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18 Die italienische Literatur

Pulcis „Morgante“

In einer seiner Predigten von 1494 hatte Savonarolas Zorn sich unter anderem
gegen Luigi Pulcis Epos „Morgante“ gerichtet, das er als frivol und unanständig
brandmarkte. Pulci, der einer verarmten Florentiner Adelsfamilie entstammte,
war da bereits seit zehn Jahren tot, in Padua, wo er verstorben war, wie ein Ket-
zer nachts außerhalb des Friedhofs in ungeweihter Erde bestattet. Er hatte als
junger Mann schnell Zugang zum Hof der Medici gefunden, und es war Lucrezia
Tornabuoni gewesen, die Mutter von Lorenzo il Magnifico, die ihn zur epischen
Bearbeitung eines Stoffes aus der Zeit Karls des Großen angeregt hatte. Ähnlich
wie die Erzählungen von Artus und seiner Tafelrunde waren die von Karl dem
Großen und seinen Paladinen beliebt und boten deshalb Stoff für Heldenepen.
Pulci bediente sich einer umfangreichen Vorlage, eines Epos, das er selbst als
„Cantar d‘Orlando“ bezeichnete, zu dem er aber zahlreiche Episoden hinzuer-
fand. Die ursprüngliche Fassung seines eigenen Epos, die vor 1478 erschien,
enthielt 23 Gesänge, doch bereits 1483 veröffentlichte er eine um fünf Gesänge
erweiterte Ausgabe. Die ersten 23 Gesänge, die Pulci selbst am Hof der Medici
vortrug, handeln von den Abenteuern Orlandos, das heißt Rolands, des Lieb-
lingspaladins Karls des Großen, der wegen der Verleumdungen des neidischen
Paladins Gano von Mainz, denen der Kaiser Glauben schenkt, den Hof Karls in
Paris verlässt und ins Land der Heiden zieht, bald gefolgt von seinem Vetter Ri-
naldo, der sich auf die Suche nach dem inzwischen verloren Geglaubten macht.
Der erste Gesang beginnt mit einem Zitat des Johannesprologs und der an Gott
gerichteten Bitte des Dichters, ihm einen Engel zu senden, der ihm helfen möge,
beim Erzählen nicht von der Wahrheit abzuweichen. „Im Anfang war das Wort
und war bei Gott,/ Gott war das Wort, und selbes Wort war Er./ Dies war im An-
fang, scheint mir, walt‘ es Gott,/ und ohne Ihn ist nichts Geschaff’nes mehr./
Darum, gerechter güt’ger Herr und Gott,/ schick mir nur einen deiner Engel her,/
der mir verhelfe, daß ich treu berichte/ von einer alt-ehrwürdigen Geschichte.“903.
Zu dem bekannten Personal des Karlsstoffs erfindet Pulci neue Figuren hinzu, so
den Riesen Morgante. Dieser ist einer von drei Riesen, die, selbst Anhänger Mo-
hammeds, eine Abtei belagern und von denen Orlando zwei tötet. Morgante aber
bekehrt sich zum Christentum und dient fortan Orlando als Schildknappe. Er wird
von Roland aus einem schweren Traum gerissen, in dem ihn ein Drache tödlich

903 Luigi Pulci, Morgante, Bd. 1, in deutsche Stanzen übersetzt von Edith und Horst Heintze,
hg. von Falk Peter Weber, Glienicke/Madison 2008, 4.

https://doi.org/10.1515/9783110698978-019
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bedrohte. Als Mohammed, den er im Traum um Hilfe anrief, ihn nicht zu retten
vermochte, flehte er Jesus an, der ihn aus der Not befreite. In dem Moment reißt
ihn Roland aus dem Traum und will ihn wie die beiden anderen Riesen töten.
Doch Morgante erzählt ihm von seinem Traum und hat keinen sehnlicheren
Wunsch als den, Christ zu werden. „Sprach Roland: – Edler frommer Ritter
mein,/ wenn sich solch Wollen dir im Herzen rühret,/ empfängt den wahren
Gott die Seele dein,/ der einzig uns zur ew’gen Ehre führet./ Willst du, so
sollst du mein Gefährte sein,/ ich will dich lieben, wie es dir gebühret;/ eure
Idole sind Betrug und Listen,/ der wahre Gott, das ist der Gott der Chris-
ten.“904 Roland berichtet Morgante von der jungfräulichen Geburt, der Sünd-
losigkeit und Schöpfungsmittlerschaft Jesu und erklärt sich bereit, Morgante
zu taufen. Schließlich begeben sich beide zur Abtei, wo Morgante die von
ihm zuvor abgeschlagenen Pranken seiner beiden Kumpanen dem Abt über-
reicht, damit dieser sicher sei, dass er keine Bedrohung durch die Riesen mehr zu
gewärtigen habe. Pulci lässt die Bekehrung Morgantes und seinen Besuch in der
Abtei in einem Festmahl enden, zu dem man zwei vom Riesen erlegte Wild-
schweine verzehrt. Dabei bekommt man einen Eindruck von der sprachlichen
Drastik und derben Komik, die Pulcis Epos beherrschen. Über dem Wildschwein-
braten vergessen die Mönche ihre Breviere und Fastenvorschriften. „Sie fielen bis
sie platzten drüber her/ und rülpsten so, als wär‘ zu voll der Magen;/ es blieb für
Hund und Katze gar nichts mehr/ von glattpolierten Knochen abzunagen.“905 Der
Abt schenkt Morgante als Dank ein wunderschönes Pferd, das allerdings unter
dem Gewicht des Riesen zusammenbricht. Daraufhin fasst Morgante den Ent-
schluss, den Klepper auf seinen Rücken zu schultern statt von ihm getragen zu
werden.
Pulcis Epos lebt von den ständigen Abenteuern, die Orlando und Rinaldo
als Ritter Karls des Großen erleben und die immer wieder in Bekehrungen von
Heiden zum Christentum münden. Zu den seltsamsten Begebenheiten zählt die
Begegnung des Riesen Morgante mit dem Halbriesen Margutte, auf den Mor-
gante stößt, als er gerade auf der Suche nach seinem Herrn ist. Als Morgante
ihn auffordert, ihm seinen Namen zu nennen, erhält er zur Antwort: „Margutte
nenn‘ ich mich;/ ich wollte einstmals auch ein Riese sein,/ dann reut ‘s mich,
als ich in der Mitte war:/ du siehst, bin sieben Arme groß aufs Haar“906. Auf die
Frage, ob er denn Christ oder Sarazene sei, erwidert ihm der Halbriese mit
einem recht materialistisch gefärbten Credo:

904 AaO., 26.


905 AaO., 38.
906 Luigi Pulci, Morgante, Bd. 2, in deutsche Stanzen übersetzt von Edith und Horst Heintze,
hg. von Falk Peter Weber, Glienicke/Madison 2008, 466.
Pulcis „Morgante“ 457

Ich will’s dir gleich verraten,/ ich glaub‘ nicht mehr ans Schwarz als ans Azur,/ jedoch
an den Kapaun, gekocht, gebraten,/ an Wurst zum Brot, nicht mit der Butter nur,/ und
an den Most, kann ich an ihn geraten,/ und viel mehr an den Asper als Mangur [zwei
türkische Münzen, J.R.],/ vor allem glaub‘ ich an den guten Wein,/ glaub‘, wer dran
glaubt, der wird gerettet sein.907

Es folgt ein Bekenntnis zur Trinität aus Pastete, Pastetelein und Leber, wobei Mar-
gutt seinen heterodoxen Glauben auf die Verbindung einer orthodoxen griechi-
schen Nonne und eines muslimischen Imam zurückführt. Kaum ist er mit seinem
Credo am Ende, beginnt er, Morgante die lange Liste seiner Sünden aufzuführen,
wobei er auch die Plünderung der Altäre und das Ausrauben von Opferstock und
Sakristei nicht unerwähnt lässt. Doch am Ende muss er gestehen, nur einen Bruch-
teil seines Sündenregisters aufgezählt zu haben. „Ich ließ beiseit‘ ein riesiges Kapi-
tel/ von tausend Sünden, die mir noch bewußt;/ und wollt‘ ich dir verlesen jeden
Titel,/ verging dir bei dem Wust vielleicht die Lust;/ wickelt‘ das Knäu’l ich ab nur
um ein Drittel,/ so würde dauern dies bis zum August“908. Beide, Morgante und
Margutte, werden Kumpane, doch ihre Verbindung endet abrupt, als Margutte
über einen Streich, den ihm Morgante spielt, so lachen muss, dass er vor Lachen
auseinanderplatzt909.
Die fünf erst später dem „Morgante“ angehängten Gesänge bilden einen ei-
genständigen Zyklus, der zwar auch aus dem Karlsstoff schöpft, sich aber auf das
Ende Orlandos in der Schlacht im Tal von Roncisvalle bezieht. Von Gano verraten
wird die Nachhut Karls des Großen in einen Hinterhalt gelockt und von dem zah-
lenmäßig weit überlegenen Sarazenenheer unter dem König Marsilio von Sara-
gossa angegriffen. Der Name des muslimischen Königs von Spanien ist auch eine
Spitze gegen Marsilio Ficino, mit dem sich Pulci wegen seiner herodoxen Ansich-
ten und der Ablehnung der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele überworfen
hatte. Gano, der mit dem Verräter Judas verglichen wird, und Marsilio beschlie-
ßen, Orlando und Rinaldo mit ihrem Anhang bei Roncisvalle in eine Falle zu lo-
cken, um das Christenheer zu vernichten. Während Orlando in der Gascogne
weilt, erfährt der Zauberer Malgigi erst von dem Teufel Astaroth, dass sich Ri-
naldo mit seinen Brüdern in Ägypten bei den Pyramiden aufhält. Er hört von Ri-
naldos Reisen nach Griechenland, Kairo, Damaskus und zum Grab Christi, wobei
der Teufel, der den Namen Christi nicht über die Lippen bringt, nur vom Grab
vom Kalvarienberg spricht. Als Rinaldo nach Besuchen auf dem Sinai und Tabor
in Indien alle Herrscher bis auf einen zum Christentum bekehrt habe, habe es ihn

