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Gnade als sich fortsetzende Schöpfung: Irenäus von Lyon

Matyáš Havrda

Irenäus von Lyon (etwa 125-202 nach Chr.) wird manchmal als erster systematischer Theologe der
christlichen Tradition bezeichnet. 1 Wie der Titel seines Hauptwerkes „Überführung und
Widerlegung der zu Unrecht so genannten Erkenntnis“ oder „Gegen die Häresien“ (Adversus
haereses), verrät, ist der Kontext des „systematischen“ Entwurfs des Irenäus ein polemischer. 2 Das
erste Buch ist zum größten Teil ein Überblick über die Denkrichtungen, die Irenäus für „häretische“
Desinterpretationen der Schrift und der apostolischen Tradition hält. In den weiteren Büchern
versucht er dann ausgewählte Schlüsselmotive dieser Lehren argumentativ in Zweifel zu ziehen und
alternative Lösungen zu den Problemen anzubieten, die die Formulierung dieser Lehren veranlasst
hatten. Die Polemik des Irenäus hat dabei zwei Hauptziele: die gnostische Theologie (vor allem die
Auslegung dessen, wie das alttestamentliche Zeugnis von Gott und die Art, auf die sich Gott nach
dem christlichen Glauben im Sohn offenbart, miteinander verbunden sind) und die gnostische
Anthropologie (hier vor allem ihre Konsequenzen für die Auslegung der menschlichen Freiheit und
Verantwortung für das Heil). Kern der Antwort Irenäus` und Rückgrat eines „Systems“ ist ein
Konzept der biblischen Geschichte als Heilsgeschichte, die im Kommen des Sohnes ihren
Höhepunkt erreicht und in der Kirche fortgesetzt wird, und eine Auffassung vom Menschen als
freies Wesen, das in dieser Geschichte eine entscheidende Rolle spielt. Dieses Rahmenmodell
bestimmt auch die Art und Weise, in der Irenäus über die göttliche Gnade nachdenkt.

1 Vgl. A. Faivre, „Irénée premier théologien systématique?“, Revue des sciences religieuses 66, 1991, S. 11-32.
2 Vgl. insb. N. Brox, Irenäus von Lyon, Salzburg/München 1966; J. Fantino, La théologie d'Irénée : lecture des
Écritures en réponse à l'exégèse gnostique : une approche trinitaire, Paris : Éd. du Cerf, 1994. Die Abhandlung
Gegen die Häresien wurde in der Zeit des römischen Episkopats des Eleutherus (etwa 175-189) verfasst; die
ursprünglich auf Griechisch verfasste Schrift ist in einer lateinischen Übersetzung aus dem 4. Jahrhundert erhalten
geblieben; auf Griechisch sind nur Passagen erhalten, die in den Werken späterer Autoren zitiert werden. Einige
Motive dieses Werkes fasst die (wohl spätere) Schrift Beweis des apostolischen Glaubens (im Weiteren Demonst.)
des Irenäus zusammen und entfaltet sie. Erhalten ist diese in einer syrischen Übersetzung (eine lateinische
Retroversion und eine französische Übersetzung stammen von A. Rousseau, Irénée de Lyon, Démonstration de la
prédication apostolique, SC 406, Paris 1995).
[1]
1. Gott als guter Geber und gerechter Richter

Im dritten Buch Gegen die Häresien berichtet Irenäus von gewissen „Heiden“, die Gottes
Vorsehung anerkennen, welche dem Menschen das Heil bringt, aber meinen, dass der gute (bonus)
Gott nicht zugleich ein Richter (iudicialis) sein kann, der den Menschen straft. 3 Die gleiche
Meinung wie diese Heiden vertritt laut Irenäus auch Marcion, der Gott in zwei Götter unterteilt und
einen „guten“ Gott und einen „Richter-Gott“ unterscheidet. 4 Aus den Nachrichten über Marcions
Lehre, die Irenäus im ersten Buch gibt, ist deutlich, dass Marcion mit dem „Richter“ den Gott im
Sinn hat, von dem das jüdische Gesetz und die Propheten reden und den er den „Schöpfer“ und
„Herrscher der Welt“ (κοσμοκράτωρ) nennt. Der gute Gott ist dann der Vater Jesu, der seinen Sohn
ausgesandt hat, das Gesetz und die Propheten „aufzuheben“ (dissoluentem) und mit ihnen auch alle
Werke des Schöpfers. 5
Laut Irenäus macht diese Unterscheidung jedoch nicht viel Sinn: wenn Gott richten würde,
doch nicht gut wäre, so würde er denen nicht vergeben, denen vergeben werden sollte, und würde
diejenigen nicht strafen, die gestraft werden sollten; er wäre also weder ein gerechter noch ein
weiser Richter. Wenn er andererseits gut wäre, aber diejenigen, auf die seine Güte gerichtet ist,
nicht beurteilen würde, so wäre er auch in diesem Fall weder gerecht noch weise, denn Weisheit
zeichnet sich durch ein gerechtes Urteil aus. Zudem würde der Umstand, dass er nicht alle
Menschen errettet, als Schwäche seiner Güte erscheinen. 6 Gott ist aber nach Irenäus` Ansicht
weiser und gerechter Richter und auch guter, barmherziger Retter, der diejenigen rettet, die er retten
soll, und diejenigen richtet, die das Gericht verdienen. 7 Laut Irenäus gibt Gott allen Menschen den
gleichen Anteil an seiner Güte (vgl. Mt 5,45), richtet sie jedoch je nach dem, ob sie auf eine Weise
leben, die seiner Gabe würdig ist. 8
Was ist diese „Gabe“, in der Gottes Güte zum Ausdruck kommt und die zugleich einen
Anspruch an den Menschen stellt, der dem Gericht Gottes unterliegt? Laut Irenäus besteht die Gabe
darin, dass der Mensch lebt. Im zweiten Buch Gegen die Häresien, im Rahmen der Polemik gegen

3 Adv. haer. III,25,2 (SC 211: 480,14-17).


4 Adv. haer. III,25,3 (SC 211: 482,26-28). (Adv. haer. I,27,2/SC 264: 350,9-19).
5 Zum Kontext des Referats des Irenäus vgl. W. A. Löhr, „Did Marcion Distinguish Between a Just a and a Good
God?“, in: G. May – K. Greschat [eds.], Marcion und seine kirchengeschichtliche Wirkung, Berlin/New York : de
Gruyter, 2002, S.131-146, besonders S.136-137. Zu Marcion allgemein vgl. S. Moll, The Arch-Heretic Marcion,
WUNT 250, Tübingen 2010, wo ältere Literatur aufgeführt wird.
6 Adv. haer. III,25,2 (SC 211: 480,19-25).
7 Adv. haer. III,25,3 (SC 211: 482,39-41).
8 Adv. haer. III,25,4 (SC 211: 484,46-52). Zu Irenäus` Auffassung der Vorhersehung vgl. S.-P. Bergjan, Der
fürsorgende Gott. Der Begriff der Pronoia Gottes in der apologetischen Literatur der Alten Kirche, Berlin/ New
York: De Gruyter 2002, S. 109-122.
[2]
die Lehre von der Reinkarnation, lehnt Irenäus die Vorstellung ab, dass die Seele der Anfang des
Lebens sei. Die Seele ist nach Irenäus` Ansicht Werk des Willens Gottes, das in der Zeit entsteht
und solange andauert, wie Gott will.9 Der Anfang des Lebens der Seele liegt nicht in ihrer Natur,
sondern im Willen ihres Schöpfers. Irenäus schreibt deshalb, dass das „Leben nicht aus uns oder
unserer Natur kommt (ex nostra natura), sondern gemäß der Gnade Gottes gegeben wird
(secundum gratiam Dei datur).“ 10 Aufgabe des Menschen ist es sodann, diese Gabe zu bewahren
und für sie zu danken. Derjenige, der dieser Aufgabe gerecht wird (das heißt das Leben erhält und
dafür dankt), wird laut Irenäus in Ewigkeit erhalten; der jedoch, der das Leben missachtet, geht
zugrunde. 11
Schlüssel zu Irenäus` Verständnis dessen, was es bedeutet „das Leben zu erhalten“, ist ein
Satz, dem zufolge das Leben Geschenk ist, an dem die Seele solange partizipiert, solange Gott
will. 12 Der Erhalt des Lebens (d.h. die Partizipation am Leben) hängt also vom Willen Gottes ab
und „das Leben zu erhalten“ bedeutet am ehesten, die Bedingungen zu erfüllen, unter denen Gott
selbst die Seele am Leben erhalten will. Diese Bedingungen teilt Gott dem Menschen in der
Heilsgeschichte mit, und zwar in den Geboten des Alten und des Neuen Testaments. Als
Bedingungen des Lebens sind diese Gebote in beiden Fällen Ausdruck der Güte Gottes; das Maß, in
dem sie der Mensch erfüllt, unterliegt jedoch dem gerechten Gericht.

2. Gott schöpft für den Menschen

Gottes Güte zeigt sich laut Irenäus bereits in der Schöpfung des Menschen, ja in der Schöpfung als
solcher, denn „alle [geschaffenen] Dinge sind zum Vorteil des zum Heil ausgerichteten Menschen
entstanden“. 13 Im vierten Buch Gegen die Häresien lehnt Irenäus die Vorstellung ab, dass Gott den
Menschen deshalb geschaffen habe, damit ihm der Mensch diene oder ihn verherrliche. Gott ist laut
Irenäus von Anfang an vollkommen (ab initio perfectus) und handelt mit dem Menschen, so wie er
handelt, nicht aus seinem Bedürfnis heraus, sondern weil er gut ist. 14 Zudem wurde der Vater, noch
bevor der Mensch und die ganze Schöpfung entstand, von seinem Wort verherrlicht und das Wort

