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ZGMTH Zeitschrift der

Gesellschaft für Musiktheorie

Christian Utz
»Nicholas Cook, Beyond the Score: Music as Performance,
New York: Oxford University Press 2013«
ZGMTH 12/2 (2015)
Hildesheim u. a.: Olms
S. 275–285

http://www.gmth.de/zeitschrift/artikel/826.aspx
Nicholas Cook, Beyond the Score: Music as Performance, New York:
Oxford University Press 2013

Nicholas Cook hat mit seiner jüngsten Mono- durch seine enzyklopädische Sicht auf das
graphie eine eindrucksvolle Serie von Buch- Fach, die kulturhistorische, empirische und
publikationen fortgesetzt, die allesamt für sich strukturanalytische Perspektiven in eine zu­
beanspruchen können, Musikwissenschaft und gespitzte Argumentation (mitunter durch ›briti-
Musiktheorie wesentliche Impulse verliehen schen Humor‹ gewürzt) einfließen lässt. Dabei
oder zumindest kontroverse und damit frucht- gelingt es Cook, Theorie und Analyse einerseits
bare Methodendiskussionen befördert zu ha- einer rigorosen Methodenkritik zu unterzie-
ben.1 In vielen Texten Cooks ist deutlich die hen, sie aber gleichzeitig gegenüber den ana-
Stoßrichtung hin zu einer Reform, wenn nicht lyseskeptischen Methoden eines positivistisch
vollständigen Ablösung etablierter methodi- gefassten Empirismus und eines kultur- und
scher Verfahren vernehmbar, seien sie nun der sozialhistorischen Relativismus als Erkenntnis-­
musikalischen Analyse im engeren Sinn oder methoden eigenen Rechts zu verteidigen.
etwa der Musikhistoriographie oder Theorie- Das Ende 2013 erschienene voluminö-
geschichtsschreibung zuzuordnen. Der refor- se Buch Beyond the Score: Music as Perfor-
matorische Impuls verbindet Cooks Arbeiten mance (458 S.) knüpft insofern an solche re-
mit Vertretern der US-amerikanischen ›criti­ formatorischen Bestrebungen an, als es Cook
cal‹ bzw. ›new musicology‹ wie Lawrence hier um nichts weniger geht als »to change the
Kramer oder Susan McClary, mit denen er musical object from the perspective of musi-
zwar den Anspruch auf eine erfahrungsge- cology« (1). Gemeint ist damit ein mit Haut
sättigte und kulturhistorisch kontextualisierte und ­Haaren ernst genommener, zugleich aber
Auffassung musikalischer Bedeutung teilt, vielfach selbstreflexiv hinterfragter ›performa-
über deren essayistisch-hermeneutischen An- tive turn‹ in der Musikforschung:2 Cook for-
satz er aber deutlich hinausgeht – vor allem dert, ›Musik‹ und ›performance‹ nicht länger
als zwei getrennte bzw. sich lediglich ergän-
1 Neben den vor allem zu didaktischen Zwe- zende Bereiche zu verstehen, sondern im Sin-
cken weiterhin höchst brauchbaren Lehr- ne von »music as performance« (1)3 sich vom
buch-Publikationen A Guide to Musical Paradigma des »music as writing«, des text­
Analysis (1987) und Analysis through Com- zentrierten musikalischen Ideenkunstwerks zu
position: Principles of the Classical Style befreien, das Cook als »Plato’s Curse« (Kap. 1)
(1996) und Büchern, die einen Schwerpunkt apo­ strophiert und in der philologisch ge-
auf hörerrelevante Fragen musikalischer Ana-
prägten Gründungs- und Fachgeschichte der
lyse legen (Musical Analysis and the Listen-
er, 1989; Music, Imagination, and Culture,
Musik­ wissenschaft begründet sieht. Gewiss
1990), befassen sich weitere Monographien ist vieles von dem, was Cook in diesem Buch
mit einer kulturhistorischen Kontextualisie- fordert, zwischenzeitlich weithin gängige Pra-
rung von Musiktheorie (The Schenker Project: xis: Rezeptionsästhetisch und aufführungs-
Culture, Race, and Music Theory in Fin-de- praktisch akzentuierte Forschungen haben
siècle Vienna, 2007, ausgezeichnet mit dem deutlich an Gewicht und Relevanz gewon-
Wallace Berry Award 2010 der Society of Mu- nen, nicht zuletzt auch im Zusammenhang
sic Theory) und breit angelegten fachmetho-
mit der Idee eines ›practice-based research‹.4
dischen und musikhistorischen Themen (u. a.
Rethinking Music, hg. gemeinsam mit Mark 2 Vgl. Jost 2013.
Everist, 1999, und The Cambridge History of
Twentieth-Century Music, hg. gemeinsam mit 3 Hervorhebung original.
Anthony Pople, 2004). 4 Vgl. Doğantan-Dack 2015.

