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Das deutsche Nachrichten-Magazin

Hausmitteilung
Betr.: Titel, Maut, „Islamischer Staat“

B is vor Kurzem beschäftigten sich vor allem Deutsche intensiv mit ihrer Nazi-
Vergangenheit, aber spätestens seitdem ernsthaft über den Ausstieg Grie-
chenlands aus dem Euroraum diskutiert wird, beeinflusst Deutschlands Geschich-
te auch die Politik in Spanien, Italien, Portugal. Von einem „Vierten Reich“ ist
nun die Rede, Deutschland wird vorgeworfen, Europa auszubeuten; ökonomisch,
politisch. Natürlich ist der Vergleich mit Hitlers „Drittem Reich“ unsinnig, aber
ist es berechtigt, Deutschland als egoistischen europäischen Hegemonen zu be-
zeichnen? Und wenn ja, wie herrschen die Deutschen? Was genau sind ihre Zie-
le? Antworten auf diese Fragen suchte ein Team von SPIEGEL-Redakteuren in
Berlin, Brüssel, in Griechenland, Italien, Frankreich; Gesprächspartner waren
Politiker, Volkswirte, Historiker. Außerdem Teil des Titelkomplexes: Eine neue,
bisher vertrauliche Untersuchung aus Athen bringt die Bundesregierung in der
Frage der Reparationen unter Druck. Seite 20

Wenn der Bundestag die Pkw-


Maut beschließt, wird er seinen
Segen zu einem sehr deutschen Projekt
geben. Es ist das vorläufige Ende einer
Debatte, die wie kaum ein innenpoli-
tisches Vorhaben die Emotionen der
Deutschen geweckt hat. Die SPIEGEL-
Redakteure Sven Böll, Peter Müller
und René Pfister haben die Auseinan-
dersetzung um die Maut mehrere Mo-
nate lang verfolgt – von der Entstehung
der Idee am Reißbrett der CSU-Wahl-
kampfstrategen bis zu den letzten An-
Böll, Pfister, Müller hörungen im Parlament. Sie beobach-
teten, wie die „Ausländermaut“ zum
Schlager in bayerischen Bierzelten aufstieg, trafen mehrfach Bundes-
verkehrsminister Alexander Dobrindt und berichten über die Tricks, mit denen
Kanzlerin Angela Merkel das Lieblingsprojekt von CSU-Chef Horst Seehofer
doch noch verhindern wollte. „Die Geschichte der Maut ist auch eine Geschichte
darüber, wie die Regionalpartei CSU der ganzen Republik ihren Willen auf-
zwingt“, sagt Müller. Seite 42

E ine Begegnung am Rand einer Sicherheitskonferenz machte es möglich, dass


Susanne Koelbl die Front im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS) Anfang
FOTOS: ALI YOUSEF / DER SPIEGEL (U.); MAURICE WEISS / OSTKREUZ / DER SPIEGEL (O.)

dieser Woche relativ komfortabel und sicher erreichte. Die SPIEGEL-Reporterin


hatte den irakischen Innenminister Mohammed al-Ghabban getroffen, und er
nahm sie nun in seinem gepanzerten Konvoi mit in die Stadt Tikrit, die kurz
davor steht, vollständig von der iraki-
schen Armee und Milizen eingenom-
men zu werden. Nach dem Verlust der
syrischen Grenzstadt Kobane droht
dem IS damit die zweite Niederlage. Zu-
sammen mit ihrem Kollegen Christoph
Reuter beschreibt Koelbl die Lage im
Irak und auf dem Territorium des IS.
Auch auf dem Weg zurück nach Bagdad
begleitete Koelbl Ghabban; als sie ihn
fragte, was er sich von den Deutschen
Irakischer General, Koelbl im Kampf gegen den IS erhoffe, antwor-
tete er: „Mehr Munition.“ Seite 94

DER SPIEGEL 13 / 2015 5


Deutschland, der schwache Hegemon
Europa Nazi-Karikaturen, Kriegsmetaphern und Reparationsforderungen –
in der Griechenland-Krise wird Deutschland wieder mit seiner Ver-
gangenheit konfrontiert. Aber ist das Problem die Rückkehr der deutschen

FOTOS: SEITE 6: LEFTERIS PITARAKIS / AP (O.); SEAN GALLUP / GETTY IMAGES (M. L.); LUCA GIACOSA (M. R.); STEPHANE MAHE / REUTERS (U.);
Übermacht? Oder die Tatsache, dass Deutschland zu klein ist, um
die Führungsnation zu sein, die der Kontinent braucht? Seiten 20, 28, 31

Teure
Unterhosen

SEITE 7: JASON GROW / DER SPIEGEL (O.); JOEL SAGET / AFP (M.); DAVID KLAMMER / DER SPIEGEL (U.);
Bundeswehr Feldjacken, Stiefel,
lange Unterhosen – 2002
gründete das Verteidigungs-
ministerium mit privaten
Partnern eine Firma, die den
Bekleidungseinkauf für die
Truppe übernahm. Nun muss
der Steuerzahler sie für
60 Millionen Euro retten; die
Privaten kommen dagegen
glimpflich davon. Wie konnte
das passieren? Seite 36

Abhängig vom
Smartphone
Alltagssucht Die Smartphone-
Nutzung ist zu einem Volks-
laster geworden: Nicht nur
Teenager, sondern auch viele
Menschen jenseits der vierzig
Ausverkauf der Alpen
starren fast ständig auf ihre Tourismus Höher, schneller, schriller: Der touristische Extremis-
Taschencomputer. Wissen- mus in den Alpen scheint keine Grenzen zu kennen.
schaftler vergleichen das Ge- Trotz Klimawandels rüsten viele Orte weiter auf, während die
baren mit dem von Nikotin- Ränder des Gebirgsgürtels ausbluten. Doch es gibt eine
süchtigen – und halten es für Gegenbewegung: Sie setzt auf Abrüstung, sanften Tourismus
gefährlich. Seite 62 und das Erleben der Natur. Seite 82

6 Titelbild: Montage DER SPIEGEL, Fotos AKG, Henning Schacht, DPA; Foto Umklapper: DPA
In diesem Heft

Titel Ausland
20 Europa Sind die Deutschen zu dominant, 88 Die Tochter des Oppositionspolitikers
oder führen sie nicht genug? Boris Nemzow zum Mord an ihrem Vater /
28 Reparationen Eine griechische Studie Neue Bürgermilizen in Polen
untermauert Forderungen nach Rückzahlung 90 Frankreich Marion Maréchal-Le Pen ist
eines NS-Zwangskredits von 1942 die dritte Generation des Front national –
31 Satire ZDF-Moderator Jan Böhmermann jung, radikal und beliebt
verwirrt mit einer angeblichen Fälschung 94 Terror Die Rückeroberung von Tikrit zeigt
die Schwächen des „Islamischen Staats“
Deutschland 96 Tunesien Der Anschlag von Tunis
14 Leitartikel Die EZB erfreut die Spekulanten 98 Essay Der israelische Schriftsteller Nir
Baram trauert um sein Land
16 Pläne für neue Anti-Terror-Truppe /
Der Reichtum der AfD / Rechts- 100 Kirche Ein Deutscher gibt sich als Geistlicher
extreme unter Blockupy-Demonstranten? / aus und zieht predigend durch Brasilien
Kolumne: Der schwarze Kanal 106 Global Village Wie das belgische Charleroi Ayaan Hirsi Ali,
34 SPD Die Sozialdemokraten korrigieren ihre sich dagegen wehrt, als Stadt der Verlierer
Haltung zur Vorratsdatenspeicherung dargestellt zu werden Islamkritikerin, gilt ihren
35 Kommentar Warum sich die SPD ändern Gegnern als Rechte und
muss Sport Kriegstreiberin. Nun fordert
36 Bundeswehr Eine Pleite bei der 107 Fanforscher Jonas Gabler fordert mehr sie die Reformation des
Beschaffung von Uniformen kostet Dialogbereitschaft des DFB / Bergsteiger- Islam. „Was wir erleben“, sagt
den Bund 60 Millionen Euro preis mit neuer Jury sie, „ist ein Kampf um
38 Islamismus Führten dubiose Hinweise zur 108 Olympia Hamburgs Kandidatur könnte zu
großen Anti-Terror-Operation in Bremen? einer Geduldsprobe werden die Herzen und Köpfe der
40 Karrieren Parlamentspräsident Lammert 111 Essay Wolfram Eilenberger über den Wert Muslime.“ Seite 128
redet an den Leuten vorbei einer deutschen Bewerbung
42 Verkehr Wie aus Ressentiments ein
Gesetz wurde – Rekonstruktion der Wissenschaft
Pkw-Maut 112 Gefährliche Brustimplantate / Wie Apps
48 Baden-Württemberg SPD-Talent Nils Schmid (und Eltern) die Kinder überwachen /
verblasst neben dem beliebten Kretschmann Mikrobiologin will den Begriff „Krank-
50 Geheimdienste Sabotage im BND-Neubau? heitserreger“ abschaffen
52 Katholiken Ein Jahr nach dem Ende der 114 Raumfahrt Bleibt Russland die Supermacht
Tebartz-Affäre ist das Limburger Bistum im All?
noch immer traumatisiert 117 Die Sopranistin Sarah Brightman über
59 Ruhestand Norbert Blüm erklärt, warum ihr Training für den Flug zur Raumstation
Alter streitsüchtig macht 120 Luftfahrt Wie Flug LH 1829 von
60 Justiz Das Kopftuch-Urteil von Karlsruhe Bilbao nach München nur knapp einer
verlagert das Problem an die Schulen Katastrophe entging
61 Die Verfassungsrichter umgingen ein 122 Medizin Billige Babys – ein belgischer
wichtiges Gremium Arzt will künstliche Befruchtung Marion Maréchal-Le Pen,
62 Alltagssucht Forscher vergleichen das erschwinglich machen
Verhalten obsessiver Smartphone-Nutzer Rechtspopulistin, ist blond
124 Tiere Im Kampf gegen die Varroa-
mit dem von Kettenrauchern Milbe wollen Imker mehr Vielfalt ins
und mit 25 Jahren die jüngste
Bienenerbgut bringen Abgeordnete, die je in
Serie der französischen National-
54 Zukunft (Teil II) Der demografische Wandel Kultur versammlung saß. Ein
gefährdet Deutschlands Wohlstand 126 Clint Eastwoods „American Sniper“ ist Porträt des neues Stars des
der erfolgreichste Kriegsfilm aller Zeiten / Front national. Seite 90
Gesellschaft Architekt Wolf Prix über die Frankfurter
66 Sechserpack: Die Welt spielt Monopoly / Krawalle / Kolumne: Mein Leben als Frau
Wie ein Datenschützer versucht, 128 Religionen Die Islamkritikerin Ayaan Hirsi
sich in der Netzwelt zu behaupten Ali will den Islam reformieren
67 Eine Meldung und ihre Geschichte Warum 132 Hirsi Alis Thesen als Vorabdruck
ein Brasilianer mit einem Messer im Kopf 136 Fernsehen Die TV-Neuverfilmung „Nackt
Motorrad fuhr unter Wölfen“ korrigiert die Legende von
68 Migration Die Stadt Münster will anständig der Selbstbefreiung des KZ Buchenwald
mit ihren Flüchtlingen umgehen 140 Literatur Russlands Starautorin Ljudmila
73 Homestory Tanzen um 7.30 Uhr morgens, Ulitzkaja und ihre Zweifel an der Heimat
mit einem Spinat-Smoothie in der Hand 143 Buchkritik John Williams’ zweiter wieder-
entdeckter Roman „Butcher’s Crossing“
Wirtschaft
74 Giftige Kohlemeiler / Uber beklagt
Medien
Innovationsfeindlichkeit / Commerzbank- 145 Xing kämpft mit Fälschungsattacken / Mehr
Aufsichtsrat prüft Schadensersatz Frauen an der Spitze von Printmedien Carolin Kebekus,
76 Wirtschaftspolitik Vorzeigeland Spanien 146 Humor Weibliche Comedians trauen Humoristin, sieht sich als
79 Justiz Falsche Fährten vor dem Strafprozess sich was
Feministin. Auch wenn das
gegen Deutsche-Bank-Chef Fitschen unsexy sei. „Man hat immer
80 Glücksspiele Ein Zocker soll jahrelang 10 Briefe
die Branche ausgetrickst haben 139 Bestseller den Reflex zu sagen: Ja, ich
82 Tourismus Vergnügungspark Alpen – eine 150 Impressum / Leserservice bin Feministin, aber ich bin
Wegweiser für
Gegenbewegung setzt auf Ruhe 151 Nachrufe Informanten:
trotzdem eine echte Dreck-
86 Strategien Verhandlungscoach Matthias 152 Personalien www.spiegel.de/ sau im Bett, das müssen Sie
Schranner über festgefahrene Gespräche 154 Hohlspiegel / Rückspiegel briefkasten mir glauben!“ Seite 146

Farbige Seitenzahlen markieren die Themen von der Titelseite. DER SPIEGEL 13 / 2015 7
Briefe

„Der Altersberg rückt immer näher, und die Politik denkt


weiterhin in Legislaturperioden und nicht darüber hinaus.“
Rainer Szymanski, Grünheide (Brandenb.)

Volkswirtschaftlicher Amok Eine Sisyphusarbeit, die eigentlich einem Der Aussage, Männern gehe es in erster
zu etablierenden „Zukunftsministerium“ Linie um Macht, Frauen würden dagegen
Nr. 12/2015 SPIEGEL-Serie: 2030 – Deutschland, gebührt. Der SPIEGEL bürdet sie sich auf, die Aufgabe in den Mittelpunkt stellen,
deine Zukunft
und der erste Teil der Serie legt bereits stimme ich zu. Einer meiner Vorgesetzten
Diejenigen, die heute die Entscheidungen Fakten und glaubwürdige Einschätzungen meinte, dass sich Frauen eben wie Männer
treffen, müssen die Suppe nicht mehr aus- unserer zukünftigen Lebensumstände in verhalten müssten, um in eine Führungs-
löffeln. Das habe ich selbst erlebt. Als ich erschreckendem Maße frei. Dies wäre seit position zu gelangen. Wenn sie dort wären,
bei einer Fachsitzung der FDP einmal vor- Jahrzehnten die verantwortungsvolle Auf- könnten sie ja wieder wie Frauen handeln.
schlug, darüber nachzudenken, wie man gabe der Politik gewesen; die Bürger hät- Renate Schulte, Münster (NRW)
Dörfer bewusst und sozialverträglich ab- ten vorbeugende oder sogar heilende Maß-
siedeln könnte, fuhr mir (damals 32) der nahmen mitgetragen. Doch lähmende Ihrem Artikel fehlt der Hinweis, dass die
Vorsitzende (um die 70) über den Mund: Angst vor Verlusten im Reigen ständiger Lohngleichheit von Männern und Frauen
„Darüber denken wir nicht nach!“ Wahlkämpfe im Land ist wie das starre bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit
Jan Wichmann, Polch (Rhld.-Pf.) Einhalten des Kaninchens im Angesicht längst geltendes Recht ist.
der Schlange. Wahrheit kostet Wählerstim- Prof. Dr. Hans Georg Fischer, Zülpich (NRW)
Die Titelgeschichte zeigt einmal mehr, wie men, „nach uns die Sintflut“ ist die Devise
wenig Politiker willens und fähig sind, die zum kurzfristigen Machterhalt. Die Einkommenssituation setzt sich ja un-
demografische Entwicklung richtig zu deu- Charlotte Waltraut Lemke, Goslar gebremst bis ins Rentnerinnenalter fort,
ten. Die gleicht mittlerweile einer Zeit- da die relativ geringeren Entgelte direkt
bombe, deren Lunte bereits kräftig brennt. Wir haben derzeit in Deutschland ein bei der Rentenberechnung einfließen. Ver-
Geradezu makaber wirkt die grafische Ver- Arbeitskräftepotenzial von 50 Millionen schärfend kommt hinzu, dass die Beitrags-
anschaulichung dieses Phänomens: Aus Menschen, aber nur 30 Millionen sozialver- und Anspruchsbegrenzung durch die Ren-
der einstigen Bevölkerungspyramide um sicherungspflichtig Beschäftigte. Angesichts tenversicherungs-Beitragsbemessungsgren-
1900 wurde bis zur Jahrtausendwende eine dessen kann von einem drohenden Fach- ze nur bei höheren Entgelten wirkt.
Zwiebel. Und die mutiert im Laufe der kräftemangel doch wohl kaum die Rede sein. Manfred Uhl, Prisdorf (Schl.-Holst.)
kommenden Jahrzehnte zu einer Urne, ei- Manfred Julius Müller, Flensburg
nem Symbol des Todes. Biologie und De- Ichsüchtig
mografie lassen sich nicht überlisten. Kein Wären die Politiker in der Lage, über den
noch so ausgeklügeltes Wirtschaftswachs- Tellerrand einer Wahlperiode hinaus zu Nr. 11/2015 Der Freitod des Kritikers Fritz J. Raddatz
und der Wunsch nach dem guten Sterben
tumsprogramm, keine noch so ausgereifte denken, würde auf den gesellschaftlichen
Einwanderungspolitik und keine noch so Wandel längst pragmatisch reagiert: Ob aus Die Perspektive auf die Selbsttötung
professionellen Personalförderungsmaß- menschlicher oder technischer Quelle, aus scheint mir sehr einseitig. So ein Tod ist
nahmen werden sie beeinflussen. Wir wer- der Wertschöpfung insgesamt werden die der Gipfel der Selbstbezogenheit – und die
den lernen müssen, damit zu leben. Und Beiträge abgezweigt, die für den Erhalt des Tendenz des Artikels, Kritik an der Selbst-
vielleicht lernen wir dabei auch wieder, bewährten Sozialversicherungssystems er- tötung etwa aus religiöser Sicht abwegig
das Alter zu respektieren. forderlich sind. Und ganz sicher: Otto von zu finden, Ausdruck einer höchst ichsüch-
Peter Kerz, Bodenheim (Rhld.-Pf.) Bismarck hätte gegen diese Änderung des tigen Denkweise. Welcher Mensch weiß
Finanzierungssystems nichts einzuwenden. schon, welche Rolle er im Gewebe der
In den nächsten zehn Jahren werden wir Lothar Kindereit, Rottenburg (Bad.-Württ.) Schicksalsfäden auch als alter, leidender
es nicht nur mit deutlich mehr Altersrent- oder behinderter Mensch zu spielen ver-
nern zu tun haben, sondern auch mit Men- Frauen, macht’s wie Männer! mag? Statt über aktive Sterbehilfe zu dis-
schen, die im Vergleich zur jetzigen Rent- kutieren, brauchte unsere Gesellschaft ein
nergeneration gravierend schlechter gestellt Nr. 11/2015 Was die Regierung gegen die ungleiche Nachdenken über Rolle und Würde des
Bezahlung von Männern und Frauen plant
sind. Hinzu kommt, dass sich ein immer Alters, über die Kunst des Alterns und des
größer werdender Anteil von Leuten keine Es gibt ja seit Jahren einen Sektor, in dem friedvollen Nachhausegehens.
oder nur unzureichende Rentenansprüche Gehältergleichheit verwirklicht ist: der oft Charlotte Butzmann, Berlin
erarbeiten kann. Neben dem Anstieg von geschmähte öffentliche Dienst. Mehr als
Teilzeitarbeit und prekärer Beschäftigung 4,7 Millionen Personen, die bei Bund, Län- Im Fall des in die Jahre gekommenen
genügt allein ein Blick auf die Zahl der dern, Landkreisen, Gemeinden als Beam- Lebemanns, der des Lebens überdrüssig
über 55-jährigen ALG-II-Bezieher, um kal- te, Richter, Staatsanwälte oder Soldaten wird, ist der Ruf nach legaler Sterbehilfe
te Füße zu bekommen. Mit Blick darauf Dienst tun oder als Tarifangestellte bei der ungeheuerlich. Freiwillig oder „selbstbe-
und auf die Langzeitarbeitslosigkeit ist mir öffentlichen Hand arbeiten, erhalten glei- stimmt“ aus dem Leben zu scheiden stand
unbegreiflich, warum die Politik weiterhin che Gehälter nach dem jeweiligen Besol- schon immer jedem frei. Im Zeitalter des
auf die passive Gewährung von Transfer- dungs- oder Tarifrecht. Auch die Diäten Internets ist es jedermann, wenn er nicht
leistungen in Milliardenhöhe setzt und im Bundes- und Länderparlament sind zu dumm oder zu faul ist, möglich, sich
nicht auf aktive sozialversicherungspflich- gleich. Daran sollte sich die Wirtschaft ein aus Selbsttötungsrezepten das für ihn an-
tige Beschäftigungspolitik. Volkswirtschaft- Beispiel nehmen und nicht, in falsch ver- genehmste herauszusuchen und anzuwen-
lich ist das ein Amoklauf. standener Kapitalistenmanier, Ausflüchte den. Der Ruf nach einem ärztlichen Sui-
Kerstin Thiele, Arbeitsförderung, Beschäftigung und Struktur- aus dem Gerechtigkeitsprinzip suchen. zidbegleiter ist für diese Fälle überflüssig.
entwicklung Hennigsdorf (Brandenb.) Prof. Dr. Axel Saipa, Ronnenberg (Nieders.) Prof. Dr. med. Wilfried Rödiger, Braunschweig

10 DER SPIEGEL 13 / 2015


Briefe

SPIEGEL TV MAGAZIN
SONNTAG, 22. 3., 23.20 – 0.05 UHR | RTL
Von den Kindern lernen nicht auf den Grund und verzichten darauf,
Falsche Polizisten, echte Gangster – psychische Gewalt und subtile Aggressio-
Wie Trickbetrüger hilflose Rentner Nr. 11/2015 Das Drama der Scheidung nen mit sozialpädagogischer Autorität in
abzocken; Die Waldbesetzer vom Das, was ich seit Jahrzehnten um mich die Schranken zu weisen. Kinder leben am
Hambacher Forst – Widerstand gegen herum wahrnehme, findet in diesem Be- besten weiterhin mit gemeinsamer Verant-
Braunkohleabbau; Alle Hoffnung richt seine Bestätigung: Die Ehe ist die wortung beider Eltern, doch Trennungs-
verloren – Flüchtlingsslum im Libanon. Mutter aller Schlachten. institutionen präferieren die „Ein-Eltern-
Dieter Reinhardt, Otzberg (Hessen) Familie“.
Johannes Zink, Norderstedt (Schl.-Holst.)
SPIEGEL GESCHICHTE Sie bilden hier einen ungewöhnlich extrem Elterninitiative „Gemeinsam Erziehende Mütter und Väter“
MONTAG, 23. 3., 21.55 – 22.50 UHR | SKY verlaufenden, sehr traurigen Ausnahmefall,
aber nicht die durchschnittliche Realität Was für eine jämmerliche Performance bie-
Putins geheimes Privatvermögen ab: Die meisten Paare finden – manchmal ten wir Erwachsene eigentlich unseren Kin-
Gerüchten zufolge soll der russische braucht es Zeit – friedliche oder jedenfalls dern? Wie viel Seelenpein wird schutzbe-
Präsident Wladimir Putin einer der annehmbare Lösungen. Insbesondere wird dürftigen Geschöpfen aufgebürdet, weil
reichsten Männer der Welt sein. Ihm dem Leser überhaupt nicht vermittelt, ihre Eltern unfähig sind, einander zu ver-
wird auch immer wieder Korruption welch gute, wertvolle und sehr oft erfolg- zeihen. Wie einfach schaffen es die Kinder,
vorgeworfen. Die Dokumentation reiche Arbeit Richter, Mediatoren, Mitar- sich nach einem Streit untereinander wie-
geht den Hintergründen nach. beiter der Jugendämter und Anwälte leis- der zu vertragen. Und warum tun sich Er-
ten, um den Eltern Wege aus der Not zu wachsene nur so unendlich schwer damit?
eröffnen und insbesondere das Leid der Eltern, lernt von euren Kindern!
SPIEGEL TV WISSEN Kinder zu mildern. Martin Meffert, Lauterbach (Hessen)
DIENSTAG, 24. 3., 17.25 – 18.10 UHR | PAY TV Astrid Scholz, Rechtsanwältin, Kappeln (Schl.-Holst.)
BEI ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN Das ganze Drama kann vermieden werden,
Der Artikel trifft es genau. Ich war lange wenn es keine Institution Ehe mehr gibt.
Die RADikalen – Grenzgänger Jahre als Sozialarbeiter tätig und kann Die Welt hat sich gewandelt, die verwur-
auf Pedalen mich an unzählige ähnliche Fälle erinnern, zelte Großfamilie existiert nicht mehr, und
Deutschland entwickelt sich zur die leider immer häufiger wurden. Auf der die Scheidungsquoten führen den Sinn der
Nation der Radfahrer. Die „RADika- Strecke bleiben die Kinder, und oft sah ich Ehe ad absurdum. Das muss man nicht gut
len“ sind die Speerspitze dieser diese Kinder später in der Jugendhilfe, in finden, ist aber Realität. In der Perspektive
stationären Einrichtungen oder in der Ju- können sich neue Partnerschaftsformen
gendgerichtshilfe wieder. Selten habe ich entwickeln. Vielleicht zieht dann mehr Ver-
einen Artikel darüber gelesen, der so klar nunft und Verantwortung dem Kind, dem
war, ohne Partei zu ergreifen. anderen und sich selbst gegenüber ein.
Michael Holzportz, Korschenbroich (NRW) Bernhard Fiebig, Leipzig

Was will uns der Autor damit sagen? Diese Das deutsche Familienrecht bedarf drin-
Darstellung „sie gleich Täterin, er gleich gend einer Reform. Das Bild des despo-
Opfer“ hilft sicherlich keinem der Betei- tischen und zürnenden Vaters, das in Ju-
ligten, sinnvoller wäre eine Analyse des gendämtern und Gerichten stereotyp re-
Absturzes gewesen. Hätten sich beide El- petiert wird, muss abgelöst werden durch
ternteile eingestehen können, dass ihr das vielfach realistischere des gütigen
Wollen gescheitert ist, wäre eventuell auf Vaters. Ebenso darf die Rolle der Mutter
den Trümmern noch etwas Zukunftsge- nicht weiter am instinktiven Verhalten
richtetes entstanden. So aber bleiben nur archaischer Gesellschaften des Paläo-
Verlierer übrig und ein schaler Nachge- lithikums festgemacht werden. Kinder
Fahrradtüftler schmack nach dem Lesen. haben ein Recht auf beide Elternteile,
Dr. Tewes Wischmann, Heidelberg selbst wenn diese nicht mehr miteinander
stetig wachsenden Bewegung. kommunizieren. Die Reduktion des Vaters
SPIEGEL TV WISSEN porträtiert Als betroffener Mann kann ich in vielen auf seine Funktion als Erzeuger und
Innovatoren und Visionäre. Punkten die Sicht des Vaters teilen. Wer Ernährer entspricht schon lange nicht
die Statistik sieht und den Artikel liest, der mehr unserer soziopolitischen Entwick-
versteht, warum die meisten Väter aufge- lung. Und nicht erst als Folge des Feminis-
SPIEGEL TV REPORTAGE ben. Das „System“ sieht immer noch die mus wurde die Verleihung des Mutterkreu-
MITTWOCH, 25. 3., 0.30 – 1.00 UHR | SAT.1 Frau als Mutter im Mittelpunkt, von einer zes abgeschafft.
Gleichberechtigung beim Sorgerecht kann Prof. Dr. Michael Kaufmann, Annweiler (Rhld.-Pf.)
„What you see is what you get“ – keine Rede sein. Die Verlierer sind immer
Die Joop-Story, Teil 4 unsere Kinder. Das schmerzt. Wenn man wie ich 22 Jahre lang im Fami-
In der Modelvilla von „Germany’s Horst Krumpen, Wismar liensenat eines Oberlandesgerichts als
Next Topmodel“ in Los Angeles Richter zugebracht hat, dann erscheint
gibt der Designer Wolfgang Joop Genau so verlaufen Trennungen im Regel- einem der geschilderte Fall als geradezu
gern den Herbergsvater für die fall. Anwälte und Gerichte eskalieren die „harmlos“.
19 Kandidatinnen. Nach Feierabend Konflikte, sie wurden nur ausgebildet, Sie- Prof. Dr. Gerhard Schlund, München
macht er die Secondhandläden ger und Verlierer zu schaffen. Sie provo-
von Los Angeles unsicher. Maria zieren geradezu Gewaltvorwürfe. Zuvor Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe ge-
Gresz unterwegs mit dem Mode- jedoch versagen die Familienberatungen, kürzt und auch elektronisch zu veröffentlichen:
Junkie Joop. sie gehen den biografischen Ursachen leserbriefe@spiegel.de
12 DER SPIEGEL 13 / 2015
Das deutsche Nachrichten-Magazin

Leitartikel

Höchste Zeit zur Umkehr


Die EZB heizt mit ihrer Geldpolitik die Spekulation an, statt die Konjunktur zu beflügeln.

E
s sei „nicht fair“, dass die Europäische Zentralbank Zudem gibt es gute Gründe zu bezweifeln, dass die nied-
(EZB) zum Hassobjekt von Kapitalismuskritikern ge- rigen Inflationsraten in der Eurozone überhaupt ein Problem
worden sei, sagte Mario Draghi bei der Eröffnung des darstellen. Die Anhänger der EZB-Politik ziehen düstere
neuen Verwaltungsgebäudes. Da war die Frankfurter Innen- Parallelen zur Deflation in den Dreißigerjahren, als die
stadt zur Kampfzone geworden. Steine flogen, Streifenwagen Waren beständig billiger wurden und die Produktion vieler-
brannten, Tränengas waberte durch die Straßen, es gab Dut- orts einbrach. Dagegen zeichnet die Basler Bank für Inter-
zende Verletzte. nationalen Zahlungsausgleich, eine Art Weltzentrale der
Frankfurt erlebte die schlimmsten Auseinandersetzungen Zentralbanken, ein anderes Bild: Die Niedrigpreisphasen in
zwischen Demonstranten und Polizei seit vielen Jahren, und den vergangenen 140 Jahren, so heißt es in ihrer Studie,
EZB-Chef Draghi geriet in eine Art Zweifrontenkrieg. Die hätten im Regelfall keinen Einfluss auf das wirtschaftliche
Blockupy-Aktivisten draußen wüteten gegen die Zentralbank, Wachstum gehabt.
weil sie in ihr die Herzkammer des internationalen Finanz- Etwas falsch zu machen ist nur die eine Sorge aller Noten-
systems sehen, das sie für die Not in Europa verantwortlich banker. Die andere Sorge ist, des Guten zu viel zu tun, denn
machen. Unter den Festgästen drin- so wird die Hausse befeuert, statt
nen gab es nicht wenige, die Draghi dass sie gedämpft würde. Dann ent-
vorwerfen, mit seiner Geldpolitik das EZB-Neubau in Frankfurt am Main steht nicht etwa Stabilität, sondern
Finanzsystem zu gefährden. Sieben Unsicherheit an den Märkten, und
Jahre nach Ausbruch der Krise ist die die Kluft zwischen Arm und Reich
EZB einflussreicher denn je, aber reißt weiter auf. Während Sparer un-
seither wächst auch der Verdacht, ter den niedrigen Zinsen leiden, weil
dass sie ihre Macht missbraucht. ihre Lebensversicherungen und Spar-
Vor zwei Wochen hat Draghi da- bücher kaum noch etwas abwerfen,
mit begonnen, Staatsanleihen der profitieren begüterte Schichten vom
Mitgliedsländer für die unvorstell- Boom an Aktien- oder Immobilien-
bare Summe von einer Billion Euro märkten.
aufzukaufen. So will er die niedrige Vor zweieinhalb Jahren rettete Ma-
Inflation in Europa bekämpfen, die rio Draghi den Euro mit dem knap-
nach seiner Meinung die Konjunktur pen Satz, er werde im Notfall „alles
gefährdet. Doch der gewünschte Ef- Erforderliche“ tun, ihn zu verteidi-
fekt bleibt bisher aus. Das viele Geld gen. Prompt hörte die Spekulation
trägt kaum dazu bei, dass die Banken gegen die Währungsunion auf, ohne
mehr Kredite an Unternehmen ver- dass die EZB auch nur einen einzigen
geben, die investieren wollen. Aber Euro ausgegeben hätte. Jetzt setzt sie
es drückt die Zinsen für die Sparer Hunderte Milliarden Euro ein und
und treibt die Kurse an den Aktien- heizt die Wetten gegen die Gemein-
und Devisenmärkten in die Höhe. schaftswährung an.
Anstatt der Konjunktur zu helfen, be- Die Europäische Zentralbank tut
flügelt die EZB die Spekulanten. des Guten zu viel, und die Kollate-
Die Folgen sind enorm. Der Deut- ralschäden könnten bald weltweit zu
sche Aktienindex ist um ein Drittel spüren sein. Wenn Schwellenländer
gestiegen. Amerikanische Hedge- wie Brasilien oder China unter dem
fonds gehen an Europas Börsen auf Druck billiger europäischer Exporte
Einkaufstour. Konzerne wie Daimler, BASF oder BMW haben die Notenpresse anwerfen, droht ein Währungskrieg, bei dem
binnen wenigen Wochen so viel an Wert gewonnen, dass es am Ende alle verlieren.
Börsianern mulmig wird. Von einer „ungesunden Kursrallye“ Deshalb ist es an der Zeit, dass die EZB überprüft, ob sie
ist die Rede. Nicht weniger dramatisch sind die Konsequenzen ihre Ziele nicht schon erreicht hat. Da die Aktien auf Rekord-
für den Euro. Dass der Wert der Gemeinschaftswährung ge- niveau sind, die Zinsen und der Eurokurs aber auf einem
genüber dem Dollar um 15 Prozent eingebrochen ist, erfreut Tiefpunkt, sollte Mario Draghi den Umfang seines Kauf-
Deutschlands Exporteure, die ihre Waren im Ausland billiger programms mindern, bevor die Folgen außer Kontrolle gera-
FOTO: PAUL LANGROCK / AGENTUR ZENIT

verkaufen können. Das verteuert allerdings auch die Importe ten. Damit könnte er den Bürgern Europas beweisen, dass
und vergrößert außerdem die Probleme für jene Unternehmen sich die Notenbank ihrer gewachsenen Macht bewusst ist und
aus den Schwellenländern, die ihr Geld im Euroraum verdie- sie behutsam einzusetzen versteht. Er muss sich nur daran
nen, aber ihre Kredite in Dollar aufgenommen haben. Ihre halten, was er bei der Eröffnung in Frankfurt am Main gesagt
Schuldenlast wächst und damit die Gefahr eines neuen Crashs hat: „Unsere Ziele müssen ehrgeizig sein, aber unsere Mittel
im internationalen Finanzsystem. pragmatisch.“ Michael Sauga

14 DER SPIEGEL 13 / 2015


AfD-Finanzen
Die Pro-Euro-Partei Sächsischer Polizist bei
Die Alternative für Deutsch- SEK-Präsentation in Dresden
land (AfD) hat im ersten Jahr
ihres Bestehens mehr als 7,7
Millionen Euro eingenom-
men. Das geht aus dem ers-
ten AfD-Rechenschaftsbe-
richt hervor, der in den kom-
menden Tagen veröffentlicht
werden soll. Im Jahr 2013 wa-
ren die größten Einnahme-
posten demnach Spenden in
Höhe von 4,3 Millionen Euro.
Die drei höchsten Einzelspen-
den – jeweils 50 000 Euro –
stammten von der baden-
württembergischen Firma
Wahl-Bau sowie von Erika
und Folkard Edler aus Ham-
burg. Der hanseatische Ree-
der hatte die Partei zusätzlich
mit umstrittenen Wahlkampf-
darlehen in Millionenhöhe un-
terstützt (SPIEGEL 51/2013).
Rund 28 000 Euro spendete
der Mannheimer Ökonomie- Innenministerium
professor Roland Vaubel den
Eurogegnern, rund 22 000 Regierung will neue Anti-Terror-Truppe
Euro ein Zahnarzt aus dem
hessischen Neuberg. Auch der Die Bundespolizei soll neben den Anti-Ter- te es „für die Pflicht des Bundes, den Län-
frühere Republikaner-Funk- ror-Spezialisten der GSG 9 eine neue hoch- dern im Bedarfsfall solche Einheiten zur
tionär Ulrich Wlecke, der gerüstete Einheit erhalten, die auf Anschlä- Verfügung stellen zu können“. Die neue
später in den nordrhein- ge in Deutschland schnell und flexibel rea- Truppe – intern scherzhaft „GSG 4 ½“ ge-
westfälischen AfD-Landes- gieren kann. Entsprechende Überlegungen nannt – soll schrittweise auf mehrere Hun-
wurden aus dem Bundesinnenministerium dertschaften ausgebaut werden. Sie soll ne-
grundsätzlich bestätigt. Die Einheit soll sich ben Kurz- auch Langwaffen und gepanzer-
gezielt auf terrorbedingte Ausnahme- te Fahrzeuge erhalten, ihre Schutzwesten
situationen vorbereiten, wie sie Anfang des müssten auch einem Beschuss aus Sturmge-
Jahres in Paris und Kopenhagen herrschten. wehren wie der Kalaschnikow standhalten.
Innenpolitiker der Koalition fürchten, die In dieser Woche war bekannt geworden,
deutschen Sicherheitsbehörden seien für dass das Bundeskriminalamt, der Verfas-
vergleichbare Attentate unzureichend ge- sungsschutz und die Bundespolizei von
wappnet. Zwischen der hoch spezialisierten 2016 an 750 neue Stellen und 328 Millionen
Elitetruppe GSG 9 und der Schutzpolizei Euro zusätzlich erhalten sollen. In der Ko-
AfD-Chef Bernd Lucke brauche es „eine robuste Einheit, die eine alition geht man davon aus, dass ein Teil
solche Lage bewältigen kann“, sagt der davon für den Aufbau der neuen Anti-Ter-
CDU-Innenexperte Armin Schuster. Er hal- ror-Truppe genutzt wird. jös
verband überlief, taucht in
FOTOS: ULRICH PERREY / DPA (L.); ARNO BURGI / PICTURE ALLIANCE / DPA (O.)

der Spenderliste auf – mit


14 500 Euro. Dem Rechen-
schaftsbericht zufolge nahm Wort der Woche ge dazu lautete: Muss eine Frau einem
die AfD außerdem „nicht Mann, der für ein Kuckuckskind Unterhalt
zweifelsfrei zuzuordnende
Zuwendungen“ in Höhe von
Mehrverkehr gezahlt hat und sein Geld vom wahren Vater
wiederhaben will, Auskunft über die weite-
rund 492 000 Euro ein. Das Bundesverfassungsgericht hat die ren Mehrverkehrsteilnehmer geben? Nein,
Derart ausgestattet konnte sprachinteressierte Öffentlichkeit mit ei- urteilten die Richter.
die Partei im Jahr 2013 gut nem Beschluss beglückt, der vom soge- Trotz dieser Verkehrsregel bleiben viele Fra-
3,8 Millionen Euro in ihre nannten Mehrverkehr handelt. Was Juristen gen. Wie nennt man es, wenn eine Frau mit
Wahlkämpfe investieren und damit meinen: Eine Frau hatte neun Monate nur einem Mann verkehrt? Normalverkehr?
rund 200 000 Euro für ihr Per- vor der Geburt ihres Kindes nicht nur mit ei- Einbahnstraße? Und was, wenn es zur Emp-
sonal ausgeben. Am Ende nem Mann Geschlechtsverkehr, sondern fängnis ohne männlichen Samen kommt?
blieb der AfD ein satter Über- mit mehreren Männern. Juristen haben, mangels Fällen, kein Wort
schuss – mehr als 2,3 Millio- Das ist die sogenannte Lebenswirklichkeit, dafür, die Theologen schon: Jungfrauenge-
nen Euro. ama, srö jedenfalls hin und wieder, die juristische Fra- burt. hip

16 DER SPIEGEL 13 / 2015 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Deutschland
Bundeswehrhubschrauber de legten. Aufgrund dieser Jan Fleischhauer Der schwarze Kanal
Am Boden
Die Flotte der Transporthub-
Berechnung hatte die Bundes-
wehr den Flugbetrieb des
NH90 vor einigen Wochen
Schulden royal
schrauber vom Typ NH90 wieder erlaubt. Untersuchun- Die Griechen würden gern
könnte erneut stillgelegt wer- gen der Bordelektronik und ihre Schulden mit ausstehen-
den: Wegen eines Triebwerk- der Triebwerke wiesen je- den Forderungen aus der Nazi-
problems und eines De- doch auf Konstruktionspro- Zeit verrechnen. Wir Deut-
signfehlers in der Bordelek- bleme beim NH90 hin. Im schen schulden ihnen angeb-
tronik ist das Absturzrisiko Juni 2014 wäre ein Hub- lich noch acht Milliarden Euro,
zu hoch. Zu dieser Einschät- schrauber dieses Typs nach weil wir nach dem Krieg eine
zung kommen sowohl unab- einer Triebwerksexplosion in Anleihe für die Wehrmacht un-
hängige Gutachter als auch Usbekistan beinahe abge- ter den Tisch fallen ließen. An-
die für die Zulassung verant- stürzt. Das Flugverbot war derswo habe ich auch etwas
wortliche Dienststelle der aufgehoben worden, kurz be- von elf Milliarden gelesen.
Bundeswehr. Flugsicherheits- vor der Haushaltsausschuss Wie immer, wenn die Sache
experten der Bundeswehr des Bundestags Anfang März ein paar Jahrzehnte zurückliegt, ist es nicht ganz einfach
empfehlen daher in einem der Anschaffung von 100 neu- zu sagen, wer was schuldet, weil inzwischen Zinsen und
dringlichen Schreiben an das en Hubschraubern des Typs Zinseszinsen aufgelaufen sind. In jedem Fall würde die
Luftfahrtamt, „den Flugbe- NH90 und seiner Marine- Summe locker reichen, um der Regierung in Athen über
trieb pro Luftfahrzeug auf Version zugestimmt hatte. die „kleinen Liquiditätsprobleme“ hinwegzuhelfen, von
maximal 20 Flugstunden zu Der Hersteller hält auf Nach- denen Finanzminister Gianis Varoufakis sprach.
begrenzen“. Der Hersteller, frage seine Berechnungen Ich weiß, man soll nicht aufrechnen. Aufrechnen bringt
eine Tochter von Airbus Heli- weiterhin für zutreffend. Das nichts, wie man schon im Kindergarten lernt. Aber wo
copters, soll demnach die Verteidigungsministerium wir gerade dabei sind, alte Forderungen zu präsentieren,
Wahrscheinlichkeit eines hingegen hat alle Beteiligten sollte man vielleicht daran erinnern, dass auch wir Deut-
Triebwerkausfalls falsch be- in der nächsten Woche zu ei- schen noch eine Rechnung offen haben. Das erste Mal,
rechnet haben – vermutlich nem Krisentreffen bestellt. dass die Griechen ein Darlehen erhielten, war im Jahr
auch, weil die Ingenieure die „Kurzfristige Folgen für den 1832, und zwar vom König von Bayern, der die Hellenen
Sicherheitsbestimmungen für Betrieb des NH90 sind der- beinahe so liebte wie die eigenen Landeskinder. Leider
Großflugzeuge statt derjeni- zeit nicht absehbar“, sagt ein stand es schon damals mit der Zahlungsmoral in Athen
gen für Hubschrauber zugrun- Ministeriumssprecher. gt nicht zum Besten, weshalb Ludwig I. in größte finanzielle
Not geriet, als die fest versprochenen Rückzahlungen aus-
blieben. Überliefert ist der Dialog zweier griechischer
Transporthubschrauber vom Typ NH90 Politiker aus dem Jahr 1843: „Jetzt wollen wir aber auch
sehen, wie wir unsere Schulden begleichen“, sagte der
eine. „Nein, jetzt wollen wir sehen, wie wir sie nicht be-
zahlen“, sagte der andere. Am Ende blieb der griechenbe-
geisterte Ludwig auf 1 233 333 Gulden sitzen. Umgerech-
net auf heute plus der Zinsen für 180 Jahre werden das
ebenfalls Milliarden.
Ich würde vorschlagen, dass man der Reihe nach vor-
geht. Erst die Begleichung des Wittelsbacher Schuldtitels,
dann die Rückzahlung des Nazi-Kredits. Klingt fair, wie
ich finde. Es ist leider völlig unkalkulierbar, ob das in
Athen nicht schon wieder als Beleidigung empfunden wird.
FOTO: NIGEL TREBLIN / DAPD; ILLUSTRATION: PETRA DUFKOVA / DIE ILLUSTRATOREN / DER SPIEGEL

TTIP-Abkommen spruchsvoller Umweltstan- Die neuen Leute an der Regierung sind ja wahnsinnig
Umwelt in Gefahr dards einen technologischen empfindlich. Man muss höllisch aufpassen, was man sagt.
Wettbewerbsvorteil besitze, Es reicht ein Wort wie „naiv“, und schon schicken sie den
Das Umweltbundesamt warnt „würde die Angleichung an Botschafter mit einer Demarche los. Als zwei meiner Kol-
vor Auswirkungen des ge- niedrigere US-Standards die legen ein Interview mit Minister Varoufakis führten, war
planten transatlantischen Aufgabe ökologischer und die Stimmung schon nach der ersten Frage im Keller.
Freihandelsabkommens ökonomischer Vorteile bedeu- Ich hätte erwartet, dass man als Linksradikaler bessere
(TTIP) auf europäische Stan- ten“. Frühere Kooperationen Nerven besitzt, zumal wenn man die größte Zeit seines
dards. Zwar gebe es in den seien „in sensiblen Bereichen Berufslebens an der Uni verbracht hat. Ich dachte immer,
USA durchaus auch strengere oft wenig erfolgreich verlau- Universitäten seien seit 1968 Orte der Aufsässigkeit und
Umweltvorschriften als in fen“. Umweltschutz sei des Widerspruchs, wo auch ein Professor gezwungen ist,
Europa, heißt es in einem „mehr als nur eine Fußnote sich mit abweichenden Meinungen auseinanderzusetzen.
Positionspapier, doch die Ge- des Freihandels“, sagt Um- Offenbar habe ich keine Ahnung, wie es heutzutage an
fahr, dass „bei der Bewertung weltbundesamt-Präsidentin Hochschulen zugeht. Bevor wir uns an die Rückzahlung
von Gesetzen US-Handels- Maria Krautzberger, „Interes- verstaubter Anleihen machen, sollten wir vielleicht erst
und Investitionsinteressen sen von US-amerikanischen einmal dafür sorgen, dass der Muff unter den Leder-
über Umweltziele gestellt“ Unternehmen sollten nicht jacken verschwindet. Es heißt doch immer, dass wir in
würden, sei „erheblich“. In über das Interesse der EU-Be- Europa mehr für die Jugend tun sollten.
Bereichen, in denen Europas völkerung an einer gesunden
Wirtschaft aufgrund an- Umwelt gestellt werden“. kn An dieser Stelle schreiben Jan Fleischhauer und Jakob Augstein im Wechsel.

DER SPIEGEL 13 / 2015 17


Deutschland

Blockupy
Geheimdienste mar Bartsch, der Linken-Ver-
Regierung schweigt treter in dem geheim tagen-
den Kontrollgremium, hatte
Zwischen der Bundesregie- im Februar etliche Fragen un-
rung und dem Vertrauens- ter anderem zum Bundes-
gremium des Bundestags ist nachrichtendienst (BND) for-
ein Streit über die Offenle- muliert: wie viel Geld der
gung der Geheimdienst-Etats BND an welche Internet-
entbrannt: Der Vorsitzende und Telefonanbieter zahlt,
des Gremiums, Carsten um deren Datenleitungen an-
Schneider (SPD), protestiert zapfen zu können, und was
in einem Brief an Kanzler- BND-Tarnfirmen im In- und
amtschef Peter Altmaier Ausland den Steuerzahler
(CDU) dagegen, dass dessen kosten. Eine Antwortfrist
Haus ein Auskunftsersuchen ließ die Regierung verstrei- Ausschreitungen bei
blockiere. Dabei gehe es chen. „Da muss es etwas zu Demonstration vor der
aber um Fragen zu „haus- verbergen geben“, sagt Europäischen Zentralbank
haltsrelevanten Vorgängen“, Bartsch, „insbesondere, was in Frankfurt am Main
welche die Regierung „nach die Zusammenarbeit mit an-
bestem Wissen und Gewissen deren Geheimdiensten be-
zu beantworten“ habe. Diet- trifft.“ jös

Flüchtlinge hindern. Allerdings haben die


Zurück nach Afrika Initiatoren nicht nur uneigen-
nützige Ziele. Die ägypti-
Die großen Mitgliedstaaten schen oder tunesischen
der EU wollen Flüchtlinge, Marineeinheiten sollen die
die über das Mittelmeer nach Migranten „in ihre eigenen
Europa zu gelangen versu- Häfen“ an der nordafrikani-
chen, davon abhalten, euro- schen Küste bringen. Die EU
päischen Boden zu erreichen. solle Ägypten und Tunesien
Das geht aus einem Doku- auch bei der „Rückführung
ment hervor, das die italieni- der irregulären Migranten in
sche Regierung mit Deutsch- ihre Herkunftsländer“ helfen.
land, Frankreich und Spanien Ein solches Vorgehen würde,
abgestimmt hat. Die Italiener so heißt es in dem Dokument,
Extremismus
schlagen vor, nicht-europäi-
sche Staaten wie Ägypten
„einen echten Abschreckungs-
effekt produzieren“. Die Grü-
Protest von rechts
und Tunesien an der Rettung nen-Europaabgeordnete Ska Mehrere rechtsextreme Organisationen haben offenbar
von Bootsflüchtlingen zu be- Keller kritisiert, die Mitglied- versucht, aus den Protesten gegen die Europäische Zen-
teiligen. „Drittstaaten kön- staaten wollten sich „um je- tralbank (EZB) in Frankfurt am Main politisches Kapital
nen aufgrund der geografi- den Preis von ihrer Verant- zu schlagen. Auf einschlägigen Internetseiten wie „Natio-
schen Nähe schneller und ef- wortung für Flüchtlinge nalisten gegen Kapitalismus“ waren Aufrufe veröffent-
fektiver intervenieren“, um freikaufen“. Ägypten und Tu- licht worden, nach Frankfurt zu fahren und sich unter die
Flüchtlinge zu retten und hu- nesien seien keine sicheren Demonstranten zu mischen. Tatsächlich kam es laut Be-
manitäre Tragödien zu ver- Länder für Flüchtlinge. csc obachtern mehrmals zu Scharmützeln zwischen linken
Demonstranten und Angehörigen der rechten „Autono-
men Nationalisten“. Der hessische Landtagsabgeordnete
Bundesregierung Wert von 19 440 Euro, Blei- der Partei Die Linke, Ulrich Wilken, sagt, ihm seien meh-
Einheitskamelle stifte für 9990 Euro und rere Rechtsextreme aufgefallen, die nationalistische Paro-
Geodreiecke für 5600 Euro. len gerufen hätten. Er habe die Ordner eines Demonstra-
Die Große Koalition will die Einfallsreich auch die Bundes- tionszugs aufgefordert, „diese Leute rauszudrängen“.
Bevölkerung auf die Feierlich- beauftragte für die neuen Der Verfassungsschutz prüft nun, ob Rechtsextremisten
keiten zum 25. Jahrestag der Länder, Iris Gleicke (SPD): auch an anderen Gewalttaten in Frankfurt beteiligt wa-
Deutschen Einheit mit klei- Ihre Beamten bestellten Kof- ren, etwa an Anschlägen gegen einen türkischen Imbiss
nen Geschenken einstimmen. feraufkleber, Schokotaler und und eine Flüchtlingsunterkunft. Die Frankfurter Polizei
Für knapp eine Viertel Mil- Deutschlandpuzzle. Die Lin- hat nach eigener Aussage bisher keine Erkenntnisse über
lion Euro bestellte die Regie- ke spricht von „Scherzarti- die Mitwirkung Rechtsextremer an Straftaten. Insgesamt
FOTO: MICHAEL PROBST / AP / DPA

rung sogenannte Streuartikel, keln“. Immerhin könnten die seien am Mittwoch etwa 4000 Gewalttäter in der Stadt
die zum 3. Oktober unter das Puzzle „den in Bonn verblie- gewesen, sagt Frankfurts Polizeipräsident Gerhard Beres-
Volk gebracht werden sollen. benen Beamten helfen, sich will. Große Gruppen seien unter anderem aus Berlin und
Neben Fruchtgummis orderte auch im Osten zu orientie- Hamburg angereist, aber auch aus Italien, Spanien, Por-
das Bundespresseamt laut ei- ren“, lästert Roland Claus, tugal und den Niederlanden (Lesen Sie dazu auch ein In-
ner Aufstellung für den Bun- Ostkoordinator der Linksfrak- terview mit dem Schöpfer des EZB-Neubaus, dem Archi-
destag Radiergummis im tion im Bundestag. was tekten Wolf D. Prix, auf Seite 126). jös, lab, mab

18 DER SPIEGEL 13 / 2015


Der Augenzeuge gewalttätig. Zum Glück gab es einen sehr umsichtigen Einsatz-
leiter, der mich kannte. Ich habe mich bei ihm dafür verbürgt,
„Ich verstehe die Wut“ dass es friedlich bleibt, wenn seine Leute abziehen. Und das
war dann auch so, die Sache nahm ein gutes Ende. Dieser Ein-
Willy Praml, 73, öffnete sein Theater in einer alten Industriehalle satzleiter war übrigens schon oft bei uns in Vorstellungen.
in Frankfurt am Main zwei Tage lang als Treffpunkt für Hunderte Natürlich ist es blödsinnig, Scheiben einzuschmeißen und
Blockupy-Demonstranten, die gegen die Europäische Zentralbank Autos anzuzünden. Damit haben sich die jungen Leute nur
(EZB) protestieren wollten. selbst geschadet. Oder vielmehr: Einige wenige haben der gro-
ßen Mehrheit von ihnen geschadet. Die meisten waren zwar
„Wir haben unser Theater in der Frankfurter Naxoshalle als tatsächlich sehr wütend. Aber sie wollten ohne Gewalt gegen
Treffpunkt und Suppenküche für Blockupy zur Verfügung ge- die in Europa vorherrschende Politik demonstrieren und müs-
stellt. Am Anfang war ich nicht so begeistert von der Idee, sen jetzt erleben, dass fast alle Medien nur über brennende
denn wir hatten eigentlich am Donnerstag eine Premiere, und Straßensperren und Krawalle berichten. Dabei haben die jun-
am Mittwoch sollte die Generalprobe sein. Aber dann kam gen Leute wirklich etwas zu sagen, wenn man ihnen zuhört.“
mir das blöd vor: Wir spielen sehr oft gesellschaftskritische Aufgezeichnet von Matthias Bartsch
Stücke, deshalb wäre es komisch, das Theater gerade dann
nicht für die politische Realität zu öffnen, wenn diese direkt
vor unserer Haustür stattfindet. Außerdem sollte sich eine li-
berale Stadt wie Frankfurt gastfreundlich zeigen gegenüber so
vielen Menschen aus ganz Europa, die hierherkommen, um
für ihr Anliegen zu demonstrieren.
Wir haben also mit dem ganzen Ensemble beschlossen,
die Premiere auf Samstag zu verschieben. Unser Publikum
haben wir eingeladen, im Foyer mit den jungen Leuten von
Blockupy zu diskutieren. Das war wirklich beeindruckend.
Ich verstehe die Wut, die viele der Leute gerade aus südeuro-
päischen Ländern haben. Denen geht es dreckig, die haben
eine enorme Jugendarbeitslosigkeit.
Hier bei uns im Theater haben sich alle ordentlich und
friedlich benommen. Es war ein ständiges Kommen und Ge-
hen, insgesamt waren sicher weit mehr als tausend Leute hier,
die Kartoffelsuppe gegessen und sich ausgeruht haben. Für
viele von ihnen war das sicherlich auch ein bisschen Abenteu-
er. Es hat mich jedenfalls an meine Jugend bei den Pfadfin-
dern erinnert, mit Rucksack und Schlafsack. Nur einmal wur-
de es brenzlig, als eine Gruppe unserer italienischen Gäste
von der Polizei bis auf das Gelände verfolgt wurde. Die Poli-
zei wollte die ganze Halle umstellen, sie hielt die Gruppe für

Interview SPIEGEL: Die von den Linken waltbereite Eskapaden auf. SPIEGEL: Im Juni gibt es ein
„Gestus der mitorganisierten Blockupy- Sie haben mit zu dem Bünd- G-7-Treffen in Oberbayern.
Proteste sind aus dem Ruder nis aufgerufen, das in Frank- Ist mit einer Zunahme gewalt-
Mächtigen“ gelaufen, einige Ihrer Partei- furt 20 000 Menschen über- tätiger Proteste von links zu
FOTOS: PETER-JUELICH.COM / DER SPIEGEL (R.); MICHAEL GOTTSCHALK / PHOTOTHEK / GETTY IMAGES (U.)

Bodo Ramelow, 59, regiert in freunde haben Verständnis wiegend friedlich demonstrie- rechnen?
Thüringen als erster linker Mi- für die Angriffe auf die Poli- ren ließ. Die Proteste richten Ramelow: Ich höre aus Sicher-
nisterpräsident Deutschlands. zei signalisiert. Sind Sie Mit- sich gegen eine Politik, die heitskreisen, dass mit diesen
Als Abgeordneter hat er selbst glied einer radikalen Partei? nicht zu akzeptieren ist. Ge- Machtdemonstrationen der
häufig demonstriert. Ramelow: Nein. Es gab einen walt war nicht geplant und ist G-7-Gruppe immer wieder
klaren Aktionskonsens im nicht zu entschuldigen. Eskalationsstufen verbunden
Vorfeld: Es darf von den Pro- SPIEGEL: Als Ministerpräsident sind. Die Polizei wird zum
testen, an denen wir uns be- untersteht Ihnen auch die Po- Prügelknaben für eine falsche
teiligen, keine Gewalt ausge- lizei. Kommt Blockupy nach Politik. Wir brauchen eine an-
hen. Solche Vorfälle sind Erfurt, treffen die Beamten dere Form des politischen
durch nichts zu entschuldigen. auf Ihre Parteifreunde. Eine Diskurses.
Die Verhältnismäßigkeit des erschreckende Vorstellung? SPIEGEL: Das heißt: keine G-7-
Polizeieinsatzes muss man al- Ramelow: Als Parteimitglied Treffen mehr?
lerdings in Ruhe untersuchen. würde ich dann auch in der Ramelow: Ich habe das quälen-
SPIEGEL: Ein Linker hatte die Demo bei meinen Partei- de Gefühl, dass diese Treffen
Demonstration angemeldet, freunden wie Katja Kipping nur noch erstarrte Routine
die Ausschreitungen konnte stehen. Und als Ministerpräsi- sind. Wir sollten darauf ver-
er nicht verhindern. Sollte dent hätte ich die Demonstra- zichten, den Gestus der
die Partei künftig vorsichtiger tionsfreiheit zu gewährleis- Mächtigen an den Tag zu le-
sein? ten. Ich sehe da keinen Wi- gen, solange den Ohnmächti-
Ramelow: Die Linken treten derspruch. Die Linke steht gen nicht geholfen wird.
nicht als Anmelder für ge- nicht für Gewalttaten. Interview: Steffen Winter

DER SPIEGEL 13 / 2015 19


Titel

„Das Vierte Reich“


Europa Angela Merkel mit Hitler-Bärtchen, Panzer auf dem
Weg nach Athen. In manchen Partnerländern grassieren
die Vergleiche mit den Nazis. Die Deutschen gelten
wieder als Übermacht. Dabei sind sie eher ein schwacher
als ein starker Hegemon des Kontinents.

