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Dezisionismus in der Moraltheorie Kants macht.

Ein Problem ist im Sinne der aristotelischen Dialektik


das, worüber man verschiedener, im Extremfall sich widerspre­
chender Meinung ist, und die Lösung eines Problems ist regel­
mäßig in jener Mitte zu suchen, die zwar nicht bei vermittlungs­
unfähigen logischen Widersprüchen, aber doch sonst und zumal
im Begründungszusammenhang ethischen und politischen Han­
delns zwischen Extremen die Wahrheit zu sein pflegt. Diesem
Schema entsprechend nimmt Kant das Thema seiner praktischen
Philosophie als»Problem«, das heißt als eine nach These und
Antithese dissonante überlieferung auf und präsentiert als eigene
I. Leistung die Lösung.
Das philosophische Interesse an vergangener Philosophie ist älter Nach Analogie des aristotelischen Organon gliedert sich Kants
als das historische Bewußtsein in der Philosophie. Bevor noch Kritik der praktischen Vernunft, ebenso wie die Kritik der reinen
das historische Bewußtsein das Verhältnis der Philosophie zu Vernunft, an wichtiger Stelle in zwei hauptsächliche Stücke. Es
ihrer Vergangenheit in Kontrolle nahm, gab es bereits dieses Ver­ gibt ein »erstes Buch«, unter dem Titel»Analytik der reinen
hältnis. Eine der wichtigsten Absichten, die in der Kultur dieses praktischen Vernunft«, und dann ein»zweites Buch«, überschrie­
Verhältnisses verfolgt wurden, war stets die Absicht der Unter­ ben »Dialektik der reinen praktischen Vernunft«. Und gleich zu
stützung der eigenen, gegenwärtigen Philosophie durch Beru­ Beginn dieses zweiten Buches läßt Kant diese Dialektik der
fung auf frühere Philosophie anderer. In der Praxis dieser Beru­ praktischen Vernunft durch die Antithetik zweier schulphiloso­
fung lassen sich mehrere Figuren unterscheiden - mindestens phischer Positionen philosophiegeschichtlich repräsentiert sein.
drei. Die erste Figur, die bereits Aristoteles in seiner Topik dis­ Kant bringt Epikureer und Stoiker in Opposition - eine
kutiert hat, ist die Figur der Abstützung eines philosophischen Gegenüberstellung, die natürlich ihrerseits wieder eine alte, von
Arguments durch den Nachweis seiner historisch-allgemeinen Kant nicht reflektierte Tradition hat. Kant wörtlich: »Der
Verbreitung: man empfiehlt, was man zu sagen hat, indem man Epikureer sagte: sich seiner auf Glückseligkeit führenden
nachweist, daß es immer schon gesagt worden und unwider­ Maxime bewußt sein, das ist Tugend; der Stoiker: sich seiner
sprochen geblieben sei. Die zweite Figur ist die der Unterstüt­ Tugend bewußt sein, ist GlÜckseligkeit.«l An etwas späterer
zung eines Arguments durch den Nachweis seiner Originalität. Stelle heißt es: »Der Begriff der Tugend lag nach dem Epikureer
Wer paradox argumentiert, hat es dabei nicht schwer; gewöhn­ schon in der Maxime, seine eigene Glückseligkeit zu befördern;
lich fällt es weniger leicht, originell zu sein. das Gefühl der Glückseligkeit war dagegen nach dem Stoiker
Die dritte Figur, dergemäß eine gegenwärtige philosophische schon im Bewußtsein seiner Tugend enthalten.« Und noch ein
Position sich durch Rückbezug auf vergangene Philosophie auf­ drittes Mal wiederholt Kant die historische Exposition seines
bauen läßt, ist komplizierter. In ihr verknüpfen sich die beiden Problems:»Der Stoiker behauptete, Tugend sei das höchste Gut
zuerst genannten' Figuren, indem für ein Philosophem zugleich und Glückseligkeit nur das Bewußtsein des Besitzes derselben
Traditionalität und Originalität in Anspruch genommen wer­ als zum Zustand des Subjekts gehörig. Der Epikureer behaup­
den: fürs Problem nämlich traditionsreiches Alter, und Neuheit tete, Glückseligkeit sei das ganze höchste Gut und Tugend nur
für seine gegenwärtig vorgetragene Lösung. die Form der Maximen, sich um sie zu bewerben, nämlich im
Präzis in dieser zuletzt skizzierten Weise figuriert sich das Ver­ vernünftigen Gebrauche der Mittel zu derselben.«2
hältnis der praktischen Philosophie Kants zur philosophischen
1 Kant: Kriti%.. der fraktiscben Vernunft. Werke, hrsg. von E. Cassirer.
überlieferung. Sie ist darin»dialektische« Philosophie im Sinne / 1 Bd. V, S ..tti . /I/1/;
.