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Ihrem universellen Anspruch würde Cooks musikalische Kommunikation unmittelbar


These denn auch nicht gerecht, wenn sie allzu zwischen Komponist und Hörer verlaufe,
einseitig verfolgt würde, und so übt der Au- sodass Ausführenden lediglich die undank-
tor kaum weniger explizite Kritik an Versu- bare Rolle zufällt, bestenfalls – bis hin zur
chen, die musikalische Schriftform zum blo- Selbstauf­gabe – dem Komponistenwillen zu
ßen Anlass für das Musizieren im Sinne des dienen, ihn schlimmstenfalls aber zu verzer-
»musicking«5 herabzustufen (20). Und bei al- ren und unkenntlich zu machen.
ler Relevanz empirischer Methodik, die gera-
de in der Performanceforschung viel Tradition ›Performance Studies‹
hat, ja sich ausgehend von Carl Seashores ›ob- und Interpretations­forschung
jective performance analysis‹ in den 1930er
Jahren bis hin zu modernen computerge- Beyond the Score basiert auf nahezu 15 Jahre
stützten Methoden des ›Music Information lang kontinuierlich betriebenen Forschungen
Re­trieval‹ (MIR) wesentlich innerhalb dieses zur Analyse und Geschichte der musikali-
Bereichs herausgebildet und differenziert schen Aufführung, Interpretation und ›perfor-
hat, macht Cook stets klar, dass sein Erkennt- mance‹ und fasst so auch eine breite Anzahl
nisinteresse vorwiegend ein historisches und von Einzelpublikationen in einen größeren
hermeneutisches ist: Er möchte verstehen, in Kontext zusammen, geht dabei aber deutlich
welcher Weise musikalische Bedeutung im über eine Aufsatzsammlung hinaus, indem –
Moment bzw. im Verlauf sowie nicht zuletzt in bisweilen vielleicht etwas zu wortreich – kon-
der historischen Aus- und Nachwirkung einer sequent Bezüge zwischen den zwölf systema-
›performance‹ bzw. eines ›performance style‹ tisch gegliederten Kapiteln herausgearbeitet
entsteht – ›performance‹ wird also verstan- werden. Cooks Forschungen wurden ab dem
den im Sinne einer »real-time activity through Jahr 2004 in zwei großen, durch den briti-
which meanings emerge that are not already schen Arts and Humanities Research Council
deposited in the score« (23). Dass solche (AHRC) geförderten Forschungsprojekten ge-
Bedeutungen nicht konstant sind, sondern bündelt: CHARM (AHRC Research Centre for
starken historischen und geographischen Ver­ the History and Analysis of Recorded Music)
änderungen, Schwankungen, mitunter aber an der Royal Holloway, University of London
auch paradoxen Kontinuitäten unterliegen, (2004–2009; http://www.charm.kcl.ac.uk)
ist zugleich Grundvoraussetzung und fortge­ und CMPCP (AHRC Research Centre for Mu-
setzt neu belegtes Grundthema des Buches. sical Performance as Creative Practice) an der
Es ist damit ein Plädoyer für die musikhistori- University of Cambridge (2009–2014; http://
sche Relevanz von Interpreten und Interpre- www.cmpcp.ac.uk). In beiden Projekten war
tationsstilen und deren Einflussreichtum auf Cook Teil eines Teams von Forschern, wo-
die Musikgeschichte, und Cook versucht so bei insbesondere Eric Clarke, Daniel Leech-­
nicht zuletzt eine in der Musikforschung tief Wilkinson und John Rink gemeinsam mit
verankerte »telepathic fantasy« (31) zu wider­ Cook seit den 1990er Jahren wesentlich zur
legen, nach der – etwa in Hugo Riemanns Etablierung dieser britischen ›performance
später Theorie der ›Tonvorstellungen‹6 – die studies‹ beigetragen haben.7 Der Kern von
Cooks Methodik – die Verbindung von breiter
5 Vgl. Small 1998. musik- und ideengeschichtlicher Kontextua-
6 Riemann (1916, 2) hielt fest, »daß […] gar lisierung, einer Herausarbeitung strukturana-
nicht die wirklich erklingende Musik[,] son- lytischer Details und empirisch-quantitativer
dern vielmehr die in der Tonphantasie des
Untersuchungen von Tonaufnahmen – lässt
schaffenden Künstlers vor der Aufzeichnung
in Noten lebende und wieder in der Tonphan-
tasie des Hörers neu erstehende Vorstellung 7 Vgl. u. 
a. Clarke 1988, 1995; Cook 1987,
der Tonverhältnisse das Alpha und das Ome- 1995, 2001; Leech-Wilkinson 2001, 2009;
ga der Tonkunst ist«. Rink 1995, 2002.

