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Christian Utz
»Nicholas Cook, Beyond the Score: Music as Performance,
New York: Oxford University Press 2013«
ZGMTH 12/2 (2015)
Hildesheim u. a.: Olms
S. 275–285
http://www.gmth.de/zeitschrift/artikel/826.aspx
Nicholas Cook, Beyond the Score: Music as Performance, New York:
Oxford University Press 2013
Nicholas Cook hat mit seiner jüngsten Mono- durch seine enzyklopädische Sicht auf das
graphie eine eindrucksvolle Serie von Buch- Fach, die kulturhistorische, empirische und
publikationen fortgesetzt, die allesamt für sich strukturanalytische Perspektiven in eine zu
beanspruchen können, Musikwissenschaft und gespitzte Argumentation (mitunter durch ›briti-
Musiktheorie wesentliche Impulse verliehen schen Humor‹ gewürzt) einfließen lässt. Dabei
oder zumindest kontroverse und damit frucht- gelingt es Cook, Theorie und Analyse einerseits
bare Methodendiskussionen befördert zu ha- einer rigorosen Methodenkritik zu unterzie-
ben.1 In vielen Texten Cooks ist deutlich die hen, sie aber gleichzeitig gegenüber den ana-
Stoßrichtung hin zu einer Reform, wenn nicht lyseskeptischen Methoden eines positivistisch
vollständigen Ablösung etablierter methodi- gefassten Empirismus und eines kultur- und
scher Verfahren vernehmbar, seien sie nun der sozialhistorischen Relativismus als Erkenntnis-
musikalischen Analyse im engeren Sinn oder methoden eigenen Rechts zu verteidigen.
etwa der Musikhistoriographie oder Theorie- Das Ende 2013 erschienene voluminö-
geschichtsschreibung zuzuordnen. Der refor- se Buch Beyond the Score: Music as Perfor-
matorische Impuls verbindet Cooks Arbeiten mance (458 S.) knüpft insofern an solche re-
mit Vertretern der US-amerikanischen ›criti formatorischen Bestrebungen an, als es Cook
cal‹ bzw. ›new musicology‹ wie Lawrence hier um nichts weniger geht als »to change the
Kramer oder Susan McClary, mit denen er musical object from the perspective of musi-
zwar den Anspruch auf eine erfahrungsge- cology« (1). Gemeint ist damit ein mit Haut
sättigte und kulturhistorisch kontextualisierte und Haaren ernst genommener, zugleich aber
Auffassung musikalischer Bedeutung teilt, vielfach selbstreflexiv hinterfragter ›performa-
über deren essayistisch-hermeneutischen An- tive turn‹ in der Musikforschung:2 Cook for-
satz er aber deutlich hinausgeht – vor allem dert, ›Musik‹ und ›performance‹ nicht länger
als zwei getrennte bzw. sich lediglich ergän-
1 Neben den vor allem zu didaktischen Zwe- zende Bereiche zu verstehen, sondern im Sin-
cken weiterhin höchst brauchbaren Lehr- ne von »music as performance« (1)3 sich vom
buch-Publikationen A Guide to Musical Paradigma des »music as writing«, des text
Analysis (1987) und Analysis through Com- zentrierten musikalischen Ideenkunstwerks zu
position: Principles of the Classical Style befreien, das Cook als »Plato’s Curse« (Kap. 1)
(1996) und Büchern, die einen Schwerpunkt apo strophiert und in der philologisch ge-
auf hörerrelevante Fragen musikalischer Ana-
prägten Gründungs- und Fachgeschichte der
lyse legen (Musical Analysis and the Listen-
er, 1989; Music, Imagination, and Culture,
Musik wissenschaft begründet sieht. Gewiss
1990), befassen sich weitere Monographien ist vieles von dem, was Cook in diesem Buch
mit einer kulturhistorischen Kontextualisie- fordert, zwischenzeitlich weithin gängige Pra-
rung von Musiktheorie (The Schenker Project: xis: Rezeptionsästhetisch und aufführungs-
Culture, Race, and Music Theory in Fin-de- praktisch akzentuierte Forschungen haben
siècle Vienna, 2007, ausgezeichnet mit dem deutlich an Gewicht und Relevanz gewon-
Wallace Berry Award 2010 der Society of Mu- nen, nicht zuletzt auch im Zusammenhang
sic Theory) und breit angelegten fachmetho-
mit der Idee eines ›practice-based research‹.4
dischen und musikhistorischen Themen (u. a.