I44 des schlichten Gebrauchs des Wortes»Dialektik«, den Aristoteles i 2 0., S. M2. /11/(
a. a. 145
1
Stoizismus und Epikureismus sind nach Kant die beiden philoso­ Gedanke des »Höchsten Gutes«, in welchem »eine natürliche

phiegeschichtlich repräsentativen Versuche zur Bildung einer und notwen dIgeVerbindung zwischen dem Bewußtsein der Sitt­
»Koalition« zwischen den Begriffen »Tugend« und »Glückselig­ lichkeit und der Erwartung einer ihr proportionierten Glückse­
keit«. Es sind mißlungene »Koalitionsversuche«, und die Rela­ ligkeit«' als sachlich berechtigt vorgestellt wird. Eine Welt, die
tion der beiden fraglichen Begriffe richtig zu bestimmen - das dieser Vorstellung entspräche, wäre eine »moralische Welt«, das
ist die »noch immer« »unaufgelöste Aufgabe«3 der Moral-Philo­ heißt ein »System der mit der Moralität verbundenen propor­
sophie, die Kant sich stellt. - Die Worte »Tugend« und tionierten Glückseligkeit« oder ein »System der sich selbst loh­
»Glückseligkeit« haben kaum mehr einen aktuellen Gebrauch. nenden Moralität«5 •

Auch der Sache nach ist die Unterscheidung, die durch diese Evidenterweise leben wir nicht in einer »moralischen Welt« die­
Worte im Kontext der Kantischen Moral-Theorie vertreten ser Kantischen Definition. Das heißt allerdings nicht, der Ort
wird, kein aktuelles philosophisches Thema. Dennoch ist sie ver­ unseres Daseins sei im Gegenteil eine »unmoralische Welt«. Ein
ständlich geblieben, und dieses Verständnis läßt sich sogar schär­ Zusammenhang, in welchem Tugend mit Versagung des Glücks
fen, indem man den modernen handlungstheoretischen Begriff proportional verbunden wäre, besteht auch nicht, und der Ver­
der Dezision hermeneutisch auf die Kantische Theorie zurück­ such, ihn zu denken, würde in individueller Beziehung das
bezieht, um damit zugleich auch die moral-theoretische Relevanz Pathologische und in kollektiver Beziehung das Absurde strei­
dieses Begriffs zu erweisen. fen; Zynismus wäre ihr gegenüber die angemessene Haltung,
Gut sein und es gut haben - das ist nicht dasselbe: Tugend und das heißt die Einstellung dessen, der Illusionen durchschaut, ohne
Glück sind zweierlei. Problem ist, wie beides zusammenhängt. daraus einen anderen Vorteil als den der Lust, durchschaut zu
Pädagogik zum Beispiel wäre wahrscheinlich nicht möglich, wenn haben und darin den anderen überlegen zu sein, ziehen zu kön-
nicht wenigstens normalerweise und eine gewisse Strecke weit die nen.
Unterstellung berechtigt wäre, daß die ja ohnehin stets auch »Tugend«, das heißt die habitualisierte Steuerung unseres Tuns
sozial bezogene »Tugend« zuverlässigste Mittlerin zumindest und Lassens durch die Achtung vor jenem moralischen Gesetz,
desjenigen »Glücks« ist, das aus sozialen Zusammenhängen dem das uns im Gebrauch unserer Freiheit an die Bedingung ihrer
Menschen zuwächst. Dennoch unterstellt auch der äußerste päd­ Kompatibilität mit der Freiheit anderer bindet - Tugend also
agogische Enthusiasmus niemals, daß die Güter des Lebens dem wirkt nach keiner nachweisbaren empirischen Regel als Mecha­
Menschen nach dem Maß seiner Tugend zufallen werden. Ganz nismus der Glücksverhinderung. Nur gilt eben auch umgekehrt,
im Gegenteil ist keine vernünftige, das heißt auch die unver­ daß gutes Leben uns nicht nach dem Maß unserer Tugend zuge­
änderlichen Realitäten in Rechnung stellende Erziehung denk­ teilt ist. »Daher ist auch die Moral nicht eigentlich die Lehre, wie
bar, die nicht auf die unvermeidliche Erfahrung vorbereitete, wir uns glücklich machen, sondern wie wir der Glückseligkeit
daß es auch dem nach bestem Wissen und Gewissen geführten würdig werden sollen.«6
Leben übel ergehen kann, und vor allem: daß es zugleich man­ In dieser Formel ist die Kantische Theorie der Relation zwischen
chen anderen weitaus besser geht als sie sind. Eben weil das so ist, Tugend und Glück konzentriert. Es ist eine Formel, die gegen
weil aus Gründen sozialer Dependenz oder aus den Zufälligkei­ Stoizismus und Epikureismus festhält, daß es nicht möglich sei,
ten des handlungsmäßig ohnehin nicht voll beherrschbaren »zwischen äußerst ungleichartigen Begriffen, dem der Glück­
Naturlaufs »Tugend« und »Glück« niemals (es sei denn aus Zu­ seligkeit und dem der Tugend, Indentität zu ergrübeln«1. Gegen
fall) in prästabilierter Harmonie miteinander verknüpft sind, ist
/I
das »Ideal« einer solchen Verknüpfung selber ein unvermeid­ , a. a. 0., S. 119.
licher Wunsch und Gedanke. Es ist das der von Kant sogenannte 5 Kant: Kritik der reinen Vernunft. B 837f.
6 Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Werke, hrsg. von E. Cassirer,
�l. Bd. V, S ..ur4� 0

