönli-
chen Wünschen und Fähigkeiten der Jugendlichen und ihrem sozialen und
institutionellen Umfeld verlaufen. Auch in diesem Zusammenhang sind je-
doch die Effekte des sozialen Umfelds vielschichtig. So wissen wir einerseits
aus vielen empirischen Studien, dass persönliche Interessen, Werte, Ziele,
und Einstellungen stark mit der Berufswahl und beruflichen Entwicklung
zusammenhängen (z.B. Ackerman, Beier 2003, Duffy, Sedlacek 2007, La-
pan, Shaughnessy, Boggs 1996, Lent, Brown, Hackett 1994, Tracey, Hop-
kins 2001), was entschieden für die Selbstbestimmung in der Berufslauf-
bahn spricht. Studien zeigen aber auch, dass diese persönlichen
psychologischen Einflüsse zu einem gewissen Anteil auf genetischen Prädis-
positionen beruhen und zusätzlich über Sozialisationsprozesse im Eltern-
haus sowie in der weiteren Gesellschaft vermittelt werden (Gottfredson
1999, Hitli, Piliavin 2004). Somit wirkt das soziale Umfeld nebst den oben
bereits diskutierten primären und sekundären Effekten in Bezug auf Schul-
leistungen auch auf eine weitere, indirekte Weise: Soziales und gesellschaft-
liches Umfeld beeinflussen auch die Ausbildung von persönlichen Interes-
sen, Werten, Zielen und Erwartungen der Jugendlichen, welche dann
ihrerseits wiederum einen wichtigen Effekt auf die schulische und berufliche
Selektion ausüben.
Die Relevanz solcher persönlicher Berufs- und Ausbildungsentscheidungen
sollten wir nicht unterschätzen. Wie Becker (in diesem Band) zeigt, haben
sie einen wesentlichen Anteil an der Unterrepräsentation von bildungsfer-
nen Schichten an Universitäten. Nebst dem sozialen Hintergrund bestim-
men sie wesentlich Selektionsprozesse und Übergänge und vermitteln teil-
weise auch die Effekte des Geschlechts sowie des sozialen und ethnischen
Hintergrunds. So haben männliche und weibliche Jugendliche in der Regel
stark unterschiedliche Interessen und Berufswünsche (Hirschi, im Druck,
Lippa 1998) was aufgrund der Angebotsstruktur im schweizerischen Lehr-
stellenmarkt zu einer Benachteiligung von weiblichen Jugendlichen führt,
da deren typische Interessensbereiche bedeutend schwächer abgedeckt wer-
den (Hirschi 2009b). Ausländische Jugendliche weisen verglichen mit
Schweizer Jugendlichen in der Regel keine Unterschiede in beruflichen In-
teressen und Berufswünschen auf (Hirschi, im Druck). Jedoch zeigen sie ge-
mäss eigener Studien häufiger Schwierigkeiten im Bezug auf Entscheidungs-
klarheit und berufliche Selbstwirksamkeitserwartung, darüber hinaus
170 Implikationen eines dynamischen Verständnisses von Selektion und Übergang

