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Der Mann aus Tunesien

E s ist ein Spätfrühlingstag im Mai. Die Sonne scheint und am Himmel sind kei-
ne Wolken zu sehen. Es ist nur ein bisschen zu heiß für die Jahreszeit: 31 Grad
im Schatten.
TRACK 07 Dario, 12, und Luca, ein Junge aus der Parallelklasse, spielen im Garten.
5 Es war aber nicht so einfach für die beiden, sich zu einigen. Dario, Fußballfan,
möchte nämlich immer und nur Fußball spielen. Luca dagegen, von Natur aus eher
nachdenklich, nicht so aufgeschlossen und sportlich wie der Freund, hatte gehofft,
die neue Konsole auszuprobieren, die Dario letzte Woche zum Geburtstag bekom-
men hatte.
10 Fußball ja, Fußball nein. Videospiele ja, Videospiele nein. Damit sich keiner be-
leidigt fühlt bzw. unzufrieden ist, hat man sich kompromissbereit gezeigt und sich
für ein Spiel entschieden, das eigentlich altmodisch aussehen kann, das aber in be-
stimmten Situationen immer noch einen gewissen Reiz ausübt, vor allem auf Jun-
gen im Alter der zwei Freunde: Schiffeversenken!
15 Die beiden sitzen also ruhig unter einem großen Sonnenschirm, ein Blatt mit Käst-
chen vor sich liegend, und überlegen, wohin sie die eigenen Schiffe platzieren sol-
len und wo die des Rivalen sein könnten.
Dario sieht gelangweilt aus, scheint keinen großen Spaß daran zu haben, anders als
Luca, der so sehr in das Spiel vertieft ist, dass man meinen könnte, er träume schon
20 von einer Karriere als Kapitän auf einer Fregatte.
„Du bist jetzt dran“, sagt Dario.
Luca überlegt einen Moment, dann antwortet er: „B4“.
Dario betrachtet sein Blatt, hebt langsam den Kopf und sagt: „Treffer! Diesmal hast
du Glück gehabt!“

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D arios Haus ist ein Reihenhaus, mit einem kleinen Garten, knapp 50 Meter
Luftlinie von der Hauptstraße entfernt, wo jeden Tag starker Verkehr herrscht.
Es sind vor allem die vielen LKWs, die viel Lärm verursachen und viel CO2 aus-
stoßen. Und solange die neue Umgehungsstraße nicht fertig gebaut ist (und das
wird voraussichtlich noch ein Jahr dauern), muss man sich damit abfinden und viel
30 Geduld haben.
Ein Radfahrer, vollbeladen, eine große Kiste auf dem Gepäckträger, weckt plötz-
lich Lucas Aufmerksamkeit.
Es ist ein junger Mann um die 30. Er bleibt vor dem Gartentor stehen, steigt vom
Fahrrad ab, schaut sich um und wirft dann flüchtig einen Blick auf das Namens-

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35 schild auf dem Briefkasten.
Das weiße T-Shirt mit der
Schrift „Holiday Club Cabana“
ist ganz verschwitzt.
Der Mann klingelt.
40 „Dario, da ist jemand ... ein
Straßenverkäufer, glaube ich“,
sagt Luca.
„Schon wieder einer von de-
nen“, antwortet Dario. „Jeden
45 Tag schaut einer vorbei und
versucht sein Gerümpel zu
verkaufen.“
Darios Mutter kommt aus
der Küche und geht auf den
50 Mann zu. Inzwischen sind
auch die zwei Freunde aufge-
standen und nähern sich dem
Gartentor.
Der Mann nimmt eine Tüte
55 aus der Kiste auf dem Fahr-
rad, öffnet sie und zeigt auf
den Inhalt: Taschentücher, Feuerzeuge, Socken, Kugelschreiber, billige Uhren ...
„Bitte, kaufen Sie mir etwas ab, irgendetwas, bitte ...!“
„Wir brauchen nichts“, sagt Dario und kommt somit seiner Mutter zuvor.
60 Aber die Mutter merkt bei genauerem Hinschauen, dass es dem Mann nicht gut
geht. Er stützt sich mit beiden Händen gegen das Tor, wirkt erschöpft, seine Augen
sind zu. Er kann sich kaum auf den Beinen halten ...
„Haben Sie Durst? Wollen Sie was trinken?“
Der Mann antwortet nicht.
65 „Hallo, junger Mann! Wollen Sie was trinken?“, fragt die Mutter wieder.
Der Mann antwortet auch diesmal nicht. Dann setzt er sich auf den Bürgersteig,
senkt den Kopf in die Knie und sagt weiter kein Wort.
Luca und Dario schauen sich in die Augen, sie spüren eine gewisse Verlegenheit.
Jeder weiß, was der andere denkt, wagt aber nicht, es offen zu sagen.
70 „Und jetzt? Was machen wir?“, lautet die unausgesprochene Frage.
Die Mutter beugt sich zu dem Mann und bietet ihm an, sich kurz im Garten auszu-
ruhen.
Dario ist erstaunt, schaut zu seiner Mutter und sagt: „Aber Mutti, Vati sagt immer,
wir sollen niemanden ins Haus reinlassen, du weißt es doch!“