907 AaO., 468.


908 AaO., 480.
909 Luigi Pulci, Morgante, Bd. 3, in deutsche Stanzen übersetzt von Edith und Horst Heintze,
hg. von Falk Peter Weber, Glienicke/Madison 2008, 78.
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zwar wieder in den Okzident gezogen, doch sei er schließlich in Ägypten gelandet.
Als Malgigi von Astaroth auch noch etwas über das zukünftige Schicksal Orlandos
erfahren will, muss der Teufel einräumen, dass die Kenntnis der Zukunft allein
Gottvater vorbehalten sei. „Der alles schuf, weiß alles nur allein,/ sein Sohn kann
nicht wie er allwissend sein.“910
Als Malgigi sich über die These von der Begrenztheit des Wissens des Sohnes
verwirrt zeigt, gibt sich der Teufel vor ihm als Kenner der Bibel aus: „Du hast, das
seh‘ ich schon,/ die Bibel nicht genug und gut gelesen:/ Der Sohn, gefragt, wann
Tag und Stunde sei’n,/ sagt‘, daß der Vater dieses wüßt‘ allein.“911 Astaroth spielt
damit auf Mk 13,32 an: „Von dem Tage und der Stunde weiß niemand, auch die
Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater.“ Dieser
Mangel an Allwissenheit, der den Sohn vom Vater unterscheidet, führt den Teufel
zu einer Kritik der nicänischen Trinitätslehre. Statt von drei Personen in einer Es-
senz oder Substanz rede er nur von einem reinen Akt ohne Hinzufügung. Denn
so müsse der erste Beweger, die erste Ordnung, Ursache und Macht, das erste Prin-
zip, Wissen und Gut definiert werden. Es entbehrt natürlich nicht der Komik, dass
der Zauberer und Negromant Malagigi mit dem Teufel Astaroth, einer von Pulci er-
fundenen Figur, über die Trinitäts- und Gotteslehre in gelehrter Manier disputiert.
Denn die nächste Frage, die Malagigi an den Teufel richtet, lautet, ob Gott denn
bereits vor der Erschaffung der Teufel gewusst habe, dass diese schlecht handeln
und von ihm abfallen würden. Wenn das der Fall sei, „dann scheint mir, Sein Be-
schluß ist ungerecht,/ und Seiner Liebe könnt‘ dies nicht entstammen,/ zu schaffen
euch um euch gleich zu verdammen“912. Denn schließlich habe Gott bei ihrer Er-
schaffung vorausgewusst, dass sie unvollkommen und mit Sünde behaftet sein
würden. Doch der Teufel nimmt Gott in Schutz. Er habe alle gleichermaßen mit
freiem Willen ausgestattet, so dass sein Urteil über den Fall der Engel auch gerecht
gewesen sei. Denn „sein Vorhersehn nahm uns nicht die Zeit,/ zum guten Tun war
immer Gnadenzeit“913 Die Sünde der Teufel darf auch nicht als verzeihbar angese-
hen werden, da die Teufel nicht von außen zu ihr angestiftet worden seien, son-
dern sie sich ausschließlich mit ihrem freien Willen zu ihr entschlossen hätten. Bei
Adam, dem Stammvater der Menschen, sei das anders gewesen. „Eu’r Adam nahm
nicht seine Sünde wahr;/ erlassen ist ihm seine Schuld, gerade/ weil er verführt
von jener Schlange war;/ allein sein Ungehorsam war sein Schade./ Verjagt ward
aus dem Paradies er zwar,/ doch blieb trotz seiner Strafe ihm die Gnade/ des Frie-

910 Luigi Pulci, Morgante, Bd. 4, in deutsche Stanzen übersetzt von Edith und Horst Heintze,
hg. von Falk Peter Weber, Glienicke/Madison 2008,72.
911 AaO., 74.
912 AaO., 78.
913 AaO., 80.
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dens nach der Ungehorsamkeit,/ und auch das Öl noch der Barmherzigkeit.“914
Selbst Judas wäre nicht verdammt worden, wenn er sich nicht aus Verzweiflung
selbst getötet hätte. Denn derjenige, der die Gnade nicht mehr erhofft, werde
nicht erlöst. Auf die Frage, warum Gott gleichwohl die Engel geschaffen habe,
von denen er vorherwusste, dass sie sündigen würden, weiß Astaroth allerdings
keine Antwort, da nur Gott sie zu beantworten wisse. Weder Dichter noch Philo-
sophen und Gelehrte wüssten eine Antwort, und es sei eine Anmaßung der Sterb-
lichen zu wissen, wie der Himmel eingerichtet sei. Der Teufel beschließt seine
theologischen Auskünfte mit den Worten: „Hab‘ dir aus meinem edlen Heft gele-
sen,/ gut ist auch in der Hölle edles Wesen.“915
Schließlich erhält Astaroth den Auftrag, Rinaldo und Ricciardetto im Flug
von Ägypten nach Roncisvalle zu bringen. An der Meerenge von Gibraltar, den
Säulen des Herkules, angelangt, stellt Rinaldo ihm die Frage, ob man tatsächlich –
wie die Griechen meinten – in die Unterwelt hinabstürze, wenn man sie durch-
quere. Der Teufel bezeugt seine Kenntnis der Geographie und Meereskunde, wenn
er ihm antwortet: „Wisse, daß diese Meinung übereilt:/ man hat die freie Weiter-
fahrt erkundet,/ weil überall das Wasser gleich verteilt,/ obwohl die Erde wie ein
Rad sich rundet.“916 Auf der anderen Seite der Erdkugel wohnen gleichfalls Men-
schen, die man „Antipoden“ nennt und die Sonne, Mars und Jupiter als Götter
verehren. Rinaldo interessiert sich nun dafür, ob auch die Antipoden von Adam
abstammen und ob ihnen bei dieser Art von Frömmigkeit auch das Heil zuteil
wird. Beides wird von Astaroth nachdrücklich bejaht: „Denn würde darin unge-
recht nicht walten/ jener Erlöser eurer Menschenart,/ daß Adam Er nur wollt‘ für
euch gestalten,/ und Er für euch gekreuzigt ward?/ Ein jeder kann vom Kreuz das
Heil erhalten“917 Die Tür zum Heil stehe jedem bis zum Grabe offen und werde
erst am Jüngsten Tag geschlossen. Astaroth offenbart damit ein sehr weites Ver-
ständnis von Heilserlangung und Erlösung. Danach erlangen alle das Heil, die, in
welcher Form auch immer, wahrhaft fromm ihre religiösen Bräuche vollzogen
haben. Das gelte für die Römer, die Juno, Mars, Jupiter und andere Götzen verehr-
ten, ebenso wie für die Antipoden mit ihrer Verehrung der Gestirne. „Ich sag‘, daß
drunten jene Leute glauben/ daß ihr Planetenglaube wäre recht;/ Gerechtigkeit
wird immer nur erlauben,/ daß Lohn dem Guten, Strafe dem, der schlecht;/ so
kann die Hoffnung jenem man nicht rauben/ der nach dem eigenen Gesetz ge-

914 Ebd.
915 AaO., 84.
916 AaO., 118.
917 AaO., 120.
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recht.“918 Aber auch wenn den Heiden das Heil offen stehe, sei nur der Glaube der
Christen wahr. „Es ist allein der Christen Glaube wahr,/ ist heiliges Gesetz und
fest gegründet;/ eure Doktoren lehren recht und klar,/ und ganz genau das, was
die Schrift verkündet“919. Der Koran oder der Talmud enhielten daher nicht die
Wahrheit. Vielmehr sei die Weissagung des Messias durch die Propheten und Si-
byllen in Jesus in Erfüllung gegangen.
Den 27. Gesang, der das blutige Gemetzel und den Tod Orlandos schildert,
leitet Pulci mit der Bemerkung ein, dass er eigentlich eine Komödie über Karl
habe schreiben wollen, doch jetzt zu seinem Schrecken bemerke, dass seine Er-
zählung in einer Tragödie ende920. Vor seinem Ende beichtet Orlando Turpin,
dem Erzbischof von Reims, seine Sünden, und nachdem er von diesem die Ab-
solution erhalten hat, wendet er sich in einem letzten Gebet an Gott. Er rekapi-
tuliert die Geschichte von Schöpfung, Sündenfall und Erlösung und endet mit
der Bitte: „Gehe, o Herr, nicht ins Gericht mit mir:/ Gerechtfertigt vor Deinem
Angesicht/ ist keiner, wolltest Du’s nicht schon bei Dir,/ weil ohne Sünde wir
geboren nicht;/ und blind zur Welt geboren werden wir;/ allein Du bist gebor’n
im Himmelslicht;/ hab Mitleid mit dem Alter, das mein Teil;/ verwehr mir nicht
den Port zu meinem Heil.“921 Kaum hat Orlando sein Gebet beendet, erscheint
vom Himmel her der Erzengel Gabriel, um ihn auf Gottes Geheiß in den Himmel
zu führen, „wo deine Seele immer froh und heiter/ wird singen hören unsrer
Reigen Weise,/ weil du auf Erden bist der Gottesstreiter,/ ein wahrer Held und
der vollkomm’ne Hirt,/ der Herde, die sich ohne ihn verirrt“922. Gott erteile Or-
lando jetzt den Lohn für seine vielfältigen Verdienste um die Verteidigung und
Ausbreitung des Christentums. Im Himmel werde er auch seinen Gefährten Mor-
gante wiedertreffen, während der Halbriese Margutte Beelzebub bewache: „er
lacht noch immer und in Ewigkeit,/ wie einst, doch du weißt nicht, worum es
geht:/ Er ist der Hölle einz’ge Heiterkeit“923. Kaum ist Orlando verstorben, hört
man, wie unter dem Gesang der Engel das Tor des Himmels ins Schloss fällt,
nachdem er dort aufgenommen worden ist, und bald schwebt die Seele Orlandos
in Gestalt einer Taube zuerst auf Turpin und dann auf die anderen Hinterbliebe-
nen herab. Als sich schließlich Karl, von Rolands Horn Olifant dazu aufgerufen,
dem Schlachtfeld nähert und das ganze Ausmaß des Gemetzels sieht, verflucht er
das Tal, in dem die Schlacht stattgefunden hat. Doch zu ihrem Erstaunen werden