grössere Schwierigkeiten, ihre Berufswünsche den Gegebenheiten des Lehr-


stellenmarkts und persönlichen Interessen anzupassen (Hirschi 2009a, Hir-
schi, Vondracek 2009). Dies unterstreicht die wichtige Erkenntnis, dass Ju-
gendliche nicht nur passive Opfer direkter oder indirekter sozialer Einflüsse
sind.
Ein solches Menschenbild entspricht entwicklungsorientierten kontextuel-
len Modellen, welche gegenwärtig als Standard in der Theorieentwicklung
zum Verständnis von Entwicklungsprozessen im Jugendalter gelten (Lerner
2006). Sie zeichnen ein Bild der Jugendlichen, welches ihnen eine aktive
Selbstgestaltung ihrer eigenen Entwicklung zuschreibt, wobei Entwicklung
als ständiger Wechselprozess der Anforderungen, Gelegenheiten und Ein-
schränkungen einer sich ebenfalls ständig ändernden Umwelt zu betrachten
ist. Das heisst, Jugendliche bestimmen ihre schulische und berufliche Ent-
wicklung auch aufgrund eigener Wünsche und Erwartungen aktiv mit,
müssen diese jedoch auch fortlaufend den jeweils gegebenen Umständen
anpassen.
Eine weitere Implikation dieser theoretischen Perspektive liegt jedoch auch
darin, dass Jugendliche nicht nur von der Umwelt geformt werden und sich
ihr anpassen müssen. Vielmehr impliziert sie, dass die Jugendlichen ihre
Umwelt auch aktiv beeinflussen und gestalten (Lerner 2006). So nehmen
Eltern und Lehrkräfte etwaige vorhandene Präferenzen und Fähigkeiten von
Jugendlichen zur Kenntnis und beeinflussen damit deren Urteil und Erwar-
tungen über die geeignete weitere schulische und berufliche Entwicklung
des Kindes. Ein anderes Beispiel ist die Lehrstellensuche, wo sich die Präfe-
renzen von Jugendlichen in Form von unterschiedlicher Nachfrage für ge-
wisse Lehrstellen auf die Selektionspraktiken und Erwartungen der Lehrbe-
triebe auswirken können.

3 Implikationen eines dynamischen Verständnisses von


Selektion und Übergang

Für die Forschung zum Thema Selektion und Schulübergänge bedeutet


dies, dass zunehmend komplexere und dynamischere Modelle entwickelt
und empirisch getestet werden sollten. Die zentrale Frage eines solchen For-
schungsprogramms lautet, wie Selektionsprozesse und Übergänge in diesem
dynamischen Wechselspiel von persönlichen Erwartungen und sozialen Ein-
flüssen verlaufen.
Literatur 171

Dieser Ansatz enthält aber auch wichtige Implikationen für die Praxis. So
folgt daraus, dass Interventionen nur unter einem systemischen Ansatz er-
folgreich sein können. Persönliche Ziele und Erwartungen von Jugendli-
chen, deren objektiven Schulleistungen, die Erwartungen des sozialen Um-
felds (Eltern, Lehrkräfte) sowie die organisatorischen, institutionellen und
gesellschaftlichen Strukturen bedingen einander. Wirksame Interventionen
sollten somit an allen Punkten ansetzen, sollen nachhaltige Veränderungen
eintreten. Darum sind in diesem Band ebenfalls Beispiele aus der Praxis er-
wähnt, mit denen diesem Ansatz gerecht zu werden versucht wird. Diese
Komplexität impliziert auch, dass Veränderungen nicht leicht und schnell
zu erreichen sind. Betrachtet man die positive Seite, verweist die Dynamik
des Systems jedoch auch auf die grundlegende Möglichkeit, dass Verände-
rungen bei allen Beteiligten herbeigeführt werden können.

Literatur
Ackerman, P. L. & Beier, M. E. (2003). Intelligence, personality, and interests in the career
choice process. Journal of Career Assessment, 11, 205–218.
Boudon, R. (1974). Education, opportunity and social inequality. New York: John Wiley.
Duffy, R. D. & Sedlacek, W. E. (2007). What is most important to students’ long-term ca-
reer choices: Analyzing 10-year trends and group differences. Journal of Career Develop-
ment, 34, 149–163.
Gottfredson, L. S. (1999). The nature and nurture of vocational interests. In M. L. Savickas
& A. R. Spokane (Eds.), Vocational interests: Their meaning, measurement, and counseling
use (pp. 57–86). Palo Alto, CA: Davies-Black.
Haeberlin, U., Imdorf, C. & Kronig, W. (2004). Chancenungleichheit bei der Lehrstellen-
suche: Der Einfluss von Schule, Herkunft und Geschlecht (NFPR 43, Synthesis 7).
Bern/Aarau: Schweizerischer Nationalfonds.
Hirschi, A. (2009a). Career adaptability development in adolescence: Multiple predictors
and effect on sense of power and life satisfaction. Journal of Vocational Behavior, 74, 145–
155.
Hirschi, A. (2009b). Eine typologische Analyse des Schweizerischen Lehrstellenmarktes:
Strukturelle Benachteiligung von jungen Frauen. Schweizerische Zeitschrift für Bildungswis-
senschaften, 31, 1–18.
Hirschi, A. (in press). Swiss adolescents’ career aspirations: Influence of context, age, and ca-
reer adaptability. Journal of Career Development.
172 Literatur

