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Lübbe - Dezisionismus in Der Moraltheorie Kants
Lübbe - Dezisionismus in Der Moraltheorie Kants
I44 des schlichten Gebrauchs des Wortes»Dialektik«, den Aristoteles i 2 0., S. M2. /11/(
a. a. 145
1
Stoizismus und Epikureismus sind nach Kant die beiden philoso Gedanke des »Höchsten Gutes«, in welchem »eine natürliche
�
phiegeschichtlich repräsentativen Versuche zur Bildung einer und notwen dIgeVerbindung zwischen dem Bewußtsein der Sitt
»Koalition« zwischen den Begriffen »Tugend« und »Glückselig lichkeit und der Erwartung einer ihr proportionierten Glückse
keit«. Es sind mißlungene »Koalitionsversuche«, und die Rela ligkeit«' als sachlich berechtigt vorgestellt wird. Eine Welt, die
tion der beiden fraglichen Begriffe richtig zu bestimmen - das dieser Vorstellung entspräche, wäre eine »moralische Welt«, das
ist die »noch immer« »unaufgelöste Aufgabe«3 der Moral-Philo heißt ein »System der mit der Moralität verbundenen propor
sophie, die Kant sich stellt. - Die Worte »Tugend« und tionierten Glückseligkeit« oder ein »System der sich selbst loh
»Glückseligkeit« haben kaum mehr einen aktuellen Gebrauch. nenden Moralität«5 •
Auch der Sache nach ist die Unterscheidung, die durch diese Evidenterweise leben wir nicht in einer »moralischen Welt« die
Worte im Kontext der Kantischen Moral-Theorie vertreten ser Kantischen Definition. Das heißt allerdings nicht, der Ort
wird, kein aktuelles philosophisches Thema. Dennoch ist sie ver unseres Daseins sei im Gegenteil eine »unmoralische Welt«. Ein
ständlich geblieben, und dieses Verständnis läßt sich sogar schär Zusammenhang, in welchem Tugend mit Versagung des Glücks
fen, indem man den modernen handlungstheoretischen Begriff proportional verbunden wäre, besteht auch nicht, und der Ver
der Dezision hermeneutisch auf die Kantische Theorie zurück such, ihn zu denken, würde in individueller Beziehung das
bezieht, um damit zugleich auch die moral-theoretische Relevanz Pathologische und in kollektiver Beziehung das Absurde strei
dieses Begriffs zu erweisen. fen; Zynismus wäre ihr gegenüber die angemessene Haltung,
Gut sein und es gut haben - das ist nicht dasselbe: Tugend und das heißt die Einstellung dessen, der Illusionen durchschaut, ohne
Glück sind zweierlei. Problem ist, wie beides zusammenhängt. daraus einen anderen Vorteil als den der Lust, durchschaut zu
Pädagogik zum Beispiel wäre wahrscheinlich nicht möglich, wenn haben und darin den anderen überlegen zu sein, ziehen zu kön-
nicht wenigstens normalerweise und eine gewisse Strecke weit die nen.
Unterstellung berechtigt wäre, daß die ja ohnehin stets auch »Tugend«, das heißt die habitualisierte Steuerung unseres Tuns
sozial bezogene »Tugend« zuverlässigste Mittlerin zumindest und Lassens durch die Achtung vor jenem moralischen Gesetz,
desjenigen »Glücks« ist, das aus sozialen Zusammenhängen dem das uns im Gebrauch unserer Freiheit an die Bedingung ihrer
Menschen zuwächst. Dennoch unterstellt auch der äußerste päd Kompatibilität mit der Freiheit anderer bindet - Tugend also
agogische Enthusiasmus niemals, daß die Güter des Lebens dem wirkt nach keiner nachweisbaren empirischen Regel als Mecha
Menschen nach dem Maß seiner Tugend zufallen werden. Ganz nismus der Glücksverhinderung. Nur gilt eben auch umgekehrt,
im Gegenteil ist keine vernünftige, das heißt auch die unver daß gutes Leben uns nicht nach dem Maß unserer Tugend zuge
änderlichen Realitäten in Rechnung stellende Erziehung denk teilt ist. »Daher ist auch die Moral nicht eigentlich die Lehre, wie
bar, die nicht auf die unvermeidliche Erfahrung vorbereitete, wir uns glücklich machen, sondern wie wir der Glückseligkeit
daß es auch dem nach bestem Wissen und Gewissen geführten würdig werden sollen.«6
Leben übel ergehen kann, und vor allem: daß es zugleich man In dieser Formel ist die Kantische Theorie der Relation zwischen
chen anderen weitaus besser geht als sie sind. Eben weil das so ist, Tugend und Glück konzentriert. Es ist eine Formel, die gegen
weil aus Gründen sozialer Dependenz oder aus den Zufälligkei Stoizismus und Epikureismus festhält, daß es nicht möglich sei,
ten des handlungsmäßig ohnehin nicht voll beherrschbaren »zwischen äußerst ungleichartigen Begriffen, dem der Glück
Naturlaufs »Tugend« und »Glück« niemals (es sei denn aus Zu seligkeit und dem der Tugend, Indentität zu ergrübeln«1. Gegen
fall) in prästabilierter Harmonie miteinander verknüpft sind, ist
/I
das »Ideal« einer solchen Verknüpfung selber ein unvermeid , a. a. 0., S. 119.