918 AaO., 122.


919 AaO., 124.
920 AaO., 260.
921 AaO., 324.
922 AaO., 326.
923 AaO., 330.
Pulcis „Morgante“ 461

Karls Ritter Zeugen eines Wunders. Die toten Christen liegen alle unverletzt auf
dem Schlachtfeld, den Blick himmelwärts gerichtet, während die blutigen Leiber
der Sarazenen mit dem Gesicht zur Erde verstreut herumliegen. Bevor Karl sich
mit seinen Mannen nach Saragossa aufmacht, um an der Stadt Rache zu nehmen
und Marsilio zu töten, lässt er seinen Neffen Orlando nach Aachen überführen.
Auf seinem Grabstein steht der „Spruch in dem lateinischen Idiom:/ ‚Ein einz’ger
Gott, ein Roland und ein Rom‘“924.
Im letzten Gesang berichtet Pulci zunächst von der grausamen Hinrichtung
des Verräters Grano von Mainz, den Karl vierteilen lässt, und schildert dann das
Ende des Kaisers. Er preist Karl mit seinen Paladinen als Verteidiger und Verbrei-
ter des Christentums und lobt Dante dafür, dass er in seiner „Divina Commedia“
Karl und Roland ins Sternbild des Kreuzes des Mars versetzte. Schließlich lässt er
Laktanz und Alkuin zur Leier greifen, damit sie ihr Loblied auf den toten Kaiser
singen. Sie durchschreiten die wichtigsten Etappen in Karls Lebenslauf, und Al-
kuin kommt auch auf die Christianisierung der Sachsen zu sprechen. Es sei „das
Volk, das unerschrocken in Gefahr,/ ein jegliches Gesetz der Christen scheute./
Karl führt‘ in wildem Zorn sein Heer zu ihnen,/ um seines Christus Mißachtung zu
sühnen“925. Doch erst nachdem man ihre Götzen zerstört und sie getauft habe,
hätten die Sachsen nach zähen Kriegen den christlichen Glauben angenommen.
Danach habe sich Karl Spanien zugewandt. „Es war in Spanien zur selben Zeit/
das Land befleckt von andrer Ketzerei,/ weshalb die Krone, die so hoch geweiht,/
das Heer ausrüstet‘ und die Reiterei“926. Mit der Ketzerei ist der Islam gemeint,
gegen den – so Pulci – Karl gleichfalls erfolgreich gekämpft habe. Schließlich sei
er bei einem erneuten Italienzug vom Papst als Dank für seine Unterstützung zum
Kaiser gekrönt worden, und im Himmel würden seine vielfältigen Verdienste um
das Christentum gewiss entsprechend belohnt werden. Nach seinem Tode habe
man den Herrscher in dem von ihm errichteten Aachener Marienmünster bei-
gesetzt. „Und weil die Menschen gern ein Abbild haben,/ ließ jenes Volk, das ihn
verehrt so sehr,/ nachbilden ihn auf seinem Sarg erhaben,/ mit einem Epitaph,
das kurz und hehr:/ ‚Hier liegt der Leib des großen Karl begraben,/ christlichster
Kaiser aller Römer er‘./ Das wichtigste bei solch kurzem Idiom:/ ‚Christlichst‘ und
‚Karl‘ sowie ‚König von Rom‘.“927

924 AaO., 370.


925 AaO., 452.
926 AaO., 454.
927 AaO., 464.
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Macchiavelli, Castiglione und Bembo

Pulcis „Morgante“ endet mit einem Lobpreis seiner Mäzenin Lucrezia Tornabuoni,
der Mutter Lorenzos des Prächtigen, und einem an die Gottesmutter Maria gerich-
teten Gebet. „Mit deiner Gnade, heil’ge Jungfrau wert,/ bewahr die fromme Seele,
die geschieden,/ Mona Lucrezia, die dich hoch verehrt,/ in reiner Liebe und in
wahrem Frieden;/ du kannst erhören das, was sie begehrt,/ da sie nur bittet,
womit du zufrieden:/ bei ihren Tugenden, drum bitte ich,/ daß sie der Gnade Heil
erwirk‘ für mich.“928 Nach dem Ende Savonarolas, der den „Morgante“ aus der
Arnometropole verbannt wissen wollte, stand Piero Soderini als Gonfaloniere auf
Lebenszeit an der Spitze der republikanischen Regierung. Während dieser Zeit
war für die Außen- und Verteidigungspolitik Niccolò Machiavelli zuständig,
dessen Verdienst unter anderem die Aufstellung einer eigenen Bürgermiliz
war, mit deren Hilfe 1509 die Rückeroberung Pisas gelang. Doch 1512 konnten
die Medici nach Florenz zurückkehren, nachdem Giovanni, der Sohn Lorenzos
des Prächtigen und spätere Papst Leo X., im benachbarten Prato ein grausa-
mes Strafexempel vollzogen hatte. Soderini wurde abgesetzt, und die Medici
rissen erneut und rasch die politische Macht an sich. Zunächst übernahm Giu-
liano, der jüngste Sohn Lorenzos des Prächtigen, die Regierung und nach einem
Jahr bereits sein Neffe Lorenzo, ein haltloser Herrscher, der sich mit kriegerischen
Mitteln den Titel des Herzogs von Urbino aneignete. Als Machiavelli 1513, nach
Verlust seiner politischen Ämter, die er unter Soderini innehatte, „Il principe“
schrieb, widmete er das berühmte Werk Lorenzo. Ursprünglich hatte er es Giu-
liano zueignen wollen, doch nach dessen Abdankung änderte er seine Absicht.
Allerdings erschien das Buch erst wesentlich später, nämlich fünf Jahre nach Ma-
chiavellis Tod 1532 in Rom. In ihm befasst sich der Autor ausschließlich mit Fürs-
tenherrschaften und dem Fürsten, blendet also Republiken aus, weil er sich mit
ihnen in den kurz zuvor begonnenen „Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio“
befasst. Anhand historischer und aktueller Beispiele versucht Machiavelli das
Idealbild eines Fürsten zu entwerfen, dem einzig an Sicherung und Zuwachs sei-
ner politischen Macht gelegen ist und der daher nur machtpolitischen Maximen
unter Ausblendung aller moralischen Aspekte folgt. So stellt er etwa als allge-
meine Regel auf: „Wer bewirkt, dass ein anderer mächtig wird, der richtet sich
selbst zugrunde; denn diese Macht ist von ihm entweder durch Geschicklichkeit
oder durch Gewalt verursacht, und das eine wie das andere ist demjenigen ver-

928 AaO., 488.


Macchiavelli, Castiglione und Bembo 463

dächtig, der dadurch mächtig geworden ist.“929 Wichtig für einen Fürsten ist in
Machiavellis Augen vor allem ein eigenes Heer, und der Florentiner Autor bezog
sich, gewiss nicht ohne Michelangelos Plastik vor Augen zu haben, auf David, um
die Notwendigkeit eines eigenen Heeres an Stelle von fremden Söldnertruppen zu
begründen.

Als sich David vor Saul erbot, mit Goliath, dem Philister und Herausforderer, zu kämpfen,
legte ihm Saul seine eigenen Waffen an, um ihm Mut zu machen; sobald aber David
damit gerüstet war, lehnte er sie ab mit den Worten, dass er mit ihnen seine Kräfte nicht
voll entfalten könne, und daher wolle er dem Feind mit seiner Schleuder und seinem Mes-
ser entgegentreten. Kurz gesagt, fremde Rüstungen und Waffen fallen dir entweder vom
Leib, oder aber sie erdrücken oder erdrosseln dich.930

Daraus zog Machiavelli den Schluss, „dass ohne eigenes Heer keine Fürstenherr-
schaft sicher ist, sondern völlig vom Glück abhängt, da sie keine schützende Kraft
hat, auf die sie im Unglück vertrauen könnte“931. Letztlich steht das Idealbild, das
Machiavelli vom Fürsten zeichnet, im Dienste seiner Hoffnung auf eine Befreiung
Italiens von der Fremdherrschaft. Wie das Volk Israel in Ägypten zum Sklaven
werden musste, damit sich die Tatkraft des Moses zeigen konnte, so musste auch
Italien erst gegenwärtig in das Endstadium geraten, um die Tüchtigkeit eines be-
deutenden italienischen Fürsten zur Geltung zu bringen. Machiavelli erhofft sich
die Befreiung Italiens von den Barbaren vom Geschlecht der Medici, „das sich
durch sein Glück und seine Tüchtigkeit, begünstigt von Gott und der Kirche, deren
Haupt es gegenwärtig ist, zum Führer der Befreiung machen könnte“932. Als Ma-
chiavelli das schrieb, hatte Lorenzos Onkel Giovanni gerade als Leo X. den Stuhl
Petri bestiegen, und der Autor schließt mit den Worten Petrarcas: „Und Tapferkeit
wird gegen Wut/ Die Waffen richten, der Kampf sich kurz bemessen:/ Ist doch der
altererbte Mut/ Italiens Herzen nicht gänzlich unvergessen.“933
Wie Machiavelli das Idealbild des allein auf Machterhalt und Machtzuwachs
bedachten Renaissanceherrschers so entwarf Baldassare Castiglione mit seinem
„Libro del Cortegiano“ das alternative Bild des idealen Hofmanns der Renais-
sance. Das Werk wurde zwar erst 1528 veröffentlicht, doch hatte Castiglione es
bereits zwischen 1508 und 1516 verfasst. Sein Autor hatte seine höfische Ausbil-
dung in Mailand am Hofe der Sforzas unter Ludovico il Moro erhalten und war
1499 in den Dienst Francesco Gonzagas in Mantua getreten. In Rom machte er

929 Niccolò Machiavelli, Der Fürst, übersetzt von Philipp Rippel, Stuttgart 2014, 20.
930 AaO., 61.
931 AaO., 63.
932 AaO., 109.
933 AaO., 112.
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Bekanntschaft mit Guidobaldo da Montefeltro, der ihn an seinen Hof nach Urbino
einlud. Unter dessen Nachfolger Francesco Maria della Rovere wurde seine diplo-
matische Laufbahn mit der Ernennung zum Botschafter am päpstlichen Hof Leos
X. gekrönt. Während dieser Zeit schuf der mit ihm befreundete Raffael sein be-
rühmtes Porträt, das ihn selbst als den vollkommenen Repräsentanten des von
ihm beschriebenen Ideals des Hofmanns zeigt. Castiglione dürfte auch an dem
Memorandum beteiligt gewesen sein, das Raffael 1515 für Leo X. verfasste. Der
Papst hatte ihn kurz zuvor zum Oberaufseher aller römischer Altertümer ernannt
und erhoffte von ihm eine genaue zeichnerische Rekonstruktion der antiken Bau-
lichkeiten Roms. In dem an Leo X. gerichteten Brief beklagt Raffael zunächst,
dass er „den Leichnam jener edlen Vaterstadt, welche die Königin der Welt war,
so jämmerlich zerrissen sehe“934. Die Pietät gegen Ältere und das Vaterland ver-
pflichte ihn dafür zu sorgen, „daß so viel als möglich von dem Bilde und gleich-
sam von dem Schatten jener Stadt lebendig bleibe“935. Raffael und Castiglione
lasten den Untergang des antiken Rom nicht nur fremden Völkern wie den Goten
und Vandalen, sondern auch den Römern selbst und sogar den Päpsten an, die
alte Tempel, Statuen und Triumphbögen zerstörten. Die Verfasser des Memoran-
dums unterscheiden, was die Gebäude in Rom angeht, zwischen drei Arten. Zur
ersten Art zählen die Bauten aus der Zeit vor der Plünderung Roms durch die Bar-
baren, zur zweiten die aus der Zeit der Gotenherrschaft und der nachfolgenden
Jahrhunderte, zur dritten schließlich die danach errichteten Gebäude bis heute.
Letztere zeichnen sich durch einen Stil aus, der weder so schön ist wie der kaiser-
zeitliche noch so plump wie der gotische. Die neueren Bauten sind somit den frü-
heren und schöneren ähnlicher als die älteren gotischen. Was die ältesten Bauten
der Kaiserzeit angeht, so lässt sich bei ihnen anders als bei der Skulptur und Male-
rei kein Verfall erkennen. „Gleichwohl nämlich die Wissenschaften, die Skulptur
und die Malerei sowie fast alle übrigen Künste längst ihrem Verfall zugegangen
waren und bis zur Zeit der letzten Kaiser immer mehr verwilderten, so wurde doch
die Architektur aufrecht erhalten und darin eine gute Art und Weise beobachtet,
und man baute wie in der Zeit der ersten Kaiser, so daß die Baukunst unter allen
anderen Künsten zuletzt zu Grunde ging.“936. Als beispielhafter Beleg wird der
Konstantinsbogen angeführt, „dessen Anordnung in allen Punkten, die die Archi-
tektur betreffen, schön und gut durchgeführt sind, wogegen die Skulpturen dessel-
ben Bogens ganz unverständig und ohne jede Kunst und jedes Verdienst sind“937.