Hirschi, A. & Vondracek, F. W. (2009). Adaptation of career goals in early adolescence to self
and opportunities. Journal of Vocational Behavior, 75, 120–128.
Hitlin, S. & Piliavin, J. A. (2004). Values: Reviving a dormant concept. Annual Review of
Sociology, 30, 359–393.
Lapan, R. T., Shaughnessy, P. & Boggs, K. (1996). Efficacy expectations and vocational inte-
rests as mediators between sex and choice of math/science college majors: A longitudinal stu-
dy. Journal of Vocational Behavior, 49, 277–291.
Lent, R. W., Brown, S. D. & Hackett, G. (1994). Toward a unifying social cognitive theory
of career and academic interest, choice, and performance. Journal of Vocational Behavior, 45,
79–122.
Lerner, R. M. (2006). Developmental science, developmental systems, and contemporary
theories of human development. In R. M. Lerner & W. Damon (Eds.), Handbook of child
psychology (6th ed.): Vol 1, Theoretical models of human development. (pp. 1–17). Hobo-
ken, NJ US: John Wiley & Sons Inc.
Lippa, R. (1998). Gender-related individual differences and the structure of vocational inte-
rests: The importance of the people-things dimension. Journal of Personality and Social Psy-
chology, 74, 996–1009.
Tracey, T. J. G. & Hopkins, N. (2001). Correspondence of interests and abilities with occu-
pational choice. Journal of Counseling Psychology, 48, 178–189.
173

Kommentar zur Tagung in der Perspektive


der Bildungsverwaltung

Hans Georg Signer1

Ist mit der heutigen Tagung der Brückenschlag zwischen Forschung, Bil-
dungspraxis, Bildungsverwaltung und Professionsentwicklung gelungen? Ja,
sage ich: Es gab heute einen erwünscht anstössigen Informationsfluss von
der Forschung in die Praxis und Bildungsverwaltung. Forschung kann hel-
fen, Sachen zu klären und zu verstehen, und wenn Forschung sich dann
noch so mutig exponiert wie im Referat von Herrn Professor Neuenschwan-
der, und sie es wagt, handlungsleitende Empfehlungen abzugeben, dann ist
sie hoch willkommen. Ich gebe den Forschenden aber kritisch zu Bedenken,
dass eine Vervielfachung des immer gleichen analytischen Wissens nicht nö-
tig ist. Wir Schulpraktiker und Schulverwalter wissen, dass wir im ganzen
Bildungswesen ein gerüttelt Mass an Problemen mit der Chancengerechtig-
keit haben. Diese Analyse ist gemacht, internalisiert. Das Rätsel, die Not,
die Verzweiflung liegen anderswo: Warum sind, allem didaktischen, pädago-
gischen, schulorganisatorischen Bemühen, allen Investitionen in die Res-
sourcen der Schule zum Trotz, die Fortschritte in der Chancenpolitik so
klein? Ich gebe ein selbstkritisches Beispiel: Etwa 45 % der Kinder und Ju-
gendlichen in der Volksschule des Kantons Basel-Stadt haben einen Migra-
tionshintergrund; etwa gleich viele sind fremdsprachig. Wir investieren in
Basel auf allen Bildungsstufen – und in Zukunft schon auf der Vorschulstu-
fe – ausserordentlich viel in die Sprachförderung. Wir können zeigen, dass
die Sprachkompetenzen der jungen Menschen besser gefördert werden denn
je – und trotzdem werden ihre Bildungschancen nicht besser. So sind die
Migrantinnen und Migranten im Gymnasium mit zirka 15 % nicht nur
stark untervertreten, sondern ihr Anteil stagniert allen Anstrengungen zum
Trotz. Die Förderung wird immer besser – und trotzdem hat das nicht jene
Wirkungen, die wir erwarten. Über den Nachweis der ungleichen Chancen-
verteilung brauchen wir keine Forschung mehr, sondern über das Rätsel,
weshalb eine aktive Chancenpolitik nicht die erhofften Wirkungen hat.