D
er 30. Mai 1941 war der Tag, an nur um zehn Jahre verrechnet“, sagt Gle-
dem Manolis Glezos Adolf Hitler zos. 2010, in der Finanzkrise, habe die
austrickste. Vier Wochen zuvor deutsche Dominanz begonnen.
hatten die Deutschen eine riesige Haken- Bislang waren es vor allem die Deut-
kreuz-Fahne über der Akropolis von schen, die unermüdlich auf die Nazi-Ver-
Athen gehisst. Glezos und ein Kamerad gangenheit zurückblickten. Seit Kurzem
schlichen sich an den Mast heran, holten machen das auch andere Völker in Europa.
die verhasste Fahne herunter und zerrissen Angela Merkel mit Hitler-Bärtchen, deut-
sie. Ihre Tat machte sie zu Helden. sche Panzer auf dem Weg in den Süden –
Glezos war damals Widerstandskämp- es gibt eine Flut von Karikaturen mit die-
fer, heute ist er Europaabgeordneter der sen Motiven, in Griechenland, Spanien,
Regierungspartei Syriza, bald wird er 93 Großbritannien, Polen, Italien, Portugal.
Jahre alt. Er sitzt in seinem Brüsseler Büro, Wird gegen die Europolitik demonstriert,
Willy-Brandt-Gebäude, dritte Etage, und taucht garantiert ein Nazi-Symbol auf.
erzählt von seinem Kampf gegen die Nazis Von einem „Vierten Reich“ ist die Rede,
und seinem Kampf gegen die Deutschen in Anlehnung an das „Dritte Reich“ Adolf
von heute. Seine weißen Haare trägt Gle- Hitlers. Das klingt absurd, weil die Bun-
zos wild und verwegen wie ein alter Che desrepublik eine geglückte Demokratie ist,
Guevara, in seinem faltigen Gesicht zeich- ohne einen Hauch von Nationalsozialis-
nen sich die Spuren eines europäischen mus, und Merkel ist da ohnehin über jeden
Jahrhunderts ab. Zweifel erhaben. Über das Wort Reich
Zunächst kämpfte er gegen die italieni- könnte man jedoch nachdenken. Es meint
schen Faschisten, später gegen die deut- mehr als einen Nationalstaat, es meint ein
sche Wehrmacht, dann gegen die grie- Herrschaftsgebiet mit einer Zentrale, die
chische Militärdiktatur. Er saß häufig im über viele Völker gebietet. Wäre es nach
Gefängnis, fast zwölf Jahre lang insgesamt, dieser Definition falsch, von einem deut-
schrieb Gedichte, kam frei, kämpfte wei- schen Reich auf dem Gebiet der Ökonomie
ter. „Diese Ära ist noch sehr lebendig in zu sprechen?
mir“, sagt er. Der griechische Premier Alexis Tsipras
Glezos hat erlebt, was es bedeuten wird jedenfalls nicht den Eindruck haben,
kann, wenn Deutsche die Vorherrschaft in dass er frei über die Politik seines Landes
Europa anstreben. Er sagt, es sei wieder bestimmen könne. Am Montag spricht er
so weit. Diesmal hielten nicht Soldaten, bei der Bundeskanzlerin vor, ein Termin,
sondern Unternehmer und Politiker die bei dem die nationalsozialistische Geschich-
Griechen im Würgegriff. „Das deutsche te Deutschlands ein Thema sein wird. Die
Kapital dominiert Europa, es profitiert von Griechen verlangen Reparationen für das,
der Misere in Griechenland“, sagt Glezos. was Deutsche ihnen im Zweiten Weltkrieg
„Wir brauchen euer Geld aber nicht.“ angetan haben (siehe Seiten 28, 86).
In seinen Augen fügt sich die deutsche Dabei geht es natürlich auch stark um
Gegenwart nahtlos an die schreckliche die Verzweiflung einer Regierung, die bis-
Vergangenheit. Er betont, dass er damit lang dilettantisch gehandelt hat. Aber es
nicht das deutsche Volk meine, sondern wäre ein Fehler, die Geschichte für abge-
die herrschenden Schichten. Deutschland schlossen zu halten. Sie legt sich immer
ist für ihn auch heute wieder der Aggres- wieder über die Gegenwart.
FOTO: BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL

sor, „das Verhältnis zu Griechenland Es gibt einen großen Vorwurf an


gleicht dem Verhältnis zwischen dem Ty- Deutschland, er kommt aus Griechenland,
rannen und seinem Sklaven“. aus Spanien, aus Italien, aus Frankreich,
Er habe einen Text von Joseph Goebbels aber auch aus Großbritannien und den
im Kopf. Der Reichspropagandaminister
denkt darin über eine europäische Zukunft
unter deutscher Führung nach. „Das Jahr Merkel-Graffito in Athen
2000“ heißt der Text. „Goebbels hat sich Eine Flut von Karikaturen

20 DER SPIEGEL 13 / 2015


DER SPIEGEL 13 / 2015 21
Titel

USA: dass Deutschland durch den Euro Einheitswährung erinnere, „zu Recht oder naud Montebourg sagte 2011: „Bismarck
den Süden Europas wirtschaftlich beherr- zu Unrecht“, an die „Panzerdivisionen von vereinigte die deutschen Fürstentümer, um
sche, ihm in der Krise die Luft abdrehe, früher“. Das Geld solle den Deutschen Europa und insbesondere Frankreich zu
um seine Prinzipien durchzusetzen, dabei Herrschaftsgebiete sichern. Das Bundes- beherrschen. Angela Merkel will in frap-
aber mit seiner Exportpolitik am meisten verfassungsgericht? „Klingt wie eine Waf- pierend ähnlicher Weise ihre internen Pro-
vom Euro profitiere. Deutschland als ego- fengattung der Wehrmacht.“ „Merkiavel- bleme lösen, indem sie die Wirtschafts-
istische wirtschaftliche Besatzungsmacht, li“, die Kanzlerin, in ihrem protzigen, vom und Finanzordnung der deutschen Kon-
flankiert von kleineren nordeuropäischen Vorvorgänger geplanten Amtssitz, dem servativen dem Rest Europas aufzwingt.“
Ländern mit ähnlichem Profil. „Kohlosseum“? Vollendet gerade, woran Die alte Expansionspolitik kehre auf dem
Der Vorwurf kommt aus Ländern, in de- Hitler gescheitert ist. Das Ganze, sagt wirtschaftlichen Terrain wieder.
nen seit Jahren Massenarbeitslosigkeit Feltri, sei als Pamphlet zu verstehen, als Wahrscheinlich ist die Angst vor einer
herrscht, er wird voller Wut vorgebracht, „Hinweis auf die Unangemessenheit dieser deutschen Herrschaft in Europa nirgendwo
und deswegen kehren mit ihm auch die Einheitswährung, von der nur Deutschland größer als in Frankreich, das in 80 Jahren
Schreckgespenster der deutschen Geschich- profitiert“. dreimal in Teilen vom Nachbarland besetzt
te wieder. Es ist kein Wunder, dass derje- Weite Teile der politischen Klasse in Ita- wurde. In den vergangenen Jahren hat die
nige, der sich heute gedemütigt fühlt, Rech- lien sind ähnlicher Ansicht. Im vergange- „Germanophobie“ vom Front national bis
nungen aus der Vergangenheit präsentiert. nen Jahr hat der Sozialdemokrat Romano zu den Sozialisten massiv zugenommen,
Die historische deutsche Schuld wird von Prodi, immerhin ehemaliger Präsident der was zum Teil dazu dient, von eigenen Ver-
den Opfern der Eurokrise gegen Deutsch- EU-Kommission, mit einer Analyse in der säumnissen bei Reformen abzulenken.
land und Angela Merkel eingesetzt als Waf- Dennoch sind dies Stimmungen, die man
fe der Ohnmächtigen, sie wird benutzt, um ernst nehmen sollte.
Lärm zu schlagen und gehört zu werden. Der linke Intellektuelle Emmanuel Todd
Zwar gelten die Deutschen nach Umfra- warnt davor, dass Deutschland „mehr und
gen im Ausland als meistrespektiertes Volk mehr eine Politik der Stärke und der ver-
der Welt, doch wenn deutsche Politik unan- deckten Expansion“ betreibe. Europa wer-
genehm wird, ist man schnell bei den Nazis. de von Deutschland beherrscht, sagt er, das
Der Vorwurf gegen die Bundesregierung in seiner Geschichte stets zwischen Ver-
hat eine merkwürdige Dialektik: Deutsch- nunft und Megalomanie geschwankt habe.
land dominiere, aber Deutschland führe Seit der Wiedervereinigung, sagt Todd,
nicht. Es sei ein Hegemon, aber ein schwa- habe Deutschland fast den ganzen ehema-
cher. Auch das führt zurück in die Ge- ligen sowjetischen Herrschaftsbereich unter
schichte. In seinem Buch „Von Bismarck seine Kontrolle gebracht, um ihn für seine
zu Hitler“ hat der Publizist und Historiker wirtschaftlichen Zwecke zu nutzen.
Sebastian Haffner 1987 analysiert, dass In Athen, in einem Gebäude des Kul-
Deutschland in jener Zeit eine „unge- turministeriums, stimmt Nikos Xydakis,
schickte Größe“ gehabt habe. Es sei gleich- Vizekulturminister der Regierung Syriza,
zeitig zu klein und zu groß gewesen. Das in die Klage ein.
könnte nun wieder gelten. „Es ist, als ob mein Land die Folgen ei-
Wie also sieht die Rolle der Deutschen nes Krieges erlebt“, sagt er. Die europäi-
in Europa derzeit aus, von außen und von sche Sparpolitik habe Griechenland zu-
innen betrachtet? grunde gerichtet. „Wir haben ein Viertel
Neben der Mailänder Börse, wo eine unseres Bruttoinlandsprodukts eingebüßt,
Elf-Meter-Skulptur mit gerecktem Mittel- ein Viertel unserer Bevölkerung ist arbeits-
finger den Niedergang der Hochfinanz los.“ Dabei hätten die Griechen um Kre-
spöttisch bebildert, hat die Zeitung „Il dite nicht gebeten, sie seien ihnen zusam-
Giornale“ ihren Sitz. Dort, in exakt dem Früherer Widerstandskämpfer Glezos men mit dem Sparprogramm aufgedrückt
Büro, in dem einst der Reporter, Schrift- „Goebbels hat sich um zehn Jahre verrechnet“ worden. „Jetzt zahlen wir sie mit dem Blut
steller und Weltbürger Indro Montanelli unserer Leute zurück.“
arbeitete, sitzt nun Vittorio Feltri. Er ist Zeitschrift „L’Espresso“ Aufsehen erregt: Deutschland sei in Europa zu mächtig
seit mehr als einem halben Jahrhundert „In Deutschland wird das Spektrum von geworden, sagt er. Es sei zwar der Anfüh-
Journalist, 71 Jahre alt, hat beim „Corriere Populismus und Nationalismus durch Mer- rer, was Politik und Wirtschaft angehe.
della Sera“ sowie anderen Blättern Karrie- kel abgedeckt“, schrieb er: „In Brüssel wie- „Aber wer ein Anführer sein will, muss
re gemacht. Im vergangenen Jahr hat er derum hat in den letzten Jahren nur ein sich auch wie einer benehmen.“ Deutsch-
ein bemerkenswertes Buch veröffentlicht, Land die Richtung bestimmt; Deutschland land solle großzügiger sein und die schwä-
zusammen mit einem weiteren renom- hat sich sogar erlaubt, anderen unannehm- cheren Länder in Europa nicht als Unter-
mierten Journalisten, Gennaro Sangiulia- bare moralische Lektionen zu erteilen.“ gebene betrachten.
no, Vizechef der Nachrichtenredaktion bei Während Ministerpräsident Matteo Ren- Xydakis sagt, dass er Miete für sein Büro
Rai 1, der italienischen Version der „Ta- zi nach außen meist die Nähe zu Deutsch- zahlen müsse, weil das Gebäude an einen
gesschau“. Sein Titel: „Das Vierte Reich – land betont, sind am rechten Rand radikale Fonds verkauft worden sei, um Athens
Wie Deutschland Europa unterwarf“. Töne zu hören. Der Germanist Luigi Rei- Schulden begleichen zu können. „Ich fühle
FOTO: NATALIE HILL / DER SPIEGEL

Es sind nicht nur verzweifelte, radikali- tani sagte bei einer Konferenz Ende ver- mich, als wären wir in Leipzig oder Dres-
sierte Demonstranten, die Vergleiche zur gangenen Jahres, in Italien werde inzwi- den und es würde Bomben hageln.“ Der
Vergangenheit ziehen. Es sind oft aner- schen eine „Linie von den Invasionen der einzige Unterschied sei, dass die Bomben
kannte Intellektuelle, Bürger mit gesicher- Barbaren über Bismarck und Hitler bis zu heute im Gewand der Sparpolitik daher-
ter Existenz wie Feltri und Sangiuliano. Merkel“ gezogen. kämen.
Der Euro? Ein Mittel zum deutschen In Frankreich klingt es manchmal ähn- Für ihn – wie für fast alle Kritiker der
Zweck, schreiben die beiden Autoren; die lich. Der spätere Wirtschaftsminister Ar- deutschen Politik – steht im Zentrum der
22 DER SPIEGEL 13 / 2015
Drei deutsche Reiche

Anklage ein Wort, das in Deutschland bis


vor Kurzem kaum in Gebrauch war: Aus-
terität. Es meint die Politik des Sparens,
ein Wort, das im Land der schwäbischen
Hausfrau positiv konnotiert ist. Und das
in den europäischen Krisenländern für
eine freudlose Politik der fremdbestimm-
ten Entbehrungen steht. Deutschland ex-
portiert nicht mehr nur seine Waren, son-
dern auch seine Regeln.
Die Waren allerdings werden ohne
Zwang verkauft. Europa liebt Produkte
aus Deutschland. Der Exportüberschuss
lag 2014 bei mehr als sieben Prozent der
Wirtschaftsleistung. Ein Exportüberschuss
bedeutet: Deutschland nimmt im Geschäft
mit anderen Ländern mehr Geld ein, als
es für deren Waren ausgibt. Die Differenz
fließt zumeist ins Ausland zurück, etwa
als sogenannter Kapitalexport. Vereinfacht
Heiliges Römisches Reich Der Hof Kaiser Friedrichs II. zu Palermo 1230 ausgedrückt: Deutsche Banken leihen aus-
ländischen Firmen Geld, damit sie die
deutschen Produkte bezahlen können.
Seit der Jahrtausendwende hat sich der
deutsche Exportüberschuss nahezu ver-
vierfacht, auf rund 217 Milliarden Euro –
allein gegenüber Frankreich betrug er 2014
über 30 Milliarden Euro. Auch wenn die
Exporte gegenüber den anderen Ländern
der Eurozone als Folge der Krise zurück-
gegangen sind, ist der Überschuss in kei-
nem Land der Welt so groß wie in
Deutschland. Was ist der Grund? Eine ag-
gressive Handelspolitik?
FOTOS: HUGO JAEGER / TIME LIFE PICTURES / GETTY IMAGES (U.); BISMARCK-MUSEUM FRIEDRICHSRUH (M.); BPK / BAYERISCHE STAATSGEMÄLDESAMMLUMG (O.)

Der deutsche Volkswirt Henrik Ender-


lein ist kein Dogmatiker, er betrachtet die
Welt nicht durch eine nationale Brille. Der
Professor für Politische Ökonomie an der
Berliner Hertie School of Governance stu-
dierte in Frankreich und den USA, arbei-
tete bei der Europäischen Zentralbank
(EZB) und lehrte in Harvard, sein Vater
Deutsches Kaiserreich Proklamation von Wilhelm I. zum Kaiser in Versailles 1871 war FDP-Politiker, er selbst berät die
SPD-Spitze. Er sagt: „Dass Deutschland
heute den höchsten Exportüberschuss aller
Staaten aufweist, hat einen simplen
Grund: Nach der Eurogründung hatten wir
kaum eine andere Wahl, als wettbewerbs-
fähiger zu werden“, sagt er. „Es ist aber
absurd zu glauben, Deutschland habe dies
gezielt getan, um anderen Ländern zu
schaden.“
Deutschland hat seine Rolle nicht be-
wusst angestrebt, sie hat sich durch die
Konstruktion der Eurozone so ergeben.
Eine Mitschuld an der Lage trage die EZB,
so Enderlein. Denn in den Jahren nach
der Eurogründung 1999 schwankte deren
Leitzins zumeist zwischen drei und vier
Prozent. Für die Südländer war dieser
Satz zu niedrig, er befeuerte den Boom,
Löhne und Preise stiegen stark. Für
Deutschland war der Leitzins dagegen zu
hoch, den Arbeitnehmern blieb nur der
Lohnverzicht, um den Preis der eigenen
Produkte niedrig zu halten. Aggressiv
„Drittes Reich“ Festbeleuchtung am Brandenburger Tor zu Hitlers 50. Geburtstag 1939 scheint das auf den ersten Blick nicht, aber
DER SPIEGEL 13 / 2015 23
einmal wird in Europa Deutsch gespro-
chen.“ Der Saal tobte. Der Satz habe zu
viele Missverständnisse ausgelöst, sagt
Kauder heute, er würde ihn nicht wieder-
holen.
Merkel würde so nicht reden, nicht öf-
fentlich jedenfalls. Ihre Sprache ist vor-
sichtiger, manchmal auch so verdreht, dass
nicht auf Anhieb zu erkennen ist, was sie
meint. Am Dienstag sagte sie vor der Uni-
onsfraktion: „Deutschland muss ein Land
sein, das nichts unversucht lässt, um Fort-
schritte zu erzielen.“ Fortschritte anderswo
meinte sie, in Griechenland.
Die Bundeskanzlerin hat ein expansives
Projekt, das gleichsam in einem Merkel-
Reich münden soll. Sie denkt nicht so eu-
ropäisch wie ihr Vorvorgänger Helmut
Kohl, der Deutschland in der EU aufgehen
lassen wollte. Merkel denkt nationaler. Sie
weiß, dass Deutschland allein keinen Ein-
fluss in der Welt haben wird. Wer mitreden
will, braucht viele Einwohner und eine
starke Wirtschaft. Deutschland hat eine
starke Wirtschaft, ist aber gegenüber Chi-
na oder den USA ein kleines Land. Des-
halb braucht Deutschland Europa für die
große Kopfzahl. Aber es muss ein wirt-
schaftlich starkes, ein wettbewerbsfähiges
Europa sein. Daran arbeitet Merkel.
Sie entwickelte früh in der Finanzkrise
Ideen für sogenanntes Benchmarking. Die
europäischen Länder sollten sich in allen
Bereichen nach dem Besten richten. Meist
ist das Deutschland. Auf diesem Wege
würde ein deutsches Europa entstehen.
Im Kampf gegen die Schuldenkrise in
Irland, Spanien, Portugal, Zypern und
Regierungsmitglieder Varoufakis, Tsipras: Deutschland exportiert seine Regeln Griechenland diskutierte Europa zwei
Konzepte. Die südlichen Länder wollten
die Südländer klagten: Deutschland be- tät annähern. Und wenn die Verantwort- Wachstum durch mehr Ausgaben finan-
treibe Lohn-Dumping. lichen in diesem Land das Volk belügen, zieren, in der Hoffnung, dass mittelfristig
Der Verzicht bescherte den Deutschen dann ist es nicht verwunderlich, dass das die Staatseinnahmen steigen. Deutschland
Wachstum und Selbstbewusstsein und da- Volk so reagiert.“ Gesagt hat er das am und die nördlichen Staaten setzen auf
mit Macht. Wenn Angela Merkel in Brüssel Montag bei einer Veranstaltung der Kon- Sparsamkeit und Strukturreformen, die
auftritt, dann tut sie das als Chefin der mit rad-Adenauer-Stiftung. den Bürgern einiges abverlangen.
Abstand stärksten Volkswirtschaft der Eu- Am Tag zuvor klang Markus Söder, Fi- Die große Wirtschaftsmacht Deutsch-
rozone. Die anderen fällen keine Entschei- nanzminister in Bayern, ganz ähnlich, im land setzte sich durch. Um die Krisenlän-
dungen gegen sie. Macht ist nicht schlimm, Beisein seines griechischen Kollegen Gia- der auf Kurs, auf deutschen Kurs, zu brin-
wenn die Mächtigen gut damit umgehen. nis Varoufakis in der Talkshow von Gün- gen, holte Merkel den Internationalen
Tun sie das? ther Jauch: polternd und rechthaberisch. Währungsfonds (IWF) dazu, als strenge
Es gibt einen neuen Sound in Deutsch- Er ließ keine Gelegenheit aus, Bayerns Aufsicht – frei von allem Beigeschmack,
land. Er schert sich nicht mehr um die no- Wirtschafts- und Finanzkraft mit der Grie- den alleinige deutsche Aufsicht in Europa
blen Gepflogenheiten der Diplomatie. Es chenlands zu vergleichen, um Varoufakis hätte. Die anderen haben es trotzdem ge-
ist nicht Flüstern und Säuseln, nicht An- die Überlegenheit eines deutschen Bun- merkt. Sie wissen, dass sie in einem Ma-
deuten und Nahelegen. Es ist Zetern und deslandes unter die Nase zu reiben. Auch triarchat leben.
Schimpfen. Über die Grenzen hinweg. der fränkische Tonfall machte die Worte Am Anfang der Eurokrise wagten an-
Hier ist dieser Sound, gesprochen von nicht weicher. Söder ist Innenpolitiker, und dere Staats- und Regierungschefs noch, of-
Wolfgang Schäuble, Bundesfinanzminister, so klingt es dann auch. Wie eine Keilerei fen zu protestieren. Er habe „grundlegen-
das Thema ist Griechenland: „Ein Land, zwischen Regierung und Opposition in de Zweifel an der Methode“, schimpfte der
das seit Jahrzehnten durch das Versagen einem Land. damalige polnische Regierungschef Do-
FOTO: IMAGO / ZUMA PRESS

seiner Eliten und nicht wegen Europa und Einen besonders triumphalen Satz im nald Tusk und fragte Merkel bei einem
nicht wegen Brüssel und nicht wegen Ber- neuen Sound sagte Volker Kauder, der Gipfeltreffen: „Warum müssen Sie eine
lin, sondern wegen des ausschließlichen Vorsitzende der Unionsfraktion im Bun- Spaltung demonstrieren?“ Ein drei viertel
Versagens seiner Eliten leidet und weit destag, schon 2011. CDU-Parteitag in Leip- Jahr später hatte sich die Kanzlerin durch-
über seine Verhältnisse (…) gelebt hat, zig, Kauder hielt seine Rede wie immer gesetzt: Alle Euroländer stimmten für die
muss sich allmählich langsam an die Reali- frei, dann fielen ihm diese Worte ein: „Auf ziemlich deutsche Idee eines „Fiskalpak-
24 DER SPIEGEL 13 / 2015
Titel

35

tes“, für Schuldenbremsen in den natio- Deutsche Dominanz Infolge der Eurokrise
nalen Verfassungen, für schärfere Strafen ist der deutsche Anteil
für Defizitsünder, für mehr Reformen, na- wieder gestiegen. 30
türlich nach dem Muster der deutschen
„Agenda 2010“. Der verstorbene Soziolo-
ge Ulrich Beck taufte ihre Art, die anderen 30,1 %
den deutschen Druck spüren zu lassen, auf 2000
25
den bösen Namen „Merkiavellismus“. 29,0 %
Es war einiges passiert mit der deut- Deutscher
2015
schen Europapolitik. Helmut Kohl hätte Anteil an der
es unter allen Umständen zu vermeiden Wirtschaftsleistung
(BIP) der Eurozone 20
versucht, bei wichtigen Verhandlungen
isoliert zu sein. Angela Merkel löste sich
aus diesem Schatten. „Ich stehe ziemlich 26,5 %
allein in der EU. Aber das ist mir egal, ich 2009 15
habe recht“, sagte sie im kleinen Kreis, als
es um die Rolle des IWF ging. Und später:
„Wir sind in Europa, was die Amerikaner
in der Welt sind, die ungeliebte Führungs- 10
macht.“ Außenhandelssaldo* Deutschland hat gegenüber
Deutschlands 2014, in Mrd. € 14 von 18 Euro-Partnerländern
Martin Schulz, im Jahr 2014 Spitzenkan- einen Exportüberschuss.
* Güterhandel; Quellen: EU-Kommission,
didat der Sozialisten, erzählt aus seinem Statistisches Bundesamt
Europawahlkampf diese Geschichte. „Wie 5
können Sie für das Amt des EU-Kommis- DEFIZIT ÜBERSCHUSS
sionschefs kandidieren?“, sei er selbst von
jungen Leuten gefragt worden. „Sie sind
doch Deutscher.“ Und das geschah einem
Martin Schulz, der vier Sprachen fließend
Malta

Zypern

Finnland

Portugal

Griechenland

Italien

Spanien

Österreich

Frankreich
Lettland

Litauen

Estland

Luxemburg

Belgien
Slowenien

spricht, der fast sein ganzes politisches Le-


Slowakei

ben in Europa, in Brüssel zugebracht hat,


Irland

der sich für die deutsch-französische


Freundschaft verkämpft wie kaum ein an-
derer. „Ich wurde wahrgenommen als Teil
der deutschen Dominanz“, sagt er. „Es Das zweite Reich war nach Hitler glaubte, sein „Großdeutschland“
gibt ein Gefühl von deutscher Übermacht, dieser Zählung das deutsche Kai- sei groß genug, um Europa zu beherr-
Niederlande

aber wenn Sie nachfragen, kommt nie serreich, das Bismarck 1871 nach schen, irrte sich aber gewaltig. Auch mit
etwas Konkretes.“ Siegen über Dänemark, Öster- brutalster Kriegsführung und Unterdrü-
Wird im Kanzleramt über die neue Rolle reich und Frankreich gegründet ckung war er dem Bündnis der Demokra-
nachgedacht? Ja, zum Beispiel darüber, hatte. Die deutschen Kleinstaa- tien mit der Sowjetunion nicht gewachsen.
wie es so weit kommen konnte. Erstens, ten schlossen sich unter der Füh- Nach dem Ende des „Dritten Reichs“
heißt es dort, habe die Eurokrise das Ge- rung Preußens zusammen, weshalb Bis- schien eine deutsche Dominanz auf dem
wicht der Nationalstaaten gestärkt, weil marck als Wegbereiter des heutigen Kontinent für alle Zeit ausgeschlossen zu
nur nationale Regierungen schnell genug Deutschlands gilt. Am 1. April wird sein sein. Die Bundesrepublik und die DDR
Rettungsgelder mobilisieren konnten. Und 200. Geburtstag gefeiert. waren zunächst schüchterne Staaten, die
zweitens sei Deutschland je mächtiger er- Im Kaiserreich bildete sich bald eine ge- sich mehr oder weniger freiwillig an ihre
schienen, desto weiter Frankreich, das tra- fährliche Stimmung heraus. Eine deutsche großen Brüder USA und Sowjetunion
ditionelle Partnerland, wirtschaftlich zu- Hybris, das Gefühl, allen überlegen zu schmiegten. Sie dominierten nicht, son-
rückgefallen sei. sein, alles besser zu wissen, besser zu kön- dern wurden dominiert.
„Madame Non“ wird die Bundeskanz- nen. Das mischte sich mit einer Verzagt- Die Bundesrepublik entwickelte aller-
lerin manchmal genannt. Wenn bei den heit, einer anhaltenden Überforderung. dings bald ein neues Herrschaftsinstru-
Brüsseler Gipfeltreffen einer der anderen Bismarcks Reich, das von 1888 an auch ment, kein politisches, sondern ein öko-
Staats- und Regierungschefs zu Ende ge- von Wilhelm II. angeführt wurde, hatte nomisches: die D-Mark. Da die westdeut-
redet hat, so wird erzählt, dann wandern zudem eine unglückliche Größe. Es war sche Wirtschaft kräftig wuchs und die
die Blicke der anderen oft als Erstes zu zu groß und zu klein. Zu groß: Es war der Staatsverschuldung vergleichsweise maß-
ihr, der Deutschen. mächtigste Staat in Europa, weshalb sich voll blieb, dominierte die Bundesbank in
Aber Hitler-Bärtchen? „Viertes Reich“? Frankreich, Großbritannien und Russland den Siebziger- und Achtzigerjahren die
Die Nazis nannten ihr Deutschland bedroht und herausgefordert fühlten. Sie Wirtschafts- und Finanzpolitik in Europa.
„Drittes Reich“, um sich mit der Tradition gingen zeitweilig Bündnisse miteinander Vor den Frankfurter Entscheidungen zit-
von zwei anderen deutschen Reichen zu ein. Zu klein: Das Kaiserreich konnte terten die Regierungen in Frankreich, Ita-
adeln. Im Mittelalter entstand das Heilige Europa nicht alleine beherrschen oder lien oder Großbritannien. Kurz vor der
Römische Reich, das kein Nationalstaat führen. Auch die Deutschen suchten sich deutschen Wiedervereinigung hieß es aus
war, sondern ein Herrschaftsgebiet zu- daher Partner. Die innere und äußere dem Pariser Élysée-Palast: „Was für uns
meist deutschstämmiger Kaiser, die über Logik dieser Bündnisse war einer der die Atombombe ist, ist für die Deutschen
große Teile Europas regierten, bis nach wichtigsten Gründe für den Ausbruch des die D-Mark.“
Sizilien. Es ging 1806 unter, nachdem Na- Ersten Weltkriegs. Nach der Niederlage François Mitterrand war kein Freund ei-
poleon viele Gebiete davon unterworfen brach das Kaiserreich Ende 1918 zu- ner Wiedervereinigung. Er fürchtete, dass
hatte. sammen. ein deutscher Koloss in Europas Mitte bald
DER SPIEGEL 13 / 2015 25
Titel

roufakis, der sich von Merkel wünscht,


dass sie eine Art Marshallplan aufsetzt,
wie einst die Vereinigten Staaten, die da-
mit das kriegszerstörte Europa aufpäp-
pelten.
Ein echter Hegemon wie die USA,
schreibt Kundnani, zeichne sich dadurch
aus, dass er einerseits Normen setzt, an-
dererseits aber Anreize für jene schafft,
die er beherrscht, damit sie Teil des Sys-
tems bleiben. Dazu muss er kurzfristige
Kompromisse eingehen, um seine langfris-
tigen Interessen zu sichern.
Zwar hat Deutschland bereits zwei
Hilfspakete für Griechenland geschnürt,
doch denen reicht das nicht. Sie wollen
die Eurozone grundlegend verändern,
mehr gemeinsame Schulden und weniger
deutsche Vorschriften. Andere sehen das
Austeritätsgegner in Madrid*: Freudlose Politik der Entbehrungen auch so. „Das ist keine Währungsunion“,
schrieb die „Financial Times“ im Mai 2012.
wieder nach politischer Herrschaft streben „Atombombe“ wegnehmen sollte. Der „Das ist eher ein Imperium.“
könne. So dachte auch die britische Pre- Euro war dazu gedacht, die ökonomische Der Großanleger George Soros warnte,
mierministerin Margaret Thatcher, so Dominanz der Deutschen zu brechen, hat dass Europa dauerhaft geteilt werden
dachten viele Deutsche, besonders aus aber das Gegenteil bewirkt. Über die ge- könnte in Länder mit Überschüssen und
dem linken Spektrum, allen voran der meinsame Währung ist das Schicksal der Länder mit Defiziten – „ein deutsches
Schriftsteller Günter Grass. Dem schwante Teilnehmerländer eng verknüpft, und Imperium in der Mitte Europas mit der
ein Rückfall in die alte Hybris, in den deut- Deutschland hat nun Macht über andere. Peripherie als Hinterland“. Imperium ist
schen Überlegenheitswahn. Deshalb steht „die deutsche Frage“ wie- ein anderes Wort für Reich.
Teamchef Franz Beckenbauer schien das der im Raum: Ist das neue Deutschland zu In dieser ökonomisch dominierten Welt
1990 zu bestätigen, als er nach dem Sieg groß und zu mächtig für die übrigen euro- geht es weniger um Herrscher und Be-
der Weltmeisterschaft in Italien sagte: „Wir päischen Staaten, oder ist es zu klein und herrschte, es geht um Gläubiger und
sind jetzt die Nummer eins der Welt, wir zu zögerlich? Schuldner. Deutschland ist der größte
sind schon lange die Nummer eins in Hans Kundnani ist Forschungsdirektor Gläubiger in Europa.
Europa. Jetzt kommen die Spieler aus Ost- am European Council on Foreign Rela- Gläubiger haben Macht über die Schuld-
deutschland noch dazu. Es tut mir leid für tions, einem paneuropäischen Thinktank ner. Sie erwarten Dankbarkeit, und sie ha-
den Rest der Welt, aber die deutsche mit Hauptsitz in London, sein Spezialge- ben oft genug klare Vorstellungen davon,
Mannschaft wird über Jahre hinaus nicht biet ist die deutsche Außenpolitik, und er was der Schuldner tun muss, damit das
zu besiegen sein.“ hat ein viel beachtetes Buch über die deut- Geld eines Tages wieder zurückkommt.
Ähnlichen Größenwahn haben nur zwei sche Macht geschrieben: „The Paradox of Gläubiger sind nicht beliebt.
Regierungspolitiker der Bundesrepublik an German Power“ (Das Paradox deutscher Ein Gläubiger will die Kontrolle haben
den Tag gelegt. Kanzler Helmut Schmidt Macht). Kundnani verknüpft die alte deut- über seine Schuldner, denn er hat auch
glaubte Ende der Siebziger- und Anfang sche Frage mit der neuen Debatte um Angst, Angst um sein Geld. Die Deutschen
der Achtzigerjahre, er sei der beste Öko- Deutschlands Rolle in der Eurozone. Die könnten für die griechischen Schulden ein-
nom der Welt. Traf er auf den amerikani- Stärke der deutschen Wirtschaft und die stehen, nicht aber auch für die von Italien
schen Präsidenten Jimmy Carter, begegnete gegenseitige Abhängigkeit der Staaten und Spanien.
nicht die kleine Bundesrepublik den großen schaffe in Europa eine wirtschaftliche In- Deutschland sei zwar groß genug,
USA, sondern der große Schmidt dem klei- stabilität, die vergleichbar sei mit der po- schreibt Kundnani, um Europa seine Re-
nen Carter; es ging nicht um Körpergröße. litischen Instabilität zu Bismarcks Zeiten. geln aufzuerlegen, aber zu klein, um ein
Den ersten Versuch, Europa nach deutschen Das Problem, so Kundnani, sei weniger, echter Hegemon zu sein. Wie vor dem Ers-
Vorstellungen umzubauen, machte 1998 Fi- dass Deutschland in Europa hegemoniale ten Weltkrieg fürchte sich Deutschland
nanzminister Oskar Lafontaine, damals Macht ausübe, sondern dass es sie nur zur wieder davor, von kleineren Ländern ein-
SPD, heute Linke. Weil er die europäischen Hälfte ausübe – es sei auf sich selbst kon- gekreist zu werden – dazu gehöre insbe-
Finanzmärkte harmonisieren und eine Ein- zentriert, und womöglich sei es für die Rol- sondere die Angst, dass die EZB von den
heitswährung schaffen wollte, fragte die bri- le, die es spielen müsste, zu klein. lateinischen Ländern übernommen wer-
tische „Sun“, ob er der „gefährlichste Mann „Deutschland ist erneut ein Paradox. Es den könnte und die Macht auf die Schuld-
Europas“ sei. ist mächtig und schwach zugleich – wie im nernationen übergehen könnte.
FOTO: DENIS DOYLE / BLOOMBERG / GETTY IMAGES

Er scheiterte, und die Nationalmannschaft 19. Jahrhundert nach der Reichsgründung Deutschland handele nicht wie ein He-
hat ziemlich oft verloren, bis sie 2014 tat- scheint es mächtig von außen, fühlt sich gemon, sondern nur wie ein „Semi-Hege-
sächlich die Nummer eins der Welt wurde. aber für viele Deutsche verletzlich an“, mon“. So hat schon der deutsche Histori-
Und das vereinte Deutschland trumpfte schreibt Kundnani. „Es will nicht führen ker Ludwig Dehio die Stellung Deutsch-
politisch zunächst nicht auf, blieb beschei- und widersetzt sich etwa einer Schulden- lands in Europa nach 1871 bezeichnet.
den. Doch dann kam der Euro, der nach vergemeinschaftung, doch zugleich will es Auch der ehemalige polnische Außen-
Mitterrands Vorstellungen Deutschland die Europa nach seinem Vorbild formen, um minister Radoslaw Sikorski sagte – wenn
es ,wettbewerbsfähiger‘ zu machen.“ auch in ganz anderem Zusammenhang –
* Am 28. Dezember 2011 mit Karikaturen Merkels und „Führen“ heißt in diesem Zusammen- in einer Rede in Berlin im November 2011,
des spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy. hang häufig zahlen. So sieht das auch Va- er fürchte sich weniger vor deutscher
26 DER SPIEGEL 13 / 2015
Macht als vor deutscher Untätigkeit und
drängte Deutschland, Europa zu führen.
Er beobachte, sagt Kundnani, eine deut-
sche Selbstwahrnehmung, das eigentliche
Opfer der Eurokrise zu sein, die in seltsa-
mem Kontrast zu der Wahrnehmung in
den Schuldnerländern stehe. Daraus ent-
stehe Aggressivität, die sich im neuen
Sound der Politik zeigt oder in der „Bild“-
Zeitung entlädt, wenn sie alle Griechen
als „gierig“ beschimpft.
Während Deutschland im Lauf der Eu-
rokrise wirtschaftlich dominierte, blieb es
außenpolitisch ein Zwerg. Der Höhepunkt
dieser Weigerung, eine politische Macht
zu sein, war die Enthaltung im Uno-Si-
cherheitsrat, als es im März 2011 um den
Nato-Einsatz in Libyen ging. Das wurde
auch von europäischen Partnern wie
Frankreich als Rückschritt gesehen – bei
den Luftschlägen im Kosovo 1999 und spä-
ter beim Einsatz in Afghanistan hatten sich
die Deutschen noch beteiligt.
Der Ruf nach mehr deutscher Führung,
der in den vergangenen Jahren aus Osteuro-
pa kam, steht oberflächlich gesehen im Ge-
gensatz zu den Klagen über eine zu große
deutsche Dominanz in Wirtschaftsfragen.
Aber beides steht miteinander im Zusam-
menhang: Deutschland will eine wirtschaft-
liche Macht sein, keine militärische. Sein Na-
tionalismus gründet sich auf Wirtschaftskraft
und Exporte, nicht auf den Willen, eine geo-
politische Kraft zu werden. Das gleiche Di-
lemma zeigt sich in der deutschen Rolle im
Umgang mit Russland in der Ukrainekrise.
Deutschland, so Kundnani, „ist einzig-
artig in seiner Kombination aus wirtschaft-
licher Durchsetzungskraft und militäri-
Eine Frage des Friedens
scher Abstinenz“. Schon deshalb sind die Reparationen Schulden die Deutschen den Griechen
Bezüge zur Nazi-Zeit so daneben. Es geht
nicht um Gewalt, um Rassismus. Es geht noch Geld wegen der Besatzung durch die Nazis? Eine neue
um Geld. Und das ist ein himmelweiter Untersuchung aus Athen bringt Berlin in
Unterschied, auch wenn Geldfragen un-
angenehm sein können.
der Frage des Zwangskredits von 1942 in Bedrängnis.
Um ein Reich geht es allerdings schon,

A
auf dem ökonomischem Feld. Die Euro- n die Deutschen, sagt Loukas Zisis, ges Gemetzel. Seit Jahrzehnten führen die
zone ist deutsches Herrschaftsgebiet. Ber- denke er jeden Tag. Er ist der stell- Kläger einen Prozess, der sich durch alle
lin regiert hier nicht unangefochten, be- vertretende Bürgermeister der Ge- Instanzen in Griechenland und Deutschland
stimmt aber über das Schicksal von Mil- meinde Distomo, eines Nests in den Ber- zog. Der Oberste Gerichtshof Griechen-
lionen Menschen anderer Nationalitäten gen, zwei Autostunden von Athen entfernt. lands, der Areopag, entschied im Jahr 2000,
mit. Eine solche Macht schafft eine Menge Am 10. Juni 1944 begingen die Deutschen Deutschland müsse die Hinterbliebenen in
Verantwortung, trotzdem verhalten sich an der Dorfbevölkerung ein Massaker, 218 Distomo entschädigen.
Regierung und Politik manchmal noch wie Menschen starben, unter ihnen Dutzende „Doch wir warten immer noch“, sagt
in einem Kleinstaat. Kinder. Zisis hat den Überfall nicht erlebt, Zisis. „Es gab keine Entschuldigung.“
Deutschland ist tatsächlich nicht groß er ist erst 48 Jahre alt. Vergangene Woche forderte der grie-
genug, die Probleme aller anderen mit „Wir können die Deutschen nicht ver- chische Premier Alexis Tsipras im grie-
Geld zu lösen, aber dennoch ist es manch- gessen“, sagt Zisis. Vor 71 Jahren kamen chischen Parlament deutsche Reparations-
mal wichtig, Größe zu zeigen, auch durch sie mit Gewehren nach Distomo. „Heute zahlungen, und er verknüpfte die For-
Großzügigkeit. Und ohne die Bellerei aus üben sie Macht mit ihren Banken und ihrer derung indirekt mit der heutigen Lage
Berlin oder München wäre es sicherlich Politik über unser Dorf aus.“ Er steht im Griechenlands. „Bis heute haben deut-
einfacher, etwas zu erreichen. Auch das Wind an einer Felskante, ein kleiner Mann sche Regierungen dazu geschwiegen“, rief
ist Größe, die maßlosen Vergleiche elegant in Lederjacke, und blickt auf den Ort hinab. er, „haben rechtliche Tricks angewandt,
zu kontern oder zu ertragen. Zweitausend Menschen leben hier. die Frage aufgeschoben und vertagt. Und
Nikolaus Blome, Sven Böll, Katrin Kuntz, Das Massaker, das den Ort bis heute so frage ich mich, meine Damen und
FOTO: BPK

Dirk Kurbjuweit, Walter Mayr, Mathieu von Rohr, prägt, war eines der brutalsten Verbrechen Herren: Ist diese Haltung wirklich mora-
Christoph Scheuermann, Christoph Schult der Nazis in Griechenland, ein mehrstündi- lisch?“
28 DER SPIEGEL 13 / 2015
Titel
Deutsche Panzer in Athen 1941
„Es gab keine Entschuldigung“

forderungen“ der griechischen Zentralbank Unterstützung aus Athen – zumal die vor-
an Deutschland in Höhe von 12,8 Milliarden liegende Studie nichts mit der Syriza-Re-
Dollar, Stand Dezember 2014. Das ent- gierung zu tun hat.
spricht rund 11 Milliarden Euro. Denn im Frühjahr 2012, dem Beginn der
Damit geht es zwischen Deutschland Untersuchungen, regierte noch das Kabi-
und Griechenland nicht nur um die Frage, nett des parteilosen Premiers Loukas Pa-
ob die Massaker wie jene in den Dörfern pademos in Athen. Der ehemalige Vize-
Distomo oder Kalavrita mit der ab 1961 präsident der Europäischen Zentralbank
getätigten Zahlung von 115 Millionen Mark hatte die Amtsgeschäfte nach dem Rück-
rechtlich abgegolten sind oder nicht. Es tritt von Georgios Papandreou übernom-
geht nun vor allem darum, ob das von den men und bildete sechs Monate lang eine
NS-Besatzern erpresste Darlehen vom Übergangsregierung. Im April 2014 be-
Nachfolger des Deutschen Reichs, der Bun- schloss dann die Regierung des konser-
desrepublik, zurückzuzahlen ist. Dafür vativen Premiers Antonis Samaras, die
scheint einiges zu sprechen. Studie weiterzuführen – und berief Pana-
Was die Höhe der Kreditschuld angeht, giotis Karakousis an die Spitze des Ex-
kommen die griechischen Prüfer interes- pertenteams. Der langjährige Generaldi-
santerweise zu nahezu demselben Ergeb- rektor im Finanzministerium gilt als poli-
nis wie die Buchhalter der Nazis kurz vor tisch unbelastet.
Ende des Kriegs. Die Kassenprüfer von Karakousis las 50 000 Seiten Originaldo-
Hitlers Sonderbevollmächtigtem Südost kumente aus den Archiven der Zentral-
hatten schon 26 Tage vor Kriegsende „die bank, fünf Monate lang. Keine schöne
Restschuld, die das Reich gegenüber Grie- Lektüre. In der Studie wird aufs Gramm
chenland hat“, auf 476 Millionen Reichs- genau ausgerechnet, wie viel Gold aus Pri-
mark beziffert. vathaushalten vor allem griechischer Ju-
Die Athener Prüfer errechneten für den- den geplündert wurde: 7358,0014 Kilo-
selben Zeitpunkt eine „offene Kreditlinie“ gramm Feingold im Gegenwert von heute
von rund 213 Millionen US-Dollar. Sie gin- gut 235 Millionen Euro. Oder auch, wie
gen vom Dollarkurs zur Reichsmark von deutsche Truppen bei ihrem Abzug noch
2:1 aus und legten eine von den deutschen schnell „die gesamten Geldreserven aus
Besatzern akzeptierte Zinsgleitklausel zu- den Filialen und regionalen Zweigstellen“
grunde, das ergibt heute einen Wert von der Zentralbank mitgehen ließen: genau
mehr als elf Milliarden Euro. 634 962 691 995 162 Drachmen in Scheinen
Diese Restschuld müsse zurückgezahlt und Münzen, umgerechnet gut 40 Millio-
werden, „ohne Wenn und Aber“, sagt der nen Euro.
Die deutschen Vorwürfe an Griechen- deutsche Historiker Hagen Fleischer in Vor allem aber räumt das Untersu-
land, das über seine Verhältnisse gelebt Athen, der die einschlägigen Akten wie chungsergebnis mit Vorbehalten über den
hat, konterte Tsipras mit dem größtmög- kein anderer kennt. Er hat schon vor dem Zwangskredit auf. „Kein vernünftiger
lichen Gegenargument: der deutschen neuen Bericht zahllose Dokumente aus- Mensch kann jetzt noch bezweifeln, dass
Schuld. Abgesehen von dieser Verknüp- findig gemacht, die den Charakter des es diesen Kredit gibt und die Rückzahlung
fung, die von vielen als unanständig be- Zwangskredits seiner Meinung nach zwei- offen ist“, sagt Karakousis.
trachtet wird, gibt es aber viele Argumente felsfrei belegen. So notierten NS-Beamte Die Geschichte des Darlehens begann
für die Sicht der Griechen. Dass Kanzler am 20. März 1944, „die Verschuldung des im April 1941, nachdem deutsche Truppen
Helmut Kohl 1990 getrickst habe, um den Reiches“ gegenüber Athen habe sich zum ihren italienischen Verbündeten zu Hilfe
Griechen keine Reparationen zahlen zu 31. Dezember des Vorjahres auf 1068 Mil- geeilt waren und Griechenland besetzten.
müssen, war auch die Schlussfolgerung ei- liarden Drachmen belaufen. Zur Versorgung ihrer Truppen verlangten
ner Geschichte im SPIEGEL (9/2015). „Der Zwangskredit als Kriegsschuld die deutschen Besatzer von den Griechen
Eine Untersuchung des Athener Finanz- zieht sich durch alle deutschen Akten“, eine Erstattung ihrer Aufwendungen, so-
ministeriums, die schon im Jahr 2012 von sagt Fleischer. Er ist Professor für Neue genannte Besatzungskosten. Eine zynische
einer Vorgängerregierung beauftragt wor- Geschichte, seit 1977 lebt er in Athen; er Berechnung, die aber nach der Haager
den war, enthält nun auf 194 Seiten neue besitzt inzwischen beide Staatsbürgerschaf- Landkriegsordnung durchaus üblich war.
Fakten. Sie liegt dem SPIEGEL vor. ten, die deutsche und die griechische. Viel Ungewöhnlich war eher, dass sich die
Die zentrale Frage des Berichts betrifft mehr als die Kriegsdokumente über Gräu- Wehrmacht von den Griechen auch die Ver-
den Zwangskredit, den die NS-Besatzer el und Leid hätten ihn die Akten bundes- sorgung ihrer Truppen an anderen Fronten,
der griechischen Zentralbank von 1941 an deutscher Behörden zu Fragen der Kriegs- auf dem Balkan, in Russland oder in Nord-
abpressten. Muss er als Reparationsforde- schuld „schockiert“, sagt er. afrika, finanzieren ließ. Die deutschen Be-
rung eingestuft werden, die mit dem Zwei- Deutsche Diplomaten würden da in na- satzer verlangten von der Athener Regie-
plus-vier-Vertrag von 1990 verfallen sein tionalsozialistischem Vokabular Reparati- rung zunächst 25 Millionen Reichsmark pro
könnte? Oder handelt es sich um ein echtes onsfragen erörtern, von einer „Endlösung Monat, umgerechnet 1,5 Milliarden Drach-
Darlehen, das zurückgezahlt werden des sogenannten Kriegsverbrecherpro- men. Die Summe, die sie tatsächlich ein-
muss? Die Expertenkommission wertete blems“ sprechen oder auch davon, dass forderten, lag deutlich darüber. So ermit-
Verträge und Vereinbarungen aus der Be- nun Zeit für eine „Liquidierung der Erin- telte die Expertenkommission von August
satzungszeit aus, Rechnungen, Überwei- nerung“ sei. In diesem Geist seien auch bis Dezember 1941 Zahlungen der grie-
sungsbelege und Kontoauszüge. Wiedergutmachungszahlungen stets abge- chischen Zentralbank von über zwölf statt
Resultat: Die Zwangsanleihe fällt nicht lehnt worden. Lange musste sich Fleischer siebeneinhalb Milliarden Drachmen.
unter klassische Kriegsentschädigungen. den Vorwurf der Voreingenommenheit ge- Schon bald drängten die Griechen auf
Die Kommission errechnete offene „Schuld- fallen lassen. Nun freut er sich über die Abschläge, ihre Wirtschaft lag danieder. Auf
DER SPIEGEL 13 / 2015 29
einer Konferenz in Rom beschlos- unternehmen Trenitalia in Höhe
sen Deutsche und Italiener am 14. von 51 Millionen Euro pfänden.
März 1942, die Besatzungskosten An diesem Dienstag soll vor dem
auf jeweils 750 Millionen Drachmen Obersten Gerichtshof in Rom über
zu halbieren. Hitlers Statthalter ver- die Aufhebung des Vollstreckungs-
langten allerdings laut Studie „un- titels entschieden werden.
eingeschränkte Beträge in Form Seit Oktober 2014 sind in Italien
von Kredit“. Was die Deutschen Privatklagen gegen Deutschland
über die 750 Millionen hinaus kas- wieder möglich. So entschied da-
sierten, „wird der griechischen Re- mals das Verfassungsgericht in
gierung gutgeschrieben“, notierte Rom – unter den Richtern, die die-
ein deutscher Beamter 1942. ses Urteil fällten, war auch Italiens
Die Summen der Zwangskredi- heutiger Staatspräsident Sergio
te waren bis zu zehnmal so hoch Mattarella.
wie die der Besatzungskosten. Im Ob dieses Urteil in Italien „eine
ersten Halbjahr 1942 lagen sie bei Welle neuer Verfahren“ auslösen
43,4 Milliarden Drachmen, wäh- werde, sei unklar, sagt Joachim
rend für die Truppenversorgung Lau, der derzeit an die 150 Fälle
4,5 Milliarden fällig waren. betreut, darunter diverse Sammel-
Etliche Rückzahlungsraten in klagen.
den Unterlagen, auf die Athen ab In Distomo, dem Bergdorf, ver-
März 1943 gedrängt hatte, belegen bindet sich alles, Gegenwart und
den Charakter des Darlehens. His- Vergangenheit, Schuld und Wut,
toriker Fleischer fand ebenfalls die griechischen Forderungen an
Schriftstücke für rund zwei Dut- Deutschland heute und die Repa-
zend Tilgungszahlungen. So wur- rationsforderungen von gestern.
de die Zahlstelle des Sonderbe- Efrosyni Perganda sitzt in der gut
vollmächtigten Südost am 6. Ok- geheizten Stube ihres Hauses, 91
tober 1944 angewiesen, die infla- Jahre alt, eine kleine, schwarz ge-
tionsbedingt unglaubliche Summe kleidete Frau mit wachen Augen.
von 300 Billionen Drachmen an Sie hat das Massaker der Deut-
die griechische Regierung zu über- Gebeine der Opfer im Dorf Distomo schen in Distomo überlebt, sie ist
weisen „und als Rückzahlung“ zu Gegenwart und Vergangenheit verbinden sich eine der wenigen lebenden Zeu-
verbuchen. gen im Dorf.
Für Fleischer ist damit eindeutig geklärt, bis heute. Lau, gebürtiger Stuttgarter, ein Als die SS-Kompanie nach einem Kampf
dass es sich bei den griechischen Ansprü- weißhaariger Herr von fast 70 Jahren, mit Partisanen als sogenannte Sühnemaß-
chen nicht um Reparationen von Kriegs- kämpft im Namen griechischer und italie- nahme über Distomo herfiel, nahmen die
unrecht handelt, die zum Präzedenzfall nischer NS-Opfer um Entschädigung. „Ich Soldaten auch ihren Mann gefangen. Efro-
für andere Länder werden könnten. „Über bin enttäuscht von der Art und Weise, wie syni Perganda stand mit ihrem Baby dane-
Reparationen kann man politisch verhan- die Bundesrepublik mit dieser Frage um- ben, sie sah ihren Mann nie wieder.
deln“, so Fleischer, „Schulden müssen geht“, sagt er. Es gehe hier nicht nur um Während die Deutschen wüteten, ver-
auch unter Freunden bezahlt werden.“ finanzielle Entschädigung, sondern vor al- steckte sie sich hinter der Badezimmertür,
Griechische Nachkriegsregierungen wur- lem auch um den Rechtsfrieden. später hinter der Wohnzimmertür des
den wegen der Rückzahlung früh aktiv. Lau warnte im Februar Bundespräsident Hauses, in dem sie immer noch lebt. Ihr
Der deutsche Botschafter in Athen bestä- Joachim Gauck in einem offenen Brief, Baby hielt sie an die Brust gedrückt. „Ich
tigte bereits am 15. Oktober 1966, die Grie- durch leichtfertige Aussagen zur Entschä- verzeihe den Mördern meines Mannes“,
chen seien „wegen eines behaupteten An- digungsfrage „völkerrechtlichen Vertrags- sagt sie heute.
spruchs“ vorstellig geworden. bruch“ zu propagieren. Die Rechtslage ist Loukas Zisis, der stellvertretende Bür-
Am 10. November 1995 schlug Premier aus seiner Sicht eindeutig: Griechische wie germeister, verlässt stumm das Haus, als
Andreas Papandreou vor, Gespräche zur italienische Staatsbürger und deren Ange- die Frau geendet hat. Er braucht eine Pau-
Regelung der „deutschen Schulden an hörige, die von „völkerrechtswidrigen Er- se, er geht in die Taverne, bestellt Wein.
Griechenland zu eröffnen“. Und regte an, schießungen, Massakern der Wehrmacht, Er sagt: „Ich bewundere Deutschland:
„jede Kategorie dieser Ansprüche einer ge- von Deportation oder Zwangsarbeit be- Marx, Engels, Nietzsche. Den Wohlstand.
trennten Prüfung zu unterziehen“. Papan- troffen waren“, hätten berechtigte indivi- Den gesellschaftlichen Organisationsgrad.
dreous Initiative blieb folgenlos. duelle Ansprüche. Die Macht des deutschen Willens. Ich
Und nun? Was soll mit dieser bisher ver- Seit zehn Jahren versucht Lau, die An- schaue auf zu diesem Land. Hier im Dorf
traulich gehaltenen Studie geschehen? sprüche der Distomo-Opfer in Italien finden wir keine Ruhe, weil der deutsche
„Ich bin kein Politiker“, sagt Karakousis, durchzusetzen. Das Kassationsgericht in Staat seine Schuld nicht begleicht.“
FOTO: BERNHARD RIEDMANN / DER SPIEGEL

„ich habe nur meine Pflicht erledigt.“ Rom bescheinigte ihm 2008 das Recht dazu. Deutschland ist für Zisis ein Land, das
Am Ende bleibt die Frage, ob auch den Zuvor hatte der Anwalt bereits eine Siche- einen unheimlichen Glanz ausstrahlt, aber
Hinterbliebenen der Opfer von Distomo rungshypothek auf das von Deutschland auch unverständlich bleibt. „Bis heute ha-
noch Gerechtigkeit widerfahren wird – geerbte Grundstück der Villa Vigoni am ben wir nicht einmal eine Entschuldigung
und ob es in anderen Ländern ähnliche Comer See, das von einem privaten deut- gehört“, sagt er abermals. „Das hat doch
Fälle gibt. schen Verein zur Pflege der deutsch-italie- mit Deutschlands Stellung in Europa zu
Der deutsche Anwalt Joachim Lau, der nischen Beziehungen genutzt wird, eintra- tun.“ Dies sei eine Sache, sagt er, die er
seine Kanzlei in Florenz hat, vertritt die gen lassen. 2009 ließ er Forderungen der nicht verstehe.
Interessen der Dorfbewohner von Distomo Deutschen Bahn an das italienische Staats- Manfred Ertel, Katrin Kuntz, Walter Mayr

30 DER SPIEGEL 13 / 2015


Titel

Fake oder Fake-Fake


Satire Eine Stinkefingergeste des griechischen Finanzministers Gianis Varoufakis stürzt die
Republik in Ungewissheit. Der ZDF-Moderator Jan Böhmermann behauptete, das Video
gefälscht zu haben. Über Stunden schien nicht mehr klar, wem eigentlich noch zu trauen ist.