934 Ulrich Pfisterer (Hg.), Die Kunstliteratur der italienischen Renaissance. Eine Geschichte in
Quellen, Stuttgart 2002, 248.
935 Ebd.
936 AaO., 249 f.
937 AaO., 250.
Macchiavelli, Castiglione und Bembo 465

Verglichen mit den schlechten Skulpturen aus der Zeit der Errichtung des Bogens
seien jene Plastiken, die aus der Zeit Trajans und Antoninus Pius‘ übernommen
wurden, stilistisch vollkommen.
Nach dem Tod seines Freundes Raffael und seiner Gemahlin im selben Jahr
entschloss sich Castiglione, in den geistlichen Dienst zu treten. 1524 ging er als
päpstlicher Nuntius nach Spanien, um dort für den Ausgleich zwischen Kaiser
und Papst zu sorgen. Ein Jahr vor seinem Tod 1529 in Toledo erschien der „Libro
del Cortegiano“ als eine Sammlung von fiktiven Gesprächen, die an vier aufein-
anderfolgenden Abenden von einer illustren Gesellschaft am Hof von Urbino,
Raffaels Geburtsort, geführt wurden. Castiglione beginnt mit einem Lobpreis Ur-
binos und Federicos II., eines Condottiere, der schließlich zu einem Mäzen der
schönen Künste und dessen Hof zu einem der glänzendsten in Italien wurde. Cas-
tiglione rühmt nicht nur die Klugheit und Bildung des Herzogs, sondern auch
seine architektonischen Leistungen.

Unter seine preiswürdigen Taten ist es auch zu rechnen, daß er in Urbino trotz der ungüns-
tigen Lage einen Palast, der nach Meinung vieler der schönste in Italien ist, erbaut und so
zweckmäßig eingerichtet hat, daß er eher einer Stadt von Palästen als einem Palast gleicht.
Auch im Innern stattete er ihn nicht nur mit dem täglichen Bedarf wie Silbergeschirr, Zim-
mergerät, reich mit golddurchwirkten Tapeten, Seidenzeug und ähnlichem aufs herrlichste
aus, sondern er schmückte ihn zum weiteren Punkt mit einer ungezählten Menge alter Mar-
mor- und Erzstatuen, mit herrlichen Gemälden und mit Musikinstrumenten aller Gattun-
gen; und alles, was darin Platz fand, war durch Seltenheit und Schönheit ausgezeichnet.938

Für die edelste Zier seines Palastes habe Federico aber seine Bibliothek mit den
besten und seltesten griechischen, lateinischen und hebräischen Büchern ge-
halten. Das eigentliche Zentrum des Palastes ist denn auch das Studiolo, das
Arbeitszimmer des humanistisch gebildeten Herzogs. Die Wände verkleiden Intar-
sienplatten mit perspektivischen Bildern. In Nischen befinden sich Abbildungen
der drei theologischen Tugenden. Ursprünglich zierten die Wände 28 Bildnisse
berühmter Männer, angefangen von Cicero und Hippokrates bis hin zu Albertus
Magnus, Pius II. und Duns Scotus. Ein Teil der Bilder stammte von dem nieder-
ländischen Maler Joos van Gent. Das Studiolo befindet sich direkt über der Capella
del Perdono und dem Musentempel. Am Eingang der Kapelle liest man das lateini-
sche Distichon: „Wer reinen Herzens diese heilige Schwelle überschreitet, gelangt
in die glänzenden Reiche des ewigen Himmels.“939 Direkt neben der Kapelle liegt

938 Baldassare Castiglione, Der Hofmann. Lebensart in der Renaissance, aus dem Italieni-
schen von Albert Wesselski, mit einem Vorwort von Andreas Beyer, 4. Aufl. der Neuausgabe,
Berlin 2017, 13 f.
939 Georg Kaufmann, Emilia-Romagna. Marken. Umbrien. Baudenkmäler und Museen, 3. Aufl.,
Stuttgart 1987, 680.
466 18 Die italienische Literatur

der Musentempel, wobei eine Inschrift auf die ungewöhnliche Verbindung von Re-
ligion und Kunst verweist: „zwei kleine Tempel siehst Du hier in nahem Abstand
vereinigt, der eine den Musen geweiht, der andere Gott“940. Im Musentempel be-
fanden sich ursprünglich Bilder von Apollo, Athena und den neun Musen. Guido-
baldo, der Sohn Federicos, hatte von seinem Vater nicht nur die soldatischen
Fähigkeiten geerbt, die ihn unter Julius II. zum Kapitän der Kirche aufsteigen lie-
ßen. Sondern Castiglione zufolge versammelte er, der als wohlgelehrt charakteri-
siert wird, an seinem Hof auch die vornehmsten und edelsten Männer. Da die
Gicht ihn schon früh zur Ruhe zwang, übernahm seine Gattin Elisabetta Gonzaga,
sekundiert von ihrer Schwägerin Emilia Pia, die Leitung der geselligen Abendun-
terhaltung, bei der man sich neben Musik und Tanz auch thematischen Gesprä-
chen widmete. Ein solches Gespräch, das direkt nach der Abreise von Papst Julius
II. stattfand, sich über vier Abende hinzog und das Idealbild eines Hofmanns ent-
warf, fingiert Castiglione.
Dabei nennt der Graf Ludovico da Canossa neben den soldatischen Fähigkei-
ten des vollkommenen Hofmanns als dessen hervorstechende Eigenschaft die
Anmut – „grazia“ –, für die er folgende Regel aufstellt: „Man muß jede Ziererei
gleich einer spitzigen und gefährlichen Klippe vermeiden und, um eine neue
Wendung zu gebrauchen, eine gewisse Nachlässigkeit zur Schau tragen, die die
angewandte Mühe verbirgt und alles, was man tut und spricht, als ohne die ge-
ringste Kunst und gleichsam absichtslos hervorgebracht erscheinen läßt.“941 Der
vollkommene Hofmann soll nicht nur bescheiden sein, er soll auch über eine
Anmut verfügen, die ihn überall liebenswürdig macht. Anmut ist der Charme, der
sich vor allem durch die „sprezzatura“ ergibt, die Lässigkeit mit dem Anschein der
Absichtslosigkeit, Spontaneität und Mühelosigkeit, den der Hofmann bei allem,
was durchaus Mühe kostet, erwecken soll. Diese Lässigkeit hat nichts mit Selbstge-
fälligkeit zu tun, sondern ist Ausdruck vornehmer Zurückhaltung. Zurückhaltung
sollte auch die Kleidung des Hofmanns bestimmen. Diese sollte geschmackvoll,
würdig und ernst sein, weshalb die Farbe Schwarz empfohlen wird, so wie man es
von zahlreichen Renaissanceproträts kennt. Im Umgang mit dem Fürsten soll der
Hofmann zwar dessen Wünschen nachkommen, aber jede Form der Schmeichelei
tunlichst vermeiden. Auch soll er zumindest in den humanistischen Wissenschaf-
ten mehr als mittelmäßig gebildet sein. Und

940 AaO., 681.


941 Baldassare Castiglione, Der Hofmann. Lebensart in der Renaissance, aus dem Italieni-
schen von Albert Wesselski, mit einem Vorwort von Andreas Beyer, 4. Aufl. der Neuausgabe,
Berlin 2017, 35.
Macchiavelli, Castiglione und Bembo 467

nicht allein die lateinische, sondern auch die griechische Sprache soll er beherrschen,
worin so viele Gegenstände auf göttliche Art behandelt sind. Er kenne die Gesänge der
Dichter, nicht minder die Werke der Redner und Geschichtsschreiber und besitze die Fer-
tigkeit, in Vers und Prosa zu schreiben, hauptsächlich in unserer Volkssprache, weil ihm
dann außer dem eigenen Vergnügen auch die Fähigkeit nicht mangeln wird, die Damen
zu unterhalten942.

Doch es ist nicht nur die literarische Bildung, die man vom vollkommenen Hof-
mann verlangt, sondern ebenso Kenntnisse in der Zeichenkunst, verbunden mit ei-
nigem Verständnis der Malerei. Der hohe Rang der Malerei, die traditionell als
bloßes Handwerk gering geschätzt wurde, ergibt sich für den Grafen aus der Tatsa-
che, dass es sich bei ihr um die Nachahmung jenes großen Gemäldes der Welt han-
delt, das die Natur und Gott angefertigt haben. Das führt den Grafen zu einem
Lobpreis der antiken Maler und Bildhauer, die beide ihren Ausgangspunkt beim
Zeichnen genommen hätten. Dabei spricht er sich, was den Paragone zwischen Ma-
lerei und Plastik angeht, angesichts der Reste der antiken Malerei und ihrer Bewer-
tung durch antike Autoren für einen Vorrang der Malerei aus. Castiglione zeichnet
aber nicht nur ein Bild des idealen Hofmanns, sondern auch das einer vollkomme-
nen Hofdame. Ein Hof ohne Damen sei anmutslos, zumal auch der Hofmann seine
Anmut nur in Anwesenheit von Damen voll entfalten könne. Dabei betont der
Autor erstaunlicherweise die Gleichheit der Frau mit dem Mann, auch wenn er die
Unterschiede der Geschlechter nicht leugnet. Abgesehen davon, dass die Schönheit
bei ihr eine bedeutendere Rolle spielt als beim Hofmann, sollte die Hofdame über
die Fähigkeit verfügen, „Menschen jeder Art durch angenehme und ernsthafte Ge-
spräche zu unterhalten, passend zu Zeit und Ort und zu der Gemütslage der Per-
son, mit der sie spricht“943. Es ist eine durch Verstand und Güte gemäßigte Würde,
die der vollkommenen Hofdame attestiert wird und mit der sie sich gegen die
Schamlosigkeit höfischer Lüstlinge schützt. Verhaltensregeln, die den Umgang der
Hofdame mit Liebesbezeugungen der Kavaliere betreffen, leiten dann schließlich
über zu einer Diskussion über die Liebe, die in Pietro Bembos glühendem Lobpreis
der geistigen Liebe und Schönheit gipfelt.
Bembo stammte aus Venedig und lernte schon früh durch seinen Vater, der
Botschafter der venezianischen Republik war, die verschiedenen italienischen
Höfe kennen. Von 1512 bis 1519 war er als Sekretär Leos X. tätig, danach weilte er
in Venedig und Padua, wo er auch seine „Rime“, eine Sammlung petrarkistischer
Lyrik, veröffentlichte. Seine wichtigste theoretische Schrift waren neben seinen
„Prose della volgar lingua“, einer Verteidigung des durch Dante, Petrarca und
Boccaccio geadelten Toskanischen als der überregionalen und des Lateinischen

942 AaO., 50.


943 AaO., 91.
468 18 Die italienische Literatur

ebenbürtigen italienischen Kultursprache, die Asolaner Gespräche „Gli Asolani“.