1 Bei diesem Text handelt es sich um einen spontanen, in freier Rede gehaltenen, subjektiven Tagungsrückblick des
Autors, dessen Duktus die Herausgeber so belassen haben.

Signer, H. G. (2010). Kommentar zur Tagung in der Perspektive der Bildungsverwaltung. In: M. P. Neuenschwander H.-U. Grunder
(Hrsg). Schulübergang und Selektion (pp. 173–175). Chur: Rüegger.
174 Kommentar zur Tagung in der Perspektive der Bildungsverwaltung

Zu Recht ist Chancengerechtigkeit ins Zentrum der heutigen Debatte


gestellt worden. Eine kritische Bemerkung dazu sei noch erlaubt. Chancen-
politik wird oft mit offener Didaktik, mit offenen Schulorganisationsfor-
men, mit offenem Fächerkatalog, mit offenen Zeitstrukturen in Verbindung
gebracht. Bei aller Zustimmung zur offenen Didaktik: Sie kann die Chan-
cen verschlechtern. Denn eine offene Didaktik und offene Unterrichtsfor-
men, welche das Gewicht vom instruierenden Unterricht zum selbstverant-
worteten Lernen verlagern, erfordern mehr informelles Wissen und
Können. Informelles Wissen und Können werden aber in hohem Mass nicht
von der Schule selbst bereitgestellt, sondern von den Eltern, an ausserschu-
lischen Lernanlässen, vom sozialen Umfeld des jungen Menschen. Wenn die
Schule sich der modernen Didaktik öffnet und nicht gleichzeitig zeigt, wie
sie diesem Problem kompensatorisch begegnet, also wie sie – etwa mit Hil-
fe von Tagesstrukturen – selbst informelles Wissen bereitstellt, dann wird die
Schule in der Chancenpolitik in fast schon paradoxer Weise sogar noch
Rückschritte erleiden.
Ich wechsle die Rolle, werde zum Marsmenschen. Ich blicke durch ein For-
schungsprisma auf die Schullandschaft Schweiz – etwa auf den Fokus unse-
rer heutigen Tagung, auf die Nahtstelle zwischen der Sekundarstufe I und
der Sekundarstufe II. Der Marsmensch meint: Diese babylonische Verwir-
rung von kommunalen und kantonalen Konzepten, Strukturen und Experi-
menten jeglicher Art ist zum Erbarmen! Basteleien an allen Ecken und En-
den! Das Mäandrieren ist die einzige Konstante in der hohen Politik, so sie
denn überhaupt eine Politik formuliert. Denn die nationale Politik, deren
vornehmste Aufgabe darin bestünde, einen pädagogisch begründeten und
mehrheitsfähigen Rahmen vorzugeben, drückt sich wie etwa im HarmoS-
Konkordat der EDK um die heissen Fragen wie jene der Sprachenpolitik,
der Gliederung auf der Sekundarstufe I oder der Länge des Gymnasiums. Je
tiefer aber die Systemebene, desto besser wird die Praxis: Auf der Ebene vie-
ler Schulen wird konzeptionell und praktisch erfolgreich gearbeitet; viele
Lehrpersonen leisten in der Didaktik und in der Begleitung junger Men-
schen Hervorragendes. Chaos herrscht aber in den Struktur- und Steue-
rungsfragen – etwa im Übergang von der Volksschule zur Sekundarstufe II:
Die Unterstützungsangebote schiessen ins Kraut; alle – die Lernenden, die
Lehrenden, die Eltern, die Unterstützenden, die Steuernden – haben den
Überblick verloren. Der Ruf nach Sozialmanagern wird laut, die uns Verlo-
renen und Orientierungslosen helfen, die richtigen Menschen untereinan-
der und mit den richtigen Sachen zusammenzubringen. Jetzt gibt es zwei
Wege, um weiterzugehen. Der erste Weg heisst: Wir differenzieren weiter
Kommentar zur Tagung in der Perspektive der Bildungsverwaltung 175