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sich nicht zuletzt auf wechselseitige Impulse forderten künstlerischen ›Eigenwert‹ des Inter­
innerhalb dieses multidisziplinären Forscher- pretationsvorgangs als Gegensatz zu einem
teams zurückführen, ist aber schon in frühen rein textbasierten Werkbegriff ins Zentrum
Texten angelegt, insbesondere im Gedanken stellte. Auch in Hinblick auf Fragestellungen
einer ›performative analysis‹, die im Band der Interpretationsgeschichte lassen sich un-
Rethinking Music reziprok zu »analysing per- schwer Konvergenzen der beiden Forschungs-
formance« gedacht wurde.8 Eine nicht uner- traditionen beobachten, etwa in der von Cook
hebliche Konsequenz dieses ›performativen‹ wie auch von Hans-Joachim Hinrichsen11 ver-
Analyse- und Theoriebegriffs liegt tatsäch- tretenen Position, dass eine Interpretations-
lich darin, jenem Phänomen, das analytisch, geschichte – verstanden als ein Narrativ von
hörend oder lesend als ›Musik‹ bezeichnet aufeinanderfolgenden Interpretationsstilen –
werden kann, den Status eines klar umrisse- kaum in stringenter Weise konstruiert werden
nen und gefügten (Forschungs-)›Objekts‹ zu kann, sondern vielmehr ›rhetorisch-freie‹ und
nehmen, wie es die ›klassische‹ textorientier- textzentriert ›strenge‹ Aspekte der musika-
te Strukturanalyse oder auch die ontologisch lischen Interpretation in vielen Epochen in
orientierte Musikphilosophie voraussetzen unterschiedlicher Weise ineinandergreifen
(12 f.). Anders als im Neosubjektivismus der (129–133, 219–223) – sofern sie sich vor dem
›new musicology‹ aber legt Cook dieser In- Beginn der Tonaufzeichnung überhaupt aus
tegration der ästhetischen Erfahrung ein den vorhandenen Quellen, wie etwa den
umfassend rationalisiertes Methodengerüst ›instruktiven‹ und kommentierten Notenaus-
zugrunde, in dem die komplexe intermodale gaben, extrapolieren lassen. (Ob eine breit
Natur musikalischer Wahrnehmung zwischen angelegte historiographische Darstellung, wie
Schreiben, Lesen, Hören, Sehen, Denken,
­ sie in der 932-seitigen Cambridge History of
Emotion, Gesellschaft und Geschichte zu ih- Musical Performance12 versucht wird, an die-
rem Recht kommt. sem Befund etwas ändert, muss hier offen
Bedauerlich ist bei all dieser bemerkens- bleiben – viel mehr als eine eher lose zusam-
werten multidisziplinären Ausrichtung zwei- menhängende Folge von in sich gewiss teil-
fellos, dass auch Cooks Buch, wie die meis- weise wertvollen Einzeldarstellungen scheint
ten Studien des britischen Forschungsteams, dieser Band jedenfalls kaum zu bieten.)
kaum die breiten und grundlegenden ›Vorar- Auf der anderen Seite ist es evident, dass
beiten‹ auf diesem Gebiet berücksichtigt, die der Begriff ›performance‹, wie ihn Cook ver-
in der deutschsprachigen Musikwissenschaft steht, stark von Impulsen der Theater- und
ausgehend von Hermann Danusers Pionier- Medienwissenschaften ausgeht und einen
studie Musikalische Interpretation im Neuen umfassenderen Anspruch verfolgt als der Be-
Handbuch für Musikwissenschaft9 geleistet griff der ›Interpretation‹ – und es somit gute
wurden, besonders da einige dieser Studien Gründe gibt, warum die englische Formulie-
durchaus bereits den von Cook verfolgten rung ›interpretation‹ sich im Buch nur recht
synthetischen Ansatz aus historiographischer selten findet: Der Begriff ›performance‹ mar-
und empirischer Methodik angesprochen kiert für Cook – deutlicher als jener der ›In-
oder entwickelt haben. Vor allem gilt dies terpretation‹ – eine dezidierte Gegenposition
für Hermann Gottschewski, der bereits im zum Verständnis musikalischer Aufführung
­Titel seiner Dissertation Die Interpretation als als ›Reproduktion‹, das Cook mit einer von
Kunstwerk10 den von Cook vehement einge- der Theaterwissenschaftlerin Susan M ­ elrose13
entlehnten Phrase (37) als »page-to-stage ap-
8 Vgl. Cook 1999, 248. proach« (Kap. 2, 33–55) bezeichnet und das
9 Danuser 1992. Vgl. daneben auch Danuser
1996, Danuser 1997, Hinrichsen 1999 sowie 11 Vgl. Hinrichsen 2011, 36 f.
Stenzl 2012. 12 Lawson / Stowell 2012.
10 Gottschewski 1996. 13 Melrose 1994, 215.