E
s gibt Bilder, die man gern sehen nicht wahr sein. Doch das, was der ZDF- „Neo Magazin Royal“. Er schien fast von
möchte. Ob sie nun existieren oder Moderator, Satiriker und Provokateur Jan innen zu schmelzen: vor Freude, vor Scha-
nicht. Ein griechischer Finanzminis- Böhmermann in einem Video sagte, das denfreude, vor Vorfreude auf das, was nun
ter, der den Deutschen den Mittelfinger am Mittwochabend öffentlich wurde, ging kommen würde. Der Beitrag zeigte dann
entgegenstreckt, ist so ein Bild. noch darüber hinaus. Er und sein Team, bis ins Detail, wie es der Redaktion angeb-
Am Mittwochabend hätte man gern behauptete Böhmermann, hätten den omi- lich gelungen war, die falsche Version zu
Günther Jauch gesehen. Sein Gesicht. Sei- nösen Stinkefinger in einen harmlosen bauen. Zeugen wurden aufgeboten, Exper-
ne Mimik. Wie er auf die Nachricht rea- Film hineingebastelt, die gefälschte Ver- ten präsentiert, die Manipulation bis ins
gierte, dass ein ZDF-Satiriker behauptet, sion im Internet verbreitet – und ausge- Kleinste vorgeführt.
das Video, das den griechischen Finanz- rechnet Jauchs Redaktion sei darauf he- Das böhmermannsche Täuschungsma-
minister Gianis Varoufakis 2013 mit eben- reingefallen. növer spielt vor dem Hintergrund einer
diesem Stinkefinger zeigt, sei eine Mani- Für zwölf Stunden war die deutsche Me- Medienlandschaft, deren Glaubwürdigkeit
pulation. Ganz so, wie es Varoufakis selbst dienwelt aus den Fugen. Alles schien mög- angekratzt ist. Das Unwort von der „Lü-
behauptet hatte, als Jauch ihm den Film lich. Dass Varoufakis rehabilitiert wird. genpresse“ macht Karriere. Große Medien-
in seiner Sendung vorspielte. Dass Günther Jauch demontiert wird. Dass marken wie der Talk „Günther Jauch“ –
Schon da schaute Jauch nicht besonders alles ganz anders ist, als es scheint. oder auch der SPIEGEL –, die sich selbst
glücklich drein. Grübelfalten zogen sich „Lieber Günther Jauch, Sie müssen jetzt als Leuchttürme verstehen, werden im
durch seine Stirn. Und dahinter schien nur ganz, ganz stark sein“, begann Böhmer- Internet permanent infrage gestellt, ihre
ein Gedanke Platz zu haben: Das darf jetzt mann den Beitrag für seine Satiresendung Behauptungen bezweifelt.
Böhmermann hatte, wie es seine Art ist,
den Unterschied zwischen Wahrheit und
Wahn verwischt, er hatte aber vor allem
die Mechanismen des Thesen-Talks als
klappriges Konstrukt entlarvt.
Der Film, den Jauch seinem Gast Varou-
fakis vorspielte, war im Grunde ja nicht
weniger als eine einzige langgezogene Ohr-
feige für den griechischen Finanzminister
und stellvertretend für „die Griechen“, die
es nicht hinbekommen und die „den Deut-
schen“ nicht mal dankbar sind, sondern
sie sogar noch verhöhnen.
Die „Bild“-Zeitung assistierte und zeigte
drei Tage nach der Sendung einen ganz-
seitigen Stinkefinger – der Eurostreit wur-
de damit aufs Effenberg-Niveau gesenkt,
der Tiefpunkt der Diskussion war er-
reicht – bis Böhmermann auftauchte.
Es war ein Scoop. Meisterhaft insze-
niert. Perfekt in die mediale Landschaft
gesetzt. Über Stunden wusste niemand so
recht, was er glauben sollte. War der Fake
ein Fake, war die Wahrheit gefälscht oder
die Fälschung wahr?
Die Redaktionen von Jauch und beim
zuständigen Sender NDR waren Mittwoch-
abend alarmiert worden. „Ich hatte schon
ein paar unruhige Stunden“, sagt NDR-
Chefredakteur Andreas Cichowicz. Meh-
rere Teams machten sich an die Arbeit. Die
einen versuchten, Böhmermanns Video-
täuschung auf die Schliche zu kommen.
Die anderen gingen noch einmal die eige-
nen Quellen durch, suchten noch in der
Nacht nach weiteren Belegen und Zeugen
für die Echtheit des in der Jauch-Sendung
gezeigten Filmausschnitts inklusive Stinke-
Szenen aus Böhmermann-Video: „Sie müssen jetzt ganz, ganz stark sein“ finger. Der Druck war hoch, es ging um
DER SPIEGEL 13 / 2015 31
für ihre eigenen Vorurteile und die ihres
Publikums suchen? Und welche fremden-
freundlichen Tendenzen schlummern viel-
leicht in uns, wenn wir einem griechischen
Finanzminister mehr glauben als einem
deutschen Moderator? Fragen sind das, die
Böhmermann in seinem Kosmos immer
wieder thematisiert. Ebenso lustig wie
klug.
Böhmermann ist wie seine Generation
mit der Unschärfe groß geworden, die die
Internetwelt prägt: ein Dauerdurcheinan-
der, ein Riesenraum, in dem sich immer
noch irgendeine dunkle Ecke findet, in der
jemand die absurdeste Wahrheit verkün-
Talker Jauch: „Beweise“ eingefordert det, dieses Instantgemunkel, das einem aus
Facebook und Twitter, BuzzFeed und
nicht weniger als die journalistische Repu- ternet weiterverbreitet hat – wie kam er Instagram entgegenschlägt.
tation des wichtigsten Polit-Talks der ARD. dann plötzlich dazu, selbst zu glauben, er Dort reihen sich Szenen wilder russi-
„Um drei Uhr morgens war ich mir sicher, habe diese Geste niemals gemacht? scher Autounfälle und Statements wilder
dass Böhmermann die ganze Sache gefaket „Ich werde keine weiteren Statements russischer Verschwörungsgerüchte anein-
hat“, sagt Cichowicz. „Wir haben diese Er- dazu geben“, sagt Varoufakis einem Re- ander, da herrscht ein scheinbares Gleich-
kenntnis allerdings für uns behalten, um porter von SPIEGEL TV, als der angebliche gewicht des Banalen und des Wichtigen,
den Scoop nicht zu verderben.“ Die Sache Fake als Fälschung bereits enttarnt war. Es da verschwimmen die Kategorien – und
sei, das erkennt Cichowicz kollegial an, gelte das, was er in der Sendung gesagt nicht jeder kommt damit klar.
„schlau gemacht und schlau verkauft“. habe. „Der Umstand, dass irgendwelche Böhmermann ist ein Kind der Postmo-
Auf Twitter tobte derweil ein Orkan der Personen in die Falle derer getappt sind, derne, er kennt im Grunde nichts anderes
Spekulationen, an dem sich merkwürdi- die anstreben, Zwietracht zwischen den als eine Welt im Zitat, als eine Realität,
gerweise selbst Varoufakis beteiligte. Erst Völkern Europas zu säen, betrifft nur diese die immer schon gefälscht ist. Manipula-
forderte er von Jauch eine Entschuldigung. Personen.“ tion qua Muttermilch.
Dann dankte er Böhmermann für die Ent- Gegenüber griechischen Fernsehrepor- Das bedeutet einerseits einen großen
hüllung. tern, die ihn auf der Straße nach dem Mit- Ironievorsprung, wie ihn auch sein Vorbild
Moderator Jauch selbst ließ seine Pro- telfinger fragten, sagte er am Donnerstag- und väterlicher Schatten Harald Schmidt
duktionsfirma am Donnerstagmorgen eine mittag: „Ich habe nie eine solche Geste nutzte – eine Narrenfreiheit, die im Unsinn
zornige Pressemitteilung verschicken, die gemacht.“ So backt jeder an seiner eigenen die Wahrheit entdecken wollte, in der
„Beweise“ einforderte. Man gehe „davon Wirklichkeit (siehe auch Seite 75). Überzeichnung das Eigentliche. Das be-
aus, dass diese in kürzester Zeit vorgelegt Hinterher wollte niemand so richtig ge- deutet andererseits, dass er einfach besser
werden“. glaubt haben, dass Böhmermanns Version weiß, wie die Medienwelt heute funktio-
Die erste Reaktion auf Böhmermanns die volle Wahrheit war. Doch seine Kon- niert, wie ein Hype entsteht und wie man
Video war bei wohl allen gleich. Der Bo- struktion einer möglichen Wahrheit war ihn für sich nutzt.
den der Fakten wurde mit einem Mal so perfekt designt, dass das ZDF sich ziem- Das Beeindruckendste an der ganzen
weich, und jeder glaubte erst einmal, was lich schnell genötigt sah, die Luft aus der Aufregung um Böhmermann und „Varou-
er glauben wollte. Jeder sah, was er sich Nummer zu lassen. Die ARD hatte es nicht fake“ ist vielleicht sogar dies: Es war kein
wünschte. besonders lustig gefunden, so lange im Un- Zufallsprodukt. Dahinter stecken Absicht
Auch der Blogger Stefan Niggemeier. Er klaren gelassen zu werden. und Können.
machte sich auf Twitter schon früh über Böhmermann hätte das Spiel mit der Böhmermann und sein Team mit den
die Redaktionen von Jauch, „Bild“ und Verwirrung noch gern ein paar Tage wei- beiden Produzenten Philipp Käßbohrer
der ARD lustig. Stellte sich vor, dass die tergetrieben, aber am Donnerstagvormit- und Matthias Murmann entwickelten
Redakteure rote Flecken im Gesicht be- tag beendete ZDF-Programmdirektor schon 2011 das Konzept von „Roche &
kämen, während sie hektisch nach Gewiss- Norbert Himmler via SPIEGEL ONLINE Böhmermann“, einer Talk-Runde mit Böh-
heit suchten. das Rätselraten und wies in einer ebenso mermann und der Skandalautorin Char-
„Ich habe mir zu sehr gewünscht, dass ironischen wie eindeutigen Erklärung da- lotte Roche, gefilmt im Look der Sechzi-
es wahr ist“, sagt er später. Böhmermanns rauf hin, dass es sich bei Böhmermanns gerjahre. Für die Show gewannen sie den
Aktion sei schon so „genial“. „Hätte das Sendung um eine satirische Veranstaltung Deutschen Fernsehpreis. Die Urkunde
aber alles auch noch gestimmt und wäre handelte. Da ging der Puls der Medien- hängt gerahmt auf dem Klo ihrer Firma.
Jauch tatsächlich einem von Böhmermann gemeinde ein wenig herunter. Und es Böhmermann ist der politische Kopf des
inszenierten Fake aufgesessen, wäre das setzte beinahe so etwas wie Selbstrefle- Teams. Er ist der Nachrichtenjunkie und
geradezu galaktisch gewesen.“ xion ein. Fernsehsüchtige, der sich über Pegida ge-
Als alles als ein Riesenscherz enthüllt Böhmermann, so viel wurde klar, hatte nauso ärgert wie über die dümmliche
war, kippte die Perspektive von Wahrheit nicht bloß einen satirischen Scoop gelan- Oberflächlichkeit mancher YouTube-Stars.
und Lüge ein weiteres Mal. Varoufakis, det. Er hatte der Medienwelt eine Lektion Käßbohrer und Murmann sind es, die
eben noch scheinbar bestätigt, stand wie- erteilt: Glauben wir nicht auch sonst allzu seine Einfälle dann technisch perfekt um-
der belämmert da. Als einer, der vielleicht oft, was wir glauben wollen? Sehen wir setzen. Schon Dreieinhalb-Minuten-Ein-
lügt, sich vielleicht schlecht erinnert, der den Stinkefinger gern, weil wir gern an spieler sind Juwelen, die vor Referenzen
das aber stets mit voller Verve tut. den Griechen, der den Deutschen hasst, und visuellen Ideen platzen. So wie das
FOTO: DPA

Da das Stinkefingervideo mit Varoufakis glauben? Suchen und senden Journalisten Ende Februar veröffentlichte Musikvideo,
offenbar echt ist und er es ja selbst im In- diese Bilder gern, weil sie bloß Bestätigung in dem Böhmermann Varoufakis zu einem
32 DER SPIEGEL 13 / 2015
Titel

Racheengel und Sexgott stilisierte – und mitspekuliert, ist Teil dieser Performance,
ihm zum Schluss den Mittelfinger zeigen jede Klarstellung, jeder Beweis für die
ließ. eine oder andere Theorie gehört dazu.
Ihr Anspruch: Der Zuschauer soll am Und selbst wenn irgendwann das gott-
nächsten Tag noch darüber nachdenken, gleiche Machtwort „Ätsch!“ gesprochen
was er da eigentlich gesehen hat. Diesen wird, wenn der Urheber sagt, wie es
fast pädagogischen Ansatz kombinieren ursprünglich wirklich war – was inzwi-
sie mit einer Lust am Provozieren: „Wir schen passiert ist, lässt sich nicht rückgän-
sind getrieben vom kontinuierlichen gig machen.
Drang, jemandem gegens Schienbein zu Das, was Jan Böhmermann in dieser
treten“, sagt Käßbohrer. Woche angerichtet hat, ist jedoch von ei-
Die Räume seiner Firma Bildundton- ner ganz anderen Dimension als die Late-
fabrik sehen aus wie eine große unaufge- Night-Gags, die Schmidt der politisch in-
räumte WG. Überall stehen ausrangierte teressierten Gemeinde hinterherrief: Es
Requisiten herum, an den Schreibtischen hat reale politische Implikationen, weil im-
arbeiten junge Menschen neben Bergen merhin ein amtierender Minister eines an-
von Kabelsalat. Es ist ein eingeschworener deren Landes von Jauch mehr oder weni-
Haufen Film-Freaks und Technik-Nerds, ger direkt in aller Öffentlichkeit als Lügner
den Böhmermann und Käßbohrer um sich vorgeführt wurde.
geschart haben. Hätte Böhmermann tatsächlich die Un-
„Die können Dinge, zu denen viele an- schuld des Gianis Varoufakis bewiesen,
dere nicht in der Lage sind“, sagt WDR- hätte Jauch einpacken können. Innerhalb
Redakteur Carsten Wiese, der mit ihnen von Stunden wechselte im Internet die
an verschiedenen Projekten gearbeitet Wahrnehmung, wem dabei nun eigentlich
hat. „Das sind keine Auftragsproduzen- zu trauen sei.
Jemand wie Böhmermann ist dabei eine
Schlüsselfigur: Er steht für die neue Me-
dienwelt, er versteht ihre Gesetze und Re-
geln, er ist schnell, spielerisch, anarchisch
und liebt es, die Wirklichkeit in Ellipsen
zu schicken – die Konfusion, die zurück-
bleibt, ist sein eigentliches Metier.
Schwierig wird es aber, wenn es tatsäch-
lich um die Frage geht, was stimmt und
was nicht, das Geschäft des Journalismus
also – und besonders schwierig wird es,
wenn das Fernsehen, wie es Günther Jauch
tut, im Gestus der Autoritätsmaschine auf-
tritt, die es einmal war und die es nicht
mehr ist.
Die politische Talkshow ist, in Deutsch-
land, eine Erfindung der Neunzigerjahre,
des Nach-Wende-Landes, das sich gern um
einen runden Tisch zusammenfand und al-
Moderator Böhmermann les ausdiskutierte. Das Internet war damals
Reale politische Implikationen noch nicht so mächtig. Was im Fernsehen
gesagt wurde, hatte eine andere Bedeu-
ten, mit denen man sich zweimal trifft, tung, ganz einfach weil es nicht so viel Ge-
und danach liefern sie das Bestellte ab. dröhne drum herum gab, nicht so viele
Das sind Leute, die auch ihre eigene Visi- Gegenstimmen, kein so großes Korrektiv,
on einbringen.“ denn auch das ist ja das Internet oder kann
Humortechnisch setzte sich Böhmer- es jedenfalls sein.
mann in dieser Woche von seinem Vorbild Der eigentliche Witz an der Geschichte
Harald Schmidt sogar noch ab. Der war ist, dass Jauchs Sendung in diesem schril-
groß darin, mit völkerverunglimpfenden len Wechselspiel von Fake und Fake-Fake,
Scherzen und anderen Tabubrüchen seine von Lüge und Lügen-Inszenierung irgend-
Zuschauer zu beschämen: Wer über diesen wie aus der Zeit gefallen wirkt – obwohl
Polen/Blondinen/Nazi-Witz lacht, der die Version des Videos, die dort gezeigt
kann eigentlich nicht so demokratisch, auf- wurde, offenbar echt ist.
geklärt, fair und bio sein, wie er gern wäre. Irgendwie sind am Ende alle beschädigt.
Doch die Irritation beschränkte sich bei Varoufakis, Jauch, Niggemeier, „Bild“, die
Schmidt auf 45 Minuten Sendezeit. ARD. Nur Böhmermann ist immer noch
Böhmermann hat mit seiner Aktion die cool.
Logik des medialen Schneeballs, der zur Es geht nicht mehr um die Wahrheit,
Lawine wird und keine Grenzen mehr sondern darum, wer am besten mit ihr
FOTO: ZDF

kennt, schon gar nicht die der Sendezeit, spielt. Markus Brauck, Georg Diez,
permanent weiterentwickelt: Jeder, der Katrin Kuntz, Ann-Kathrin Nezik, Elke Schmitter

DER SPIEGEL 13 / 2015 33


Deutschland

Unter
Freunden
SPD Sigmar Gabriel hat mit der
Zustimmung zur Vorratsdaten-
speicherung seinen Justizminister
düpiert. Das Thema könnte den
Parteichef noch einmal einholen.

D
ie Fraktionssitzung der Sozialde-
mokraten am vergangenen Diens-
tag im Berliner Reichstag hat gera-
de begonnen, da meldet sich der Bundes-
justizminister zu Wort.
Das kommt nicht oft vor. Heiko Maas, der
Politaufsteiger aus dem Saarland, ist kein
Mitglied des Bundestags, also hält er sich in
der Fraktion meist zurück. Doch diesmal
hat Maas Redebedarf, sein Thema: die Vor-
ratsdatenspeicherung. Maas’ Vortrag ist eine
Unterwerfung. Er, der erklärte Gegner des
massenhaften Speicherns und Verwertens
von Telefon- und Internetdaten, kündigt an,
dass er einen Gesetzentwurf zur Vorratsda-
tenspeicherung vorlegen wird.
Zusammen mit Innenminister Thomas
de Maizière werde er nach den Vorgaben
von Bundesverfassungsgericht und Euro- Sozialdemokraten Maas, Gabriel: Maximaler Schaden
päischem Gerichtshof einen eigenen Kom-
promiss erarbeiten, so Maas. „Ihr müsst FDP-Ministerin Sabine Leutheusser-Schnar- berheime geht, um Angriffe von Neonazis
mir vertrauen“, beschwört er die knapp renberger trat Ende 1995 sogar zurück, auf Bürgermeister oder um Pegida-Protest-
190 Abgeordneten. „Ich war immer Skep- nachdem sich ihre Partei für den „Großen ler auf den Straßen von Dresden – man
tiker. Ihr wisst das. Aber ich werde mich Lauschangriff“ entschieden hatte. konnte sicher sein, dass Maas sich zu je-
bewegen. Und wenn ich mich bewege, Das bürgerrechtliche Profil der SPD, das dem der Themen melden würde, mit Ap-
müsst ihr euch auch bewegen.“ Maas seit Beginn seiner Amtszeit sorgsam pellen an die freie, offene Gesellschaft und
Im Saal herrscht ungewöhnliche Auf- gepäppelt hatte, bringt der Parteichef mit Warnungen vor ihren Gegnern.
merksamkeit. Und es gibt, kaum hat Maas seinem Ja nun zumindest in Gefahr. Mit Wo Innenminister de Maizière unent-
geendet, ungewöhnlich breiten Beifall. Die der Art, mit der er seinen Entschluss exe- schlossen und hölzern auftrat, fand Maas
Genossen wissen, wie schwer dem Minis- kutierte, fügte er seinem Justizminister klare Worte. Mit ihm hatte die SPD ein
ter diese Kehrtwende fällt. Der Applaus obendrein maximalen Schaden zu. bürgerrechtliches Gewissen vorzuweisen,
drückt Sympathie und Respekt aus. Zu- Am vergangenen Dienstagabend kann einen Frontmann, der die Partei auch in
gleich ist er ein Votum gegen Parteichef Heiko Maas für ein paar Stunden noch ein- der liberalen Internet-Community populär
Sigmar Gabriel, der Maas in den Tagen zu- mal so tun, als wäre nichts geschehen. Der machte. In seinem allerersten Interview,
vor öffentlich demontiert hat. Justizminister steht auf einer kleinen Büh- das er nach Amtsantritt dem SPIEGEL gab,
Mit einem dürren Satz in einem Radio- ne in einem Kellerraum unter den Bögen hatte er die Vorratsdatenspeicherung ver-
interview hatte Gabriel der SPD in einem des Berliner S-Bahnhofs Bellevue und bal „auf Eis“ gelegt, bis zu einem Urteil
heiklen Thema einen neuen Kurs verord- spricht über sein Engagement für das des Europäischen Gerichtshofs. Ein Jahr
net: „Jetzt ist es so, dass die Kollegen de Projekt „Störungsmelder“. Die Initiative später bekräftigte Maas, er lehne das Er-
Maizière und Heiko Maas gemeinsam ei- schickt Prominente wie Maas in die Schu- mittlungsinstrument „ganz entschieden
nen Vorschlag entwickeln müssen für die len, wo sie mit Jugendlichen über Rassis- ab“. „Eine anlasslose Vorratsdatenspeiche-
Vorratsdatenspeicherung.“ mus diskutieren. rung verstößt gegen das Recht auf Privat-
FOTO: MAURICE WEISS / OSTKREUZ / DER SPIEGEL

Der Auftrag, die Massenspeicherung ein- „Ein Justizminister sollte auch so etwas heit und gegen den Datenschutz“, sagte
zuführen, ist die bisher größte Niederlage wie der Störungsmelder der Bundesregie- er der „Süddeutschen Zeitung“.
in Maas’ noch junger Karriere als Bundes- rung sein“, sagt Maas auf der Bühne unter Ein Jahr lang hatte Maas auf eine Richt-
politiker. Kein Thema ist für einen deut- dem Beifall der Zuschauer. Genau so sieht linie der EU-Kommission zum Daten-
schen Justizminister so sensibel, keines so sich der SPD-Mann. Nie wollte er nur der schutz gesetzt. Doch jetzt duckte sich die
sehr eine Frage des Prinzips wie die Vor- „Notar der Bundesregierung“ sein, er ver- Kommission weg. Nun muss er sich zu ei-
ratsdatenspeicherung. Sicherheit oder Bür- steht sich als sensibler Rechtsstaats-Seis- nem Thema verhalten, das auch als eines
gerrechte? In diesem Interessenkonflikt ist mograf. Maas entwickelte sich zu einem der heikelsten innerhalb der SPD gilt. Die
es traditionell die Rolle des Justizministers, ungewöhnlich politischen Justizminister: Länderinnenminister wollen mehr Ein-
die Privatsphäre der Bürger zu verteidigen. Ob es um Brandanschläge auf Asylbewer- blicke, Datenschützer und Netzpolitiker
34 DER SPIEGEL 13 / 2015
Kommentar

dagegen die Überwachungsmöglichkeiten


des Staats einhegen. Dabei geht es im
Mission beendet
Wesentlichen um die Frage, wer welche Die SPD muss sich ändern, oder sie wird Klientelpartei.
Daten wie lange speichern soll und wer

M
wann und unter welchen Voraussetzungen it der SPD ist es wie mit einem Hemd. Wenn man, oben oder
Zugriff darauf hat. Ein Parteitagsbeschluss unten, erst einmal einen Knopf falsch geschlossen hat, kann
von 2011 nannte eine Mindestspeicherdau- man noch so ordentlich weitermachen, es wird nicht besser.
er von sechs Monaten „unverhältnismäßig“ Vor der Bundestagswahl reihten die Sozialdemokraten also Verspre-
und lehnte eine „derart langfristige, ver- chen an Versprechen, danach, in der Großen Koalition, Gesetz an Ge-
dachtsunabhängige Speicherung von Tele- setz. Doch ganz zu Anfang im Wahlkampf hatten sie etwas falsch ge-
fon- und Internetverbindungen“ ab. macht. Fast zwei Jahre sind seitdem vergangen, das Hemd sitzt schief.
Bis Gabriel die Debatte beendete. Der Es wäre Zeit für einen Blick in den Spiegel.
Parteichef ist schon seit Längerem ein Peer Steinbrück, der ehemalige Kanzlerkandidat, hat es versucht.
Freund des Speicherns. Er fürchtet, dass In seinem jüngsten Buch und im SPIEGEL-Gespräch (11/2015) geht er
die SPD mit ihrer zögerlichen Haltung im mit sich und seinen Fehlern hart ins Gericht. Sollte er gehofft haben,
Falle eines Terroranschlags in Deutschland diese Demut würde die Sozialdemokraten für seine grundsätzlichen
in die Defensive geraten könnte. Bereits Überlegungen öffnen, dann hat er sich getäuscht. Was er vorbrachte,
kurz nach den Anschlägen von Paris hatte wurde in der SPD nach Kräften beschwiegen. Man darf dahinter Ab-
er deshalb wissen lassen, das Speichern sicht vermuten, törichten Trotz.
könne durchaus ein „geeignetes Instru- Steinbrück fasst seine Kritik in ein Bild. Die SPD habe im Wahl-
ment“ zur Strafverfolgung sein. kampf das „falsche Foto“ gehabt und Deutschland als eine „Ansamm-
Am vergangenen Wochenende setzte lung von Opfern“ definiert, die nur der Rettung harrten. Doch die gro-
er mit einem Interview im Deutschland- ße Mehrheit der Deutschen sah sich im Sommer 2013 anders, vielleicht
funk einen Schlussstrich: Das Gesetz müs- nicht im siebten Himmel, aber bestimmt nicht im Jammertal. Folglich
se kommen. Selbst Genossen, die eigent- zeigte sie wenig Bedarf, sich aus einer nur behaupteten Misere heraus-
lich für die Vorratsdatenspeicherung sind, helfen zu lassen. Wer das Land erst schlechtreden muss, damit der
empfanden die Order per Interview als eigene Regierungsanspruch plausibel wird, der macht die Rechnung
unnötige Demütigung für den Bundes- ohne all jene, die ihr Land einstweilen ganz gut finden. Mehr hat
justizminister. Peer Steinbrück seiner Partei nicht sagen wollen. Schon das ist zu viel.
Maas selbst hat es nun, da ihn sein Par- Natürlich müssen sich die Sozialdemokraten nicht vorwerfen las-
teichef als Störungsmelder abgeschaltet hat, sen, dass sie ihre Wahlversprechen erfüllen. Vorzuwerfen ist ihnen,
eilig. Bis zum Parteikonvent am 20. Juni in dass sie dabei stehen bleiben. Vorzuwerfen ist ihnen, dass sie aus
Berlin will er Leitlinien für sein Speicher- Angst vor der Antwort nicht einmal die Frage anhören. Diese Angst
gesetz präsentieren, bald danach den ferti- macht die SPD weitaus nervöser als der Ärger über Sigmar Gabriels
gen Gesetzentwurf vorlegen. Dabei wäre neuerliche Anfälle von Instinktpolitik. Mit einem gewissen Maß an
Sorgfalt angebracht. Denn die technischen Empathie lässt sich das sogar verstehen: Zur Debatte
Details der Vorratsdatenspeicherung sind Die SPD schiebt steht nicht weniger als das sozialdemokratische Ge-
kompliziert. schäftsmodell an sich, die 150 Jahre alte, historische
Maas liegt besonders am Herzen, dass ihre Misere Mission, nämlich Millionen Arbeitnehmern zu ihrem
Berufsgeheimnisträger wie Rechtsanwälte, vor allem auf die Recht und ihrem Stolz zu verhelfen, gegen den Staat,
Mediziner oder Journalisten von der Rege- vermeintlich gegen das Kapital. Mithilfe fürsorgender Sozialpolitik
lung ausgenommen werden. Doch wer ent- ist man auf diesem Weg weit gekommen. Wenn die
scheidet, welcher Kunde diese Privilegien schicksalhafte meisten Wähler inzwischen aber solche Sozialpolitik
genießt? Sollen Daten von Anwälten gar Beliebtheit der nur noch mäßig honorieren, ist dann mehr davon die
nicht erst gespeichert werden, oder dürfen Kanzlerin, aber richtige Antwort? Wenn der Mindestlohn der SPD in
sie nur nicht den Behörden ausgehändigt den Umfragen nicht aufhilft, wird es die Erhöhung
werden? das ist zu einfach. des Kindergelds tun oder die Forderung nach Fens-
Bislang galt Maas als einer der wenigen tern in Pausenräumen? When you are in a hole, you’d
Freunde, die Gabriel in der SPD-Spitze ge- better stop digging, heißt es auf Englisch: Wenn du in einem Loch
blieben sind. Der Parteivorsitzende hatte sitzt, hörst du besser auf zu graben.
ihn Ende 2013 nach Berlin geholt. Maas Die SPD schiebt ihre Misere vor allem auf die vermeintlich schick-
hielt ihm dafür die Treue. Er gehörte zu salhafte Beliebtheit der Kanzlerin, aber das ist zu einfach. Angela
denen, die die Stärken des Parteichefs hö- Merkel hat ihre Partei gegen große Vorbehalte der eigenen Stamm-
her bewerteten als dessen Schwächen. wähler weit in die Mitte verschoben, das Einwanderungsgesetz wird
Selbst am Dienstag in der Fraktion nahm der nächste Schritt sein. Daran sollte sich die SPD-Führung ein Bei-
er Gabriel noch in Schutz. „Das war kein spiel nehmen und sich mehr an der eigenen Partei reiben als an der
Alleingang von Sigmar“, sagte er tapfer. Union. Sigmar Gabriel, das muss man ihm lassen, hat es erkannt. Für
Ob das so bleibt, ist ungewiss. Auf dem das Freihandelsabkommen TTIP zu werben und für eine moderate
Parteikonvent im Juni wird Gabriel seinen Form der Vorratsdatenspeicherung mag die Funktionärskaste der SPD
Justizminister als Verbündeten jedenfalls verstören, aber es adressiert nachweislich mehrheitsfähige Interes-
brauchen. Denn dann wird es nicht nur sen – die an Arbeit und Sicherheit.
um die Vorratsdatenspeicherung und das Wenn nach Meinung einer Mehrheit die alte Mission einer Volks-
noch explosivere Thema TTIP gehen. „Der partei an ein Ende gelangt, dann hat sie sich zu ändern – oder sie wird
Konvent wird auch die Frage debattieren, zur Klientelpartei. Die SPD ist immer noch auf letzterem Weg. Das ist
wie Sigmar die SPD führt“, prophezeit ein nicht gut für sie und nicht gut für Deutschland. Wer will schon ewig
Bundestagsabgeordneter. von der Union regiert werden? Nikolaus Blome
Melanie Amann, Horand Knaup

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Rekrutin bei Einkleidung in der Julius-Leber-Kaserne in Berlin

Schlank. Schlau. Schlecht.


Bundeswehr Vor Jahren übertrug das Verteidigungsministerium den Einkauf von Uniformen an
eine Firma. Das kostet den Bund jetzt bis zu 60 Millionen Euro. Die Geschichte eines Fiaskos.

W
enn man glaubt, was die Internet- Millionen Euro retten, weil deren Manager ministerium, begleitet von verwunderten
seite der Firma verspricht, läuft versagt haben – und die Aufseher im Ver- Fragen der Experten im Bundestag: Wie
es wie immer: bestens. Dann ist teidigungsministerium offenbar gleich mit. konnte das passieren? Ausgerechnet bei
sie der perfekte Einkäufer der Bundeswehr Ohne all die Steuermillionen läge die Lie- einer Firma, die der Bund vor 13 Jahren
für alles, was die Soldaten am Leib tragen, fersicherheit der LH Bundeswehr Beklei- mit privaten Unternehmen gegründet hat-
Uniformen, Stiefel, lange Unterhosen. Be- dungsgesellschaft (LHBw) nämlich nicht te, um nicht nur Geld zu sparen, sondern
kannt für „optimale Beschaffungsergebnis- mehr bei 99,8 Prozent. Sondern bei null. vielleicht sogar zu verdienen. Und in der
FOTO: SEAN GALLUP / GETTY IMAGES

se“. Gewieft darin, die Einkaufspreise zu Noch kurz vor Weihnachten war offen, ob immer ein General als Mitgeschäftsführer
drücken. Und das bei höchster „Liefer- die Bundeswehr genug Grünzeug im De- saß, damit auch wirklich nichts schief-
sicherheit“. Die sei sogar noch gestiegen. pot haben würde, um im Januar mehr als gehen konnte.
Melde gehorsamst: auf 99,8 Prozent. 5000 Rekruten einzukleiden. Eines steht nun fest: Spätestens im Som-
Klingt nach einem guten Geschäft für Schon seit Monaten ist das Schicksal der mer wird der Bund die marode Einkaufs-
den Steuerzahler? War es aber nicht. Denn LHBw deshalb Thema von Krisensitzun- firma ganz übernehmen, um sie vor dem
jetzt muss der Bund die Firma mit fast 60 gen im Verteidigungs- und im Finanz- Bankrott zu bewahren. Die Eckpunkte,
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Deutschland

wie die Scheidung von den Privaten ab- fer 2012 wieder und diesmal aus dem Stau- als später gebraucht wurde. Ende des Jah-
laufen soll, hat er mit ihnen am 3. März nen gar nicht mehr heraus. Da kassierte res musste die Bundeswehr der Firma des-
ausgehandelt. die Firma zum Beispiel Prämien vom halb erneut die Lager leer kaufen. Die Klei-
So endet ein Experiment, mit dem Bund, wenn sie den „Sportschuh Halle“ derberge in den Kasernen wuchsen weiter.
Rudolf Scharping in seiner Zeit als Ver- billiger einkaufte als im Vorjahr. Warum Diesmal warnte das BAWV: „Die abzuneh-
teidigungsminister beweisen wollte, dass auch nicht? Nur fiel auf, dass der Einkaufs- menden Warenmengen dürften zu einer
Militärprojekte auch schlanker, schlauer, preis ein Jahr später plötzlich steil stieg, signifikanten Erhöhung der Lagerbestände
schneller gehen können als mit einem dann erneut purzelte – schon gab es die führen, für die ein Bedarf nicht erkennbar
Behördenapparat. Stattdessen zeigt der nächste Prämie. Von der LHBw heißt es ist.“ Das alles sei „mindestens in 2012“ für
Versuch nun vor allem eines: dass die dazu heute, über die Jahre gesehen habe eine „bedarfsgerechte Versorgung in wei-
öffentliche Hand draufzahlt. In diesem Fall, man die Einkaufspreise „signifikant sen- ten Bereichen ausreichend“.
weil auch das Verteidigungsministerium ken können“. Für die Bundeswehr. Nicht aber für ihre
dilettiert und Warnungen des Bundes- Am heftigsten stieß sich der Rechnungs- Einkaufsfirma. Die ließ nicht locker. Und
rechnungshofs über Jahre in den Wind ge- hof aber daran, dass bei den Shopping- immerhin: 51 Millionen Euro wollten die
schlagen hat. touren eines nicht so wichtig schien: ob BAWV-Verhandler dann auch für 2012
„Das Ministerium hat viel zu lange die der Truppe überhaupt etwas fehlte. Denn noch bereitstellen. Am Ende wurden da-
Augen verschlossen“, ärgert sich der Grü- wie die Prüfer schreiben, durften die raus sogar 80,5 Millionen. Wie das sein
ne Tobias Lindner, der im Verteidigungs- LHBw-Manager mit Rückendeckung des konnte? Viel Papier fand der Rechnungs-
ausschuss sitzt. Der Ausschussvorsitzende Ministeriums weit mehr an die Bundes- hof dazu nicht, einen klaren Schuldigen
Hans-Peter Bartels (SPD) zieht daraus die wehr liefern, als die Soldaten in absehbarer gab es für die Prüfer trotzdem – das Minis-
Lehre: „Wir sollten vorsichtiger mit sol- Zeit brauchten. terium. „Ihr Referat nahm bestimmenden
chen Partnerschaften umgehen.“ Das hatte mit einer absurden Abma- Einfluss“, um „dem Anliegen der LHBw
Bis 2002 hatte die Bundeswehr ihre chung zu tun, die so wohl nur in der sozia- auch gegen das Votum des BAWV zu ent-
Soldaten noch selbst eingekleidet, dann listischen Planwirtschaft möglich ist – oder sprechen“, schrieben sie nach Bonn. „Auf
aber verbündete sich das Verteidigungs- eben beim Militär. Demnach durfte die diese Weise“ hätten die Ministerialen „die
ministerium mit den Firmen Hellmann LHBw einkaufen, was das Beschaffungs- Position der Bundeswehr als Auftraggeber
Worldwide Logistics aus Osnabrück und der LHBw geschwächt“.
Lion Apparel Deutschland, deren Mutter
in Ohio, USA, saß. Die beiden Privaten
Der Denkzettel war so Das alles erklärt nun aber nicht, warum
die LHBw kurz vor der Pleite stand – im
kamen bei der LHBw auf knapp drei Vier- derb formuliert, dass er Gegenteil. Zum Überleben hätte es mit so
tel, den Rest hielt der Bund – genug, um auch in den Köpfen viel Hilfe aus dem Ministerium reichen
Bescheid zu wissen, zu wenig, um mitzu- müssen. Doch schon bei der Gründung hat-
entscheiden. der Ministerialen ankam. ten Bund und Private ausgemacht, dass
Das war genau so gewollt: Beseelt vom ihre gemeinsame Gesellschaft noch auf
Wunderglauben, dass Privatfirmen effi- budget des Bundes hergab. Festgelegt zum eine andere Shoppingtour gehen durfte.
zienter seien als eine Behörde, wollte ih- Jahresanfang. Dass die Kleiderkammern Sie sollte mit einer Tochterfirma Nebenge-
nen der Bund erst gar nicht hineingrät- der Truppe später im Jahr oft weit weniger schäfte hereinholen, für Extragewinne, und
schen können. Dafür sollten die Partner Nachschub orderten, spielte keine Rolle. dazu stieg sie von 2008 an bei Textilher-
aber auch das unternehmerische Risiko „In dem Maße, in dem das Budget nicht stellern im Ausland ein: in Frankreich und
tragen: Die privaten Miteigentümer ver- ausgeschöpft wurde, war die Bundeswehr Spanien, in Großbritannien und der
pflichteten sich im Vertrag mit dem Bund, verpflichtet, der LHBw die Bekleidung am Schweiz, in Hongkong, Neuseeland und
die Firma „jederzeit mit allen erforder- Jahresende abzukaufen“, heißt es im Rech- Australien. Das meiste auf Pump finanziert.
lichen Mitteln auszustatten“. Wie sich heu- nungshofbericht 2012. Einen faden Beigeschmack bekam die Sa-
te herausstellt, war das eine Schönwetter- So ging das jahrelang, nur dass einer che noch dadurch, dass unter den Verkäu-
garantie. nicht so recht mitspielen wollte: das Bun- fern ein bekannter Name war: Lion Appa-
Was anfangs nach einer zauberhaften desamt für Wehrverwaltung (BAWV). Jene rel, der eigene Gesellschafter. Er stieß auf
Beziehung aussah – New Economy küsst Behörde, die für das Ministerium die Ge- diese Weise einen großen Teil seiner Un-
verschnarchte Truppe wach –, entpuppte schäfte mit der Firma abzuwickeln hatte. ternehmensgruppe ab. Fragen des SPIEGEL
sich schon bald als schwierige Ehe, mit Und den echten Bedarf taxierte. will die LHBw dazu nicht beantworten.
dem Bund in der Rolle der naiven Braut. Schon Ende 2010, so der Rechnungshof, So exotisch die Beteiligungen in aller
Zwar machte die LHBw bis 2012 noch Ge- musste der Bund der LHBw auf einen Welt, so exorbitant die Kosten: 2013 muss-
winne. Aber auf wessen Kosten, das war Schlag Bekleidung „im Wert von mehr als te die Mutter 27,5 Millionen Euro in ihre
schon 2008 die Frage, als der Bundesrech- 50 Millionen Euro“ abkaufen, weil er die Subfirmen einschießen. Doch „weder die
nungshof die Firma inspizierte. zu Jahresbeginn festgelegten Mengen noch Geschäftsführung noch die privaten Ge-
Für die Prüfer war zu dem Zeitpunkt nicht abgenommen hatte. Damit saß die sellschafter haben dem Bund in dieser Zeit
klar: Das ging vor allem „zulasten des Bundeswehr auf einem Berg von Ausrüs- eröffnet, dass das Unternehmen in ernst-
Bundeshaushaltes“. Und Schuld daran hat- tung, und das auch noch kurz bevor die hafte wirtschaftliche Schwierigkeiten ge-
te aus ihrer Sicht in erster Linie das Ver- Wehrpflicht wegfallen sollte. Also funkte raten könne“, ließ das Ministerium kürz-
teidigungsministerium, das seine schützen- das BAWV ins Ministerium: Es „zeichnet lich den Verteidigungsausschuss wissen. Im
de Hand über die Firma halte. Das Minis- sich ab, dass die Lagerbestände für eine Juli 2013 verlängerte der Bund den Vertrag
terium, einerseits Auftraggeber, anderer- Versorgung im Jahr 2011 in weiten Berei- mit der LHBw sogar bis 2016.
seits Miteigentümer der LHBw, könne das chen ausreichend sind“. Erst im Geschäftsjahr 2014 kam heraus,
Spannungsverhältnis zwischen beiden Rol- Der LHBw war das egal. Sie wollte wei- dass die Pleite drohte; im Mai setzten die
len nicht sachgerecht auflösen, hieß es ter einkaufen, möglichst viel und nie we- Firmenchefs, darunter ein freigestellter Ge-
schon damals. niger als das, was das Ministerium ihr zu- neralmajor der Bundeswehr, die Eigner ins
Die Ministerialen nahmen die Kritik gesagt hatte. Und das Ministerium sagte Bild. Also rückte mal wieder der Rech-
aber offenbar nicht an, also kamen die Prü- auch für 2011 wieder viel zu viel zu, mehr, nungshof ein und legte im November den
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Deutschland

nächsten Horrorbericht vor. Gut zehn Mil- men für organisierte Kriminalität steht wie
lionen hatte der LHBw-Konzern allein da-
mit verbrannt, die Firmen in England und
Frankreich wieder abzustoßen. Und meh-
Stöcke statt der Name Jacobs für Kaffee. Man habe
bei dem Treffen Arabisch gesprochen. Spä-
ter korrigierte die Informantin ihre Aussa-
rere Millionen Euro standen im Feuer, weil
der Bund schon Material bezahlt hatte, das
die LHBw noch gar nicht geliefert hatte.
Pistolen ge in zwei Punkten: Der „Älteste“ habe
die beiden doch nicht am Bahnhof, son-
dern in einem Shisha-Café getroffen. Und
Jetzt wäre es an der Zeit gewesen, dass Islamismus Vor drei Wochen die Sprache sei nicht Arabisch, sondern
die privaten Partner die Löcher stopfen, Deutsch gewesen. Egal – auf jeden Fall
so wie im Jahr 2002 versprochen. Tatsäch- legten Polizisten bei einer Anti- hätten die Salafisten Uzis kaufen wollen,
lich pumpten sie fünf Millionen Euro in Terror-Operation die Bremer massenhaft.
die Firma, dann aber war Schluss. Alles City lahm – schenkten sie einer Was die Beamten elektrisierte, war die
Weitere müsse der Bund erst mal überneh- konkrete Personenbeschreibung. Sie pass-
men. Ob sie damit vor Gericht durchkom- Informantin zu viel Glauben? te auf den 39-jährigen Libanesen Moha-
men würden, war zwar offen, aber klagen med M. Der Staatsschutz der Polizei fuhr

D
wollte der Bund nicht – bis zur Entschei- ie Frau war vorsichtig, als sie mit nun das ganze Programm auf: Observatio-
dung wäre die LHBw wohl längst am Ende dem Bremer Landesamt für Verfas- nen, Telefonüberwachung, V-Leute.
gewesen. sungsschutz sprach: Die Polizei Dann meldete sich eine weitere Zeugin,
Was also tun? Wenn es nach dem Ver- dürfe nicht eingeschaltet werden, sagte sie, die ebenfalls auf Mohamed M. hinwies.
teidigungsministerium gegangen wäre, erst denn mit Aussagen bei den Ermittlungs- Und im Januar erzählte die Journalistin,
mal weitermachen wie bisher. Es wollte behörden habe sie schlechte Erfahrungen sie habe von einem Mann erfahren, dass
den Vertrag mit den Privaten bis 2018 ver- gemacht. Auch Namen werde sie nicht die Waffen inzwischen übergeben worden
längern, um Zeit zu gewinnen. Das sei die nennen. Die Verfassungsschützer akzep- seien. Jede Familie im Umfeld des IKZ sei
„einzige Möglichkeit“, andernfalls sei nicht tierten die Bedingungen. jetzt mit einer Uzi ausgestattet.
sicher, ob die Soldaten ab Herbst 2016 Dann erzählte die Informantin, eine Jour- Den Bremer Verfassungsschützern wur-
noch genug Hemden im Spind hätten. nalistin, im vergangenen Oktober eine wil- de die Quelle offenbar zunehmend sus-
Dieser Vorschlag machte aber selbst die de Geschichte. Es ging um 60 Maschinen- pekt. „Eine kritische Betrachtung“ der An-
sonst so nüchternen Rechnungshofleute gaben sei angeraten, heißt es in einem Ver-
sauer. So zu tun, als gäbe es nur diese Lö- merk.
sung, „wird dem komplexen Thema nicht Da waren die Kollegen der Staatsschutz-
gerecht und täuscht über eigene Versäum- Abteilung allerdings schon auf Hochtouren.
nisse hinweg“, schrieben sie. Denn „bereits Den Auslöser für den Großalarm lieferte
im August 2007“ habe der Rechnungshof schließlich ein Hinweis des Zollkriminal-
„ein tragfähiges Risikomanagement mit ei- amts, der die merkwürdigen Angaben der
ner Ausstiegsplanung angemahnt“. Schon Zeugin zu bestätigen schien. Wieder spielte
da habe man dem Ministerium gesagt, es Mohamed M. eine Rolle: Ein Anschlag sei
könne doch nicht warten, bis die Koope- geplant, noch im Februar. Dieser Hinweis
ration gescheitert sei. Stattdessen habe das soll nach Angaben von Behörden präzise
Ressort aber erst 2013 angefangen, sich Ge- gewesen sein, aus verlässlicher Quelle. Vier
danken zu machen. Salafisten aus Frankreich seien auf dem
Diesmal war also der Denkzettel so Weg in die Hansestadt.
derb formuliert, dass er nicht nur im Anti-Terror-Einsatz in Bremen Am 28. Februar ließ Innensenator Ulrich
Ministerium ankam, sondern auch in den Mäurer (SPD) die Polizei aufmarschieren.
Köpfen der Ministerialen. Der Rechnungs- Was folgte, waren mehrere Pannen. Das
hofbericht, heißt es dort kleinlaut, „gibt pistolen vom Typ Uzi und zwei Salafisten IKZ, wo die Waffen vermutet wurden,
den Sachverhalt im Wesentlichen richtig aus dem „Islamischen Kulturzentrum“ blieb etwa stundenlang unbeobachtet. Erst
wieder“. (IKZ) in Bremen. Die beiden wollten, so am Abend kam der Durchsuchungsbe-
Anfang März hat sich der Bund nun ge- die Informantin, alle Glaubensbrüder aus schluss.
gen ein Weiterwursteln und für den Schnitt ihrer Moschee bewaffnen. In einer ersten Vernehmung bestritt der
entschieden. Hart, aber teuer. Im Sommer Die Verfassungsschützer kümmerten sich Libanese Mohamed M. die Vorwürfe. Die
übernimmt er die LHBw ganz. Schultert um die Verdächtigen. Und als die Bremer Sache mit der Bewaffnung? Da sei es nur
34 Millionen Euro Bankschulden. Riskiert Innenbehörde Ende Februar den größten um Schlagstöcke gegangen, mit denen
bei der Abwicklung der Auslandsfirmen Terroralarm in der Geschichte der Hanse- sich die Gemeindemitglieder notfalls ge-
noch mal 6 Millionen Euro Verlust. Und stadt auslöste und schwer bewaffnete Poli- gen Islamgegner hätten verteidigen kön-
kauft die Privaten mit insgesamt 8,75 Mil- zeibeamte aus mehreren Bundesländern nen.
lionen heraus. Die verlieren damit nur mit Schutzwesten in die Fußgängerzone Als die Beamten nach den vier Franzo-
knapp 4 Millionen Euro ihres Kapitals. schickte, erfuhr das ganze Land von jenen sen fragten, erklärte M., das seien Nieder-
Unterm Strich erwartet das Verteidi- 60 Uzis. Sollte in Bremen ein noch größeres länder gewesen, keine Franzosen. Und sie
gungsministerium ein Minus von 55 bis 60 Blutbad angerichtet werden als in der Pari- hätten Spenden gesammelt für einen Mo-
Millionen Euro; eine Pleite wäre dagegen ser Redaktion von „Charlie Hebdo“? scheebau. Ob das tatsächlich so war, lässt
FOTO: CARMEN JASPERSEN / DPA

wohl mit 95 bis 105 Millionen Euro einge- Inzwischen ist fraglich, ob es diese Ma- sich nicht belegen.
schlagen. „Das Verhandlungsergebnis ist schinenpistolen gegeben hat. Haben die Jedenfalls ließen die Ermittler Moha-
angemessen, verhältnismäßig und verant- Bremer Behörden sich zu sehr auf die In- med M. und seinen Bruder Bilal wieder
wortbar“, schreibt dazu das Ministerium. formantin verlassen? laufen. Für gefährlich halten sie die beiden
So kann man noch eine Lehre aus dem Zuerst hatte sie von einem Treffen der offenbar nicht mehr. Eine Observation –
Fall ziehen: wie man ein Fiasko schön- beiden Salafisten mit dem Ältesten eines in solchen Fällen üblich – unterblieb.
redet. Jürgen Dahlkamp, Jörg Schmitt Familienclans erzählt, dessen Name in Bre- Hubert Gude, Ansgar Siemens

38 DER SPIEGEL 13 / 2015


W Die Leiden des Doktor L.
enn Norbert Lammert aus sei-
nem Büro auf der „Präsidial-
ebene“ des Reichstags tritt, sieht
er zu seiner Rechten den Bundesadler, das
Wahrzeichen der deutschen Demokratie: Karrieren Norbert Lammert gehört zu den wortgewaltigen
2,5 Tonnen matt lackiertes Aluminium,
vierfach geschichtet, 58 Quadratmeter Politikern der Republik. Aber er wird kaum gehört.
groß. Ein majestätischer Blick. Warum der Bundestagspräsident in einer anderen Welt lebt.
Weniger als zwei Minuten braucht der Von Marc Hujer
Parlamentspräsident vom Büro bis zu sei-
nem Arbeitsplatz im Plenarsaal, direkt
unter dem Adler. Dann sitzt Lammert auf
seinem Vorsitzendenstuhl, dessen Lehne
sechs Zentimeter höher ist als die der an-
deren Abgeordneten. 
Norbert Lammert verrichtet dort seinen
Dienst als Verwalter der Redezeiten im
Bundestag. Er ruft die Abgeordneten ans
Pult, sorgt dafür, dass sie die Redezeit nicht
überschreiten, und ruft zur Ordnung, wenn
Zwischenrufe in Tumult ausarten. Er erle-
digt das mit unerschütterlicher Strenge.
Er sagt: „Ich erinnere noch einmal an
unser Zeitregime: jeweils eine Minute.“
Er sagt: „Da es viele Fragen gibt, gibt
es auch viele Möglichkeiten zu antworten.“
Er sagt: „Ich sehe überall helle Begeis-
terung. Dann können wir so verfahren.“
Im Bundestagsprotokoll wird dann häu-
fig festgehalten, er habe mit seinen Sätzen
„Heiterkeit“ ausgelöst. Das ist eine Leis-
tung, Lammerts Leistung. Mit feiner Ironie
und Hintersinn erhebt er seinen Verwal-
tungsjob zu einer besonderen Form von
Kleinkunst. Die Frage ist nur, wer heute
noch Bundestagsdebatten verfolgt.
Seit 34 Jahren sitzt Norbert Lammert
im Deutschen Bundestag, seit neun Jahren
ist er Bundestagspräsident. Protokollarisch
ist er der zweite Mann im Staat nach dem
Bundespräsidenten. Aber was er sagt, ver-
schwindet meist in den Spalten der Ple-
narprotokolle.
Es gibt nur noch wenige Politiker, denen
die Menschen vertrauen. Das politische
Personal ist grauer geworden, der Parla-
mentarismus steckt in der Krise, kaum je-
mand interessiert sich noch für die Debat-
ten im Bundestag. Das treibt Lammert seit
Jahren um, aber er erreicht die Menschen
nicht. Er weigert sich, nach den Regeln der
Mediendemokratie zu spielen.
Gelegentlich hält Lammert große Reden,
wie bei der Gedenkstunde für die Opfer
von Auschwitz. Oder zu „65 Jahre Grund-
gesetz“. Aber anders als Bundespräsident
Joachim Gauck stößt Lammert damit kei-
ne großen Debatten an. Er redet klug, aber
häufig über sein Publikum hinweg. Viele Es folgt ein Gespräch über die Welt, in Sendung ‚Dschungelcamp‘, dieses ästheti-
Deutsche wissen nicht, wer er ist. der wir leben. Es ist eine Welt, die zuneh- sche Geschwür, für eines der interessan-
Lammert empfängt in seinem Büro. Ein mend von seichter Unterhaltung dominiert testen Unterhaltungsangebote im deut-
schlanker, hochgewachsener, asketisch wir- wird und in der, wie er moniert, nicht ein- schen Fernsehen hält.“ Nach einer kurzen
kender Mann, dem man ansieht, dass er mal mehr ARD und ZDF live über wichti- Pause fügt er hinzu: „Das zeigt, zu wel-
notfalls einen ganzen Arbeitstag lang mit ge Debatten des Bundestags berichten. Er chen Verirrungen auch große Geister gele-
nur einem Apfel auskommt. Er nimmt auf sagt: „Zu den größten Enttäuschungen gentlich in der Lage sind.“
seinem Sofa Platz, die Beine schlägt er wie meines Lebens gehört, dass so ein hochin- Lammert weiß aber auch, wie „lausig“
ein Verrenkungskünstler übereinander. telligenter Mensch wie Ulrich Matthes die der Ruf des Parlaments ist. Von seinem
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Deutschland

hohen Stuhl unter dem Bundesadler sieht in dem es um die sportliche Herausforde- lässt. Er kämpft für Ernsthaftigkeit in der
Lammert Sitzungswoche für Sitzungswo- rung geht, schlagfertiger als der andere zu Politik, gegen die Trivialisierung, aber es
che, was schiefläuft im deutschen Plenar- sein, schneller, intelligenter, klüger. Lam- ist auch ein Kampf gegen die Zeit.
saal. Gerade für ihn, den Meister der erha- mert glaubt nicht, dass sich der Bundestag Lammert verlangt intellektuelles Durch-
benen Rhetorik, ist es eine Qual, wie sich mehr inszenieren müsse, um wieder wahr- haltevermögen. Die Welt soll sich auf ihn
Debatten ohne Dramatik, ohne Höhe- genommen zu werden, dass neue „Forma- zubewegen, nicht umgekehrt.
punkt dahinschleppen. Mit Verdruss beob- te“ nötig seien, die medientauglicher sind, Seit vielen Jahren gehört Lammert zu
achtet er, wie den Parlamentariern auf wie die „Prime Minister’s Question Time“ den wenigen Politikern, die nicht in Talk-
dem Gang zum Rednerpult jeglicher Esprit in Großbritannien, in der sich der britische shows gehen. Das Reden in Talkrunden
verloren geht. „Wenn da einer aus der sieb- Premierminister jede Woche einem Kreuz- hält er für schwer erträgliche Unterhal-
ten Reihe zum Rednerpult schreitet“, sagt verhör im Unterhaus stellen muss. tung, die Trivialisierung von Politik. Daran
Lammert auf seinem Sofa, „mutiert ihn al- Lammert hat andere Vorstellungen: we- möchte er sich nicht beteiligen. Er weigert
lein diese Strecke vom Parlamentarier zum niger Inszenierung, dafür mehr Spontanei- sich strikt, öffentlich über Privates zu re-
Festredner.“ Schon deshalb sei er immer tät. Man könnte auch sagen: weniger den, und beobachtet mit Skepsis, wenn
„ein Anhänger von Parlamentsdebatten ge- „Dschungelcamp“, mehr Norbert Lammert. andere Politiker ihr Privatleben inszenie-
wesen, die vom Platz aus erfolgen und Ende Februar ist er beim Schausteller- ren. Er ist, auch was das betrifft, ein Asket.
nicht vom Rednerpult.“ Es ist seine große bund Nordrhein-Westfalen in Witten zu Aber verspielt er damit nicht sein Ta-
Idee: keine Pulte, kürzere Redezeiten, Gast. Im Vorjahr hat ihm der Verband das lent? Er hätte Möglichkeiten, weit über
mehr Spontaneität. Goldene Karussellpferd verliehen, weil die den Plenarsaal hinaus Politik glaubwürdig
Mehr Spontaneität käme ihm natürlich Jury der Schausteller von Nordrhein-West- zu vertreten, durch sein Amt, aber auch
entgegen. Genauer gesagt: Es ist seine Kö- falen der Meinung war, er sei „kirmes- durch seine außergewöhnliche Sprache. Er
nigsdisziplin. Lammert ist schlagfertig, wit- könnte die Menschen dort abholen, wo sie
zig, er kann aus dem Stegreif lange, ver- heute noch bereit sind, Politik wahrzuneh-
schachtelte Sätze bauen, die er stets mit men. Aber er macht sich weitgehend un-
Bravour zu Ende bringt. Es freut ihn, wenn sichtbar für den modernen Medienbetrieb.
das Kollegen auffällt und sie das, was er Vor drei Wochen scheiterte seine Reform
kann, auch zu schätzen wissen. Wie etwa der Regierungsbefragung im Parlament, bei
Wolfgang Bosbach, das hat er sich gemerkt. der die Opposition mehr Redezeit bekom-
„Bosbach hat mir mal erzählt, er habe die men sollte und ein Mitspracherecht bei der
ganzen Jahre immer darauf geachtet, ob Auswahl der Themen. Es waren Trippel-
ich einloche“, sagte er einmal der „Welt“, schritte zu einer besseren Streitkultur. Von
„und ich hätte immer eingelocht.“ der geplanten Reform bekam die Öffent-
Gregor Gysi ist einer der wenigen im lichkeit kaum etwas mit. Merkwürdig teil-
Parlament, die dieses Talent mit ihm teilen nahmslos gab er danach zu Protokoll: „Ich
und die er in seiner Lieblingsdisziplin für finde es schade, dass sich der Ältestenrat
ebenbürtig hält. Wenn Gysi im Bundestag nicht auf eine Reform der Regierungsbe-
spricht, ermahnt ihn Lammert gern noch fragung verständigen konnte.“
vor Ablauf der Redezeit, dass er die Uhr Schade? Mehr nicht?
im Blick haben solle, so als wolle er kei- Nachdem er die Laudatio bei den Schau-
nesfalls dessen Replik und das kleine Wort- stellern gehalten hat, sitzt er in seinem
gefecht verpassen, welches sich daraufhin Wortakrobaten Gysi, Lammert grauen Dienstwagen und blickt zurück auf
regelmäßig anschließt. Er ist, da oben auf Schneller, intelligenter, klüger den Abend. Er hat sich prächtig amüsiert,
seinem Podium, wie ein Tennisspieler, der was weniger an seinen gutlaunigen Gast-
andauernd nur Asse schlägt. Aber wenn affin“. Nun soll er die Laudatio auf seine gebern lag als an seiner eigenen Rede.
Gysi da ist, kommt auch mal ein Return. Nachfolgerin halten. Sie war eine humorvolle Persiflage auf
Von diesen Scharmützeln mit Gysi ste- Mit Kirmes konnte Lammert schon als die Verleihung des Goldenen Karussell-
hen Zusammenschnitte auf YouTube im Kind nichts anfangen. Womit er das Gol- pferds, eine Rede mit doppeltem Boden.
Netz. Es geht immer darum, dass Gysis dene Karussellpferd verdient habe, scherzt „Das Jahr fängt mit zwei kulturpolitischen
Redezeit abläuft. Lammert sagt dann zum er, wisse er nicht. Er genießt es hingebungs- Großereignissen an“, so hatte er seine
Beispiel: „Herr Gysi, leider gelten auch voll, die Spaßbremse zu spielen. Rede begonnen, „das sind die Oscars in
für prophetische Reden die profanen Re- Neben ihm sitzt der Vorsitzende der Hollywood und die Verleihung des Golde-
gelungen unserer Geschäftsordnung.“ Als Schausteller Nordrhein-Westfalens, der ihm nen Karussellpferds in Nordrhein-Westfa-
Gysi dem Bundestagspräsidenten eine davon erzählt, dass er die Kirmes „Ü-50- len.“ Am Ende seiner Rede wusste man
FOTOS: 2014 OLIVER MARK / AGENTUR FOCUS (L.); ULLSTEIN BILD (R.)

neue Uhr schenken will, weil er das Gefühl tauglich“ machen will. Er nimmt den Jah- nicht, welche von beiden Veranstaltungen
hat, seine Redezeit laufe schneller ab als resbericht zur Hand, zieht ein aufklapp- er alberner findet: den Kitsch in Holly-
die anderer Redner, sagt Lammert: „Also, bares Poster aus der Mitte, auf dem die Of- wood oder die Zeremonie im Saalbau von
Herr Kollege Gysi, falls Sie den verwege- fiziellen des Verbandes abgebildet sind, Witten. Seine Gastgeber jubelten ihm
nen Gedanken mit der Uhr weiterverfol- und sagt: „Sehen Sie, wir haben das mal trotzdem zu. Als er die Bühne verließ, be-
gen wollen, bitte ich Sie herzlich darum, wie der ‚Playboy‘ gemacht.“ kam er stehende Ovationen.
die Wertgrenzen einzuhalten, die mich Alle lachen. Lammert lacht nicht. Mit Hat ihn das nicht überrascht, dass seine
zwingen würden, zunächst beim Bundes- einem Witz, der so überhaupt nicht raffi- Gastgeber geklatscht haben, obwohl er sie
tagspräsidenten die Genehmigung einzu- niert ist, braucht man ihm gar nicht zu den ganzen Abend auf den Arm nahm?
holen.“ Er liebt diese Verweise auf den bü- kommen. Da sagt er nur: „Ich glaube, ihr Für einen Moment hält er inne, als
rokratischen Kleinkram des parlamentari- habt das besser gemacht als der ‚Playboy‘.“ lauschte er seiner Rede noch einmal nach.
schen Alltags. Er macht ihn groß. Ein biertrinkender Volkstribun will er Dann sagt er: „Ironie verstehen wenige
Es ist nur ein Spiel, ein Running Gag keinesfalls sein, der sich, um Stimmen zu Menschen.“ Er sagt es ohne Häme. Ohne
am Rande des parlamentarischen Betriebs, fangen, zu jeder Albernheit hinreißen Bedauern. Er sagt es als Fakt. 