Rethinking Music, hg. gemeinsam mit Mark 2 Vgl. Jost 2013.
Everist, 1999, und The Cambridge History of
Twentieth-Century Music, hg. gemeinsam mit 3 Hervorhebung original.
Anthony Pople, 2004). 4 Vgl. Doğantan-Dack 2015.
sich nicht zuletzt auf wechselseitige Impulse forderten künstlerischen ›Eigenwert‹ des Inter
innerhalb dieses multidisziplinären Forscher- pretationsvorgangs als Gegensatz zu einem
teams zurückführen, ist aber schon in frühen rein textbasierten Werkbegriff ins Zentrum
Texten angelegt, insbesondere im Gedanken stellte. Auch in Hinblick auf Fragestellungen
einer ›performative analysis‹, die im Band der Interpretationsgeschichte lassen sich un-
Rethinking Music reziprok zu »analysing per- schwer Konvergenzen der beiden Forschungs-
formance« gedacht wurde.8 Eine nicht uner- traditionen beobachten, etwa in der von Cook
hebliche Konsequenz dieses ›performativen‹ wie auch von Hans-Joachim Hinrichsen11 ver-
Analyse- und Theoriebegriffs liegt tatsäch- tretenen Position, dass eine Interpretations-
lich darin, jenem Phänomen, das analytisch, geschichte – verstanden als ein Narrativ von
hörend oder lesend als ›Musik‹ bezeichnet aufeinanderfolgenden Interpretationsstilen –
werden kann, den Status eines klar umrisse- kaum in stringenter Weise konstruiert werden
nen und gefügten (Forschungs-)›Objekts‹ zu kann, sondern vielmehr ›rhetorisch-freie‹ und
nehmen, wie es die ›klassische‹ textorientier- textzentriert ›strenge‹ Aspekte der musika-
te Strukturanalyse oder auch die ontologisch lischen Interpretation in vielen Epochen in
orientierte Musikphilosophie voraussetzen unterschiedlicher Weise ineinandergreifen
(12 f.). Anders als im Neosubjektivismus der (129–133, 219–223) – sofern sie sich vor dem
›new musicology‹ aber legt Cook dieser In- Beginn der Tonaufzeichnung überhaupt aus
tegration der ästhetischen Erfahrung ein den vorhandenen Quellen, wie etwa den
umfassend rationalisiertes Methodengerüst ›instruktiven‹ und kommentierten Notenaus-
zugrunde, in dem die komplexe intermodale gaben, extrapolieren lassen. (Ob eine breit
Natur musikalischer Wahrnehmung zwischen angelegte historiographische Darstellung, wie
Schreiben, Lesen, Hören, Sehen, Denken,
sie in der 932-seitigen Cambridge History of
Emotion, Gesellschaft und Geschichte zu ih- Musical Performance12 versucht wird, an die-
rem Recht kommt. sem Befund etwas ändert, muss hier offen
Bedauerlich ist bei all dieser bemerkens- bleiben – viel mehr als eine eher lose zusam-
werten multidisziplinären Ausrichtung zwei- menhängende Folge von in sich gewiss teil-
fellos, dass auch Cooks Buch, wie die meis- weise wertvollen Einzeldarstellungen scheint
ten Studien des britischen Forschungsteams, dieser Band jedenfalls kaum zu bieten.)