S a. a. 0., S. � 7 a. a. 0., S. 122. I47


die Stoiker bleibt geltend zu machen, daß »Glüdt« nicht »im auch umgekehrt jene Verkehrung des Sinns dieses Gehorsams
Bewußtsein der sittlichen Denkungsart mit eingeschlossen« ist. gegen Gott, in der er, vergeblich, im Interesse einer adäquaten
Die Stoiker hätten »durch die Stimme ihrer eigenen Natur hin­ Glückseligkeitsmaximierung geübt wird.
reichend . . . widerlegt werden können«8, daß »Seelenruhe«, die
sich aus Erfüllung der moralischen Pflichten erzeugt, nicht mit
jener Erfahrung des Glücks identisch ist, die wir in einem erhoff­
ten Dasein der Fülle zu machen gewiß sind. Die Philosophie in I!.
ihrer schwierigen Bemühung, Ordnung, das heißt einen Zusam­ Kants Moral-Theorie ist keine Pflichten-Lehre. Sie gibt auf die
menhang kompatibler, interdependenter Bestimmungen derjeni­ Frage »Was soll ich tun?« keine Antwort im Hinblidt auf kon­
gen Kategorien herzustellen, durch die wir bei jeglicher Praxis krete, institutionelle rechtliche oder sittliche Verhältnisse. Sie ist
von der Wissenschaft bis zur Politik vorweg orientiert und ver­ eine Theorie derjenigen Praxis, in der wir uns auf das »Ganze«
ortet sind - Philosophie also ist nicht selten in der Gefahr, über unseres Daseins und Lebens beziehen. Von einer solchen Praxis zu l�)
der Genugtuung, einer Kategorie endlich ihren vermeintlichen reden hat offensichtlich nur dann einen Sinn, wenn man die Vor- .-
-'
systematischen Ort bestimmt zu haben, zu übersehen, daß dabei aussetzung macht, es ließen sich die mannigfachen Güter des .
der fragliche Begriff gerade um das gebracht wird, was er in der Lebens als auf ein »höchstes Gut« bezogen denken. Kant macht
Praxis des Lebens leistet. Dieser Gefahr ist nicht durch keine diese Voraussetzung in Gemäßheit philosophischer und theologi-
Philosophie, durch Verzicht also auf kritische Analyse der Aprio­ scher Traditionen, die auch heute noch, und sei es in politisch­
ritäten, das heißt der in jeglicher Praxis vorausgesetzten kate­ ideologischer Transposition, mächtig genug sind, um die kan-
gorialen vermeintlichen Selbstverständlichkeiten zu begegnen, tische Voraussetzung zumindest mit dem Anschein der Plausibili-
sondern einzig durch bessere Philosophie. Als der bessere Philo­ tät, ja der Selbstverständlichkeit auszustatten. So kann man sich
soph hat Kant sich durch das kantisch reproduzierte stoische in der Tat wünschen, daß unser Tun oder Lassen jeweils in letz-
Argument, das Glüdtsverlangen erfülle sich in der Pflichterfül­ ter Instanz beziehbar bleibt auf den Zweck der Verwirklichung
lung, sozusagen nicht verblüffen lassen, und er beharrt darauf, einer »moralischen Welt«, in der »Tugend« und »Glück« in
daß »Glüdt« und »Tugend« heterogene Größen sind, die weder prästabilierter Harmonie miteinander verbunden sind, Fülle des
eins für das andere noch eins durch das andere zu haben sind. guten Lebens und Reinheit des guten Willens herrschen, so daß
Eben das müssen auch die Epikureer gegen sich gelten lassen, die, im Proporz beider die Wirkungen einer Gnade nicht anders als
in der unbestreitbaren Gewißheit, daß der Mensch, klug, eine die Wirkungen der Gerechtigkeit ausfallen könnten. Gewiß ist
ganze Menge für sein Glüdt tun kann (»wozu auch Enthaltsam­ auch für Kant dieser Gedanke einer moralischen Welt »eine
keit und Mäßigung der Neigungen gehört«9 ) , fälschlich Moral bloße . .. Idee«, »aber doch eine praktische Idee, die wirklich
mit dem Inbegriff der Regeln solcher Lebensklugheit identifi­ ihren Einfluß auf die Sinnenwelt haben kann und soll, um sie
zierten. Demgegenüber rühmt Kant die »Lehre des Christen­ dieser Idee so viel als möglich gemäß zu machen«1 2.
tums«1 0, 'weil in dieser weder die frustrierende Zumutung ent­ Für den, der willens ist, sein Handeln in letzter Instanz an dieser
halten sei, in der religiösen Erfüllung unserer moralischen Pflich­ Idee auszurichten, gilt nun eine Unterscheidung, die ebenso alt
ten als göttlicher Gebotell uns schon glückselig zu wissen, noch wie beachtlich ist, nämlich die Unterscheidung dessen, was in
unserer Macht steht, von dem, was aus anderen Gründen als aus
den unseres Willens geschieht. »Ethik« und »Physik« sind die
8 a. a. 0., S. 138.
9 a. a. 0., S. 137. aristotelischen Namen der Theorien, die es mit dem einen oder
10 a. a. 0., S. 138 ff. mit dem anderen Bereich zu tun haben, und dem entspricht in
11 vgl. Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloß en Vernunft.
Werke, hrsg. von E. Cassirer. Bd. V, S. 302. »Religion ist (subjektiv be­
trachtet) das Erkenntnis aller unserer Pflidlten als göttlicher Gebote.« 12 Kant: Kritik der reinen Vernunft. B 836. 149
kompliziertem begriffsgeschichtlichem Zusammenhang der kan­ geschickt; 'aber die Totalität seiner Bedingungen beherrscht )
tische Gebraum seiner Hauptworte »Natur« und »Freiheit«. niemand. Ganz davon abgesehen, daß »Glück«, wie Kant
Und dieser Unterscheidung sind nun die beiden Elemente einer durchaus wußte, eine Leerformel ist, deren konkrete Ausfüllung
moralischen Welt, »Tugend« und»Glückseligkeit« zugeordnet. der Mensch innerhalb ungewisser natürlicher Grenzen»auf . . .
»Glückseligkeit«, als»der Zustand eines vernünftigen Wesens in verschiedene Art« jeweils »entwirft«, abgesehen auch von der
der Welt, dem es im ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch zur Natur des Menschen gehörigen Unfähigkeit, es bei einem
und Wülen geht«13, braucht als Ziel dem Menschen nicht erst seiner einschlägigen Entwürfe schließlich zu belassen und
vorgeschrieben zu werden; er will sie schon»von Natur aus«, sie »irgendwo im Besitze und Genusse aufzuhören und befriedigt
ist »sein eigener letzter Naturzweck«14. »Tugend« dagegen als zu werden«17, ist jedes erstrebte oder gewonnene Glück ständig
Selbstbindung unseres Handelns an die Bedingung der Verträg­ von der Intervention natürlicher oder auch gesellschaftlicher
lichkeit seiner Maximen mit der entsprechenden Freiheit anderer, Mächte bedroht, die es stören und nicht in jedem Falle voraus­
ist aus der Pragmatik. des natürlichen Verlangens nach Glück sehbar oder abwendbar sind. Es gibt mannigfache»Geschicklich­
unableitbar. Auch der Schmied seines Glückes handelt selbstver­ keit, sich ein Glück zu erwerben«ls, und Fortschritt in der Kul­
ständlich frei, und er besitzt auch»Kultur«, das heißt er handelt tur ist mindestens unter anderem Fortschritt in dieser Geschick­
unter institutionellen und individuellen Voraussetzungen, die die lidlkeit,»Klugheitsregeln«, das heißt in Handlungsanweisungen
»Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken« transformierte Zweck-Mittel-Relationen auf der Basis experi­
garantieren.15 Aber allein »Tugend« ist diejenige Kultur der menteller oder lebenserfahrungsmäßiger Empirie»pragmatisch«
Freiheit, in der diese sich selbst Zweck ist und»autonom« ihre zu konstituieren und zu befolgen.19 Aber schon in diesem Zu­
Ausübung an die individuellen und sozialen Bedingungen ihres s ammenhang gilt, daß»im Fortschritte« der Kultur»die Plagen«
eigenen Daseins bindet. Insofern läßt sich dann, kantisch, sagen, zugleich »wachsen«, wenn etwa auf jener »Höhe« kultureller
daß, wenn»Glückseligkeit der vernünftigen Wesen in der Welt Entwicklung, die »Luxus heißt«, »der Hang zum Entbehr­
ein Zweck der Natur«16 ist, in der»Tugend« die Freiheit sich lichen • dem Unentbehrlichen Abbruch zu tun anfängt«. Als­
. •