DER SPIEGEL 13 / 2015 41


Deutschland

Pickerl des Zorns


Verkehr Die Maut für Ausländer wird kaum Geld einbringen, dafür stößt sie die
Nachbarländer vor den Kopf und gebiert ein bürokratisches Ungetüm. Dennoch wird sie
im Bundestag verabschiedet werden – weil die CSU die Kanzlerin austrickste.

D
er Alpenhof in Murnau ist ein schö- Irgendwann kommt die Runde auf die sel wacht die EU-Kommission über die
ner Ort, um die Gedanken schwei- Pkw-Maut zu sprechen, sie ist ein Ever- Gleichbehandlung ihrer Bürger.
fen zu lassen. Von der Terrasse aus green im CSU-Programm. Schon in den Das Ressentiment muss also verpackt
blickt man auf die Ammergauer Alpen, an Achtzigerjahren hat sich die Partei da- werden, es braucht eine Tarnung. Im Al-
klaren Tagen wirkt die Zugspitze zum rüber aufgeregt, dass die Bayern auf der penhof überlegt Dobrindt mit seinen Leu-
Greifen nahe. Anfang des vergangenen Fahrt an die Adria an italienischen ten hin und her. Sie kommen auf die
Jahrhunderts suchte Wassily Kandinsky Mautstellen zahlen müssen, die Italiener Idee, die Kraftfahrzeugsteuer für jeden
von der Künstlergruppe Blauer Reiter im aber freie Fahrt auf deutschen Auto- Deutschen genau um den Betrag zu sen-
Murnauer Moos Inspiration. bahnen haben. Der damalige stellvertre- ken, den die Maut für ihn kosten soll. Das
Im Frühjahr 2013 macht sich Alexander tende CSU-Landesgruppenchef Dionys führt dazu, dass die Deutschen zwar eine
Dobrindt nach Murnau auf, um übers Jobst prägte den schönen Satz: „Spendier- Vignette kaufen müssen, aber niemand
Wochenende Eingebung zu suchen. Der hosen sind nicht unsere Nationaltracht.“ mehr belastet wird. „So könnte es gehen“,
damalige CSU-Generalsekretär hat seine Es ist so ein Spruch, wie er Dobrindt ge- sagt Dobrindt. Der Generalsekretär findet
engsten Mitarbeiter dabei, darunter fällt. auch einen Namen für seinen Wahlkampf-
Hans Michael Strepp, Chef des CSU-Pla- Inzwischen verlangen nicht nur die Ita- hit. Er ist nicht sonderlich originell, dafür
nungsstabs, und Bernhard Schwab, damals liener eine Maut, sondern auch die Öster- bierzelttauglich: „Ausländermaut“.
Hauptgeschäftsführer der Partei. reicher, viele Bayern ärgern sich darüber, 
Vor den Männern liegt eine schwere Zeit. dass sie für einen kurzen Urlaub im Nach- Die CSU hat in den vergangenen Jahrzehn-
Bei der Landtagswahl 2008 hat die CSU barland ein Pickerl lösen müssen. Nichts ten die Republik schon mit vielen Ab-
die absolute Mehrheit verloren, der Nim- ist einfacher, als die Wut gegen das kleine sonderlichkeiten überrascht. Franz Josef
bus der Unbesiegbarkeit ist dahin. Die Fra- Nachbarland zu schüren. Es gehört in Strauß bekämpfte die Entspannungspolitik
ge ist, wie man die Partei bis zum Herbst Bayern ohnehin zum guten Ton, mit einer Willy Brandts mit einer Vehemenz, als
wieder zu Kräften bringt, wenn fast gleich- gewissen Herablassung auf Österreich zu stünde zu befürchten, die Republik würde
zeitig in Bayern und im Bund gewählt wird. schauen. Dobrindt, so viel muss man ihm zu einem Satelliten Moskaus. Derselbe
Was fehlt, ist eine Idee. Dobrindt lassen, hat ein gutes Sensorium für das Strauß verlängerte dann die Existenz des
braucht einen Slogan, der den Bauch der Empfinden der Volksseele. real existierenden Sozialismus, indem er
Bayern anspricht. Parteichef Horst See- Das Problem mit der Maut ist nur, dass der DDR Mitte der Achtzigerjahre einen
hofer liebäugelt mit dem Gedanken, Volks- sie auch Deutsche treffen würde; Dobrindt Milliardenkredit vermittelte.
entscheide im Bund einzuführen. Doch der ist klar, dass es gegen EU-Recht verstieße, Der weltpolitische Anspruch der CSU
richtige Kracher ist das nicht. Für mehr di- allein Ausländern eine Vignette aufzu- ist im Laufe der Jahre geschrumpft, aber
rekte Demokratie sind auch die Grünen, zwingen. Es ist nicht mehr so einfach, mit nicht der Wille, in Berlin auch Unsinn
damit fängt das Problem schon an. Ressentiments Politik zu machen. In Brüs- durchzusetzen, wenn es zu Hause in Bay-
ern bei den Wahlen hilft. Wohl noch nie
in der Geschichte der Bundesrepublik ist
ein Gesetz vorbereitet worden, das so we-
nig mit den Bedürfnissen des Landes zu
tun hat und so viel mit den Nöten einer
Regionalpartei.
Die Maut ist ein Vorhaben, das Ressenti-
ments in Gesetzesform gießt. Wenn Union
und SPD im Bundestag die Hand dafür he-
ben, ist es der Triumph einer kruden Koa-
litionslogik über die politische Vernunft.
Schon der erste Absatz des Entwurfs ist
eine Täuschung: „Mit einer Ausweitung
FOTO: HC PLAMBECK (R.); KARIKATUR: KLAUS STUTTMANN (L.)

der Nutzerfinanzierung können größere


Unabhängigkeit vom Bundeshaushalt und
mehr Planungssicherheit für die Finanzie-
rung von dringend erforderlichen Verkehrs-
infrastrukturinvestitionen erlangt werden“,
heißt es dort.
In Wahrheit wird die Maut pro Jahr al-
lenfalls 500 Millionen Euro in die Bundes-
kasse spülen, damit können nicht einmal
50 Kilometer Autobahn gebaut werden.
Aber selbst diese mickrige Summe ist nicht
mehr als ein vages Versprechen; Bundes-
42 DER SPIEGEL 13 / 2015
finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU)
befürchtete zwischendurch sogar, die Kos-
ten der Bürokratie könnten am Ende hö-
her sein als die Einnahmen der Maut.
Die Geschichte der Maut ist aber auch
die Geschichte eines Machtspiels. Sie zeigt,
wie Seehofer einen ungeliebten Minister
demontiert und am Ende sogar die Kanz-
lerin übertölpelt.

Dobrindts Idee, mit der „Ausländermaut“
auf Stimmenfang zu gehen, kommt bei sei-
nem Chef Seehofer gut an, zumal Do-
brindt sie von Demoskopen testen ließ.
Das Ergebnis: Weit mehr als 80 Prozent
der Bayern sind für die Forderung, die
Nachbarn zur Kasse zu bitten.
Am 19. Juli 2013 verabschiedet die CSU
ihr Regierungsprogramm, und darin steht:
„Fast alle unsere Nachbarländer in Europa
erheben eine Pkw-Maut. Umgekehrt müssen
ausländische Autofahrer für die Benutzung
unserer Autobahnen nichts bezahlen. Diesen
unfairen Zustand wollen wir ändern.“
Über den „Bayernplan“ entscheidet die
CSU ohne die CDU. Gerade das reizt See-
hofer. Der CSU-Chef hat nach einem The-
ma gesucht, mit dem er sich von Angela
Merkel abheben kann, das Wort Streit ist
die Würze im Wahlkampf der CSU. See-
hofer kann sich so als Gigant aufspielen,
der es mit den Großen in Berlin aufnimmt.
„Wir brauchen die Maut. Und wie man et-
was durchsetzt in Berlin, das könnt ihr ge-
trost mir überlassen, ich habe den Mut und
die Geduld“, sagt er im Juli 2013 auf einen
kleinen Parteitag der CSU in München.
Politik ist für Seehofer Reduktion, das
hat er von Edmund Stoiber gelernt. Seine
Sprache mag breitbeinig sein, aber er weiß
um seinen begrenzten Einfluss in Berlin.
Er ist seit Oktober 2008 CSU-Chef, und in
der schwarz-gelben Koalition hatte er fast
alle großen Themen der Kanzlerin über-
lassen, vor allem die Finanzkrise und das
Griechenlanddrama.
Er beharrte aber darauf, dass die CSU
das Betreuungsgeld bekommt, obwohl sich
Merkel anfangs sträubte. Dass er sich doch
durchsetzte, machte die Sache umso schö-
ner. Das Betreuungsgeld war eine Trophäe,
die er in München vorzeigen konnte.
Die Maut soll die nächste Trophäe wer-
den. Fast scheint es, als hätte die CSU bei
Merkel ein Quatschprojekt pro Legislatur-
periode gut. Seehofers Problem ist nur,
dass die eigenen Truppen nicht richtig ste-
hen. Ausgerechnet der damalige CSU-Ver-
kehrsminister in Berlin, Peter Ramsauer,
lässt bei jeder Gelegenheit durchblicken,
dass er von einer Maut, die nur Ausländer
zahlen müssen, eigentlich nichts hält. Rams-
auer will mehr Geld für die deutschen Stra-
ßen. Wie es eingenommen wird, ist ihm
egal. Einmal, auf einem Hubschrauberflug
mit Merkel, sagt er zur Kanzlerin: „Entwe-
CSU-Politiker Dobrindt, Seehofer: Die Kanzlerin übertölpelt der, ich bekomme mehr Geld, oder wir
DER SPIEGEL 13 / 2015 43
Im Nachhinein sieht es fast so aus, alssche Lotsenwesen, er ist Herr über den
hätte Seehofer sich auf das Treffen im deutschen Bußgeldkatalog. Aber als Mi-
Kanzleramt nur deshalb eingelassen, um nister hat er nur eine Mission: Die Maut
Ramsauer zu demontieren. Danach jeden- muss Gesetz werden, auch gegen den Wil-
falls irrt der Minister wie ein geköpftes len der Kanzlerin.
Huhn durch Berlin. Er müsste verhandeln, Dobrindt nimmt sich der Sache wie ei-
aber Seehofer hat ihm das Vertrauen ent- ner kniffligen mathematischen Formel an.
zogen. In der Vorstandssitzung der CSU Politik war für Dobrindt nie eine Frage
am 18. November 2013 macht Ramsauer von Leidenschaften, ihm geht es ums Ge-
einen letzten verzweifelten Versuch, seinewinnen. Als er noch Generalsekretär war,
Ehre zu retten. Er hält einen Packen Pa- startete er eine Kampagne gegen die Grü-
pier in die Höhe. „Hier ist das fertige Kon-
nen, er nannte Daniel Cohn-Bendit einen
zept, das mit der EU-Kommission ausver- „widerlichen Pädophilen“ und erklärte den
handelt ist“, sagt Ramsauer. Seehofer schwulen Bundestagsabgeordneten Volker
raunzt ihn an: „Nein, es gibt kein Kon- Beck wahrheitswidrig zum „Vorsitzenden
zept.“ der Pädophilen-AG bei den Grünen“. Do-
Am 25. November beginnt die entschei- brindt hat nichts gegen die Grünen, aber
CSU-Mann Ramsauer dende letzte Sitzung der Koalitionsver- er befürchtete, dass sie im Superwahljahr
Wie ein geköpftes Huhn handlungen, sie zieht sich bis tief in die2013 der CSU bürgerliche Wähler abspens-
Nacht. Ramsauer ist nur noch ein Schatten tig machen könnten. Also schob er die Grü-
müssen eine Maut einführen.“ Für Merkel seiner selbst, das Wort führen nun See- nen in die Schmuddelecke.
sind die Worte Ramsauers ein Schimmer hofer und Dobrindt, der Erfinder der Auch die „Ausländermaut“ sieht Do-
der Hoffnung. Kann sie Seehofer doch „Ausländermaut“. Merkel besteht darauf, brindt ganz pragmatisch. Er hat sie als
noch zur Vernunft bringen? dass kein deutscher Autofahrer mehr be- Wahlkampfschlager erfunden, nun muss
Doch der Widerstand Ramsauers passt lastet wird. Außerdem müsse die Maut mit sie umgesetzt werden. Es geht um die
Seehofer ins Konzept. Die Maut ist für ihn dem Europarecht vereinbar sein. Sie Glaubwürdigkeit der CSU, nicht um die Sa-
auch ein Mittel, den ungeliebten Ramsauer glaubt, Seehofer die Quadratur des Kreisesche selbst. Dobrindt macht sich an die Aus-
endlich kaltzustellen. Im Herbst 2009 hat aufgetragen zu haben. In der Koalitions- arbeitung des Gesetzes, seine Staatssekre-
der CSU-Chef Ramsauer nur widerwillig runde lästern sie über den Grabstein für täre Michael Odenwald und Rainer Bomba
zum Verkehrsminister auserkoren. Seehofer die Maut. Doch Seehofer schlägt mit der sind damit befasst und der Abteilungsleiter
ist genervt von dessen operettenhaften Ge- Hand auf den Tisch und sagt: „So machen für Straßenbau, Stefan Krause. Dobrindt
spreiztheit. Wenn Seehofer vom „Zar Pe- wir’s.“ Er weiß ja: Dobrindt hat eine Idee,
lässt Vorlagen gleich nach Besprechungen
ter“ spricht, trieft das nur so von Ironie. wie es gehen könnte. wieder einsammeln, aus Angst, sein Pro-
Im Herbst 2013 erzählt Seehofer, dass  jekt werde ihm durch Indiskretionen ka-

FOTO: WOLFGANG KUMM / DPA (O. L.)


Dobrindt als Minister in der nächsten Bun- Am 17. Dezember 2013 wird Alexander putt gemacht. „So ein Ministerium ist ja
desregierung „gesetzt“ sei. Für Ramsauer Dobrindt im Bundestag als neuer Verkehrs- wie ein Schweizer Käse“, sagt er einmal.
findet er kaum ein lobendes Wort. Als die minister vereidigt. Er ist nun der Chef Dobrindt weiß, dass fast alle ihn schei-
CSU am 15. September 2013 die Landtags- eines der größten Ministerien des Landes, tern sehen wollen, die CDU, die SPD so-
wahl gewinnt und auch bei der Bundes- ihm unterstehen neun Abteilungen mit wieso, aber auch die Kanzlerin. Wichtige
tagswahl eine Woche später ein sehr or- 1215 Beschäftigen. Dobrindt ist zuständig Projekte des Koalitionsvertrags sind inner-
dentliches Ergebnis holt, nimmt Rams- für Seeunfalluntersuchungen und das deut- halb weniger Monate umgesetzt, die Rente
auers Schicksal seinen Lauf. Der Minister
hatte zwar widerwillig ein Mautkonzept
entwickelt, bei dem die Jahresvignette Maut aus Prinzip Das Gerangel um die Autobahngebühr
100 Euro kosten sollte. Gleichzeitig wäre

P O R S I E B E N / D PA
die Kraftfahrzeugsteuer pauschal gesun-
ken. Das bedeutet aber: Zumindest einige
deutsche Autofahrer hätten am Ende drauf-
gezahlt.
Am 23. Oktober 2013 beginnen in Berlin
die Koalitionsverhandlungen zwischen Uni-
on und SPD. Ramsauer glaubt immer noch,
mit seinem Vorschlag durchzukommen.
Am 6. November reist er nach Brüssel, um
mit dem damaligen Verkehrskommissar
Siim Kallas eine Formulierung für den Koa-
litionsvertrag abzusprechen. Zurück in
Berlin, trifft sich Ramsauer mit Merkel und
Seehofer im Kanzleramt. Er stellt das mit Ausriss aus der „Bild am Sonntag“ vom 11. August 2013 Fernsehduell Merkel/Steinbrück am 1. September 2013
Kallas abgestimmte Konzept vor. Als klar
wird, dass dieses teilweise zu einer Mehr- August 2013 September 2013
Im Vorfeld der Bundestagswahl 2013 erklärt Bundeskanzlerin Angela Merkel bezieht im
belastung deutscher Autofahrer führt, bre- CSU-Chef Horst Seehofer die Pkw-Maut zu TV-Duell mit ihrem Herausforderer Peer
chen Seehofer und Merkel das Gespräch einer der zentralen Forderungen seiner Partei: Steinbrück (SPD) klar Stellung zu den
ab. Von solchen Plänen wollen sie nichts „Ich unterschreibe als CSU-Vorsitzender nach Mautplänen der CSU:
hören. Später wird Seehofer sagen, dies sei der Bundestagswahl keinen Koalitionsvertrag, „Mit mir wird es keine Pkw-Maut geben.“
der Moment gewesen, in dem Ramsauer in dem die Einführung der Pkw-Maut für
sein Ministeramt verspielt habe. ausländische Autofahrer nicht drinsteht.“
44 DER SPIEGEL 13 / 2015
Deutschland

mit 63, der Mindestlohn, die Mütterrente, und zwar den schwierigsten Teil: die Kom- Seehofer gibt sich bockig. Er hat gewon-
nur bei der Maut geht nichts voran. pensation durch die Kraftfahrzeugsteuer. nen, nun will er seinen Sieg auskosten. Er
Am 4. Juli 2014 sitzt Dobrindt in seinem Schäuble hält die Maut für einen riesi- mag es, wenn die Kanzlerin sich klein ma-
Büro an der Berliner Invalidenstraße. Es gen Blödsinn. Einmal grummelt er im klei- chen muss. „Ich komme nur, wenn du
ist später Nachmittag, die Straßen sind nen Kreis: „Ich muss ja nicht jeden Scheiß- sagst, dass es Sinn macht“, sagt Seehofer.
menschenleer, im Fernsehen wird bald das dreck mitmachen, nur weil wir in einer „Es macht Sinn“, lockt Merkel. Am Ende
WM-Viertelfinale zwischen Deutschland Koalition mit der CSU sind.“ Schäuble ist fühlt sich Seehofer doch geschmeichelt. Er
und Frankreich übertragen. In drei Tagen nicht gegen eine Maut, aber wenn, soll sie macht sich auf den Weg nach Berlin.
will Dobrindt sein Konzept der Öffent- auch etwas einbringen. Für ein unausge- Beim Treffen im Kanzleramt sehen sich
lichkeit vorstellen. Er spricht jetzt nicht gorenes Konzept will er sich nicht mit den Seehofer und Schäuble erst mal schwei-
mehr von „Ausländermaut“, sondern von Nachbarn in Europa anlegen. gend an. Es ist ein Treffen der Superegos,
einer „Infrastrukturabgabe“. Das klingt Im Sommer 2014 lässt er seine Beamten keiner will sich entschuldigen, keiner einen
feiner. eine Expertise anfertigen, die das Zeug Fehler eingestehen. Die Sache ist zäh, aber
Dobrindt wirkt wie ein Schüler, der wi- hat, die Maut zu kippen. Die Gebühr brin- sie einigen sich dann doch auf die Formel,
der Erwarten eine Aufgabe gelöst hat. Er ge dem Bundeshaushalt deutlich weniger dass niemand etwas davon habe, wenn sich
zieht sein Konzept aus einem Ordner, es als die geplante halbe Milliarde Euro. Es die Koalition öffentlich zerzaust.
umfasst elf Seiten. Die Maut ist nach Hub- könne sogar sein, dass die Bürokratiekos- Dobrindt ist dabei, nun darf er vortra-
raum und Umweltklassen gestaffelt, dafür ten über den Einnahmen lägen. Eine Maut, gen. Er stellt in Aussicht, dass er die Maut
bekommt jeder Autofahrer eine Kompen- bei der am Ende der Staat draufzahlt – das nicht auf allen Straßen einführen wird,
sation über die Kraftfahrzeugsteuer. Do- leuchtet nicht mal im Bierzelt ein. sondern nur auf Autobahnen und Bundes-
brindt fährt mit dem Finger den Zahlen- Als der Vermerk an die Öffentlichkeit straßen. Damit nimmt er die Sorge vieler
tabellen entlang, am Ende steht immer durchsickert, ist Seehofer außer sich. Intern CDU-Leute auf, sie würde das Geschäft
eine Null. Kein deutscher Autofahrer muss spricht er von Sabotage, was Schäuble wü- mit dem Grenzverkehr zum Erliegen brin-
mehr zahlen. Dobrindt freut sich. Er tend zurückweist. Merkel muss sich nun gen. Schäuble wiederum verspricht, die
meint, seine Mission erfüllt zu haben. entscheiden. Wenn sie sich auf die Seite Maut im Gesetzgebungsverfahren nicht
Aber ein paar Tage später ist nur davon Schäubles schlägt, hätte sie zwar das unse- mehr zu hintertreiben.
die Rede, wie kompliziert das alles sei. In lige Gesetz verhindert; aber Seehofer könn- Ende Oktober 2014 stellt Dobrindt sei-
der Opposition wird gelästert, die CSU lei- te im Gegenzug die ganze Arbeit der Koa- nen Entwurf vor, er trägt, wie jedes or-
de unter „Maut- und Klauenseuche“. Do- lition blockieren oder das Bündnis gleich dentliche deutsche Regelwerk, einen sper-
brindt stört das alles nicht. Seine Rechnung ganz platzen lassen. Das Wort Koalitions- rigen Titel: „Gesetz zur Einführung einer
geht so: Je mehr sich die anderen Parteien bruch weht in diesen Sommertagen durch Infrastrukturabgabe für die Benutzung von
und die Zeitungen über die Maut aufregen, das Regierungsviertel. Merkel lenkt ein. Bundesfernstraßen.“
desto mehr Zustimmung gibt es im baye- „Um es ganz klar zu sagen“, sagt sie am 
rischen Bierzelt. Solange Merkel keinen 1. September 2014, „die Maut steht im Koa- Es ist ein Gesetz, wie es nur in Deutsch-
Widerstand leistet, ist alles in Ordnung. litionsvertrag und wird kommen.“ Es ist land zustande kommen kann: eine Mi-
 eine Kapitulation. Merkel hat gezockt, schung aus bürokratischer Präzision und
Merkel kann nicht offen gegen das Kon- doch am Ende hatte Seehofer das bessere politischer Verstiegenheit. Offiziell sind
zept opponieren, das würde dem Koali- Blatt. Jetzt geht es nur noch darum, den Autobahnen und Bundesstraßen maut-
tionsvertrag widersprechen. Aber sie hat wütenden Schäuble einzufangen. Merkel pflichtig, aber kontrolliert wird nur auf Au-
Finanzminister Schäuble auf ihrer Seite. meldet sich bei Seehofer und schlägt ein tobahnen, und zwar von Beamten des Bun-
Der muss das Mautgesetz mitschreiben, Versöhnungstreffen vor. desamts für Güterverkehr, das eigens dafür
R . PAG A NEL LI/ DD P I MAG E S

C H R I ST I A N T H I E L

J. B Ü T T N E R / D PA

Dobrindt, Seehofer, Merkel bei Koalitionsverhandlungen Schäuble, Dobrindt am 10. September 2014 im Bundestag Mautpflichtige Straße in Rostock
November 2013 September 2014 Dezember 2014
Im Zuge der Koalitionsverhandlungen weicht Der SPIEGEL zitiert aus einem internen Papier Nach monatelangem Streit stimmt das Kabinett
Merkel ihre Position auf. Sie habe „eine Pkw- des Finanzministeriums, wonach die Maut dem von Verkehrsminister Alexander Dobrindt
Maut, die inländische Autofahrer zusätzlich „im Ergebnis erheblich weniger als 600 Mio. überarbeiteten Konzept zu, einem komplizierten
belastet, immer abgelehnt“, so ihr Sprecher Euro pro Jahr“ für den Straßenbau abwirft. Regelwerk mit abgestuften Tarifen, Ausnahme-
Steffen Seibert. Im Koalitionsvertrag verein- Außerdem seien Strafzahlungen an die EU und Sonderregelungen. Unklar ist weiterhin, ob
baren Union und SPD die Einführung einer zu befürchten. Das Papier heizt den die Pläne mit EU-Recht vereinbar sind und wie
EU-konformen Maut im Jahr 2014. Koalitionsstreit um die Maut weiter an. hoch die zu erwartenden Einnahmen sind.

DER SPIEGEL 13 / 2015 45


Deutschland

Kanzlerin Merkel: „Um es klar zu sagen, die Maut wird kommen“

287 Leute einstellen darf. Der Zoll, den destag eine große Mehrheit finden. Mög- Köhler bekanntermaßen gestoppt, weil
Dobrindt eigentlich dafür vorgesehen hat- lich, dass ein paar Abgeordnete der Koali- sie verfassungswidrig war“, sagt der
te, lehnte die Aufgabe dankend ab. Jedes tion dem Verstand den Vortritt lassen und Fraktionschef der Grünen im Bundestag,
deutsche Auto ist zwar mautpflichtig, aber mit Nein stimmen. Aber Union und SPD Anton Hofreiter. Der Europarechtler Franz
wenn der Halter nachweisen kann, dass er verfügen im Parlament über 504 von 631 Mayer erklärt, das Grundgesetz sei europa-
nur Landstraßen benutzt, kann er die Maut Stimmen. Auf ein paar Abweichler kommt freundlich. „Damit ist europarechtswidrige
zurückverlangen. Allein das wird die Be- es nicht an. Gesetzgebung zugleich grundgesetzwidri-
hörden in viele Streitereien verwickeln. Kann sein, dass die EU am Ende die ge Gesetzgebung. Der Bundespräsident
Weil die Maut an die Kraftfahrzeug- Maut stoppt, die neue Verkehrskommis- hat das bei seiner Prüfung von Gesetzes-
steuer gebunden ist, wird sie für Klein- sarin Violeta Bulc hat die deutschen Pläne beschlüssen zu berücksichtigen.“
wagen sehr günstig. Das wiederum führt vorsichtshalber schon als europarechts- Aber anders als Köhler hat Gauck in
zum absurden Ergebnis, dass eine Jahres- widrig bezeichnet. Wenn sie Klage erhebt, seiner bisherigen Amtszeit noch kein Ge-
vignette für einen kleinen VW Polo mit wandert die Maut vor den Europäischen setz gestoppt. Und wenn er noch einmal
21,60 Euro billiger ist als die Zwei-Monats- Gerichtshof. Darauf setzt auch Nieder- gewählt werden will, ist es wenig ratsam,
Vignette, die pauschal 22 Euro kostet. sachsens Ministerpräsident Stephan Weil sich mit der CSU anzulegen.
Die Maut ist zwar ein Milliardenge- (SPD). „Wenn sich der Bund über die viel- 
schäft, allerdings nur auf dem Papier. Ein- stimmige Kritik hinwegsetzt, wird die Zu- „Einen Ramazzotti würd ich nehmen“, sagt
nahmen generieren allein Ausländer, aber kunft des Mautgesetzes später von dem Dobrindt. Montagabend vergangener Wo-
davon müssen die Bürokratiekosten in Europäischen Gerichtshof geklärt werden che, es ist kurz vor zwölf, aber Dobrindt
Höhe von 200 Millionen Euro beglichen müssen“, sagt er. Bis dahin herrsche Unsi- mag noch nicht nach Hause gehen. Er hat
werden. Unter dem Strich bleiben dem Fis- cherheit. „Jedes Amtsgericht könnte letzt- fast drei Stunden lang über sein großes
kus pro Jahr 500 Millionen Euro. So steht lich Bußgeldbescheide kippen, wenn es Werk gesprochen. Er redet wie ein Feld-
es zumindest in Dobrindts Entwurf. überzeugt ist, dass das Pkw-Mautgesetz herr nach einer Schlacht, beglückt, ein we-
Aber stimmt das auch? Der Münchner gegen Europarecht verstößt.“ nig stolz. „Ich bin ja auch deshalb Minister,
Verkehrswissenschaftler Ralf Ratzenberger Aber die Mühlen der Luxembuger Justiz weil ich gute Nerven habe,“ sagt er.
rechnete im Bundestag vor, dass Dobrindt mahlen in der Regel langsam, ein Urteil Haben Sie mit der Maut dem Land ei-
bestenfalls 340 Millionen Euro einnehmen wird es wohl erst nach der Bundestagswahl nen Dienst erwiesen, Herr Dobrindt?
wird. Ratzenberger geht davon aus, dass 2017 geben. Was kümmert das Dobrindt, Dobrindt lehnt sich zurück in seinen
FOTO: MARC-STEFFEN UNGER / MS-UNGER.DE

sich die mehr als 150 Millionen Ein- und der nur bis zur nächsten Wahl denkt? Stuhl, er überlegt. Er sprach den ganzen
Durchreisen von Ausländern nicht auf Die Hoffnungen der Mautgegner richten Abend hindurch über Wahlkämpfe, das
16 Millionen unterschiedliche Autos ver- sich deshalb auf Joachim Gauck. Der Bun- Bauchgefühl der Bayern und die Kabalen
teilen, sondern nur auf knapp 7 Millionen. despräsident kann sich weigern, ein Gesetz in Berlin. Es waren die Dinge, die ihn
Deswegen würden nicht wie von Dobrindt zu unterschreiben, wenn es offensichtlich wirklich interessieren. Nun ist er ein we-
erwartet 24 Millionen Vignetten verkauft, verfassungswidrig ist. „Präsident Gauck nig verdutzt. „Die Gesellschaft ändert sich
sondern nur 9 Millionen. muss die Maut mindestens genauso gründ- durch andere Dinge, nicht durch die
Es ist, bei Lichte betrachtet, ein großer lich prüfen wie Horst Köhler die Priva- Maut“, sagt Dobrindt.
Irrsinn. Dennoch wird die Maut im Bun- tisierung der Flugsicherung. Diese hat Sven Böll, Peter Müller, René Pfister

46 DER SPIEGEL 13 / 2015


Minister Schmid Ministerpräsident Kretschmann*

Zwar regieren Grüne und Rote das Bun- Damals war die Rede von einer „Partner-

Der desland seit 2011 gemeinsam. Doch


Schmid, immerhin Finanz- und Wirt-
schaftsminister eines Hightech-Giganten
schaft auf Augenhöhe“. Wäre nicht zwei
Wochen vor der Wahl im fernen Japan ein
Atomkraftwerk havariert, wäre die Ge-

Juniorchef namens Baden-Württemberg, wird vor al-


lem als Vize wahrgenommen, als zweiter
Mann hinter dem ersten grünen Minister-
schichte wohl eine andere: Schmid, der
jüngste Ministerpräsident Deutschlands –
noch früher ins Amt gelangt als seinerzeit
Baden-Württemberg Nils Schmid präsidenten Deutschlands. Helmut Kohl in Rheinland-Pfalz –, be-
Dabei hat Schmid die SPD im Südwes- kannt als „der Kennedy vom Neckar“, wie
verkörpert die Nöte kleiner ten hinter sich vereint. Am vergangenen Parteifreunde ihn nur halb ironisch nen-
Koalitionspartner: Neben dem Samstag wählten ihn die Sozialdemo- nen. Mit einer türkischstämmigen Ehefrau,
kraten auf einem Parteitag mit mehr als mit einem Einser-Abitur, der Englisch und
Volksliebling Winfried Kretsch- 93 Prozent der Stimmen erneut zum Spit- Französisch fließend spricht, dazu ein biss-
mann verblasst das SPD-Talent. zenkandidaten. Schmid hielt eine kämpfe- chen Türkisch und Russisch. Aber den
rische Rede, er sagte: „Baden-Württem- Platz in der Geschichte bekam er nicht.

J
eden Dienstag, Punkt zwölf, beginnt berg ist bei der SPD in guten Händen.“ Stattdessen hat sich das Bild vom natür-
am Stuttgarter Schlossplatz ein grünes Ob die Wähler seine Arbeit bei der lichen Vize verfestigt. Es ist etwas hängen
Hochamt. In einem Nebengebäude Landtagswahl in einem Jahr honorieren, geblieben vom „kleinen Nils“, wie ihn die
des Landtags beantwortet Winfried ist indes fraglich. Kretschmann schwebt FDP schon früh nannte.
Kretschmann die Fragen der Presse, meis- mit Zustimmungsraten von 70 Prozent Schmid sitzt seit 1997 im Landtag. In
tens flankiert von einem Minister. über den Parteien; im jüngsten Politik- den Koalitionsverhandlungen holte er für
Der Landesvater hat viele Fans unter barometer kam er auf Platz vier der be- seine Partei die Schlüsselressorts. Es war
den Journalisten, er kann hier nicht viel liebtesten deutschen Politiker. Schmids Idee, den Wutbürger-Streit um
falsch machen. Oft lässt er seine Nebensit- Die Landes-SPD hat dasselbe Problem Stuttgart 21 durch eine landesweite Volks-
zer reden und blickt listig über den Rand wie die Bundes-SPD: Sie ist nur der kleine abstimmung zu entschärfen. Doch der Er-
seiner Brille. Wenn er keine Antwort hat – Koalitionspartner. „Es gibt einen Aufmerk- folg wurde vor allem dem Ministerpräsi-
oder haben will –, sagt er: „Das weiß ich samkeitsnachteil für die SPD, im Bund wie denten angerechnet, der fortan darauf ver-
nicht.“ Wenn ihm ein Artikel nicht gepasst in unserem Bundesland, weil wir nicht die weisen konnte, dass das Volk in der Sache
hat, spöttelt oder poltert er. Die Runde Regierungschefs stellen“, sagt Schmid im gesprochen habe.
lacht dann oder schweigt betreten. ICE von Stuttgart nach Mannheim. Die „Kretschmann wurde als großer Demo-
Anfang März durfte Nils Schmid, 41, mit Stadt am Rhein ist die einzige rote Hoch- krat gesehen“, sagt der SPD-Mann. „Bei
aufs Podium. Der Ministerpräsident erteil- burg in Baden-Württemberg. Schmid be- mir hieß es, dass der Schmid recht gehabt
te ihm das Wort, es sollte um den Nach- sucht sie auf seiner „Tour de Handwerk“, hat.“
tragshaushalt und Wirtschaftsförderung ge- die ihn zu Mittelständlern führt. Schmid, Sohn einer Lehrerin und eines
hen. Schmid sprach über „Deckungsbei- Die SPD halte zwar, was sie verspreche, Zollbeamten aus dem schwäbischen Nür-
FOTOS: LICHTGUT / IMAGO (L.); FELIX KÄSTLE / DPA (R.)

träge“ und die „Konnexitätsklausel der „tapfer und redlich“, doch davon profitier- tingen, promovierte über „Staatliches Lie-
Landesverfassung“. Es gab viele Nachfra- ten Kretschmann oder Angela Merkel. genschaftsmanagement, Staatsverschul-
gen. Schmids Antworten waren voller De- „Wir dürfen uns nicht mit Einzelthemen dung und Staatsvermögen“, innerhalb der
tails und Zahlen, kein einziges Mal sagte verzetteln oder uns allein auf den Erfolg Landesregierung gibt er den Sparkommis-
er: „Das weiß ich nicht.“ der Fachminister verlassen“, so Schmid. sar. Seine Reden sind kurz und nie pein-
Tags darauf zitierten die Landeszeitun- Das sei „ein typischer Fehler der kleinen lich; er wirkt durch und durch seriös, was
gen Schmids Zahlen und Kretschmanns Regierungspartei“, sagt er. „Wir müssen aber in der Politik nicht weit weg ist von
Satz, man stelle die „Weichen für die zeigen, welche Werte uns leiten.“ durch und durch langweilig. Langweilig
Zukunft“. Bei der Landtagswahl 2011 lag die SPD ist Kretschmann dagegen selten. Der tritt
So geht es dem SPD-Politiker oft, er ver- einen Prozentpunkt hinter den Grünen,
blasst neben dem grünen Volksliebling. im Landtag hat sie nur einen Sitz weniger. * Beim Fastnachtsumzug in Riedlingen 2014.

48 DER SPIEGEL 13 / 2015


Deutschland

auch verbindlich auf, zitiert dazu gern an die Grünen. Auch das Gemüt der Auto- referiert der Juniorchef. Schmid wechselt
Seneca oder Hannah Arendt. Ihm helfen bauer im Ländle streichelt Kretschmann in- ein paar Sätze mit den Angestellten.
die 25 Lebensjahre, die er mehr hat als zwischen einfühlsam. Vor Kurzem erhielt Er fragt: „Was haben Sie gelernt?“ Oder:
Schmid, und sein markanter grauer Bürs- er einen neuen Dienstwagen, eine S-Klasse, „Wie lange sind Sie schon hier?“ Als Ju-
tenhaarschnitt. mit Hybridantrieb. Schmid fährt einen soli- niorchef Ulf Bangert erzählt, dass sie nach
So bleibt Schmid die undankbare Rolle den Audi A8, einen Diesel. Schmids Fahrer einem Einbruch nun immer die Rollen mit
dessen, der sich ernsthaft bemüht. „Das findet den Audi besser als die Mercedes- dem Kupferdraht wegpacken, sagt Schmid:
Einzige, was man dem Nils vorwerfen Modelle, und spritsparend sei der in Baden- „Wertvoller Rohstoff, ja.“
kann, ist, dass er keinen Alkohol trinkt“, Württemberg gefertigte Wagen auch, sagt Erst als der Senior, 81, und der Junior,
sagt ein Kabinettskollege. Als sich Kretsch- Schmid. „Alles andere ist Symbolpolitik.“ 47, von der anstehenden Übertragung der
mann und sein CDU-Herausforderer Gui- Firma erzählen, redet Schmid länger. Er
do Wolf im Fasching mit humorigen Auf-
tritten übertrumpften, war von Schmid
„Die SPD hat grundsätzlich berichtet von der geplanten Novelle der
Erbschaftsteuer; und wie er sich in Berlin
nichts zu sehen. „Ich komme aus einer pro- immer den Anspruch, dafür einsetze, dass beim Vererben die Ar-
testantischen Gegend“, sagt er. „Sollen die den Regierungschef zu beitsplätze nicht in Gefahr gerieten. Das
anderen austragen, wer am wildesten fei- sind seine Themen, gerechte Besteuerung,
ern kann, ich setze andere Akzente.“ stellen.“ Es klingt trotzig. Rahmenbedingungen für die Wirtschaft.
Als Beispiel nennt er Olaf Scholz, den Gut möglich, dass er sie auch nach 2016
Ersten Bürgermeister von Hamburg. „Er Sein Fahrer lenkt den Audi durch ein als Minister bearbeiten wird. „Die SPD
geht sachlich an die Dinge heran“, sagt Mannheimer Industriegebiet. Als er auf hat grundsätzlich immer den Anspruch,
Schmid, „das haben wir gemeinsam.“ den Hof der Firma Unger Fahrzeugbau den Regierungschef zu stellen“, sagt
Während die Hansestadt traditionell rot fährt, 16 Mitarbeiter, warten dort nur eine Schmid zwar, es klingt fast trotzig. Doch
wählt, fehlen in Baden-Württemberg jedoch kleine Gruppe von Menschen und ein Ka- die CDU will ihren einstigen Erbhof zu-
klassische SPD-Milieus. Dazu kommt, dass merateam des Rhein-Neckar-Fernsehens. rückerobern. Die Grünen wollen ihr Re-
die Grünen, im Südwesten auf dem Weg Schmid gibt ein kurzes Interview, bevor gierungsprojekt fortsetzen. Von allen drei
zur Volkspartei, die Themen kapern. Zu- ihm Firmeninhaber Michael Unger diverse Spitzenkandidaten hat Schmid wohl die
letzt hat Kretschmann die Wirtschaft für Lkw-Aufbauten vorführt. schlechtesten Aussichten auf das Amt des
sich entdeckt, Schmids Ressort. Zum Jah- Dann die nächste Firma, Franz Bangert, Ministerpräsidenten. Ob mit den Grünen
reswechsel überwies der Verband Südwest- ein Unternehmen, das Pumpen repariert. oder doch mit der CDU: Schmid könnte
metall eine Rekordspende von 100000 Euro Wieder geht es durch die Hallen, diesmal der kleine Partner bleiben. Jan Friedmann
BND-Neubau
in Berlin

Undichte Stellen
Geheimdienste Wasserschäden und
insolvente Planungsbüros: Der BND
bekommt seinen milliardenteuren
Neubau in Berlin nicht in den Griff.

D
er Fall ist ein Rätsel, auch drei Wo- Wie aus Sicherheitskreisen verlautete, komplexen Gebäudeausstattung lasteten
chen später noch: In der Nacht zum waren die Putzräume und Teeküchen, in seither auf den Schultern des einzig ver-
3. März fluteten Tausende Liter denen Unbekannte mehrere Hähne ab- bliebenen ARGE-Partners, des Ingenieur-
Leitungswasser den hochgesicherten Neu- montierten, bereits baulich abgenommen büros Arup GmbH.
bau des Bundesnachrichtendienstes (BND) und verschlossen. Hineingelangen konnte Ein drohendes Ende der ARGE EAS hat-
an der Berliner Chausseestraße. In sechs nur, wer über eine von insgesamt 118 elek- te die Bauherren des BND bereits vor ei-
Stockwerken stand die Brühe teilweise tronischen Schlüsselkarten verfügte. nem knappen Jahr in Alarmstimmung ver-
zentimeterhoch, 2000 Quadratmeter Büro- Am Tag vor dem Schaden müssen die setzt. Laut einem internen Bericht der Bun-
fläche wurden überschwemmt, Zwischen- Armaturen noch installiert gewesen sein: desregierung hätte ein Komplettausfall
decken ausgespült. Bei einer turnusmäßigen Spülung der „dramatische Folgen für den weiteren Bau-
Auf den Schaden folgte der Spott, von Wasserleitungen am 2. März hatte es dem ablauf“; die Konsequenzen für den Fertig-
„Watergate“ und „BND-Leaks“ war die Vernehmen nach keine Probleme gege- stellungstermin und die Kosten des Pro-
Rede. Die Berliner Polizei gründete eine ben. jekts wären „ganz erheblich“. Es sei daher
eigene Ermittlungsgruppe namens EG Vermutlich am Abend entfernten der „oberstes Ziel“, die Arup GmbH „bis zum
„Wasserfall“. Trotzdem bleiben viele Fra- oder die Täter dann die Hähne an der un- Ende an Bord zu halten“, heißt es nun in
gen zu den undichten Stellen im Geheim- ter Druck stehenden Leitung und verwan- Berliner Koalitionskreisen.
dienst offen, auch weil die Verantwortlichen delten den Neubau in eine Nasszelle. Wer Welche Folgen der Verlust der beiden
schweigen. Und dafür gibt es offenbar gute immer die Armaturen mitnahm, wusste, insolventen Mitglieder der Arbeitsgemein-
Gründe: Die wenigen Informationen, die was er damit anrichten würde. Die Ermitt- schaft hatte, wollte das für den BND-Neu-
bislang durchgesickert sind, lassen vermu- ler halten einen gezielten Anschlag für bau zuständige Bundesamt für Bauwesen
ten, dass die Lecks im neuen Hauptquartier möglich. Sogar die Spionageabwehr des und Raumordnung nicht sagen.
weder ein Versehen noch Schlamperei wa- Bundesamts für Verfassungsschutz ist an Die Arup selbst teilte auf Anfrage mit,
ren. Vieles spricht für Vorsatz. der Suche nach den Tätern beteiligt. es gebe keinen Anlass zur Sorge: Die Fir-
Für den BND reißen die Probleme nicht Eine gute, eingespielte Bauleitung wäre ma habe „die maßgeblichen Mitarbeiter“
ab. Seit Monaten ist die Behörde von Ab- für den BND in dieser Lage von hohem der insolventen Partnerfirmen überneh-
höraffären, internen Querelen und einem Nutzen. Doch leider ist eine der wichtigs- men und „die Arbeit fast ohne Unterbre-
mutmaßlichen CIA-Maulwurf geplagt. Nun ten Planungsgruppen für den Neubau in chung fortsetzen“ können. Es seien „keine
wird der lang ersehnte und mehrfach ver- heftige Turbulenzen geraten – mit womög- negativen Auswirkungen auf das Projekt
schobene Umzug in die Berliner Zentrale lich dramatischen Folgen. zu erwarten“.
wieder zum Sorgenfall: Neben dem Was- Konkret geht es um die „Arbeitsgemein- In Regierungskreisen fürchtet man
serschaden muss der Geheimdienst auch schaft EAS“ („ARGE EAS“), einen Zusam- gleichwohl einen Kollaps des Planungs-
den Ausfall wichtiger Planungsbüros ver- menschluss aus drei etablierten Ingenieur- stabs. Das auch deshalb, weil dieser nicht
kraften, die den Bau eigentlich zügig zu firmen. Laut vertraulichen Bundesdoku- einfach und schon gar nicht schnell zu er-
Ende führen sollten. menten war das Konsortium in die Planung setzen wäre.
Noch ist unklar, wie hoch der Schaden „annähernd aller Anlagengruppen der tech- Ein abschreckendes Beispiel für den Ge-
durch den Sabotageakt ist. In Berlin wird nischen Gebäudeausstattung“ der neuen heimdienst, der nach jetzigem Stand im
von einer siebenstelligen Summe geraunt. Zentrale involviert. Jahr 2017 umziehen möchte, ist der Berli-
FOTO: STEFAN BONESS / IPON

Das freilich ist nur ein Kleckerbetrag, ge- Zwei der drei ARGE-Unternehmen ner Flughafen BER: Auch weil ein Pla-
messen daran, was der Klotz in Berlins mussten inzwischen Insolvenz anmelden: nungsbüro 2010 Insolvenz anmeldete,
Mitte dereinst kosten wird: 720 Millionen Wie aus Handelsregisterunterlagen hervor- musste die Eröffnung des Airports erstmals
Euro waren ursprünglich veranschlagt wor- geht, wurde eine Gesellschaft bereits im verschoben werden.
den, inzwischen ist inoffiziell von bis zu Juli 2013 aufgelöst, eine andere im Februar Bis heute ist er nicht fertiggestellt.
1,5 Milliarden die Rede, inklusive Umzug. 2014. Planung und Bauleitung der hoch- Maik Baumgärtner, Sven Röbel, Jörg Schindler

50 DER SPIEGEL 13 / 2015


Dom und Bischofsresidenz in Limburg

Haus der Schatten


Katholiken Die Residenz verstaubt, ein neuer Bischof ist nicht in Sicht: Ein Jahr nach dem Ende
der Limburger Tebartz-Affäre gelingt es der Kirche nicht, den Schaden zu reparieren.