kaum die breiten und grundlegenden ›Vorar- Auf der anderen Seite ist es evident, dass
beiten‹ auf diesem Gebiet berücksichtigt, die der Begriff ›performance‹, wie ihn Cook ver-
in der deutschsprachigen Musikwissenschaft steht, stark von Impulsen der Theater- und
ausgehend von Hermann Danusers Pionier- Medienwissenschaften ausgeht und einen
studie Musikalische Interpretation im Neuen umfassenderen Anspruch verfolgt als der Be-
Handbuch für Musikwissenschaft9 geleistet griff der ›Interpretation‹ – und es somit gute
wurden, besonders da einige dieser Studien Gründe gibt, warum die englische Formulie-
durchaus bereits den von Cook verfolgten rung ›interpretation‹ sich im Buch nur recht
synthetischen Ansatz aus historiographischer selten findet: Der Begriff ›performance‹ mar-
und empirischer Methodik angesprochen kiert für Cook – deutlicher als jener der ›In-
oder entwickelt haben. Vor allem gilt dies terpretation‹ – eine dezidierte Gegenposition
für Hermann Gottschewski, der bereits im zum Verständnis musikalischer Aufführung
Titel seiner Dissertation Die Interpretation als als ›Reproduktion‹, das Cook mit einer von
Kunstwerk10 den von Cook vehement einge- der Theaterwissenschaftlerin Susan M elrose13
entlehnten Phrase (37) als »page-to-stage ap-
8 Vgl. Cook 1999, 248. proach« (Kap. 2, 33–55) bezeichnet und das
9 Danuser 1992. Vgl. daneben auch Danuser
1996, Danuser 1997, Hinrichsen 1999 sowie 11 Vgl. Hinrichsen 2011, 36 f.
Stenzl 2012. 12 Lawson / Stowell 2012.
10 Gottschewski 1996. 13 Melrose 1994, 215.
zahlreiche neusachliche und textorientierte ing, or listening«18 zurückführt, wird von Cook
Interpretationsschulen, insbesondere seit der damit in einen breiteren kultur- und medien-
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte. historischen Kontext gestellt.
Dieses Verständnis von ›Interpretation‹ als
textorientierter Form der Aufführung kehrt Gliederung und Thematiken
also die bekannte Polarisierung zwischen
›exécution‹ und ›interprétation‹ in Igor Stra- Die sich in zahllose Stränge verästelnde Fülle
winskys Poétique musicale gleichsam um: seines Materials hält Cook durch eine konzi-
›Interpretation‹ war von Strawinsky in erster se und übersichtliche Gliederung des Buches
Linie mit »nutzlose[n] Nuancen« und einer in zwei große Abschnitte und insgesamt sechs
»Ungenauigkeit des Tempos« assoziiert wor- Kapitelpaare zusammen: Die ersten drei Paare
den, die dem »Geist eines Werkes« und dem (Kap. 1–6) behandeln nach zwei kultur-, mu-
Erfordernis »wirklich und aufrichtig der Musik sik- und fachgeschichtlich orientierten Einlei-
[zu] dienen«14 zuwiderlaufen. In dezidiertem tungskapiteln (Kap. 1: »Plato’s Curse«; Kap. 2:
Gegensatz zu einem solchen Ideal rigoroser »Page and Stage«) die Frage der ›performance‹
Texttreue fasst Cook Partituren als »social vor allem aus der Sicht einer historisch kontex-
scripts« auf, deren Bedeutung im Sinne einer tualisierten Analyse von Tonaufnahmen, wo-
semiotischen Übertragung erst im Moment bei vorwiegend Klaviermusik des 18. und 19.
der ›performance‹ konkretisiert wird (Kap. 8, Jahrhunderts im Mittelpunkt steht (Schubert,
249–287; vgl. 1). Dennoch wird deutlich, dass Mozart, Chopin). Dabei werden zunächst Wi-
bei aller zugespitzter Verve der Argumentati- dersprüche und Zusammenhänge zwischen
on der Begriff ›performance‹ bei Cook so breit analytisch-theoretischen Systemen und Er-
angelegt ist, dass er durchaus an etablierte kenntnissen und einer als ›rhetorisch‹ be-
Tendenzen der Aufführungspraxis- und Inter- zeichneten rubato-orientierten Aufführungs-
pretationsforschung anschlussfähig ist.15 Da- praxis in den Mittelpunkt gerückt, wobei
mit zeigt sich auch, dass Cooks Buch über die insbesondere Heinrich Schenkers Theorie
Polemik in Carolyn Abbates bekanntem Es- modelle (Kap. 3: »What the Theorist Heard«)
say Music – Drastic or Gnostic16 hinausweist. und die ›topic theory‹ sowie die historisch in-
Cooks Ansatz hebt sich von Abbate, die eine formierte Aufführungspraxis (Kap. 4: »Beyond
stärkere musikologische Berücksichtigung von Structure«) als Diskussionsgrundlage dienen.