zum Selbstzweck geworden wäre. Zur Freiheit des Freien gehört dann ist auch»das übergewicht der übel, welche die Verfeinerung
es, frei zu sein, seinen »natürlichen« Neigungen entsprechend des Geschmacks bis zur Idealisierung desselben, und selbst der
nach bestem Können und Gelingen sein Glück zu machen. Aber Luxus in Wissenschaften, als einer Nahrung für die Eitelkeit,
zugleich muß sich die Freiheit als solche behaupten, das heißt durch die unzubefriedigende Menge der dadurch erzeugten Nei­
muß ein jeder»moralisch«, nach bestem Wissen und Gewissen gungen über uns aussdlüttet, nicht zu bestreiten«20. - Kant
. • .

für die Erfüllung der Bedingungen sorgen, unter denen allein ist kein Kulturpessimist, und noch die Leiden am luxurierenden
seine Freiheit mit der Freiheit eines jeden anderen koexistenz­ kulturellen Fortschritt integriert er geschichtsphilosophisch in die
fähig ist. ökonomie der Tugend, indem sie zumindest das Ende jener
Von den beiden Elementen der moralischen Welt, der»Glück­ »Rohigkeit« unserer»Neigungen« indizieren,»die der Ausbil­
seligkeit« einerseits und der »Tugend« andererseits, steht nun dung zu unserer höheren«, sittlichen»Bestimmung am meisten
allein die tugendhafte moralische Reinheit des guten Willens entgegen sind«21. Aber es bleibt doch dabei, daß die pragma-
gänzlich zu unserer Disposition. Fürs Glück sorgen wir klug und
17 a. a. 0., S.510.
lS Kant: Ober den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein,
13 Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Werke, hrsg. von E. Cassirer. taugt aber nicht für die Praxis. Werke, hrsg. von E. Cassirer, Bd. VI,
Bd. V, S. 135. S. 361 Anm.
14 Kant: Kritik der Urteilskraft. Werke, hrsg. von E. Cassirer. Bd. V, 19 vgl.Kant: Kritik der reinen Vernunft. B 834.
S. 510. 20 Kant: Kritik der Urteilskraft. Werke, hrsg. von E. Cassirer, Bd. V,
15 a. a. 0., S. 511. S.512f.
IS0 16 a. a. 0., S. 516 Anm. 21 a. a. 0., S. 513. 151
tische Kalkulation des Glücks aufs Ganze und auf die Dauer der nung begrüßt wird, findet seine Gründe nicht zuletzt in den
Zeit gesehen selbst im glücklichen Fall, wo immerhin die Kräfte Opfern an Leben und Glück, die man zu bringen bereit war, um
der Natur und der Gesellschaft nicht wider unsere Erwartungen einen Schritt zumindest vermeintlich weiterzukommen.
walten, niemals aufgeht. Aber dieser glückliche Fall ist nicht die Das sind kantische Reflexionen, breit mit den schönsten Passagen
Regel, denn diese lautet, daß die Natur uns »in ihren verderb­
lichen Wirkungen, in Pest, Hunger, Wassergefahr, Frost« usw.
immer wieder einmal überkommt, während zugleich die Gesell­
kantischen Textes belegbar. Sie besagen in unserem Zusammen­
hang, daß »Glück« in der Totalität seiner Bedingungen pragma-
tisch nicht kalkulierbar ist. Es gibt keine Technologie, die, zuver­
)
schaft durch den »Druck der Herrschaft«, die »Barbarei der lässig wie eine Gebrauchsanweisung, Eintritt und Dauer des
Kriege« usw. »sonst erreichbares Glück mindert oder zerstört«22. guten Lebens gewährleisten könnte. Dieses Moment einer künf­
Zwar läßt sich sagen, daß der Mensch, als Teil der Natur und tigen »moralischen Welt« steht nicht zu unserer Verfügung. Das
als Glied der Gesellschaft, nicht in Permanenz prekär existiert. ist der Grund, der nach Kant auf die auf das Endziel mensch­
Es läßt sich sogar, im Blick auf die Natur, eine »Teleologie« licher Praxis zielende Frage »Was soll ich tun?« eine Antwort in
erfahren, der gemäß, was von Natur aus ist, zum Zwecke unse­ Form pragmatischer Maximen des Glücks nicht zuläßt. Klug­
res Daseins zusammenstimmt -, nicht, als seien tatsächlich heitsregeln der Lebensführung sind nützlich, ja unentbehrlich;