9 Adv. haer. II,34,2-3 (SC 294: 356,30-358,45); vgl. ein ähnliches Motiv bei Platon, Timaios 41a7-b6.
10 Adv. haer. II,34,3 (SC 294: 358,52-54). Vgl. Justin, Dial. Tryph. 6,1; D. Wyrwa, „Seelenverständnis bei Irenäus von
Lyon”, in: Ψυχή – Seele – anima, Festschrift für Karin Alt zum 7. Mai 1998, hrsg. von Jens Holzhausen. Stuttgart:
Teubner, 1998, S. 308-309. Zu Irenäus` Kritik der Lehre von der Reinkarnation vgl. ebenda S. 313-317.
11 Adv. haer. II,34,3 (SC 294: 358,54-59).
12 Adv. haer. II,34,4 (SC 294: 360,68-69, Vgl. 74-77).
13 Adv. haer. V,29,1/SC 153: 363,3-4; vgl. M. C Steenberg, Irenaeus on Creation. The Cosmic Christ and the Saga of
Redemption, Leiden/Boston: Brill, 2008, S. 145-150. Zum Anthropozentrismus des Irenäus vgl. auch W. Overbeck,
Menschwerdung: eine Untersuchung zur literarischen und theologischen Einheit des fünften Buches « Adversus
haereses » des Irenäus von Lyon. Bern, Frankfurt am Main: Lang, 1995, S. 435-438.
14 Vgl. Adv. haer. IV,13,4 (SC 100: 536,104-108), im Zusammenhang mit Abraham.
[3]
selbst vom Vater (vgl. Joh 17,5). 15 Um verherrlicht zu werden, braucht Gott den Menschen also
nicht. Gott hat den Menschen nur geschaffen, meint Irenäus, „um jemandem seine Wohltat erweisen
zu können“ (ut haberet in quem collocaret sua beneficia). 16 Wenn Gott den Menschen anweist, ihm
zu dienen, so tut er dies nur, weil Gott zu dienen und ihm nachzufolgen, denen nutzt, die dies tun:
es gewährt ihnen nämlich Leben, Unvergänglichkeit und ewigen Ruhm. Irenäus sagt sogar, dass
Gott dem Menschen gerade eine Wohltat erweist, indem (ob id quod) der Mensch ihm dient und
ihm nachfolgt. Indem der Mensch Gott nachfolgt, wird er nämlich durch Gott verherrlicht (anders
gesagt: er partizipiert an der Herrlichkeit Gottes), beständiger Dienst Gottes ist die Herrlichkeit des
Menschen. 17

3. Die Freiheit und das Versagen des ersten Menschen

Zu den Schöpfungsgaben gehört jedoch auch die Freiheit des Menschen, das abzulehnen, was Gott
will. In der Polemik gegen die gnostische Vorstellung, dass Gott manche Menschen von Natur aus
böse geschaffen hat und andere von Natur aus gut, 18 belegt Irenäus aus der Schrift, dass „Gott den
Menschen frei (liberum) geschaffen hat, von Anfang an begabt mit besonderer Macht (potestatem),
genau wie mit eigener Seele, damit er sich freiwillig (voluntarie) dem Willen Gottes unterordnet
und nicht, weil Gott ihn dazu zwingen würde.“ 19 Zu Gott gehört nämlich der gute Wille (ἀγαθὴ
γνώμη) und nicht die Gewalt (βία). 20 Genau wie den Engeln, die zugleich verständige Wesen
(rationabiles) sind, hat Gott dem Menschen nicht nur seinen „guten Willen“ oder „Rat“ gegeben,
sondern auch die Möglichkeit der Wahl (potestatem electionis). 21 Zugleich hat er dem Menschen

15 Adv. haer. IV,14,1 (SC 100: 538,3-8). Vgl. Irenäus, Demonst. 10; T. Scherrer, La gloire de Dieu dans l'œuvre de
saint Irénée, Rom: Pontificia Università Gregoriana, 1997, S. 21-24.
16 Adv. haer. IV,14,1 (SC 100: 538,1-3)
17 Adv. haer. IV,14,1 (SC 100: 539,14-541,30); vgl. ebenda SC 542,1. Zur Partizipation an der Herrlichkeit Gottes als
Motiv der Schöpfung des Menschen vgl. Y. de Andia, Homo vivens. Incorruptibilité et divination de l'homme chez
Irénée de Lyon, Paris 1986, S.53-54, 135, 344. Eine detaillierte Auslegung von Adv. haer. IV,14,1 gibt T. Scherrer,
La gloire de Dieu, S.54-58, 87-88 und besonders 222-228.
18 Adv. haer. IV,37,2 (SC 100: 923,32-34). Wenn Gott einige Menschen von Natur aus böse geschaffen hätte und
andere von Natur aus gut, wendet Irenäus ein, so wäre es nicht möglich, die einen zu tadeln und die anderen zu
loben; vgl. W. A. Löhr, „Gnostic determinism reconsidered,“ Vigiliae Christianae 46, 1992, S. 381-390, der auf
Parallelen zu diesen Argumenten in der griechischen philosophischen Kritik des Determinismus aufmerksam macht.
Vgl. auch D. Wyrwa, „Seelenverständnis bei Irenäus von Lyon“, in: Ψυχή – Seele – anima, S. 330-332.
19 Adv. haer. IV,37,1 (SC 100: 918,3-5). Irenäus nennt dieses Prinzip das „vergangene Gesetz der Freiheit des
Menschen“ (vetus lex libertatis hominis): Adv. haer. IV,37,1 (SC 100: 918,2); vgl. ebenda 39,4 (971,69). Vgl. den
Begriff des „Gesetzes der Freiheit“ (ὁ νόμος τῆς ἐλευθερίας) im Jakobusbrief (Jak 1,25; 2,12); vgl. R. Noormann,
Irenäus als Paulusinterpret: zur Rezeption und Wirkung der paulinischen und deuteropaulinischen Briefe im Werk
der Irenäus von Lyon, WUNT N.F. 2, 66, Tübingen: Mohr, 1994, S.416.
20 Adv. haer. IV,37,1 (SC 100: 921,6-7). Vgl. auch IV,37,3/Fr. gr. 21 (SC 100: 928,17-19); 39,3 (969,65-971,67);
V,1,1 (SC 153: 18,27-20,31). Vgl. Epistula ad Diognetum 7,4 (SC 33: 68,14); A. Orbe, Antropología de San Ireneo,
Madrid 1969, S.184-186.
21 Adv. haer. IV,37,1 (SC 100: 920,8-10).
[4]
eine gewisse Grenze gesetzt und ihm offenbart, dass er „falls er seine Gebote hält, immer so bleibt,
wie er ist, d.h. unsterblich, wenn er sie aber nicht hält, sterblich wird.“ 22 Paradoxerweise „unter dem
Vorwand der Unsterblichkeit“ (sub occasione immortalitatis) lässt sich der Mensch vom Teufel
(einem gefallenen Engel) dazu verführen, gegen das Verbot Gottes vom Baum der Erkenntnis von
Gut und Böse zu essen (Gen 2,16-17). 23 In der Folge dieses Ungehorsams wurde der Mensch laut
Irenäus „aus der Unsterblichkeit verstoßen“ (proiectus de immortalitate) 24 und die Menschen
wurden zu „Schuldnern des Todes“ (debitores mortis). 25
Der Grund, warum Gott den Menschen aus dem Garten Eden vertrieben und ihn weit
entfernt vom „Baum des Lebens“ hingestellt hat, ist jedoch nicht Gottes Eifersucht, urteilt Irenäus,
sondern barmherzige Sorge darum, „dass der Mensch nicht für immer Sünder bleiben möge, dass
die Sünde, die er begangen hat, nicht unsterblich sein möge und das Böse nicht unendlich und
unheilbar.“ 26 Gott führt den Tod laut Irenäus als Grenze der Sündhaftigkeit ein und zugleich als
Möglichkeit für den Menschen, der Sünde zu sterben und anzufangen Gott zu leben (vgl. Röm
6,2.10). 27

Die Folgen der Verfehlung Adams trägt dann auch sein Geschlecht: „Mit unserer ersten (d.h. leiblichen) Geburt haben
wir das Erbe des Todes angenommen,“ sagt Irenäus. 28 Er spricht sogar von einer „Zeit des Fluches“ (tempus
condemationis), bewirkt durch den menschlichen Ungehorsam, die sich erst mit der Auferstehung aller Menschen, die
sich „im Leben“, d.h. in Christus finden werden, erfüllen wird. 29 Dieser Fluch bezieht sich jedoch offenbar nicht direkt
auf den Menschen, sondern auf den Teufel, durch dessen „Schlangenbiss“ der Mensch sein Leben verloren hat 30 und zu
dessen „Söhnen“ die Menschen werden, sofern sie nicht an Gott glauben und seinen Willen nicht tun. 31 Die Beziehung
zwischen der Verfehlung des ersten Menschen und dem Erbe, das seine Nachkommen belastet, stellt Irenäus jedoch
nicht ganz klar. Einige Formulierungen erwecken den Anschein, als sei jenes Erbe diese Verfehlung selbst: solange
Christus als zweiter Adam durch seinen Gehorsam zum Tode nicht den Ungehorsam des ersten Adam geheilt hat (vgl.
Phil 2,8; Röm 5,12.19) – so Irenäus – waren wir Schuldner (ὀφειλέται) desjenigen, „dessen Gebot wir zu Beginn
übertreten haben“. 32

22 Irenäus, Demonstratio 15 (SC 406: 104; nach der lateinischen Retroversion).


23 Adv. haer. III,25,5 (SC 211: 456,101-102); V,23,1 (SC 153: 287,1-290,26). Vgl. auch Adv. haer. IV,40,3 (979,45-
981,48). Zum Motiv des Teufels als Verführer bei Irenäus vgl. M. C. Steenberg, Irenaeus, S.169-176.
24 Adv. haer. III,20,2 (SC 211: 390,58).
25 Vgl. Adv. haer. V,23,1 (SC 153: 290,28-31).
26 Adv. haer. III,23,6 (SC 211: 460,135-462,140). Eine ähnliche Auslegung findet sich bei Theophilus von Antiochien,
Ad Autol. II,26.
27 Adv. haer. III,23,6 (SC 211: 462,140-144). Zu Irenäus Interpretation von Röm 6,2.10 vgl. R. Noormann, Irenäus als
Paulusinterpret, S.164-166, 433-434. Zu Irenäus Verständnis des Todes im Kontext der frühchristlichen Literatur
vgl. A. Orbe, Antropología, S.395-480.
28 Adv. haer. V,1,3 (SC 153: 26,69-70): ...per priorem generationem mortem hereditavimus...
29 Adv. haer. III,19,3 (SC 211: 380,73-382,76); Vgl. Phil 3,9.
30 Adv. haer. III,23,3 (SC 211: 450,56-452,68); IV,40,3, Fr. gr. 28 (SC 100: 980,7-982,15). Zum Motiv des
„Schlangenbisses“ vgl. auch Adv. haer. III,23,7 (SC 462,148); IV,2,7 (SC 412,110).
31 Adv. haer. IV,41,2 (SC 100: 986,28-30); vgl. Mt 13,38; genauer unten, Anm. 90.
32 Adv. haer. V,16,3 (SC 153: 219,42-221,49). Vgl. III,21,10 (426,216-428,220); Demonst. 31, 37. Zu Irenäus`
Verständnis der Verfehlung Adams und seinen Folgen für das menschliche Geschlecht vgl. insbesondere A. Orbe,
Antropología, S.253-395; M. Hauke, Heilsverlust in Adam. Stationen griechischer Erbsündenlehre: Irenäus,
[5]
4. Der Heilsplan