D
ie Sprache der Vorgesetzten sei Zurück blieb eine traumatisierte Diöze- Konsequenzen aus dem Skandal vermissen
„seicht“ und klinge „nach Seifen- se. Die Residenz verstaubt, bis heute fehlt die Bistumsmitarbeiter bis heute. Sie for-
blasen“. Zu oft versteckten sich die ein überzeugendes Nutzungskonzept. Der dern beispielsweise, die Diözese solle end-
neuen Herren auf dem Limburger Domberg Bischofsstuhl ist weiterhin vakant – wohl lich gegen den gefallenen Bischof beim
„hinter nichtssagenden Formulierungen und noch bis 2016. Ursachen und Folgen des kirchlichen Gericht im Vatikan Klage er-
Worthülsen“. Und statt echter Veränderun- Bauskandals sind bisher nicht vollständig heben.
gen gebe es nur allgemeines Gerede von aufgearbeitet. Und im Kirchenvolk sind Doch die örtliche Kirchenspitze weiß of-
„Transparenz, Aufbruch“ und „Zurückge- die Verletzungen der Tebartz-Jahre auch fiziell nicht einmal, was aus Tebartz-van
winnung des verlorenen Vertrauens“. zwölf Monate nach dem Abtritt des luxus- Elst geworden ist. „Dem Bistum ist zurzeit
FOTO: MARIO SIEGEMUND / EUROLUFTBILD.DE / PICTURE ALLIANCE / DPA

Es ist noch kein Friede eingekehrt hinter verliebten Hirten noch nicht verheilt. nicht bekannt, ob die Medienberichte stim-
den dicken Klostermauern des Bischöf- Die provisorische Führung sollte eigent- men und Bischof em. Dr. Franz-Peter Te-
lichen Ordinariats von Limburg. Interne lich seither die Scherben zusammenkeh- bartz-van Elst eine neue Aufgabe in Rom
Protokolle, die Versammlungen in der ren. Der Apostolische Administrator Man- übernommen hat“, teilte Bistumssprecher
Bistumszentrale wiedergeben und dem fred Grothe und sein Stellvertreter Wolf- Stephan Schnelle Anfang März mit; er hat-
SPIEGEL vorliegen, zeugen von einem tie- gang Rösch wollten das Bistum befrieden, te schon unter dem abgesetzten Bischof
fen Dissens zwischen den Mitarbeitern der bis der Vatikan einen würdigen Tebartz- gedient.
Kirche und ihren neuen Chefs. Nachfolger gefunden hat. Limburger Gläubige reagierten empört.
Vor genau einem Jahr verlor Franz- Doch der Neustart missglückte. Gleich Ihr Bistum überweist Tebartz-van Elst
Peter Tebartz-van Elst hier sein Bischofs- mehrfach versammelten sich in den ver- weiterhin ein Monatsgehalt von 6680 Euro.
amt, weil er über einen Erste-Klasse-Flug gangenen Wochen und Monaten Kirchen-
in indische Slums gelogen und mehr als mitarbeiter. Sie wollten Grothe und Rösch, Video:
31 Millionen Euro Kirchengelder in ein den Tebartz-van Elst noch persönlich zum Bistum ohne Bischof
exquisites Anwesen gegenüber dem Dom Generalvikar erkoren hatte, zu Reformen spiegel.de/sp132015limburg
gesteckt hatte. bewegen; bisher mit wenig Erfolg. Echte oder in der App DER SPIEGEL

52 DER SPIEGEL 13 / 2015


Deutschland

Sie wüssten deshalb gern etwas genauer, ber hinaus denken sie an eine Zukunft als sammenlegt. Eine interne Studie über Per-
ob ihr ehemaliger Hirte, wie berichtet wor- kirchliches Konferenzzentrum. sonalentwicklung offenbart, dass von den
den war, einen neuen Job im Päpstlichen Im Bistum kursieren andere Ideen. „Das 445 aktiven Seelsorgern in den kommen-
Rat zur Förderung der Neuevangelisierung Gebäude“, heißt es im Papier eines Cari- den zwei Dekaden mindestens 250 aus-
übernommen hat – und ob er etwas damit tas-Mitarbeiters, „hat eine alle deutschen scheiden werden. In Meudt bei Limburg
verdient. Bistümer erfassende Diskussion über den meutern die Gläubigen gegen die Fusio-
Auch die Strukturen in der Diözese Umgang der Kirche mit Geld, dem Lebens- nierung von 14 Pfarrgemeinden zu einer
müssten aus Sicht der Kirchenmitarbeiter stil ihrer Amtsträger und mit Macht aus- „Pfarrei neuen Typs“. Anfang Februar kri-
dringend reformiert werden. Sie verlangen gelöst.“ Es sei zum „Symbol einer tief grei- tisierten sie gegenüber Grothe, der Plan
einen Wechsel im Domkapitel, einem nur fenden Vertrauenskrise in die Kirche ge- von oben gehe „völlig an der Realität und
mit Klerikern besetzten Beratergremium. worden“. Die in den Fels hineingefräste den gewachsenen Strukturen vorbei“.
Es könne nicht sein, dass dieselben Herren, Bischofswohnung stehe nicht für Transpa- Dann kündigten sie dem Bistum vorerst
die einst Tebartz-van Elst unterstützt hät- renz, sondern eher „für eine Unterwelt“, ihre Mitarbeit auf.
ten, auch bei der anstehenden Bischofs- in der sich Kirche hinter schweren Bron- Das Trauma der Ära Tebartz-van Elst
wahl mitentschieden, heißt es in den Pro- zetoren verberge. sitzt tief, und das zeigt sich vor allem,
tokollen. Die Diözese solle die Residenz deshalb wenn es um theologische Fragen geht.
Weil sie der Hierarchie offenbar miss- in einen kirchenkritischen Ort verwandeln, Jahrelang hatte der umstrittene Bischof
trauen, schlagen die Mitarbeiter des Ordi- wird in dem Papier vorgeschlagen. Wech- versucht, seine Diözese zu einer konser-
nariats außerdem neue, außerkirchliche selausstellungen sollten sich künftig mit vativen Hochburg im deutschen Katho-
Kontrollgremien vor. Diese sollten in Zu- den dunklen Seiten, den Sünden des Ka- lizismus auszubauen. Das entfachte Flügel-
kunft „eine totalitäre Systemausrichtung tholizismus beschäftigen; der Luxusbau kämpfe, die bis heute andauern.
des Bistums erkennen, verbalisieren und solle zum „Haus der kirchlichen Schatten“ Besonders aggressiv handeln Mitglieder
verhindern“ können. Zudem müsse die werden. der Gruppe „Una Sancta Catholica“, die
Kirche „eine dezentrale Entscheidungs- Bei all den Problemen dürfte es die Obe- Tebartz-van Elst weiterhin energisch ver-
kompetenz“ wiederherstellen, anstatt wei- ren des Bistums freuen, dass sich zumin- teidigen und in Briefen nach Rom wie an
terhin auf Bischof und Generalvikar zen- die Bistumsspitze Medien und Bischofs-
triert zu sein. Auch mehr Frauen und mehr gegner in den eigenen Reihen für den er-
Demokratie im Kirchenapparat wünschen zwungenen Rückzug ihres Idols verant-
sich die Mitarbeiter. Bislang vergebens. wortlich machen. Unterstützung finden sie
Dabei hat es in den vergangenen Mo- insbesondere beim römischen Kurienerz-
naten durchaus Versuche der Selbsthei- bischof Georg Gänswein, der sich ihres
lung gegeben. So ließen Grothe und sein Helden im Vatikan annimmt und erst neu-
Stellvertreter eine Telefonhotline schalten. lich wieder im Bistum weilte. Gänswein,
Sie sollte dafür sorgen, so der 75-jährige Vertrauter von Benedikt XVI., trug seine
Administrator, dass Menschen im Bistum erzkonservativen Ansichten Mitte Februar
„mit ihren bedrückenden Erfahrungen bei einem „Frühstücksgespräch“ der
nicht allein bleiben“ – gemeint waren die Frankfurter Volksbank vor.
Fehltritte von Tebartz-van Elst. Eine Hot- Für den Limburger Administrator Gro-
line für Bischofsgeschädigte, so etwas hat the ist es nicht leicht, zwischen Konserva-
es in der katholischen Kirche wohl noch tiven und Liberalen zu navigieren. „Dieses
nie gegeben. Bistum ist außer Rand und Band“, be-
107 Anrufer meldeten sich bis Ende schwerte sich ein Katholik und Tebartz-
November und sprachen von erlittenen De- Fan bei ihm. Die Telefonhotline sei das
mütigungen, Verletzungen und Lügen. In Letzte, befand er. Dass unter Tebartz
den Tebartz-Jahren habe „ein Teil der An- ein „Klima der Angst“ geherrscht habe,
rufenden seelischen Schaden erlitten, teil- sei „geradezu lachhaft“. Dann drohte er:
weise auch mit gesundheitlichen Folgen“, „Es wird niemals Ruhe einkehren, wenn
berichtet einer über die Erfahrungen mit die Bistumsleitung nur die Bischofsgeg-
der Hotline; eine interne Zusammenfas- ner würdigt und die Bischofsunterstützer
sung liegt seit Anfang Januar vor. Tebartz-van-Elst-Gemälde* ignoriert.“
Das Mainzer Institut für geistliche Be- „Uns quillt das Geld aus den Ohren“ Sein Appell wurde offenkundig gehört.
gleitung und das Münsterschwarzacher Re- Grothe und sein Stellvertreter Rösch äu-
collectio-Haus haben die Telefonate zwar dest die Finanzen positiv entwickeln. Das ßerten danach, man müsse für Tebartz-van
intensiv ausgewertet. Doch die verspro- Bistum hatte 2013 Kirchensteuern in Höhe Elst eine noch ausstehende offizielle Ver-
chene Transparenz löste das Bistum auch von 191 Millionen Euro zur Verfügung. Au- abschiedung organisieren. In einer Presse-
in diesem Fall bislang nicht ein – die Er- ßerdem weist das Bistum ein Vermögen mitteilung lobte Grothe sogar „Charisma
gebnisse blieben unter Verschluss. Nur so von 909 Millionen Euro aus, der Bischöf- und vielfältige Begabungen“ des ehemali-
viel erklärte Grothe dazu: Bei vielen sei liche Stuhl 92 Millionen Euro, und 31 Mil- gen Limburger Bischofs.
durch die Handlungsweise kirchlicher lionen Euro stecken in einer Stiftung. „Uns Wie es auf dem Domberg weitergeht,
Amtsträger die Freude am beruflichen und quillt doch das Geld trotz Protzbau aus bleibt derweil offen. Denkbar wäre, die
ehrenamtlichen Engagement getrübt. den Ohren“, gesteht ein hoher Limburger Diözese einfach aufzulösen und die Reste
Auch der Umgang mit dem steinernen Kirchenmann. Köln, Fulda oder Mainz zuzuschlagen.
Erbe Tebartz-van Elsts gilt bislang als we- Dennoch geht ein unter Tebartz-van Elst Aufwendige Parallelstrukturen führten
FOTO: EPD / IMAGO

nig glücklich. Grothe und Rösch wollen begonnenes Programm weiter, mit dem auf evangelischer Seite längst zu Fusio-
gelegentlich die Türen des Bischofsbaus das Bistum zahlreiche Pfarrgemeinden zu- nen. Diese Diskussion steht auch den
öffnen und ihn durch Veranstaltungen und 27 katholischen Bistümern bevor.
Besichtigungen „entmystifizieren“; darü- * In der Bischofsgalerie der Limburger Residenz. Peter Wensierski

DER SPIEGEL 13 / 2015 53


Herbsterwachen
Zukunft Der Bevölkerungswandel gefährdet Deutschlands Wohlstand. Schon heute
fehlen der Wirtschaft Fachkräfte und Innovationen, demnächst drohen Altersarmut und
Vermögensschmelze. Lässt sich der Abstieg ins Mittelmaß noch aufhalten? (Teil 2)

I
n einer Werkhalle in Hamburg-Borgfel- kend abgelehnt hätte. Und das ist erst der
de machen sich ein Dutzend Achtkläss- Anfang.
ler an Alublechen zu schaffen. Sie span- Im Jahr 2001, dem Jahrgang, auf den
nen die Stücke ein und feilen die Kanten. Airbus mit seinem Pilotprojekt derzeit ab-
Nina Wichert lässt ihren blonden Zopf zur zielt, wurden 734 475 Babys geboren. Seit-
Sicherheit im Pulli verschwinden und setzt dem war jeder der folgenden Jahrgänge
den Akkubohrer an, als wäre es ihre tägli- dünner besetzt. Deutschland degeneriert –
che Praxis. Sie könne sich gut vorstellen, ein Prozess, der sich beim besten Willen
später als Mechanikerin zu arbeiten, sagt nicht mehr abwenden lässt: Die meisten
die Schülerin, ohne aufzublicken: „Zu Menschen, die in 20 Jahren leben werden,
Hause bastele ich auch gern.“ sind bereits heute geboren.
Der Flugzeugbauer Airbus hat die Ju- Dann gibt es laut einer Prognose des
gendlichen an diesem Morgen ins bran- Statistischen Bundesamtes voraussichtlich
cheneigene Trainingszentrum eingeladen. 7,9 Millionen weniger Jüngere (zwischen
Hier sollen sie in die Welt der Luftfahrt 20 und 64) in Deutschland, aber 6,4 Mil-
hineinschnuppern, die meisten sind gerade lionen mehr Alte (über 65 Jahre). Das
einmal 13 Jahre alt. Gesicht des Landes verändert sich –
Vor wenigen Jahren wäre so etwas nicht und das Profil seiner Volkswirt-
nötig gewesen. Da hätte sich Airbus-Aus- schaft: Sein produktiver Kern
bildungsleiter Jan Balcke einen Stapel Be- schrumpft, alter Wohlstand wird
werbungen geschnappt, einige Kandidaten aufgebraucht, neuer Wohlstand
ausgesucht und zum Gespräch eingeladen. nicht geschaffen.
Inzwischen aber fällt es selbst Airbus, dem Das sind die harten ökonomi-
größten Arbeitgeber in Hamburg, nicht schen Konsequenzen des Bevöl-
mehr so leicht, geeigneten Nachwuchs zu kerungswandels, dessen erste
finden. Balcke streckt deshalb früh die Füh- Ausläufer die Wirtschaft gegen-
ler aus: „Die Zeiten, in denen wir uns zu- wärtig zu spüren bekommt. Es
rücklehnen konnten, sind vorbei.“ verändert den Arbeitsmarkt,
An diese Situation müssen sich Unter- wenn die Jungen fehlen, die Alten
nehmen in Deutschland noch gewöhnen. aber länger als bisher im Job blei-
Viele haben schon heute Schwierigkeiten, ben müssen. Er bremst die Innova-
ihre Lehrstellen adäquat zu besetzen. In tionskraft, denn um etwas Neues zu
Westdeutschland bleiben in jedem vierten schaffen, muss man etwas riskieren –
Unternehmen Ausbildungsplätze vakant, wer aber wagt noch mit Mitte fünfzig,
in Ostdeutschland kommt dies sogar in na- ein Unternehmen zu gründen oder
hezu der Hälfte der Betriebe vor. Die Lage auch nur den Arbeitgeber zu wechseln?
ist so prekär, dass nun zum Teil Bewerber Der demografische Wandel übt zu-
zum Zuge kommen, die man früher dan- gleich Druck auf die Sozialkassen aus,
da immer weniger Erwerbstätige für
immer mehr Rentner aufkommen müs-

34,3%
Rückgang der potenziellen
sen und sich eine Finanzierungslücke
auftut. Er gefährdet die finanzielle Al-
terssicherung, wenn gerade im ländli-
chen Raum Immobilien ihren Wert ver-
lieren und damit ein essenzieller Baustein
der Vorsorge wegbricht.
In ihrem jüngsten Jahresgutachten war-
Arbeitskräfte in Deutschland nen die fünf Wirtschaftsweisen: „Der de-
von 2013 bis 2050 mografische Wandel wird spätestens ab
den 2020er-Jahren die Volkswirtschaft,
insbesondere die sozialen Sicherungs-
Das übertrifft selbst Japan, das Land mit systeme, immer mehr belasten und
der ältesten Bevölkerung weltweit: mindert die Wachstumsaussich-
Hier soll der Rückgang 33,7% betragen. ten.“ Das klingt, als ob der
Standort zwangsläufig an Be-
Quellen: Charles Goodhart, Philipp Erfurth deutung verlieren müsse. Als
54 DER SPIEGEL 13 / 2015
Serie

ob der Abstieg Deutschlands ins Mittelmaß ren weiterzuentwickeln und neue Ziele Hierarchieebene. Daraus entsteht ein di-
unabwendbar sei. Oder kann der Staat, zu setzen. cker Bericht mit Tabellen und Charts, auf
können die Unternehmen gegensteuern? Diese Generation hat schließlich oft dieser Grundlage wagt Dorr den Blick in
noch anderthalb Arbeitsjahrzehnte vor die Zukunft. Er zieht Rückschlüsse darü-
Ende des Jugendwahns sich und scheidet nicht, wie es vor wenigen ber, wie der Betrieb in drei, fünf oder zehn
Airbus hat mit dem Schülerprojekt immer- Jahren häufig der Fall war, mit knapp 60 Jahren dasteht: „Man sieht sofort, wohin
hin schon einen Vorstoß unternommen, als Vorruheständler aus. „Das ist auch für sich die Kurven entwickeln.“
um sich engagierte Nachwuchskräfte zu die Unternehmen eine völlig neue Reali- Früher hätten Unternehmen einfach die
sichern. Zugleich aber zwingt die Demo- tät“, sagt der Wuppertaler Personalexperte älteren Jahrgänge ausgemustert und durch
grafie die Unternehmen auch, sich inten- Hans-Jürgen Dorr. jüngere ersetzt, sagt Dorr. Das funktioniert
siver als bisher um die erfahrenen Kräfte Dorr steht am Flipchart in seinem Be- nicht mehr; diesem Jugendwahn zu frönen,
in der Belegschaft zu kümmern: sie zu sprechungsraum, er bewegt sich ein wenig kann sich kaum ein Betrieb mehr leisten.
motivieren, sich auch jenseits von 50 Jah- steif. Am Wochenende sei er Rad fahren Einige Firmen suchen deshalb gezielt nach
gewesen, seitdem ziehe es im Rücken. Strategien, ihre Senioren leistungsfähig zu
„Das Alter“, sagt er und grinst. halten und deren Wissen zu sichern. Es be-

45 Mio.
potenzielle Arbeitskräfte
Im vergangenen Jahr ist Dorr 60 gewor-
den, bei der Geburtstagsfeier sei er ständig
gefragt worden, wie lange er denn nun
noch arbeiten wolle. „Einige Jahre“, habe
er geantwortet – und in lauter erstaunte
Gesichter geschaut. Im Freundeskreis gebe
ginnt damit, sie körperlich fit zu halten.
BMW etwa hat das Projekt „Arbeitssys-
tem 2017“ darauf angelegt, Älteren die Tä-
tigkeit an der Fertigungsstraße zu erleich-
tern. Das Unternehmen baute unter ande-
rem gelenkschonende Holzfußböden in
es niemanden, der jenseits von 63 noch im die Werkhalle ein oder Friseurstühle, auf
gab es 2011 in Deutschland. Job sei. Dorr arbeitet als Demografie- denen die Bandarbeiter verschnaufen kön-
berater, er wird von Unternehmen und nen. Seitdem sind sie seltener krank und
Behörden beauftragt, die Alters- arbeiten produktiver.
struktur zu analysieren. Dazu Microtec, ein kleines Duisburger Tech-
lässt er sich allerhand Daten nologieunternehmen, geht noch einen
und Informationen zu- Schritt weiter: Geschäftsführerin Andrea
sammenstellen, das Reinhardt stellt ganz bewusst Ältere ein.
Alter der Mitar- Gemischte Teams aus Alt und Jung seien
beiter, die Qua- besonders produktiv, ist ihre Erfahrung.
lifikation, das Die Vorstellung, Mitarbeiter könnten in
Tätigkeits- gewissen Lebensphasen nur bestimmte
feld, die Dinge lernen, hat sie noch nie geteilt: „Das
ist Unsinn“, meint die Managerin. Wesent-
lich sei vielmehr die persönliche Motiva-
tion, ganz egal, in welchem Alter.
Es gibt viele Beispiele, die belegen,
wozu Mitarbeiter im fortgeschrittenen Al-
ter noch in der Lage sind. Doch sie kön-
nen nicht darüber hinwegtäuschen, dass
den Senioren oftmals doch etwas fehlt.
Ein 60-Jähriger, der den Ruhestand
vor Augen hat, wird in der Regel kaum

2013 hatte Deutschland Szenarien für 2030:


über 360 000 Zuwanderer Wanderungssaldo: +200 000 pro Jahr,
im erwerbsfähigen Alter. steigende Erwerbsquote, Rente mit 67

41 Mio.
Wanderung nicht berücksichtigt,
steigende Erwerbsquote, Rente mit 67

38 Mio.
Wanderung nicht berücksichtigt,
konstante Erwerbsquote aus 2011

Quellen: IAB, Statistisches Bundesamt 36 Mio. DER SPIEGEL 13 / 2015 55


Serie

Schwindende sammenhang gibt zwischen Alter und Er-


Arbeitskraft … findungsreichtum. Grafisch dargestellt ver-
Entwicklung der Zahl der Erwerbstätigen teilen sich die Fähigkeiten von Jung und
Alt in Form einer umgekehrten U-Kurve:
Bundesweit gab es noch einen Anstieg An der Spitze stehen Beschäftigte im Alter
von 5%, im Osten sank die Zahl von etwa 40 Jahren; sie stellen laut einer
Studie des Instituts für Wirtschaftsfor-
der Erwerbstätigen im Schnitt um 2%.
schung Halle „die am stärksten treibende
Kraft im Innovationsprozess“ dar.
so viel Veränderungswillen, Risikofreude Wenn dies stimmt, dann geht es schon
und Innovationskraft entwickeln können heute mit der Schaffenskraft deutscher Un-
wie ein 30-Jähriger. Und sei dies nur der ternehmen bergab. Das Durchschnittsalter
Tatsache geschuldet, dass die Älteren mit der Erwerbstätigen liegt jetzt bereits jen-
den Jahren in der Hierarchie aufgestiegen seits von 40 Jahren.
sind und ihnen schlicht die Gelegenheit Andere Indikatoren lassen ebenfalls be-
fehlt, neue Ideen zu entwickeln. fürchten, dass Deutschland an produktiver
Dynamik verliert. Bei den Patentanmel-
Wie ideenreich ist ein 60-Jähriger? dungen ist die Gruppe zwischen 35 und 45
Karlheinz Brandenburg, 60, ist ein bedeu- Jahren am aktivsten. Und wer ein Unter-
tender Erfinder. Ende der Achtzigerjahre nehmen startet, ist üblicherweise ähnlich
hat er das Verfahren MP3 zur Komprimie- alt – diese Bevölkerungsgruppe aber wird
2011 gegenüber 2000 rung von Musikdaten mitentwickelt. Seit in den nächsten Jahren deutlich kleiner
RÜCKGANG in % ANSTIEG
zehn Jahren leitet er das Fraunhofer-In- werden. Die Altersklasse der 30- bis 39-
stitut für Digitale Medientechnologie in Jährigen hat sich seit dem Jahr 2000 bereits
Ilmenau. Ein Großteil seiner Arbeit geht um 4,3 Millionen Bürger reduziert. Folge-
über 7,5 7,5 0 7,5 15 über 15 dafür drauf, das Haus mit den mehr als richtig hat die Zahl der Firmengründungen
hundert Mitarbeitern zu managen – zum seitdem um ein Drittel abgenommen.
Forschen bleibt da wenig Zeit. Dieser Trend werde sich fortsetzen,
Als er Ende zwanzig war, sei dies erwartet der Mannheimer Industrieöko-
Quellen: noch ganz anders gewesen, erzählt nom Georg Licht. „Das Gründerpotenzial
PwC, HWWI Kiel Brandenburg. Als Doktorand habe schrumpft in den kommenden Jahren dra-
er sich tagelang in Bibliotheken matisch“, lautet seine Prognose. Im
Schwerin
verkriechen können und sich in Hightech-Sektor macht sich die Entwick-
Hamburg Bücher vertieft: „Damals konnte lung nach Einschätzung des Wissenschaft-
ich mir das zeitlich leisten.“ An lers besonders stark bemerkbar.
Bremen mehr als hundert Patenten ist er Sich selbstständig zu machen verliert zu-
Berlin maßgeblich beteiligt, das letzte sätzlich an Reiz, da die etablierten Unter-
hat er im vergangenen Jahr an- nehmen die jungen Kräfte mehr denn je
Hannover Magdeburg Potsdam gemeldet. Die meisten und mit Festanstellungen umwerben: mit groß-
wichtigsten Patente stammten zügigen Gehältern und interessanten Kar-
allerdings aus den frühen rierechancen. Warum sollte ein 30-Jähriger
Neunzigerjahren, sagt Bran- das Risiko des Scheiterns eingehen, wenn
Dresden denburg. eine komfortable Alternative lockt?
Düsseldorf Erfurt Es ist das typische Karrie- Die Konsequenz: In Deutschland ver-
remuster des erfolgreichen schärft sich der ohnehin schon eklatante
Wissenschaftlers: In jungen Mangel an jungen Firmen. 94 Prozent der
wichtigsten „Hidden Champions“, also der
Wiesbaden Weltmarktführer aus dem Mittelstand,
Auch in Westdeutschland gibt es nun
einen Rückgang von rund 4%, den Osten wurden laut der Unternehmensberatung
Mainz A. T. Kearney vor mehr als 50 Jahren ge-
trifft es mit über 10% deutlich härter.
Saarbrücken gründet. Nur 6 Prozent dieser Schlüssel-
unternehmen sind somit jünger als ein hal-
Stuttgart
Jahren wird getüftelt, in späten Jah- bes Jahrhundert.
ren wird verwaltet. Schon deshalb
läuft eine Gesellschaft, die samt Die Hungerrentner von morgen
akademischem Personal altert, Ge- Franz Müntefering ist auch mit 75 Jahren
München
fahr, kreatives Potenzial einzubüßen. noch rundum fit. Sein Rezept: jeden Mor-
Dass die körperliche Leistungskraft gen kalt duschen und dabei bis hundert
mit den Jahren schwindet, ist unbestrit- zählen. Dazu ein bisschen Laufband. Und
ten. Auch das Gedächtnis lässt zuweilen stets genügend Termine.
nach. Aber bedeutet das Nachlassen der Vor zwei Jahren zog sich der ehemalige
physischen Kraft zwangsläufig auch, dass Bundessozialminister aus dem Parlament
2030 gegenüber 2011 die Innovationsfähigkeit der Volkswirtschaft zurück. Heute berät Müntefering Kommu-
leidet? Anders gefragt: Kann ein 60-Jähri- nalpolitiker, wie sie sich auf die alternde
RÜCKGANG in % ANSTIEG
ger so ideenreich sein wie ein 30-Jähriger? Gesellschaft einstellen können. Als Minis-
Wirtschaftspsychologen kommen zu ter hatte er Ende 2006 die schrittweise
über 14 14 7,4 0 7,5 über 7,5 dem Ergebnis, dass es durchaus einen Zu- Erhöhung des Renteneintrittsalters auf
56 DER SPIEGEL 13 / 2015
67 Jahre auf den Weg gebracht. Ohne Sozialamt. Doch der Trend zu Teilzeit, zu
… steigender
weitere Reformen, das war klar, könnte Minijobs und zu Solo-Selbstständigkeit Arbeitseifer
die Beitragslast die jüngere Generation ir- wird Spuren hinterlassen. Erwerbsquote bei den
gendwann erdrücken. Die Lebensarbeits- Dazu kommen noch die Schicksalsfälle, 55- bis unter 65-Jährigen
zeit zu verlängern schien die mildeste aller die schon heute ein besonders hohes Ar-
Reformoptionen. mutsrisiko tragen: diejenigen nämlich, die
Aber die SPD zahlte einen Preis dafür. zu krank sind, um noch arbeiten zu kön-
Die Gewerkschaften sahen die Rente mit nen, und deshalb aus dem Berufsleben
67 schlicht als Leistungskürzung. „Mit dem ausscheiden. „Die meisten wissen nicht,
Thema ,Demografie‘ Wahlen zu gewinnen wie es weitergehen soll“, sagt Reinhold
ist schwer“, sagt Müntefering heute. „Dann Goldmann vom Sozialverband VdK. 44% 67%
muss man nämlich ehrlich sagen, dass das Goldmann berät all jene, deren Rente
sehr anstrengend wird. Deswegen sparen zum Leben kaum reicht. Er kennt ihre Pro-
Jetztzeitpolitiker das Thema lieber aus.“ bleme – denn er ist einer von ihnen. Der
In dieser Jetztzeit bewegt sich ganz of- 60-Jährige ist darauf angewiesen, für den 2000 2013
fensichtlich die Große Koalition, schließ- Sozialverband in Kassel nebenbei im Mi-
lich hat sie kurzerhand die Erhöhung der nijob zu arbeiten. Eine Hirnblutung been-
Altersgrenze wieder ein Stück zurückge- dete sein Berufsleben, er war Maschinen-
dreht. Nun darf mit 63 Jahren abschlagsfrei schlosser und Werkzeugverkäufer, seit drei
in Rente gehen, wer mindestens 45 Bei- Jahren lebt er von der Erwerbsminde-
tragsjahre gesammelt hat. Rund 255 000 rungsrente. Knapp 700 Euro überweist ihm
Anträge gingen bis Ende Februar ein. die Sozialkasse jeden Monat.
Damit stellt Schwarz-Rot die renten- Sein Leben ist seither bescheiden ge-
politischen Erfolge der vergangenen 15 Jah- worden. Statt mit dem eigenen Auto fährt
re infrage. Statt mit im Schnitt 62,3 Jahren er mit dem Bus, die Einkäufe erledigt er Rund
wie noch im Jahr 2000 verabschieden sich bei Aldi, und die letzte Urlaubsreise
die Senioren heute erst mit 64,1 Jahren aus
dem Berufsleben. Ausdrücklich wertet die
Regierung dies als Beleg dafür, dass die
Rente mit 67 Wirkung zeigt – und tut doch
alles, um den Effekt rückgängig zu machen.
Müntefering missbilligt dieses Vorgehen.
führte ihn vor zehn Jahren an die
Nahe in Rheinland-Pfalz.
Im Februar stand Goldmanns Sil-
berhochzeit an, und mit seiner Frau
packte er endlich wieder einmal Kof-
fer. Es ging ans Steinhuder Meer, fünf
5 Mio.
sozialversicherungs-
„Die Rente mit 63 ist ein illusionärer Tage lang. Finanziell wäre das eigentlich pflichtig Beschäftigte
Weg“, sagt er. „Es muss darum gehen, nicht drin gewesen. Allerdings hat Gold-
Menschen möglichst lange Chancen im Ar- mann einen radikalen Schritt gewagt: Für von 55 bis unter 65 Jahren
beitsleben zu geben. Und viele wollen das die Reise mit seiner Frau hat er sich seine gab es im Juni 2014
auch, wenn sie körperlich fit sind.“ private Rentenversicherung auszahlen las-
Teuer ist das Koalitionspaket obendrein. sen – oder das, was noch von ihr übrig war.
in Deutschland.
Inklusive anderer Wohltaten wie der Müt- Im Juni 2000 waren
terrente kostet es bis 2030 rund 160 Mil- Das Vermögen schmilzt dahin es nur 2,8 Mio.
liarden Euro. Gleichwohl bedeutet das In welchem Wohlstand die Bürger im Alter
Quelle: BA
nicht, dass sich die finanzielle Situation leben können, hängt nicht allein davon ab,
künftiger Senioren verbessert, im Gegen- was ihnen die gesetzliche Rentenversiche-
teil: Heute beziehen Ruheständler vor rung auszahlt. Maßgeblich ist auch das Ver-
Steuern im Schnitt 48 Prozent der Summe, mögen, das sie selbst zusätzlich aufgebaut
die sie zuvor verdient hatten. Dieses soge- haben: Insgesamt handelt es sich um be-
nannte Sicherungsniveau rutscht bis 2028 merkenswerte Summen.
voraussichtlich auf rund 44 Prozent ab. Gut 7 Billionen Euro haben die Deut-
Dann werden viele in Rente drängen, schen laut einer Erhebung des DIW an
die über Jahrzehnte zu Niedriglöhnen ge- Werten angehäuft, davon halten sie etwa
arbeitet haben oder deren Biografie Brü- 2,2 Billionen Euro als Geld, Gold, Wertpa-
che aufweist, mit Monaten und Jahren von piere oder Betriebsvermögen.
Arbeitslosigkeit. „Altersarmut droht vor Wirklich wohlhabend aber macht sie
allem in Ostdeutschland“, lautet die Pro- erst der Besitz von Immobilien: Auf rund
gnose von Gert Wagner, Sozialexperte beim 4,8 Billionen Euro summiert sich der Wert
Deutschen Institut für Wirtschaftsfor- von Häusern und Wohnungen. Dieses Ver-
schung (DIW). In den kommenden Jahren mögen verteilt sich allerdings höchst un-
gingen jene Menschen in den Ruhestand, gleich: Dem reichsten Zehntel der Deut-
die lange erwerbslos waren: „Ihre Renten schen gehören laut der DIW-Studie rund
werden oft nicht zum Leben reichen.“ 45 Prozent der Eigenheime und sogar 78
Die Folge: Millionen Babyboomer müs- Prozent der vermieteten Objekte.
sen sich im Alter auf gesetzliche Renten Diese Spaltung in Habende und Nicht-
einstellen, die so bescheiden sind, dass die habende wird der demografische Wandel
Ruheständler an der Armutsschwelle krat- noch vertiefen. Denn künftig kommt es
zen werden. Noch trifft wenige dieses mehr denn je darauf an, in welcher Ge-
Schicksal, lediglich drei Prozent der Al- gend eine Immobilie liegt: in den Wachs-
tersrentner beziehen Grundsicherung vom tumsregionen wie München, Stuttgart
Serie

oder Frankfurt, wo die Jungen hinziehen hundert Milliarden Euro summieren. Die-
und die Preise in irrwitzige Höhen geklet- ser Betrag entspreche dem Wert aller
tert sind, oder in der Provinz, wo die Al- 215 000 Wohnungen, die 2013 neu gebaut
ten zurückbleiben und das vermeintliche wurden, so Braun. „Hier geschieht eine
Vermögen zur finanziellen Last werden enorme Umverteilung.“
kann. Es ist leider keine Frage, in welche So verliert die Immobilie mancherorts
Kategorie der südthüringische Saale-Orla- mehr und mehr ihre Funktion als Instru-
Kreis fällt. ment der Altersvorsorge, ihr Wert ent-
Dort sind die Preise in den vergangenen puppt sich vielfach als Illusion.
15 Jahren um etwa 40 Prozent gefallen,
die meisten Häuser sind heute billiger zu Marsch in die Gerontokratie?
bekommen, als seinerzeit die Baukosten Vermögensschmelze, Altersarmut, Fach-
waren. Eine Eigentumswohnung zu ver- kräftemangel, Innovationsschwäche: Das
kaufen, die nicht dem neuesten Stand ent- alles sind denkbar schlechte Voraussetzun-
spreche, sei nahezu unmöglich, berichtet gen dafür, dass die Deutschen und ihre Volks-
der örtliche Kreissparkassenchef Helmut wirtschaft weiter prosperieren können,
Schmidt. Das Kreditinstitut mit Sitz in der
Kleinstadt Schleiz spürt unmittelbar die Haben oder wenn die Babyboomer in Rente gehen. Was
also tun, wenn die demografische Zeiten-
Folgen der Demografie auf den Häuser-
markt in der Region. Er kenne Objekte,
nicht haben wende naht und die Gesellschaft überrollt?
Hans-Werner Sinn, der Münchner Öko-
„die geschenkt noch viel zu teuer sind“,
Verteilung des deutschen nom und Präsident des Ifo-Instituts, hat
sagt Schmidt: „Wir nennen sie Schrottim- Immobilienvermögens sich dazu einige Gedanken gemacht. Der
mobilien.“ Wenn der Erbfall eintrete, sei Wissenschaftler empfiehlt unter anderem
Selbst genutzte Immobilien
oft niemand da, der sich darum kümmere. die Abschaffung des gesetzlichen Renten-
Vor einigen Monaten hat die Sparkasse gehören der ärmeren alters: „Keiner muss länger arbeiten, man
auf eigene Kosten eine solche Ruine nahe 2% Hälfte der Bevölkerung soll es aber dürfen“, fordert er. Er plädiert
dem Schleizer Rathaus abreißen lassen, für ein Steuersystem, das nicht die Ehe,
weil sonst, so das Kalkül, auch die umlie- sondern wie in Frankreich die Familie för-
genden Objekte an Wert verloren hätten. dert, er sympathisiert mit einem Punkte-
Nun sei dort ein Bürgerpark entstanden system für Einwanderer, wie es in den USA,
mit Bachlauf und Kunstwerken, erzählt aber auch in Österreich praktiziert wird.
Schmidt, „eine kleine Oase mitten in der
Stadt“. Den Immobiliensektor am Ort zu
stabilisieren sei eine existenzielle Frage
45% Eine ganze Reihe von Reformen hat
Sinn entwickelt, das Problem ist nur:
Deutschland verwandelt sich nach seiner
gehören dem reichsten Zehntel
für sein Haus, begründet der Sparkassen- Beobachtung gerade in eine Gerontokra-
chef das ungewöhnliche Engagement. Vermietete Immobilien tie, also eine Gesellschaft, in der die Alten
Die gute Nachricht, die Schmidt verbrei- gehören der ärmeren das Sagen haben. Keine Partei werde es
tet: Der Rückgang der Immobilienpreise
im Saale-Orla-Kreis sei zum Stillstand ge-
2% Hälfte der Bevölkerung wagen, gegen die Interessen der Rentner
zu agieren. „Die Reformen verlangen
kommen – viel tiefer konnten sie allerdings mehr Mut“, so das Fazit des Ökonomen,
auch nicht mehr sinken. Einfamilienhäuser „als heute erkennbar ist.“
mit sechs Zimmern und 185 Quadratmetern Andere Wissenschaftler sind weniger
Wohnfläche sind dort zuweilen schon für pessimistisch. Es sei schon viel getan, wenn
15 000 Euro zu haben. Die Region ist weit
fortgeschritten in dem Prozess, den viele
Orte in Westdeutschland noch vor sich ha-
78% die Politik die Migration besser steuere,
sagt DIW-Ökonom Gert Wagner. Die Zu-
wanderer erhöhten die Zahl der Erwerbs-
ben, wenn auch in abgeschwächter Form. gehören dem reichsten Zehntel tätigen, und die Familien hätten häufig
Abwärts geht es in einigen Lagen des mehr Kinder: „Sie bringen frischen Wind
Ruhrgebiets, in Gelsenkirchen oder Duis- und neue Ideen in die Gesellschaft.“
burg etwa, ebenso in Nordbayern, Ost- Die Deutschen verfügen über ein Vielleicht ist es auch eine Frage, mit wel-
hessen oder Südniedersachsen. Selbst in Bruttovermögen von über 7 Billionen Euro. cher Geisteshaltung man der Herausfor-
Städten wie Kassel, Bielefeld oder Halle Fast 70% davon stecken in Immobilien. derung entgegentritt, Optimismus ist sicher
sind die Perspektiven nach Ansicht von Quelle: SOEP hilfreich. Axel Börsch-Supan, Direktor des
Reiner Braun, Vorstand der Beratungsfir- Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und
ma Empirica, keinesfalls rosig. Die Bevöl- Sozialpolitik in München, ist der Auffas-
kerung in der Umgebung altere stark, über- sung, der demografische Wandel selbst lie-
regional aber wanderten nur wenige zu. fere schon den Kern der Lösung vieler Pro-
Deutschland besteht zunehmend aus sol- bleme, die durch ihn entstünden: Man soll-
chen Regionen, die stagnieren oder te die gewonnenen Jahre doch einfach als
schrumpfen (mehr dazu in Teil 3 der Serie). Chance betrachten, meint er.
Der Berliner Forscher hat überschlagen, Teil 3 in der kommenden Woche: Ein längeres Erwerbsleben könnte eben
in welchen Größenordnungen dort in Auf dem Land wird’s leer: In manchen auch Gelegenheit bieten, zusätzliche öko-
nächster Zeit Werte verloren gehen. Braun Regionen schrumpft die Bevölkerung nomische Kraft zu entfalten, sagt Börsch-
unterstellt, dass die rund 2,5 Millionen Ei- stark. Wer bleibt, hat’s schwer – doch Supan: „Wirtschaftspolitische Entscheidun-
genheime aus den Fünfziger- und Sechzi- vielerorts helfen die Menschen einander gen bestimmen unser Schicksal“, so der
gerjahren ein Drittel an Wert verlieren. und entwickeln neue Ideen. Sozialforscher, „nicht die Demografie.“
Dann würde sich der Verlust auf knapp Alexander Jung, Cornelia Schmergal

58 DER SPIEGEL 13 / 2015


„Alter ist viel Stille“
Ruhestand Der ehemalige Sozialminister Norbert Blüm, 79, über stolze
Rentner, verbitterte Politiker und die letzten Worte seines Vaters

SPIEGEL: Mögen Sie das Wort Ruhestand? dann würde ich den ganzen Tag lang die
Blüm: Es klingt etwas abwertend. Als würde Blumen im Garten betrachten oder wäre
man schon am Rand des Grabes darauf schon tot. Ich vermisse auch Streit in der
warten, dass man reingeschubst wird. Das Politik, die Bundestagsdebatten von frü-
liegt aber auch daran, dass es zum ersten her. Eine Debatte, die ein Gefecht ist, wo
Mal in der Geschichte einen dritten dazwischengerufen wird, ist was Tolles.
Lebensabschnitt gibt. Meine Großväter Mein Parteikollege Rainer Barzel zum Bei-
sind mit 67 beziehungsweise 68 gestorben. spiel, der war ein eleganter Redner, aber
Das Alter war damals ein Anhängsel, man er redete leider auch ohne Punkt und
bekam einen kleinen Nachschlag – und Komma. Ich weiß noch, wie Herbert Weh-
tschüs. Heute sind zwei Drittel der 90-Jäh- ner dazwischenrief: „Alle tausend Worte Exminister Blüm
rigen zur eigenen Lebensführung fähig. Es Ölwechsel.“ Auf so was musst du erst mal
ist eine ungeheure Kulturrevolution, dass kommen. Damals ersetzte ein guter Zwi-
es so viele Alte gibt. schenruf ganze Reden. Heute denkt man: SPIEGEL: Haben Sie Angst, dass Sie mal ge-
SPIEGEL: Überrascht es Sie manchmal, dass Je komplizierter man was sagt, desto ge- pflegt werden müssen?
Sie bald 80 werden? scheiter ist man. Sehen Sie, ich rede schon Blüm: Angenehm wäre es mir nicht.
Blüm: Ich vergesse es oft. Ab und an treffe wieder, wie alte Leute reden, von früher SPIEGEL: Und könnten Sie selbst jemanden
ich Leute aus meinem Jahrgang und denke: und find’s toll. pflegen?
„Gott, ist der aber alt geworden.“ Dann SPIEGEL: Geht Ihnen das Altern aus Eitelkeit Blüm: Ich glaub schon. Lassen Sie uns über
fällt mir ein, dass ich genauso alt bin. Of- gegen den Strich? was anderes reden, ja?
fensichtlich sehe ich mich mit den Augen Blüm: Als mir die Haare ausgefallen sind, SPIEGEL: Gut. Aber warum?
eines Jüngeren, der ich nicht mehr bin. das war schwer. Da war ich noch ein relativ Blüm: Ich möchte darüber nicht nachden-
SPIEGEL: Ein Klischee über das Alter ist, junger Mann. Aber ich war noch nie ein ken. Ich tue es auch nicht. Ich gehe auch
dass die Vergangenheit einen großen Typ, auf den die Frauen geflogen sind, ich nicht gern zu Beerdigungen, das ist reiner
Raum einnimmt. hatte es leichter. Im Alter wird man un- Selbstschutz.
Blüm: Klar. Man hat ja auch mehr Vergan- sichtbar. Man geht die Straße lang und ist SPIEGEL: Fühlen Sie sich beleidigt, wenn
genheit hinter und weniger Zukunft vor ein alter Mann. Das ist hart. Nach ein paar man Sie „alt“ nennt?
sich. In der Abendsonne wird alles ver- Kilometern Wandern geht mir die Puste Blüm: Nein, ich bin es ja.
goldet. Ich denke inzwischen oft an aus. Ich versuche, das keinem zu zeigen, SPIEGEL: Wann dachten Sie selbst zum ers-
meine Kindheit, obwohl die voller Kata- aber eigentlich kann ich nicht mehr. ten Mal: „Ich bin alt“?
strophen war. Ich habe alle sechs Jahre des SPIEGEL: Warum können Sie das nicht Blüm: Das begann, als meine Eltern starben.
Zweiten Weltkrieges erlebt. Bomben. Luft- zeigen? Man weiß: Ich bin der Nächste. Jetzt be-
schutzkeller. Todesangst. Heute denke ich: Blüm: Man hat seinen Stolz. Frauen wollen ginnt der ernste Teil der Veranstaltung.
„Mann, war das spannend damals.“ schön sein, Männer wollen stark sein. SPIEGEL: Wie alt wurden Ihre Eltern?
SPIEGEL: Empfinden Sie nun Ihr Leben nicht SPIEGEL: Ist es für Politiker besonders Blüm: Ich habe schon beide übertroffen,
mehr als spannend? schwer zu altern? mein Vater wurde 78, meine Mutter 77.
Blüm: Man ist doch in Gefahr, sehr mit sich Blüm: Politiker sind wie Schauspieler. Sie Meinen Vater habe ich noch auf dem To-
selbst beschäftigt zu sein. Auf Klassen- brauchen Applaus. Da wird man leicht ei- tenbett angefleht: „Kannste nicht endlich
treffen gibt es zwei Themen: Erstens: tel. Aber ohne Zustimmung bekommst du mal aufhören zu rauchen?“ Er sagte: „Du,
„Wenn ich die rechte Hand hebe, dann tut keine Mehrheiten. Du brauchst auch Pfiffe, Norbert, gestern hab ich was gelesen: Auch
es im Knie weh, und ich sag dir, das Pyra- fürs Adrenalin. Alter ist viel Stille. Ich ken- Nichtraucher müssen sterben.“
midol II, das musst du mal nehmen.“ Zwei- ne viele verbitterte Politiker. Man muss SPIEGEL: Und dann?
tens: „Ist der Kaffee bei Lidl billiger oder sich mit seinem Abgang auch ein bisschen Blüm: Wir haben gelacht. Mein Vater war
bei Rewe?“ Nicht alle sind so, aber man- Mühe geben. Wissen Sie, selbst wenn man auch am Ende noch gelassen. Wir saßen
che. Klar nehm ich auch Pillen, und meine sich wie Helmut Schmidt dauernd zu Wort an seinem Bett, um jeden Atemzug hat
Gesundheit beschäftigt mich. Ich kann meldet, kann man am Ende des Tages er gekämpft. Um zwei Uhr nachts, es
schon mithalten. Ich hab eine neue Hüfte trotzdem nichts mehr bewegen. Man kann brannte nur ein kleines Licht, hat meine
und drei Stents. Ich bin starkes Mittelfeld. viel reden, aber es hat keine Konsequen- Mutter begonnen, ihm sein ganzes Leben
Aber es gibt Wichtigeres, und daher ver- zen mehr. Ein Leben am Spielfeldrand ist zu erzählen. Sie sagte: „Weißte noch,
suche ich, nicht so viel darüber zu reden. nicht immer leicht. Aber ich bin zufrieden. Christian, damals, in der Tanzschule …
SPIEGEL: Sind die Menschen im Alter netter? Ich kann inzwischen auch ohne Applaus. und dann haben die Kinder gesagt … und
FOTO: WERNER SCHÜRING / IMAGETRUST

Blüm: Eigentlich nicht. Ich hatte früher Leu- SPIEGEL: Sie könnten mit Helmut Schmidt weißte noch, wie wir gereist sind, zum
te, die mich anpöbeln, und heute auch. Ich eine Rentnerpartei gründen. Großglockner …“ Sie hat die Geschichte
merke aber, dass Ältere häufig böser wer- Blüm: Sicher nicht. Wissen Sie, was ich jetzt von 50 Jahren Ehe erzählt. Als sie fertig
den, als sie früher waren. vorhabe? Ich habe nämlich eine verrückte war, hat mein Vater tief Luft geholt und
SPIEGEL: Alter macht also nicht milde? Idee. Wenn ich mal ein bisschen Zeit habe, mit seinem letzten Atemzug gesagt: „Gre-
Blüm: Im Gegenteil. Alter macht streitsüch- geh ich mein ganzes Telefonbuch durch tel, es war alles sehr schön.“ Das war’s.
tig. Man braucht doch etwas zu tun. Stellen und ruf alle an. Wie sind die heute so? Le- So will ich auch gehen.
Sie sich vor, ich hätte keinen Streit mehr, ben die eigentlich noch? Interview: Britta Stuff

DER SPIEGEL 13 / 2015 59


Deutschland

Langem propagieren. „Das Urteil ist ein

Sieg mit massiver Fortschritt, es geht weg vom rei-


nen Verdacht hin zu konkreten Problemen,
die dann dargelegt werden müssen“, sagt

Tücken der Erlanger Zivilrechtsprofessor und Is-


lamwissenschaftler Mathias Rohe.
Länder und Schulen teilen diese Begeis-
Justiz Das Bundesverfassungs- terung nur eingeschränkt. Unter den Lan-
desregierungen zeichnet sich ein Dissens
gericht öffnet Lehrerinnen mit darüber ab, wie der Beschluss umzusetzen
Kopftuch den Weg an öffentliche ist. Und die Praktiker an den Schulen
fürchten, dass sie nun unangenehme Aus-
Schulen. Die Entscheidung wird einandersetzungen durchstehen müssen.
dort für neue Probleme sorgen. Nordrhein-Westfalen und andere Län-
der prüfen, welche rechtlichen Regelungen

D
ie Frau mit dem weißen Kopftuch erforderlich sind. Baden-Württemberg hat
ringt um Fassung. Ihre Stimme schon angekündigt, sein Schulgesetz zu
stockt, Tränen schimmern in den ändern. Die Privilegierung christlicher Zei-
Augen. Sie sei vergangene Woche sehr oft chen solle fallen, sagt der Stuttgarter Kul-
gefragt worden: „Wie fühlst du dich?“ Sie tusminister Andreas Stoch (SPD), außer-
hat alle Interviewwünsche abgelehnt. Sie dem: „Es ist notwendig, dass wir genauer
triumphiere nicht, sondern sei einfach festlegen, wann die Schwelle zur Störung
„sehr, sehr froh und erleichtert über diese des Schulfriedens überschritten ist.“ In die-
mutige Entscheidung“. sem Punkt sei „die Position des Bundes-
Fereshta Ludin sitzt an einem Konferenz- verfassungsgerichts unscharf“.
tisch des Berliner Instituts für empirische Bayern will seine Regelung dagegen
Integrations- und Migrationsforschung und nicht ändern. Die Vertreter der Landesre-
analysiert zusammen mit Experten den ver- gierung argumentieren, ihr Gesetz bevor-
gangene Woche veröffentlichten Beschluss zuge das Christentum nicht. Es poche nur
des Bundesverfassungsgerichts. Der legt es darauf, dass in der Schule getragene Klei-
letztlich in die Hände von Schulleitern und dungsstücke nicht gegen Verfassungsziele
Schulämtern, ob sie ihren muslimischen verstoßen – und das kann nach bayerischer
Lehrerinnen erlauben, im Unterricht Kopf- Lesart bei einem Kopftuch der Fall sein.
tuch zu tragen. Ob derlei Argumente vor den Gerichten
Das Kopftuch hat Ludins Leben in den Bestand haben, ist fraglich. Gut möglich,
vergangenen 15 Jahren geprägt; genauer Lehrerin Ludin dass eine Kopftuch tragende Klägerin aus
gesagt: der Umgang des deutschen Staats „Sehr, sehr froh und erleichtert“ Bayern bald durch die Instanzen gehen
mit dem Kopftuch. Ludin, Tochter eines wird, wieder bis zum Bundesverfassungs-
afghanischen Diplomaten, wollte Grund- zu verbieten, muss laut Beschluss eine gericht.
schullehrerin werden, mit Kopftuch. Die „hinreichend konkrete Gefahr“ für den Schon die derzeitigen Regelungen im fö-
Behörden in Baden-Württemberg ver- Schulfrieden vorliegen oder die staatliche deralen Schulsystem sind unübersichtlich:
sagten ihr die Aufnahme in den Staats- Neutralität gefährdet sein, etwa durch Bremen und Berlin verbieten Zeichen aller
dienst – die sie auch nach dem Urteil des missionierende Pädagoginnen. Vor zwölf Religionen in der Schule. Nicht erlaubt ist
Bundesverfassungsgerichts 2003 nicht er- Jahren hatte das höchste deutsche Gericht das Kopftuch bei Lehrerinnen auch in Nie-
reichte. noch befunden, eine abstrakte Gefahr für dersachsen und dem Saarland. Acht wei-
Sie zog nach Berlin, um dort an einer den Schulfrieden reiche aus, um das tere Länder, etwa Rheinland-Pfalz, haben
nicht-staatlichen muslimischen Schule zu Kopftuch per Gesetz zu verbieten, also die nie Kopftuchgesetze erlassen.
unterrichten. Das neue Urteil, sagt sie, sei bloße Befürchtung, dass sich Eltern, Schü- Damit sei man gut gefahren, heißt es
eine klare Ansage an die Gesellschaft: „Ge- ler oder Kollegen daran stoßen. aus dem Mainzer Bildungsministerium. Es
rechtigkeit wurde hergestellt.“ Der jüngste Richterspruch macht eine habe bei einer Handvoll von Kopftuch-
Dass damit die Diskussion beendet sei, ganze Reihe von Verhaltensregeln in den Lehrerinnen nur in einem Fall Probleme
glaubt auch sie nicht. Denn künftig werden Schulgesetzen der Bundesländer zur Ma- gegeben, und die hätten sich auf dem klei-
die Schulen im Einzelfall darüber befinden kulatur. Neben Nordrhein-Westfalen trifft nen Dienstweg lösen lassen.
müssen, ob durch ein Kopftuch der Schul- der Beschluss Baden-Württemberg, Hessen Ähnlich werden sich künftig mehr Schu-
frieden gestört oder die staatliche Neutra- und wohl auch Bayern, deren Gesetze len durchlavieren müssen. In Zukunft hät-
lität gefährdet ist. Doch wer definiert ei- christliche Symbole privilegieren. Die Ver- ten Lehrer, Schulleiter und die Schulauf-
gentlich, was den Schulfrieden stört? fassungsrichter urteilten, es sei Aufgabe sicht vor Ort zu entscheiden, wie man mit
Die Bundesverfassungsrichter vollzogen von bekenntnisoffenen Schulen, gleicher- religiösen Symbolen verfährt, es gehe um
eine Kehrtwende. Der Staat darf Lehrerin- maßen „offen zu sein für christliche, für den „Einzelfall“ und „passfähige Lösun-
FOTO: DGE / DEUTSCHER LEVANTE VERLAG

nen wie Ludin nicht mehr pauschal unter- muslimische und andere religiöse und welt- gen“, sagt Brunhild Kurth (CDU), Kultus-
sagen, in der Schule ein Kopftuch zu tra- anschauliche Inhalte und Werte“. ministerin von Sachsen und Präsidentin
gen, so der Spruch aus Karlsruhe. Damit Muslimische Verbände hoffen, dass der Kultusministerkonferenz.
bekamen zwei Pädagoginnen aus Nord- Kopftuch tragende Lehrerinnen nun als Für die Schulen bedeutet das mehr Ar-
rhein-Westfalen recht, die zuvor in meh- akzeptierte Kolleginnen in die Lehrerzim- beit. Sie begrüße den Beschluss des Bun-
reren Instanzen gescheitert waren. mer einziehen. Manche Bildungspolitiker desverfassungsgerichts, sagt Barbara Graf,
Künftig wird das Kopftuch an deutschen glauben, die Quote der Migranten dort Direktorin in Vaihingen und geschäftsfüh-
Schulen im Regelfall erlaubt sein. Um es werde steigen, ein Ziel, das Politiker seit rende Schulleiterin der Stuttgarter Gym-
60 DER SPIEGEL 13 / 2015
nasien – aber: „Trägt eine angehende Kol- Unverständnis über die Verfassungsrich- berg. Sein Verband, eine der großen Leh-
legin Kopftuch, dann gehört es künftig zu ter äußern vor allem Pädagogen, die rergewerkschaften, sehe den Beschluss mit
meiner Aufgabe zu prüfen, dass sie sich schlechte Erfahrungen mit streng religiö- „großer Skepsis“, so Brand. Eigentlich sei
weltanschaulich neutral verhält und nicht sen muslimischen Eltern gemacht haben. man in Baden-Württemberg mit der beste-
missioniert“, sagt die Direktorin. „Umge- „Manche Mädchen kommen mit kruden henden Regelung ganz gut gefahren: Mus-
kehrt muss ich die Kollegin danach auch Vorstellungen darüber in die Schule, wer limische Lehrerinnen durften nur im mus-
gegen ungerechtfertigte Verdächtigungen eine ehrbare Frau ist und wer nicht“, er- limischen Religionsunterricht Kopftuch tra-
und Angriffe von Eltern in Schutz nehmen, zählt eine Lehrerin an einer Mannheimer gen, sonst nicht.
die sich am Kopftuch stören.“ Brennpunktschule. Das Kopftuch gelte in Immerhin kann die neue Regelung mit
Nur wenige Schulleiter freuen sich über den Diskussionen dann schnell als Merk- juristischen Kuriositäten aufräumen. Die
die neuen Aufgaben. „Die Verunsicherung mal der Ehrbaren, die anderen Mädchen zum Islam konvertierte Stuttgarter Lehre-
ist groß“, berichtet Thomas Böhm, der am würden diskriminiert. rin Doris Graber etwa unterrichtete trotz
Institut für Lehrerfortbildung in Mülheim Seit Jahren steige die Zahl der Schüle- Verbot bis zu ihrer Pensionierung mit
an der Ruhr Schulleiter und Lehrer in rinnen mit Kopftuch, hat die Pädagogin Kopftuch, solange ihre Verfassunsbe-
Rechtsfragen fit macht. „Alle wollen wis- beobachtet. Offenbar würden viele da- schwerde anhängig war – sie wickelte es
sen, was nun auf sie zukommt und ob sie heim unter Druck gesetzt. „Ich habe Mäd- einfach wie ein Piratentuch um den Kopf.
selbst Regelungen treffen müssen.“ chen vor mir sitzen, die heulend sagen, „Das jetzige Urteil ist exakt das, was wir
Bei einem seiner Seminare am Dienstag dass sie nicht mehr in den Sportunterricht damals gefordert haben“, sagt Grabers An-
in Bad Honnef erklärte Böhm den Päda- oder mit auf den Schulausflug dürfen“, walt Knut Schnabel. „Das Kopftuch hat
gogen die Rechtslage so: Damit eine Stö- sagt die Lehrerin. Spreche sie dann mit nie jemanden gestört.“
rung des Schulfriedens vorliege, müsse den Familien, werde auch sie als nicht ehr- Der Stuttgarter Anwalt hat auch im Auf-
eine Kopftuchträgerin schon „massive Pro- bar beschimpft. „Deshalb halte ich die trag einer Erzieherin mit Kopftuch eine
bleme“ verursachen. neue Kopftuch-Regelung für ein falsches Verfassungsbeschwerde eingereicht. Für
Aber auch in einem solchen Fall könnte Zeichen.“ sie gilt noch eine ähnliche Vorschrift wie
die Pädagogin in einer anderen Klasse ein- Der Anpassungsdruck auf muslimische bislang für die Lehrerinnen. Einen Be-
gesetzt werden, eine Entlassung aus dem Mädchen werde steigen, prophezeit auch schluss des Bundesverfassungsgerichts er-
Schuldienst allein aufgrund des Kopftuchs Gerhard Brand, Vorsitzender des Verbands wartet Schnabel in Kürze.
sei nicht denkbar. Bildung und Erziehung in Baden-Württem- Markus Deggerich, Jan Friedmann, Dietmar Hipp

Doch die Versammlung aller 16 Ver- und damit bindend – sei im Urteil von
Heikle Wende fassungsrichterinnen und -richter wird
wenig geliebt: Zu umständlich und
schwerfällig sei dieses Prozedere – und
2003 nur gewesen, dass ein Verbot eine
gesetzliche Grundlage braucht. Doch
diese Forderung bezieht sich in dem Ur-
Justiz Beim Kopftuch-Be- vor allem könnte es passieren, dass teil nur auf „abstrakte Gefahren“, also
schluss haben Verfassungsrich- diejenigen, die im Senat eine Mehrheit genau auf das generelle Verbot, das der
haben, im Plenum in der Minderheit Erste Senat jetzt abgelehnt hat.
ter ihre Kollegen übergangen. sind. Zwei der acht Richter des Ersten Se-
Um das zu vermeiden, wird gern, wie nats stimmten jetzt gleichwohl gegen

V
or knapp zwölf Jahren hatte der auch jetzt, eine Abkehr als Fortsetzung ihre Kollegen. Sie meinten, die Mehr-
Zweite Senat des Bundesverfas- der früheren Rechtsprechung verkauft: heit entferne sich „so auch von den
sungsgerichts geurteilt, dass die Immer wieder zitiert der aktuelle Be- Maßgaben“ des Urteils von 2003. Und
Länder Lehrerinnen per Gesetz verbie- schluss das Urteil von 2003 – nur nicht ein Mitglied des derart düpierten Zwei-
ten dürfen, ein muslimisches Kopftuch da, wo er sich inhaltlich davon entfernt. ten Senats erklärt: „Die Loyalität ge-
zu tragen. Im Karlsruher Flurfunk ist dazu folgen- bietet mir, mich nicht kritisch über Kol-
Die Möglichkeit eines solchen Ver- de Begründung zu hören: „Tragend“ – legen zu äußern.“ Dietmar Hipp
bots hat nun der Erste Senat des
Gerichts drastisch eingeschränkt. Ver-
boten werden darf das Kopftuch nur
bei „konkreten Gefahren“. Im Karls-
ruher Richterkreis regt sich nun Unmut
über den Ablauf der Kehrtwende.
Denn der Richtungsschwenk ist nicht
nur scharf, sondern auch heikel: Die
Mehrheit im Ersten Senat fällte ihre
Entscheidung, ohne sich vorher mit
den Kollegen des Zweiten Senats zu-
sammenzusetzen. Dabei heißt es in
Paragraf 16 des Bundesverfassungs-
gerichtsgesetzes: „Will ein Senat in
einer Rechtsfrage von der in einer Ent-
FOTO: STOCKHOFF / IMAGO

scheidung des anderen Senats enthalte-


nen Rechtsauffassung abweichen, so
entscheidet darüber das Plenum des Richter des Ersten Senats
Bundesverfassungsgerichts.“

DER SPIEGEL 13 / 2015 61


Das Volkslaster
Alltagssucht Millionen Menschen nutzen jede Gelegenheit, zum Smartphone zu greifen. Forscher
vergleichen das Verhalten mit dem von Nikotinabhängigen – und warnen vor Schäden.