licher Wunsch und Gedanke. Es ist das der von Kant sogenannte 5 Kant: Kritik der reinen Vernunft. B 837f.
6 Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Werke, hrsg. von E. Cassirer,
�l. Bd. V, S ..ur4� 0
•
zum Selbstzweck geworden wäre. Zur Freiheit des Freien gehört dann ist auch»das übergewicht der übel, welche die Verfeinerung
es, frei zu sein, seinen »natürlichen« Neigungen entsprechend des Geschmacks bis zur Idealisierung desselben, und selbst der
nach bestem Können und Gelingen sein Glück zu machen. Aber Luxus in Wissenschaften, als einer Nahrung für die Eitelkeit,
zugleich muß sich die Freiheit als solche behaupten, das heißt durch die unzubefriedigende Menge der dadurch erzeugten Nei
muß ein jeder»moralisch«, nach bestem Wissen und Gewissen gungen über uns aussdlüttet, nicht zu bestreiten«20. - Kant
. • .
für die Erfüllung der Bedingungen sorgen, unter denen allein ist kein Kulturpessimist, und noch die Leiden am luxurierenden
seine Freiheit mit der Freiheit eines jeden anderen koexistenz kulturellen Fortschritt integriert er geschichtsphilosophisch in die
fähig ist. ökonomie der Tugend, indem sie zumindest das Ende jener
Von den beiden Elementen der moralischen Welt, der»Glück »Rohigkeit« unserer»Neigungen« indizieren,»die der Ausbil
seligkeit« einerseits und der »Tugend« andererseits, steht nun dung zu unserer höheren«, sittlichen»Bestimmung am meisten
allein die tugendhafte moralische Reinheit des guten Willens entgegen sind«21. Aber es bleibt doch dabei, daß die pragma-
gänzlich zu unserer Disposition. Fürs Glück sorgen wir klug und
17 a. a. 0., S.510.
lS Kant: Ober den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein,
13 Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Werke, hrsg. von E. Cassirer. taugt aber nicht für die Praxis. Werke, hrsg. von E. Cassirer, Bd. VI,
Bd. V, S. 135. S. 361 Anm.
14 Kant: Kritik der Urteilskraft. Werke, hrsg. von E. Cassirer. Bd. V, 19 vgl.Kant: Kritik der reinen Vernunft. B 834.
S. 510. 20 Kant: Kritik der Urteilskraft. Werke, hrsg. von E. Cassirer, Bd. V,
15 a. a. 0., S. 511. S.512f.
IS0 16 a. a. 0., S. 516 Anm. 21 a. a. 0., S. 513. 151
tische Kalkulation des Glücks aufs Ganze und auf die Dauer der nung begrüßt wird, findet seine Gründe nicht zuletzt in den
Zeit gesehen selbst im glücklichen Fall, wo immerhin die Kräfte Opfern an Leben und Glück, die man zu bringen bereit war, um
der Natur und der Gesellschaft nicht wider unsere Erwartungen einen Schritt zumindest vermeintlich weiterzukommen.
walten, niemals aufgeht. Aber dieser glückliche Fall ist nicht die Das sind kantische Reflexionen, breit mit den schönsten Passagen
Regel, denn diese lautet, daß die Natur uns »in ihren verderb
lichen Wirkungen, in Pest, Hunger, Wassergefahr, Frost« usw.