Gott hat somit laut Irenäus zugelassen, dass der Mensch vom Bösen verschlungen wird so wie
Jonas vom „Walfisch“. Von Anfang an hat er jedoch den Sieg vorhergesehen (praeuidens), den das
Wort am Kreuz für den Menschen erkämpft. Gott hat zwar das Böse zugelassen, nicht jedoch den
Untergang des Menschen, glaubt Irenäus. 33 Grund für diese göttliche „Geduld“ ist nach Ansicht des
Bischofs von Lyon vor allem, dass der Mensch aus seinem Abfallen eine Lehre ziehen und lernen
möge, Gott als verständiges Wesen zu lieben (rationabiliter edocti diligere Deum), d.h. aufgrund
einer Wahl. 34
Das Versagen der ersten Menschen fügt Irenäus in den Rahmen der „Heilsgeschichte“ ein,
die die gesamte Menschheit umfasst. 35 Indem der Mensch von Gott abgefallen ist, ist er laut Irenäus
„verwildert“ (efferavit). Gott hat deshalb den Menschen die Menschenfurcht aufgebürdet (imposuit
...humanum timorem), damit sie sich der menschlichen Macht und dem menschlichen Gesetz
unterordnen und so wenigstens in gewissem Maße zur Gerechtigkeit gelangen. Zum Nutzen der
Völker (ad utilitatem gentilium) wurde so das irdische Königreich eingesetzt, „damit sich die
Menschen nicht gegenseitig auffressen wie Fische“. 36 Für diejenigen, an denen Gott Gefallen
gefunden hat (qui ei complacebant), d.h. für sein erwähltes Volk, hat er dann „als Architekt einen
Heilsplan entworfen“ (fabricationem salutis ut architectus delinians). 37 Den Nicht-Sehenden in
Ägypten bot er seine Führung, denen, die in der Wüste in Verwirrung gerieten, gab er ein nützliches

Origenes, Kappadozier, Paderborn 1993, S.226-282, dessen Ansicht nach Irenäus den Anteil der Nachkommen
Adams an der „Erstlingssünde“ als „Unheilssolidarität mit Adam“ versteht (S.258, vgl. ebenda 250-252). Zum
paulinischen Hintergrund der Auslegung des Irenäus vgl. R. Noormann, Irenäus als Paulusinterpret, S.335-337,
431-439.
33 Vgl. Adv. haer. III,20,1 (SC 211: 382,1-384,20). Zu Irenäus` Verständis der Vorhersehung Gottes vgl. auch Adv.
haer. IV,29,2 (SC 100: 768,28-33); IV,38,4 (SC 100: 960,107-114); R. Noormann, Irenäus als Paulusinterpret,
S.477-483.
34 Adv. haer. IV,37,7 (SC 100: 942,166-171); Vgl. IV,37,6 (SC 100: 936,127-131). Vgl. auch III,20,1 (SC 211:
384,15ff.).
35 Irenäus` Konzeption der „Heilsgeschichte“ (mit Betonung der paulinischen Motive) legt R. Noormann, Irenäus als
Paulusinterpret, S.379-426, übersichtlich dar. In einer Monographie widmet sich dem Thema A. Bengsch,
Heilsgeschichte und Heilswissen. Eine Untersuchung zur Struktur und Entfaltung des theologischen Denkens im
Werk „Adversus haereses“ des Hl. Irenäus von Lyon, Leipzig : St. Benno-Verlag, 1957. Zur Ausbildung dieser
Konzeption im frühchristlichen Denken vgl. H. von Campenhausen, „Die Entstehung der Heilsgeschichte: Der
Aufbau des christlichen Geschichtsbildes in der Theologie des ersten und zweiten Jahrhunderts“, Saeculum 21,
1970, S.189-212 (= ders., Urchristliches und Altkirchliches, Tübingen, Mohr, 1979, S.20-62). Zur
Begriffsgeschichte von oikonomia vor Irenäus vgl. J. Fantino, La théologie d'Irénée, S.106-126. Die zuletzt
genannte Studie beschäftigt sich detailliert mit der polemischen Verbundenheit des irenäischen Verständnisses der
„Heilsökonomie“ mit Motiven der valentinianischen Theologie.
36 Adv. haer. V,24,2 (SC 153: 298,23-45).
37 Adv. haer. IV,14,2 (SC 100: 544,51-52). Zur Metapher des Architekten vgl. J. Fantino, La théologie d'Irénée, S.
116, der auf die Benutzung des Begriffes distributio (= οἰκονομία) bei Vitruvius aufmerksam macht, De arch.
I,2,1.8. Vgl. auch E. Osborn, Irenaeus of Lyons, Oxford : CUP, 2001, S.75-77, der fabricatio salutis mit “the plans
for the edifice of salvation” übersetzt (75).
[6]
Gesetz, denen, die in das Verheißene Land kamen, sicherte er ein würdiges Erbe, und denen, die
zum Vater zurückkehrten, schenkte er am Ende ein „gemästetes Kalb“ und das „beste Gewand“,
wie Irenäus in Anspielung auf Jesu Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,22-23) sagt, in dem er
wohl ein Gleichnis über Jesu Opfer und die Gabe des ewigen Lebens sieht. 38

5. Das Wort als „Verwalter der Gnade“

Der „Heilsplan“ ist in Irenäus` Auffassung zugleich ein Prozess der schrittweisen Offenbarung
Gottes. Gott ist zwar laut Irenäus „unbegreiflich“ (incapabilis, ἀχώρητος) und seine Größe und
Herrlichkeit sind „unbeschreiblich“ (inenarrabilis), doch denen, die ihn lieben (his qui se diligunt),
ermöglicht er doch, ihn zu schauen. 39 „Denn der Mensch kann Gott von sich aus nicht sehen“
schreibt Irenäus, „doch Gott kann sich den Menschen zu sehen geben, wenn er will, und zwar
denen, denen er will, wann er will und wie er will.“ 40 Irenäus unterscheidet desweiteren drei Arten,
auf die sich Gott zu erkennen gibt, wobei er von der ersten in der Vergangenheitsform redet, von
der zweiten in der Gegenwartsform und von der dritten im Futur: „Da Gott alles kann, ließ er sich
durch den Geist prophetisch schauen (per Spiritum prophetice), dann durch den Sohn auf Art der
Adoption (per Filium adoptive) und im Himmelreich wird er sich als Vater sehen lassen
(paternaliter).“ 41 Diese drei Arten kennzeichnen drei Etappen der Heilsgeschichte, in der „der Geist
den Menschen auf den Sohn Gottes vorbereitet, der Sohn zum Vater führt und der Vater ihm
Unsterblichkeit und ewiges Leben gibt, das die, die ihn anschauen, durch diese Sicht erlangen“ 42
Sohn und Geist sind freilich laut Irenäus Mittel der göttlichen Offenbarung von Anfang an:
das Wort, d.h. der Sohn, und die Weisheit, d.h. der Geist, waren bereits vor der Schöpfung der Welt
beim Vater. 43 Die Propheten haben nach Überzeugung des Irenäus die „Prophetengabe“
(propheticum charisma) vom Wort selbst empfangen. 44 In verschiedenen prophetischen Visionen
hat das Wort die Herrlichkeit des Vaters offenbart, „so wie er selbst es wollte und zum Nutzen der

38 Vgl. Adv. haer. IV,14,2 (SC 100: 544,51-57); vgl. SC 100/I, Notes, S.234-235.
39 Adv. haer. IV,20,5 (SC 100: 638,102-106).
40 Adv. haer. IV,20,5 (SC 100: 638,108-111). Vgl. N. Brox, Irenäus, S.180-189, der in diesem Motiv einen
polemischen (antignostischen) Stachel entdeckt.
41 Adv. haer. IV,20,5 (SC 100: 638,111-114).
42 Adv. haer. IV,20,5 (SC 100: 638,114-640,117); zum Bild der Trinität in dieser Passage vgl. Y. de Andia, Homo
vivens, S. 141-143, 323; B. Sesboüé, Tout récapituler dans le Christ: christologie et sotériologie d'Irénée de Lyon,
Paris : Desclée, 2000, 192-194. Im Hintergrund des trinitarischen Schemas Irenäus` steht anscheinend 1Kor 12,4-7
(vgl. Adv. haer. IV,20,6/SC 100: 644 , 151-156); vgl. R. Noormann, Irenäus als Paulusinterpret, S.205-208. Zum
Begriff der „Adoption“ in Irenäus` Denken vgl. Y. de Andia, Homo vivens, S.176-177; R. Noormann, Irenäus als
Paulusinterpret, S.117-118, 148-150, 156-158, 484 und Anm. 89, S.487-492.
43 Vgl. Adv. haer. IV,20,3 (SC 100: 632,53-54). Vgl. T. Scherrer, La gloire de Dieu, S.18-20; B. Sesboüé, Tout
récapituler dans le Christ, S.197-199.
44 Adv. haer. IV,20,4 (SC 100: 634,80-82).
[7]
Schauenden“, womit es zugleich „seine Anordnungen ausgelegt hat“ (dispositiones exponebat). 45
Irenäus nennt das Wort deshalb „Verwalter der Gnade des Vaters“ (dispensator paternae gratiae),
die „dem Menschen Gott zeigt und Gott den Menschen vorstellt, wobei es die Unsichtbarkeit des
Vaters bewahrt, damit der Mensch niemals anfängt, Gott zu verachten und immer etwas hat, zu dem
er aufsteigen kann“, doch andererseits stellt er Gott den Menschen „durch viele Anordnungen“ (per
multas dispositiones) in einer für die Menschen sichtbaren Form vor, „damit der Mensch Gott nicht
ganz verliert und nicht aufhört zu existieren“. 46

6. Fleischwerdung als Offenbarung des Bildes

Diese vermittelnde Rolle des Wortes erreicht sodann im Geschehen der Fleischwerdung ihren
Höhepunkt, bei der das Wort Mensch geworden ist, damit – wie Irenäus schreibt – „es Ende und
Anfang, nämlich den Menschen mit Gott, verbindet“. 47 Irenäus bedenkt dieses Geschehen auf dem
Hintergrund von Gen 1,26, wonach der erste Mensch zum „Bilde und zur Ähnlichkeit“ des Wortes
geschaffen wurde. Indem das Wort Fleisch wurde, ist es dem Menschen ähnlich geworden, meint
Irenäus. 48 Dadurch zeigte sich dem Menschen jedoch zugleich das wahre Bild dessen, nach dem der
Mensch ursprünglich geschaffen wurde: Der erste Mensch ward nämlich geschaffen nach dem Bild
des Wortes, doch dieses Wort war bislang nicht sichtbar (ἔτι ἀόρατος ἦν) und deshalb „verwirft“
der Mensch, wie Irenäus folgert, „leicht seine Ähnlichkeit“ (τὴν ὁμοίωσιν ῥᾳδίως ἀπέβαλεν). 49 Erst
als das Wort selbst zu dem geworden ist, was ursprünglich sein Bild war (αὐτὸς τοῦτο γενόμενος
ὅπερ ἦν ἡ εἰκὼν αὐτοῦ), d.h. zum Menschen, zeigte es dem Menschen dieses Bild wahrheitsgetreu
(τὴν εἰκόνα ἔδειξεν ἀληθῶς). Auf diese Weise hat das Wort „sicher festlegt, worin die Ähnlichkeit
mit Gott besteht“ (τὴν ὁμοίωσιν βεβαίως κατέστησε) und „den Menschen mittels des sichtbaren
Wortes dem unsichtbaren Vater ähnlich gemacht“. 50