U
m 22.51 Uhr ist die Folter beendet.
Kaum läuft in einem Hamburger
Großkino der Abspann von „Fifty
Shades of Grey“, fummeln etliche Besu-
cher in ihren Hosen-, Jacken- und Hand-
taschen herum. Es sind auch Raucher mit
Lungenschmacht dabei, die ihre Zigaret-
tenschachtel hervorholen. Bei den meisten
handelt es sich aber um Menschen, die
nach zwei Stunden Verzicht endlich wie-
der checken wollen, ob Kurznachrichten
eingegangen sind oder etwas Interessantes
auf Facebook gepostet wurde.
Bereits auf dem Weg zum Ausgang schau-
en viele Kinobesucher stumm und mit ge-
senktem Blick aufs Display ihres Smart-
phones. Einige lesen nur, andere tippen
während des Laufens Botschaften für die
„Freunde“ in den sozialen Netzwerken oder
führen Telefonate, die offenbar keinen Auf-
schub dulden. Es ist eine Szene, wie sie sich
jeden Abend in vielen Kinos, Theatern oder
Konzertsälen der Republik beobachten
lässt. Sie offenbart, wie fixiert einige auf
ihre kleinen Taschencomputer sind.
Das Verhalten von Millionen Nutzern
hat längst suchtartige Züge angenommen –
und zwar nicht nur das von Teenagern,
sondern auch das von Menschen jenseits
der 40. Sie schauen morgens mit schläfri-
gen Augen als Erstes aufs Handydisplay –
und abends als Allerletztes. Sie greifen
Hunderte Male am Tag zu ihren Mobilge-
räten und schaffen es nicht einmal, sie bei
Treffen mit Freunden in der Tasche zu las-
sen. Oft scheint eine ähnliche Gier im Spiel
zu sein wie bei Kettenrauchern, und
manchmal gefährdet diese Gier nicht nur
die eigene Gesundheit, sondern wie beim
Qualmen auch die der Mitmenschen.
Welches Ausmaß das Volkslaster ange-
nommen hat, lassen Forschungsergebnisse
des Ulmer Psychologen Christian Montag,
37, und seines Bonner Informatikkollegen
Alexander Markowetz, 38, erahnen. Die
beiden haben eine Smartphone-App na-
mens „Menthal“ entwickelt, die sich be-
reits 300 000 Menschen heruntergeladen
haben. Das Programm zeichnet unter an-
derem auf, wie oft die Nutzer ihr Gerät
aktivieren und wie viele Kurznachrichten
sie schreiben. Die Daten, welche die bei-
den Forscher nun ausgewertet haben, seien
„zum Teil erschreckend“, sagt Montag.
Der durchschnittliche Menthal-Nutzer
scheint danach eine Art Getriebener zu sein.
Wenn man unterstellt, dass er 18 Stunden
wach ist und 6 Stunden schläft, schaltet er
sein Lieblingsgerät im Durchschnitt alle 18 Jugendliche im Amsterdamer Rijksmuseum: Täglich vier Stunden chatten

62 DER SPIEGEL 13 / 2015


Deutschland

Minuten ein. Zehn Prozent der Nutzer grei- den gar Sehnenscheidenentzündungen in Zügen würden mehr handyfreie Zonen ein-
fen sogar öfter als alle zehn Minuten zu ih- den vom Tippen geplagten Daumen. gerichtet. Er ist sich sicher, dass viele
rem Handy und schreiben an manchen Ta- Psychologe Montag glaubt, dass iPhones Smartphoner selbst unter der exzessiven
gen hundert Kurznachrichten – die weitaus und andere Geräte zunehmend zu einer Nutzung leiden. Der Umstand, dass sich
meisten davon mit dem Messengerdienst „Produktivitätsbremse“ werden. Nicht nur, bereits 300 000 Menschen die Menthal-App
„WhatsApp“, mit dem sich durchschnittliche weil sie körperliche Schäden verursachen heruntergeladen haben, zeuge von einem
Nutzer etwa 30 Minuten pro Tag beschäfti- können. Sondern auch, weil starke Smart- wachsenden Problembewusstsein.
gen. Frauen sind bei WhatsApp wesentlich phone-Nutzung den Schulunterricht stört Eine Umfrage der DAK stützt die Theo-
aktiver als Männer und bringen es auf 40 (SPIEGEL 51/2014) und jeden Tag Millionen rie. Als die Krankenkasse Ende vergange-
Minuten pro Tag. Stunden Arbeitszeit mit den Geräten ver- nen Jahres von ihren Kunden wissen wollte,
Besonders exzessiv chatten, posten und plempert werden. Laut einer US-Studie welche guten Vorsätze sie hätten, antwor-
spielen die Probanden unter 25. Sie kom- beschäftigt sich jeder vierte amerikanische teten 15 Prozent: weniger Zeit mit Handy,
men auf eine durchschnittliche tägliche Arbeitnehmer während eines durchschnitt- Computer und Internet verbringen. Bei den
Nutzungsdauer von fast vier Stunden – lichen Arbeitstags etwa eine Stunde lang unter 30-Jährigen waren es sogar fast 30
Musikhören über Kopfhörer nicht mitge- mit seinem privaten Smartphone. Die Men- Prozent. Auch einige Jugendliche scheinen
rechnet. „Derlei Verhalten ist bei den Jün- thal-Daten deuten darauf hin, dass deutsche ihr Nutzungsverhalten zu hinterfragen. Bei
geren eher die Regel als die Ausnahme“, Handybesitzer nicht pflichtbewusster sind. einer repräsentativen Studie des Medien-
sagt Forscher Markowetz. Allerdings gebe Wie Raucher, die regelmäßig zum Qualmen pädagogischen Forschungsverbunds Süd-
es auch immer mehr „Silver Surfer“ ab 50, vor die Firmentür schleichen, nutzen sie west im vergangenen Jahr gaben 64 Prozent
die ihr Mobiltelefon mehrere Stunden am offenbar jede sich bietende Gelegenheit, der befragten 12- bis 19-Jährigen an, viel
Tag nutzten und nichts mehr fürchteten um zum Smartphone zu greifen oder im Zeit mit Smartphones zu „verschwenden“.
als einen leeren Akku. Internet zu surfen – ein Treiben, das schon „In wenigen Jahren wird das Suchtver-
Die Menthal-Erfinder vergleichen exzes- etliche Gerichte beschäftigt hat. halten mit den elektronischen Medien so
sive Smartphone-Nutzung mit dem Ver- So entschied das Landesarbeitsgericht sanktioniert sein wie das Rauchen“, pro-
halten von Nikotinabhängigen, so wie ei- Rheinland-Pfalz nach der Klage eines Al- phezeit der Hamburger Soziologe Matthias
nige andere Wissenschaftler auch. Wer alle tenheimmitarbeiters, dass die Smartphone- Horx. „Man wird dann als ungebildet und
zehn Minuten sein Smartphone nutze, sei Nutzung am Arbeitsplatz von heute auf charakterschwach gelten, wenn man auf
„eindeutig ein Opfer unterbewusster Au-
tomatismen“, glaubt Markowetz. Hinzu
komme, dass einige Menschen sogar unter
„In wenigen Jahren wird man als charakterschwach gelten,
Entzugserscheinungen litten, wenn sie ihr wenn man ständig auf sein Smartphone starrt.“
Mobiltelefon über mehrere Stunden nicht
zur Hand nehmen könnten. morgen verboten werden dürfe. Es gehöre sein Smartphone starrt.“ Sein Kollege Ul-
Eine Studie von Wissenschaftlern der „zu den selbstverständlichen Pflichten, dass rich Reinhardt von der BAT-Stiftung für Zu-
Universität Bonn, an der Montag beteiligt Arbeitnehmer während der Arbeitszeit von kunftsfragen erwartet eine „abnehmende
war, deutet auf Parallelen zwischen beiden der aktiven und passiven Benutzung des Nutzung“ – unter anderem, weil sich die
Lastern hin: Ein genetischer Marker, der Handys absehen“. Wer trotz Verbots weiter exzessive Beschäftigung mit dem Smartpho-
mit Nikotinabhängigkeit assoziiert wird, SMS schreibt und erwischt wird, muss so ne negativ auf Partnerschaften auswirke.
steht auch mit Internetsucht in Zusammen- harte Konsequenzen fürchten wie notori- Doch wie schafft man es, sich den oft
hang. Kurioserweise habe die Untersuchung sche Internetsurfer: Deren Kündigung ist fast zwanghaften Griff zum Mobiltelefon
ergeben, dass die beiden „Suchtformen“ laut einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts abzugewöhnen und die Nutzungsdauer zu
nur selten „gekoppelt“ vorkämen: Starke rechtens. Bei dem Fall ging es um einen senken? Auf jeden Fall sollte man eine
Raucher neigten nicht zur übermäßigen Mann, der nachweislich pro Tag mehr als normale Armbanduhr umbinden, glauben
Handynutzung – und notorische Smartpho- eine Stunde lang surfte. Montag und Markowetz. Diejenigen, die
ner griffen nicht ständig zur Zigarette. Wo- Während die Smartphone-Nutzung am keine trügen, nutzten ihr Smartphone mehr
möglich genügt genetisch so veranlagten Arbeitsplatz lediglich eine Art Betrug ist, als anderthalbmal so lang wie alle anderen,
Menschen eine der Angewohnheiten. kann sie im Straßenverkehr potenziell töd- fanden die beiden Forscher bei einer Studie
„So wie es das Rauchen tut, hilft der lich sein. Immer wieder passieren schwere mit 2776 Probanden heraus. Das liege unter
Griff zum Smartphone natürlich, Zeit Unfälle, weil Männer und Frauen am Auto- anderem daran, dass man sein Handy oft
totzuschlagen, zum Beispiel an Bus- oder steuer nicht auf ihr Smartphone verzichten einfach nur zur Hand nehme, um die Uhr-
U-Bahn-Haltestellen“, sagt Montag. Au- wollen. Abgelenkt von SMS oder Telefona- zeit zu checken – und dann die günstige
ßerdem werde die Beschäftigung mit dem ten, überfahren sie Radler, krachen gegen Gelegenheit nutze, um bei Facebook oder
kleinen Taschencomputer oft als eine Art Bäume oder driften in den Gegenverkehr anderswo vorbeizuschauen.
Belohnung empfunden: Statt des Nikotin- ab. So wie eine 47-jährige Frau aus Bochum, Montag glaubt, dass viele Hardcore-
kicks warte dann eben eine nette Nach- die Kurznachrichten gelesen und deswegen Nutzer den Blick auf die Welt wieder kom-
richt oder eine Runde „Quizduell“. den Tod zweier Insassen eines entgegen- plett neu lernen müssen. Als er einigen Be-
Natürlich ist der Genuss von SMS oder kommenden Fahrzeugs verursacht haben kannten kürzlich vorschlug, im Bus oder
Online-Games für den Körper nicht so ge- soll; sie muss sich in diesen Tagen wegen in der Straßenbahn einfach mal aus dem
fährlich wie der Schadstoff-Cocktail, der in des Verdachts auf fahrlässige Tötung vor Fenster zu schauen anstatt aufs Display des
einer Zigarette steckt. Ärzte beklagen aber Gericht verantworten. Polizei und Verkehrs- Smartphones, erntete er Unverständnis.
orthopädische Schäden der Smartphone- verbände wollen zukünftig mit häufigeren „Die haben mich angeguckt, als tickte ich
FOTO: GIJSBERT VAN DER WAL

Nutzer aufgrund der typischen Haltung Kontrollen und Info-Kampagnen gegen die nicht richtig.“ Guido Kleinhubbert
mit gesenktem Kopf, gebeugten Schultern Unsitte vorgehen, SMS-lesend und damit
und gekrümmtem Rücken. Andere Medi- praktisch blind durch die Gegend zu fahren. Video: Bin ich
ziner warnen vor nachlassender Konzen- „Der Widerstand gegen die ausufernde Smartphone-süchtig?
trationsfähigkeit und drohender Kurzsich- Nutzung wächst“, sagt Markowetz. In öf- spiegel.de/sp132015smartphone
tigkeit, manche Smartphone-Nutzer erlei- fentlichen Gebäuden, Restaurants und in oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 13 / 2015 63


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FOTOS: @MLMANDL / EYEEM.COM (1); @DANTES1401 / EYEEM.COM (2); @HELSINKI / EYEEM.COM (3); @FRAUMAIER9 / EYEEM.COM (4); @GAL0611 / EYEEM.COM (5); @ZUCRY / EYEEM.COM (6); MARKUS SCHOLZ / DPA (U.)
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Sechserpack Welt schlecht, Immobilie teuer, Missgunst siegt – das alles lernt man bei „Monopoly“ in England (1), Rumänien (2),
Schweden (3), Deutschland (4), Spanien (5), Finnland (6). Ein arbeitsloser Klempner verkaufte das Spiel vor 80 Jahren und
wurde Millionär; weltweit funktioniert es nun als Schule der Gier. Und war doch einst als Systemkritik gemeint. Tja.

Internet und würden viel Geld ver- ner Niederlassung in Irland Zugriff auf Datenbanken gro-
Was kümmert die lieren. den internationalen Daten- ßer Internetprovider. Wenn
SPIEGEL: Von welchen ande- schutzregelungen zu entzie- wir sehen, was heute mit un-
Netzwelt, dass es Sie ren sprechen Sie? hen, zeigt doch, dass wir seren Daten geschieht, ist die
gibt, Herr Caspar? Caspar: Von Internetdienste- wahrgenommen werden. Volkszählung aus den Acht-
anbietern und Datensamm- SPIEGEL: Auch von Google? zigerjahren eine Bagatelle.
Johannes Cas- lern aus der Privatwirtschaft, Caspar: Gerade von Google. Digitale Technik durch recht-
par, 53, Ham- die Daten aus ökonomischem Wir haben eine Anordnung liche Vorgaben zu bändigen
burger Daten- Interesse erheben. Aber auch erlassen, wonach Nutzer ein- wird die zentrale Aufgabe
schutzbeauf- von staatlichen Stellen, die willigen müssen, bevor der nächsten Jahre sein.
tragter, über Daten von Bürgern erfassen Google diensteübergreifende SPIEGEL: Darf man lügen im
den Sinn und auswerten. Wir sind eine Profile von ihnen erstellen Internet?
seines Amtes Kontrollinstanz, wir verhän- darf. Ich denke, Google hat Caspar: Das soll man sogar.
gen Bußgelder, zum Beispiel. erkannt, dass Änderungen Wer in sozialen Netzen un-
SPIEGEL: Alle wissen alles SPIEGEL: Kümmert den Inter- im Umgang mit Nutzerdaten terwegs ist, dem raten wir,
über alle – was kann Ihre netriesen Facebook ein Buß- unabdingbar sind. das unter Pseudonym zu tun.
Dienststelle dagegen noch geld? Den Dienst nutzen SPIEGEL: Trotzdem hat man Dies gilt vor allem für junge
tun? etwa 30 Millionen Deutsche – den Eindruck, gegen diese Nutzer. Selbst wenn ein Un-
Caspar: Gerade in der digi- und einige wenige Daten- Konzerne und gegen die Ge- ternehmen wie Facebook das
talen Gesellschaft sind schützer sollen dafür sorgen, heimdienste kämpfen Sie auf nicht zulässt und pseudony-
Datenschützer unabdingbar. dass es dabei mit rechten verlorenem Posten. me Profile löscht.
Bürger müssten sonst ihre Dingen zugeht. Wie soll das Caspar: Unser Problem ist die SPIEGEL: Sind Sie bei Face-
Rechte anderen gegenüber funktionieren? Massenüberwachung durch book?
in Eigenregie durchsetzen, Caspar: Dass Facebook seit Geheimdienste auch westli- Caspar: Ja, zu Forschungs-
allein vor Gericht ziehen Jahren versucht, sich mit ei- cher Demokratien und deren zwecken, noch ungelöscht. fio

66 DER SPIEGEL 13 / 2015


Gesellschaft
„Ach, weil er mich hasst, das war schon immer so!“
So geht Juacelos Version, er erzählt sie später am Telefon. Es
gibt aber auch eine andere Version, die die Leute von Agua
Streit Branca sich erzählen, eine, die erklärt, woher der Hass gekom-
men sein könnte: Juacelo habe mit E.s Freundin angebandelt.
Und in der Macho-Welt, in der Juacelo lebt, wird aus Eifersucht
Eine Meldung und ihre Geschichte Wie ein und Wut schnell Gewalt.
Brasilianer eine bizarre Verletzung überlebte E., so erzählen es Augenzeugen, schubste Juacelo vor sich
her. Er schlug nach ihm. Juacelo wich den Fausthieben aus, woll-
te fliehen, so bestätigt es auch die Polizei nach Zeugenbefra-

A
ls der Landarbeiter Juacelo Nunes de Oliveira am Abend gungen, aber plötzlich hatte E. ein Messer in der Hand, er stach
des 28. Dezember 2014 in die Notaufnahme der Unfall- viermal zu, plötzlich war das Messer weg.
klinik „Professor Zenon Rocha“ kommt, ist er bei klarem Der Griff ragte aus Juacelos Kopf, der stöhnend zusammen-
Bewusstsein, er kann sogar mit seiner Frau sprechen, was nicht brach, während E. aus der Bar hastete. Und seitdem fehle von
selbstverständlich ist, denn in seinem Kopf steckt, bis zum An- E. jede Spur, sagt die Polizei.
schlag, ein Messer. Im Krankenhaus in Teresina ordnet Oka jetzt eine Compu-
Juacelo, auf einer Trage liegend, erklärt seiner Frau in abge- tertomografie an; das Gehirn ist unverletzt, der Sehnerv eben-
rissenen Worten, dass es ihm leidtue, sie möge die Kinder in falls. Oka lässt Juacelo in den OP 9 bringen. Die Operation ist
seinem Namen küssen, was sie unter Tränen verspricht. heikel: Beim Herausziehen der Klinge könnten Blutgefäße
Das Messer ist an der linken Schläfe verletzt werden, die dann sofort ver-
eingedrungen, es steckt schräg im Schä- sorgt werden müssten. Außerdem wol-
del, bis an den rechten Unterkiefer. len die Ärzte Juacelo keine Vollnar-
Länge der Klinge: 30 Zentimeter, ein kose geben, Grund: Sie können ihn
Grill- und Küchenmesser. nicht künstlich beatmen, die breite
Die Klinik „Professor Zenon Rocha“ Klinge blockiert den Nasenrachen-
liegt an der Bundesstraße 343, am süd- raum, dort, wo der Tubus in die Luft-
lichen Stadtrand von Teresina. Die röhre eingeführt werden müsste. Das
Stadt ist Verwaltungssitz des Bundes- heißt, Juacelo ist zwar sediert, muss
staates Piauí im Nordosten Brasiliens. die Operation aber bei Bewusstsein
Die „Rocha“ ist ein dreistöckiger Bau, durchstehen. Zum Glück, denkt Oka,
erst seit 2008 in Betrieb, 289 Zimmer, steht Juacelo unter Schock, und die
und in der Notaufnahme herrscht an Hormone, die ausgeschüttet werden,
diesem Abend wieder mal Hochbe- vor allem Adrenalin und Kortison, be-
trieb – zwischen Weihnachten und wirken, dass er die Schmerzen nicht
Neujahr gibt es überdurchschnittlich 3-D-Computertomografie von Juacelos Kopf so stark verspürt.
viele Unfälle, Schlägereien, die Ärzte Sie legen Juacelo auf den Rücken,
haben alle Hände voll zu tun. Einer eine Schwester hält seine Hand. Sie
von ihnen ist Salomão Oka; jung, tüch- ziehen die Klinge jetzt heraus, sehr
tig, freundlich. Oka ist gerade dabei, langsam, sehr behutsam, immer nur
einem Mädchen das Kinn zu bandagie- etwa einen halben Zentimeter, dann
ren, als ein Kollege die Tür zum Be- schauen sie nach, ob es Blutungen gibt.
handlungszimmer aufreißt, sinngemäß Noch ein halber Zentimeter.
sagt er: Komm, ein hammerharter Fall! Zu Juacelos Glück befanden sich an
Wenige Stunden zuvor, am frühen jenem Abend, als er verwundet wurde,
Abend des 28. Dezember, hatte Jua- zwei Freunde in Zanzãos Bar: José
celo, trotz Monatsende, immer noch Souza Amorim und Leo Gonçalves de
etwas Geld übrig, er beschloss, zur Bar Aus der „Frankfurter Allgemeinen“ Souza. Sie halfen Juacelo hoch, bespra-
do Zanzão zu fahren, dort würde Se- chen sogar, ob sie selbst das Messer
resta gespielt werden, weiche Folkmusik aus dem Nordosten, aus seinem Schädel ziehen sollten, entschieden sich aber
die Songs von Chico Paulo oder Chico Seresteiro, und er würde dagegen, eine auf jeden Fall richtige Entscheidung. Sie halfen
zwei, drei Bier trinken, auf keinen Fall mehr, Juacelo nahm sich dem Verletzten auf ein Motorrad und nahmen ihn zwischen
selbst das Versprechen ab. sich. Sie fuhren ihn zu der kleinen Klinik von Agua Branca,
Juacelo und seine Familie, Frau und vier Kinder, leben in der etwa 15 Minuten holpriger Fahrt. Von dort brachte ihn eine Am-
Kleinstadt Agua Branca, anderthalb Autostunden von Teresina ent- bulanz nach Teresina, schließlich auf den Behandlungstisch in
fernt. In Juacelos Gegend haben die Straßen keine Namen: Straße Zimmer 9.
3, Block 3. Juacelo bebaut dort ein kleines Stück Land, Mais, Noch ein halber Zentimeter.
Süßkartoffeln, Gemüse, außerdem gehört ihm ein schwarzes Hon- Noch ein kleines Stück.
da-Motorrad, 125 Kubikzentimeter, mit dem er Leute kutschiert Wenige Tage später wurde Juacelo als geheilt entlassen. Er
und gelegentlich Besorgungen macht. Die Kinder heißen Jardel, ist wieder daheim, bei seiner Familie, eine Narbe ist ihm geblie-
Jardiel, Jardeana, Ismael. Die Frau arbeitet auf dem Feld mit. Sie ben. Er wolle jetzt sein Leben ändern, sagt er, seiner Frau keinen
kommen gerade so durch. Es ist ein hartes, eintöniges Leben. Kummer mehr machen, das habe er aus der Geschichte gelernt.
Bei Zanzão lief erstklassige Musik, Juacelo trank ein schnelles Während der Operation, erzählt er, habe er kaum Schmerzen
Bier, mit dem zweiten ließ er sich mehr Zeit, er fühlte sich gut. gespürt, nur das Knirschen und Reiben des Metalls auf Knochen
Irgendwann musste er pinkeln, wollte zur Toilette, da verstellte sei unangenehm gewesen. Er habe gebetet während der Opera-
ihm E. den Weg, ein großer, dunkler, muskulöser Mann, der tion, und es sei gut gewesen, dass da jemand seine Hand hielt.
vor der Toilettentür stand und ihn anschnauzte. Warum? Ralf Hoppe

DER SPIEGEL 13 / 2015 67


Flüchtlinge in Münster

Das Versprechen
Migration Die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland steigt weiter, 250 000 sollen in diesem
Jahr kommen, 80 000 mehr als im vergangenen Jahr. Wie geht eine Stadt,
die sich dem Anstand verpflichtet hat, mit dieser Situation um? Von Uwe Buse

D
ie Busse kommen verlässlich, un- die Stadt wurde ihnen zugewiesen, und als gehen oder abgeschoben werden. So
erbittlich, immer am Vormittag. auch Münster hat nicht um Flüchtlinge ge- erzeugt jeder neue Flüchtling ein neues
Mal ist es einer, mal sind es zwei, beten. Sie hat, wie alle Kommunen Problem, für Münster und für Köhnke
sie bringen Männer, Frauen, Kinder und Deutschlands, ihr Kontingent zu akzeptie- ganz persönlich.
Greise nach Münster, Flüchtlinge aus Sy- ren. Es ist keine ideale Beziehung, es gibt Er hat den Politikern, den Bürgern ver-
rien, dem Irak, dem Kosovo, aus Afrika. keine einfachen Lösungen. sprochen, dass diese Menschen anständig
Manche waren wochenlang unterwegs, an- 153 Flüchtlinge hatte Münster im Januar behandelt, anständig untergebracht wer-
dere monate- oder jahrelang, ihre Odyssee unterzubringen, 254 waren es im Februar, den, und bislang ist es ihm gelungen, dieses
endet jetzt und hier, vor dem Sozialamt für die Stadt ein unfreiwilliger Rekord, der Versprechen zu halten, größtenteils zumin-
der Stadt, auf dem Parkstreifen. Die Men- Jochen Köhnke, Dezernent für Migration dest. In Münster gibt es keine Massen-
schen stehen dort mit ihren Koffern, Plas- und interkulturelle Angelegenheiten in unterbringung am Stadtrand, kein Outsour-
tiktüten, Smartphones in der Hand und Münster, von politischen Gegnern auch cen der Verantwortung an Firmen, die an
blicken auf die fremde Stadt, ihre neue Ausländer-Jochen genannt, den Schlaf Flüchtlingen verdienen wollen. Es gibt
Heimat. Sie haben Münster nicht gewählt, raubte. Denn es kommen mehr Flüchtlinge keine privaten Wachdienste, keine Zelte.
68 DER SPIEGEL 13 / 2015
Gesellschaft

dem neuen Tag, jedem neuen Flüchtling. unterkunft entstehen sollte, mit hohem
Das Bundesamt für Migration geht davon Zaun. Sein Konzept beruht auf der eigent-
aus, dass in diesem Jahr rund 250 000 lich schlichten Einsicht, dass kleine Unter-
Flüchtlinge neu nach Deutschland kom- künfte, verstreut über das ganze Stadt-
men werden, rund 80 000 mehr als im ver- gebiet, auf lange Sicht verträglicher sind
gangenen Jahr, vor allem wohl aus Syrien, für das kommunale Klima als eine große
den Balkanstaaten, und es stellt sich die Unterkunft.
Frage: Wie geht es unter diesen Umstän- Die Flüchtlinge werden auf viele Viertel
den zu in einer Stadt, die sich zum An- verteilt, ihre Zahl vor Ort bleibt überschau-
stand gegenüber Flüchtlingen verpflichtet bar, soziale Kontrolle und Nachbarschafts-
hat? Wie steht es dann um die Ideale? Wo hilfe funktionieren im günstigsten Fall, es
halten sie stand? Wo geben sie nach unter gibt keine sozialen Brennpunkte. Das war
dem Druck der Verhältnisse? die Hoffnung am Anfang, als Köhnke das
Es ist ein Donnerstag Anfang März, und Konzept institutionalisierte, und erstaun-
Jochen Köhnke ist zu Besuch bei der ka- licherweise entsprach die Realität dem
tholisch sozialen Akademie in Münster, Ideal lange Zeit in hohem Maße.
bei Männern und Frauen, die helfen wol- Doch seit einiger Zeit verändert sich die
len. Köhnke steht vorn am Rednertisch, Situation. Köhnke berichtet seinem Publi-
im Anzug, ohne Krawatte, Sprachduktus kum, dass die Unterkünfte voll sind, zu
und Tonfall erinnern an Franz Müntefe- 100 Prozent, und dass dies kein erstrebens-
ring, den ehemaligen SPD-Vorsitzenden; werter Zustand sei. „Wir wollen eigentlich
mit ihm teilt sich Köhnke auch eine aus- eine Belegung von 85 Prozent, um Manö-
geprägte Grundgelassenheit, hinzu kommt vrierraum zu haben“, sagt Köhnke. 85 Pro-
seit Kurzem wohl ein Hang zum kalkulier- zent bedeuten, es gibt Alternativen, wenn
ten Understatement. Am Tisch lehnt eine Sunniten und Schiiten aus dem Irak unter-
abgewetzte Ledertasche, auf dem Park- gebracht werden müssen, wenn eine Fa-
platz steht sein Campingbus. milie aus dem Kosovo mit zwei pubertie-
Köhnke ist vor wenigen Wochen von renden Mädchen aus dem Bus steigt und
seiner Partei, der SPD, zum Kandidaten ein junger alleinreisender Serbe. 85 Pro-
für die Oberbürgermeisterwahl gekürt wor- zent bedeuten, Köhnke kann möglichen
den, er ist 59 Jahre alt und will einen längst Konflikten vorbeugen, kann die Streitpar-
überfälligen Schritt machen, der sein Be- teien in unterschiedlichen Häusern unter-
rufsleben vervollständigt. Er will sich ver- bringen lassen. 100 Prozent bedeuten, dass
wandeln, vom politisch denkenden Stadt- er all das nicht mehr kann. Dass der Spiel-
verwalter in einen Politiker. raum weg ist.
Der Saal ist voll, Köhnke schätzt, nicht Container will Köhnke in seiner Stadt
nur wegen des Themas „Die Situation der eigentlich nicht haben, weil sie dem Ideal
Flüchtlinge in Münster“, sondern auch sei- nicht entsprechen. Aber es gibt mittlerwei-
netwegen, „ein paar wollen bestimmt se- le fünf Standorte mit Containern in der
hen, was für ein Vogel ich bin“. Stadt, mit insgesamt 225 Flüchtlingen. Im
Er beginnt seinen Vortrag mit dem, was Sozialamt werden sie „Pavillonbauten“ ge-
nicht mehr richtig funktioniert in Münster, nannt, und auch Köhnke wurde gebeten,
man kann es als Vorwärtsverteidigung wer- sie so zu nennen, aber er weigert sich, weil
Stattdessen gibt es Häuser, Neubauten oft, ten. Er nimmt vorweg, was Kritiker ihm es „Container sind“.
für maximal 50 Personen. Es gibt pro Haus vorwerfen könnten, denn das Konzept der An diesem Märzabend zeigt sich Müns-
eine halbe Sozialarbeiter-, eine halbe Haus- fremdenfreundlichen Stadt ist vor allem ter als gastfreundliche Stadt. Wenn es Em-
meisterstelle, es gibt Sprachkurse, gleich sein Konzept. Er hat es vor 15 Jahren pörte gibt in diesem Publikum, dann mel-
nach der Ankunft, bezahlt von der Stadt. durchgeboxt, als in Münster eine Massen- den sie sich nicht. Es melden sich erfahrene
Und demnächst soll nach dem Willen des
Stadtrats das Bremer Modell nach Münster
kommen, dann werden Flüchtlinge eine
Krankenversichertenkarte erhalten, so wird
ihre medizinische Versorgung leichter.
In anderen Städten würden diese Zustän-
de Pegida wiederbeleben und auf die Straße
treiben, in Münster existierte Pegida nie so
richtig. Als es Ende vergangenen Jahres den
zaghaften Versuch gab, den lokalen Able-
ger Müngida zu etablieren, gingen rund
10 000 Münsteraner gegen diesen Versuch
auf die Straße, mit selbst gebastelten Pla-
katen, auf einem stand: „Gegen die Idioti-
sierung des Münsterlands“. Nun existiert
FOTOS: MARIA FECK

Müngida nur noch auf Facebook.


Doch solche Erfolge ändern nichts da-
ran, dass es schwieriger wird, den selbst
auferlegten Standards zu genügen, mit je- Dezernent Köhnke: Der Spielraum ist weg

DER SPIEGEL 13 / 2015 69


Geflohene Nigerianerin mit Kind: Der geschundene Teil der Welt

Helfer zu Wort, Pragmatiker, denen es um Auf der Wiese soll ein Flüchtlingsheim befrieden. Er richtete sein Büro in der um-
Optimierungsstrategien geht, um besser entstehen, für 50 Menschen, rund 600 Qua- kämpften Straße ein, machte Bekannt-
funktionierende Netzwerke. Später am dratmeter sollen bebaut werden, ein Zehn- schaft mit Molotowcocktails und Pflaster-
Abend vergleicht Köhnke den Termin mit tel. Diese Vorgabe wurde vereinbart wäh- steinen. Eine Gruppe empörter Akademi-
einem Heimspiel. rend einer dreitägigen Mediation, auch das ker beeindruckt ihn nur mäßig.
Die Empörten in Münster wagen sich eine Idee von Köhnke. 45 Vertreter von Im Saal der Rentenversicherung hielt er
nicht oft in die Öffentlichkeit. Sie sind eine Parteien, Kirchen, Polizei und Verbänden seine Gegenrede, erinnerte an die frühen
Minderheit, werden kleingehalten, auch nahmen teil und fanden schließlich, nach Neunzigerjahre, als Deutschland mehr
während der städtischen Ausschusssitzun- langen, zähen Diskussionen, zum Konsens. Flüchtlinge als heute beherbergte, erinner-
gen, wenn sofort ein SPD-Politiker den Es war der Versuch, den größten gemein- te an die Gefahren, die Flüchtlinge in Kauf
„Bestand des Münsteraner Modells“ be- samen Nenner zu finden, und einer von nehmen, um sicherer zu leben. Er nannte
schwört, nachdem ein CDU-Abgeordneter elf künftigen Standorten, an denen die Zahlen, die die Ausweglosigkeit der Situa-
laut darüber nachgedacht hat, ob es nicht Stadt bauen will, ist diese Wiese. tion verdeutlichen sollten: Kamen im Jahr
möglich sei, die Flüchtlinge in eine andere Kaum waren die Pläne bekannt, gingen 2012 noch 760 Flüchtlinge nach Münster,
Stadt auszulagern. Wenn man dafür eine die Verteidiger der Wiese in Stellung, Leh- waren es 2013 schon 991. Im vergangenen
angemessene Summe bezahlt. rer, Juristen, hohe Verwaltungsangestellte, Jahr wurden rund 1500 Menschen in die
Vor vier Monaten waren die Empörten zu Hause in Uppenberg. Sie schlossen sich Stadt geschickt.
für einen Abend sichtbar, Köhnke sprach zu einer Bürgerinitiative zusammen, und Köhnke stand am Pult und appellierte
mit ihnen im großen Saal der Deutschen sie stellten im Saal der Rentenversiche- an das Mitgefühl seines Publikums, aber
Rentenversicherung Westfalen im Norden rung die Mehrheit, blickten wütend hin- sein Erfolg war mäßig an jenem Abend.
der Stadt, eines mächtigen Komplexes aus über zu Köhnke, der gelassen am Redner- Nur zwei Redner wagten, sich für den Bau
Beton und Glas. pult stand. des Flüchtlingsheims auszusprechen, sie
Auch hier trafen sich Engagierte, aller- Die Kinder brauchen die Wiese, das war redeten kurz und hastig, wurden dann nie-
dings in eigener Sache. Männer, Frauen, eines der Argumente, auch die Rentner mit dergeschwiegen.
das Haar oft schütter oder weiß; die Arme ihren Rollatoren, die Vögel und die Hunde. Wer Mitglieder der Bürgerinitiative ge-
vor der Brust verschränkt, murrten sie vor Es wurde behauptet, das Grünflächenamt gen den Bau trifft, hört als einen der ersten
sich hin. halte sie für unersetzlich, obwohl ein paar Sätze, dass sie sich zu Unrecht in die rechte
„Wenn die erst draußen auf der Wiese Straßen weiter der Stadtpark liegt. Eine Ecke gestellt sehen. Wolfgang Lammers,
ihre Hammel grillen, können deutsche Kin- wichtige Frischluftschneise in der Stadt wer- Jurist, nun in Rente. Heinz Althoff, eben-
der da nicht mehr spielen.“ de blockiert, wenn dieses Haus an dieser falls Pensionär, und Petra Weischer-Hein-
„Was hier passiert, ist quasimonarchis- Stelle gebaut werde. Und es gebe doch Al- richsbauer, Vorsitzende von „Hakuna Ma-
tisch, man könnte es auch diktatorisch ternativen, nicht hier, in dieser Nachbar- tata“, einem Verein, der unter anderem
nennen.“ schaft, aber immer noch im Stadtzentrum. Kirchen in Afrika unterstützt.
Es geht um eine Wiese. Sie liegt, 6000 Köhnke hörte sich die Argumente an, Althoff ist der Sprecher der Initiative,
Quadratmeter groß, baumbestanden und ruhig, von Haus aus ist er ja Sozialarbeiter, er sagt, der Vorwurf der Fremdenfeindlich-
idyllisch, nahe Münsters Zentrum, im er kann sich einfühlen in die Seelenlage keit sei Unsinn. Man habe hier auch schon
Stadtteil Uppenberg, wo der Quadratmeter von Minderheiten, die sich bedroht fühlen. eine Kirche und einen Kindergarten ver-
Bauland bis zu 1200 Euro kostet, wo Seine eigene berufliche Sozialisation fand hindert. Es gehe um Ruhe, um die Natur,
Grundstücke unter 400 Quadratmetern sel- in Düsseldorf statt, in den Achtzigerjahren, nicht um Rassismus. Lammers, der Jurist,
ten sind und gediegene Einfamilienhäuser als er half, die berüchtigte Kiefernstraße, verweist auf Änderungen im Baurecht, die
die Norm. eine Hochburg der Hausbesetzerszene, zu in Kürze die Errichtung von Flüchtlings-
70 DER SPIEGEL 13 / 2015
Gesellschaft

heimen im Außenbereich möglich mach- Anschließend, im Vereinsheim, hat der


ten, und auf die Einstufung von Ländern Repräsentant des Sozialamts, Thomas
als sichere Herkunftsstaaten, sie werde zur Schulze auf’m Hofe, seine Not, alle Hilfs-
Verringerung der Flüchtlingszahlen führen. angebote entgegenzunehmen.
Weischer-Heinrichsbauer hält die Wiese Die künftigen Nachbarn wollen Flücht-
als Standort für ungeeignet, „weil das hier linge zum Amt begleiten, Kinder zum
ja Überflutungsgebiet ist“. Arzt, sie wollen Patenschaften überneh-
Köhnke trifft die drei und noch ein paar men, Sprachunterricht geben, und sie wol-
andere Mitglieder der Bürgerinitiative len spenden. Kleidung, Spielzeug, Ge-
manchmal nach Ausschusssitzungen, dann schirr, Fahrräder, eine Schrankwand, die
diskutieren sie mit ihm über alternative von den Flüchtlingen allerdings noch ab-
Standorte. Wenn Köhnke sich vorstellt, gebaut werden müsste. Schulze auf’m Hofe
sagt er: „Ich bin der, der Ihnen die Flücht- hebt abwehrend die Hände. Kleider besser
linge vor die Nase setzen will.“ Bei einer an die Kleiderkammern der Wohlfahrts-
Gelegenheit verabschiedet er sich mit dem verbände, aber bitte nur gewaschen und
Satz: „Ich höre mir Ihre Argumente gern nur das, was man selbst auch noch tragen
an, aber ich hoffe natürlich, am Ende ge- würde. Spielzeug besser später, wenn man
winne ich.“ Petra Weischer-Heinrichsbauer
findet so einen Satz empörend, er zeuge
von mangelndem Demokratieverständnis.
Die Anwohner sagen,
Köhnke redet, argumentiert, versucht es gehe um Ruhe,
zu überzeugen, aber es geht eben auch um um die Natur, nicht
Gefühle, nicht nur um Argumente. Wie or-
ganisiert man Annäherung? um Rassismus.
Im Vereinsheim des SC Sprakel sitzen
an einem Winterabend die Nachbarn einer einzelne Familien, ihre Kinder kenne,
künftigen Flüchtlingsunterkunft, sie be- Schrankwände bitte gar nicht. Es ist eine
steht aus Containern am Rand eines Neu- Veranstaltung, die dominiert wird von Hel-
baugebiets. Die Stadt hat eingeladen zum fern, die stolz sind auf ihre Stadt, die wol-
„Tag des offenen Containers“. Die ersten len, dass Münster gelingt, woran andere
Flüchtlinge kommen in ein paar Tagen, Städte scheitern.
und die Zeit soll genutzt werden, um den Köhnke glaubt, dass vor allem zwei Fak-
Deutschen mal zu zeigen, wie der Flücht- toren die Akzeptanz von Flüchtlingshei-
ling so wohnt. men in Deutschlands Städten bestimmen.
Eine gute Hundertschaft Sprakeler „Wir müssen die Anwohner vorbereiten
schiebt sich nach Einbruch der Dunkelheit können auf die Veränderungen, die auf sie
durch den langen Flur, der den Container zukommen.“ Das ist Faktor Nummer eins.
teilt. Für viele ist es eine Expedition ins Nummer zwei: „Es ist einfacher, Flücht-
Unbekannte, Flüchtlingsheime kennen sie lingsheime dort zu bauen, wo sowieso
nur aus dem Fernsehen, und nur wenige wa- Neues entsteht.“ Und dann ist da noch ein
gen es, sich in den Räumen links und rechts dritter Faktor, den Köhnke nicht nennt.
vom Flur umzuschauen. Ein Mitarbeiter Versprechen, die gegeben wurden, müssen
des Sozialamts erklärt die Gegebenheiten, gehalten werden, sonst läuft es so wie am
zeigt Küche, Schlafraum, Bad, sagt unter Nordkirchenweg.
anderem, dass jedem Flüchtling im Schnitt Am Nordkirchenweg war alles gut
ein Drittel der Fläche eines Hartz-IV-Emp- geplant, ein Neubaugebiet wurde ausge-
fängers zur Verfügung stehe, was wohlwol- wiesen, ein Flüchtlingsheim wurde ge-
lend zur Kenntnis genommen wird. baut, kein Container, sondern ein richtiges
FOTOS: MARIA FECK

Gegner eines Flüchtlingsheims: Wie organisiert man Annäherung?

DER SPIEGEL 13 / 2015 71


sen wir noch irgendwo reinstopfen.“ „Wie
denn, wo denn?“, antwortet Monika Schul-
ler, „es ist alles voll“, und noch während
sie spricht, greift sie zum Telefon und fängt
an, nach einem Platz für den Georgier zu
suchen.
Sie macht diese Arbeit schon seit über
20 Jahren, für Tausende Flüchtlinge war
ihr Büro die vorläufige Endstation. An
Schullers Schreibtisch sitzt die Welt, der
arme, der geschundene Teil; und Schuller,
nicht harsch, nicht schroff, stammt selbst
aus Polen, sie hat sich genug Empathie be-
wahrt, um eine anständige Wahl zu sein
Sozialarbeiterin Schuller, Klientin: Durchhalten, nicht krankschreiben lassen als Empfangsdame ihrer Stadt, die Rechte
erklärt und Pflichten.
Haus. Es war das erste Gebäude hier, und Köhnke keinesfalls will, eine Stadt in der Einen Schlafplatz in einem Zimmer hat
wer sich hier ein Grundstück kaufen woll- Stadt. Köhnke nimmt die Situation wider- sie noch, allerdings in einem Haus, in dem
te, wer hier bauen wollte, wusste, worauf willig hin, in seinen Reden spricht er von nur Frauen untergebracht sind. Schwangere
er sich einließ. Anfangs lief alles gut, dann einem Provisorium, von dem er freilich Frauen, Frauen mit Babys, unter ihnen eine
entschloss sich die Stadt, neben das Haus nicht sagen kann, wie lange es existieren aidskranke Exprostituierte, die das Geld,
Container zu setzen und dort vor allem wird. Köhnke spricht seit Kurzem häufig das sie ihrem Schlepper schuldete, mit ih-
Roma unterzubringen. von Sachzwängen und klingt dann wie der rem Körper zurückgezahlt hat. Sie lebt nun
Wohncontainer sind keine heimeligen Politiker, der er noch werden will. in Münster, mit einem Baby, das sie nicht
Orte, auch Deutsche würden in ihnen nicht Natürlich hat Köhnke recht, er steht mit wollte, das aidskrank ist wie sie selbst.
mehr Zeit zubringen als nötig, schon gar seiner Stadt am Ende einer langen, globa- Dann gibt es noch ein Haus für die
nicht im Sommer, erst recht nicht, wenn man len Kette von Ereignissen, die er nicht be- Schwerkranken, aber auch das ist tabu. In
arbeitslos ist. Dann sitzt man draußen, einflussen kann. Er kann nur reagieren, den Hotels, in denen die Stadt Flüchtlinge
auch spät am Abend, auch in der Nacht, man den Mangel verwalten und muss den manchmal für ein paar Tage unterbringt,
erzählt, man lacht, hört Musik, trinkt, und Druck, den er spürt, weitergeben, auch an ist ebenfalls nichts möglich. Schuller tele-
manchmal wird gestritten. Im Neubaugebiet die Sozialarbeiter seiner Stadt. Er kann foniert weiter, ruft Hausmeister an, Kolle-
hatten Familien gebaut. Eltern mit kleinen nur hoffen, dass sie durchhalten, dass sie gen, bringt den jungen Mann an ihrem
Kindern, denen die Nachtruhe heilig ist. sich nicht zu oft krankschreiben lassen, Tisch nebenbei dazu, seine Entlassungspa-
Die Stadt versuchte zu schlichten, ver- dass sie sich weiter um die tausend Klei- piere endlich auf den Tisch zu legen.
sprach, die Container würden nach einem nigkeiten kümmern, die mit darüber be- Währenddessen klingeln weiter Telefo-
Jahr wieder verschwinden – was nicht ge- finden, ob es halbwegs funktioniert, das ne, die Handys vibrieren, Schecks müssen
schah. Es kamen mehr Flüchtlinge als er- Zusammenleben von Deutschen und ausgestellt werden, bevor die Sparkasse
wartet, die Container wurden unverzicht- Flüchtlingen in Münster. schließt, eine Kollegin von Schuller sucht
Eigentlich hat Köhnke sich zu bedanken, eine Übersetzerin, die Arabisch kann.
Es gibt einen Plan für jeden Tag aufs Neue, bei Mitarbeiterinnen
wie Monika Schuller. Sie hat einen härte-
An Schuller und ihren Kollegen hängt
Köhnkes Konzept. Scheitern sie, dann
den Notfall, Turnhallen sind ren Job als er, noch weniger Gestaltungs- scheitert auch er. Nach ein paar Tagen im
aufgelistet, die Telefon- spielräume, wird noch stärker getrieben Sozialamt stellt sich das Gefühl ein, dass
von den Ereignissen. Schuller arbeitet im die meisten hier sich ehrlich bemühen, das
nummern der Hausmeister. dritten Stock des Sozialamts in Münster, Scheitern zu verhindern oder zumindest
es ist Vormittag, der Bus hat gerade neue aufzuhalten. Vorbereitet aber sind sie. Es
bar. Nun sollen sie noch zwei weitere Jahre Flüchtlinge gebracht. gibt einen Plan, in dem sind fünf Turnhal-
stehen bleiben, mindestens. Auf ihrem Schreibtisch klingelt das Te- len aufgelistet, die Adressen und Telefon-
Am Nordkirchenweg beträgt das Ver- lefon, zwei Handys vibrieren, während ihr nummern der Hausmeister. Wenn es so
hältnis von Flüchtlingen zu Einheimischen gegenüber ein Georgier sitzt, der kein Wort weit kommen sollte, kann alles ganz
nun 1:1. Auf 100 Flüchtlinge kommen 100 Deutsch, Englisch oder Russisch spricht schnell gehen.
Deutsche, und wenn sie nebeneinanderher und die Entlassungspapiere aus einer deut- Am Ende findet Monika Schuller ein
leben, ohne zu streiten, muss man das als schen Justizvollzugsanstalt in der Innenta- Zimmer, eine Kammer hinter dem Büro
Erfolg werten. Am Nordkirchenweg exis- sche seiner Lederjacke verbirgt, während eines Hausmeisters. Ein Bett wird eilig auf-
tiert Köhnkes dezentrales Konzept nicht draußen auf dem Flur eine albanische gestellt, ein Schrank montiert, die Stan-
mehr, und er kann es nicht ändern. Das Großfamilie und ein junges Paar aus Syrien dardausrüstung Töpfe und Pfannen heran-
Versprechen war nicht zu halten. mit einem Baby auf dem Arm darauf war- geschafft. Schuller ruft dem Georgier ein
Es ist nicht der einzige Ort in der Stadt, ten, dass Schuller sie endlich hereinruft. Taxi, drückt ihm einen Beförderungsschein
an dem sich sein Konzept auflöst. Mittler- Die Albaner und Syrer wurden per E- und einen Zettel mit der Adresse in die
weile sind von knapp 1800 Flüchtlingen Mail vor zwei Tagen angekündigt von der Hand, sagt laut und langsam, als würde
650 in Häusern untergebracht, die früher Erstaufnahmeeinrichtung in Schöppingen, das helfen: „Nicht verlieren.“ Dann schickt
von britischen Soldaten bewohnt worden für sie hat Schuller mühsam Zimmer ge- sie den Mann hinaus nach Münster.
waren. Sie werden verwaltet von der Bima, funden, in den ehemaligen Häusern der
Video: Dramatische Flucht
FOTO: MARIA FECK

der Bundesanstalt für Immobilienaufga- britischen Armee, der Georgier aber tauch-
ben, und liegen im Westen der Stadt, in te überraschend auf, sein Name stand auf nach Münster
Gievenbeck, Sentrup, die Häuser reihen keiner Liste, ein Kollege von Schuller führt spiegel.de/sp132015muenster
sich dort aneinander. Hier entsteht, was ihn ins Büro mit den Worten: „Den müs- oder in der App DER SPIEGEL

72 DER SPIEGEL 13 / 2015


Gesellschaft

Da ging ich hin. Womöglich war das die Lösung. Wer es


nachts nicht mehr packt, feiert eben morgens.
Okay, 6.30 Uhr schaffte ich nicht. Das sind eher so Schicht-
Rub-A-Dub arbeiterzeiten. Ich schaffte 7.30 Uhr. Dann stand ich gähnend
in einer alten Industriehalle in Berlin-Friedrichshain und schau-
Homestory Warum eine Morgenparty mit Yoga te auf Hunderte Frühaufsteher-Menschen, die tanzten, hüpften,
groovten, manche trugen Neon-Leggins oder seltsamen Leucht-
und Haferbrei immer noch besser ist als schmuck, und in den Ohren knallte der Elektrobass.
mittelalte Männer, die Luftgitarre spielen Die meisten waren jünger als ich, was mir gefiel, denn es
gibt nichts Traurigeres als eine Ü-40-Party, auf der sich mittel-
alte Menschen in Herden zusammenfinden und Männer schwit-

I
ch bin noch nie um 6.30 Uhr morgens auf eine Party gegan- zend Luftgitarre spielen, zu den Hits ihrer Jugend.
gen. Schon gar nicht an einem hundsnormalen Mittwoch- Ich hatte jetzt Lust zu tanzen, trotz der frühen Stunde, fühlte
morgen. Mitunter kam es vor, dass ich an einem Wochen- mich aber seltsam gehemmt. Irgendwie nackt. Was fehlte?
ende um 6.30 Uhr aus einem Klub kam. Aber das ist auch Der Alkohol. Habe ich jemals völlig nüchtern getanzt? Al-
schon eine Weile her. Ich bin 43 Jahre alt. Partys sind leider kohol und Feiern hatten immer zusammengehört wie Bud
selten geworden. Nachtruhe statt Nachtleben. Spencer und Terence Hill.
Aus alter Gewohnheit kaufe ich mir noch regelmäßig ein Ber- Auf der „Morning Gloryville“-Party gab es aber keinen Al-
liner Stadtmagazin und blättere auf den Klub-Seiten. Aber ich kohol. Es gab Kaffee, frische Säfte, Smoothies mit Spinat und
kenne keine angesagten DJs und auch keine angesagten Sounds Sellerie, Wasser, Haferbrei, veganes Rührei. Die Alkoholfreiheit
mehr. Ich lese von Partys, auf denen „Ragga D&B“, „Psytrance“, gehört zum Konzept. Genauso wie die Yoga-Ecke und die Mas-
„Rub-A-Dub“ oder „Minimal Synth“ läuft. Aber was, zur Hölle, sage-Ecke, wo einige Leute mit „Bodywork“ beschäftigt waren
ist damit gemeint? Was für Musik ist „Rub-A-Dub“? und einander die Beine kneteten, den Rücken oder das Fett-
Mein größtes Problem sind aber die Anfangszeiten. In Berlin gewebe.
beginnt das Nachtleben meist nicht vor Mitternacht. Richtig in Man nennt das „Conscious Clubbing“. Bewusstes Feiern.
Fahrt kommt es ab zwei Uhr. Oder später. Aber was mache Vieles geschieht ja heute „bewusst“. Essen, Leben, Atmen –
ich so lange? Fernsehen? und jetzt eben auch das
Spätvorstellung im Kino? Feiern.
Mit Freunden in einer Dabei mochte ich an
Bar treffen? Vor ein paar Partys immer den Ex-
Jahren war das kein Pro- zess. Das Fallenlassen.
blem. Heute führen alle Den Rausch. Und am
Arten des Feiervorspiels schönsten war es, im
bei mir ab zwei Uhr zu Sommer feiermüde aus
Müdigkeitsanfällen und einem Klub zu kommen,
einem einzigen Wunsch: und die Stadt lag im ers-
Ich will ins Bett. ten Morgenlicht, die Stra-
Das klingt traurig und ßen noch leer und still.
alt, ja. Dann fühlte ich mich wie
Ich glaube, die Jahre ein König. Der König
zwischen 40 und 50 sind, von Berlin.
was das Feiern betrifft, Hier war nun alles
eine große, leere Wüste. clean. Kein Rausch. Ich
Alle haben so viel zu tun. schaute auf ein Schild
Karriere machen, Kinder mit dem Hinweis, nicht
erziehen, Ehen führen, zu rauchen. Ich schaute
Ehen scheiden lassen, auf die eifrigen Yoga-
ein Haus bauen. Ständig bin ich umgeben von alltagsmüden Leute auf den Matten. Es war vielleicht gar keine Party. Eher
Menschen oder bin selbst müde. Feiern bedeutet heute: Wir Frühsport mit Musik.
treffen uns auf einem Geburtstagsbrunch. Abendpartys gibt Neben mir tanzte plötzlich eine junge Frau, ihr Baby trug
es kaum noch. Wegen der Kinder. sie vor der Brust. Es war winzig und trug riesige Ohrenschützer.
Der Brunch ist die Party der mittleren Lebensjahre. Man Ein Rave-Baby. Es war das erste Baby, das ich je in einem Klub
kommt früh ins Bett, trinkt nicht zu viel, erlebt auch nicht zu sah.
viel. Auf einem Brunch stopft man alle Arten von Roastbeef, Ich kaufte mir einen Spinat-Smoothie und dachte darüber
Quiche und Kuchen in sich rein, ist umgeben von quengelnden nach, dass diese neue Partyform erschreckend gut zu meinem
Kindern; und wird man doch mal von einer attraktiven Frau Alter passte. Zu meinem durchgetakteten Leben: früh statt
angesprochen, dann meist mit dem Satz: „Huhu, kennen wir spät. Kurz statt lang. Gesund statt berauscht. Effektiv statt ex-
ILLUSTRATION: THILO ROTHACKER FÜR DEN SPIEGEL

uns nicht aus der Kita?“ zessiv. Ein musikalischer Morgen-Work-out, nach dem man
Froh und neugierig war ich deshalb, als ich jetzt von einer gut und konzentriert im Büro arbeiten kann. Eine Party, pas-
revolutionären Partyidee hörte: „Morning Gloryville“. send zum Zeitgeist der Selbstoptimierung. Carpe diem!
Diese neue Party findet nicht nachts statt, sondern am Mitt- Es war nicht das, was ich wollte. Nicht das, worauf ich gehofft
wochmorgen. Beginn: 6.30 Uhr. Ende: 10.30 Uhr. Eine Früh- hatte. Aber plötzlich bewegten sich meine Füße, bewegte sich
aufsteherparty. Das Motto lautet: „Rave your way into the mein Oberkörper. Ich tanzte. Morgens um 8.30 Uhr mit einem
day.“ Aufstehen, feiern – dann ins Büro. Das Konzept kommt gottverdammten Spinat-Smoothie in der Hand.
aus London und verbreitet sich gerade wie ein Virus um die Ich bin, so sieht es aus, einfach dankbar für jede Party, die
Welt. kein Brunch ist. Jochen-Martin Gutsch

DER SPIEGEL 13 / 2015 73


Energie
Toxische Kohlemeiler

RWE-Braunkohlekraftwerk Neurath in Grevenbroich

Die deutschen Kohlekraftwerke stoßen nach Analysen des Braunkohlemeilern, die als Referenzkraftwerke dienen. Ob
Bundesumweltministeriums über sechs Tonnen Quecksilber die Kraftwerke technisch so weit verbessert werden könnten,
aus, zwei Drittel der in Deutschland emittierten Gesamt- um die Belastung spürbar zu senken, könne „gegenwärtig
menge. Braunkohlekraftwerke nehmen mit bis zu 17,5 Mikro- nicht beurteilt werden“, muss das Ministerium zugeben.
gramm pro Kubikmeter Luft die Spitzenposition ein. Das ist Jedoch sei die Konzentration von Quecksilber in Fischen
viermal mehr, als zukünftig in den USA erlaubt sein sollen. „dauerhaft und flächendeckend überschritten“, so das Bundes-
Dort wurden sehr viel strengere Grenzwerte als in Deutsch- ministerium. Das hätten Untersuchungen in den Flussgebieten
land erlassen. Dies geht aus einer Antwort des von Barbara Elbe, Rhein und Donau ergeben. Die Grünen-Umweltexpertin
Hendricks (SPD) geführten Ministeriums an die Grünen- Baerbock fordert: „Die Bundesregierung darf die gesundheit-
Abgeordnete Annalena Baerbock hervor. Gemessen wird in lichen Folgen der massiven Quecksilberemissionen nicht län-
Deutschland lediglich die Emission von sechs Stein- und drei ger zugunsten der Kohleverstromung ignorieren.“ gt

Commerzbank Verkehr den Euro will Dobrindt in


Aufsichtsrat prüft Alex, der Baumeister den Breitbandausbau stecken
und mit den verbleibenden
Schadensersatz Schnelleres Internet, moder- 300 Millionen Euro die
Die Milliardenstrafe für die nere Brücken, mehr Schutz Wasserstraßen verbessern
Commerzbank wegen Geld- vor Zuglärm: Verkehrsminis- und die Elektromobilität för-
wäsche und Verstößen gegen ter Alexander Dobrindt dern. Dobrindt hat bei den
US-Sanktionen könnte noch (CSU) hat über die Verteilung Gesprächen mit Finanzminis-
ein juristisches Nachspiel der gut 4,3 Milliarden Euro ter Wolfgang Schäuble (CDU)
haben. Der Aufsichtsrat lässt entschieden, die ihm aus dem über die mittelfristige Finanz-
durch externe Anwälte prü- sogenannten Zukunftspaket planung außerdem ausgehan-
fen, wer verantwortlich für Müller der Regierung zwischen 2016 delt, dass sein Etat für 2018
das Fehlverhalten war, das und 2018 zusätzlich zur Verfü- und 2019 um fast 1,7 Milliar-
die Bank 1,45 Milliarden Dol- gung stehen. Mit 1,9 Milliar- den Euro aufgestockt wird.
lar gekostet hat, und ob ein Peter Müller betreut. Müller den Euro soll fast die Hälfte „Leistungsfähige Netze sind
FOTOS: ARNE DEDERT / DPA (U.); ULLSTEIN BILD (M.); THOMAS RAUPACH (O.)