immer wieder einmal überkommt, während zugleich die Gesell
kantischen Textes belegbar. Sie besagen in unserem Zusammen
hang, daß »Glück« in der Totalität seiner Bedingungen pragma-
tisch nicht kalkulierbar ist. Es gibt keine Technologie, die, zuver
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schaft durch den »Druck der Herrschaft«, die »Barbarei der lässig wie eine Gebrauchsanweisung, Eintritt und Dauer des
Kriege« usw. »sonst erreichbares Glück mindert oder zerstört«22. guten Lebens gewährleisten könnte. Dieses Moment einer künf
Zwar läßt sich sagen, daß der Mensch, als Teil der Natur und tigen »moralischen Welt« steht nicht zu unserer Verfügung. Das
als Glied der Gesellschaft, nicht in Permanenz prekär existiert. ist der Grund, der nach Kant auf die auf das Endziel mensch
Es läßt sich sogar, im Blick auf die Natur, eine »Teleologie« licher Praxis zielende Frage »Was soll ich tun?« eine Antwort in
erfahren, der gemäß, was von Natur aus ist, zum Zwecke unse Form pragmatischer Maximen des Glücks nicht zuläßt. Klug
res Daseins zusammenstimmt -, nicht, als seien tatsächlich heitsregeln der Lebensführung sind nützlich, ja unentbehrlich;
Zwecke die bewegenden Kräfte im Lauf des Naturgeschehens, ob aber die Wirkung ihrer Befolgung gutes Leben sein wird, hängt
aber doch so, daß, was kausal zur Totalität der Bedingungen selbst dann, wenn sie als diese Regeln richtig gewesen sein sollten,
unserer Existenz und damit zu ihrer Produktion und Erhaltung von Bedingungen, Umständen, Neben- und Rückwirkungen ab,
zusammenwirkt, aus der Perspektive dieser unserer Existenz so die niemand jemals vollständig voraussehen und berücksichtigen
erscheint, »als ob« es zum Zwecke unserer Existenz und ihrer kann. Daher lautet die Antwort auf die zusammenfassende
Erhaltung wirke. Die Schönheit der Natur ist die ästhetische Frage nach dem praktischen Sinn unseres Daseins: »Tue das,
Präsenz dieses »als ob«. - Dergleichen ist in unserem existentiel wodurch Du würdig wirst, glücklich zu sein.«23 Diese Regel hat
len Naturverhältnis die Regel. Aber zur regelmäßigen Aus »unbedingten« Charakter, weil die einzige Bedingung, von der
nahme in diesem Verhältnis gehört auch die Erfahrung des abhängt, daß eintritt, was sie verheißt, als unser guter Wille bei
Furchtbaren und der Schrecknisse der Natur, und nur, solange uris selbst liegt.24 Daß diese Regel nur einen formellen Charak
wir uns im übrigen noch in Sicherheit befinden, ist diese Erfah ter hat und einen materiellen Inhalt unserer Pflichten weder
rung ästhetisch in die Erfahrung des Erhabenen transponierbar. angibt noch ohne Rücksicht auf konkrete rechtliche und sittliche
Analog gilt auch für unser Dasein in der Gesellschaft, daß sie Verhältnisse bestimmbar macht, ist offenkundig. Hegel hat recht,
uns regelmäßig in unserem Bemühen, eines guten Lebens teilhaf wenn er die formelle Anweisung des moralischen Gesetzes, jeg
tig zu werden, trägt und schützt, so daß Gehorsam gegen die liches Handeln der Bedingung zu unterwerfen, daß seine Absicht
Gesetze, die in ihr gelten, eine zugleich zweckmäßige bürgerliche jedermanns Absicht sein könnte,25 eine Vorschrift nennt, die
Pflicht ist. Aber die Gefahr, daß die Herrschaft, die den wohl selbst unter extrem verschiedenen rechtlichen und sittlichen Ver
tätigen Gesetzen Geltung verschafft, in eine Tyrannei, die hältnissen in gleicher Weise Gültigkeit haben kann. Ob es in
Glüdt und Leben bedroht, umschlägt, ist ständig präsent, und einer Gesellschaft die Institution des Eigentums unserer gesetz-
selbst wenn es keine moralische Berechtigung gäbe, die Schrecken
der Revolution gegen die Schrecken der Tyrannei aufzubieten, so
23 Kant: Kritik der reinen Vernunft. B 836 f.
hat doch die gelungene Revolution gegen das, was sie liquidierte, 24 vgl. D. Henrich: Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom
aus denselben Gründen wie dieses Legitimität (es herrscht Ruhe Faktum der Vernunft. In: Die Gegenwart der Griechen im neueren
und Ordnung), und der Enthusiasmus, mit der die bessere Ord- Denken. Festschrift für Hans-Georg Gadamer zum 60. Geburtstag.