›Live‹-Aufführungen fordert, nicht zuletzt da- Die Kapitel 5 (»Close and Distant Listening«)
durch ab, dass er den ›Performance‹-Begriff und 6 (»Objective Expression«) fassen dann
sowohl auf Ton- und Videoaufnahmen als Ergebnisse des am Corpus der Einspielungen
auch auf Live-Ereignisse bezieht und damit von Frédéric Chopins Mazurkas orientierten
die kategoriale Trennung zwischen ›live‹ und »Mazurka-Project« des CHARM-Forscher-
›canned music‹ (Richard Taruksin) grund- teams zusammen (http://mazurka.org.uk), wo-
sätzlich in Frage stellt (Kap. 10 und 11; Cook bei auch hier die Spannung (und teils Kon-
schließt hier im Grunde an Taruskin an, der vergenz) zwischen ›strukturalistischen‹ und
schon 1995 formuliert hatte: »performances, ›rhetorischen‹ Interpretationsstilen in breite
even canned performances, are not things but kultur- und mediengeschichtliche Kontexte
acts«17). Abbates letztlich einseitige Position, eingebettet wird. Statistische Methoden, teil-
die musikalische Bedeutung monokausal auf weise durch computergestützte Verfahren
»the irreversible experience of playing, sing- optimiert und veranschaulicht, werden hier-
bei mit differenzierten musikhistorischen und
strukturanalytischen Befunden quergelesen.
14 Strawinsky 1983, 247.
Im zweiten Teil des Buches dann wird die
15 Vgl. Danuser 2014, 546. Perspektive deutlich breiter auf kulturhistori-
16 Abbate 2004.
17 Taruskin 1995, 24. 18 Abbate 2004, 505.
sche und soziologische Kontexte der ›perfor- formalen Anlage von Werken, die in der struk-
mance‹ gelenkt und im Zusammenhang damit turalistischen Fundierung des Werkbegriffs im
auch ein heterogeneres Repertoire behandelt, Mittelpunkt steht, in Cooks ›performativem‹
von Jimi Hendrix, Jazz-Improvisation und ›new Werkbegriff einer Hinwendung zu flüchtigen
complexity‹ bis zu Arcangelo Corelli und dem Momenten der Emergenz und Referenz weicht.
Streichquartett des klassischen Stils, wobei Darauf stellen die Kapitel 9 (»The Signify-
Chopins Mazurkas einen mehrfach wieder- ing Body«) und 10 (»Everything Counts«) die
kehrenden ›Refrain‹ bilden. In den Kapiteln 7 Dimension des Körpers in den Vordergrund,
(»Playing Somethin’«) und 8 (»Social Scripts«) wobei die »construction of meaning through
ist der Gedanke des Musizierens als sozialer embodied practice« (6) an so unterschied-
Aktivität entwickelt, wobei den vielfältigen lichen Beispielen wie Jimi Hendrix’ Foxy
Formen der Interaktion zwischen Musikern, Lady und Analysen von Videoaufnahmen der
etwa in Kammermusik oder in Improvisation- Chopin-Mazurka op. 63/3 verhandelt wird.