Zwecke die bewegenden Kräfte im Lauf des Naturgeschehens, ob aber die Wirkung ihrer Befolgung gutes Leben sein wird, hängt
aber doch so, daß, was kausal zur Totalität der Bedingungen selbst dann, wenn sie als diese Regeln richtig gewesen sein sollten,
unserer Existenz und damit zu ihrer Produktion und Erhaltung von Bedingungen, Umständen, Neben- und Rückwirkungen ab,
zusammenwirkt, aus der Perspektive dieser unserer Existenz so die niemand jemals vollständig voraussehen und berücksichtigen
erscheint, »als ob« es zum Zwecke unserer Existenz und ihrer kann. Daher lautet die Antwort auf die zusammenfassende
Erhaltung wirke. Die Schönheit der Natur ist die ästhetische Frage nach dem praktischen Sinn unseres Daseins: »Tue das,
Präsenz dieses »als ob«. - Dergleichen ist in unserem existentiel­ wodurch Du würdig wirst, glücklich zu sein.«23 Diese Regel hat
len Naturverhältnis die Regel. Aber zur regelmäßigen Aus­ »unbedingten« Charakter, weil die einzige Bedingung, von der
nahme in diesem Verhältnis gehört auch die Erfahrung des abhängt, daß eintritt, was sie verheißt, als unser guter Wille bei
Furchtbaren und der Schrecknisse der Natur, und nur, solange uris selbst liegt.24 Daß diese Regel nur einen formellen Charak­
wir uns im übrigen noch in Sicherheit befinden, ist diese Erfah­ ter hat und einen materiellen Inhalt unserer Pflichten weder
rung ästhetisch in die Erfahrung des Erhabenen transponierbar. angibt noch ohne Rücksicht auf konkrete rechtliche und sittliche
Analog gilt auch für unser Dasein in der Gesellschaft, daß sie Verhältnisse bestimmbar macht, ist offenkundig. Hegel hat recht,
uns regelmäßig in unserem Bemühen, eines guten Lebens teilhaf­ wenn er die formelle Anweisung des moralischen Gesetzes, jeg­
tig zu werden, trägt und schützt, so daß Gehorsam gegen die liches Handeln der Bedingung zu unterwerfen, daß seine Absicht
Gesetze, die in ihr gelten, eine zugleich zweckmäßige bürgerliche jedermanns Absicht sein könnte,25 eine Vorschrift nennt, die
Pflicht ist. Aber die Gefahr, daß die Herrschaft, die den wohl­ selbst unter extrem verschiedenen rechtlichen und sittlichen Ver­
tätigen Gesetzen Geltung verschafft, in eine Tyrannei, die hältnissen in gleicher Weise Gültigkeit haben kann. Ob es in
Glüdt und Leben bedroht, umschlägt, ist ständig präsent, und einer Gesellschaft die Institution des Eigentums unserer gesetz-
selbst wenn es keine moralische Berechtigung gäbe, die Schrecken
der Revolution gegen die Schrecken der Tyrannei aufzubieten, so
23 Kant: Kritik der reinen Vernunft. B 836 f.
hat doch die gelungene Revolution gegen das, was sie liquidierte, 24 vgl. D. Henrich: Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom
aus denselben Gründen wie dieses Legitimität (es herrscht Ruhe Faktum der Vernunft. In: Die Gegenwart der Griechen im neueren
und Ordnung), und der Enthusiasmus, mit der die bessere Ord- Denken. Festschrift für Hans-Georg Gadamer zum 60. Geburtstag.
Tübingen 1960, S. 77-115, bes. 103 ff.
25 vgl. N. Hoerster: Das Argument der Verallgemeinerung. Ein Beitrag zur
152 22 a. a. 0., S. 510. Theorie des ethischen Handelns. Diss. Bochum 1967. 153
lichen Definition gibt oder nicht gibt, ob die Menschen in der Mitwirkung mögliches Gut in der Welt, als den Endzweck aller
Ordnung der Familie unserer sittlichen Tradition leben oder Dinge, anzunehmen, ist ... ein Bedürfnis aus Mangel ... an
nicht - so oder so gibt es allgemein verbindliche Pflichten, und äußeren Verhältnissen.« Kant nennt dieses Bedürfnis ein »mora­
die moralische Gesinnung bei ihrer Erfüllung kann sich an höchst lisches Bedürfnis«, dem die »Pflicht« korrespondiert, »nach
verschiedenen, ja gegeneinander exklusiven sittlichen Inhalten allem Vermögen es zu bewirken, daß eine Welt, den sittlichen
. . •