Tübingen 1960, S. 77-115, bes. 103 ff.
25 vgl. N. Hoerster: Das Argument der Verallgemeinerung. Ein Beitrag zur
152 22 a. a. 0., S. 510. Theorie des ethischen Handelns. Diss. Bochum 1967. 153
lichen Definition gibt oder nicht gibt, ob die Menschen in der Mitwirkung mögliches Gut in der Welt, als den Endzweck aller
Ordnung der Familie unserer sittlichen Tradition leben oder Dinge, anzunehmen, ist ... ein Bedürfnis aus Mangel ... an
nicht - so oder so gibt es allgemein verbindliche Pflichten, und äußeren Verhältnissen.« Kant nennt dieses Bedürfnis ein »mora
die moralische Gesinnung bei ihrer Erfüllung kann sich an höchst lisches Bedürfnis«, dem die »Pflicht« korrespondiert, »nach
verschiedenen, ja gegeneinander exklusiven sittlichen Inhalten allem Vermögen es zu bewirken, daß eine Welt, den sittlichen
. . •
erweisen.26 Diese prominent zuerst von Hegel und seither wie höchsten Zwecken angemessen •existiere« 29. Unsere einschlä
• •
derholt vorgetragene Charakteristik des kantischen Pflicht- und gige Vermögenslage ist nun aber offenkundig unzulänglich. Wir
Tugendbegriffs trifft zu. Aber einen polemischen Sinn braucht wissen, daß Kant, einem gegenwärtig geläufigen Vorurteil gegen
man dieser Charakteristik von der Sache her nicht zu unterstel ihn als fortschrittsgewissen Geschichtsphilosophen zuwider, ein
len, und es ist nicht erkennbar, daß Kant hätte interessiert sein Skeptiker hinsichtlich der Fähigkeit des vergesellschafteten Men
müssen, ihr zu widersprechen.Noch einmal: Kants Moral-Theo schen war, eine Glückseligkeitsqualität und Dauer des guten
rie ist nicht eine konkrete Pflichten-Lehre, sondern eine Theorie Lebens gewährleistende »Kultur« zu entwickeln. Auch höchst
dessen, was als möglicher Beitrag zur Verwirklichung einer entwickelte »Pragmatik« vermag lediglich im Detail, für diesen
moralischen Welt über die im Gelingen von zahllosen nicht be und jenen begrenzten Zweck, zuverlässige Technologien, das
herrschbaren Bedingungen abhängige Pragmatik der Lebens heißt Mittel-Verwendungsregeln bereitzustellen. Das »Ganze«
klugheit 27 hinaus einzig bedingungslos zu unserer Disposition unseres Daseins jedoch kriegen wir auch in seinem gesellschaft
steht, nämlich unser Wille, nach bestem Wissen und Gewissen lichen Aspekt, geschweige denn in seinen naturalen Bezügen
nur in allgemeinverträglicher Absicht zu handeln. handlungsmäßig nicht voll in den Griff. Der geschichtliche Fort
schritt, dessen Struktur und Tendenz die Geschichtsphilosophie
beschreibt, hat kein angebbares, ihn handlungsmäßig vollbrin
gendes Subjekt, das als diese Person oder als diese Gruppe iden
111.
tifizierbar wäre, und daß die Naturbedingungen unseres Lebens
Definiert man eine Notsituation als Situation des offenbar in ihrer Totalität jemals Produkt unserer Tätigkeit werden
gewordenen Unvermögens, die Mittel verläßlich zu bestimmen könnten, behauptet ohnehin niemand.Dieser unserer mannigfach
und bereitzustellen, die für die Erreichung eines Zieles erforder bedingten, durch unsere Werke niemals einholbaren Lage ent
lich sind, das seinerseits nicht aufgegeben werden kann, so existiert spricht es, daß die Maximen der Lebensklugheit sich nicht in
der Mensch permanent in einer Notsituation, sofern er nicht verläßlicher Weise zu einem Handlungskonzept bündeln und
umhin kann, sich jegliche Praxis in letzter Instanz »auf das systematisieren lassen, dessen Befolgung Verhältnisse schüfe, die
höchste in der Welt mögliche Gut (die im Weltganzen mit der als der verwirklichte Endzweck auch vom ideologisch-Unvorein
reinsten Sittlichkeit auch verbundene, allgemeine, jener gemäße genommenen anerkannt sein würden.