Anspruch auf Schadensersatz war in den Jahren, in denen der Summe Straßen zugute- die Grundlage für Wachstum,
gegen Manager der Bank gel- es zu den von den US-Behör- kommen, darunter 400 Millio- Arbeit und Wohlstand“, so
tend gemacht werden kann. den beanstandeten Sanktions- nen Euro für die Modernisie- Dobrindt, „die zusätzlichen
Die Bank hatte sich vergange- verstößen kam, Vorstands- rung von Brücken. Rund eine sechs Milliarden Euro sind
ne Woche mit amerikani- sprecher der Commerzbank. Milliarde Euro ist für die ein starkes Signal für den
schen Behörden auf einen Auch Aufsichtsratsmitglied Bahn reserviert. 1,1 Milliar- Standort Deutschland.“ böl
umfassenden Vergleich in Helmut Perlet ist bei den Un-
den seit Jahren laufenden tersuchungen außen vor, weil
Ermittlungen geeinigt. Keine er in den fraglichen Jahren Lahntalbrücke
Ebene der Commerzbank soll im Vorstand der Allianz saß.
von der Untersuchung aus- Deren Tochter Dresdner
genommen werden. Im Auf- Bank gehört seit sechs Jahren
sichtsrat wird die Prüfung, zur Commerzbank und war
anders als sonst üblich, nicht ebenfalls in die folgenschwe-
von Chefkontrolleur Klaus- ren Vorgänge verstrickt. mhs

74 DER SPIEGEL 13 / 2015


Wirtschaft
Mobilität wurden Uber-Räumlichkeiten tiert. Zudem ist es ja nicht so, Lufthansa
„Innovation durchsucht. Ist Ihr Modell, dass dass Uber in Deutschland Bordpersonal
Privatpersonen ohne Taxili- nun komplett verboten wäre.
gerichtlich verboten“ zenz Personen befördern, tot? SPIEGEL: Sie dürfen weiterhin
attackiert Vorstand
Fabien Nestmann, 34, Nestmann: Kritik wird es im- ihren Limousinendienst Uber Nach den Piloten gehen bei
Deutschland-Manager des mer geben, und wo sie be- Black und das eher klassische der Lufthansa nun auch die
Fahrdienstes Uber, über rechtigt ist, nehmen wir sie Uber Taxi anbieten. Lohnt Flugbegleiter auf Konflikt-
die Aussichten der Firma natürlich auch ernst. Aber das Geschäft ohne Uber Pop kurs zur Geschäftsleitung,
nach dem Gerichtsurteil offenbar sind wir für eine in Deutschland überhaupt? vorerst allerdings nur verbal.
große Masse von Menschen Nestmann: Wir sind ja nur in Deren Gewerkschaft UFO
SPIEGEL: Das Landgericht attraktiv, denn wir wachsen fünf Städten aktiv, das heißt, hatte zwar kürzlich im Streit
Frankfurt hat den Internet- weltweit. Andere moderne nur weniger als zehn Prozent um die Alters- und Über-
dienst Uber Pop verboten. Mobilitätskonzepte haben der Deutschen können Uber gangsversorgung ihrer Mit-
Mussten Sie ein Krisentelefo- ebenfalls kritische Phasen bisher ausprobieren. Aber es glieder einer Schlichtung zu-
nat mit der Firmenzentrale in durchstehen müssen. Auch läuft gut: Wir haben etwa gestimmt. In einer internen
San Francisco führen? Carsharing-Firmen wie 50 000 aktive Kunden in Information für die UFO-An-
Nestmann: Nein, es gab nur Car2Go wurden zunächst ver- Deutschland, die uns häufiger gehörigen üben zwei promi-
eine Informations-E-Mail. teufelt. Heute sind sie akzep- nutzen. Jede Woche gibt es nente Funktionäre und Auf-
Deutschland ist nicht der ein- 2000 bis 3000 neue Anmeldun- sichtsräte dennoch heftige
fachste Markt, aber es gibt gen. Wir haben auch keine Pro- Kritik an der Konzernfüh-
noch härtere. In Spanien bleme, Fahrer für Uber zu ge- rung. Die Lufthansa, heißt es
etwa gab es zum Jahreswech- winnen – 1600 sind es derzeit. in dem Schreiben, gefährde
sel ein Urteil, da fand noch SPIEGEL: Sie glauben also da- mit ihrem neuen Langstre-
nicht einmal eine Anhörung ran, dass Uber Pop in Deutsch- cken-Billigableger Eurowings
vorher statt. Aber trotzdem land doch noch legal sein gan- zunehmend „den Marken-
bedeutet das Frankfurter Ur- zes Angebot anbieten kann? kern“ des Unternehmens. An-
teil für uns hier zunächst Still- Nestmann: Wir Deutschen ders als zunächst zugesichert,
stand. Innovative Angebote sind nicht die Schnellsten, bedienten die Jets nicht über-
sind damit gerichtlich verbo- wenn es um die Zulassung in- wiegend touristische Stre-
ten worden. Wir werden aber novativer Dienstleistungen cken, sondern drohten das
aller Voraussicht nach Beru- geht, sondern eher vorsich- Stammgeschäft der Airline zu
fung einlegen, sobald wir die tig – das hat auch große Vor- kannibalisieren. Fazit der
Begründung erhalten haben. teile. Aber auch wenn es dau- Kontrolleure: Bei der Firma
SPIEGEL: In China gab es mas- Nestmann ert: Am Ende wird sich be- habe sich ein unguter „neuer
siven Druck, in Frankreich stimmt etwas ändern. mum Ton … eingeschlichen“. did

Glosse

„Halt die Klappe, Schäuble“


Was steckt wirklich hinter dem Stinkefinger von Gianis Varoufakis?
Viele Leute halten die sogenannten Emojis aus dem Internet chische Propaganda. „You fucking Europeans“, so lautet die
ja für eine harmlose Spielerei. Sie schmücken ihre digitalen Botschaft, „ihr seht euer Geld nie wieder.“
Botschaften arglos mit Smileys, Teufelchen oder auch mal mit Und das ist erst der Anfang. Sind nicht auch die neuen
einem lächelnden Kothaufen, um ihrer Nachricht eine indivi- Emojis, die das Normungsgremium derzeit prüft, vom Gift des
duelle Note zu geben. Doch so schlicht ist die Sache nicht. Athener Agitprop-Profis durchsetzt? Das Köpfchen mit dem
Emojis sind eine neue Weltsprache, die auf dem ganzen Glo- dicken Verband beispielsweise drückt doch offensichtlich
bus verstanden und von einem internationalen Konsortium aus, dass Griechenland bald pleite ist. Und das Gesicht, das
genormt, genehmigt und strikt kontrolliert wird. Sind die Zei- sein Geld verschlingt, ruft es uns nicht zu: „Was weg ist, ist
chen einmal in der Welt, bleiben sie. weg“?
Niemand weiß das besser als der griechische Finanzminister Und was will uns der Mund mit dem Reißverschluss wohl
Gianis Varoufakis. Seit Tagen fragen sich die Deutschen, ob er anderes sagen als: „Halt die Klappe, Schäuble“? Es passt ins
ihnen im Sommer 2013 nun den Stinkefinger gezeigt hat – und Bild, dass die Griechen ihrer Ideologie nach dem Prinzip des
wenn ja, warum. Wir aber kennen die Antwort. Exakt ein Trojanischen Pferdes zum Sieg verhelfen wollen, dem alten
Jahr nach dem Vorfall nämlich erklärte das zuständige Emoji- Sponti-Motto folgend: Legal, illegal, digital.
Gremium die Geste zum offiziellen Symbol. Ein Zufall? Mit- Bleibt die Frage, warum sich Varoufakis und Co. dazu die
nichten. Dahinter steckt ein höllisch raffinierter Plan. internationalen Kurznachrichtendienste ausgesucht haben.
Dem listigen Finanzminister aus Athen ist es offenbar ge- Also, liebe Leute, wir können doch wohl noch eins und eins
FOTO: ANDREAS PEIN / LAIF

lungen, das zuständige Unicode-Konsortium zu unterwandern. zusammenzählen. Wer beherrscht Europa? Wer simst im
Nun will er versuchen, uns in der universalen Sprache der Regierungsamt wie ein Derwisch? Wer trifft sich am Montag
Online-Dienste die hellenische Sicht der Dinge unterzujubeln. mit Tsipras in Berlin? Richtig, Angela Merkel, die ungekrönte
Wann immer wir in Zukunft meinen, eine harmlose Obszöni- SMS-Königin des Kontinents.
tät ins Smartphone zu tippen, verbreiten wir in Wahrheit grie- Hat noch jemand Fragen? Michael Sauga

DER SPIEGEL 13 / 2015 75


Der Preis für das Comeback
Wirtschaftspolitik Spanien wird zum Vorzeigeland Europas. Mit einem harten
Sanierungsprogramm hat es seine Wettbewerbsfähigkeit wiedererlangt.
Doch die Arbeitslosigkeit ist hoch. Die Reformer haben keinen Dank zu erwarten.

E
s sieht hier fast aus wie im Schwa- im vergangenen Jahr um über die Hälfte zwei Werken im Baskenland produzieren,
benland. So ordentlich. So akkurat. gestiegen. Die Autos sind bei spanischen gehen ins Ausland“, sagt López.
So reich. Eine gläserne Firmenzen- Kleinunternehmern beliebt. Und in den Das Vorbild für den Aufschwung ist un-
trale reiht sich an die nächste. Nur die ersten beiden Monaten dieses Jahres gin- verkennbar. In der Krise kopierten die Spa-
Parkbänke auf den Bürgersteigen weisen gen in Spanien die Zulassungen für Autos nier das Geschäftsmodell der Deutschen
darauf hin, dass Alcobendas in der Nähe noch einmal um 27 Prozent nach oben. und setzten auf den Export – mit Erfolg.
von Madrid liegt und kein Industriegebiet Besonders stolz ist López darauf, dass Im Jahr 2014 gingen fast ein Drittel der
bei Stuttgart ist. Die Sonne scheint hier sein Land im vergangenen Jahr 2,4 Millio- spanischen Güter und Dienstleistungen ins
einfach öfter. nen Autos produzierte und die traditio- Ausland. 25 000 neue Arbeitsplätze sind
Mercedes-Benz ist auch da. Die spani- nellen Autoländer Italien und Frankreich allein in den spanischen Autofabriken von
sche Zentrale des Konzerns hat ihren Sitz immer weiter hinter sich lässt. Nur Opel, Seat, Renault, Ford oder Nissan ent-
in Alcobendas. Vor dem Aufzug steht ein Deutschland liegt bei der Autoproduktion standen. Nachdem die Gewerkschaften ei-
klotziger Geländewagen, dahinter geht es in Europa noch vor den Spaniern, aller- ner Flexibilisierung der Produktion zuge-
hinauf zu José Luis López-Schümmer, dem dings mit weitem Abstand. stimmt hatten, investierte Mercedes 190
Präsidenten von Mercedes-Benz España, Nicht die Inlandsnachfrage, sondern der Millionen Euro in die Fabriken. „Wir ha-
einem bärtigen Mann um die 50. López lä- Export führte Spanien aus der tiefsten ben uns bewegt“, sagt López, der auch mal
chelt zufrieden. „Die Geschäfte laufen wie- Wirtschaftskrise seit dem Bürgerkrieg in in Stuttgart gearbeitet hat.
der gut“, sagt er. den Dreißigerjahren des vergangenen Jahr- Die Europäische Zentralbank geht da-
Er hat Grund zu guter Laune. Der Ab- hunderts. „90 Prozent unserer Mercedes- von aus, dass Spanien 2015 eine der Kon-
satz der Mercedes-Transporter ist schon Transporter und -Lastwagen, die wir in junkturlokomotiven Europas sein wird.
76 DER SPIEGEL 13 / 2015
Wirtschaft

nien regiert, wäre eine Überraschung. nierten, irgendwann begannen die Preise
Zwei neue Protestparteien, Podemos und zu sinken.
Ciudadanos, werden die spanische Partei- „Seit 18 Monaten ist die Inflation niedri-
enlandschaft aufmischen – nach dem Vor- ger als in Deutschland. Das gab es noch
bild der griechischen Syriza. In Andalu- nie“, sagt Nadal. Er zeigt eine Grafik mit
sien, wo seit Jahrzehnten die Sozialisten den Arbeitskosten. Danach hat Spanien
an der Macht sind, ist mehr als jeder Dritte durch Lohnzurückhaltung seine ab dem
arbeitslos. Jahr 2000 verlorene Wettbewerbsfähigkeit
Álvaro Nadal, 43, einer der Reformer gegenüber Ländern wie Frankreich und Ita-
Spaniens, empfängt direkt hinter dem Ma- lien komplett aufgeholt, selbst der Abstand
drider Präsidentenpalast Moncloa in einem zu Deutschland ist rapide geschrumpft.
klassizistischen Palais. Der Wirtschafts- Mercedes-Chef López-Schümmer bestä-
wissenschaftler denkt flink und redet fast tigt, dass in den Jahren der Krise die Löhne
noch schneller. Nadal sitzt auf den wich- kaum stiegen. „Die Gewerkschaften haben
tigsten internationalen Konferenzen neben akzeptiert, dass das alte System Inflation
dem spanischen Ministerpräsidenten Ma- plus x nicht mehr funktioniert“, sagt der
riano Rajoy. Er gilt als dessen wichtigster Manager, der auch den Verband der Auto-
Wirtschaftsberater. Sein Büro prägen dunk- mobilindustrie leitet. Arbeitszeiten seien
le strenge Möbel, der große Besprechungs- flexibler geworden. Wenn eine Firma Ver-
tisch ist bis auf den Rand mit olivgrünem luste mache, könnten Lohnsteigerungen
Stoff bezogen. ausfallen. Und die Firmen stellten neue
„Unsere Inflation war nach dem Start Leute ein, weil es einfacher sei, sie wieder
des Euro immer zwei, drei Prozent höher zu entlassen, wenn die Investitionspläne
als in Deutschland. So sank ab dem Jahr nicht aufgehen.
2000 unsere Wettbewerbsfähigkeit auf den Spanien setzte auf ein Wunschpro-
internationalen Märkten“, analysiert der gramm der Liberalisierung. Doch die Fort-
frühere Harvard-Student Nadal. Doch an- schritte am Arbeitsmarkt sind mickrig.
fangs hätten das billige Geld der EZB und Noch immer ist es gerade für junge Spanier
ein großer Immobilienboom die Probleme fast unmöglich, eine Festanstellung in ih-
zugekleistert. Dann kam 2008 der große rem Heimatland zu bekommen. Zeitver-
Spaniens König Felipe mit Crash auf dem Immobilien- träge sind vielerorts so
Seat-Beschäftigten in Martorell markt, Spanien saß in der Spanischer Frühling wertvoll wie ein Lottoge-
Falle. Wirtschaftsleistung winn. Spanische Hoch-
Früher, in den Zeiten der Veränderung gegenüber Vorjahr, in Prozent schulabsolventen finden
spanischen Peseta, wäre die 2007 2015 leichter in Antwerpen,
Prognose
Von einem billigen Euro und niedrigen Währung einfach abgewer- 3,8 London oder Frankfurt
Zinsen befeuert, soll das Wirtschaftswachs- tet worden. Es war ein pro- 2,3 einen adäquat bezahlten
1,1 1,4
tum dieses Jahr in Spanien auf 2,3 Prozent bates Mittel, mit dem das 0 Job. Selbst Präsident Ra-
steigen. Die spanische Regierung rechnet Land in den Jahrzehnten – 0,6 joy, als Wahlkämpfer ei-
– 1,2
für 2014 und 2015 mit einer Million zusätz- zuvor immer wieder seine – 2,1 gentlich zu Berufsopti-
licher Arbeitsplätze. Wettbewerbsfähigkeit er- – 3,6 mismus verpflichtet, geht
Spanien steht zusammen mit Portugal hielt. Doch als die Krise davon aus, dass es fünf
Arbeitslosigkeit in Prozent
und Irland dafür, dass eine tiefe ökonomi- ausbrach, war dieser Aus- weitere Jahre Wirtschafts-
26,1
sche Krise eine Chance sein kann. Die Er- weg versperrt: Spanien hät- wachstum braucht, bis wie-
fahrungen dieser Länder belegen, dass mit te aus dem Euro aussteigen 25 der wie vor der Krise 20
schmerzhaften Reformen auch in einer müssen. Eine Option, die Millionen Spanier einen
22,5
Währungsunion die Wettbewerbsfähigkeit damals in Spanien ernst- 20 Job haben.
wiedererlangt werden kann. haft diskutiert wurde, aber In der Bauindustrie gin-
Spanien ist damit – vor allem in der mittlerweile selbst von Po- 15 gen in der Krise rund 1,8
Sicht liberaler Ökonomen – das Gegenmo- demos-Chef Pablo Iglesias Millionen Arbeitsplätze
dell zu Griechenland, das sich in einem verworfen wird. 10 verloren. Angesichts vieler
volkswirtschaftlichen Abstiegskampf ver- Spanien entschied sich leer stehender Apartment-
heddert hat und mit Schuldzuweisungen für den harten Weg. „Wir 8,2 Prognose häuser werden diese Jobs
2007 2015
an den Rest der Euro-Gruppe immer mehr sind das erste bevölke- nicht mehr wiederkom-
Zeit verliert. Einerseits. rungsreiche Land, das in- Exporte in Milliarden Euro 361,2 men, auch wenn hier eine
Andererseits hat auch der spanische Er- nerhalb einer Währungs- Trendwende in Sicht ist.
folg seine Schattenseiten. Der Abbau der union eine interne Abwer- 277,9 Immerhin stiegen 2014 erst-
FOTO: MATTHIAS OESTERLE / ZUMA PRESS / CORBIS

Massenarbeitslosigkeit, die immer noch tung großen Stils vorge- 244,7 mals landesweit wieder die
bei 23,7 Prozent liegt, geht einfach nicht nommen hat“, sagt Nadal. Preise für Wohnungen
schnell genug. Und dieses Wochenende Die Steuern wurden leicht an, nachdem sie zu-
wird zeigen, dass die Reformer eher nicht 2011 angehoben, viele Leu- vor um etwa 35 Prozent ge-
mit der Dankbarkeit ihres Wahlvolks rech- te auch in der öffentlichen fallen waren.
nen können. Verwaltung entlassen. Es Der spanische Staat hat
Am Sonntag wird in Andalusien, der be- kam zu Massenarbeitslosig- zudem immer noch an den
völkerungsreichsten Region Spaniens, ge- keit, die Immobilienpreise Lasten teilweise größen-
wählt, und alles andere als eine Niederlage sackten um mehr als 35 2007 2015 wahnsinniger Infrastruktur-
der konservativen Partido Popular, die Spa- Prozent, die Löhne stag- Quelle: EU-Kommission Prognose projekte zu tragen. Acht
DER SPIEGEL 13 / 2015 77
sationstalent an Lösungen für morgen. Mal
geht es darum, wie ein künftiger Müllschlu-
cker im Weltall den Weltraumschrott fan-
gen kann, der in unterschiedlichem Tempo
um die Erde saust. Mal soll die Software
für die Satelliten des „Galileo“-Naviga-
tionssystems optimiert werden, mit denen
die Europäer dem amerikanischen GPS ir-
gendwann Konkurrenz machen wollen.
Doch Martínez hat gelernt, dass in der
Krise vom Staat finanzierte Aufträge auch
schnell mal kippen können. Deshalb ist
sie froh, dass zunehmend private Konzer-
ne wie Renault-Nissan oder Daimler zu
ihren Kunden gehören. Wer Kometenjäger
wie die europäische Raumsonde „Rosetta“
über viele Jahre im Weltall verorten und
führen kann, wird das vielleicht auch bei
den Autos der Zukunft schaffen.
Anders als Griechenland verfügt Spa-
nien über Unternehmen, die international
Test eines ITP-Triebwerks für Airbus bei Sevilla: Großauftrag von Rolls-Royce wettbewerbsfähig sind. Doch der Auf-
schwung ist wie in Athen durch politische
private Autobahngesellschaften sind pleite, ben, der den Spaniern die Entwicklung Unwägbarkeiten gefährdet. Ende des Jah-
weil sie am Bedarf vorbei neue Straßen von Hochgeschwindigkeitsturbinen über- res sind Parlamentswahlen. Investoren
gebaut hatten. Nun warten sie darauf, von trägt, die ab dem Jahr 2025 moderne Flug- fürchten populistische Parteien wie Po-
der öffentlichen Hand gerettet zu werden. zeuge antreiben sollen. Die Europäische demos, die den Kapitalismus kritisch se-
Acht Milliarden Euro würden wohl reichen, Investitionsbank sprang ein, um auch in hen. „Haben Sie neulich im Fernsehen
hat die Bauwirtschaft errechnet. den Jahren der Krise die Forschung weiter das Foto von Trotzki gesehen, das der Po-
Selbst die Europäische Union, für die zu finanzieren, als spanische Banken nicht demos-Anhänger auf seinen Apple-Com-
Spanien einer der größten Subventions- mehr bereit waren, ins Risiko zu gehen. puter geklebt hatte?“, fragt einer der Un-
empfänger war, ist mittlerweile vorsichti- Ein Glücksfall für Spanien sind Unter- ternehmer mit leichtem Gruseln in der
ger geworden. Sie wollte die überflüssige nehmerinnen wie Mónica Martínez Walter, Stimme.
Erweiterung eines Containerterminals im 44. Die Physikerin arbeitete als Forscherin Wirtschaftsfreundlicher kommt die ur-
andalusischen Cádiz mitfinanzieren, der in einem Max-Planck-Institut in Mainz, als sprünglich katalanische Bürgerbewegung
seit Jahren mit niedriger Auslastung 2001 überraschend ihr Vater starb. Sie Ciudadanos daher, die den Mittelstand för-
kämpft. Nachdem der SPIEGEL (40/2014) musste als Präsidentin des Madrider Raum- dern und ein nationales Antikorruptions-
darüber berichtet hatte, sah die EU Anfang fahrtunternehmens GMV einspringen. programm auflegen will. Ciudadanos wie
März von einer Co-Finanzierung ab. Nun Nun sitzt sie in einem bescheidenen Büro Podemos werden in Wählerumfragen zwei-
muss Spanien einen neuen Projektantrag voller alter Landkarten an den Wänden stellige Ergebnisse zugetraut, weil neben
für den Hafen stellen, den die staatliche und berichtet nüchtern von den Jahren, der Wirtschaftskrise die traditionellen Eli-
Hafengesellschaft allerdings schon mithilfe als die Banken plötzlich zweistellige Zin- ten aus der konservativen und sozialisti-
von Krediten fast fertiggebaut hat. sen verlangten, weil die Finanzkrise auch sche Partei in schlimme Korruptionsaffä-
Solche Altlasten machen dem Land bis in Spanien ankam. ren verwickelt sind.
heute zu schaffen. Die Forschungsförde- „Wir mussten in der Krise schnell staat- Der konservative Präsidentenberater
rung wurde gekappt, weil dem Staat, auch liche durch private Auftraggeber erset- Nadal weist auf die hohen politischen Kos-
wegen sinnloser Prestigeprojekte, das Geld zen und weiter internationalisieren“, sagt ten der Reformen hin: „Wenn sie wie frü-
ausging. Dabei hat das Land gerade in zu- Martínez. Sie will aus ihrer Familien-AG her ihre Währung abwerten, sind die Un-
kunftsträchtigen Hightech-Sektoren enor- mit 1500 Beschäftigten und Tochtergesell- ternehmen auf einen Schlag wieder wett-
men Nachholbedarf. Forschung und Ent- schaften in zehn Ländern einen Konzern bewerbsfähig. Wenn sie innerhalb des
wicklung gelten bei vielen Unternehmen machen. Euro-Raums abwerten, dauert das lange
als große Schwachstellen, sie investieren Im Innenhof der Unternehmenszentrale und ist schmerzhaft für jeden Einzelnen.“
zu wenig in ihre Zukunft. liegen rote Sandhaufen mit kreisrunden Der Hausbesitzer müsse seinen Hauspreis
Unternehmen wie der Turbinenherstel- Kratern. „Hier trainieren wir einen Robo- reduzieren, wenn er verkaufen wolle. Der
ler ITP, der etwa acht Prozent seines Um- ter, sich auf dem Mars zurechtzufinden“, Arbeitnehmer verdiene weniger. Und der
satzes in die Forschung steckt, sind die sagt Martínez. Das Unternehmen ist an Unternehmer mache weniger Gewinne.
Ausnahme. Der Firma gelang es, ihre Ex- der neuen Mars-Expedition der Europäi- Damit die Früchte des Aufschwungs
pertise beim Bau der Turbinen für den Mi- schen Weltraumbehörde ESA beteiligt. beim Wähler ankommen, hat Rajoys kon-
litärjet „Eurofighter“ auch auf Zivilflug- Wenn die Europäer dort irgendwann in servative Regierung dieses Jahr ein Wohl-
zeuge zu übertragen. Wichtige Teile der der Zukunft landen werden, sollen Robo- fühlprogramm aufgelegt. Die Steuern wur-
Triebwerke, die die Flugzeuge von Airbus ter mithilfe von GMV autonom ihre eige- den reduziert, Autos dürfen weiter mit
bis hinauf zum Großraumjet A380 oder nen digitalen Karten erstellen und sich staatlichen Zuschüssen abgewrackt wer-
auch die Boeing 787 antreiben, werden in dann mithilfe visueller Sensoren fortbewe- den, das Geld fließt wieder reichlicher.
Spanien entworfen und produziert. gen können, ohne gleich in den nächsten Mehr als drei Jahre interne Abwertung
Gerade hat Rolls-Royce, neben der spa- Graben zu fallen. sind auch in einem politisch stabilen Land
nischen Familienholding Sener, Großak- In Madrid arbeiten Hunderte Wissen- kaum durchhaltbar. Denn dann gibt es in
tionär bei ITP, einen Vertrag unterschrie- schaftler und Techniker mit viel Improvi- der Regel Wahlen. Christoph Pauly

78 DER SPIEGEL 13 / 2015


Wirtschaft

haben, wäre aber ohne Prozess davonge- den-Württemberg hatte in einer Expertise

Grüße vom kommen. Das, so wurde kolportiert, habe


Fitschen – überzeugt von seiner Unschuld,
aber auch gewarnt von der Finanzaufsicht
erklärt, ein Vergleich könne zur Einstel-
lung der Ermittlungen gegen Fitschen füh-
ren und die Verfolgung weiterer Vorstände

Amazonas BaFin – ausgeschlagen.


Merkwürdig nur: Die Münchner Staats-
anwaltschaft bestreitet, dass es ein solches
abwenden.
Fitschens Anwalt Hanns Feigen argu-
mentiert unverdrossen, Fitschen sei stets
Justiz Vor dem Strafprozess ge- Angebot je gegeben habe. „Es wurden davon ausgegangen, dass die Kirch-Nach-
Rechtsmeinungen ausgetauscht und Sze- fahren keinen Anspruch auf Schadenser-
gen Deutsche-Bank-Chef Jürgen narien diskutiert“, stellt ein Sprecher klar, satz hatten. Warum aber zahlte das Unter-
Fitschen legen Beteiligte falsche „mehr nicht.“ Auf Nachfrage bleiben beide nehmen dann? Diese Frage dürften bei der
Seiten bei ihrer Version des Vorgangs. Hauptversammlung im Mai auch kritische
Fährten. Und ein Intimfeind des Auch eine andere Darstellung weist die Aktionäre stellen.
Konzerns reitet neue Attacken. Staatsanwaltschaft zurück. Demnach habe Zu den bislang ungeklärten Rätseln im
die Behörde den Druck auf die Deutsche Kirch-Drama gehört die Frage, wieso die

W
ohl selten zuvor wurden im Bank so stark erhöht, dass sie im Februar Staatsanwaltschaft erst im Frühjahr 2013
Vorfeld eines Wirtschaftsstraf- 2014 gar nicht anders konnte, als sich auf auch Fitschen als Beschuldigten führte. Sei-
verfahrens so viele Gerüchte, Halb- einen Vergleich mit der Kirch-Seite zu ei- ne Exkollegen hatte sie bereits eineinhalb
wahrheiten und Ungereimtheiten verbrei- nigen – für 925 Millionen Euro. Sogar der Jahre früher im Visier, munitioniert unter
tet wie in diesem Fall. Bewiesen ist damit hässliche Verdacht der Erpressung ging um. anderem durch eine Strafanzeige aus dem
schon mal eines: Alle Beteiligten zeigen Die Fahnder sehen das anders. Sie wa- Kirch-Lager.
Nerven. ren angeblich selbst erstaunt, dass das In- Bislang war vermutet worden, dass die
Die Strafsache mit dem Aktenzeichen Staatsanwälte irgendwann aus eigener
401 Js 160239/11 könnte ohnehin in die Jus- Initiative beschlossen, auch gegen den Ko-
tizgeschichte eingehen – als einer der spek- Chef der Bank tätig zu werden. Tatsächlich
takulärsten Fälle, die jemals vor deutschen wurden die offiziellen Ermittlungen gegen
Gerichten verhandelt wurden. Zwei frühe- Fitschen jedoch durch einen alten Intim-
re Vorstandssprecher der Deutschen Bank feind der Deutschen Bank ausgelöst, den
und einer ihrer zwei amtierenden Chefs Anwalt und Kleinaktionär Michael Bohn-
müssen sich ab dem 28. April vor dem dorf, wohnhaft auf Ibiza und derzeit Welt-
Münchner Landgericht wegen des Ver- reisender im Amazonasgebiet.
dachts auf versuchten Prozessbetrug ver- Dieser Bohndorf stellte im Frühjahr 2013
antworten. Dazu kommen ein ehemaliger Strafanzeige gegen die Exbankchefs Rolf
Aufsichtsratsvorsitzender und ein weiterer Breuer und Josef Ackermann, den frühe-
Exvorstand des Instituts. ren Aufsichtsratschef Clemens Börsig – so-
Oberstaatsanwältin Christiane Serini, 41, wie gegen Fitschen. Am 23. April 2013 ging
will Deutsche-Bank-Ko-Chef Jürgen Fit- die Anzeige bei der Staatsanwaltschaft ein,
schen, 66, und seinen Exkollegen nachwei- eine Woche später wurde auch der amtie-
sen, dass sie in einem Zivilstreit vor dem rende Ko-Chef verdeckt als Beschuldigter
Oberlandesgericht (OLG) gemeinsam die geführt. Öffentlich wurden die Ermittlun-
Wahrheit zurechtbogen. Die Beschuldigten gen gegen ihn erst im Herbst 2013.
weisen das zurück. Ziel soll es gewesen sein, Bohndorf ist der Bank lange bekannt,
Schadensersatzansprüche des 2011 verstor- weil er Vorstand und Aufsichtsrat bei den
benen Medienunternehmers Leo Kirch Hauptversammlungen über Jahre mit Fra-
und seiner Erben aus einem rufschädigen- Manager Fitschen genkatalogen zum Kirch-Verfahren trak-
den Interview mit dem damaligen Deut- Warum zahlte die Bank? tierte. Der Verdruss in der Bank darüber
sche-Bank-Chef Rolf Breuer abzuwehren. ging so weit, dass sie einen Detektiv ein-
Als Zeugen will der zuständige Richter Pe- stitut so großzügig zahlte und nicht einfach setzte, um herauszufinden, ob Bohndorf
ter Noll unter anderen Fitschens Exvor- seine vermeintlich falsche Darstellung im ein Strohmann des Kirch-Clans sei. Die
standskollegen Hermann-Josef Lamberti Zivilprozess korrigierte. Bespitzelung – bei der auch ein weiblicher
sowie den Verwaltungsratspräsidenten der Staatsanwältin Serini warnte Anfang Lockvogel eingesetzt worden sein soll –
Credit Suisse, Urs Rohner, vernehmen. 2014 tatsächlich, die Ermittlungen könnten blieb ergebnislos, stürzte aber die Bank-
Es geht um viel. Und daher werden von auf weitere amtierende Bankvorstände führung monatelang in Turbulenzen, ehe
Beteiligten auch schon mal falsche Fährten ausgeweitet werden, wenn das Institut sei- Börsig von dem Verdacht entlastet wurde,
gelegt. ne Argumentation vor Gericht nicht korri- die Beschattung veranlasst zu haben.
Bereits im vergangenen Sommer, als die giere. Anders als mitunter kolportiert, war Dass nun ausgerechnet der Mann aus
Staatsanwaltschaft Anklage gegen die fünf sie auf die Manager aber wohl nicht aktiv Ibiza dazu beigetragen hat, Fitschen, Bör-
Männer erhoben hatte, wurde aus Fit- zugegangen oder hatte ihnen gar gedroht. sig & Co. vor Gericht zu bringen, ist eine
schens Umfeld verbreitet, dieser Schritt sei Wie aus Prozessunterlagen hervorgeht, weitere Kuriosität der Akte Kirch. Und
zumindest bei ihm nicht zwingend gewe- war ein Rechtsvertreter der Bank vielmehr Bohndorf reitet bereits die nächsten Atta-
sen. Die Staatsanwaltschaft, hieß es, habe zweimal zu ihr ins Büro gekommen, um cken. Er hat eine neue Strafanzeige gegen
FOTO: WOLFGANG STAHR / LAIF

dem Deutsche-Bank-Ko-Chef angeboten, sie nach ihrer Einschätzung zu fragen. Vorstandsmitglieder der Bank aufgesetzt.
sein Verfahren gegen Zahlung einer Geld- Mit ausschlaggebend für die Entschei- Bohndorf wirft dem Management um
buße von 500 000 Euro nach dem Ord- dung, sich die Kirch-Klage mit viel Geld Anshu Jain sowie Aufsichtsratschef Paul
nungswidrigkeitengesetz einzustellen. Fit- vom Hals zu schaffen, war offenbar ein Achleitner vor, durch den Vergleich Aktio-
schen hätte damit indirekt eingeräumt, Gutachten des Experten Eberhard Stilz. närsvermögen veruntreut zu haben.
seine Aufsichtspflichten vernachlässigt zu Der Präsident des Staatsgerichtshofs Ba- Dinah Deckstein, Martin Hesse

DER SPIEGEL 13 / 2015 79


Firmenpatriarch Gauselmann*

Ali Baba und die Läufer


Glücksspiele Ein gewiefter Zocker narrte jahrelang die Automatenbranche. Gab ihm ausgerechnet
Spielhallen-König Paul Gauselmann den Auftrag zu Straftaten?

E
in Spieler wie Ali T. liebt das Risiko, der schillernden Figuren der deutschen der Zocker manipuliert worden sein: Die
selbst wenn er am Ende alles verliert. Glücksspielbranche in Untersuchungshaft. Geräte spuckten weniger Geld aus, als vor-
Wie an jenem Morgen Ende Januar, Die Ermittler werfen ihm banden- und ge- geschrieben ist.
als er sich gerade mit seiner Exfrau in ei- werbsmäßigen Computerbetrug vor. Zugleich jedoch konnte Ali T. die Auto-
nem Gelsenkirchener Hotel vergnügte – Im Milieu der Spielhallenbetreiber und maten offenbar auch zum eigenen Vorteil
während seine Lebensgefährtin und die Automatenhersteller ist die Aufregung so frisieren, dass sie mehr Geld ausgaben –
Kinder nur wenige Hundert Meter entfernt groß. Denn der zu erwartende Prozess ge- wenn seine Kumpane an ihnen spielten
im familiären Heim frühstückten. gen Ali T. verspricht tiefe Einblicke in eine und zuvor jeweils einen Geheimcode am
Auf dem Hotelparkplatz stand sein Auto. dubiose Zockerwelt: Der Gelsenkirchener Gerät eintippten. Mehrfach schickte T. an-
Es ist ein Gefährt, das sich kaum übersehen hat jahrelang mit führenden Managern der scheinend seine heimlichen Helfer, in der
FOTO: INA FASSBENDER / PICTURE ALLIANCE / DPA

lässt, weil es im Ruhrgebiet nur wenige da- Branche Geschäfte gemacht. Ermittlungs- Szene werden sie „Läufer“ genannt, zum
von gibt: ein schwarzer Bentley Continen- ergebnisse der Polizei und mögliche Aus- Abzocken durch die Spielhallen.
tal GT Speed, 625 PS, 330 Kilometer Spitze, sagen des Beschuldigten könnten nun auch Entsprechend groß könnte nun der Scha-
Preis: rund eine Viertelmillion Euro. seine Partner belasten. den sein: Spielhallenbesucher wurden von
Als die Polizei den 53-Jährigen fand, nah- Mindestens zehn Millionen Euro soll Ali den Betreibern betrogen. Die Betreiber
men die Beamten nicht nur ihn mit. Sie T. durch Beraterverträge und Software-Ent- wurden von Ali T. betrogen. Und der Staat
stellten auch seinen Wagen sicher, der nun wicklungen kassiert haben, heißt es in der wurde von den Betreibern und Ali T. be-
versteigert werden soll. Seither sitzt eine Branche. Dank seiner Dienstleistungen trogen, weil sie Glücksspielvorschriften
könnten in der Spielhallenkette Casino verletzten und Steuern unterschlugen; so
* Vor seinem Anwesen im westfälischen Espelkamp. Royal Hunderte Automaten zum Nachteil jedenfalls lauten die Vorwürfe.
80 DER SPIEGEL 13 / 2015
Wirtschaft

Obwohl sich Casino Royal als Opfer cke, will solche Aufträge nie erteilt haben. Landgericht Bielefeld. Zum Beleg, dass die
sieht, drohen der Firma wegen der Veran- Er wisse zwar von einem „angeblichen Aufträge erteilt wurden, zitierte er mehrere
staltung illegalen – weil manipulierten – Mitschnitt“. Dieser sei aber lückenhaft und Kurznachrichten eines Gauselmann-Mitar-
Glücksspiels nun Forderungen des Landes stark manipuliert. Er habe das Gespräch beiters. „Sehen Sie nur zu, dass wir Novo-
Nordrhein-Westfalen in zweistelliger Mil- nur weitergeführt, um an „offensichtlich line plattmachen“, heißt es einmal unmiss-
lionenhöhe. Das Unternehmen will sich einsatzbereite weitere Manipulationssoft- verständlich. Zu einer öffentlichen Ver-
zu dem laufenden Verfahren nicht äußern, ware“ zu kommen und dann seinen Wett- handlung kam es nicht, T. und Gauselmann
kooperiere aber „vollumfänglich“ mit den bewerber zu warnen. Er betont, dass es einigten sich 2010 außergerichtlich.
Ermittlungsbehörden, heißt es in einer ihm im Zusammenhang mit Novomatic im- Zu diesem Zeitpunkt hatte T. allerdings
Stellungnahme. Ali T. schweigt. mer „um die Sicherheit des Spiels und den schon elegant die Seiten gewechselt. Er war
In der Vergangenheit hatte T., der aus Schutz der Verbraucher“ gegangen sei. zu Novomatic gereist und hatte den Ver-
der Türkei stammt, im Ruhrgebiet selbst Fakt ist, dass sich der Unternehmer, der antwortlichen demonstriert, wie Zocker an-
Spielhallen betrieben. Später verlegte er auch im Alter von 80 Jahren noch an der geblich Novoline-Automaten austricksten.
sich auf die für ihn anscheinend einträgli- Spitze eines Konzerns mit 1,2 Milliarden Fortan setzten die Österreicher auf die
chere Beratung anderer Spielhallenbetrei- Euro Umsatz steht, damals ernsthaft Sor- Hilfe des Mannes aus Gelsenkirchen. Der
ber. Zocken gehört zu seiner Natur. Inner- gen um sein Lebenswerk machen musste. Konzern beauftragte für 2,8 Millionen
halb weniger Minuten könne er schon mal Denn als der Bund 2006 die Spielverord- Euro eine Sicherheitsfirma, die T. unter
Tausende Euro beim Pokern in illegalen nung lockerte, war Gauselmann schlecht Vertrag nahm.
Klubs verzocken, heißt es über ihn. „Ali vorbereitet. Seine einarmigen Banditen ar- Mit dem nötigen Startkapital von Gau-
Baba“ wird er in der Szene ehrfürchtig ge- beiteten mit rotierenden Walzen und selmann scheint Ali T. zur Hochform auf-
nannt, wie die Figur aus den Mär- gelaufen zu sein: Erst fahndete er
chen von Tausendundeiner Nacht. nach Schwachstellen in den Novo-
„Sollte Ali plaudern, könnten alle matic-Geräten. Dann soll er eine
großen Spielautomatenunterneh- Manipulationssoftware entwickelt
mer ihre Zulassung verlieren“, pro- haben, die er an Zocker oder Hal-
phezeit ein Vertrauter T.s. lenbetreiber verkaufte. Womöglich
Unangenehm sind die Ermittlun- schickte er auch seine eigenen Läu-
gen schon jetzt für Paul Gausel- fer in die Hallen. Wochen später
mann. Der stellt seit Jahrzehnten meldete er dem Hersteller, dass
einarmige Banditen und andere eine neue Manipulationssoftware
Automaten her, mit seinen Merkur- in Umlauf gewesen sei, die er si-
Spielotheken wurde er als Spiel- chergestellt habe. Novomatic zeig-
hallen-König bekannt. Seit den te sich dankbar und veranlasste
Achtzigerjahren schon kooperie- schnellstmöglich ein Update, um
ren T. und der Unternehmer. Laut die Schwachstellen zu schließen.
Gauselmann sei es darum gegan- Zocker Ali T. Diesen Trick wiederholte T. of-
gen, Manipulationen an seinen Au- fenbar bei einer späteren Geräte-
tomaten zu verhindern. generation. Erneut demonstrierte
Womöglich aber wollte Gausel- er Mitarbeitern von Novomatic,
mann auch etwas anderes: Hat der Zum Beleg zitierte er Kurznachrichten wie ihre neue „Coolfire“-Plattform
Firmenpatriarch Ali T. zu Strafta- eines Gauselmann-Mitarbeiters. manipuliert werden kann; wieder
ten angestiftet? Jedenfalls stießen bekam er einen hoch dotierten Be-
die Ermittler bei T. auf den Mit- „Sehen Sie nur zu, dass wir Novoline ratervertrag.
schnitt eines 90-minütigen Ge-
sprächs aus dem Jahr 2007 – Ali T.
plattmachen.“ Ali T. ist zweifellos ein raffinier-
ter Zocker. Aber ist er auch ein
hatte die Angewohnheit, Treffen Softwaregenie, ein Mann, der mü-
mit seinen Auftraggebern heimlich aufzu- Scheiben. Novomatic nutzte dagegen be- helos Schadstellen in immer aufwendiger
zeichnen. In dem Mitschnitt, der dem reits computerbasierte Geräte. Die Novo- programmierten Glücksspielautomaten
SPIEGEL vorliegt, ist zu hören, wie Gau- line genannten Automaten boten mit mo- aufspüren kann?
selmann T. bittet, die Software in Geräten dernen Bildschirmen gleich ein Dutzend Die Fahnder sehen es anders. Nicht Ali
seines ärgsten Konkurrenten zu manipu- unterschiedlicher Spielvarianten. Die Au- T. habe die Software analysiert und mani-
lieren, des österreichischen Glücksspiel- tomaten waren bei den Spielern so beliebt, puliert, sondern dessen Schwiegersohn,
konzerns Novomatic. Anschließend sollte dass Gauselmann sie auch in den eigenen Benni P. Der unscheinbare Computer-
die veränderte Software demnach der Phy- Hallen aufstellen ließ. Nerd, von T. eher kurzgehalten, arbeitete
sikalisch-Technischen Bundesanstalt zuge- Bald nach dem Gespräch schickte ein als Autodidakt in einem schlichten Mehr-
spielt werden; sie ist für die Zulassung von anonymer Absender drei manipulierte familienhaus an den Programmen.
Geldspielgeräten zuständig. Wechselfestplatten von Novomatics Novo- Anders als Ali sprach Benni offen mit
Novomatic bekäme Probleme mit der Be- line-Geräten an die Physikalisch-Technische den Ermittlern – und zeigte den ver-
hörde, und das könnte am Ende dazu füh- Bundesanstalt. Doch die Behörde hielt die dutzten Beamten, wie er an den Geräten
ren, dass Spiele seines Konkurrenten „vom Softwareprobleme für nicht so gravierend – „zaubern“ kann. Im Gegensatz zu sei-
Markt weg“ kämen, sagte Gauselmann. Er die Automaten blieben auf dem Markt. nem Schwiegervater scheint es für den
biete – so ist der Spielothek-Chef in dem Über die Bezahlung von Ali T. kam es jungen Mann trotz des drohenden Straf-
Mitschnitt eindeutig zu verstehen – Ali T. zum Streit. Er wollte insgesamt mehr als verfahrens auch eine echte Zukunfts-
für erfolgreiche Arbeit 750 000 Euro. zwei Millionen Euro für seine Arbeit. Doch perspektive zu geben. Gauselmanns Sicher-
Gauselmann, ein Träger des Bundesver- so viel mochte Gauselmann nicht zahlen. heitsfirma würde ihn wohl gern verpflich-
dienstkreuzes Erster Klasse sowie Ehren- 2009 erhob T. deshalb als Inhaber der Firma ten. Aber auch die von Novomatic.
bürger der Städte Espelkamp und Lübbe- „A. T. Manipulationsschutz“ Klage beim Michael Fröhlingsdorf

DER SPIEGEL 13 / 2015 81


Wirtschaft

Ruinen von morgen


Tourismus Noch ein Lift, noch eine Hütte, noch mehr
Gaudi. Die Alpen scheinen zu einem riesigen Vergnügungspark
zu verkommen. Die Berge sind austauschbare Kulisse.

G
ünther Aloys spürt, dass es mal sinn scheint zu funktionieren: Pseudo-urige
wieder höchste Zeit ist für einen Abfüllrampen wie der „Kuhstall“ oder die
„Impuls an den Weltmarkt“. Und „Trofana Alm“ machen an manchen Aben-
er meint das genauso klotzig, wie es klingt. den wohl gut 60 000 Euro Umsatz.
Aloys hat schon Tina Turner auf den Vergangenen Winter übernachteten 1,3
Berg geholt und Sadomaso-Partys in seiner Millionen Menschen im Dorf. Das war,
Hotel-Disco veranstaltet. Er ließ 400 Kühe umgerechnet auf die 1500 Einwohner des
mit Motiven von Picasso und Warhol be- Ortes, österreichischer Rekord. Einerseits.
malen – bis er merkte, dass auf deren Fell Andererseits fragt sich Günther Aloys
die Farbe nicht hält. Er wollte ganzjährig schon: Reicht das? Reichen die 238 Kilo-
gekühlte Pisten unter Plexiglas bauen oder meter Skipiste, reichen modernste Lifte
gleich einen eigenen Gletscher. und schneesichere Lage? Denn auch wo-
Seine neuen Ideen sind eine Achterbahn anders in den Alpen sind sie auf der Jagd
in den Bergen und ein Snowboard-Park in nach Superlativen. In Frankreich gibt es
Form eines Frauenkörpers – am liebsten Gebiete mit mehr als 600 Kilometer Piste.
dessen Pamela Andersons. Der Berg, sagt Tourismusmanager des Örtchens Sölden
Aloys, sei „Entertainment-Business hoch trieben für ein sogenanntes Hannibal-
zehn“, eine „Dating-Destination“ für die Event eigens Elefanten die Berge hinauf.
vereinsamte urbane Single-Gesellschaft. Grenzen scheint der touristische Extre-
Aloys ist Hotelier, Erlebniserfinder, Al- mismus in den Alpen schon lange nicht
penvermarkter. Sich selbst sieht er als Vi- mehr zu kennen. Mitunter nimmt er absur-
sionär. Er kommt aus Ischgl im Tiroler Paz- de Züge an. Ein Hotelier in Achenkirch
nauntal, einem Ort, der 1963 in eine touris- klagte gegenüber dem Tiroler Fotokünstler
tische Zeitmaschine geriet. In knapp 30 Jah- Lois Hechenblaikner, der dem Ausverkauf
ren, nach dem Bau der ersten Seilbahn, seiner Heimat seit Jahren auf der Spur ist:
vollzog sich dort ein Strukturwandel, der „Wir wissen ja nimma, was ma tun sollen
sonst Generationen dauert. Wo eben noch für die Gäst!“ Für viel Geld hatte er einen
Kühe gegrast hatten, trieb man Tausende Springbrunnen vor sein Hotel bauen lassen.
Tonnen Beton in den Berg. Ischgl wurde Der spuckte Wasser im Takt zu klassischer
mehrstöckig ausgebaut. Das PR-Kalkül, Musik. „Die Propagandamaschine Touris-
Ischgl als leicht überdrehten Ort mit Proll- mus“, sagt Fotograf Hechenblaikner, selbst
Charme zu inszenieren, wurde bis ins De- Sohn einer Pensionswirtin im Alpbachtal,
tail umgesetzt. Von den Après-Ski-Tränken „hat uns zu Getriebenen gemacht.“ Doch es geht noch viel einsamer: Wer
am Pistenrand baute man eigens einen Tun- Doch es gibt auch eine Gegenbewegung von den französischen Alpen aus die Gren-
nel mit 200-Meter-Förderband ins Dorfzen- zu all dem Irrsinn, zum ständigen Höher- ze nach Italien überquert, kommt in Täler,
trum, damit auch für die besoffensten Gäste Schneller-Schriller. Sie setzt auf Abrüstung die kaum noch bewohnt sind. Cottische
die Party immer weitergeht. Doch der Irr- und hat die im Blick, die sich statt dem und Grajische Alpen heißen die Berge
Partyakkord der Natur aussetzen wollen, hier. In Sambuco etwa, im Stura-di-De-
Schneeschuhwanderer etwa oder Touren- monte-Tal, hat Bartolomeo Bruna jahre-
geher. Diejenigen, für die Natur nicht erst lang dem Niedergang zugesehen. Das Dorf
zerstört werden muss, bevor sie erlebt wer- schrumpfte, von 800 Einwohnern sind
den kann. noch 75 geblieben. Viele Häuser sind ver-
Im Osttiroler Villgratental werben sie da- nagelt. Bruna schloss erst seinen Sport-,
mit sogar: „Kommen Sie zu uns – wir ha- dann den kleinen Tabakladen. Dann
ben nichts“. Keine Marketingstrategen, wurde er krank. „Noch im Krankenhaus
sondern der dortige Bergführer Hannes habe ich mir gesagt: Du machst jetzt nur
Grüner kam auf den Spruch. Um für die noch das Gasthaus, aber richtig.“ Das
neue Klientel Platz zu schaffen, bauen war 1990.
manche kleinen Skigebiete ihre Lifte daher Die Albergo della Pace bekam eine Heu-
einfach ab. Wie etwa Immenstadt im Ober- sauna, und Bruna erweiterte das erste Mal
allgäu: Seit dort am Gschwender Horn nicht richtig: von fünf auf elf Zimmer. Und er
nur die Lifte fehlen, sondern an der Mittel- begann, fast ausschließlich regionale Pro-
station auch der „Skihaserlstall“ abgerissen dukte zu verarbeiten. Wie gut sein Zie-
wurde, gilt der Berg unter Snowboardern genkäse und das sambucanische Lamm
und Tourenskifahrern als Geheimtipp. waren, sprach sich herum. Bald kamen
Hotelier Aloys (r.), Hotelerbin Paris Hilton* nicht mehr nur ein paar Gäste im Sommer,
Der Irrsinn scheint zu funktionieren * 2007 in Ischgl. auch für den Winter gingen Buchungen
82 DER SPIEGEL 13 / 2015
Luxusrestaurant am Gaislachkogl in Sölden

ein. Das einsame Tal wurde bei Touren- Prozent aller Betten stehen. Die Ränder Touristisch sind die Alpen bis heute ein
gehern beliebt. Dann zeichneten Slow- des sperrigen Gebirgsriegels bluten aus. sensibler Markt, abhängig vor allem von
Food-Tester auch noch Brunas Küche aus. Der Geograf Werner Bätzing beschreibt den Stammgästen aus Deutschland, Eng-
Es war wie eine kleine Auferstehung. in seinem Standardwerk „Die Alpen“, wie land und den Niederlanden. Stagnieren
Jetzt aber ist das Paradies wieder in Ge- die Berge zur austauschbaren Kulisse ver- deren Einkommen, ist das rasch der Be-
fahr. Adriano Fossati, der letzte Schäfer im kamen. „Unterwegs zu sein in einem rich- ginn der nächsten Krise. Orte wie Ischgl,
Dorf und Brunas Fleischlieferant, will auf- tigen Alpengewitter, wer kennt das bitte die über 80 Prozent der Umsätze im Winter
hören. Die Arbeit im Winter, die Beweidung noch?“, fragt der Wissenschaftler. Sein erwirtschaften, haben ein zusätzliches Pro-
im Sommer, die Bedrohung durch die wie- Buch wurde gerade aktualisiert. Auch die blem: Anders als in den Siebziger- und Acht-
der eingewanderten Wölfe – all das sei zu Sorge um die Zukunft der Alpen hat Kon- zigerjahren ist Skifahren längst kein Massen-
hart, sagt Fossati – im Endeffekt zahle er junktur. sport mehr. Unter deutschen Jugendlichen,
drauf. „Wenn die letzten Bauern gehen“, Schön ist Bätzings Alpenbild nicht. Er glaubt Freizeitforscher Horst Opaschowski,
FOTOS: O. SCHMITT / BABIRADPICTURE (L.); RUDI WYHLIDAL (R.)

sagt Gastwirt Bruna, „dann droht das hier skizziert eine Kulturlandschaft, die ihr rangiere der Sport inzwischen hinter Angeln
ein Dschungel zu werden.“ Gleichgewicht verliert und über weite Stre- und Rudern. Kaum einer könne ihn sich
Die Frage, für welchen Tourismus sich cken kaum noch zu begehen sein wird. Bät- noch leisten, fast jeder aber wisse um die
die Alpen entscheiden, ist keine banale. zing nennt das „breite Verwilderung“. Ei- Naturzerstörung.
Nur auf Schnee, Ski und Party zu setzen, nerseits meint er damit die „Touristen- Ursula Scheiber ist im Ötztal aufgewach-
könnte sich als eine gefährliche Strategie gettos“, die zwar die Infrastruktur einer sen, vier Täler östlich von Ischgl. Sie hat
entpuppen. Denn das Geschäft stagniert, Stadt vorhalten müssen, zugleich aber mehr dort als Kinderskilehrerin gearbeitet und
im Sommer wie im Winter. schlecht als recht für die Versorgung ihres in Gletscherbars gekellnert. Doch der sug-
Mit fast zehn Millionen Betten und 120 Serviceproletariats sorgen. Bätzing sorgt gerierte Fortschritt der touristischen Pro-
Millionen Gästen sind die Alpen zwar eine sich aber auch um die entlegenen Täler, jekte im Ötztal erschien ihr immer fragwür-
der größten Ferienregionen der Erde. Die etwa in den italienischen Westalpen. Weil diger: Mal wurde der Fluss zur Kunstschnee-
meisten Touristen ballen sich jedoch in den kaum noch Menschen dort leben, sieht er herstellung angezapft, mal wurden 100 000
300 Gemeinden, in denen allein über 50 die Landschaft allmählich verbuschen. Kubikmeter Fels in die Luft gejagt, um auf
DER SPIEGEL 13 / 2015 83
2900 Meter Höhe ein riesiges Speicherbe- auch deshalb absurd, weil sich viele die Wei-
cken für die Kunstschneeproduktion anzu- terfahrt ins vermeintlich langweilige Bergtal
legen. Dann wurde das alte Naturschwefel- dreimal überlegen würden.
bad mit der kleinen Holzhütte dichtge- Dennoch scheint der Modernisierungs-
macht. In das warme Wasser war Scheiber eifer in den Alpen ungebrochen. Die inter-
mit Freunden manchmal nach dem Skifah- nationale Alpenschutzkommission Cipra hat
ren eingetaucht. „Angeblich war das nicht 18 000 Pisten im Alpenraum gezählt. Schon
mehr hygienisch genug.“ Stattdessen gibt jetzt hieven die rund 12000 Lifte in nur einer
es jetzt einen Aqua Dome, der so viel Ener- Stunde bis zu zehn Millionen Menschen auf
gie schluckt, dass vor allem dafür ein neues die Berge. Das jedoch scheint nicht zu ge-
Fernwärmewerk gebaut werden musste. nügen: Zwischen Grenoble und Salzburg
Vor wenigen Jahren wurde für die Berg- werden in den nächsten Jahren Milliarden
station einer neuen Seilbahn sogar ein Teil Euro für neue Seilbahnen ausgegeben – die
des Gaislachkogl-Gipfels gesprengt. Der teils sogar Schutzgebiete durchschneiden –
kastrierte Gipfel war vor Kurzem Kulisse und für Kunstschnee. Es sind Investitionen
für den neuen James-Bond-Film. in Gebiete, in denen ohne plastische Chirur-
Über den Ausverkauf ihres Tals hat die Bauer Fossati gie nichts mehr geht: In Österreich und Süd-
Innsbrucker Politologin Scheiber ein Buch Die Gegend wird ein Dschungel tirol werden bereits die meisten Pisten künst-
geschrieben, das gerade erschienen ist: lich aufbereitet. Baupreis pro Pistenkilome-
„BERGeLEBEN“, heißt es im Titel noch 47, ein 66 000 Quadratmeter großes Wild- ter: gut eine halbe Million Euro. Alpenkon-
harmonisch, doch schon im Untertitel ist wasser- und Kletterareal, das als „verrück- ventionen und geltendes Recht scheinen die-
damit Schluss: „Naturzerstörung – Der teste Spielwiese Europas“ ausgegeben wird. ser Entwicklung wenig anhaben zu können.