erweisen.26 Diese prominent zuerst von Hegel und seither wie­ höchsten Zwecken angemessen •existiere« 29. Unsere einschlä­
• •

derholt vorgetragene Charakteristik des kantischen Pflicht- und gige Vermögenslage ist nun aber offenkundig unzulänglich. Wir
Tugendbegriffs trifft zu. Aber einen polemischen Sinn braucht wissen, daß Kant, einem gegenwärtig geläufigen Vorurteil gegen
man dieser Charakteristik von der Sache her nicht zu unterstel­ ihn als fortschrittsgewissen Geschichtsphilosophen zuwider, ein
len, und es ist nicht erkennbar, daß Kant hätte interessiert sein Skeptiker hinsichtlich der Fähigkeit des vergesellschafteten Men­
müssen, ihr zu widersprechen.Noch einmal: Kants Moral-Theo­ schen war, eine Glückseligkeitsqualität und Dauer des guten
rie ist nicht eine konkrete Pflichten-Lehre, sondern eine Theorie Lebens gewährleistende »Kultur« zu entwickeln. Auch höchst­
dessen, was als möglicher Beitrag zur Verwirklichung einer entwickelte »Pragmatik« vermag lediglich im Detail, für diesen
moralischen Welt über die im Gelingen von zahllosen nicht be­ und jenen begrenzten Zweck, zuverlässige Technologien, das
herrschbaren Bedingungen abhängige Pragmatik der Lebens­ heißt Mittel-Verwendungsregeln bereitzustellen. Das »Ganze«
klugheit 27 hinaus einzig bedingungslos zu unserer Disposition unseres Daseins jedoch kriegen wir auch in seinem gesellschaft­
steht, nämlich unser Wille, nach bestem Wissen und Gewissen lichen Aspekt, geschweige denn in seinen naturalen Bezügen
nur in allgemeinverträglicher Absicht zu handeln. handlungsmäßig nicht voll in den Griff. Der geschichtliche Fort­
schritt, dessen Struktur und Tendenz die Geschichtsphilosophie
beschreibt, hat kein angebbares, ihn handlungsmäßig vollbrin­
gendes Subjekt, das als diese Person oder als diese Gruppe iden­
111.
tifizierbar wäre, und daß die Naturbedingungen unseres Lebens
Definiert man eine Notsituation als Situation des offenbar in ihrer Totalität jemals Produkt unserer Tätigkeit werden
gewordenen Unvermögens, die Mittel verläßlich zu bestimmen könnten, behauptet ohnehin niemand.Dieser unserer mannigfach
und bereitzustellen, die für die Erreichung eines Zieles erforder­ bedingten, durch unsere Werke niemals einholbaren Lage ent­
lich sind, das seinerseits nicht aufgegeben werden kann, so existiert spricht es, daß die Maximen der Lebensklugheit sich nicht in
der Mensch permanent in einer Notsituation, sofern er nicht verläßlicher Weise zu einem Handlungskonzept bündeln und
umhin kann, sich jegliche Praxis in letzter Instanz »auf das systematisieren lassen, dessen Befolgung Verhältnisse schüfe, die
höchste in der Welt mögliche Gut (die im Weltganzen mit der als der verwirklichte Endzweck auch vom ideologisch-Unvorein­
reinsten Sittlichkeit auch verbundene, allgemeine, jener gemäße genommenen anerkannt sein würden.
Glückseligkeit)« hin zu orientieren.28 Aus dem Mangel-Charak­ Dieser unserer Situation, im Hinblick auf einen unaufgebbaren
ter der Welt erzeugt sich diese Endzweck-Orientierung mensch­ Endzweck zu existieren, für dessen Verwirklichung wir die Mit­
licher Praxis: »Das Bedürfnis, ein höchstes auch durch unsere tel hoffnungslos nicht beieinander haben, korrespondiert die
moralische Forderung als die Forderung zu tun, was uns in
26 vgl. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 135. Dazu jedem Fall zu tun möglich ist und was zugleich auch ohne
J. Ritter: Moralität und Sittlichkeit. Zu Hegels Auseinandersetzung mit
der mantischen Ethik. In: Kritik und Metaphysik. Studien. Heinz Heim­ empirisch-pragmatische Erfolgskontrolle unbedingt richtig ist.
soeth zum 80. Geburtstag. Berlin 1966, S. 331-351. Die Unterwerfung unter die Forderung des moralischen Gesetzes
27 vgl. F. Kaulbach: Weltorientierung, Weltkenntnis und pragmatische Ver­
ist ein dezisionistischer Akt in der existentiellen Notsituation der
nunft bei Kant. In: Kritik und Metaphysik, a. a. 0., S. 60-75.
28 Kant: Ober den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt
I 54 aber nicht für die Praxis. Werke, hrsg. von E. Cassirer. Bd. VI, S. 362. 29 a. a. 0., S. 362 Anm. 155
Ungewißheit und Unsicherheit des Weges zum Ziel des höchsten
Gutes.
»Dezision« heiße eine Entscheidung dann, wenn sie in einer
einem obersten Willen, der alle Privatwillkür in sich oder unter