Glückseligkeit)« hin zu orientieren.28 Aus dem Mangel-Charak Dieser unserer Situation, im Hinblick auf einen unaufgebbaren
ter der Welt erzeugt sich diese Endzweck-Orientierung mensch Endzweck zu existieren, für dessen Verwirklichung wir die Mit
licher Praxis: »Das Bedürfnis, ein höchstes auch durch unsere tel hoffnungslos nicht beieinander haben, korrespondiert die
moralische Forderung als die Forderung zu tun, was uns in
26 vgl. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 135. Dazu jedem Fall zu tun möglich ist und was zugleich auch ohne
J. Ritter: Moralität und Sittlichkeit. Zu Hegels Auseinandersetzung mit
der mantischen Ethik. In: Kritik und Metaphysik. Studien. Heinz Heim empirisch-pragmatische Erfolgskontrolle unbedingt richtig ist.
soeth zum 80. Geburtstag. Berlin 1966, S. 331-351. Die Unterwerfung unter die Forderung des moralischen Gesetzes
27 vgl. F. Kaulbach: Weltorientierung, Weltkenntnis und pragmatische Ver
ist ein dezisionistischer Akt in der existentiellen Notsituation der
nunft bei Kant. In: Kritik und Metaphysik, a. a. 0., S. 60-75.
28 Kant: Ober den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt
I 54 aber nicht für die Praxis. Werke, hrsg. von E. Cassirer. Bd. VI, S. 362. 29 a. a. 0., S. 362 Anm. 155
Ungewißheit und Unsicherheit des Weges zum Ziel des höchsten
Gutes.
»Dezision« heiße eine Entscheidung dann, wenn sie in einer
einem obersten Willen, der alle Privatwillkür in sich oder unter
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sich befaßt, entsprängen«31. Ab�r niemand, der in ies�m S nne
moralisch handelt, kann durch dieses Handeln denEmtntt dieser
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Situation unter Zeitdruck und entsprechendem Handlungszwang Bedingung ihres Erfolgs sicherstellen. Wäre die Bedingung er
fällt, bevor 00äi die »Gründe«, das heißt Zweck-1VIittel=Rela füllt, so vermöchte prinzipiell unsere »durch sittliche Gesetze
tionskenntnisse beieinander waren, die sie im materiellen Sinne teils bewegte, teils restringierte Freiheit selbst die Ursache der
zur »richtigen«, erfolgssicheren Entscheidung hätten machen allgemeinen Glückseligkeit, die vernünftigen Wesen also selbst
können. Die klassische Situation, in der eine Dezision dieser unter der Leitung solcher Prinzipien Urheber ihrer eigenen, und
Definition fällig ist, ist die Situation des Verirrten, der, ohne zugleich anderer dauerhaften Wohlfahrt« zu sein.32 Aber die
Gewißheit, inwelcherRichtungRettung sei, sich dennoch unver- fragliche Bedingung ist nicht erfüllt, und es gibt keine verläß
züglich für eine Richtung entscheiden und an dieser festhalten liche pragmatischeRegel, sei es der Pädagogik, sei es der Politik,
muß; Descartes hat diese Situation in seiner Abhandlung über ihre Erfüllung zu garantieren. Die einzige Chance, zu ihrer Er
\} die Methode des richtigen Verstandesgebrauchs als Beispiel für füllung einen Beitrag leisten zu können, ist die Chance, die
wiederkehrendeNotwendigkeiten verwendet, in prekärenLagen moralische Forderung bedingungslos bei sich selbst zu erfüllen.
aus praktischerVernunftEntscheidungen treffen zu müssen, deren Der Pragmatismus der moralischen Forderung ist ihr Rigoris-
materielle Richtigkeit theoretische Vernunft nicht zu garantieren
mus.
vermag8. 0 Dezisionen sind Entscheidungen, durch die in Notsituationen
Auch die moralische Entscheidung ist, unter dem Druck des gegebenen Handlungszwangs ein Graben mangelnder theoreti
Handlwigszwangs� dem Sterbliche ausgesetzt sind, die den Tod scher Gewißheit, ob auch die Bedingungen des Erfolgs der Ent
nicht suchen, sondern übers pure Leben hinaus gutes Leben er scheidungen gegeben seien, übersprungen wird. Die Theorie, die
streben, eine Dezision angegebener Definition. Wie der Verirrte normalerweise der Praxis vorausläuft und sie begründet, hinkt
J'I! nicht sicher weiß, ob in dieser oder in anderer Richtung der rich-
tige Weg ins Vertraute führt, so verfügen wir nicht über eine
in praktischen Situationen fälligerDezisionen nach, und es bleibt
der Praxis nichts als die Hoffnung, durchTheorie nicht nachträg- .)