45 Adv. haer. IV,20,11 (SC 100: 660,275-277).


46 Adv. haer. IV,20,7 (SC 100: 646,172-648,180); vgl. Y. de Andia, Homo vivens, S.58: „... car, sans la vision de Dieu,
l’homme peut mourir.“ Zur Rolle des Sohnes als „Verwalter der Gnade des Vaters“ vgl. ebenda S.142. Dem Motiv
der Offenbarung Gottes in der Theologie des Irenäus widmet sich in einer Monographie R. Tremblay, La
manifestation et la vision de Dieu selon saint Irénée de Lyon, Münsterische Beiträge zur Theologie 41, Münster
1978. Zum Begriff der dispositio (οἰκονομία, πραγματεία) vgl. J. Fantino, La théologie d'Irénée, S.85-106. Zur
gesamten Passage vgl. auch Orbe, A. „Gloria Dei vivens homo: análisis de Ireneo, adv. haer. IV,20.1-7“,
Gregorianum 73,1992, S.205-268.
47 Adv. haer. IV,20,4 (SC 100: 635,77-80).
48 Adv. haer. V,16,2 (SC 153: 216,21-23).
49 Adv. haer. V,16,2 (SC 153: 217,25-29).
50 Adv. haer. V,16,2 (SC 153: 217, 29-33).
[8]
7. Stärke in der Schwäche

Irenäus` Auffassung der Fleischwerdung als Angleichung Gottes an den Menschen, die es dem
Menschen ermöglicht, Gott ähnlich zu werden, drückt ein Prinzip aus, aus dem einerseits
hervorgeht, warum Jesus als Fleischwerdung Gottes zu verstehen ist, andererseits, warum geglaubt
werden muss, dass Gott in Christus den schwachen, sterblichen Leib angenommen hat. 51 Ziel des
Kommens Christi ist es, dass der Mensch das göttliche Wort annehmen und selbst von Gott als
Sohn angenommen werden möge, urteilt Irenäus. Wenn aber der Mensch Sohn Gottes werden soll,
musste zuerst der Sohn Gottes Menschensohn werden. 52 Wir können nicht Unzerstörbarkeit und
Unsterblichkeit annehmen, meint Ienäus, solange wir uns nicht mit der Unzerstörbarkeit und
Unsterblichkeit vereinigen (nisi aduniti fuissemus). Dies ist jedoch nur insoweit möglich, als
Unzerstörbarkeit und Unsterblichkeit zunächst zu dem werden, was wir sind (id quod et nos), damit
sie unsere Sterblichkeit „verschlingen“(vgl. 1 Kor 15,53 f). 53
Dieses „Verschlingen des Todes“ ist laut Irenäus Ergebnis des Kampfes, das der
fleischgewordene Gott am Kreuz errungen hat: „Auf der einen Seite war er Mensch, damit er
versucht werde, auf der anderen Seite war er das Wort, damit er verherrlicht werde. Und so wie das
Wort geschwiegen hat (ἡσυχάζοντος), als er versucht wurde, als er erniedrigt wurde, als sie ihn
kreuzigten und als er starb, so wurde der Mensch verschlungen in der Übermacht, Beständigkeit,
Barmherzigkeit, Auferstehung und Himmelfahrt [des Wortes].“ 54 In diesem Sinne wurde – so
Irenäus – „die Stärke in der Schwäche erhöht“ (perficiebatur uirtus in infirmitate), damit das Wort
„die Güte und großartige Macht Gottes zeigen möge“. 55 Dank dieses Sieges hat der Sohn von sich
aus „das Erstlingswerk der Auferstehung des Menschen“ vollbracht (primitias resurrectionis
hominis) und ist zum auferstandenen „Kopf“ geworden, nach dem auch der „Leib“, d.h. die
Menschen in Christus, auferstehen werden. 56

51 Zum polemischen Kontext der Erwägungen des Irenäus vgl. besonders Adv. haer. III,16,1; 19,1 (SC 211: 286,1-
290,33; 370,210-372,10). Vgl. auch R. Berthouzoz, Liberté et Grâce suivant la théologie d´Irénée de Lyon, Paris:
Éd. du Cerf, 1980, S.147-155.
52 Vgl. Adv. haer. III,19,1; Fr. gr. 28 (SC 211: 372,1-374,10). Zum Begriff der Adoption vgl. oben, Anm. 42
53 Adv. haer. III,19,1 (SC 211: 374,20-28).
54 Adv. haer. III,19,3 (SC 211: 378,54-58); vgl. Fr. gr. 29 (378,1-7).
55 Adv. haer. III,20,1 (SC 211: 382,3-6); vgl. 2 Kor 12,9.
56 Adv. haer. III,19,3 (SC 211: 380,73-382,76); vgl. Phil 3,9. Zur Metapher „Christi Leib“ vgl. Eph 4,16; Kol 2,19.
[9]
8. Erlösung als Rekapitulation

Entgegen die Lehre des Tatianus, nach der Adam nicht zum Heil gelangen kann, 57 belegt Irenäus,
dass Gott den Adam zwar zur Vertreibung und zu hartem Leben verurteilt, ihn jedoch nicht
verworfen hat. 58 Wenn der Mensch erlöst werden soll, meint Irenäus, muss auch Adam erlöst
werden, denn „aus ihm sind wir alle hervorgegangen“ (nos autem omnes ex ipso). 59 So wie es nicht
gerecht wäre, wenn der Sieger im Krieg nur die Nachkommen der Gefangenen befreien würde, die
schon in Gefangenschaft geboren wurden, diejenigen aber, die ursprünglich in Gefangenschaft
geraten sind, dem Feinde überlassen würde, so wäre es laut Irenäus auch nicht richtig, wenn Gott
Adams Nachkommen befreien, ihn selbst jedoch dem Tode überlassen würde. 60
Davon, dass Christi Erlösungswerk nicht nur Adams Nachkommen einschließt, sondern
auch Adam selbst, zeugen laut Irenäus, einige gegensätzlicher Analogien zwischen der Geschichte
Adams und der Geschichte Jesu: „So wie der Ungehorsam eines Menschen die Sünde in die Welt
gebracht hat und durch die Sünde den Tod, so wurde durch den Gehorsam eines Menschen
Gerechtigkeit herbeigeführt und den Menschen, die längst tot waren, die Frucht des Lebens
gebracht.“ 61 So wie das göttliche Wort Adam aus ungepflügter, bis dahin jungfräulicher Erde
geschaffen hat, so wurde das Wort aus Marie geboren, die bis dahin Jungfrau war. 62 So wie Adam
beim „Holz“ des Baumes ungehorsam war, so war Christus gehorsam am „Holz“ des Kreuzes.63
Durch seinen Tod am Kreuz, zu dem es an einem Freitag kam, also am sechsten Tag der Woche, hat
Christus dann den Tod Adams „rekapituliert“ (recapitulatus est), zu dem es nach Irenäus`
Auslegung am sechsten Tag der Schöpfung kam. Am gleichen Tag, an dem Adam wegen seines
Ungehorsams starb, starb also Christus wegen seines Gehorsams. 64 Ähnliche Analogien findet
Irenäus zwischen der Geschichte Evas und der der Jungfrau Marie. 65 Laut Irenäus bringen sie ein
Verständnis des Werkes Christi als „Rekapitulierung“ (ἀνακεφαλαίωσις; vgl. Eph 1,10) im Sinne
einer allumfassenden Wiedergutmachung zum Ausdruck, genauer gesagt die Wiedergutmachung
des ersten Versagens, in das auch alle seine Folgen eingeschlossen sind. Mit seinem Sieg am Kreuz

57 Vgl. Adv. haer. I,28,1 (SC 354,14-356,17).


58 Adv. haer. III,23,3 (SC 211: 450,56-452,68). Vgl. auch oben, Anm. 30.
59 Adv. haer. III,23,2 (SC 211: 448,33-36).
60 Adv. haer. III,23,2 (SC 211: 448,36-450,53).
61 Adv. haer. III,21,10/SC 211: 426,216-428,220; vgl. Röm 5,12.19; ähnlich Adv. haer. III,22,4 (SC 211: 442,83-84).
62 Adv. haer. III,21,10/SC 211: 428,220-228.
63 Adv. haer. V,16,3; Fr. gr. 15 (SC 153: 218,12-15); vgl. V,19,1 (SC 153: 248,3-5).
64 Adv. haer. V,23,2 (SC 153: 290,32-292,43).
65 Vgl. Adv. haer. III,22,4 (SC 211: 438,56-442,77; 442,88-444,91); V,19,1 (SC 153: 248,5-250,22); vgl. R.
Noormann, Irenäus als Paulusinterpret, 463-466; M. C., Steenberg, „The Role of Mary as Co-Recapitulator in St.
Irenaeus of Lyons,“ Vigiliae Christianae 58/2, 2004, S. 117-137.
[10]
hat der Herr laut Irenäus „in sich den ganzen Menschen von Anfang bis Ende rekapituliert“. 66

9. Dienstbarkeit und Freiheit

Mit der Fleischwerdung des Wortes beginnt also die Phase der Heilsgeschichte, in der der Sohn den
Menschen zum Vater führt. Im Vergleich mit dem Gesetz, das Gott den Israeliten erteilt hat, bringt
Christus etwas Neues, nämlich „die Lebensweise nach dem Evangelium“ (quae secundum
Evangelium conversatio). Das „Neue“ haben laut Irenäus schon die jüdischen Propheten
vorausgesagt. Sie nannten es „neues Lied“ (Ps 95,1; 97,1), „neue Hymne“ (Jes 42,10-12) oder
„neuen Bund“ (Jer 31[LXX 38], 31-32). 67 Die beiden „Bünde“ (duo testamenta), Gesetz und
Evangelium, bringen laut Irenäus ein und dasselbe Wort Gottes, d.h. Jesus Christus, der „mit
Abraham und mit Mose geredet hat“ und „uns“, d.h. den Christen, „in der Erneuerung die Freiheit
zurückgegeben hat“ (in novitate restituit libertatem), was bedeutet, dass „sich die Gnade, die von
ihm ausgeht, vermehrt hat“ (multiplicavit eam quae ab ipso est gratiam). 68
Die Frage, in welcher Hinsicht das Neue Testament an das Alte Testament anknüpft und
worin es sich von ihm unterscheidet, führt Irenäus mit Hilfe der Unterscheidung zwischen
verschiedenen Arten alttestamentlicher Gebote konkreter aus: einen besonderen Status hat der
Dekalog der göttlichen Gebote, die Irenäus „natürliche Vorschriften“ (naturalia praecepta) nennt
und deren Einhaltung heilsnotwendig ist, 69 desweiteren gibt es „dienstbare Vorschriften" (servitutis