Es handelt sich bei den erstmals 1505 mit einer Widmung an Lucrezia Borgia ver-
sehehen Dialogen um ein fiktives Gespräch dreier Edelfrauen und Edelmänner
über die Liebe, das in der Villa von Caterina Cornaro, der einstigen Königin von
Zypern, in Asolo bei Treviso angesiedelt ist. Der zentrale Aspekt ist dabei die Un-
terscheidung von sinnlicher und geistiger Liebe, welch letztere als göttliche Kraft
im Menschen gepriesen wird, die ihn zur Betrachtung der wahren Schönheit be-
fähige. Bembo schließt sich damit an die verbreitete Hochschätzung der platoni-
schen Liebeslehre an, und mit seinen Asolaner Gesprächen wirkte er seinerseits
auf den 1525 publizierten „Libro de natura de amore“ des Ficinoschülers Mario
Equicola und die zehn Jahre später veröffentlichten „Dialoghi d’amore“ des por-
tugiesischen Juden Leone Ebreo944.
Bembos Lobpreis der geistigen Liebe am Ende des „Cortegiano“ fasst seine Lie-
beslehre zusammen. Um angemessen von den heiligen Mysterien der Liebe spre-
chen zu können, fleht er die Liebe an, seine Gedanken und Worte zu lenken, „auf
daß es mir vergönnt sei, diesem vollkommenen Hofmann eine Liebe zu weisen,
von der die profane Menge nichts weiß; und wie ich ihr von der Kindheit an mein
ganzes Leben gewidmet habe, so seien auch jetzt meine Worte der Erhabenheit des
Ziels und ihrem Preis gemäß“945. Zwar könne man dem Hofmann, solange er jung
sei, die sinnliche Liebe gestatten, doch müsse man ihn im Alter davor bewahren.
Bembo zeichnet einen Weg vor, der von der sinnlichen Schönheit, auf die sich die
sinnliche Liebe richtet, zur geistigen Schönheit und letztlich zu Gott führt. Wenn
nämlich der schon ältere Hofmann vom anmutigen Anblick einer schönen Frau er-
regt wird, muss die Vernunft als Gegenmittel geweckt werden. Er muss,

gestützt auf die Vernunft, die Straße der göttlichen Liebe betreten und sich vor allem der Be-
trachtung hingeben, daß der Leib, woraus die Schönheit schimmert, nicht ihr Quell ist, daß
vielmehr die Schönheit ein unkörperliches Ding ist und, wie wir gesagt haben, ein göttlicher
Strahl viel von ihrer Erhabenheit einbüßt, wenn sie sich mit einem so niedern und der Ver-
derbnis unterworfenen Gegenstand vereinigt findet und um so vollkommener ist, je weniger
sie an ihm Anteil hat, und am vollkommensten, wenn sie völlig allein für sich besteht946.

Daher ist es am besten, wenn der sinnlich erregte Hofmann sich nur auf jene
beiden sinnlichen Wahrnehmungsorgane beschränkt, die wie das Auge und das

944 Manfred Hardt, Geschichte der italienischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegen-
wart, Frankfurt am Main 2003, 312 f.
945 Baldassare Castiglione, Der Hofmann. Lebensart in der Renaissance, aus dem Italieni-
schen von Albert Wesselski, mit einem Vorwort von Andreas Beyer, 4. Aufl. der Neuausgabe,
Berlin 2017, 123 f.
946 AaO., 124 f.
Macchiavelli, Castiglione und Bembo 469

Gehör Diener der Vernunft sind, und er sich am Aussehen und an der Stimme
der geliebten Dame ergötzt. Dann wird er auf eine gesittete Gegenliebe hoffen kön-
nen, die anders als beim jugendlichen Liebhaber sogar bis zum Kuss gehen kann.
Denn während der Kuss beim jugendlichen Liebhaber mit seiner sinnlichen Liebe
das sinnliche Begehren nach mehr Körperlichkeit auslöst, erkennt der ältere Lieb-
haber mit seiner vernünftigen Liebe, dass der Mund die Pforte der Worte ist, die
den Willen der Seele verdolmetschen. „Und der Kuß kann eher eine Vereinigung
der Seelen als eine Verbindung der Körper genannt werden, weil er eine solche
Macht in sich hat, daß er die Seelen an sich zieht und von den Körpern schei-
det“947. Da es die Anwesenheit der Schönheit ist, die Vergnügen schafft, während
ihre Abwesenheit Leid verursacht, muss der Hofmann, um den Leiden der Abwe-
senheit zu entrinnen, mit Hilfe der Vernunft sein Verlangen ganz vom Leib abkeh-
ren und sich nur der Schönheit als solcher, ihrer Verbindung mit dem Irdischen
entkleidet, zuwenden. Er wird sich von der Betrachtung der Schönheit eines ein-
zigen Körpers lösen und durch die Aufeinanderhäufung aller Schönheiten eine
sie zusammenfassende Vorstellung der Schönheit in der Seele bilden, auf die
sich die Liebe richtet. Doch auch dieser Grad der Liebe ist noch nicht vollkom-
men, da die Einbildungskraft, die diese Vorstellung bildet, der sinnlichen Erkennt-
nis entspringt. Um zum Ziel der wahren Glückseligkeit zu gelangen, muss der
Hofmann in sich selbst einkehren und auf seine Seele blicken, „um die Schönheit
zu betrachten, die mit den Augen des Geistes geschaut wird“948. Erst wenn die
Seele auf diese Weise blind geworden ist für die irdischen Dinge, vermag sie die
himmlischen zu schauen. Sie erhebt sich dann zu ihrer höchsten Vollendung,
nämlich zur reinen Geistigkeit „und erschaut, nicht mehr beschattet von der dun-
keln Nacht irdischer Finsternis, die göttliche Schönheit“949. Mit der Schau der
göttlichen Schönheit ist aber das seligste Entzücken verbunden. Die göttliche
Schönheit, der Ursprung aller Schönheit, ist „eine Schönheit, die nicht zunimmt
und nicht abnimmt, die immer schön und durch sich schön, immer gleich ist und
in jedem Teil ihre Einfachheit bewahrt, die nur sich selbst ähnelt und mit keiner
andern etwas gemein hat, die so schön ist, daß alle Dinge nur schön sind, weil
sie an ihrer Schönheit teilnehmen“950. Die auf die göttliche Schönheit gerichtete
Liebe ist daher auch die höchste Fom der Liebe, die den himmlischen Teil der
Seele zu neuem Leben und zu neuer Schönheit erweckt. Daher sollen wir von der
untersten Stufe der sinnlichen Schönheit die Leiter emporsteigen zur höchsten
göttlichen Schönheit. Bembo endet mit einem Lobpreis der göttlichen Liebe als

947 AaO., 127.


948 AaO., 131.
949 AaO., 132.
950 AaO., 133.
470 18 Die italienische Literatur

eines kosmischen Prinzips, das die gesamte Welt durchwaltet. An diese Liebe
richtet sich auch die Bitte:

Reinige durch die Strahlen Deines Lichts unsere Augen von der Trübung der Unwissen-
heit, damit wir die irdische Schönheit nicht überschätzen, sondern zur Erkenntnis gelan-
gen, daß die Dinge, die unser Gesicht gesehen zu haben glaubt, nicht sind, während die
Dinge, die es nicht sieht, wirklich sind! Nimm unsere Seelen entgegen, die wir Dir als
Opfer darbringen, und läutere sie in der lebendigen Flamme, die alle Häßlichkeit des
Stoffs verzehrt, damit sie sich in völliger Trennung von den Körpern mit der göttlichen
Schönheit in einem ewigen und lieblichen Band vereinen und damit wir, uns selbst ent-
rückt, als wahre Liebende in dem Geliebten aufgehn und, vom Irdischen losgelöst, zum
Tisch der Engel zugelassen werden951.

Mit den platonisierenden Ausführungen Bembos zum Aufstieg der Seele von
der sinnlichen über die geistige hin zur göttlichen Schönheit endet beim An-
bruch des neuen Tages mit seiner Morgenröte das Gespräch der Urbiner Hofge-
sellschaft über den vollkommenen Hofmann.

Ariosts „Orlando furioso“

Im selben Jahr wie Pulcis vollständiger „Morgante“, nämlich 1483, erschienen


auch die ersten beiden Bücher eines weiteren Ritterepos, des „Orlando innamo-
rato“, in dessen Zentrum wiederum der verliebte Paladin Karls des Großen steht.
Der Verfasser dieser in Stanzen abgefassten Dichtung war der junge Graf Matteo
Maria Boiardo, der in der Nähe von Reggio Emilia zur Welt kam und in Ferrara im
Geist des dortigen Humanismus aufwuchs. Die Familie unterhielt enge Kontakte
zum dortigen Fürstenhaus der Este. Nachdem er in der Gedichtsammlung „Amo-
rum libri III“ in der Nachfolge Petrarcas seine leidenschaftliche Liebe zu Antonia
Caprara mit allen Facetten von Lust und Schmerz besungen hatte, machte er sich
1476 am Hof der Este an die Abfassung seines Ritterepos. Als aber Ercole d’Este
1478 zum Krieg gegen Papst Sixtus IV. und den König von Neapel aufbrach, zog
er sich auf sein Schloss in Scandiano bei Reggio Emilia zurück. 1480 zum Regen-
ten von Modena berufen, gab er dieses Amt schon im Erscheinungsjahr der ersten
beiden Bücher des „Orlando innamorato“ wieder auf, wurde aber 1487 erneut
zum Regenten, dieses Mal von Reggio, ernannt. Seine schriftstellerische Tätigkeit
fand so Platz zwischen höfischem Leben und Verwaltungsarbeit. Der Tod ereilte
ihn 1494 bei der Arbeit am dritten Buch des Epos, das somit Fragment blieb und
dessen Hauptmotiv die Liebe ist, die den ansonsten unüberwundenen Paladin