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zahlreiche neusachliche und textorientierte ing, or listening«18 zurückführt, wird von Cook
Interpretationsschulen, insbesondere seit der damit in einen breiteren kultur- und medien-
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte. historischen Kontext gestellt.
Dieses Verständnis von ›Interpretation‹ als
textorientierter Form der Aufführung kehrt Gliederung und Thematiken
also die bekannte Polarisierung zwischen
›exécution‹ und ›interprétation‹ in Igor Stra- Die sich in zahllose Stränge verästelnde Fülle
winskys Poétique musicale gleichsam um: seines Materials hält Cook durch eine konzi-
›Interpretation‹ war von Strawinsky in erster se und übersichtliche Gliederung des Buches
Linie mit »nutzlose[n] Nuancen« und einer in zwei große Abschnitte und insgesamt sechs
»Ungenauigkeit des Tempos« assoziiert wor- Kapitelpaare zusammen: Die ersten drei Paare
den, die dem »Geist eines Werkes« und dem (Kap. 1–6) behandeln nach zwei kultur-, mu-
Erfordernis »wirklich und aufrichtig der Musik sik- und fachgeschichtlich orientierten Einlei-
[zu] dienen«14 zuwiderlaufen. In dezidiertem tungskapiteln (Kap. 1: »Plato’s Curse«; Kap. 2:
Gegensatz zu einem solchen Ideal rigoroser »Page and Stage«) die Frage der ›performance‹
Texttreue fasst Cook Partituren als »social vor allem aus der Sicht einer historisch kontex-
scripts« auf, deren Bedeutung im Sinne einer tualisierten Analyse von Tonaufnahmen, wo-
semiotischen Übertragung erst im Moment bei vorwiegend Klaviermusik des 18. und 19.
der ›performance‹ konkretisiert wird (Kap. 8, Jahrhunderts im Mittelpunkt steht (Schubert,
249–287; vgl. 1). Dennoch wird deutlich, dass Mozart, Chopin). Dabei werden zunächst Wi-
bei aller zugespitzter Verve der Argumentati- dersprüche und Zusammenhänge zwischen
on der Begriff ›performance‹ bei Cook so breit analytisch-theoretischen Systemen und Er-
angelegt ist, dass er durchaus an etablierte kenntnissen und einer als ›rhetorisch‹ be-
Tendenzen der Aufführungspraxis- und Inter- zeichneten rubato-orientierten Aufführungs-­
pretationsforschung anschlussfähig ist.15 Da- praxis in den Mittelpunkt gerückt, wobei
mit zeigt sich auch, dass Cooks Buch über die insbesondere Heinrich Schenkers Theorie­
Polemik in Carolyn Abbates bekanntem Es- modelle (Kap. 3: »What the Theorist Heard«)
say Music – Drastic or Gnostic16 hinausweist. und die ›topic theory‹ sowie die historisch in-
Cooks Ansatz hebt sich von Abbate, die eine formierte Aufführungspraxis (Kap. 4: »Beyond
stärkere musikologische Berücksichtigung von Structure«) als Diskussionsgrundlage dienen.
›Live‹-Aufführungen fordert, nicht zuletzt da- Die Kapitel 5 (»Close and Distant Listening«)
durch ab, dass er den ›Performance‹-Begriff und 6 (»Objective Expression«) fassen dann
sowohl auf Ton- und Videoaufnahmen als Ergebnisse des am Corpus der Einspielungen
auch auf Live-Ereignisse bezieht und damit von Frédéric Chopins Mazurkas orientierten
die kategoriale Trennung zwischen ›live‹ und »Mazurka-Project« des CHARM-Forscher-
›canned music‹ (Richard Taruksin) grund- teams zusammen (http://mazurka.org.uk), wo-
sätzlich in Frage stellt (Kap. 10 und 11; Cook bei auch hier die Spannung (und teils Kon-
schließt hier im Grunde an Taruskin an, der vergenz) zwischen ›strukturalistischen‹ und
schon 1995 formuliert hatte: »performances, ›rhetorischen‹ Interpretationsstilen in breite
even canned performances, are not things but kultur- und mediengeschichtliche Kontexte
acts«17). Abbates letztlich einseitige Position, eingebettet wird. Statistische Methoden, teil-
die musikalische Bedeutung monokausal auf weise durch computergestützte Verfahren
»the irreversible experience of playing, sing- optimiert und veranschaulicht, werden hier-
bei mit differenzierten musikhistorischen und
strukturanalytischen Befunden quergelesen.
14 Strawinsky 1983, 247.
Im zweiten Teil des Buches dann wird die
15 Vgl. Danuser 2014, 546. Perspektive deutlich breiter auf kulturhistori-
16 Abbate 2004.
17 Taruskin 1995, 24. 18 Abbate 2004, 505.