sich befaßt, entsprängen«31. Ab�r niemand, der in ies�m S nne
moralisch handelt, kann durch dieses Handeln denEmtntt dieser
� j
Situation unter Zeitdruck und entsprechendem Handlungszwang Bedingung ihres Erfolgs sicherstellen. Wäre die Bedingung er­
fällt, bevor 00äi die »Gründe«, das heißt Zweck-1VIittel=Rela­ füllt, so vermöchte prinzipiell unsere »durch sittliche Gesetze
tionskenntnisse beieinander waren, die sie im materiellen Sinne teils bewegte, teils restringierte Freiheit selbst die Ursache der
zur »richtigen«, erfolgssicheren Entscheidung hätten machen allgemeinen Glückseligkeit, die vernünftigen Wesen also selbst
können. Die klassische Situation, in der eine Dezision dieser unter der Leitung solcher Prinzipien Urheber ihrer eigenen, und
Definition fällig ist, ist die Situation des Verirrten, der, ohne zugleich anderer dauerhaften Wohlfahrt« zu sein.32 Aber die
Gewißheit, inwelcherRichtungRettung sei, sich dennoch unver- fragliche Bedingung ist nicht erfüllt, und es gibt keine verläß­
züglich für eine Richtung entscheiden und an dieser festhalten liche pragmatischeRegel, sei es der Pädagogik, sei es der Politik,
muß; Descartes hat diese Situation in seiner Abhandlung über ihre Erfüllung zu garantieren. Die einzige Chance, zu ihrer Er­
\} die Methode des richtigen Verstandesgebrauchs als Beispiel für füllung einen Beitrag leisten zu können, ist die Chance, die
wiederkehrendeNotwendigkeiten verwendet, in prekärenLagen moralische Forderung bedingungslos bei sich selbst zu erfüllen.
aus praktischerVernunftEntscheidungen treffen zu müssen, deren Der Pragmatismus der moralischen Forderung ist ihr Rigoris-
materielle Richtigkeit theoretische Vernunft nicht zu garantieren
mus.
vermag8. 0 Dezisionen sind Entscheidungen, durch die in Notsituationen
Auch die moralische Entscheidung ist, unter dem Druck des gegebenen Handlungszwangs ein Graben mangelnder theoreti­
Handlwigszwangs� dem Sterbliche ausgesetzt sind, die den Tod scher Gewißheit, ob auch die Bedingungen des Erfolgs der Ent­
nicht suchen, sondern übers pure Leben hinaus gutes Leben er­ scheidungen gegeben seien, übersprungen wird. Die Theorie, die
streben, eine Dezision angegebener Definition. Wie der Verirrte normalerweise der Praxis vorausläuft und sie begründet, hinkt

J'I! nicht sicher weiß, ob in dieser oder in anderer Richtung der rich-
tige Weg ins Vertraute führt, so verfügen wir nicht über eine
in praktischen Situationen fälligerDezisionen nach, und es bleibt
der Praxis nichts als die Hoffnung, durchTheorie nicht nachträg- .)
I
Pragmatik des Glücks, deren Richtigkeit bereits durch den Er­ lich desavouiert zu werden. In Entscheidungssituationen waltet
folg bewiesen wäre. Aber wie der Verirrte weiß, daß er unbe­ ein »Primat der praktischenVernunft«, und eben das ist auch die
dingt sich für den Aufbruch, in welche Richtung auch immer, kantische Formel für die Souveränität der die moralische Dezi­
entscheiden muß, so wissen wir, daß wir, in welcher Richtung
sion treffenden praktischen Vernunft über die»spekulative«, die
auch immer wir auf den Endzweck des höchsten Gutes hin han­
allerdings prinzipiell außerstande ist, theoretisch zu begründen
deln mögen, ihn mit Sicherheit verfehlen müssen, wenn wir die oder auch zu widerlegen, was als »Hoffnung« und '»Postulat«
Maximen unseres Handeins nicht nach bestem Wissen und Ge­ die Endzweck-Zuversicht des moralisch-praktischen Dezisionis­
wissen an die Bedingung ihrer Allgemeinverträglichkeit binden.
mus trägt8. 3 Kants Moral-Theorie ist die Theorie einer Moral,
Dies istdas einzige, was wir mit Sicherheit praktisch wissen, und
deren dezisionistischer Charakter vor den Enttäuschungen
dieser Sicherheit entspricht der rigorose, unbedingte Charakter
schützt, denen ausgesetzt wäre, wer sie nur wegen ihrer erhofften
der moralischen Forderung. Die »Ausführung« der Idee des
wohltätigen Wirkungen auf die Gesellschaft zu schätzen ver­
»Systems der sich selbst lohnenden Moralität«, sagtKant, beruht
möchte. Daß deren »Moralisierung« weit entfernt ist, hält Kant
»auf der Bedingung, daß jedermann tue, was er soll, das ist alle
Handlungen vernünftiger Wesen so geschehen, als ob sie aus
31 Kant: Kritik der reinen Vernunft. B 838.
32 a. a. 0., B 837.
83 vgI. Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Werke, hrsg. von Ernst
30 vgl. H. Lübbe: Zur Theorie der Entscheidung (1965). Wiederabgedruckt Cassirer. Bd. V, S. 130 ff.: »Von dem Primat der reinen praktischen Ver-
156 im vorliegenden Band, S. 7-31. nunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen.« I57
für unzweifelhaft. Misanthropische Konsequenzen zieht er aus -
dieser überzeugung gleichwohl nicht, und zwar aus moralischen
Gründen, die es verbieten, das Menschsein des Menschen als
Grund der Feindschaft zwischen Menschen zuzulassen. Insofern
nennt Kant die misanthropische Neigung, »Menschen zu flie­
hen«, »verächtlic:h«. Diese moralische Verurteilung der Misan­
thropie hat aber Kant nicht gehindert, sich in einer Weise skep­
tisch über die Menschen zu äußern, die den unpragmatischen
Dennoch-Charakter der von ihm theoretisierten Moral unter­
streicht. Seine Sympathie giltjenen»wohldenkenden Menschen«,
die »vom Wohlgefallen am Menschen durch eine lange traurige
Erfahrung weit abgebracht«, einen »Hang zur Eingezogenheit«
entwickeln und den »phantastischenWunsch« hegen, »auf einem
entlegenen Landsitze« ihre »Lebenszeit zubringen zu können«.
In ästhetischer Distanz von der Erfahrung, daß gerade in der
Verfolgung ihrer »für wichtig und groß gehaltenen Zwecke«
»sich Menschen selbst untereinander alle erdenklicheübel antun«,
stellt sich»Traurigkeit« ein, die»erhaben« ist und zuden»rüsti­
gen Affekten« gehört, weil sie »in moralischen Ideen ihren
Grund hat«34. In der Reflexion des Affektes präsentiert sich in
jener»Traurigkeit« dieWahrheit, daß dieForderung des mora­
lischen Gesetzes nicht unerfüllbar, aber doch, nach Ausweis aus­
gebliebener Wirkungen, unerfüllt ist und eben deshalbje zu ihrer
Erfüllung einer Dezision bedarf, in der der Mangel an sie be­
gründender und empfehlender Erfahrung für unbeachtlich er­
klärt ist.