sensembles, besonderes Gewicht zukommt Ziel ist es dabei, die durch dieses ›embodi-
und ethnographische Methoden vorgestellt ment‹ entstehenden Bedeutungsebenen mit
werden, die versuchen, das hierbei zur An- jenen querzulesen, die quantitativ orientierte
wendung kommende ›intui tive Wissen‹ von Tonträgeranalysen auf Corpusebene zu Tage
Interpreten zu dokumentieren und zu analy- fördern, wie sie in Kapitel 6 vorgestellt wur-
sieren – eine Dimension, die längst zu einem den. Kapitel 11 (»The Ghost in the Machine«)
breiten eigenständigen Forschungsfeld gewor- schließlich unternimmt einen breit angelegten
den ist und rein empirische Methoden19 eben- medienhistorischen Ausblick auf die Entwick-
so umfasst wie ethnographisch-deskriptive.20 lung von Musikaufnahmen seit den Anfängen
Cook pointiert hierbei seine Kritik am textori- mit Phonograph und Grammophon, wobei
entierten Werkbegriff in der These vom »work als zentrale These hier nochmals der Gegen-
as performance« (237–248). Das musikalische satz von ›performance‹ und ›reproduction‹
Werk erscheint als irreduzible soziale Kon auf den Punkt gebracht wird: ›Performances‹
struktion (239): Anhand der unterschiedlichen sind für Cook mehr als Reproduktionen von
Editionen von Corellis Sonaten op. 5 und an- Werken und umgekehrt sind Musikaufnah-
derer Beispiele wie Jazz-Improvisation ver- men mehr (oder jedenfalls etwas anderes) als
sucht Cook die Position zu dekonstruieren, Reproduktionen von ›performances‹. Cook
ein Werk zeichne sich durch eine bestimmte problematisiert Bestrebungen, durch Aufnah-
Konstellation unverwechselbarer struktureller men Aufführungen zu suggerieren (und damit
Eigenschaften aus, die durch den Interpreten potenziell zu ersetzen), während zugleich
lediglich ›vermittelt‹ oder ›übersetzt‹ wer- versucht werde, durch die hohe Perfektion
den müssten. Cooks Plädoyer für das »work von Live-Konzerten medialisierte Hörerfah-
as performance« versteht ›performance‹ im rungen zu imitieren – ein Teufelskreis, der laut
Gegensatz dazu als semiotische Aktivität, Cook mit zur globalen Marginalisierung von
»which does not set out to reproduce the Kunstmusik (im Buch als WAM = ›Western Art
structure literally or exhaustively. Instead, it is Music‹ abgekürzt) beitrage: Die Möglichkeiten
based on a system of abbreviations and cues, von ›performance‹, Bedeutungen zu entfalten,
and this contributes to the irreducibly histori- die über den Gedanken der ›reproduction‹
cal dimension of performance – and indeed of hinausweisen, wie sie im Schlusskapitel zu-
listening – that we call style. […] performers sammengefasst sind (Kap. 12, »Beyond Repro-
do not reproduce structure: rather they refer- duction«), würden so vergeben. Andererseits
ence or signify it.« (245) Dies hat nicht zuletzt zwingt dieser Befund dazu, auch den gesam-
zur Folge, dass die Bedeutung der makro ten Produktionsprozess von musikalischen
Aufnahmen als Teil jener ›performance‹ anzu-
19 Vgl. z. B. Goebl / Palmer 2009. sehen, die durch diese Aufnahmen suggeriert
20 Vgl. z. B. Davidson / Goode 2002. wird, also auch Aufnahmetechnik, Mastering
etc. verstärkt in die Analyse mit einzubezie- in seine in Der Tonwille publizierte Analyse
hen, was mit der Forderung einer umfassen- von Franz Schuberts Impromptu Ges-Dur
den Quellenkritik im Bereich der Erforschung op. 90/3.23 Bereits in Kapitel 2 differenziert
von Tonträgern einhergeht (Kap. 5, 139–143). Cook im Detail, dass weder Schenkers eige-
ne Ausführungen zur Aufführung noch jene
›Performance Analysis‹ der US-amerikanischen Nachkriegs- und Ge-
genwartstheorien, die versuch(t)en, Schen-
Von besonderem Interesse für die Musikthe- kers Theoriesystem für die Aufführungspraxis
orie ist zweifellos der erste Teil von Beyond fruchtbar zu machen, auf ein naives Modell
the Score und dabei insbesondere die Haupt- der ›wörtlichen‹ Übertragung von Struktur-
kapitel 3 bis 6, zum einen da sie sich mit gän- analyse in Tempo- und Dynamikvorschriften
gigen Theorie- und Analysesystemen ausein reduziert werden können (34–40). Im Gegen-
andersetzen und mittels der ›performance teil gibt es sowohl von Schenker selbst als auch
analysis‹ deren Anspruch auf Allgemeingül- von ›Schenkerianischen‹ Theoretikern hinrei-
tigkeit dekonstruieren, zum anderen weil hier chend Belege für die Haltung, dass das ›He-
jenes Kernrepertoire der europäischen (Kla- rausbringen‹ oder ›Projizieren‹ musikalischer
vier-)Musik im Zentrum steht, das Grundla- Struktur bei der Aufführung nur eine mögliche
ge aller einflussreichen neueren Musik- bzw. Option für die Interpreten sei und keinesfalls
theorien bildet. Grundlegend für
Tonalitäts übertrieben eingesetzt werden dürfe24 (44 f.).