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sche und soziologische Kontexte der ›perfor- formalen Anlage von Werken, die in der struk-
mance‹ gelenkt und im Zusammenhang damit turalistischen Fundierung des Werkbegriffs im
auch ein heterogeneres Repertoire behandelt, Mittelpunkt steht, in Cooks ›performativem‹
von Jimi Hendrix, Jazz-Improvisation und ›new Werkbegriff einer Hinwendung zu flüchtigen
complexity‹ bis zu Arcangelo Corelli und dem Momenten der Emergenz und Referenz weicht.
Streichquartett des klassischen Stils, wobei Darauf stellen die Kapitel 9 (»The Signify-
Chopins Mazurkas einen mehrfach wieder- ing Body«) und 10 (»Everything Counts«) die
kehrenden ›Refrain‹ bilden. In den Kapiteln 7 Dimension des Körpers in den Vordergrund,
(»Playing Somethin’«) und 8 (»Social Scripts«) wobei die »construction of meaning through
ist der Gedanke des Musizierens als sozialer embodied practice« (6) an so unterschied-
Aktivität entwickelt, wobei den vielfältigen lichen Beispielen wie Jimi Hendrix’ Foxy
Formen der Interaktion zwischen Musikern, Lady und Analysen von Videoaufnahmen der
etwa in Kammermusik oder in Improvisation- Chopin-Mazurka op. 63/3 verhandelt wird.
sensembles, besonderes Gewicht zukommt Ziel ist es dabei, die durch dieses ›embodi-
und ethnographische Methoden vorgestellt ment‹ entstehenden Bedeutungsebenen mit
werden, die versuchen, das hierbei zur An- jenen querzulesen, die quantitativ orientierte
wendung kommende ›intui­ tive Wissen‹ von Tonträgeranalysen auf Corpusebene zu Tage
Interpreten zu dokumentieren und zu analy- fördern, wie sie in Kapitel 6 vorgestellt wur-
sieren – eine Dimension, die längst zu einem den. Kapitel 11 (»The Ghost in the Machine«)
breiten eigenständigen Forschungsfeld gewor- schließlich unternimmt einen breit angelegten
den ist und rein empirische Methoden19 eben- medienhistorischen Ausblick auf die Entwick-
so umfasst wie ethnographisch-­deskriptive.20 lung von Musikaufnahmen seit den Anfängen
Cook pointiert hierbei seine Kritik am textori- mit Phonograph und Grammophon, wobei
entierten Werkbegriff in der These vom »work als zentrale These hier nochmals der Gegen-
as performance« (­237–248). Das musikalische satz von ›performance‹ und ›reproduction‹
Werk erscheint als irreduzible soziale Kon­ auf den Punkt gebracht wird: ›Performances‹
struktion (239): Anhand der unterschiedlichen sind für Cook mehr als Reproduktionen von
Editionen von Corellis Sonaten op. 5 und an- Werken und umgekehrt sind Musikaufnah-
derer Beispiele wie Jazz-Improvisation ver- men mehr (oder jedenfalls etwas anderes) als
sucht Cook die Position zu dekonstruieren, Reproduktionen von ›performances‹. Cook
ein Werk zeichne sich durch eine bestimmte problematisiert Bestrebungen, durch Aufnah-
Konstellation unverwechselbarer struktureller men Aufführungen zu suggerieren (und damit
Eigenschaften aus, die durch den Interpreten potenziell zu ersetzen), während zugleich
lediglich ›vermittelt‹ oder ›übersetzt‹ wer- versucht werde, durch die hohe Perfektion
den müssten. Cooks Plädoyer für das »work von Live-Konzerten medialisierte Hörerfah-
as performance« versteht ›performance‹ im rungen zu imitieren – ein Teufelskreis, der laut
Gegensatz dazu als semiotische Aktivität, Cook mit zur globalen Marginalisierung von
»which does not set out to reproduce the Kunstmusik (im Buch als WAM = ›Western Art
structure literally or exhaustively. Instead, it is ­Music‹ abgekürzt) beitrage: Die Möglichkeiten
based on a system of abbreviations and cues, von ›performance‹, Bedeutungen zu entfalten,
and this contributes to the irreducibly histori- die über den Gedanken der ›reproduction‹
cal dimension of performance – and indeed of hinausweisen, wie sie im Schlusskapitel zu-
listening – that we call style. […] performers sammengefasst sind (Kap. 12, »Beyond Repro-
do not reproduce structure: rather they refer- duction«), würden so vergeben. Andererseits
ence or signify it.« (245) Dies hat nicht zuletzt zwingt dieser Befund dazu, auch den gesam-
zur Folge, dass die Bedeutung der makro­ ten Produktionsprozess von musikalischen
Aufnahmen als Teil jener ›performance‹ anzu-
19 Vgl. z. B. Goebl / Palmer 2009. sehen, die durch diese Aufnahmen suggeriert
20 Vgl. z. B. Davidson / Goode 2002. wird, also auch Aufnahmetechnik, Mastering

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etc. verstärkt in die Analyse mit einzubezie- in seine in Der Tonwille publizierte Analyse
hen, was mit der Forderung einer umfassen- von Franz Schuberts Impromptu Ges-Dur
den Quellenkritik im Bereich der Erforschung op. 90/3.23 Bereits in Kapitel 2 differenziert
von Tonträgern einhergeht (Kap. 5, 139–143). Cook im Detail, dass weder Schenkers eige-
ne Ausführungen zur Aufführung noch jene
›Performance Analysis‹ der US-amerikanischen Nachkriegs- und Ge-
genwartstheorien, die versuch(t)en, Schen-
Von besonderem Interesse für die Musikthe- kers Theoriesystem für die Aufführungspraxis
orie ist zweifellos der erste Teil von Beyond fruchtbar zu machen, auf ein naives Modell
the Score und dabei insbesondere die Haupt- der ›wörtlichen‹ Übertragung von Struktur-
kapitel 3 bis 6, zum einen da sie sich mit gän- analyse in Tempo- und Dynamikvorschriften
gigen Theorie- und Analysesystemen ausein­ reduziert werden können (34–40). Im Gegen-
andersetzen und mittels der ›performance teil gibt es sowohl von Schenker selbst als auch
analysis‹ deren Anspruch auf Allgemeingül- von ›Schenkerianischen‹ Theoretikern hinrei-
tigkeit dekonstruieren, zum anderen weil hier chend Belege für die Haltung, dass das ›He-
jenes Kernrepertoire der europäischen (Kla- rausbringen‹ oder ›Projizieren‹ musikalischer
vier-)Musik im Zentrum steht, das Grundla- Struktur bei der Aufführung nur eine mögliche
ge aller einflussreichen neueren Musik- bzw. Option für die Interpreten sei und keinesfalls
theorien bildet. Grundlegend für
Tonalitäts­ übertrieben eingesetzt werden dürfe24 (44 f.).
Cooks Verfahren ist die Kritik am universellen Dem steht nun aber eine stark autoritative
Anspruch von Analyse und Theorie, insbe- Tendenz in Schenkers Theoriefragment zur
sondere dort, wo diese sich anmaßen, im Sin- Aufführungslehre gegenüber, in der davon
ne des »analysis-to-performance approach« ausgegangen wird, dass jedes Werk nur eine
(49 f.) auch verbindliche Richtlinien für die »wahre Wiedergabe« erfahren könne25 – ein
musikalische Ausführung vorzugeben. Cook Topos, der sich in einer vergleichbaren, wenn
will demgegenüber zeigen, dass die ›analyti- auch offener formulierten Form auch bei Ru-
sche‹ oder ›strukturalistische‹ Form der Aus- dolf Kolisch und Theodor W. Adorno findet.26
führung nur ein Interpretationsstil unter vielen Indem Cook nun eine detaillierte Analyse
ist, der erst nach dem Zweiten Weltkrieg im der Einspielung von Schuberts Impromptu
Zuge der Verbreitung entsprechender Ideale auf einer Welte-Mignon-Klavierrolle (1905)
in der Musikerausbildung global Akzeptanz durch Eugen d’Albert – einen von Schenker
fand (56). Eine umfangreiche Fallstudie, die erklärtermaßen favorisierten Pianisten – mit
Cook bereits 2008 auf dem Grazer Kongress Schenkers Stimmführungsanalyse einerseits
der Gesellschaft für Musiktheorie vorstellte21 und Schenkers Interpretationsanweisungen
und die den Kern des 3. Kapitels von Beyond andererseits konfrontiert und diesen Diskurs
the Score bildet, betrifft Heinrich Schenkers dann mit universalistischen Theorien der
Stimmführungsanalyse und ihren Bezug zur Tempo- und Phrasengestaltung27 sowie mit
Aufführungspraxis. Dabei stellt sich zunächst älteren und neueren Aufnahmen des Schu-
die Schwierigkeit, eine konzise Aufführungs- bert-Werkes (Edwin Fischer, Artur Schnabel,
lehre aus Schenkers Schriften zu rekonstruie- Murray Perahia u. a.) kontextualisiert, stellt er
ren, wozu neben der Fragment gebliebenen grundlegende Paradoxien im Verhältnis von
Schrift Die Kunst der Vortrags, die 2000 in Analyse und Aufführung heraus: Nicht nur
einer englischsprachigen Edition erschien22,
vor allem eine Reihe von Interpretationshin-
23 Schenker 1924.
weisen dienen können, die Schenker in viele
24 Schenker 1956, 34 f.; Rothstein 1995, 218.
seiner Veröffentlichungen integrierte, so auch
25 Schenker 2000, 77 (Übers. des Verf.).
21 Cook 2010. 26 Kolisch 1983, 13 f.; Adorno 2001, 120.
22 Schenker 2000. 27 Vgl. Cone 1968; Todd 1992.