66 Adv. haer. V,23,2 (SC 153: 290,41-292,42): recapitulans …universum hominem in se ab initio usque ad finem etc.
Zu Irenäus` Verständnis des Begriffs „Rekapitulation“ vgl. z.B. R. Noormann, Irenäus als Paulusinterpret, S.427-
466, besonders 443-449; J. Fantino, La théologie d'Irénée, S.240-264; D. Wanke, Das Kreuz Christi dei Irenäus von
Lyon, Berlin – New York: de Gruyter, 2000, S.182-185; 188-338; E. Osborn, Irenaeus, S.97-138.
67 Adv. haer. IV,9,1 (SC 100: 478,15-480,24).
68 Adv. haer. IV,9,1 (SC 100: 480,24-28). Es handelt sich um eine Exegese von Mt 13,52; vgl. D. J. Bingham,
Irenaeus' use of Matthew's gospel in Adversus Haereses, Leuven : Peeters, 1998, S.180-181. Eine andere (meiner
Ansicht nach weniger überzeugende) Auslegung dieser Passage schlägt P. Bacq, De l'ancienne à la nouvelle
Alliance selon S. Irénée. Unité du livre IV de l'Adversus haereses, Paris 1978, S.88, Anm. 2, vor, dessen Ansicht
nach „uns“ (nobis) in SC 100: 480,27 auf die Heiden verweist. Zum Verständnis des Evangeliums als „Vermehrung
der Gnade“ vgl. auch Irenäus` Exegese von Mt 12,6 in Adv. haer. IV,9,2 (SC 100: 480,29-38). In ähnlichem
Zusammenhang spricht Irenäus von der „Gnade des Neuen Testaments“ (gratia noui Testamenti); Adv. haer.
III,12,11 (SC 211: 230,403-404). Im Hintergrund dieser Formulierung steht deutlich Joh 1,17 (A. Rousseau, SC 100,
Tome I, 224); zu Adv. haer. III,12,11 vgl. B. Mutschler, Das Corpus Johanneum bei Irenäus von Lyon: Studien und
Kommentar zum dritten Buch von «Adversus haereses», Tübingen: Mohr Siebeck, 2006, S.281-285. Zu Irenäus`
Interpretation von Mt 12,6 vgl. D. J. Bingham, Irenaeus' use of Matthew's gospel, S.181-186. Zu Irenäus`
Auslegung der Freiheit vom Gesetz vgl. auch S. A. Panimolle, „La libertà dalla legge mosaica nell'« Adversus
Haereses » di S. Ireneo“, Augustinianum 2002, 42/1, S.35-74.
69 Vgl. Adv. haer. IV,15,1 (SC 100: 548,3-550,11). Der Ausdruck „natürliche Vorschriften“ verweist auf die
Vorstellung, dass der Sinn des Dekalogs im menschlichen Herzen hinterlegt ist. So jedenfalls erklärt Irenäus, wie es
möglich ist, dass die jüdischen Patriarchen gottgefällig und gerecht waren, noch bevor der Dekalog in die Steintafeln
geschrieben wurde. Sie brauchten keine Schrift, die sie ermahnt, denn der „Sinn des Dekalogs“ (virtus decalogi)
oder die „Gerechtigkeit des Gesetzes“ (justitia legis), hatten sie in ihren „Herzen und Seelen“ eingeschrieben (vgl.
Adv. haer. IV,16,3 /SC 100: 564,49-566,55). Das, wozu der Dekalog auffordert und worin am ehesten jene virtus
der „natürlichen Gesetze“ besteht, ist laut Irenäus die Liebe zu Gott und die Gerechtigkeit gegenüber dem Nächsten.
[11]
praecepta), 70 und letztlich Gebote, die den Charakter von „Zeichen“ (signum) und „Prophezeiungen
zukünftiger Dinge“ (prophetia futurorum) haben. 71 Die dienstbaren Gebote und Anweisungen,
gegeben zum Zeichen zukünftiger Dinge, hat Gott laut Irenäus mit seinem Kommen ins Fleisch
aufgehoben (circum scripsit) und sie durch einen „neuen Bund der Freiheit“ (novo libertatis
testamento) ersetzt. 72 Die „natürlichen“ und „allen gemeinsamen“ (communia omnium) Gebote, d.h.
die Worte des Dekalogs, hat er dagegen nicht aufgehoben, sondern erweitert und „vermehrt“. 73
Diese Vermehrung ist Ausdruck der Freigebigkeit Gottes, denn sie ermöglicht es den Menschen,
Gottes Söhne zu werden, Gott als Vater zu erkennen, ihn von ganzem Herzen zu lieben und seinem
Wort unbeirrbar nachzufolgen. Es ist nämlich eine Vertiefung und Verinnerlichung der Ansprüche,
die der Dekalog an den Menschen stellt, ein Aufruf an die Menschen, sich „nicht nur der schlechten
Taten“ zu enthalten, sondern „dem Verlangen nach ihnen“. 74 Dies bringt laut Irenäus aber auch eine
größere Gottesfurcht mit sich, denn Söhne lieben nicht nur den Vater mehr als Sklaven, sie haben
auch größere Furcht vor ihm.75 Diejenigen, die die „Macht der Freiheit“ (libertatis potestatem)
angenommen haben, geben Gott – laut Irenäus – nicht nur über ihre Taten Rechenschaft wie die
Sklaven, sondern auch über ihre Worten und Gedanken, denn in Freiheit wird der Mensch „in
höherem Grade überprüft“ (magis probatur), ob er Gott ehrt, ihn fürchtet und ihn liebt. 76

Vgl. Adv. haer. IV,16,3 (SC 100: 564,52-53; 566,67-69); vgl. IV,13,4 (SC 100: 534,79-87). Die Basis dieser
Interpretation liegt in Mt 22,37-40; vgl. Adv. haer. IV,12,2 (SC 100: 512,25-31).
70 Adv. haer. IV,16,5 (SC 100: 570,95-96). Die dienstbaren Gebote wurden laut Irenäus wegen denen eingeführt, die
sich bereits selbst von Götzen versklaven ließen. Erst nachdem die Juden sich danach gesehnt haben, lieber Sklaven
als Freie zu sein (servi pro liberis concupiscentes esse), hat Gott das Joch der Dienstbarkeit auf sie gelegt, das dieser
Sehnsucht entspricht, damit er sie so vor dem Abfallen von Gott rettet und ihnen ermöglicht, ihn lieben zu lernen;
vgl. Adv. haer. IV,15,1 (SC 100: 550,11-16); 15,2 (SC 100: 556,60-70). Vgl. auch IV,13,4 (SC 100: 534,87-103).
Vgl. T. Scherrer, La gloire de Dieu, S.176-177).
71 Vgl. Adv. haer. IV,16,1 (SC 100: 558,1-562,28). Beispiele sind die leibliche Beschneidung oder die Heiligung des
Sabbats, wobei das Erste auf die geistliche Beschneidung hinweist (vgl. Kol 2,11) und das Zweite auf die
Verheißung des Reiches Gottes; vgl. Adv. haer. IV,16,1 (SC 100: 558,1-562,28).
72 Adv. haer. IV,16,5 (SC 100: 570,99-101). Zum Ausdruck „Bund der Freiheit“ vgl. Adv. haer. IV,33,14 (SC 100:
843,307 ); 34,3 (854,69f.); R. Noormann, Irenäus als Paulusinterpret, S.415-416.
73 Adv. haer. IV,16,5 (SC 100: 570,101-572,102); vgl. 16,4 (570,91-95). Ähnlich ebenda 13,1 (524,1-526,32); 13,3
(532,67-69); 13,4 (534,79-82).
74 Adv. haer. IV,16,5 (SC 100: 570,101-572,106). Vgl. 13,1 (526,23-24). Vgl. T. Scherrer, La gloire de Dieu, S.177-
178. Während das Alte Testament die Seelen von Sklaven durch „äußerliche, leibliche Dinge“ erzog, um sie wie in
Fesseln zum Gehorsam zu führen und sie zu lehren Gott zu gehorchen, hat das Neue Testament laut Irenäus diese
Fesseln entfernt und zwar in Folge dessen, dass das fleischgewordene Wort „die Seele befreit (liberans animam)
und uns gelehrt hat, wie durch die Seele freiwillig (voluntarie) der Leib gereinigt werden kann.“ (Adv. haer.
IV,13,2/SC 100: 528,36-38).
75 Adv. haer. IV,16,5 (SC 100: 572,106-108). Diese vertieften Ansprüche des Neuen Testaments dokumentieren z.B.
die Aussprüche Jesu „Über jedes unnütze Wort, das die Menschen reden, werden sie am Tag des Gerichts
Rechenschaft ablegen müssen.“ (Mt 12,36), „Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon
Ehebruch mit ihr begangen.“ (Mt 5,28) und „Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen
sein.“ (Mt 5,22); Adv. haer. IV,16,5 (SC 100: 572,106-113). Weitere Bespiel führt Irenäus ebenda an IV,13,3
(530,48-66).
76 Adv. haer. IV,16,5 (SC 100: 572,113-574,118): non solum factorum reddemus Deo rationem, ut servi, sed etiam
sermonum et cogitationum, tamquam qui et libertatis potestatem acceperimus, in qua magis probatur homo si
revereatur et timeat et diligat Dominum.
[12]
Dass Gott gekommen ist, um die zu erlösen, die ihn annehmen, sollte nach Ansicht des Irenäus nicht verdecken, was
den Menschen geschieht, die sein Wort hören, doch nicht danach handeln. 77 So wie das fleischgewordene Wort, die
Gebote des Dekalogs nicht aufhebt, sondern sie erweitert, so werden laut Irenäus auch die Folgen für diejenigen, die
dem Wort Gottes nicht glauben und sich von ihm abwenden, verschärft. 78 Obwohl die Gerechtigkeit Gottes vor dem
Kommen des Herrn die gleiche ist wie danach, urteilt Gott über den Menschen im Alten Testament „bildlich, zeitweilig
und mäßig“ (typice et temporaliter et mediocrius), nach seinem Kommen aber „wirklich, für immer und streng“ (vere et
semper et austerius). 79 Denen, die an ihn glauben, gibt das göttliche Wort die Quelle ewigen Lebens (vgl. Joh 4,14),
doch den Feigenbaum, der keine Frucht trägt, lässt er plötzlich verdorren, wie in einem Gleichnis im
Matthäusevangeliums (Mt 21,19) gesagt wird. Laut Irenäus ist es dasselbe Wort, dass zu Zeiten Noahs die Flut über die
Gottlosen brachte, die unfähig waren, Gott Frucht zu bringen, und zu Zeiten Lots Feuer und Schwefel aus dem Himmel
regnete, damit alle erkennen, dass „jeder Baum, der keine guten Früchte bringt, herausgerissen und ins Feuer geworfen
wird,“ wie Jesus bei Matthäus sagt (Mt 3,10). Mit den Bewohnern von Sodom wird jedoch laut Irenäus beim
„allgemeinen Gericht“ (in universali judicio) gemässigter verfahren als mit denen, die die Wunder gesehen haben, die
das Wort bei seinem Kommen gewirkt hat, und dennoch nicht an es geglaubt und seine Lehre nicht angenommen haben
„Denn so wie er denen, die zum Glauben an ihn gekommen sind und seinen Willen erfüllt haben bei seinem Kommen
größere Gnade (majorem gratiam) gegeben hat,“ schreibt Irenäus, „genauso hat er verkündet, dass die, die ihm nicht
gehorchen, beim Gericht eine größere Strafe treffen wird“. 80