Cooks Verfahren ist die Kritik am universellen Dem steht nun aber eine stark autoritative
Anspruch von Analyse und Theorie, insbe- Tendenz in Schenkers Theoriefragment zur
sondere dort, wo diese sich anmaßen, im Sin- Aufführungslehre gegenüber, in der davon
ne des »analysis-to-performance approach« ausgegangen wird, dass jedes Werk nur eine
(49 f.) auch verbindliche Richtlinien für die »wahre Wiedergabe« erfahren könne25 – ein
musikalische Ausführung vorzugeben. Cook Topos, der sich in einer vergleichbaren, wenn
will demgegenüber zeigen, dass die ›analyti- auch offener formulierten Form auch bei Ru-
sche‹ oder ›strukturalistische‹ Form der Aus- dolf Kolisch und Theodor W. Adorno findet.26
führung nur ein Interpretationsstil unter vielen Indem Cook nun eine detaillierte Analyse
ist, der erst nach dem Zweiten Weltkrieg im der Einspielung von Schuberts Impromptu
Zuge der Verbreitung entsprechender Ideale auf einer Welte-Mignon-Klavierrolle (1905)
in der Musikerausbildung global Akzeptanz durch Eugen d’Albert – einen von Schenker
fand (56). Eine umfangreiche Fallstudie, die erklärtermaßen favorisierten Pianisten – mit
Cook bereits 2008 auf dem Grazer Kongress Schenkers Stimmführungsanalyse einerseits
der Gesellschaft für Musiktheorie vorstellte21 und Schenkers Interpretationsanweisungen
und die den Kern des 3. Kapitels von Beyond andererseits konfrontiert und diesen Diskurs
the Score bildet, betrifft Heinrich Schenkers dann mit universalistischen Theorien der
Stimmführungsanalyse und ihren Bezug zur Tempo- und Phrasengestaltung27 sowie mit
Aufführungspraxis. Dabei stellt sich zunächst älteren und neueren Aufnahmen des Schu-
die Schwierigkeit, eine konzise Aufführungs- bert-Werkes (Edwin Fischer, Artur Schnabel,
lehre aus Schenkers Schriften zu rekonstruie- Murray Perahia u. a.) kontextualisiert, stellt er
ren, wozu neben der Fragment gebliebenen grundlegende Paradoxien im Verhältnis von
Schrift Die Kunst der Vortrags, die 2000 in Analyse und Aufführung heraus: Nicht nur
einer englischsprachigen Edition erschien22,
vor allem eine Reihe von Interpretationshin-
23 Schenker 1924.
weisen dienen können, die Schenker in viele
24 Schenker 1956, 34 f.; Rothstein 1995, 218.
seiner Veröffentlichungen integrierte, so auch
25 Schenker 2000, 77 (Übers. des Verf.).
21 Cook 2010. 26 Kolisch 1983, 13 f.; Adorno 2001, 120.
22 Schenker 2000. 27 Vgl. Cone 1968; Todd 1992.
gegen das Cooks Buch so massive Kräfte mo- die gerade mit Chopins Mazurkas verbunden
bilisiert, immer wieder als äußerst produktive ist, anhand der Interpretationsgeschichte der
Reibungsfläche erweist. besonders ›idiomatischen‹ Mazurka op. 33/2
Dasselbe gilt für die in den Kapiteln 5 und (D-Dur) zu dekonstruieren. Die in Kapitel 6
6 nun auf breiter Repertoirebasis und me- vorgestellten, mit Hilfe von Cooks Mitarbeiter
thodisch stark durch quantitative Verfahren Craig Sepp mittels der Software Sonic Visual-
erweiterte Darstellung von historischen Di- izer (http://www.sonicvisualiser.org) und des
mensionen der Chopin-Interpretation. Die Scape Plot Generator (http://www.mazurka.