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75 „Ja, schon, aber der Mann ist fix und fertig. Wenn er weitere zehn Minuten hier in
der Sonne sitzen bleibt, dann kriegt er einen Sonnenstich.“
„Also, kommen Sie kurz mal rein“, sagt die Mutter zu dem Mann. „Da, unter dem
Sonnenschirm ist ein Stuhl. Setzen Sie sich. Ich bringe Ihnen ein Glas Wasser ...“
Der Mann steht mit großer Mühe auf, seine Schritte sind schwer, langsam. Man
80 merkt, er ist am Ende seiner Kräfte.
Das kühle Wasser tut ihm gut. „Noch Wasser, bitte!“ An seiner Stimme spürt man
eine gewisse Dankbarkeit.
Dario schenkt ihm noch Wasser ein. Der Mann trinkt das Glas in einem Zug aus.
„Danke“, mehr sagt er nicht.
85 Allmählich entsteht eine entspannte Stimmung, so, als wäre der Mann ein Bekann-
ter, ein alter Freund, den man schon lange nicht mehr gesehen hat.

„W o wohnst du?“,
fragt Luca, der
sich inzwischen neben
90 den Mann auf den Rasen
gesetzt hat.
Der Mann scheint die
Frage nicht zu verste-
hen. Er senkt den Blick.
95 Die Frage hat ihn ver-
stimmt. Nach einer
kurzen Pause antwortet
er mit leiser Stimme:
„Ich habe keinen festen
100 Wohnsitz. Ich habe kei-
ne Aufenthaltsgeneh-
migung!“
Einen Atemzug lang ist
es ganz still im Gar-
105 ten. Die Mutter, Dario
und Luca schauen sich
gegenseitig in die Au-
gen, sprachlos. Dar-
ios Mutter sucht nach
110 passenden Worten, findet sie aber nicht.
„Aber wo haben Sie die letzte Nacht verbracht?“, will die Mutter wissen.
„Bei einem Freund. Er kommt auch aus Tunesien, wie ich. Aber ich kann nicht
mehr bei ihm bleiben. Es ist kein Platz für alle da“, sagt der Mann. „In der Woh-
nung sind schon sechs Leute, alle illegal .... morgen muss ich raus, ausziehen ...“

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115 Dann zieht er einen zerknautschten Zettel aus der Hosentasche heraus, faltet ihn
auf. Darauf steht ein Name und eine Telefonnummer.
„Ich soll hier anrufen. Hier wohnt jemand, der mir vielleicht helfen kann.“
Luca will den Mann ansprechen, aber plötzlich fällt ihm ein, dass er noch nicht
weiß, wie der Mann heißt.
120 „Wie heißt du?“, fragt also Luca.
„Kador.“
Luca versteht den Namen nicht. „Wie bitte?“
„Kador, ich heiße Kador“, wiederholt der Mann langsam und spricht dabei deutlich
jede Silbe seines Namens aus.
125 „Gut, Kador, dann rufen wir an“, schlägt Luca vor.
„Gute Idee“, sagt Darios Mutter. Sie geht ins Wohnzimmer, holt das Telefon und
kommt in den Garten zurück. Kador gibt ihr den Zettel. Darios Mutter wählt lang-
sam die Nummer .
Nach ein paar Sekunden ertönt eine fremde Stimme aus dem Hörer: „Kein An-
130 schluss unter dieser Nummer.“
Darios Mutter wählt noch einmal die Nummer. Und wieder dieselbe fremde Stimme.
„Kador, hier stimmt etwas nicht. Diese Nummer gibt es nicht ...“, sagt Darios Mut-
ter in einem Ton, als wollte sie sich fast entschuldigen.
Kador hört aufmerksam zu und will den Worten nicht glauben. Große Enttäuschung
135 steht ihm im Gesicht geschrieben.
„Na gut, heute übernachte ich sowieso noch bei dem Freund. Vielleicht bleibe ich
ein paar Tage länger bei ihm, wer weiß ...“
Danach steht er auf, bedankt sich bei allen für die Hilfsbereitschaft und verabschie-
det sich.
140 „Warten Sie“, sagt Darios Mutter. Sie holt ihre Brieftasche, nimmt einen 20-Euro-
Schein und gibt ihn Kador.
„Danke, Sie sind wirklich ein guter Mensch. „
Kador geht zum Fahrrad, steigt auf, tritt in die Pedale und fährt los. „Bis zum näch-
sten Mal“, ruft er, als er schon weit weg ist. Seine Stimme verhallt und geht im
145 lauten Verkehr fast unter.
Kadors Geschichte hat Dario tief beeindruckt. „Mutti, wir müssen ihm helfen. Wir
müssen etwas tun“, sagt Dario aufgeregt. Man merkt an seinem Gesichtsausdruck
und an seiner Stimme, dass das Schicksal Kadors ihn beschäftigt.
„Ja, Dario, wir müssen uns etwas einfallen lassen“, fügt Luca hinzu.
150 Aber alle drei wissen, dass das kein leichtes Spiel ist.