Der Grund, weswegen Gott den Menschen von der Dienstbarkeit des Gesetzes befreit hat, entspricht
laut Irenäus dem Ziel, das die Erziehung Gottes von Anfang verfolgt: dass der Mensch Gott lieben
und Anteil an seiner Herrlichkeit erhalten möge. „Gott hat uns nicht befreit, damit wir von ihm
abfallen,“ schreibt Irenäus, „sondern damit wir ihn um so mehr lieben, je mehr Gnade wir von ihm
empfangen (ut plus gratiam ejus adepti, plus eum diligamus). Und umso mehr wir ihn lieben
werden, desto mehr Herrlichkeit erhalten wir von ihm und werden immer in der Nähe des Vaters
sein.“ 81 Mehr Gnade meint also laut Irenäus mehr Freiheit und Freiheit ist wiederum Bedingung der
Liebe, die dem Menschen Anteil an der Herrlichkeit Gottes gibt. 82

77 Vgl. Adv. haer. IV,28,1 (SC 100: 754,8-15).


78 Vgl. Adv. haer. IV,28,2 (SC 100: 756,19-758,28).
79 Adv. haer. IV,28,1 (SC 100: 754,1-3). Vgl. ebenda, 28,2 (758,28).
80 Adv. haer. IV,36,4 (SC 100: 892,122-142). Vgl. D. J. Bingham, Irenaeus' use of Matthew's gospel, S. 234-235. Der
Grund für diese Strenge liegt wohl gerade darin, dass sich das Wort an die Seele wendet, die es mit seinem Kommen
befreit hat und die sich somit durch ihren Ungehorsam freiwillig um ihr Leben bringt; vgl. Adv. haer. V,27,2; Fr. gr.
20-21 (SC 153: 342-344). Zur Befreiung der Seele vgl. oben, Anm. 74.
81 Adv. haer. IV,13,3 (SC 100: 532,72-78).
82 Vgl. auch Adv. haer. IV,13,2 (SC 100: 528,42-47). Zur direkten Proportion zwischen Gnade und Freiheit vgl. R.
Berthouzoz, Liberté et Grâce, S.141-183. Zur Freiheit als Bedingung der Annahme der Herrlichkeit Gottes vgl. Y.
de Andia, Homo vivens, S.130-131; T. Scherrer, La gloire de Dieu, S.97-101, 219-222. Zum Verhältnis von Gnade,
Liebe und Herrlichkeit vgl. Y. de Andia, Homo vivens, S.342; T. Scherrer, La gloire de Dieu, S.131-132. Zu
Irenäus` Verständnis der Freiheit vgl. auch A. Orbe, Antropología, S.149-195; R. Tremblay, „La liberté selon saint
Irénée de Lyon,“ in: idem, Irénée de Lyon. « L’empreinte des doigts de Dieu », Roma 1979, S.35-62; R. Berthouzoz,
Liberté et Grâce, S.185-243.
[13]
10. Angleichung an Gott als sich fortsetzende Schöpfung

Bei der Auslegung der Schöpfung des Menschen als freies aber irrendes Wesen setzt sich Irenäus
mit der Frage auseinander, warum der gute Schöpfer den Menschen nicht vollkommen geschaffen
hat. Ist es vielleicht deshalb, weil er es nicht konnte? Irenäus antwortet, dass bei Gott, der immer
derselbe und ungeschaffen ist, alles möglich ist, sofern es um ihn selbst geht (ὡς πρὸς ἑαυτὸν).
Gleichzeitig gilt jedoch, dass alles Geschaffene, weil es den Beginn der eigenen Existenz später
angenommen hat, weniger vollkommen sein muss als der Schöpfer. Das, was gerade geschaffen
wurde, kann nicht ungeschaffen sein, doch wenn es nicht ungeschaffen ist, muss es weniger
vollkommen sein. Deshalb gleicht der Mensch am Anfang einem Säugling, der noch nicht an die
erwachsene Lebensweise gewöhnt ist. Gott ist zwar fähig, dem Menschen von Anfang an
Vollkommenheit zu gewähren, der Mensch jedoch ist nicht fähig, sie anzunehmen, so wie eine
Mutter zwar einem Säugling die Speise eines Erwachsenen geben könnte, der Säugling jedoch nicht
fähig ist, sie anzunehmen. 83
Gottes Erziehung ist eine Vorbereitung des Menschen auf die Annahme der göttlichen
Vollkommenheit. 84 Irenäus beschreibt diese Erziehung als einen Prozess, bei dem sich der
geschaffene Mensch „zum Bild und zur Ähnlichkeit des ungeschaffenen Gottes“ wandelt, wobei der
Akt der Schöpfung des Menschen, wie er im Buch Genesis beschrieben wird, seinen Höhepunkt
erreicht. 85 In der Heilsgeschichte wirkt Gott wie ein Vater, der „entscheidet und anordnet“, wie ein
Sohn, der diese Entscheidungen ausführt und schafft, und wie der Geist, der „belebt und wachsen
lässt“, während der Mensch zur Vollkommenheit fortschreitet, d.h. sich dem ungeschaffenen Gott
annähert. 86
Der Mensch ist somit in der Situation eines unvollkommenen Geschöpfs, das jedoch dazu
geführt wird, sich der Vollkommenheit des Schöpfers anzunähern. Irenäus beschreibt diese
Situation des Menschen mit Hilfe des Doppelverses Psalm 81(82),6-7: „Wohl habe ich gesagt: Ihr
seid Götter, ihr alle seid Söhne des Höchsten. Doch nun sollt ihr sterben wie Menschen,...“ Laut
Irenäus ist in diesem Doppelvers einerseits eine Aussage über die Güte der göttlichen Gabe
enthalten, andererseits eine Aussage über die menschliche Schwäche und Unfähigkeit, diese Gabe

83 Adv. haer. IV,38,1 (SC 100: 943,177-947,15); vgl. R. Noormann, Irenäus als Paulusinterpret, S.468-477; T.
Scherrer, La gloire de Dieu, S.92-97. Zur Unreife des ersten Menschen vgl. auch Adv. haer. III,22,4; 23,5; Demonst.
12,14; M. C. Steenberg, „Children in Paradise: Adam and Eve as « infants » in Irenaeus of Lyons,“ Journal of Early
Christian Studies 12, 2004, S.1-22.
84 Vgl. Adv. haer. IV,14,2 (SC 100: 542,48-544,49).
85 Adv. haer. IV,38,3 (SC 100: 955,63-66). Vgl. J. Fantino, L'homme image de Dieu chez saint Irénée de Lyon, Paris
1985, S.135-138.
86 Adv. haer. IV,38,3 (SC 100: 955,66-957,70). Vgl. Y. de Andia, Homo vivens, S.139-143.
[14]
anzunehmen. 87 Gott hat die Menschen laut Irenäus so frei, wie er selbst es ist, geschaffen (similes
sibi suae potestatis homines fecit), obwohl er wusste, dass sie schwach sind und was aus ihrer
Schwäche hervorgeht, dass sie nämlich von Gott abfallen werden. 88 Laut Irenäus war es jedoch
nötig (oportuerat), dass sich die menschliche Natur zeigt, damit der Mensch gut und böse erkennt
und sich Gott angleichen kann. 89 Mit der Offenbarung der menschlichen Natur meint Irenäus wohl
das Offenbar-Werden der menschlichen Schwäche und der Bereitschaft, das Böse zu wählen. 90 Das
Abfallen des Menschen, in dem die menschliche Natur offenbar wird, ist Bedingung dafür, dass die
göttliche Erziehung zu ihrem Ziel kommt, genauer gesagt dazu, dass sie überhaupt beginnen kann.
Die Erziehung zum Guten ist nämlich laut Irenäus nicht möglich, ohne dass der Mensch erkennt,
was böse ist. 91 Sofern der Mensch die Erziehung zum Guten erst annimmt, nachdem er Gut und
Böse erfahren hat, und aus Erfahrung erkannt hat (experimento discens), dass Ungehorsam böse ist,
weil es ihn um das Leben bringt, wird er aufmerksamer Gott gehorchen, damit er sich das Gute
erhält. 92
Irenäus sagt sogar, dass der, der dieser Erkenntnis (d.h. der Erkenntnis von Gut und Böse)