I
Pragmatik des Glücks, deren Richtigkeit bereits durch den Er lich desavouiert zu werden. In Entscheidungssituationen waltet
folg bewiesen wäre. Aber wie der Verirrte weiß, daß er unbe ein »Primat der praktischenVernunft«, und eben das ist auch die
dingt sich für den Aufbruch, in welche Richtung auch immer, kantische Formel für die Souveränität der die moralische Dezi
entscheiden muß, so wissen wir, daß wir, in welcher Richtung
sion treffenden praktischen Vernunft über die»spekulative«, die
auch immer wir auf den Endzweck des höchsten Gutes hin han
allerdings prinzipiell außerstande ist, theoretisch zu begründen
deln mögen, ihn mit Sicherheit verfehlen müssen, wenn wir die oder auch zu widerlegen, was als »Hoffnung« und '»Postulat«
Maximen unseres Handeins nicht nach bestem Wissen und Ge die Endzweck-Zuversicht des moralisch-praktischen Dezisionis
wissen an die Bedingung ihrer Allgemeinverträglichkeit binden.
mus trägt8. 3 Kants Moral-Theorie ist die Theorie einer Moral,
Dies istdas einzige, was wir mit Sicherheit praktisch wissen, und
deren dezisionistischer Charakter vor den Enttäuschungen
dieser Sicherheit entspricht der rigorose, unbedingte Charakter
schützt, denen ausgesetzt wäre, wer sie nur wegen ihrer erhofften
der moralischen Forderung. Die »Ausführung« der Idee des
wohltätigen Wirkungen auf die Gesellschaft zu schätzen ver
»Systems der sich selbst lohnenden Moralität«, sagtKant, beruht
möchte. Daß deren »Moralisierung« weit entfernt ist, hält Kant
»auf der Bedingung, daß jedermann tue, was er soll, das ist alle
Handlungen vernünftiger Wesen so geschehen, als ob sie aus
31 Kant: Kritik der reinen Vernunft. B 838.
32 a. a. 0., B 837.
83 vgI. Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Werke, hrsg. von Ernst
30 vgl. H. Lübbe: Zur Theorie der Entscheidung (1965). Wiederabgedruckt Cassirer. Bd. V, S. 130 ff.: »Von dem Primat der reinen praktischen Ver-
156 im vorliegenden Band, S. 7-31. nunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen.« I57
für unzweifelhaft. Misanthropische Konsequenzen zieht er aus -
dieser überzeugung gleichwohl nicht, und zwar aus moralischen
Gründen, die es verbieten, das Menschsein des Menschen als
Grund der Feindschaft zwischen Menschen zuzulassen. Insofern
nennt Kant die misanthropische Neigung, »Menschen zu flie
hen«, »verächtlic:h«. Diese moralische Verurteilung der Misan
thropie hat aber Kant nicht gehindert, sich in einer Weise skep
tisch über die Menschen zu äußern, die den unpragmatischen
Dennoch-Charakter der von ihm theoretisierten Moral unter
streicht. Seine Sympathie giltjenen»wohldenkenden Menschen«,
die »vom Wohlgefallen am Menschen durch eine lange traurige
Erfahrung weit abgebracht«, einen »Hang zur Eingezogenheit«
entwickeln und den »phantastischenWunsch« hegen, »auf einem
entlegenen Landsitze« ihre »Lebenszeit zubringen zu können«.
In ästhetischer Distanz von der Erfahrung, daß gerade in der
Verfolgung ihrer »für wichtig und groß gehaltenen Zwecke«
»sich Menschen selbst untereinander alle erdenklicheübel antun«,
stellt sich»Traurigkeit« ein, die»erhaben« ist und zuden»rüsti
gen Affekten« gehört, weil sie »in moralischen Ideen ihren
Grund hat«34. In der Reflexion des Affektes präsentiert sich in
jener»Traurigkeit« dieWahrheit, daß dieForderung des mora
lischen Gesetzes nicht unerfüllbar, aber doch, nach Ausweis aus
gebliebener Wirkungen, unerfüllt ist und eben deshalbje zu ihrer
Erfüllung einer Dezision bedarf, in der der Mangel an sie be
gründender und empfehlender Erfahrung für unbeachtlich er
klärt ist.
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Veröffentlichungsnachweise 182
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Namenverzeichnis 183
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Begriffswörterverzeichnis 185