951 AaO., 135.


Ariosts „Orlando furioso“ 471

Kaiser Karls heimsucht. Dazu bedient sich der Liebesgott der schönen Angelica,
der zauberkundigen Tochter des Kaisers von Cataio – gemeint ist China –, die am
Hofe Karls zu Paris erscheint und dem Kaiser die besten Paladine rauben will. Bei
einem an Pfingsten veranstalteten Fest verspricht die Umschwärmte, den zum
Mann zu nehmen, der ihren Bruder Argalia im Zweikampf besiege. Als Argalia
wider Erwarten von dem Sarazenen Ferraguto getötet wird, da seine Zauberlanze
zuvor vertauscht worden war, flieht Angelica. Sie wird von den Männern verfolgt,
denen sie die Augen verdreht hat, wobei die Vettern Orlando und Rainaldo ihr
am nächsten kommen. Im Ardennerwald trinken Rainaldo und Angelica aus der
Doppelquelle Merlins, die Rainaldo den Hass auf Angelica und dieser die unbän-
dige Liebe zu Rainaldo einflößt. In den zahlreichen Abenteuern, die von Angelica
und den beiden Paladinen berichtet werden, treten immer neue Personen auf, so
auch Ruggiero, ein junger Held trojanischer Abkunft und fiktiver Ahnherr des Ge-
schlechts der Este. Als Rainaldo und Angelica erneut aus der Liebesquelle trin-
ken, entbrennt Rainaldo in leidenschaftlicher Liebe zu Angelica, während diese
Rainaldo zu hassen beginnt. Schließlich kämpfen Rainaldo und Orlando um An-
gelica und können nur von den übrigen Paladinen mit Gewalt getrennt werden,
während die Prinzessin von Kaiser Karl dem Bayernherzog Namo zur Verwah-
rung übergeben wird und demjenigen als Frau überlassen werden soll, der sich
als der Tapferste im Kampf gegen das Heer des Sarazenen Agramante erweisen
wird. Das Epos bricht ab mit dem Rückzug des besiegten christlichen Heeres
nach Paris und dem Beginn der Liebe zwischen Ruggiero und Bradamante, der
Schwester Rainaldos952. Es ist nicht der Glaubenskrieg zwischen Christen und
Muslimen, der im Zentrum von Boiardos Epos steht, sondern die Liebe mit den
Rittertugenden der Tapferkeit und des Edelmuts953. Der religiöse Gegensatz tritt
hinter der gegenseitigen ritterlichen Hochachtung, die sich die Gegner zollen,
völlig zurück.
Ein Jahrzehnt nach Boiardos Tod machte sich Ludovico Ariosto mit seinem
„Orlando furioso“ an die Fortsetzung von dessen Epos. Er wurde 1484 als Sohn
eines ferraresischen Hauptmanns in Reggio Emilia geboren und wuchs in Fer-
rara auf. Nach Abbruch seines Jurastudiums trat er 1503 in die Dienste des Kar-
dinals Ippolito d’Este, in dessen Gefolge er zur Einsetzung Julius‘ II. in Rom
weilte. Die Spannungen zwischen dem neuen Papst und den Este führten aller-
dings zu Ariosts Flucht nach Florenz. Als er sich weigerte, Kardinal Ippolito
nach Ungarn zu folgen, fand er 1518 Anstellung bei Herzog Alfonso in Ferrara.

952 Manfred Hardt, Geschichte der italienischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegen-
wart, Frankfurt am Main 2003, 250–254.
953 AaO., 254–257.
472 18 Die italienische Literatur

Nachdem er von 1522 bis 1525 das verhasste Amt des Gouveneurs der estensischen
Apenninenklave Garvagnana innegehabt hatte, verbrachte er sein restliches Leben
erneut am Hof der Este und widmete sich seinen literarischen Projekten. Er war
anfangs als Theaterautor hervorgetreten, und auch nach seiner endgültigen Rück-
kehr nach Ferrara schrieb er noch mehrere Komödien. In seinen zwischen 1517 und
1524 entstandenen „Satire“, in Terzinen abgefassten Briefen, wendet er sich unter
anderem gegen das Mäzenatentum seines Kardinals, das ihn seiner Freiheit be-
raube, sowie gegen die Korruption des Klerus, insbesondere der römischen Kurie.
Allerdings widmete er sein Epos, als er 1515 die ersten vierzig Gesänge vollendet
hatte, Ippolito d’Este, bevor er sich mit seinem Mäzen überwarf. Die um sechs Ge-
sänge erweiterte Neubearbeitung erschien 1532. Mit der durch zahllose Episoden
ausgeschmückten Handlung knüpfte Ariost ebenso wie mit dem Personal an Boiar-
dos Ritterepos an. Er setzte dabei drei thematische Schwerpunkte. Zuerst handelt
es sich um den Krieg zwischen den von Kaiser Karl angeführten Christen gegen die
Sarazenen unter Agramante, sodann um die Liebe Rolands und anderer Ritter zur
schönen Angelica und schließlich um den fiktiven Ursprung der Dynastie der Este
aus der Verbindung zwischen Ruggiero, einem bekehrten Sarazenen, und der Krie-
gerin Bradamante, der Schwester Rinaldos. Bereits in den ersten Oktaven des ers-
ten Gesangs werden diese Themen genannt. Der Titel des Epos wird in der zweiten
Oktave erklärt: „Von Roland gilt es Unerhörtes sagen,/ Was weder Reim noch
Prosa je gekannt:/ Wie er, so weise sonst in allen Tagen,/ Durch Liebe ward vom
Wahnsinn übermannt“954.
Die Haupthandlung beginnt damit, dass Agramante mit einem riesigen Sara-
zenenheer aus Nordafrika und Spanien nach Frankreich einfällt und das von Karl
dem Großen angeführte Heer der Christen zweimal zwingt, sich hinter die Stadt-
mauern von Paris zurückzuziehen. Auf Seiten der Sarazenen tun sich besonders
Mandricardo, Agricane, Gradasso und der Algerier Rodomonte hervor, dem es
sogar gelingt, in Paris einzudringen und dort ein Gemetzel anzurichten. Den mus-
limischen Helden stehen auf christlicher Seite Karls Paladine Orlando, Rinaldo
und Oliviero gegenüber. Ihnen gelingt es schließlich, die Heiden, also die Mus-
lime, bis nach Arli – gemeint ist Arles – zurückzuschlagen, wo es zu einem Duell
zweier Ritter aus den beiden gegnerischen Lagern kommt, das dann in eine End-
schlacht ausartet. Die Sarazenen werden besiegt und ins Mittelmeer getrieben. In-
zwischen hat auf afrikanischer Seite der englische Herzog Astolfo Bizerta, die
Hauptstadt von Agramantes Königreich, erobert, und er vernichtet nunmehr die
fliehenden Sarazenen auf See. Der Endkampf zwischen Sarazenen und Heiden

954 Ludovico Ariosto, Der rasende Roland I, 2, Berliner Ausgabe, Bd. 1, nach der Übersetzung
von Alfons Kissner, Leipzig 2013, 3.
Ariosts „Orlando furioso“ 473

findet auf der Insel Lipadusa – gemeint ist Lampedusa – statt. Hier stehen sich
Orlando, Brandimarte und Oliviero auf christlicher und Gradasso, Agramante und
Sobrino auf muslimischer Seite zum Duell gegenüber. Zwar tragen vor allem auf-
grund des Einsatzes von Orlando die Christen den Sieg davon. Aber ihre Freude
wird getrübt durch den Verlust Brandimartes, den sie zu beklagen haben. Das
Epos schließt mit der Ehe, die zwischen Ruggiero, dem fiktiven Ahnherrn der
Este, und Bradamante geschlossen wird. Der zum Christentum konvertierte Mus-
lim Ruggiero, ein Abkömmling des trojanischen Helden Hektor, wird, weil er sie
von den Griechen befreit hat, von den Bulgaren zu ihrem König erkoren und be-
siegt den zornigen Rodomonte, der ihn als Abtrünnigen herausfordert, in einem
Schlussduell955.
Auch wenn der Glaubenskampf zwischen Christen und Muslimen bei Ariost
nicht das einzige Zentrum ist, bildet er doch den äußeren Rahmen für das Ge-
wirr von Liebesabenteuern der einzelnen Helden. Als das Sarazenenheer Paris
belagert, versammeln sich in der Stadt alle Christen zur Messe. „Am Tag, bevor
das Schlachten soll beginnen,/ Hält man bei Karl im eingeschlossnen Kreis/
Hochamt und Messen für die Scharen drinnen/ Durch Priester, Brüder schwarz
und grau und weiß./ Man hört die Beichte drauf, durch sie entrinnen/ Wir ja
dem Feind im Höllengrunde heiß,/ Und alle, absolviert, kommunizieren,/ Als
gält‘ es, bald das Leben zu verlieren.“956 Im Gefolge seiner Paladine begibt sich
der fromme Kaiser zur Messe und bekennt vor Gott seine Sünden. Zugleich bit-
tet er den Schöpfer, seine Gnade walten zu lassen und seine Fehler nicht an sei-
nem Volk zu rächen, damit bei den heidnischen Gegnern nicht der Eindruck
entstehe, dass er auf ihrer Seite stehe. Karl erinnert Gott an die Verdienste der
Christen, seines Volkes, um die Kirche, auch wenn er darum weiß, dass die Ver-
dienste allein ohne die göttliche Gnade nichts taugen. „Unser Verdienst – ich
weiß – kann nicht genügen:/ Dem ‚Soll‘ gegenüber ist es viel zu klein;/ Wir kön-
nen nicht mit Hoffnung uns belügen,/ Betrachten wir hier unser Tun allein;/
Doch will die Gnade noch dazu sich fügen,/ Dann erst wird unsre Rechnung
klar und rein.“957 Das Gebet des Kaisers wird von seinem Schutzengel gen Him-
mel getragen und dort dem Erlöser dargebracht. Auch die Gebete der Gefolgs-
leute gelangen auf diese Weise ans Ohr der Seligen, die ihrerseits ihre Fürbitte
dem Erlöser vortragen, der nun seinerseits dem Erzengel Michael ein Zeichen
gibt, das Christenheer vor die Mauern von Paris zu senden, um der Belagerung