aus – die Systeme selbst und die dem Systemerhalt dienenden Unterstüt-
zungssysteme – oder mit andern Worten: Wir basteln weiter und verlieren
uns im Differenzierungsdickicht der Moderne. Der zweite Weg lautet: Wir
kehren um und integrieren das System selbst wie auch die Unterstützungs-
systeme. Nehmen wir als Beispiel die Sekundarstufe I. Ihre dreigliedrige, se-
lektive Struktur bildet die dreigliedrige Gesellschaft der 19. Jahrhunderts ab.
Heute wollen wir es mit Hilfe von unterstützenden, also differenzierenden
Förderstrukturen weiterentwickeln. Die Ergebnisse stimmen wenig zuver-
sichtlich. Weder werden die Leistungen besser noch wächst die Zufrieden-
heit. Besser wäre: Die EDK verpflichtet jeden Kanton, Erfahrungen zu sam-
meln mit dem Unvorstellbaren: mit einem integrativen Modell auf der
Sekundarstufe I, das die Energie nicht von den Strukturen absorbieren lässt,
sondern sie direkt in die Pädagogik, Didaktik und Schulorganisation flies-
sen lässt. Nehmen wir als zweites Beispiel den Übergang in die Sekundarstu-
fe II. Auch dieser Übergang ist deshalb so schwer, weil wir das Einfachste
übersehen. Das Schulobligatorium umfasst wie im 19. Jahrhundert nur die
Volksschule, obwohl wir alle wissen, dass sich auf einen Volksschulabschluss
kaum mehr eine Existenz abstützen lässt. Ohne einen qualifizierenden Ab-
schluss auf der Sekundarstufe II geht es nicht mehr. Heute investieren wir
viel Mühsal und viel Geld, um junge Menschen zu einer Ausbildung auf der
Sekundarstufe II zu verführen – auch jene, die nicht dürfen oder die nicht
wollen. Besser wäre es zu sagen: Man muss! Das Obligatorium wird auf die
Sekundarstufe II ausgeweitet. Das wäre ein klarer Verpflichtungsrahmen für
die jungen Menschen, den Staat sowie – für die dualen Ausbildungen – das
Gewerbe und die Wirtschaft. Er würde das implizit Selbstverständliche ex-
plizit machen. Und er würde sinnlose Widerstände in sich zusammenfallen,
ausufernde Unterstützungsmassnahmen obsolet werden lassen und energie-
verzehrende Reibungsverluste eliminieren.
Es gilt auch in der Schule: Mitunter ist es gut, das Gegenteil zu denken von
dem, was man schon immer gedacht oder getan hat.
Ich danke Ihnen.
177