87 Adv. haer. IV,38,4 (SC 100: 958,100-960,105). Zur Exegese von Ps 81(82),6 in der frühchristlichen Literatur vgl. A.
van den Hoek, „‘I Said, You are Gods...’ The Significance of Psalm 82 for Some Early Christian Authors,“ in: L. V.
Rutgers, P. W. van der Horst, H. W. Havelaar, L. Teugels (eds.), The Use of Sacred Books in the Ancient World,
Leuven: Peeters, 1998, S.203-219; C. Mosser, „The Earliest Patristic Interpretations of Psalm 82, Jewish
Antecedents, and the Origin of Christian Deification,“ Journal of Theological Studies, N. S., 56/1, 2005, S.30-74.
88 Adv. haer. IV,38,4 (SC 100: 960,105-110). Zum freien Willen als Moment der Ähnlichkeit zwischen Gott und
Mensch vgl. auch IV,37,4 (SC 100: 932,90-93); IV,4,3 (424,57-60); Demonst. 11. Ein weiteres Moment der
Ähnlichkeit ist laut Irenäus die menschliche Rationalität, die eng mit der menschlichen Autonomie verbunden ist;
vgl. Adv. haer. IV,4,3 (SC 424,57-60); A. Orbe, Antropología, 133-142; J. Fantino, L'homme image de Dieu, S.115-
116, 134-135, 173-175. Es handelt sich jedoch nicht um eine Ähnlichkeit im Sinne einer eschatologischen
Ähnlichkeit des „geistlichen Menschen“ mit Gott. Irenäus unterschied wohl in diesem Zusammenhang zwischen den
Begriffen ὁμοιότης und ὁμοίωσις, die beide in der lateinischen Übersetzung das Äquivalent similitudo haben. Vgl. J.
Fantino, L'homme image de Dieu, S.117-118.
89 Adv. haer. IV,38,4 (SC 100: 960,110-114).
90 Diese Formulierung bedeutet aber nicht, dass die menschliche Natur selbst böse sei; böses Handeln ist laut Irenäus
erst Folge falscher Wahl. In diesem Sinne interpretiert Irenäus das Gleichnis von der Spreu, die der Feind nach dem
Matthäusevangelium auf das Feld dieser Welt sät, und die folgende Auslegung, nach der diese Spreu „Söhne des
Bösen“, d.h. Söhne des Teufels sind (Mt 13,25; 13,38); vgl. Adv. haer. IV,40,3 (SC 100: 979,42-45); 41,1 (982,1-3).
Laut Irenäus bedeutet dieses Gleichnis nicht, dass manche Menschen von Natur aus böse wären, wie dies wohl seine
valentinianischen Gegner meinen (vgl. A. Orbe, Parábolas evangélicas en San Ireneo, I, Madrid 1972, S.368; zu
den gnostischen Auslegungen des Gleichnisses von der Spreu vgl. ebenda S.297-323). Irenäus unterscheidet zwei
Arten von Sohnschaft: Sohnschaft „gemäß der Natur“ (secundum naturam), die sich auf die Schöpfung von
jemandem bezieht, und Sohnschaft „gemäß der Lehre“ (secundum doctrinae magisterium), so wie der Schüler
bildlich Sohn seines Lehrers genannt wird. Nach ihrer Natur sind alle Menschen sozusagen „Söhne Gottes“, sagt
Irenäus, nämlich in dem Sinne, dass sie von Gott geschaffen wurden. Sie unterteilen sich jedoch „nach Gehorsam
uund Lehre“ in solche, die an Gott glauben und seinen Willen tun, und solche, die nicht an ihn glauben und seinen
Willen nicht tun; vgl. Adv. haer. IV,41,2 (SC 100: 984,12-986,28).
91 Adv. haer. IV,39,1 (SC 100: 962,16-18).
92 Vgl. Adv. haer. IV,39,1 (SC 100: 960,2-962,14, 964,24-26). Das Motiv der Erfahrung des Bösen (gegenüber einem
bloß vernunftgemäßen Begreifen) als Bedingung dafür, dass der Mensch „im Guten Wurzeln schlägt“, betont in der
Auslegung des Irenäus B. Sesboüé, Tout récapituler dans le Christ, 102-103. Es ist freilich deutlich, dass Irenäus
hier mit einem Motiv arbeitet, das als griechischer literarischer topos bezeichnet werden kann; vgl. Homer, Il.
XVII,32; Hesiodos, Op. 218; Aischylos, Ag. 177; Herodotos, Hist. I,207,6 usw.. Siehe auch Klemens von
Alexandrien, Protr. 43,4; 90,3.
[15]
ausweicht (defugiat), unwissentlich sich selbst als Mensch ausrottet. 93 „Wie könntest du Gott sein,
wenn du nicht Mensch bist?“ fragt Irenäus. „Wie kannst du vollkommen sein, wenn du kaum
geschaffen worden bist? Wie könntest du unsterblich sein, wenn deine Natur sterblich ist und du
deinem Schöpfer nicht gehorcht hast?“ 94 Diese Fragen richten sich gegen die Vorstellung, dass der
Mensch die Erkenntnis seiner Natur umgehen könnte, zum Beispiel dadurch, dass er die Ursache
seiner Schwäche nicht in sich selbst sucht, sondern (wie die gnostischen Gegner des Irenäus) in
seinem Schöpfer. Solche Menschen kennen laut Irenäus weder Gott noch sich selbst, und „wollen
nicht zuerst die sein, die sie sind (nolentes primo esse hoc quod et facti sunt),“ also Menschen, die
den Leidenschaften unterliegen, sondern „sie übertreten das Gesetz des menschlichen Geschlechts
und bevor sie Menschen werden, wollen sie schon Gott gleichen, der sie geschaffen hat.“ Laut
Irenäus handeln solche Menschen unverständiger als Tiere, denn diese werfen Gott nicht vor, dass
er sie nicht als Menschen geschaffen hat, sondern „jedes sagt Dank dafür, dass es ist, durch das, was
es ist (eo quod factum est, quoniam factum est, gratias agit).“ 95
Deshalb muss der Mensch laut Irenäus zuerst „auf die Stellung des Menschen Rücksicht
nehmen“ (ordinem hominis custodire), erst dann kann er einen Anteil an der Herrlichkeit Gottes
übernehmen (participari gloriae Dei). „Rücksicht auf die Stellung des Menschen nehmen“ heißt,
sich selbst als unvollkommene Schöpfung zu begreifen, die dennoch von Gott weiter geschaffen
werden kann. „Nicht du bist es, der Gott schafft“ sagt Irenäus, „sondern Gott schafft dich. Und
sofern du Gottes Werk bist, so erwarte die Hand deines Schöpfers, der alles zur rechten Zeit tut,
recht in Bezug auf dich, den er schafft.“ 96 In diesem Prozess gebührt dem Menschen eine völlig
passive Stellung gegenüber dem schöpferischen Wirken Gottes. Der Mensch soll seinem Schöpfer
ein weiches, ergebenes Herz bieten und die Form (figuram) respektieren, die ihm der Künstler
gegeben hat. Damit er im Herzen nicht verhärtet und auf diese Weise nicht den Abdruck der Finger
Gottes verliert, muss der Mensch in sich eine „Feuchtigkeit“ haben, die von Gott ausgeht. 97 Gottes
Güte gebührt es, laut Irenäus, zu schaffen, der menschlichen Natur, geschaffen zu werden. 98 Das
bedeutet nicht, dass der Mensch die Möglichkeit der Wahl aufgeben würde. Doch – so Irenäus –
„falls du Gott das übergibst, was dein ist (quod est tuum), nämlich den Glauben an ihn in

93 Adv. haer. IV,39,1 (SC 100: 964,30-32).


94 Adv. haer. IV,39,2 (SC 100: 964,33-36).
95 Adv. haer. IV,38,4 (SC 100: 956,85-96).
96 Adv. haer. IV,39,2 (SC 100: 964,36-966,41).
97 Adv. haer. IV,39,2 (SC 100: 966,41-44). Das Bild der „Feuchtigkeit“ kennzeichnet wohl das belebende Wirken des
Geistes; Adv. haer. III,17,2-3; vgl. SC 100/I, Notes, 282; J. Behr, Asceticism and Anthropology in Irenaeus and
Clement, Oxford: OUP, 2000, S.121-122, der darauf aufmerksam macht, dass diese Passivität gegenüber dem
Wirken des Geistes laut Irenäus keine Passivität in der Beziehung zum Nächsten ist, denn die, die Gnade von Gott
empfangen, sollen auch zum Nutzen der anderen handeln, „je nach dem, welche Gabe ein jeder von ihnen von Gott
empfangen hat“ (Adv. haer. II,32,4/gr. Frag. 9, SC 294: 340,5-8).
98 Adv. haer. IV,39,2 (SC 100: 966,52-968,54): Facere enim proprium est benignitatis Dei, fieri autem proprium est
hominis naturae. Vgl. A. Orbe, „Deus facit, homo fit. Un axioma de san Ireneo,“ Gregorianum 69, 1988, S. 629-
661.
[16]
Untergebenheit, so nimmst du seine Kunst an und wirst so zu einem vollkommenem Werk
Gottes.“ 99

11. Der Mensch nach dem Bilde und nach der Ähnlichkeit Gottes

Das Ziel, auf das jegliche göttliche Gnade gerichtet ist, ist also laut Irenäus, dass der Mensch Anteil
an der Herrlichkeit Gottes empfängt, anders gesagt, dass er sich nach dem Bilde und der
Ähnlichkeit Gottes formen lässt (vgl. Gen 1,26). Bei der Auslegung dieses Ziels unterscheidet
Irenäus gelegentlich die Schöpfung „nach dem Bilde“ und „nach der Ähnlichkeit“, um so den
Unterschied zwischen dem Menschen im Sinne einer unvollkommenen Schöpfung und dem
Menschen, der sich in der Vollkommenheit dem ungeschaffenen Gott annähert, zu zeigen. 100 Den
polemischen Hintergrund der Auslegung Irenäus` bildet wahrscheinlich die valentinianische
Konzeption des geistlichen Menschen, der Vollkommenheit und Anteil an der ungeschaffenen
Gottheit erlangt, indem er sich der Formation seines geistlichen Elements unterzieht, das sich mit
seinem Ursprung und seiner Bestimmung von den seelischen und stofflichen Bestandteilen und
selbstverständlich auch vom sichtbaren Leib unterscheidet. 101 Den Begriff „geistlicher Mensch“,
der sich schon bei Paulus findet (vgl.1 Kor 2,13.15; 3,1; Gal 6,1), nimmt Irenäus auf und
unterscheidet ihn vom „leiblichen“ oder „seelischen“ Menschen, d.h. vom Menschen im Sinne eines
beseelten Leibes. Der Mensch in diesem zweiten Sinne trägt laut Irenäus das Bild Gottes, hat jedoch
noch nicht dessen Ähnlichkeit angenommen. 102 Der Mensch „nach der Ähnlichkeit“ ist nämlich
zuerst geistlicher Mensch, also ein Mensch geformt „durch die Hand des Vaters“, d.h. durch den
Sohn und den Geist. 103 Irenäus betont, dass das, was so geformt ist, kein bestimmtes Element des
Menschen ist, sondern der Mensch als Ganzes. Der geistliche oder vollkommene Mensch ist laut
Irenäus „Mischung und Einheit der Seele, die den Geist des Vaters empfängt und mit dem Leib
gemischt ist, der nach Gottes Bilde geschaffen wurde.“ 104
Dass der vollkommene Mensch eine Einheit von Geist, Seele und Leib ist, bedeutet nach