955 Manfred Hardt, Geschichte der italienischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegen-
wart, Frankfurt am Main 2003, 290–292.
956 Ludovico Ariosto, Der rasende Roland XIV, 68, Berliner Ausgabe, Bd. 1, nach der Überset-
zung von Alfons Kissner, Leipzig 2013, 268.
957 AaO., XIV, 72, 269.
474 18 Die italienische Literatur

ein Ende zu bereiten. Damit das Christenheer unauffällig nach Paris gelange, solle
er ihm das Schweigen zum Begleiter geben, während er in das Lager der Sarazenen
die Zwietracht senden solle. Auf der Suche nach dem Schweigen sieht er sich, als
er es im Kloster aufzufinden glaubt, bitter enttäuscht. Zwar meinte er, dort auf das
Schweigen im Verein mit Frieden, Ruhe, Liebe und Frömmigkeit zu stoßen. Doch
stattdessen stößt er nur auf Schlemmerei, Stolz, Grausamkeit, Neid, Faulheit und
Zorn. Und zu seinem Erstaunen entdeckt er unter all den Lastern auch die Zwie-
tracht, leicht erkennbar an ihrem durchlöcherten Kleid aus bunten Lappenfetzen.
„Von Klageschriften voll sind Brust und Hände;/ Da gibt es Vollmacht, Ladung,
Kommentar/ Mit Protokollen, Bündeln ohn‘ ein Ende;/ Rechtsglossen, Rat, Erklä-
rung nimmt man wahr,/ Daß kein Besitztum sich gesichert fände/ Von armen
Schelmen in der Bürgerschar./ Und vor ihr, hinten und zur Seite waren/ Sachwal-
ter, Advokaten mit Notaren.“958 Bevor Michael die Zwietracht in das Sarazenenla-
ger schickt, erkundigt er sich bei ihr noch, ob sie wisse, wo das Schweigen zu
finden sei. Sie verweist ihn an den Trug, der sich hin und wieder zum Schweigen
gesellt habe. Doch auch der Trug, der seine Hässlichkeit äußerlich kaschiert, weiß
keine Antwort und schickt den Erzengel in das Haus des Schlafs, wo das Schwei-
gen, das sich in letzter Zeit auch gerne an der Seite des Verrats zeige, sicher fin-
den lasse. Tatsächlich entdeckt Michael schließlich das Schweigen in einer tiefen
Höhle in Arabien, ihm zur Seite der Müßiggang, die Faulheit und das Vergessen.
Es erklärt sich auch bereit, das Christenheer, angeführt von Rinald, so nach Paris
zu führen, dass es die Sarazenen unter Agramant nicht merken. Bei der Belage-
rung von Paris fällt wegen seiner Angriffslust vor allem Rodomont auf, der von
seinem Ahnherr Nimrod, dem sagenhafter Erbauer Babels, die Gottesverachtung
geerbt hat. „Wo andre betend Gottes Hilfe suchen,/ In schwerer Not, hört man ihn
Gott verfluchen.“959 Dem grimmigen Rodomont gelingt es zwar, mit den Seinen in
die Stadt einzudringen und dort ein Gemetzel anzurichten. Doch schließlich wer-
den die Sarazenen das Opfer der Fallen, die die Christen aufgestellt haben, und
Agramant und seine Truppen werden in die Flucht geschlagen. Als später Agra-
mant zum zweiten Mal Paris belagert und über die Christenheit zu triumphieren
scheint, dringt das Klagen der vom Krieg Gebeutelten an den Sitz Michaels, der
entsetzt erkennen muss, dass die Zwietracht sich ihrem himmlischen Auftrag ent-
zogen hatte, im Lager der Sarazenen Zwist zu stiften. Der Erzengel steigt darauf-
hin erneut zum Kloster herab, wo er die Zwietracht schon zuvor angetroffen hatte.
„Er findet sie im Sessel dort sich wiegen,/ Als im Kapitel grade große Wahl,/ Ver-
gnügt, zu schaun, wie die Breviere fliegen/ Um all die Köpfe durch den weiten

958 AaO., XIV, 84, 271.


959 AaO., XIV, 117, 279.
Ariosts „Orlando furioso“ 475

Saal. –/ Da zausen ihr das Haar des Engels Hände,/ Und Schläge, Tritte regnet’s
ohn‘ ein Ende.“960 Unter ihrem inständigen Flehen um Erbarmen schickt Michael
die Zwietracht schließlich in Agramantes Lager. Nach der Ankunft Rinalds und
seiner Mannen erleiden die Sarazenen eine vernichtende Niederlage, und Agra-
mante zieht mit dem Rest seiner Truppen nach Arles ab.
An späterer Stelle taucht die schöne Angelica wieder auf, in die Roland sich
unsterblich verliebt hatte, die nun aber ihrerseits ihr Herz an den einfachen Solda-
ten Medor verloren hat, den sie gesund pflegt. Als Roland von dieser Verbindung
erfährt, beklagt er laut den Verlust seiner Angebeteten, sieht sich von Amor besiegt
und verfällt dem Wahnsinn. Er entledigt sich seiner Rüstung, deren Teile er im
Wald verstreut. „Die Kleider riß er ab: nackt zeigt sich der Wilde/ Brust, Rücken,
Bauch, die zottige Gestalt./ So tät die grimme Raserei entstehen,/ Gräßlich, wie
keine noch die Welt gesehen.“961 Aus dem treuen Paladin Karls des Großen ist der
rasende Roland geworden. Das gibt Ariost Gelegenheit, über die Wirkungen der lei-
denschaftlichen Liebe zu reflektieren. Der rasende Roland ist mit solchen Kräften
ausgestattet, dass er riesige Bäume entwurzelt und Hirten umbringt, die ihm zu
nahe kommen, ohne dass sie ihm mit ihren Waffen etwas anhaben könnten. „Der
Himmelskönig schützt den nackten Fechter/ Mit seiner Huld als heil’gen Glaubens
Wächter.“962 Zwar findet man später die im Wald verstreute Rüstung, die Waffen
und Kleider Rolands, doch weiß man sich keinen Reim darauf zu machen, da nie-
mand sich vorstellen kann, dass der Paladin den Verstand verloren hat. Inzwischen
will der englische Herzog Astolfo im fernen Indien nach Europa zurückkehren.
Bevor er aufbricht, lässt er sich von der Fee Andronika die Zukunft voraussagen.
Und ähnlich wie Ariost zuvor seine Kritik am Verfall des monastischen Lebens so
kann er jetzt seine geographischen und historischen Kenntnisse anbringen. Denn
die Fee sagt die Entdeckung des Seewegs nach Indien ebenso voraus wie die Welt-
herrschaft Karls V. „Dann wird der Herrscher auf den Thron gelangen,/ dem Gott
die Weltenherrschaft will verleihn,/ Der weise Kaiser, hehr und auserlesen,/ Der
edelste, der seit August gewesen.“963 Für seine Verdienste erhält er, der Spross aus
der Verbindung von Österreich und Aragon, von Gott nicht nur die Krone des Kai-
sertums, sondern auch die fernster Länder, sodass in seinem Reich die Sonne nie-
mals untergeht. „Damit es unter ihm zur Wahrheit werde:/ Ein Hirt allein und eine

960 Ludovico Ariosto, Der rasende Roland XXVII, 37, Berliner Ausgabe, Bd. 2, nach der Über-
setzung von Alfons Kissner, Leipzig 2013, 42.
961 AaO., XXIII, 133, 523.
962 AaO., XXIV, 10, 536.
963 Ludovico Ariosto, Der rasende Roland XV, 24, Berliner Ausgabe, Bd. 1, nach der Überset-
zung von Alfons Kissner, Leipzig 2013, 288.
476 18 Die italienische Literatur

einz’ge Herde.“964 Zudem sei er umgeben von kühnen Feldherrn zu Lande und zu
Meer, wobei die Fee unter anderem Cortez, Colonna, Pescara und Andrea Doria na-
mentlich erwähnt. Mit seinem schnellen Ross gelangt Astolf auf seinem Ritt nach
Europa über Ägypten, wo er noch einige Heldentaten vollbringt, ins Heilige Land,
„wo mit dem eignen Blute/ Die Sünden Liebe wegwusch, uns zugute“965. Von Sam-
sonet, einem von Roland zum Christentum bekehrten und getauften Muslim aus
Mekka, werden sie in Jerusalem empfangen und reich beschenkt. Auch nutzen As-
tolf und die Seinen in der heiligen Stadt die Gelegenheit, ihre Frömmigkeit zu be-
zeugen. „Sie ließen Ablaß sich im Kloster geben,/ Das im Geruche guten Beispiels
stand,/ Um dann sich zu den Tempeln zu begeben,/ Wo Christi Passion Verkün-
dung fand/ Und die für Mohren jetzt zum Himmel streben“966.
Astolf ist auch entscheidend daran beteiligt, dass Roland schließlich von
seinem Wahnsinn erlöst und ihm der Verstand zurückgegeben wird. Dazu fliegt
er mit seinem sagenhaften Hippoglyphen, einer Mischung aus Pferd und Greif,
über das muslimische Ägypten hinweg ins christliche Nubien, wo ihn der äthio-
pische Kaiser Senap, im Abendland als Priesterkönig Johannes bekannt, erwar-
tungsvoll empfängt. Denn ein Seher hatte ihm verheißen, dass er erst dann von
seiner Hungerqual erlöst werde, wenn sich ein Reiter auf einem Flügelpferd
nahe. Der Hunger, der ihn beständig quält, ist eine Strafe dafür, dass der Kaiser
einst den hochmütigen Versuch unternommen hatte, das auf dem Berg der Nil-
quellen vermutete irdische Paradies zu erobern. „Er hörte, oben auf den Felsen-
kanten,/ In Wolken, sei das ird’sche Paradies,/ So wie es Adam einst und Eva
kannten,/ Eh sie der Engel aus der Pforte wies./ So kam’s, daß er mit Fußvolk,
Elefanten,/ Kamelen frevelnd ebnes Land verließ,/ Begierig, alles oben seiner
Krone/ Zu unterwerfen, wenn ein Volk da wohne.“967 Doch Gott schlug den Äthio-
pier wegen dieses luziferischen Hochmuts mit Blindheit und gewährte den hölli-
schen Harpyien Zugang zu seinen Mahlzeiten, die sie verschlangen und mit ihrem
Gestank ungenießbar machten, so dass der Kaiser nichts davon zu essen bekam
und zu ewigem Hunger verurteilt war. Daher sieht er mit der Ankunft Astolfs auf
dem Hippoglyph die Weissagung des Sehers erfüllt und die Erlösung von seiner
Hungerqual nahe. Als er allerdings seinen erhofften Retter als Heiland begrüßt,
weist Astolf dies von sich, da er nur ein sterblicher Sünder sei und solche Gnade
nicht verdiene. Kaum dass beim Auftischen des reichen Mahls erneut die Harpy-
ien erscheinen, weiß er sie mit Hilfe seines Wunderhorns und dessen schaurigen

964 AaO., XV, 26, 288.


965 AaO., XV, 94, 303.
966 AaO., XV, 99, 304 f.
967 Ludovico Ariosto, Der rasende Roland XXXIII, 110, Berliner Ausgabe, Bd. 2, nach der Über-
setzung von Alfons Kissner, Leipzig 2013, 202.
Ariosts „Orlando furioso“ 477