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gibt es unauflösliche Widersprüche zwischen Verabsolutierung eines text­zentrierten Werk-


der strukturalistischen (›modernist‹) Analyse- verständnisses die Folgerung, dass sowohl
methode Schenkers und seinen ganz in der Schenkers als auch Adornos und Kolischs
›rhetorischen‹ (›premodernist‹) Tradition ste- geplante Monographien zur musikalischen
henden Vorstellungen eines mobilen Tempos Interpretation letztlich daran scheiterten, dass
und nuancenreichen Vortrags; auch die von sie das Paradigma der Reproduktion nicht
strukturalistisch orientierten Interpretations- aufgeben wollten, zugleich aber eine starke
lehren und musikpsychologischen Studien Beziehung zur Interpretationspraxis der Jahr-
propagierte ›Natürlichkeit‹ einer am Notentext zehnte um 1900 pflegten, die einem solchen
orientierten Strategie des ›phrase-final length- Paradigma drastisch widersprochen habe
ening‹ bzw. ›phrase arching‹ – vor dem Hin- (89). Eine gewisse Einseitigkeit liegt wohl in
tergrund der Gravitationsmetapher basierend Cooks Wertung von Adornos ohnehin nur
auf der Analogie zwischen einer bogenförmi- stark fragmentarisch überlieferten und hetero­
gen Tempo- und Dynamikgestaltung von mu- genen Skizzen zur Aufführungstheorie, galt
sikalischen Phrasen mit dem Wurf eines Steins für Adorno doch keineswegs naive Texttreue
oder Balls28 – erweist sich als Konstrukt, das als Maßstab einer »wahre[n] Reproduktion«.
einer historisch-kritischen Untersuchung der Diese sei eben »nicht einfach die Realisie-
Interpretationsstile nicht standhält. Zwar zeigt rung des Befundes der Analyse«: »Das ergä-
der Vergleich von insgesamt acht Einspielun- be einen unerträglichen Rationalismus und
gen des Schubert-Impromptus aus dem Zeit- setzte tendenziell die Musikwissenschaft als
raum 1905–1997 eine vage Tendenz zur Re- Instanz der musikalischen Darstellung ein«.30
duzierung von Temposchwankungen und zu Die Kapitel 4 bis 6 knüpfen an diese Dis-
einem langsameren Grundtempo sowie eine kussion mit äußert materialreichen Darstellun-
nach 1945 wachsende Bereitschaft, die ›Ideo- gen an. Dabei zeigt Kapitel 4 anhand z­ weier
logie‹ des ›phrase arching‹ umzusetzen, aller- Sätze aus Mozarts Klaviersonaten (KV 332,
dings bezeugen die Aufnahmen zugleich die 1. Satz, und KV 331, 3. Satz Alla Turca) erneut
kontinuierliche Relevanz von irregulären Her- eingehend die kontinuierliche Relevanz ›rhe-
vorhebungen, die gerade nicht durch struktu- torischer‹ Interpretationsstrategien vor dem
relle Analyse erklärbar sind und die Cook mit Hintergrund der historisch informierten Auf-
Verweis auf die Beschreibung von ­ ›accents führungspraxis. Insbesondere die Orientierung
pathétiques‹ im Traktat Mathis Lussys29 beson- an musikalischen Topoi, durch die eine ›dra-
ders herausstellt (69). Vor dem Hintergrund matische‹ Lesart der klassischen Phrasenstruk-
seiner Exkurse in die Bereiche der energeti- turen motiviert ist, führt etwa bei Einspielun-
schen Musiktheorie sowie der Affekt- und gen von Hammerklavier-Solisten wie Malcolm
Emotionsforschung will Cook damit auch die Bilson oder Bart van Oort zu einer teilweise
Variabilität von emotionalen Gehalten zeigen, eklatanten ›Mobilität‹ des Tempos, das aber
wie es dem emergenten Strukturbegriff ent- durchaus in den Dienst ›strukturalistischer‹
spricht: »emotional meaning is not inherent in Lesarten gestellt wird – in Gegensatz zu den
the musical work but arises from the contexts mitunter verblüffenden ­›accents ­pathétiques‹
of its interpretation, understanding that word der Generation um 1900, die hier u. a. durch
in the broadest sense.« (79) Cook zieht aus Aufnahmen Carl Reineckes vertreten ist. Die
der Diagnose eines unbewältigten Konflikts Coda des Alla Turca setzt van Oort durch eine
zwischen einem praxisbezogenen Ideal freier, drastische Verlangsamung als formal eigen-
›rhetorischer‹ Interpretationsstilistik und der ständigen Formteil ab und zelebriert dabei
Phrasenverschränkungen und -verkürzungen.
28 Bereits bei Christiani 1885, 160, dann vor al- In solchen Detailanalysen zeigt sich, wie sehr
lem bei Cone 1968, 26–31, und schließlich sich das ›structure-to-­performance paradigm‹,
als kognitivistisches Modell bei Todd 1992.
29 Vgl. Lussy 1874, 11. 30 Adorno 2001, 106 f. (Hervorhebung original).