L ucas Vater arbeitet für eine große Firma. Die Firma heißt „Transpedia“ und be-
schäftigt über 100 Leute. Jeden Tag herrscht großer Betrieb vor der Lagerhalle:

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LKWs kommen an, fahren los, die Ware wird abgeladen, gestapelt und verschwin-
det dann in der großen Halle.
155 „Eigentlich bräuchten wir noch ein paar Lagerarbeiter“, sagt Lucas Vater zu dem
Personalchef, „die Arbeiter kommen den Lieferungen kaum nach. Man könnte
vielleicht ein paar Leute anstellen. Wenn nicht fest, dann wenigstens mit einem
befristeten Vertrag, sagen wir ... für die nächsten drei Monate“.
„Ich werde es dem Direktor sagen. Ich sehe ihn heute in der Besprechung“, lautet
160 die knappe Antwort.
Am Abend wartet Luca gespannt zu Hause auf seinen Vater. Er will ihm von Kador
erzählen. Denn er weiß, dass die Firma, wo sein Vater arbeitet, immer wieder Per-
sonal braucht.
„Hat Kador eine Aufenthaltsgenehmigung?“, fragt Lucas Vater. Aber der Ton der
165 Frage lässt keinen Zweifel daran, dass er die Antwort schon weiß.
„Dann ist nichts zu machen. Der kriegt keine Stelle. Unmöglich!“, fährt er fort.
Luca schweigt.

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A m nächsten Tag will Dario seine Mitschüler überreden, Kador zu „adoptie-
ren“, d.h. ihn mit ihrem Taschengeld finanziell zu unterstützen.
„Habt ihr noch etwas übrig von eurem Taschengeld?“, fragt Dario und fängt an,
mit seinem leeren Mäppchen, Geld zu sammeln. In wenigen Minuten kommen 21
Euro und 50 Cent zusammen. Alle spenden. Alle, bis auf Fabio, der eine abfällige
Bemerkung macht: „Die sollten am besten alle verschwinden, alle nach Hause ge-
hen!“
175 Dario blickt ihm kühl ins Gesicht, tut aber so, als hätte er nichts gehört. Er muss
sich zurückhalten und die Nerven behalten. „Die üblichen gemeinen Sprüche“,
denkt er sich, „es hat aber jetzt keinen Sinn, sich in ein Gespräch mit Fabio einzu-
lassen. Wichtig ist, dass ich das Geld zusammenbekommen habe.“
Dann wendet er sich an die Klasse und sagt mit stolzer Stimme: „Nächstes Mal,
180 wenn Kador bei mir zu Hause wieder vorbeischaut, gebe ich ihm das Geld. Er wird
sich bestimmt darüber freuen!“

D ario sitzt im Wohnzimmer und lernt für die Schule. Seine Mutter ist soeben
vom Einkaufen zurück und will sich kurz ausruhen. Sie liegt auf dem Sofa
und liest Zeitung.
185 „Mutti, wann kommt Kador wieder?“, fragt Dario.
„Ich weiß nicht, aber er kommt bestimmt wieder“, antwortet die Mutter. „Ja, er
kommt bestimmt wieder“, wiederholt sie leise vor sich hin.
Es ist schon eine Woche vergangen, seitdem Kador erschienen ist. Dario will ihm
helfen, ihn nicht im Stich lassen ...

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190 Kadors Schicksal ist jetzt das
Gesprächsthema. Da-rio spürt,
dass sich zu Hause etwas ge-
ändert hat. Er spürt, wie sich
seine Eltern der Sache an-
200 genommen haben. Man hat
zwar noch keine Lösung ge-
funden, man weiß nicht ge-
nau, wie man Kador helfen
kann. Aber Dario spürt eine
205 gewisse Hilfsbereitschaft, den
Wunsch, etwas für jemanden
zu tun, der in Not ist. Das ist
ein neues, früher nie da ge-
wesenes Gefühl. Und das er-
210 füllt ihn mit Freude.
Plötzlich zuckt Darios Mutter
zusammen und stößt einen
Schrei aus. Dario erschrickt.
„Nein, nein, das darf doch
205 nicht wahr sein!“, ruft die
Mutter.
„Was ist denn, Mutti?“, fragt Dario besorgt.
Keine Antwort.
Dario steht auf und stürzt zum Sofa. Er merkt, dass seine Mutter ganz blass im
210 Gesicht ist.
„Was ist in dich gefahren, Mutti?“, fragt Dario weiter.
Auch diesmal antwortet die Mutter nicht. Ihre Augen starren ins Leere. Dann zeigt
sie mit dem Finger auf einen kurzen Artikel in der Lokalzeitung. Der Titel lautet
„Radfahrer von LKW überfahren“.
215 Dario scheint zunächst nicht zu verstehen. Dann fängt er an, den Artikel zu lesen:
„Ein junger Mann um die 30 , vermutlich aus Tunesien, ist gestern bei einem
Unfall ums Leben gekommen. Er war mit seinem Fahrrad unterwegs, als ein LKW
...“

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