Tönen endgültig in die Hölle zu vertreiben. Am Hölleneingang dringt von unten


ein Klagen und Heulen empor, was Astolf veranlasst, sich furchtlos in das Höllen-
innere zu begeben. Dort begegnet er den Schatten der Verdammten, deren Schick-
sal er sich von einem der zu ewiger Qual Verurteilten erklären lässt. Als er sich
keuchend und mühsam aus dem rauchigen Höllenschlund wieder nach oben ans
Licht begibt, verschließt er den Eingang mit Steinen, damit fortan keine Harpyien
ihm mehr entweichen.
Nach dem Zwischenbesuch in der Hölle begibt sich Astolf mit seinem Hippo-
glyphen zu den blumengeschückten Höhen des irdischen Paradieses, wo er von
einem Alten vor einem Palast empfangen wird. Von ihm erfährt er, dass er nicht
aus eigener Kraft das irdische Paradies entdeckt, sondern Gottes Gnade ihn her-
geleitet habe. Der Greis stellt sich sodann als der Lieblingsjünger und Evangelist
Johannes vor, der wie zuvor bereits Elias und Henoch ins irdische Paradies ent-
rückt worden sei. Er klärt ihn auch über das Schicksal Rolands auf, den Gott als
Beschützer des heiligen Glaubens eingesetzt und ihm dazu höchste Kraft verlie-
hen habe. „Doch euer Roland hat für solche Gnade/ Nur üblen Dank bewiesen
seinem Herrn:/ Als das getreue Volk ihn braucht gerade,/ Da bleibt er dem be-
drängten König fern./ Verblendend lockt ihn Lieb‘ auf Frevelpfade;/ Lieb‘ einer
Heidin war sein böser Stern.“968 Wegen seiner leidenschaftlichen Liebe zu der
schönen Chinesin Angelica sei Roland wie einst Nebukadnezar von Gott mit dem
Verlust des Verstandes bestraft worden. Aber da sein Vergehen weit geringer sei
als dasjenige des babylonischen Herrschers, solle er nach drei Monaten von sei-
ner Strafe erlöst werden, und Gott habe Astolf dazu ausersehen, ihm den Ver-
stand zurückzubringen. Dazu werde er sich mit ihm nachts auf dem Wagen des
Propheten Elias zum Mond aufmachen, wo Rolands verlorener Verstand aufbe-
wahrt sei. Auf dem Mond angekommen, gelangt man dort in ein enges Tal, wo
alle die Dinge aufbewahrt werden, die man auf Erden verloren hat, beispielweise
Herrschaft, Reichtum, Ruhm, Ziele. „Kurzum, was hier auf Erden dir entschwun-
den,/ Dort oben auf dem Monde wird’s gefunden.“969 Johannes zeigt ihm die ver-
schiedenen Abteilungen verlorener Dinge, missglückte Liebeshändel in Gestalt
goldener Ketten, fürstliche Gunsterweise in Form von Blasebälgen, ausgelaufene
Breisuppen, die sich als Ablassgelder erweisen. „Almosen sind’s, die Seligkeit zu
kaufen,/ Zu spenden erst, nachdem das Leben wich./ Von Blumen sieht er einen
Bergeshaufen:/ Einst roch es gut, jetzt stinkt es fürchterlich./ Das waren – mit Ver-
laub – der Schenkung Rester,/ Gemacht von Konstantin an Papst Silvester.“970

968 AaO., XXXIV, 64, 221.


969 AaO., XXXIV, 75, 223.
970 AaO., XXXIV, 80, 224.
478 18 Die italienische Literatur

Damit spielt Ariost auf die sogenannte „Konstantinische Schenkung“ an, mit der
das Papsttum über Jahrhunderte hinweg seinen Herrschaftsanspruch legitimierte.
In ihr wird nämlich berichtet, wie Kaiser Konstantin durch das Taufbad des herbei-
gerufenen Papstes Silvester I. vom Aussatz geheilt wurde und dem Papst aus Dank-
barkeit den universalen Primat zugesprochen habe, wonach der römische Bischof
den Vorrang vor den vier östlichen Patriarchaten genieße. Außerdem habe der Kai-
ser dem Papst die weltliche Herrschaft über Rom, Italien und das Abendland samt
den kaiserlichen Vorrechten und Insignien übertragen und den Lateranspalast
als Herrschaftssitz überlassen, während er selbst in die neue Hauptstadt Konstan-
tinopel übergesiedelt sei. Diese „Konstantinische Schenkung“ wurde um 1440
von dem Humanisten Lorenzo Valla als Fälschung entlarvt, worauf Ariost Bezug
nimmt, wenn er sie zu den verlorenen Dingen zählt, die auf dem Mond aufbe-
wahrt werden. Die Urkunde, die in blumigen Worten die päpstlichen Herrschafts-
ansprüche legitimierte, hat sich, nachdem ihre Fälschung nachgewiesen wurde,
in einen stinkenden Haufen verblühter Blumen verwandelt. Ariost nutzt so die
Führung durch den Fundus verlorener Dinge zu einer umfassenden Gesellschafts-
kritik. Zu den Dingen, die er in jenem Fundus nicht entdeckt, gehört die Torheit,
weil sie ja auf Erden verblieben ist. „Der Torheit nur konnt‘ er nicht habhaft wer-
den:/ Die – weicht ja nicht von uns; sie bleibt auf Erden.“971 Andererseits stößt
Astolf auf zahlreiche Krüge, in denen sich als feine Flüssigkeit der Verstand befin-
det, und auf dem größten Krug befindet sich die Aufschrift „Rolands Verstand“.
Doch entdeckt er unter den Krügen auch einen mit einem Teil seines eigenen Ver-
standes, daneben solche mit dem Verstand von Personen, die er bislang für ver-
ständig gehalten hat, fälschlicherweise, wie sich jetzt herausstellt. Astolf nimmt
den Krug mit Rolands Verstand an sich, um zu einem späteren Zeitpunkt mit sei-
ner Hilfe den Paladin von seinem Wahnsinn zu erlösen, und auf ihrem Heimweg
stoßen er und sein Begleiter auf die Parzen, die an den Lebensfäden künftiger Ge-
schlechter spinnen. Ariost verbindet das mit einem Lobpreis auf seinen Mäzen Ip-
polito d’Este und die Dichter, die die Sterblichen vor dem Vergessen bewahren
und ihren Ruhm steigern. Denn weder war Äneas so fromm noch Hektor oder
Achill so stark, wie sie dargestellt werden. „Der Dichter Hand schuf all die hohen
Ehren,/ Zu denen sie sonst nie gekommen wären.“972
Der religiöse Unterschied zwischen Christen und Muslimen, der für die Haupt-
handlung entscheidend ist, spielt auch eine Rolle in der Beziehung zwischen Rug-
giero und Rinaldos kriegerischer Schwester Bradamante. Denn Bradamante besteht
darauf, dass Ruggiero, bevor er sie eheliche, sich vom Islam zum Christentum

971 AaO., XXXIV, 81, 225.


972 AaO., XXXV, 25, 233.
Ariosts „Orlando furioso“ 479

bekehre und taufen lasse, was er ihr auch verspricht, zumal seine Vorfahren
Christen waren.

Und er, nicht nur als Christ für sie zu leben/ Wär‘ er in seiner Liebesglut bereit,/ So wie es
einst sein Vater war, daneben/ Das ganze Haus einmal in frührer Zeit,/ Nein, freudig würd‘
er auch sein Leben geben/ Und hätt‘ es augenblicklich ihr geweiht:/ ‚Für dich‘, sprach er,
‚nicht nur ins Wasserbecken/ Würd‘ ich den Kopf, nein, auch ins Feuer stecken.‘973

Die Beziehung zwischen Ruggiero und Bradamante wird noch dadurch belastet,
dass Bradamante vermutet, dass der Geliebte sie mit der Zauberin und heidnischen
Perserkönigin Marfisa betrüge, so wie umgekehrt diese glaubt, dass Ruggiero ihr
Bradamantes wegen untreu geworden sei. Als Marfisa deshalb Ruggiero im Zwei-
kampf angreift, erfährt sie durch eine Geisterstimme, dass sie dessen Schwester ist
und lässt sich von ihrem Bruder darüber aufklären, dass ihrer beider Geschlecht
von dem trojanischen Helden Hektor abstamme. Wie Bradamante verlangt aber
auch sie, dass Ruggiero sich zum Christentum bekehre, so wie sie selbst vorhat,
sich und ihr Volk taufen zu lassen. Ihre Taufe wird schließlich von Erzbischof Tur-
pin und mit Kaiser Karl als Paten vorgenommen. Ruggieros Taufe findet hingegen
erst statt, nachdem er sich aus den Fluten des Mittelmeeres vor dem Ertrinken auf
eine Felseninsel gerettet hat. Er führt seine Rettung auf sein Gebet zurück: „Und
Christ zu werden schwört er für die Gnade,/ Wenn er die Füße setze ans Gestade,/
Und daß er nie mehr Waffen nehmen wolle,/ Um Mohren gegen Gläub’ge beizu-
stehn“974. Durch nächtliche Gesichte war dem auf der Insel hausenden Klausner
bekannt, dass Ruggiero angespült werde. Er nimmt ihn in Empfang und unterrich-
tet ihn im christlichen Glauben. „Dann tröstet er: Verstoßen will mitnichten,/ Wer
früh, wer spät ihn anfleht, Gottes Sohn!/ Und er begann vom Weinberg zu be-
richten/ Und wie dort alle hatten gleichen Lohn./ Langsam darauf, um ihn zu
unterrichten,/ Eifrig und liebevoll, in Religion,/ Zur Klause lenkt der Eremit
die Schritte,/ Die er gehaun aus spröden Felsens Mitte.“975 Dort lernt Ruggiero die
heiligen Tiefen des Glaubens kennen und empfängt in den nächsten Tagen die
Taufe durch den Klausner, der ihn auch über die Zukunft seines Geschlechts der
Este unterrichtet, die ihm Gott offenbart hatte. Gegen Schluss, nachdem Agra-
mante auf Lampedusa endgültig besiegt wurde, bekehrt sich auch noch Sobrin,
als er sieht, wie der im Kampf verwundete Olivier vom Klausner gesund gepflegt
wird. „Als er den Kranken durch den Mönch gesunden/ Sah also wunderbar mit

973 Ludovico Ariosto, Der rasende Roland XXII, 35, Berliner Ausgabe, Bd. 1, nach der Überset-
zung von Alfons Kissner, Leipzig 2013, 479.
974 Ludovico Ariosto, Der rasende Roland XLI, 48 f., Berliner Ausgabe, Bd. 2, nach der Über-
setzung von Alfons Kissner, Leipzig 2013, 363.
975 AaO., XLI, 56, 365.
480 18 Die italienische Literatur

einem Schlag,/ Da war sein Glaub‘ an Mohammed geschwunden:/ Christum be-


kannt er, der so viel vermag,/ Und bat, das Herz zerknirscht und voller Bangen,/
Des Christentumes Lehre zu empfangen.“976 Als Rinaldo schließlich dem konver-
tierten Ruggiero seine Schwester Bradamante als Braut verspricht, stößt dies bei
ihren Eltern zunächst auf Ablehnung, da sie ihre Tochter bereits Leo, dem Sohn
des byzantinischen Kaisers, versprochen haben und Ruggiero zudem kein Reich
sein Eigen nennt. Doch auch diese Schwierigkeiten lösen sich am Ende auf. Leo
verzichtet zugunsten Ruggieros auf Bradamante, und Ruggiero gewinnt darüber
hinaus auch noch die Krone des Bulgarenreiches. Der grimmige Rodomonte, der
im letzten Augenblick das Glück zunichte zu machen droht, wird von Ruggiero im
Kampf getötet, so dass Ariost sein Epos ähnlich wie Vergils „Aeneis“ mit den Wor-
ten enden lassen kann: „Zu Acherons trübsel’gen Uferstrecken/ Floh aus dem
Leib, erkaltet ganz und gar,/ Mit wildem Fluch und grimmigen Gebärden/ Der
Geist, der solchen Stolz gehegt auf Erden.“977

976 AaO., XLIII, 193, 442.


977 AaO., XLVI, 140, 527.

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