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gegen das Cooks Buch so massive Kräfte mo- die ge­rade mit Chopins Mazurkas verbunden
bilisiert, immer wieder als äußerst produktive ist, anhand der Interpretations­geschichte der
Reibungsfläche erweist. besonders ›idiomatischen‹ Mazurka op. 33/2
Dasselbe gilt für die in den Kapiteln 5 und (D-Dur) zu dekonstruieren. Die in Kapitel 6
6 nun auf breiter Repertoirebasis und me- vorgestellten, mit Hilfe von Cooks Mitarbeiter
thodisch stark durch quantitative Verfahren Craig Sepp mittels der Software Sonic Visual-
erweiterte Darstellung von historischen Di- izer (http://www.sonicvisualiser.org) und des
mensionen der Chopin-Interpretation. Die Scape Plot ­ Generator (http://www.mazurka.
Reibungsfläche bieten hier wiederum die org.uk/software/online/scape) durchgeführten
›Ideologien‹ des ›phrase arching‹, die in einem Corpusstudien zu Einspielungen der Mazur­kas
breiten kulturhistorischen Exkurs als Grund­ op. 63/3 (cis-Moll; 34 Aufnahmen aus dem
lage des modernen Paradoxes eines ›objekti- Zeitraum 1923–2003) und op. 17/4 (­a-Moll,
ven‹, da vermeintlich ›natürlichen‹ Ausdrucks sieben Aufnahmen aus dem Zeitraum 1939–
herausgestellt und in Verbindung gebracht 2002) versuchen dann über eine integrierte
werden mit so unterschiedlichen Manifestati- graphische Darstellung von Tempo- und Dy-
onen wie dem Ideal der Schlichtheit in Mode namikgestaltung historische Tendenzen des
(Coco Chanel; 212) oder funktionaler Archi- ›phrase arching‹ zu beschreiben. Auch wenn
tektur (Le Corbusier; 213–216) oder den nach- die graphischen Darstellungen des Scape Plot
haltigen – und von Adorno beklagten – Ten- Generator gewöhnungsbedürftig und kaum
denzen zur Standardisierung, wie sie moderne intuitiv lesbar sind, so zeigt Cook doch in
Aufnahme- und Reproduktionstechnologien diesem Kapitel, wie facettenreich die ›per-
mit sich brachten (217 f.). Die Vorstellung mu- formance analysis‹ auch gerade auf dieser
sikalischer Form als ›Architektonik‹ wurde da- Corpusebene sein kann und wie nachhaltig
bei – im Namen Strawinskys – nicht zuletzt sie durch das ›close listening‹ immer wieder
durch Nadia Boulanger in Theorie und Praxis neu befruchtet und vertieft werden kann (wie
vertreten, wobei auch hier – vermeintlich im auch für andere Kapitel erlaubt hier die Com-
Zenit der neusachlichen ›strukturalistischen‹ panion website zum Buch einen detaillierten
Aufführungspraxis – die Tondokumente eine Nachvollzug anhand ausgewählter Audio-
kontinuierliche Relevanz ›rhetorischer‹ Topoi und Analyse­dateien; http://global.oup.com/us/
bezeugen (221 f.). companion.websites/9780199357406). Wenig
Die als Resultat der CHARM-Forschungen verwunderlich ist, dass Cooks Grundthese
vorgestellten quantitativen Erhebungen zur schließlich auch hier bestätigt wird: Zwar
Aufnahmegeschichte von Chopins Mazurkas nahm ein Tempo- und Dynamikgestaltung
gehen von der These aus, dass solche Corpus- integrierendes ›phrase arching‹ (das hier ein-
studien durch ›distant listening‹ im Sinne des leitend vor allem mit Hugo Riemanns einfluss-
Literaturtheoretikers Franco Moretti einerseits reicher, wenn auch bereits zu ihrer Entstehung
gewisse Vorteile bieten, etwa das Vermeiden stark umstrittener Phrasierungslehre in Ver-
von tautologischen Forschungsergebnissen, in bindung gebracht wird, ­178–182) nach 1945
denen nur das herausgehoben wird, was die in deutlichem Ausmaß zu und bezeugt den
Forscher in die Aufnahmen ›hineinhören‹. An- Einfluss eines pädagogisch institutionalisier-
dererseits bedürfen, wie Cook mehrfach ver- ten ›strukturalistischen‹ Interpretationsstils,
deutlicht, solche Methoden stets der qualita- zugleich aber bleiben ›rhetorische‹ Abwei-
tiven Überprüfung durch ein ›close listening‹, chungen von diesem textorientierten Ideal bis
sodass mikro- und makroskopische Perspekti- in die Gegenwart kontinuierlich präsent, nicht
ven sich fortgesetzt wechselseitig kommentie- zuletzt da viele Interpreten von der in Todds
ren können. Kapitel 5 gibt dabei vorwiegend Modell vorausgesetzten Koppelung von Tem-
dem ›close listening‹ den Vorzug, nicht zu- po- und Dynamikbögen nachhaltig abwei-
letzt mit der Intention, die eminent politische chen. Die Chimäre einer ›Natürlichkeit‹ dieses
und nationalistische Rezeptionsgeschichte, Modells wird damit ebenso offenbar wie die