Reibungsfläche bieten hier wiederum die org.uk/software/online/scape) durchgeführten
›Ideologien‹ des ›phrase arching‹, die in einem Corpusstudien zu Einspielungen der Mazurkas
breiten kulturhistorischen Exkurs als Grund op. 63/3 (cis-Moll; 34 Aufnahmen aus dem
lage des modernen Paradoxes eines ›objekti- Zeitraum 1923–2003) und op. 17/4 (a-Moll,
ven‹, da vermeintlich ›natürlichen‹ Ausdrucks sieben Aufnahmen aus dem Zeitraum 1939–
herausgestellt und in Verbindung gebracht 2002) versuchen dann über eine integrierte
werden mit so unterschiedlichen Manifestati- graphische Darstellung von Tempo- und Dy-
onen wie dem Ideal der Schlichtheit in Mode namikgestaltung historische Tendenzen des
(Coco Chanel; 212) oder funktionaler Archi- ›phrase arching‹ zu beschreiben. Auch wenn
tektur (Le Corbusier; 213–216) oder den nach- die graphischen Darstellungen des Scape Plot
haltigen – und von Adorno beklagten – Ten- Generator gewöhnungsbedürftig und kaum
denzen zur Standardisierung, wie sie moderne intuitiv lesbar sind, so zeigt Cook doch in
Aufnahme- und Reproduktionstechnologien diesem Kapitel, wie facettenreich die ›per-
mit sich brachten (217 f.). Die Vorstellung mu- formance analysis‹ auch gerade auf dieser
sikalischer Form als ›Architektonik‹ wurde da- Corpusebene sein kann und wie nachhaltig
bei – im Namen Strawinskys – nicht zuletzt sie durch das ›close listening‹ immer wieder
durch Nadia Boulanger in Theorie und Praxis neu befruchtet und vertieft werden kann (wie
vertreten, wobei auch hier – vermeintlich im auch für andere Kapitel erlaubt hier die Com-
Zenit der neusachlichen ›strukturalistischen‹ panion website zum Buch einen detaillierten
Aufführungspraxis – die Tondokumente eine Nachvollzug anhand ausgewählter Audio-
kontinuierliche Relevanz ›rhetorischer‹ Topoi und Analysedateien; http://global.oup.com/us/
bezeugen (221 f.). companion.websites/9780199357406). Wenig
Die als Resultat der CHARM-Forschungen verwunderlich ist, dass Cooks Grundthese
vorgestellten quantitativen Erhebungen zur schließlich auch hier bestätigt wird: Zwar
Aufnahmegeschichte von Chopins Mazurkas nahm ein Tempo- und Dynamikgestaltung
gehen von der These aus, dass solche Corpus- integrierendes ›phrase arching‹ (das hier ein-
studien durch ›distant listening‹ im Sinne des leitend vor allem mit Hugo Riemanns einfluss-
Literaturtheoretikers Franco Moretti einerseits reicher, wenn auch bereits zu ihrer Entstehung
gewisse Vorteile bieten, etwa das Vermeiden stark umstrittener Phrasierungslehre in Ver-
von tautologischen Forschungsergebnissen, in bindung gebracht wird, 178–182) nach 1945
denen nur das herausgehoben wird, was die in deutlichem Ausmaß zu und bezeugt den
Forscher in die Aufnahmen ›hineinhören‹. An- Einfluss eines pädagogisch institutionalisier-
dererseits bedürfen, wie Cook mehrfach ver- ten ›strukturalistischen‹ Interpretationsstils,
deutlicht, solche Methoden stets der qualita- zugleich aber bleiben ›rhetorische‹ Abwei-
tiven Überprüfung durch ein ›close listening‹, chungen von diesem textorientierten Ideal bis
sodass mikro- und makroskopische Perspekti- in die Gegenwart kontinuierlich präsent, nicht
ven sich fortgesetzt wechselseitig kommentie- zuletzt da viele Interpreten von der in Todds
ren können. Kapitel 5 gibt dabei vorwiegend Modell vorausgesetzten Koppelung von Tem-
dem ›close listening‹ den Vorzug, nicht zu- po- und Dynamikbögen nachhaltig abwei-
letzt mit der Intention, die eminent politische chen. Die Chimäre einer ›Natürlichkeit‹ dieses
und nationalistische Rezeptionsgeschichte, Modells wird damit ebenso offenbar wie die
31 Clarke / Cook / Harrison / Thomas 2005.
32 Vgl. Utz 2016.
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