99 Adv. haer. IV,39,2 (SC 100: 968,54-56). Vgl. B. Aland, „Fides und Subiectio: Zur Anthropologie des Irenäus,“ in:
A. M. Ritter (ed.), Kerygma und Logos, Festschrift C. Andresen, Göttingen 1979, S.183-203.
100 Zu dieser Unterscheidung vgl. vor allem Adv. haer. V,6,1 (SC 153: 76,24-31); V,16,2 (216,21-34). Eine
systematische Auslegung der irenäischen Benutzung der Begriffe „Bild“ und „Ähnlichkeit“ gibt J. Fantino,
L'homme image de Dieu, passim.
101 Zum polemischen Hintergrund von Irenäus` Auffassung des „geistlichen Menschen“ vgl. A. Orbe,
Antropología, S.193; J. Fantino, L'homme image de Dieu, S.121-125.
102 Vgl. Adv. haer. V,6,1 (SC 153: 74,17; 76,24-31).
103 Vgl. Adv. haer. V,6,1 (SC 153: 76,24-27; 72,2-4). J. Fantino, L'homme image de Dieu, S.125-128. Zur
Metapher der Hand Gottes vgl. Y. de Andia, Homo vivens, S. 64-68; J. Fantino, La théologie d'Irénée, S.306-309; B.
Sesboüé, Tout récapituler dans le Christ, S. 184-190.
104 Adv. haer. V,6,1 (SC 153: 72,6-9). Vgl. V,6,1 (78,40-41).
[17]
Ansicht des Irenäus jedoch nicht, dass der Mensch diese Vollkommenheit in diesem sterblichen
Leib erlangen könnte. Der Leib ist ein Tempel Gottes, doch genau wie der Leib Christi muss er
zuerst sterben, um aus Gottes Macht auferstehen zu können. 105 Irenäus macht darauf aufmerksam,
dass die Auferstehung, dessen Vorzeichen die Auferstehung Christi ist, keine Auferstehung der
Seele ist, sondern des Leibes. Das Wesen der Seele ist nämlich laut Irenäus unsterblich, denn die
Seele ist der „Atem des Lebens“ (vgl. Gen 2,7), der nicht stirbt. 106 Die Auferstehung betrifft
selbstverständlich auch nicht den Geist, denn der Geist ist selbst das Leben für diejenigen, die
Anteil an ihm haben. Das, was im Tode zerfällt und auferstehen wird, ist also der Leib. 107 In
Anknüpfung an die Auslegung des Paulus im Korintherbrief unterscheidet Irenäus dann „seelische“
Leiber, die an der Seele partizipieren und sterben, wenn sie diese verlieren, und die geistlichen
Leiber, auferweckt durch den Geist, die aus dem Geist das ewige Leben haben. 108 Solange wir in
diesem sterblichen Leib leben, sind wir laut Irenäus „geistliche“ Menschen insofern, als dass wir
bereits ein „Angeld“ (pignus, ἀραβών) des Geistes haben (Eph 1,13f; vgl. 2Kor 1,22; 5,5), damit
wir „langsam lernen (paulatim assuescentes) Gott zu empfangen und zu tragen“. 109 Erst dem
auferstandenen Menschen wird die „ganze Gnade des Geistes“ (universa Spiritus gratia) zuteil, erst
dann wird Gott den Menschen „nach dem Bild und der Ähnlichkeit Gottes“ machen (efficiet). 110
Es sei hinzugefügt, dass die Gnade des Geistes, die dem Menschen ermöglicht, bereits im
sterblichen Leib in gewissem Maße ein „geistlicher“ Mensch zu werden, laut Irenäus in der Kirche
wirkt: gerade ihr wurde nämlich „Gottes Gabe“ (Dei munus), der Heilige Geist, anvertraut als ein
„Angeld der Unsterblichkeit“ oder eine „Leiter zu Gott“, und diejenigen, die nicht in der Kirche
zusammenkommen, haben an ihm keinen Anteil, sondern bringen sich selbst durch schlechte
Gedanken und Werke um ihr Leben. „Denn dort, wo die Kirche ist,“ urteilt Irenäus, „ist auch der
Geist Gottes und dort, wo der Geist Gottes ist, dort ist die Kirche und die ganze Gnade (omnis
gratia).“ 111

105 Vgl. Adv. haer. V,6,2-7,1 (SC 153: 80,57-84,5).


106 Zu Irenäus` Auffassung der Seele vgl. D. Wyrwa, „Seelenverständnis bei Irenäus von Lyon”, in: Ψυχή – Seele
– anima, S.300-334; M. C. Steenberg, Irenaeus, S.127-134.
107 Adv. haer. V,7,1 (SC 153: 84,82-88,32).
108 Adv. haer. V,7,1-2 (SC 153: 88,33-90,52). Vgl. 1Kor 15,44-46; J. Fantino, „Le passage du premier Adam au
second Adam comme expression du salut chez Irénée de Lyon,“ Vigiliae Christianae 52/4, 1998, S.418-429.
109 Adv. haer. V,8,1 (SC 153: 92,1-4).
110 Adv. haer. V,8,1 (SC 153: 94,23-96,26). Zu Irenäus` Rezeption der paulinischen Motive im Abschnitt Adv.
haer. V,6-8 und zur Frage der Auferstehung des Leibes in Irenäus` Theologie vgl. R. Noormann, Irenäus als
Paulusinterpret, S.278-293 und 484-516. Vgl. auch Y. de Andia, Homo vivens, S.263-297; W. Overbeck,
Menschwerdung, S.88-248. Dem irenäischen Verständnis der Auferstehung des Leibes widmet sich in einer
Monographie G. Joppich, Salus carnis. Eine Untersuchung in der Theologie des hl. Irenäus von Lyon,
Münsterschwarzach: Vier-Türme-Verlag, 1965.
111 Adv. haer. III,24,1 (SC 211: 472,19-474,28). Eine detaillierte Auslegung dieser Passage bietet Y. de Andia,
Homo vivens, S.225-236; T. Scherrer, La gloire de Dieu, S.267-274. Zu Irenäus` Kirchenverständnis vgl. auch N.
Brox, Irenäus, S.161-167; D. Wanke, Das Kreuz Christi, S.339-411. Zur pneumatologischen Interpretation der
„Gabe Gottes“ (vgl. Joh 4,10) vgl. auch B. Mutschler, Das Corpus Johanneum, S.483-486.
[18]
12. Schluss

Im Begriff der Gnade sind die wichtigsten Elemente der gesamten Theologie des Irenäus enthalten.
Gnade ist für den gallischen Bischof Ausdruck der Güte Gottes und Güte ist eine
Grundcharakteristik Gottes und Schlüssel zu all seinem Handeln. Sie steht jedoch nicht im
Widerspruch zur Gerechtigkeit Gottes, wie Irenäus in der Polemik gegen die Marcioniten betont. In
der Beziehung zum Menschen zeigt sich diese Güte als Bemühen, dem Menschen eine Wohltat zu
erweisen und ihm Anteil an der Herrlichkeit Gottes zu geben. Das ist jedoch nur auf die freiwillige
Entscheidung des Menschen hin möglich und deshalb lässt Gott dem Menschen die Möglichkeit der
Wahl.
Wie die biblische Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies zeigt, wählt der Mensch
von Anfang an den Ungehorsam, entledigt sich der Gemeinschaft mit Gott und verliert so das ewige
Leben. Gott verwirft den Menschen jedoch nicht und offenbart ihm in der Heilsgeschichte
Bedingungen, unter denen es möglich ist, das Ziel, auf das hin der Mensch geschaffen wurde, zu
erreichen. Zugleich mit dieser Erziehung zum Heil offenbart sich Gott dem Menschen schrittweise
selbst und zwar zuerst (durch den Geist) prophetisch, danach (durch den Sohn) auf Art einer
Adoption, um sich am Ende (im Himmelreich) als Vater schauen zu lassen.
Die prophetische Zeit der Heilsgeschichte erreicht ihren Höhepunkt in der Fleischwerdung
des Wortes, in dem sich dem Menschen das „wahre Bild“ Gottes, also das Ziel, auf das hin der
Mensch ursprünglich geschaffen wurde, das der Mensch aber durch seinen Ungehorsam verworfen
hat, offenbart. Dank dieser Offenbarung sieht der Mensch, worin die Ähnlichkeit mit Gott besteht,
und kann sich so durch das sichtbare Wort dem unsichtbarem Gott angleichen. Diese Offenbarung
ist zugleich Erlösung des Menschen vom Tode: Gott ist sterblicher Mensch geworden, damit er in
seiner Auferstehung die menschliche Sterblichkeit überwinde. Dieser Sieg am Kreuz ist eine
„Rekapitulation“ des ersten menschlichen Versagens im Sinne einer Wiedergutmachung, die auch
alle Folgen des Versagens mit einschließt.
Hinsichtlich der Heilsgeschichte ist die Fleischwerdung Gottes und sein Sieg über den Tod
eine „Vermehrung der Gnade“, in dem die dienstbaren Pflichten des Alten Testaments durch einen
„Bund der Freiheit“ ersetzt werden. Dieser Bund ermöglicht dem Menschen, Gott frei als eigenen
Vater zu lieben und damit Anteil an seiner Herrlichkeit zu erlangen, zugleich jedoch verschärft er
die Ansprüche der göttlichen Erziehung und die Folgen für die, die diese nicht annehmenn wollen.
Die Ansprüche anzunehmen heißt, die Situation des Menschen als unvollkommenes Geschöpf
Gottes, das aber von Gott weiter geformt werden kann, zu verstehen. Erst wenn der Mensch die
Schwäche der eigenen Natur erkennt, d.h. ihre Unreife und die Bereitschaft, das zu wählen, was
[19]
böse ist, erkennt er auch den Wert des Guten und nimmt die Bedingungen an, unter denen er das
Gute erlangen kann. So kann die Schöpfung des Menschen „nach dem Bilde und der Ähnlichkeit
Gottes“ fortgesetzt werden, die nicht im „leiblichen“ Menschen als beseeltem Leib ihren Höhepunkt
erreicht, sondern im „geistlichen“ Menschen, in dem Seele und Leib mit dem Geist vereint sind. In
diesem Prozess, der bereits im sterblichen Leib beginnt, doch erst in der Auferstehung des
geistlichen Leibes seinen Höhepunkt erreicht, gibt der Mensch seinem Schöpfer freiwillig das, was
in seiner Macht steht, nämlich seinen Glauben und seine Untergebenheit. Die Umgebung, in der es
zu dieser Formation kommt, ist die Kirche, der Gott den Heiligen Geist als „Angeld der
Unsterblichkeit“ oder „Leiter zu Gott“ anvertraut hat.
Irenäus` Verständnis der Gnade lässt sich als ein allererster Versuch einer systematischen
Bearbeitung dieses Themas verstehen. Seine Betonung der Schwäche und Unvollkommenheit der
menschlichen Natur auf der einen Seite und der Verantwortlichkeit des menschlichen Willens für
das Heil auf der anderen Seite, zu dem Irenäus durch die Polemik gegen die valentinianische
Vorstellung vom „geistlichen“ Menschen geführt wurde, zeichnet die Art und Weise vor, auf die
auch die späteren Theologen, vor allem im christlichen Osten, über das Verhältnis von Gnade und
menschlichem Bemühen nachdenken werden.

[20]
Bibliographie

Editionen und Übersetzungen

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Doutreleau, in: Irénée de Lyon, Contre les hérésies, III/2, SC 211, Paris 1974; liber IV, hrsg. A.
Rousseau, in: Irénée de Lyon, Contre les hérésies, IV, SC 100, Paris 1965; liber V, hrsg. A.
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Sekundärquellen

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