34 Kant: Kritik der Urteilskraft. Werke, hrsg. von E. Cassirer. Bd. V,


IS8 5.348 f.
rombach hochschul paperback band 25 Hermann Lübbe
redaktion gerd-klaus kaltenbrunner

Theorie und Entscheidung


Gestartet in einer Periode leidenschaftlicher Diskussion über die mög­
Studien zum Primat der praktischen Vernunft
lichen Wege einer Hochschulreform, will die Sammlung ><ombach hoch­
schul paperback« als Beitrag zur überwindung der Misere an den
Universitäten verstanden sein. Auf ihrem Programm stehen durchweg
Grund- und Einführungsvorlesungen aus allen natur- und geistes­
wissenschaftlichen Lehrfächern. In handlichen und preiswerten Aus­
gaben erscheinen jährlich an die zwanzig Vorlesungen aus deutsch­
sprachigen Universitäten.
Die neue Reihe will die Vorlesungen nicht ersetzen, sondern ergänzen.
Den akademischen Lehrern bietet sie die Möglichkeit, den mündlichen
Vortrag sowohl zu entlasten als auch zu vertiefen; den Studenten
liefert sie authentische Arbeitsunterlagen, die vom Zwang andauernden
Mitschreibens befreien und den Rückgriff auf die oft unzuverlässigen
>Skripten« überflüssig machen. Während die großen Lehrbücher für
Studenten kaum erschwinglich sind und überdies angesichts der Akze­
leration wissenschaftlicher Erkenntnis immer rascher veralten, sind die
Bände der Sammlung .rombach hochschul paperback« bewußt auf die
Bedürfnisse der Studierenden zugeschnitten und so konzipiert, daß sie
den Erfordernissen der einzelnen Lehrgegenstände maximal entgegen­
kommen und in den häufig notwendigen Neuauflagen jeweils auf den
letzten Stand gebracht werden können.
Ober die für jede akademische Ausbildung unumgängliche Vermitt­
lung von Fakten und Methoden hinaus bietet die Sammlung >rombach
hochschul paperback« den Studierenden repräsentative Beispiele wissen­
schaftlicher Argumentation und Orientierung, die zur begrifflichen
Schulung und Durchdringung des Wissensstoftes, vor allem aber zum
kritischen Mit- und \Veiterdenken stimulieren wollen.
Hervorgegangen aus Vorlesungen und bestimmt zur Vertiefung des in
Vorlesungen erworbenen Wissens, sind die Bände der Sammlung "'
.rombach hochschul paperback« eine authentische Dokumentation aka­
demischen Unterrichts in einer Gesellschaft, die wie nie zuvor auf Verlag Rombach Freiburg
Wissenschaft, Forschung und Bildung angewiesen ist.
Autorenfoto von Klaus Mehner, Berlin
Inhalt

Zur Theorie der Entscheidung (1965) 7

Zur politischen Theorie der Technokratie (1962) 32

Rationalisierung der Politik (1968) 54

Herrschaft und Planung. Die veränderteRolle der


Zukunftin der Gegenwart (1966) 62

Ernst und Unernst der Zukunftsforschung (1969) 85

Hegels Kritik der politisierten Gesellschaft (1967) 93

Geschichtsphilosophie und politische Praxis (1970) 111

Freiheit undVerbindlichkeit (1964) 134

I Dezisionismus in der MoraltheorieKants (1968) 144

Zur Geschichte des Ideologie-Begriffs (1968) 159

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Veröffentlichungsnachweise 182
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Namenverzeichnis 183
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Begriffswörterverzeichnis 185

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