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kulturpessimistische Klage über die vermeint- hermeneutischen Analyse­traditionen versteh-


liche Vereinheitlichung der Interpretationssti- bar, die auf das Engste mit dem Denken in
le im Zuge der Reproduzierbarkeit und den den und durch die europäischen Kunstmusik-
Verlust an Nuancierung, wie sie nicht zuletzt Traditionen verbunden sind und irreversibel
Schenker und Adorno anstimmten, durch die auf diese eingewirkt haben. Durch ihre Aus-
Heterogenität dieser Gesamtschau eindrucks- klammerung tendiert Cook dazu, das Kind
voll widerlegt wird. mit dem Bade auszuschütten (und dass sich in
der Tat ein Kind in der Wanne befindet, räumt
Herausforderungen Cook in einem vergleichbaren Zusammen-
hang selbst ein, wenn er seinerseits C ­ arolyn
Nicholas Cooks Buch bietet reiches ­Material, Abbate vorwirft, Musikaufnahmen vom ›per-
das bei aller mitunter ›kriminologischen‹ Zu- formance‹-Begriff auszuschließen, 328). Ein
spitzung (etwa im Abschnitt »Forensics vs. anderes Desideratum, das Cooks Buch weit-
Musicology«, 149–157, in dem es um die gehend offen lässt, ist die Frage, inwiefern
›Aufdeckung‹ von Aufnahmen geht, die un- (oder mit welchen Modifikationen) der Ansatz
ter falschem Interpretennamen veröffentlicht der ›performance analysis‹ auf vor 1750 und
wurden) doch gewiss auch Längen und eine nach 1900 komponierte Musik anwendbar ist.
mitunter redundante Wiederkehr von Argu- Die lesenswerte ethnographische Studie zur
menten aufweist, nichtsdestotrotz aber voller Einstudierung eines in der Tradition der ›new
Anregungen und Herausforderungen für alle complexity‹ komponierten Klavierstücks im
musikologischen Fachgebiete steckt und inso- Abschnitt »Performing Complexity« (273–287,
fern das selbst gesteckte Ziel »to change the bereits 2005 erstmals veröffentlicht31) bietet
musical object from the perspective of mu- aufgrund ihrer methodisch sehr spezifisch ge-
sicology« (1) ohne Zweifel ein beträchtliches arteten Herangehensweise dafür nur bedingt
Stück vorangetrieben hat. Bei alledem muss Anhaltspunkte. In Bezug auf neue Musik ist
festgehalten werden, dass Cook in diesem die naheliegende Vermutung, der ›struktura-
Buch fast durchweg ›performance analysis‹ listische‹ Interpretationsstil sei hier verabso-
und kaum ›performative analysis‹ betreibt: lutiert worden und zur unhinterfragten Norm
Analyse im emphatischen Sinn ist so gut wie geworden, jedenfalls gewiss nicht haltbar32,
nicht anzutreffen, der Analysebegriff dient zu- und diese Erkenntnis lässt sich ohne Zweifel
meist als eher abstrakt bleibende Negativfolie auch auf eine längst von einem philologischen
der Argumentation. Das Potenzial, auf dem Historismus abgekommene Aufführungspraxis
Weg einer integrierten Untersuchung von Auf- von Barock- und Renaissance-Musik übertra-
nahmen und Aufführungen zu neuen struktu- gen. Gerade auch eine ›performance‹-ori-
rell-analytischen Deutungen der Werke zu entierte Forschung in diesen Bereichen wird
gelangen, wird kaum eingelöst, und wenn, ohne Zweifel stark von Cooks in ihrer Breite
dann nur auf der relativ eindimensionalen und Weitsicht einzigartiger Darstellung profi-
Ebene der Phrasensyntax. Viele von Cooks tieren können.
Argumentationen sind dabei zugleich nur vor
dem Hintergrund jener ›formalistischen‹ und Christian Utz

31 Clarke / Cook / Harrison / Thomas 2005.
32 Vgl. Utz 2016.

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