Autorinnen und Autoren

Becker, Rolf, Prof. Dr., Jg. 1960, Professor für Bildungssoziologie, Institut für Erziehungs-
wissenschaft, Universität Bern, Muesmattstrasse 27, 3012 Bern
rolf.becker@edu.unibe.ch
Ditton, Hartmut, Prof. Dr., Jg. 1956, Professor für Allgemeine Pädagogik, Institut für Päda-
gogik, Ludwig-Maximilians-Universität München, Leopoldstr. 13, 80802 München
riedel@edu.lmu.de.
Hirschi, Andreas, Prof. Dr., Jg. 1976, Juniorprofessur Karriereforschung, Leuphana Univer-
sität Lüneburg, Wilschenbrucher Weg 84, 21335 Lüneburg
andreas.hirschi@leuphana.de
Gerber-Schenk, Michelle, lic. phil. Psychologin, Jg. 1981, Pädagogische Hochschule der
Fachhochschule Nordwestschweiz, Obere Sternengasse, 7, 4502 Solothurn
michelle.gerber@fhnw.ch
Gomolla, Mechtild, Prof. Dr., Jg. 1962, Professorin für Erziehungswissenschaft, insbesonde-
re interkulturelle und vergleichende Bildungsforschung, Helmut Schmidt-Universität / Uni-
versität der Bundeswehr Hamburg, Holstenhofweg 85, 22043 Hamburg
gomolla@hsu-hh.de
Grunder, Hans-Ulrich, Prof. Dr. phil. I habil., Jg. 1954, Professor für Schulpädagogik und
Leiter des «Zentrums Schule als öffentlicher Erziehungsraum», Pädagogische Hochschule der
Fachhochschule Nordwestschweiz, Obere Sternengasse 7, 4502 Solothurn
hansulrich.grunder@fhnw.ch
Häfeli, Kurt, Prof. Dr., Jg. 1950, Leiter Forschung & Entwicklung, Interkantonale Hoch-
schule für Heilpädagogik, Schaffhauserstr. 239, Postfach 5850, 8050 Zürich
kurt.haefeli@hfh.ch
Krüsken, Jan, Dr. phil., Jg. 1966, wiss. Mitarbeiter, Institut für Pädagogik, Ludwig-Maximi-
lians-Universität München, Leopoldstr. 13, 80802 München (bis 31. 3. 2010)
kruesken@edu.uni-muenchen.de
Kuhnke, Ralf, Jg. 1952, Dipl. Psychologe, Deutsches Jugendinstitut München/Halle, For-
schungsschwerpunkt «Übergänge im Jugendalter», Außenstelle Halle, Franckeplatz 1, Haus
12/13, 06110 Halle
kuhnke@dji.de
Neuenschwander, Markus P., Prof. Dr. habil., Jg. 1966, Professor für Pädagogische Psycho-
logie, Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz, Obere Sternengasse 7,
5402 Solothurn
markus.neuenschwander@fhnw.ch
Rottermann, Benno, lic. phil. Psychologe, Jg. 1976, Pädagogische Hochschule der Fachhoch-
schule Nordwestschweiz, Obere Sternengasse, 7, 4502 Solothurn
benno.rottermann@fhnw.ch
178 Autorinnen und Autoren

Schellenberg, Claudia, Dr. phil., Jg. 1975, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Departement


Weiterbildung, Forschung und Dienstleistungen der Hochschule für Heilpädagogik, Schaff-
hauserstrasse 239, 8050 Zürich
claudia.schellenberg@hfh.ch
Signer, Hans Georg, Jg. 1951, Leiter Bereich Bildung, Erziehungsdepartement Basel-Stadt,
Leimenstrasse 1, 4051 Basel
hansgeorg.signer@bs.ch
Skrobanek, Jan, Prof. Dr., Jg. 1969, Assistenzprofessor für Jugendforschung, Soziologisches
Institut, Universität Zürich, Andreasstrasse 15, 8050 Zürich
skrobanek@soziologie.uzh.ch
Weingardt, Martin, Dr. rer. soc., Jg. 1961, Professor für Erziehungswissenschaft, Leiter der
Abt. Schulpädagogik; Pädagogische Hochschule Ludwigsburg, Institut für Erziehungswis-
senschaft, Reuteallee 46, 71634 Ludwigsburg
weingardt@ph-ludwigsburg.de

View publication stats

Das könnte Ihnen auch gefallen