FOTO: NILS KLAWITTER / DER SPIEGEL


Alptraum der Alpen“. Genauer sind die Die EU förderte das Projekt mit einer Noch grotesker wird das Wettrüsten
Wunden, die der Tourismus im Ötztal ge- Million Euro, obwohl nur zwölf ganzjährige unter den Skigebieten, wenn man die Pro-
rissen hat, in den vergangenen Jahren Arbeitsplätze entstanden. Mit der Area 47 gnosen der Klimaforscher einbezieht. Schon
wohl kaum offengelegt worden. sei „der Winter-Irrtum auf den Sommer um- vor Jahren untersuchte der Schweizer Geo-
Was den Umbau der Landschaft in einen gelegt worden“, sagt Scheiber. Sie hält die graf Rolf Bürki im Auftrag der Uno die Fol-
profitoptimierten Sommerfreizeitpark an- Transformation des Talbodens in ein asphal- gen der Erderwärmung für den Wintertou-
geht, ist das Ötztal sogar noch weiter als tiertes und eingezäuntes „Freizeit-Alcatraz“ rismus. Bis zum Jahr 2030, so das Ergebnis
Ischgl. Am Taleingang entstand die Area für einen Irrweg. Touristisch sei das Projekt der Studie, werden nur Lagen ab etwa 1800
Wirtschaft

Metern schneesicher sein. „Die Skiliftbau- einige Hundert Millionen Franken krem- verlässt sich neben seinen Zahlen auf Glau-
ten von heute“, so Bürki, „sind die Touris- pelt Sawiris den Ort gerade zu einem Lu- ben und Hoffnung: Die großen Gletscher,
musruinen von morgen.“ Im Klartext: Sie xusresort um. Protest gab es kaum, obwohl die Viertausender, die lägen doch alle in
sind nicht bloß eine ökologische Sünde. Sie in dem Bergdorf bis dahin schon eine Sau- der Schweiz, sagt der Berater. „Internatio-
sind oft auch ökonomisch blanker Unsinn. na als Extravaganz galt: 96 Prozent der An- nal sind wir unschlagbar.“
Abgesehen von den Top-Orten kommt dermatter waren für das Projekt, was wäre So ähnlich dachten auch Raumplaner, In-
kaum noch eine Liftgesellschaft ohne Ali- auch sonst aus dem stillgelegten Militär- genieure und Politiker in Frankreich, als
mente von Gemeinde, Bundesland oder gelände im Ort geworden? Zudem: Wer, wie sie 1964 den „Schneeplan“ initiierten. Es
Kanton aus. Wenn selbst diese Gelder nicht Sawiris, in seinem Hotel einen begehbaren war eine Art staatlicher Erschließungs-
reichen, gibt es andere Mittel und Wege – Luxuskühlraum für regionalen Schweizer befehl. Mit ihm begann die alpine Industria-
nach denen man am besten Peter Furger fragt. Käse schafft, der größer ist als manche Ho- lisierung, riesige Retortensiedlungen auf
„Unternehmensberater“ steht auf Fur- telpools – der scheint begriffen zu haben, 1500 bis 2000 Metern sollten Skifahren zum
gers Visitenkarte, aber eigentlich ist er wie man die Schweizer Seele streichelt. Volkssport machen. Inzwischen sind aller-
eher eine Art Rettungspilot. Der Schweizer Furger soll nun das Skigebiet mit dem dings auch diese Höhen nicht mehr schnee-
wird gerufen, wenn die Not groß ist. Furger des Nachbarorts verbinden. Sogar die Na- sicher. In vielen französischen Orten brö-
begann seine Karriere 1978 als Projektlei- turschützer von Mountain Wilderness ha- ckeln zudem die Übernachtungszahlen.
ter einer Seilbahn im Kanton Wallis. In- ben die Pläne inzwischen abgenickt. Wo Neue Apartmentblocks werden dennoch
zwischen berät er Investoren und Gemein- Furger aber Tausende Skifahrer hernimmt, genehmigt. „Wir haben übertrieben“, sagt
den, die Probleme mit ihren Bahnen haben. die nach der Fusion zusätzlich das Gebiet Alain Boulogne, einst Bürgermeister im
Er war in Zermatt, wo vier Liftgesell- fluten sollen, ist nicht nur den Naturschüt- Skiort Les Gets. „Wir haben das Maß ver-
schaften dabei waren, sich gegenseitig in zern ein Rätsel. Auch die Manager der loren und betonieren jetzt wie wild gegen
den Ruin zu treiben. Noch schlimmer war Bergbahnen hatten zweimal nachrechnen die Krise an.“ 17 000 neue Betten würden
es in Gstaad, in dessen Nachbarschaft sich lassen und waren im besten Fall auf wenige allein in der Provinz Tarentaise im oberen
neun Liftbetreiber das Leben schwer mach- Hundert neue Gäste gekommen. Doch die Isère-Tal entstehen – zu den vorhandenen
ten. Zudem fuhr in dem mondänen Resort Manager sind inzwischen weg, und Furger 350 000, die meist nur wenige Wochen im
mit der hohen Pelzträgerdichte kaum noch Jahr belegt sind. „Das sind fast so viele
jemand Ski. Ein teilweiser Rückbau der Lif- Video: Ausverkauf wie in Marokko und Tunesien zusammen.“
te, den Furger vorschlug, wurde abgelehnt. der Alpen Die Leute, sagt Boulogne, wollten in ei-
Nun hat ihn der ägyptische Investor spiegel.de/sp132015alpen ner Postkarte leben. Diesen Traum hätten
Samih Sawiris nach Andermatt geholt. Für oder in der App DER SPIEGEL sie sich gründlich verbaut. Nils Klawitter
Coach Schranner

„Deutsche sind Rechthaber“


Strategien Matthias Schranner, 51, verhandelte früher mit Geiselnehmern. Heute berät er Manager,
Politiker und die Uno. Griechenland, sagt er, brauche einen neuen Verhandlungsführer.
SPIEGEL: Herr Schranner, Sie werden als Schranner: Ministerpräsident Alexis Tsipras SPIEGEL: Heute coachen Sie Manager und
Berater meist dazugeholt, wenn Verhand- muss eine neue Verhandlungslinie formu- Politiker. Mit wem verhandelt es sich leich-
lungen so festgefahren sind wie jetzt die lieren, und die muss lauten: Wir betonen ter, mit Geiselnehmern oder Managern?
Gespräche zwischen Griechenland und der das Gemeinsame, nicht den Konflikt. Schranner: Mit dem Geiselnehmer. Seine
Euro-Gruppe. Ist es dann nicht zu spät? SPIEGEL: Es würde ihm nicht gelingen, dass Strategie ist durchsichtig und leicht zu lö-
Schranner: Eine Sackgasse ist in Verhand- sich sein Finanzminister und sein Vertei- sen. Es ist immer die gleiche. Er stellt eine
lungen oft notwendig, weil sie Grenzen digungsminister daran halten. unerfüllbar hohe Forderung und lässt keine
aufzeigt. Wenn man zu schnell Kompro- Schranner: Deshalb muss Tsipras, zweitens, Kooperation zu. Schwierig ist bloß, dass
misse macht, hat jeder das Gefühl, es wäre die Hoheit über das griechische Verhand- Geiselnehmer eigentlich immer unter Dro-
noch mehr drin gewesen. lungsmandat wieder an sich nehmen. Es geneinfluss stehen und man nie weiß, wie
SPIEGEL: Auch bei einer Geiselnahme? muss klar sein, dass niemand etwas nach sich das auswirkt.
Schranner: Ja, dort muss es ebenfalls immer außen gibt, ohne das vorher mit ihm ab- SPIEGEL: Wenn Geiselnahmen strategisch
bis ans Äußerste gehen. Auch der Geisel- gesprochen zu haben. Jedes Interview, so simpel sind, was kann man dann für
nehmer braucht das Gefühl, er habe raus- jede Äußerung. Drittens bedeutet das aber andere Verhandlungen daraus lernen?
geholt, was ging, und mehr ging eben nicht. auch, dass Tsipras sich einen neuen Ver- Schranner: Das Wichtigste: Wenn die Krise
SPIEGEL: Ist das auch der Sinn der endlosen handlungsführer suchen muss. Finanzmi- da ist, darf ich nicht mehr überlegen, da
Verhandlungen zwischen Griechenland nister Gianis Varoufakis schadet der grie- muss ich wissen, was ich tue. Das ist bei
und der Euro-Gruppe? chischen Position bloß noch. Er hat das der Polizeiarbeit genauso wie bei Verhand-
Schranner: Nein, diese Gespräche waren Vertrauen der Gegenseite verspielt. lungen in der Wirtschaft oder Politik.
von vornherein zum Scheitern verurteilt. SPIEGEL: Sie waren früher Verhandlungs- Wenn eine Geiselnahme passiert, fangen
Beide Seiten hatten sich viel zu früh führer der Polizei etwa bei Geiselnahmen. wir ja nicht an, unsere Ziele zu diskutieren.
öffentlich festgelegt, und nun kommen Mit wie vielen Geiselnehmern haben Sie Die sind klar. Er kriegt keinen Fluchtwa-
FOTO: PETER SCHINZLER / DER SPIEGEL

beide von diesen Festlegungen nicht mehr schon verhandelt? gen. Alle Geiseln müssen überleben. Der
herunter. Schranner: Hundert waren es bestimmt, Rest ist stets gleich.
SPIEGEL: Es gibt keine Chance? wenn man Entführung, Bedrohung und SPIEGEL: Ist es strategisch egal, ob Sie mit
Schranner: Nur wenn die Gespräche ab so- andere Gewaltdelikte dazuzählt. Da muss einem Bankräuber verhandeln, der droht,
fort hinter verschlossenen Türen stattfin- man jetzt nicht gleich an Polizeihubschrau- Menschen zu töten, oder mit einem Mana-
den und alles Gesagte auch dort bleibt. ber und Bruce-Willis-Dramatik denken. ger, der droht, den Lieferanten zu wechseln?
SPIEGEL: Was würden Sie der griechischen Solche Straftaten gibt es in Deutschland Schranner: Die Frage ist: Will die Gegen-
Regierung jetzt raten? fast jeden Tag. seite gegen mich gewinnen? Wenn es so
86 DER SPIEGEL 13 / 2015
Wirtschaft

ist, dann ist es dasselbe wie bei einer Gei- tionen nach außen und ist eine gute Be-
selnahme. Dann darf man keine Kompro- ziehungsmanagerin.
misse anbieten, nicht nachgeben, nicht auf SPIEGEL: Wie verhandeln wir Deutschen?
Zeit spielen, dann muss man sagen: Ja, da Schranner: Wir haben in unserer Kultur
ist ein Konflikt, ich nehme ihn an, und wir einen riesigen Nachteil. Wir Deutschen
werden ihn austragen. nehmen Verhandlungen persönlich. Da
SPIEGEL: Der griechische Finanzminister werden wir emotional, und wir wollen es
Varoufakis ist Spieltheoretiker. Er wird heimzahlen. Wenn deutsche Manager etwa
sich vorher seine Strategie überlegt ha- Verhandlungen abbrechen, dann gehen
ben – was war sein Fehler? sie hinterher nicht mehr mit dem Gegen-
Schranner: Um spieltheoretisch agieren zu über essen. So verhalten sich andere Na-
können, brauche ich Mitspieler. Ich brau- tionen nicht.
che Alternativen. Die gibt es in diesem SPIEGEL: Warum ist das so?
Fall aber nicht. Von daher war für die Schranner: Die alten Handelsnationen Spa-
Spieltheorie von vornherein nicht viel nien, England, Niederlande, China haben
Platz. Um es mit einem anderen Beispiel von Grund auf gelernt zu handeln. Das ge-
zu sagen: Wenn ich Einkäufer bin und zwei hört zum Spaß dazu. Die Deutschen sind
Lieferanten habe, dann kann ich versu- keine Händler, sie sind Produzenten. Das
chen, mit denen zu spielen. Habe ich nur Verhandeln kommt als ungeliebte Pflicht
einen Lieferanten und bin ich auf ihn an- zur eigentlichen Arbeit dazu.
gewiesen, dann gibt es nichts zu spielen. SPIEGEL: Sind die Deutschen besonders ag-
Dann geht es nur um die Rahmenbedin- gressiv?
gungen dessen, was ich ohnehin akzeptie- Schranner: Unserer Verhandlungskultur
ren muss. fehlt das Elegante, Spielerische. Deutsche
SPIEGEL: Das heißt aber auch, dass es nicht sind gern Rechthaber. Unsere Manager
viel Platz für Kompromisse gibt. denken stark kausal. Wenn A so ist, muss
Schranner: Es ist eine Illusion zu glauben, B so sein. Mit diesem Ansatz gehen viele
dass Verhandlungen faire Kompromisse in Verhandlungen, und wenn die Gegen-
hervorbringen. Es gibt einen sicheren Weg seite nicht versteht, warum B aus A folgt,
zu erkennen, dass Sie in einer Verhand- dann kommen emotionale Überreaktio-
lung verloren haben: Sie glauben, dass Sie nen. Dann wird der Chef eben laut.
einen guten Kompromiss erzielt haben. SPIEGEL: Ist das peinlich?
SPIEGEL: Es gibt keinen Kompromiss? Schranner: Ich finde laut werden an sich
Schranner: Was ist ein Kompromiss bei ei- nicht schlimm, weil es zeigt, dass man sich
ner Geiselnahme? Dass von zehn Geiseln dem Grenzbereich der Verhandlungen nä-
fünf erschossen werden dürfen. hert. Aber oft wird einfach nur Druck ge-
SPIEGEL: Angela Merkel denkt anders. Sie macht, weil einer nicht mehr weiterweiß.
sagte einmal, sie schätze den Kompromiss. Schlimm finde ich Unhöflichkeiten.
Schranner: Deutschland leidet an seiner SPIEGEL: Ein Beispiel.
Kompromisskultur. Nicht nur in der Poli- Schranner: Wenn der griechische Finanzmi-
tik, auch in den Konzernen. Da wollen im- nister öffentlich erzählt, dass ihm sein deut-
mer alle den Konflikt vermeiden, um nicht scher Amtskollege das Vertrauen entzogen
beschädigt zu werden, und am Ende sind habe. So eine Äußerung kann nur in einem
durch diesen schlimmen Kompromiss eben Vieraugengespräch gefallen sein, und aus
doch alle beschädigt. Nein, das bringt solchen Gesprächen trägt man nie, nie, nie
FOTO: PAUL ZINKEN / DPA

nichts. etwas nach außen.


SPIEGEL: Ist die Kanzlerin eine gute Ver- SPIEGEL: Ist es typisch, dass Verhandler ihre
handlerin? Position überschätzen, wie es offenbar die
Schranner: Sie ist sehr uneitel, was wichtig griechische Seite getan hat?
ist. Sie ist sehr ruhig. Sie lässt keine Emo- Schranner: Das Gegenteil ist der Fall. Fast
jeder unterschätzt sich. In manchen Ver-
handlungen kenne ich ja beide Seiten, und
ich höre dann, dass beide glauben, sie sei-
en auf ein gutes Ergebnis mehr angewiesen
als die Gegenseite. Der Autozulieferer
denkt, er sei ersetzbar. Der Autohersteller
hat Angst, dass er ohne den Zulieferer
nicht auskommt. Manchmal hat das komi-
sche Züge.
SPIEGEL: Wie kommt das?
Schranner: Meine Theorie ist: Jeder CEO hat
im eigenen Unternehmen den ganzen Tag
mit dem zu tun, was nicht funktioniert.
Am Ende denkt jeder, er arbeite in einem
Laden, in dem schon genug schiefläuft. Da
Sondereinsatzkommando bei Geiselnahme darf nicht auch noch so eine Verhandlung
„Faire Kompromisse sind eine Illusion“ scheitern. Interview: Markus Brauck

DER SPIEGEL 13 / 2015 87


Milizen gegen grüne Männchen
Erst die Ukraine und dann wir – die Angst, das nächste Opfer einer russischen Aggression
zu werden, verschafft in Polen Bürgerwehren und paramilitärischen Verbänden regen Zulauf.
Schätzungsweise über eine halbe Million Vaterlandsschützer sollen bereits in mehr als
100 Verbänden und Gruppen für den Ernstfall trainieren, unter ihnen, wie hier in Kalisz, gut
250 Kilometer südwestlich von Warschau, auch viele Frauen. Feindbild der Milizen sind
die sogenannten grünen Männchen, jene Soldaten ohne Hoheitszeichen, die vor ziemlich
genau einem Jahr von russischer Seite auf die Krim eingedrungen waren. dbe

Südostasien Japan ermutigt. Die Regional- Eisenbahn beteiligen, aller- watra will die Junta hingegen
Buhlen um Bangkok mächte buhlen heftig um dings in Ost-West-Richtung. schnellen Prozess machen.
die Gunst der Militärs in dem Die Rückkehr zur Demo- Am vergangenen Donnerstag
Seit dem Militärputsch im strategisch wichtigen Land. kratie muss derweil warten. ließ das Oberste Gericht die
Mai vergangenen Jahres wird China will dort zwei Eisen- Frühestens für Ende dieses Klage gegen Yingluck wegen
Thailand von der EU und den bahnlinien bauen; sie sollen Jahres haben die Militärs Korruption zu. Bei einer Ver-
USA diplomatisch ausge- den Nordosten Thailands mit Wahlen in Aussicht gestellt. urteilung drohen der ehemali-
grenzt. Der Westen verlangt der Hauptstadt Bangkok und Mit der gestürzten Minister- gen Regierungschefin bis zu
FOTOS: AP / DPA (U.); PIOTR MALECKI / THE NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF (O.)

die Aufhebung des Kriegs- der Küste verbinden. Die Kos- präsidentin Yingluck Shina- zehn Jahre Gefängnis. ww
rechts und die Rückkehr zur ten des Projekts werden auf
Demokratie – was die Gene- über zehn Milliarden Dollar
räle in Bangkok allerdings we- geschätzt.
nig beeindruckt. „Man kann Der wachsende chinesische
nicht ein Kleid schneidern Einfluss im Land spornt auch
und erwarten, dass die ganze Japan an, seinen wichtigsten
Welt es trägt“, kommentierte Industriestützpunkt in Südost-
Junta-Chef Prayut Chan-o- asien aufzuwerten: Im Febru-
cha kürzlich in Bangkok west- ar empfing die Regierung in
liche Demokratievorstellun- Tokio den thailändischen Jun-
gen. Jede Nation habe ihre ta-Chef zu dessen erster offi-
eigenen Probleme, und die ziellen Visite in einem füh-
müsse sie selbst lösen. renden Industrieland. Auch
In dieser Haltung sehen sich die Japaner wollen sich in Junta-Chef Prayut
die Generäle durch China und Thailand am Ausbau einer

88 DER SPIEGEL 13 / 2015


Ausland
Nemzow-Mord Nemzowa ist schön, klug und
so energiegeladen wie ihr Va-
Ganz der Vater ter. Von ihm hat sie die Lei-
denschaft für Politik und den
Trotz des Drucks, den staat- Das Motiv der angeblichen unbeirrten Optimismus. Als
liche Medien und der Kreml Täter: Nemzow habe sich Anfang der Woche nur zwei
aufbauen, bleibt Schanna nach dem Pariser Attentat Abgeordnete der Staatsduma
Nemzowa, 30, dabei, dass ihr auf die Redaktion von „Char- für eine Nemzow-Schweige-
Vater aus „politischen Grün- lie Hebdo“ mit den französi- minute stimmten, stellte sie
den“ ermordet wurde. „Ich schen Journalisten solidari- die Meldung kommentarlos
glaube, dass der Mord nicht siert. Schanna Nemzowa ver- auf ihre Facebook-Seite. Der
ohne die Duldung der Macht- weist auf die jahrelange Rechtspopulist Wladimir
elite geschehen ist“, sagte sie Schmutzkampagne des Kreml Schirinowski hatte das An-
am Donnerstag dem SPIEGEL gegen ihren Vater, auf Säure- denken Nemzows mit den
in einem Moskauer Café. anschläge und Drohungen. Worten geschmäht: „Bei uns
Die von den Ermittlern eilig „Ich mag das Argument nicht, stirbt jede Woche irgendje-
präsentierte islamistische dass der Mord dem Kreml mand, da müsste die Duma
Spur hält Nemzowa für „lä- und Putin nicht nutzt“, sagte ja die ganze Zeit stehen.“
cherlich“. Demnach soll eine sie. „Die Bluttat schüchtert Nemzowa: „Mein Vater hätte
Gruppe von Tschetschenen alle ein. Es ist nun noch wirklich keinen Wert darauf
den Kremlkritiker am 27. Fe- schwieriger geworden, in gelegt, dass sich das kreml-
bruar durch vier Schüsse in Russland die Wahrheit zu hörige Parlament für ihn er-
den Rücken getötet haben. sagen.“ hebt.“ mas

Fußnote

5,4
Milliarden
Gedenkort für Mordopfer Nemzow in Moskau, Tochter Nemzowa

Brasilien bei der Präsidentschaftswahl im halbstaatlichen Ölkonzern


Dollar mindestens hat Rettung für 2018 schwinden, wenn es Petrobras vorzugehen. Hun-
FOTOS: MAXIM SHEMETOV / REUTERS (L.); MÜLLER-STAUFFENBERG / IMAGO (R.)

der reichste Mann Afrikas Rousseff nicht gelingen sollte, derte Millionen Euro sollen
im vergangenen Jahr an Rousseff? die schwere politische und von Petrobras-Geschäften
Vermögen verloren. Dem Expräsident Luiz Inácio Lula wirtschaftliche Krise im Land auf Konten von Funktionären
nigerianischen Unter- da Silva versucht derzeit mit zu überwinden. Weil er selbst und Politikern umgelenkt
nehmer Aliko Dangote aller Kraft, seiner angeschla- nicht noch ein drittes Mal an- worden sein. Lula fürchtet
setzte vor allem der Kurs- genen Nachfolgerin Dilma treten durfte, hatte Lula sei- nun um sein politisches Erbe:
verfall der nationalen Rousseff aus der politischen ner Mitstreiterin 2010 zur Denn der Skandal geht auf
Währung zu. Aber auch Krise zu helfen. Einen Tag Macht verholfen und im ver- seine Amtszeit zurück, da-
das Geschäft mit Zement nach den Massendemonstra- gangenen Jahr ihre Wieder- mals saß Rousseff im Verwal-
lief nicht mehr so gut tionen gegen die Regierung wahl unterstützt. Inzwischen tungsrat von Petrobras.
wie in den Vorjahren. Grä- am vergangenen Sonntag flog lehnen Umfragen zufolge Bislang konnte die Staatsan-
men muss sich der 57- Lula nach Brasília, um Rous- 62 Prozent der Brasilianer waltschaft allerdings weder
Jährige aber nicht: Ihm seff zu einer Neuausrichtung Rousseffs Amtsführung ab. Lula noch seiner Nachfolge-
bleiben noch immer ihrer Politik zu drängen. Der Sie werfen der Präsidentin rin nachweisen, dass sie
schätzungsweise 15 Mil- einstige Staatschef sieht seine vor allem vor, nicht energisch von den illegalen Geschäften
liarden Dollar. jok Chancen für ein Comeback genug gegen die Korruption gewusst haben. jgl

DER SPIEGEL 13 / 2015 89


Abgeordnete Maréchal-Le Pen

Die Familien-Bande
Frankreich Bei den Departementswahlen könnte
der rechtsextreme Front national zur stärksten politischen
Kraft im Land werden. Seit Kurzem hat die
Bewegung einen neuen Star: Marion Maréchal-Le Pen,
25 Jahre alt, Enkelin und Nichte.

A
n einem sonnigen Vormittag im sie. „Ihr werdet die Dinge wieder an ihren Das hat sie getroffen. „Es war jedenfalls
März sitzt Marion Maréchal-Le Pen Platz rücken“, sagen sie. nicht sehr Charlie“, sagt sie kühl, was in
in einem Café auf dem Marktplatz Marion Maréchal-Le Pen gehört zur neu- Frankreich in diesen Tagen so viel heißt
in Bollène, einem 14 000-Einwohner-Städt- en Generation des Front national (FN), die wie: nicht sehr tolerant gegenüber Anders-
chen in Südfrankreich, und kann nicht so sich daran gewöhnt hat, nicht mehr Au- denkenden. „Das musst du nicht ernst neh-
recht fassen, was ihr soeben passiert ist. ßenseiter zu sein, sondern von den Men- men, Marion“, der ältere Mann neben ihr
Früher, sagt sie, seien Mitglieder ihrer Par- schen auf der Straße wohlwollend ange- legt seine Hand auf ihren Arm.
tei ja häufig angepöbelt worden. Sie lässt sprochen zu werden. Meistens jedenfalls. Marion Maréchal-Le Pen, 25, ist das
Zucker in ihre Tasse rieseln. Aber heute? Sie hat an diesem Vormittag auf dem jüngste Mitglied der französischen Natio-
FOTO: ANDREW C. KOVALEV / DER SPIEGEL

Heute sei der Front national, Maréchal- Markt die blauen Faltblätter ihrer Partei nalversammlung, die Stadt Bollène liegt
Le Pens Partei, auf dem besten Weg, die verteilt, hat sich fotografieren lassen und im Vaucluse, wo sie vor zweieinhalb Jah-
stärkste politische Kraft im Land zu wer- hinterher freundlich einen schönen Tag ge- ren ihren Parlamentssitz erobert hat. Ein
den. Und wenn sie, die Nichte der Partei- wünscht. Bis da plötzlich irgendwo zwi- Weinbaugebiet mit weiten Ebenen, dahin-
chefin Marine Le Pen, irgendwo auftaucht, schen chinesischer Plastikware und süd- ter die Alpen; es ist schön hier, aber der
rufen die Leute: „Ah, la petite Marine“, französischem Gemüse eine Frau auftauch- Vaucluse gehört zu den ärmsten Departe-
die kleine Marine. Sie wollen Bilder mit te und rief: „Jemanden wie Sie müsste ments des Landes. An diesem Wochen-
ihr. Sie gratulieren ihr, setzen Hoffnung in man eigentlich anspucken!“ ende wählen die Franzosen die Räte ihrer
90 DER SPIEGEL 13 / 2015
Ausland

zösischen Politik, Jean-Marie Le Pen, zu Alternative zu den beiden großen Parteien,


einer nationalen Größe. Sie stritt mit Pre- dem sozialistischen PS und der konserva-
mierminister Manuel Valls in der Natio- tiven UMP. Glaubwürdig ist der neue Kurs
nalversammlung, täglich gab sie Inter- der Partei deshalb noch nicht. Man muss
views, absolvierte zahlreiche Auftritte in sich dafür nur einmal die unfassbar rassis-
der Provinz. tischen Entgleisungen mancher Kandida-
Natürlich half ihr dabei, dass sie sehr ten anschauen.
blond und sehr hübsch ist. Vor allem aber Deshalb ist es für die Partei natürlich
ist sie sehr geschickt und zielstrebig in dem, von Vorteil, wenn auf einer Wahlkampf-
was sie tut. Es ist gerade mal drei Jahre veranstaltung neben den örtlichen Kandi-
her, seit sie den Entschluss gefasst hat, in daten auch Marion Maréchal-Le Pen sitzt.
die Politik zu gehen. Die jüngste Abgeord- Sie überstrahlt manchen Fehler. Auch des-
nete, die je im Palais Bourbon saß, lernte halb sind ihre Wochen derzeit eng getaktet:
schnell. Eine Zeitung zählte sie vor Kur- Da sind die Parlamentssitzungen in Paris,
zem zu den zehn bekanntesten Frauen des die Ausschüsse, und dann ist da noch ihr
Landes. Wahlkreis.
Es gibt politische Gegner, die überzeugt Vor Kurzem hat sie ihr Pferd Dior ver-
davon sind, dass Marine Le Pen, ihre Tante, kauft, sie hat keine Zeit mehr fürs Reiten.
es niemals schaffen wird, zur französischen Die Kawasaki hat sie behalten, Motorrad-
Präsidentin gewählt zu werden, Marion fahren gehört zu ihren liebsten Freizeitbe-
aber schon. Es sind dieselben, die ihr auf schäftigungen.
den Fluren der Assemblée nationale nie Maréchal ist auch Mutter einer sechs Mo-
guten Morgen wünschen, und ihr, zumin- nate alten Tochter, Olympe. Sie habe nur
dest vor laufender Kamera, nie die Hand ihre „patriotische Pflicht“ getan und ein
schütteln würden. Kind bekommen, „damit wir unsere Ren-
An diesem Tag hat sie den frühen TGV ten bezahlen können“, sagte sie, als sie
aus Paris genommen, Abfahrt 7.17 Uhr, nach einer kurzen Pause ihre Arbeit im
Gare de Lyon. In Avignon hat ihr Assistent Parlament wieder aufnahm. Auch das ge-
sie abgeholt, kurz vor elf sind sie in Bollène hörte wohl schon zum Wahlkampf. Es
angekommen. Eigentlich wollte sie schon klingt etwas anders, wenn sie zwischen
gegen 9 Uhr da sein. Aber seit ein paar zwei Terminen erzählt, sie sei froh, dass
Tagen fühle sie sich nicht besonders wohl, ihre Tochter „so einen engagierten Vater“
sagt Marion Maréchal-Le Pen. Sie ist er- habe. Ihr Mann, der Eventmanager Mat-
schöpft, was man ihr nicht unbedingt an- thieu Decosse, hält sich raus aus der Politik
sieht. Sie trägt eine dunkelblaue Jacke mit und kümmert sich viel ums Baby.
goldenem Reißverschluss, schwarze Jeans Die Angst vor Provokationen ist ihr je-
und schwarze Stiefeletten. denfalls fremd, darin gleicht sie ihrem
„Ich hätte früher da sein sollen“, ärgert Großvater, als dessen „Marionnette“ sie
sie sich über sich selbst. Der FN-Kandidat manchmal beschrieben wird. Ein hübsches
für Bollène, ein früherer Oberst der Armee Wortspiel, aber Marion Maréchal-Le Pen
und 30 Jahre älter als sie, dankt ihr, dass hat, trotz ihrer Jugend, nicht viel von ei-
sie überhaupt gekommen ist. Später, wenn nem Püppchen. Sie führt ihren eigenen
sie samt Assistent und Leibwächter wieder Kampf mit dem Namen Le Pen. Schon als
verschwunden ist, wird er davon
schwärmen, wie sie nach einer Ver-
sammlung dabei half, die Tische
wieder auseinanderzubauen. Ein
Mädchen, das wirkt wie eine höhere
Tochter, aber sich nicht so verhält.
Seit Marine Le Pen vor vier Jah-
Departements, in denen sich das Land jen- ren zur Parteivorsitzenden gewählt
seits der Pariser Zuständigkeiten organi- wurde, hat sich die Zahl der FN-
siert. Eigentlich keine große Sache, wäre Mitglieder nach eigenen Angaben
da nicht der Front national. vervierfacht, von etwas 20 000 auf
Sämtliche Umfragen sagen voraus, dass über 80 000. Das hat auch unange-
er sich diesmal endgültig als stärkste poli- nehme Folgen für die Partei: Sie
tische Kraft etablieren wird. Knapp 25 Pro- wächst derart schnell, dass es ihr
zent vereinigte die Bewegung im vergan- an qualifiziertem Personal fehlt.
FOTO: ALAIN ROBERT / APERCU / SIPA PRESS

genen Jahr auf sich; 30 bis 35 Prozent, so An Menschen, die nach einem
die Prognosen, sollen es jetzt sein. Die Wahlsieg tatsächlich in der Lage
einst geächtete Randbewegung ist damit wären, Regierungsverantwortung
auf dem besten Weg, zur Volkspartei zu zu übernehmen. Marine Le Pens
werden. Und Marion Maréchal-Le Pen ist Strategie der „Entteufelung“, die
ihr neuer Star. Schon im Wahlkampf wur- Partei vom äußersten rechten Rand
de sie, die Nichte der Parteichefin Marine mehr zur Mitte zu führen, scheint
Le Pen und Lieblingsenkelin des FN-Be- aufgegangen zu sein. Viele sehen FN-Gründer Le Pen, Enkelin Marion
gründers und großen Ungetüms der fran- im Front national mittlerweile eine „Wer, wenn nicht du?“

DER SPIEGEL 13 / 2015 91


Wahlkämpferin Maréchal-Le Pen im Departement Vaucluse: Fünfmal so viele Facebook-Anhänger wie der Regierungschef

kleines Mädchen wurde sie als Antisemitin von Paris regelrecht „vor die Kameras ge- Front auch für andere Wählerschichten ge-
beschimpft, auch wenn sie da noch keine stoßen“. Damals, 2010, kamen ihr die Trä- öffnet hat, heißt es. Nur sei sie, anders als
Ahnung hatte, was das bedeutete. nen, weil sie die Frage eines Reporters der Patriarch, keine Antisemitin.
Mittlerweile ist sie von der Defensive nicht beantworten konnte. Marion selbst entzieht sich solchen Ein-
zum Angriff übergegangen. Früher wirkte Es war Jean-Marie Le Pen, der sie zwei ordnungen. In Paris demonstrierte sie ge-
sie eher schüchtern, fand ihre Stimme im Jahre später überzeugte, es noch einmal gen die Homo-Ehe, auch wenn der Chef-
Radio unerträglich. Auch deshalb hatte sie zu versuchen. Mit einem „Coup de pied stratege von Marine Le Pen, mittlerweile
die Politik für sich lange ausgeschlossen. aux fesses“, einem Tritt in den Hintern, die Nummer zwei des FN, homosexuell ist.
Inzwischen vergeht kaum ein Tag, an dem sagt sie. „Du bist jung, du hast Überzeu- „In jeder Partei vertreten Menschen unter-
sie keinen öffentlichen Auftritt hat. gungen, du kommst aus einer großen poli- schiedliche Ansichten“, sagt Marion Ma-
Ein regnerischer Montagnachmittag in tischen Familie, wenn nicht du, wer be- réchal dazu.
Carpentras, im Süden. Der Süden ist geistert die Jüngeren denn dann für unse- Und wenn es sich bei alldem nur um
Stammland des FN. Nicht erst jetzt, wo rer Sache?“, hat er sie gefragt. eine ausgeklügelte Strategie der Rollen-
ihn auch Menschen im Norden oder im Os- Vielleicht war er tatsächlich der Einzige, verteilung handelt? Der Soziologe Sylvain
ten des Landes mögen, sondern schon seit der wusste, wie gut sie in seine Partei pas- Crépon, der den Front national seit mehr
Langem. Hier ist man konservativer, ka- sen würde. Schon im Alter von zwei Jah- als 20 Jahren erforscht, hält das für die
tholischer und oft auch unverhohlen ras- ren hatte sie auf seinem Arm für ein Wahl- wahrscheinlichste These. Auch er sagt, Ma-
sistischer. Maréchals fremdenfeindliche Pa-
rolen und klare rechte Positionen finden
hier besonders Gefallen – auch weil sie so
Nach der Veranstaltung stehen die Leute an, um sie zu
entschiedener klingt, so viel härter als ihre umarmen. Eine Rentnerin hat Tränen in den Augen.
Tante in Paris.
Marion Maréchal-Le Pen sitzt im Erd- plakat posieren müssen, als einzige der rion Maréchal-Le Pen sei eine „extrem ta-
geschoss eines unscheinbaren kleinen Hau- vielen Enkel. Das Plakat hängt gerahmt lentierte, furchtlose“ Politikerin.
ses, ihrer Wahlkreis-Dependance. Sie emp- neben ihrem Büro in Carpentras. Marion Der FN vollbringe im Augenblick einen
fängt im Büro ihres Assistenten, weil sie sei in sehr kurzer Zeit zu einer politischen „Drahtseilakt“, so Crépon. Seit dem wach-
ihr eigenes nie richtig eingerichtet hat. Persönlichkeit gereift, sagte der Ehrenvor- senden Erfolg von Marine Le Pen befinde
Eine Klimaanlage bläst heiße Luft in den sitzende des FN vor Kurzem, mittlerweile sich die Bewegung in einem Dilemma. Ge-
Raum, an dem einzig interessant wäre zu ist er 86 Jahre alt. Sie habe einen starken riert sie sich zu moderat, verliert sie ihre
FOTO: GWENN DUBOURTHOUMIEU / DER SPIEGEL

zählen, ob hier mehr Bilder von Jean-Ma- Charakter, verfolge ihre Prinzipien, dränge Stammwähler. Zeigt sie sich zu radikal,
rie Le Pen oder von Marine, ihrer Tante, sich jedoch nie auf. „Und jetzt hat sie auch marginalisiert sie sich wieder, wie in frü-
an den Wänden hängen. noch ein schönes Baby“, lachte der Alte heren Jahren. Trotz der Öffnung in den
Sie habe nicht damit gerechnet, zur Ab- dröhnend. vergangenen Jahren folge das Programm
geordneten gewählt zu werden, sagt sie. Es wird viel darüber gemutmaßt, wie des Front national nach wie vor einer
An ihre erste eigene politische Erfahrung sich die Beziehungen zwischen den drei „rechtsextremen Logik“. Es gründet sich
als „die Enkelin von“ hat sie keine gute Generationen Le Pen gestalten. Marion weiterhin auf ein Konzept von Nationalität
Erinnerung. Sie war 20, es waren Regio- stehe ihrem Großvater mit seinem katho- und Identität: „Weder rechts noch links,
nalwahlen, und sie wurde, so erinnert sie lischen Fundamentalismus näher als ihrer sondern französisch“, lautet ein Slogan der
sich, bei einer Veranstaltung in der Nähe vermeintlich „weicheren“ Tante, die den Partei.
92 DER SPIEGEL 13 / 2015
Ausland

„Marine Le Pen hat sich zwar von ihrem kopf, verzieht sich in eine Ecke. Der Orga-
Vater abgesetzt, aber sie hat nie wirklich nisator, ein Mann mit schwarz gefärbter
mit der Identität des FN gebrochen“, sagt Tolle, bedankt sich bei Maréchal-Le Pen da-
Crépon. Auch die von der Parteichefin pro- für, dass sie den sozialistischen Premier
klamierte Laizität sei bei ihr kein univer- während einer „Fragerunde an die Regie-
selles republikanisches Prinzip, sondern rung“ angegriffen hat, wegen seiner offenen
richte sich ausschließlich gegen Muslime. Verachtung gegenüber dem Front national.
Was wiederum die Nichte mit der Tante Normalerweise lässt Manuel Valls derlei
verbindet. Bei einem Treffen mit Bauern Fragen von Staatssekretären oder Minis-
und Winzern aus der Region wettert Mari- tern beantworten, auf die von Marion Ma-
on Maréchal-Le Pen gegen „diese Linke, réchal-Le Pen entgegnete er selbst. Und
die lieber Moscheen baut, als die französi- redete sich dabei in Rage, über „Ihre De-
schen Bauern zu subventionieren“. magogie und Ihre Scheinheiligkeit“. Er
Sie spottet gallig über die Regierung, die habe Angst, sagte er, dass sein Land nach
„Asylbewerber und Flüchtlinge in Hotels den Departementswahlen mit einem Kater
logieren“ lasse. Und warnt davor, dass in erwache, weil die extreme Rechte schon
jeder Banlieue Parallelgesellschaften lau- wieder so viele Stimmen geholt habe. Am
erten, „mit denen wir Franzosen nichts tei- Ende schrie er regelrecht: „Sie betrügen
len“. Die politische Elite, und dabei zieht die kleinen Leute, die Arbeiter, die Bauern
sie das Parteienspektrum wie ihre Tante mit Ihrer Politik. Sie verkörpern weder die
zum Akronym UMPS zusammen, betreibe Republik noch Frankreich.“
den Ausverkauf ihres Landes. Doch diese Leute, von denen er sprach,
Frankreich müsse seine Grenzen wieder sitzen jetzt hier auf grauen Plastikstühlen,
selbst kontrollieren, seine Wirtschaft vor sie klatschen und rufen „Marion“, „Mari-
widrigen äußeren Einflüssen schützen. Da- on“. Auf Facebook hat Maréchal-Le Pen
für solle es die Europäische Union verlas- fast fünfmal so viele Anhänger wie der Re-
sen, ebenso die Eurozone. Aus Marion Ma- gierungschef. Sie tritt vor ein Mikrofon
réchals Mund kommen dieselben harten und erzählt, dass es der Innenminister vor
Worte, nur weniger rau, weniger donnernd Kurzem nicht einmal geschafft habe, 50
als bei Marine le Pen. Leute für seinen Auftritt zusammenzube-
Ist das nicht eine traurige Sichtweise für kommen. „Marine Le Pen hingegen ver-
jemanden ihrer Generation? Frankreich, sammelt locker 500“, ruft sie. Selbst wenn
mitten in Europa, abgeriegelt und auf sich sie die Stimme hebt, klingt sie nicht schrill.
allein gestellt? Die Sozialisten und Konservativen, die
Sie verzieht keine Miene. „UMPS“, die das Land regiert, „sie küm-
„Die Europäische Union bringt schon mern sich nicht um euch“, sagt sie. „Aber
lange niemanden mehr zum Träumen.“ wir schon! Zeigt es denen da oben, geht
Aber handelt es sich bei der vom FN wählen!“
propagierten Inselökonomie nicht um eine Nach der Veranstaltung stehen die Leute
gewaltige Lüge, um ein Szenario, bei dem an, um sie zu umarmen. Eine Rentnerin
die französische Wirtschaft verkümmern hat Tränen in den Augen. „Die Kleine
würde? spricht meine Sprache“, sagt sie. Eine jun-
„Alle Großmächte nutzen das Prinzip ge Frau mit langen, blond gefärbten Haa-
des Protektionismus“, sagt sie. Und zählt ren zeigt stolz ein Selfie mit Maréchal.
auf: die Vereinigten Staaten, China, Brasi- Der nächste Tag, Avignon, Wahlkampf-
lien, Indien. auftritt von Marine Le Pen. Die Halle ist
Aber Frankreich? riesig, die 800 Stühle reichen nicht aus,
„Die Europäische Union und ihr Binnen- etwa 300 Menschen müssen stehen. Am
markt sind eine Anomalie.“ Eingang werden Devotionalien verkauft:
Dass dieser Binnenmarkt zugleich der Weinflaschen mit „Cuvée Marine“, Feuer-
größte Absatzmarkt Frankreichs ist, scheint zeuge und Handyhüllen mit dem Logo des
sie nicht zu stören. Front national, einer Flamme in den Far-
An einem kalten Märzabend spricht Ma- ben der Trikolore. Als das Licht ausgeht,
rion Maréchal in Valréas, einem proven- ertönt Musik wie zu einem Boxkampf.
zalischen Dorf am Fuße des Mont Ventoux. Marion Maréchal-Le Pen überquert die
Die wenigen Läden an der Hauptstraße Bühne im Laufschritt, sie stellt sich hinter
sind schon mittags geschlossen, die Arbeits- das Rednerpult. Sie kündigt ihre Tante an,
losigkeit liegt hier deutlich über dem fran- als „die nächste Präsidentin Frankreichs“.
zösischen Durchschnitt. Etwa 80 Leute Sie macht das professionell, wie immer.
sind gekommen, darunter viele Rentner. Nur ihre Stimme klingt ein kleines biss-
Sie sitzen in einem unbeheizten Raum mit chen schriller als sonst. Sie ist aufgeregt.
pfirsichfarbenen Wänden, an denen bunte Julia Amalia Heyer
Sticker kleben.
„Marine bedeutet Gerechtigkeit“, steht Video:
da. „Marine bedeutet Beschäftigung“, „Ma- Eine nationale Dynastie
rine bedeutet Sicherheit“. Der Leibwächter spiegel.de/sp132015frankreich
von Marion Maréchal, ein bulliger Glatz- oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 13 / 2015 93


Schiitische Kämpfer nahe Tikrit

Ein fürchterlicher Sieg


Terror Der IS zieht aus eroberten Dörfern und Städten im Irak ab, Gefangene fliehen, und die
Unzufriedenheit seiner Untertanen wächst. Ist das „Kalifat“ in einer Krise?

D
ie Gefahr ist noch da auf dem Weg nern ist heute eine Geisterstadt. Ausge- Die Operation in Tikrit ist die bisher
von Bagdad nach Tikrit. Überall brannte Fahrzeuge liegen am Straßenrand, größte Militäroffensive gegen diesen
entlang der Straße könnten Bom- es gibt keinen Strom, die Mobilfunkmasten Feind, der seit dem vergangenen Jahr gro-
ben liegen und Scharfschützen lauern. Des- sind zerstört. Doch auf dem Alam-Platz ße Teile des Irak erobert hat, oft ohne auf
halb weiß keiner, in welchem Wagen der weht jetzt wieder die irakische Flagge. Und Widerstand zu stoßen. Bis Anfang März
irakische Innenminister Mohammed al- dahinter, auf der Hauptstraße, stehen die dehnte sich das „Kalifat“ von der türki-
Ghabban sitzt. Sein Konvoi, geschützt von Männer, die diesen Sieg errungen haben; schen Grenze bis 60 Kilometer vor Bagdad
schwer bewaffneten Soldaten, fährt vorbei Polizisten, Soldaten, vor allem aber die aus, seither beginnt es, an den Rändern
an Mauern und Schulen, an denen noch schiitischen Milizionäre. zu schrumpfen.
die schwarze Fahne des IS prangt, an lee- Sie haben Hunderte Hülsen von Grana- Doch es wäre zu früh, die Rückerobe-
ren Dörfern und Schützengräben, die den ten aufgereiht, die die IS-Kämpfer in dieser rung von Teilen Tikrits als Anfang seines
fortschreitenden Verlauf der Schlacht an- Schlacht abgeschossen haben. Ein alter Endes zu deuten. Denn die Dschihadisten
zeigen. Immer weiter Richtung Norden. Polizeikommandeur tritt vor den Innenmi- sind noch immer stark. Dass sie sich aus
Der Minister will an die Front, nach Ti- nister und berichtet, seine Einheit habe 60 der Stadt vorerst zurückgezogen haben,
krit, 180 Kilometer nördlich von Bagdad, Soldaten bei den Gefechten verloren. Da- könnte ein Schachzug sein. Um Kämpfer
wo in den vergangenen Tagen der „Isla- für seien die Straßen im Stadtteil Kadissija und Militärgerät zu schonen – und gleich-
mische Staat“ (IS) zurückgeschlagen wur- mit den Leichen der IS-Kämpfer übersät. zeitig den Bruderkrieg zwischen Schiiten
de. Ghabban, 53, ist ein drahtiger Mann, Es liegt Euphorie in der Luft, und man und Sunniten anzufachen.
er trägt eine einfache Polizeiuniform. Un- würde dem Innenminister gern glauben, Denn nicht die Armee führt die Befrei-
ter Saddam Hussein kam er ins Gefängnis, dass jetzt alles gut wird. Doch die Soldaten ung von Tikrit an, sondern die schiitischen
da war er erst 18 Jahre alt; später schloss wissen, dass die Rückeroberung von Tikrit Milizen, die offiziell der Regierung unter-
er sich der in Iran gegründeten schiitischen nur ein Etappensieg ist. Und dass auch Ti- stehen und gemeinsam mit der Armee ope-
FOTO: THAIER AL-SUDANI / REUTERS

Badr-Partei an. Tikrit ist ein besonderer krit noch nicht wirklich frei ist. Im Stadt- rieren. Doch ausgerüstet und befehligt wer-
Ort für ihn: Hier ist der verhasste Diktator zentrum hat sich eine kleine Gruppe von den sie letzten Endes von dem iranischen
geboren und in der Nähe auch begraben. IS-Kämpfern verschanzt, Zivilisten wur- General Kassim Soleimani. Die Milizen
Schon von Weitem ist der Wasserturm den als Geiseln genommen. Außerdem stehen mit 20 000 Mann vor Tikrit; die Ar-
von Tikrit zu sehen. Auch er ist schwarz haben sie die Stadt vermint, ein weiteres mee hat nur etwa 4000 Soldaten geschickt.
angemalt, darauf der weiße IS-Schriftzug. Vordringen der Armee sei vorerst zu ge- Die internationale Koalition unter Führung
Tikrit mit seinen ehemals 260 000 Einwoh- fährlich, sagt der Kommandeur. der USA ist nicht beteiligt.
94 DER SPIEGEL 13 / 2015
Ausland

Die irakische Armee muss erst wieder lächelnde Kämpfer von Asaib Ahl al-Haq chen wurden sie damals nicht in die iraki-
aufgebaut werden, nachdem sie im Som- abgehackte Köpfe in die Kamera. Im Dorf sche Armee aufgenommen. Jetzt vertrauen
mer von den IS-Truppen überrannt wurde. Barwana wurden Ende Januar mindestens sie der Regierung nicht mehr.
Und so haben die schiitischen Milizen die 70 Leichen von Zivilisten gefunden, exe- Aber das ist nur ein Teil der Erklärung.
militärische Macht im Irak übernommen. kutiert offenbar von schiitischen Milizen. Den anderen Teil liefert der irakische
Das macht die Einnahme von Tikrit vor In Tikrit stellt sich nun Innenminister Journalist Saud Murrani: Für die jungen
allem für den Westen zu einem zweischnei- Ghabban hinter ein eilig herangeschlepp- Männer, die in den tief religiösen Dörfern
digen Sieg: Einerseits ist sie ein Hoffnungs- tes Rednerpult, er hält eine Ansprache, um lebten, wo Jungen und Mädchen strikt ge-
zeichen – und andererseits könnten die seine Soldaten zu motivieren. „Das ist erst trennt erzogen würden, sei der IS eine Be-
Folgen fürchterlich sein. der Anfang“, ruft er. „Wir werden eine freiung. Er gebe ihnen die Möglichkeit, al-
Schon lange schwelt der Konflikt zwi- Schlacht nach der anderen schlagen, wir les zu haben, wonach sie sich sehnten, Sex,
schen Sunniten und Schiiten im Irak. Der werden unser Land von Daisch befreien. Macht und Stärke – und gleichzeitig kön-
frühere Premier Nuri al-Maliki hatte die Wir werden gewinnen!“ nen sie sich als Gottes Soldaten sehen.
Sunniten aus allen Ämtern gedrängt und Ein Journalist fragt ihn: „Was geschieht Auch der Cousin des Obstbauern hat
schiitische Milizen gefördert. Sein Nach- mit denjenigen, die mit dem IS gekämpft sich IS angeschlossen. „Er ist ein dummer
folger Haider al-Abadi versprach, er werde haben und zurückkehren wollen?“ Junge“, sagt Atidscha. „Er liebt schnelle
diese Politik beenden. Abadi gilt als inte- „Diese Leute haben keinen Platz in un- Autos und glaubt, der IS mache ihn reich.“
ger, aber seine Macht reichte offenbar serer Gesellschaft“, sagt der Minister. In der Schlange wartet auch Husam, er
nicht einmal zur Auswahl seines Kabinetts. Der Kampf gegen den IS schafft neues war als Lagerarbeiter beim Ölministerium
Deutlich wird das an Innenminister Ghab- Misstrauen gegen die Sunniten. In einem von Tikrit angestellt. 22 Tage lebte er mit
ban, dem von Iran unterstützten, wenn YouTube-Video kann man sehen, dass nur seiner Familie im „Kalifat“, dann flohen
auch als gemäßigt geltenden Badr-Mann. ein Funke reicht, um den Hass explodieren sie. Es gab nur eine Regel, sagt Husam: „Al-
Der neue Premier ist ebenfalls abhängig zu lassen. Das Video soll vor einigen Tagen lah.“ Alle mussten ihre Zigaretten abge-
von den Milizen, die er im Einsatz gegen im Kadamia-Krankenhaus in Bagdad auf- ben, wer beim Rauchen erwischt wurde,
den IS braucht. Iran schickt Waffen, Kämp- genommen worden sein. Darin wird ein sei beim ersten Mal verwarnt worden,
fer und Luftunterstützung, iranische Offi- sunnitischer Patient von einer Menschen- beim zweiten Mal wurde ihm der kleine
ziere trainieren die Armee. Irans Revolu- menge verprügelt, mit Stuhlbeinen, Nacht- Finger gebrochen, beim dritten Mal wurde
tionswächter wollen ihren Einfluss im Irak tischen, Besenstielen. Am Ende ist er tot. er ausgepeitscht. Der IS besetzte in Tikrit
ausbauen, und dazu sind die Milizen ein Viele Sunniten sind vor dem IS und den das Ölministerium und entließ alle Ange-
brutales, erfolgreiches Mittel. Denn ihr Gefechten nach Bagdad geflohen. Einer stellten. Auch Husams Frau, eine Lehrerin
Kampf gegen den IS ergänzt sich mit des- von ihnen ist Hamada Saleh Atidscha, ein für Geschichte und Erdkunde, durfte nicht
sen Barbarei zum Teufelskreis: Je bedroh- Obstbauer aus dem Ort Duluaija nahe mehr zur Arbeit gehen.
licher die Dschihadisten auftreten, desto Samarra. Dort besaß er 1500 Mandarinen- So streng die Regeln des IS sind, so prag-
ungehemmter schlagen die schiitischen bäume, jetzt steht er in Bagdad in einer matisch ist seine Strategie. Im syrischen
Truppen zu, womit sie wiederum dem IS langen Schlange im Schiiten-Viertel Sadr Kobane kämpften die Dschihadisten bis
neue Anhänger zutreiben. City an und wartet darauf, dass er Geld zum letzten Mann. Doch anderswo ziehen
Viele sunnitische Zivilisten in den vom ausgezahlt bekommt. sie sich schnell zurück. Der von ihnen gern
IS eroberten Gebieten befinden sich in ei- Atidscha gehört dem sunnitischen in Szene gesetzte Blutrausch überdeckt,
ner aussichtslosen Lage, bedroht sowohl Stamm der Buadschil an. Viele seiner Stam- dass sie kühl Kosten und Nutzen kalkulie-
vom IS als auch von den radikalen Schiiten. mesgenossen im IS-Gebiet haben sich den ren. Das macht sie so erfolgreich.
„Entweder fliehen sie, oder sie werden um- Dschihadisten angeschlossen. Sie misstrau- Der Befehlshaber der Badr-Miliz, Hadi
gebracht“, erklärte vor Kurzem ein Anfüh- en der Regierung, die die Sunniten benach- al-Ameri, meldete Ende Januar, seine
rer der Miliz Asaib Ahl al-Haq unverblümt. teiligt und von Staatsämtern und Armee- Männer hätten die irakische Nordost-
Und ergänzte: „Wir behandeln alle Sunni- posten fernhält. Schon einmal, ab 2007, provinz Dijala vom IS zurückerobert. An-
ten wie Daisch“, das ist das arabische Akro- hatten sie mit den Amerikanern gegen al- ders als in Tikrit hatte es kaum Kämpfe
nym für den IS. Es gibt ein Video, da halten Qaida gekämpft – doch anders als verspro- gegeben. Ein Buchhalter des IS erklärt im
Gespräch, was geschehen ist: „Hadi al-
150 km IRAN Ameri hat für den Rückzug aus Dijala ge-
TÜRKEI zahlt, mehrere Millionen US-Dollar.“ Für
Kobane das an die Dschihadisten geflossene Geld
durften aus Dijala geflohene Sunniten auf-
Bab Rakka Mossul kommen. „Sie mussten etwa 30 000 Dollar
Aleppo
IS-Hauptquartier pro Dorf zahlen, wenn sie zurückkehren
P ROVI N Z
IDLIB
wollten“, sagt der Buchhalter.
IRAK
Ti

Dijala ist eine sunnitisch-schiitische Pro-


SYRIEN
gr

Deir
vinz, die der IS auf Dauer kaum hätte hal-
is

al-Sor
Homs Baidschi ten können, zumal sie direkt an Iran
Tikrit grenzt. Daher nahmen die Dschihadisten
ka u m
LIBANON lieber das Geld und zogen ab. Schon oft
besiedeltes P ROVI N Z
A N BA R P ROVI N Z haben sie sich aus pragmatischen Erwä-
G e b ie t D IJA L A
Kerngebiete gungen aus Gebieten zurückgezogen und
Damaskus Eu
unter Kontrolle von Bagdad sie später wieder eingenommen. Derzeit
ph

P ROVI N Z wollen sie offenbar ihr Territorium kon-


ra

Q Regierungstruppen Q IS-Milizen
t

DARAA solidieren, dafür brauchen sie Geld und


und Verbündeten und Verbündeten
Kämpfer, keine unnötigen Schlachten.
JORDANIEN Q Kurden Q Rebellen Selbst wenn es gelänge, den IS nicht nur
Quelle: Thomas van Linge, (u.a. Freie Syrische Armee) aus Tikrit, sondern auch aus der Millionen-
Stand: 15. März

DER SPIEGEL 13 / 2015 95


Ausland

metropole Mossul, ja, aus dem ganzen Irak Strom, Trinkwasser, Nahrungsmittel wer-
zu verdrängen, wäre dies zwar ein harter
Schlag für den „Kalifen“ Abu Bakr al-
Baghdadi und seine Terrorarmee – aber
den knapp; der IS ist überfordert mit der
Verwaltung seines Herrschaftsgebiets.
Doch die Unzufriedenheit führt trotz-
Angriff auf die
mitnichten sein Ende. Denn der IS könnte
sich jederzeit nach Syrien zurückziehen.
Dorthin haben die Dschihadisten in den
dem nicht zum offenen Widerstand. Denn
was den IS von früheren Terrorgruppen
unterscheidet, ist die totale Kontrolle der
Demokratie
vergangenen Wochen bereits alle trans- Untertanen. In Syrien spionieren ehema- Tunesien Die Attentäter zielten
portierbaren Maschinen einer Raffinerie lige Regimespitzel für IS, im Irak haben
bei Baidschi, einer Zucker- sowie einer Ze- sie ein über Jahre etabliertes Kundschaf- auf die einzige Erfolgsgeschichte
mentfabrik nahe Mossul evakuiert. Denn ternetzwerk. Oftmals werden auch indok- des Arabischen Frühlings. Der
in Syrien droht dem IS außer von den gut trinierte Kinder als Spione eingesetzt. Anschlag könnte die Wirtschaft
organisierten kurdischen Kräften am Bo- Fahrten von Ort zu Ort, gar Ausreisen
den keine wirkliche Gefahr. Offiziell führt aus dem „Kalifat“ bedürfen der schrift- des Landes schwer treffen.
Diktator Baschar al-Assad zwar Krieg ge- lichen Genehmigung. Neuerdings darf das

T
gen den IS, aber die Kampfhandlungen Territorium nur noch verlassen, wer krank unesien ist die große Hoffnung der
beschränken sich auf Ölfelder und wenige ist. Geldüberweisungen werden kontrol- arabischen Welt. Das einzige Land,
Orte. Dort, wo noch syrische Rebellen- liert. Privater Waffenbesitz ist verboten. in dem auf den Arabischen Frühling
gruppen existieren, kooperieren IS und „Wir haben Angst, selbst in den eigenen eine demokratische Regierung folgte, das
Regime stillschweigend. Weder kann As- vier Wänden oder im Garten zu sprechen“, einzige, das einigermaßen stabil zu sein
sads Armee den IS besiegen, noch läge das sagt ein alter Syrer, der seinen verletzten scheint. Und zugleich stammt von hier die
im Interesse des Regimes. Die Horrortrup- Sohn im Krankenhaus auf türkischer Seite größte Gruppe ausländischer Dschihadis-
pe hat sich als Feind von unschätzbarem besuchen durfte. „Überall haben sie ihre ten im Irak und in Syrien. Um die 3000
Wert erwiesen: Assads Gräuel und über Ohren, niemand traut mehr seinen Nach- Mann sollen es sein. Es sind zwei Seiten
mittlerweile 215 000 Bürgerkriegsopfer ver- barn, alle sind erstarrt.“ So groß ist das eines Landes, die schwer miteinander in
blassen neben der Furcht des Westens vor Misstrauen der IS-Schergen, dass sie selbst Einklang zu bringen sind. Und nun könnte
den Kopfabschneidern. ihre eigenen Leute zu Dutzenden umge- die hässliche Seite die hoffnungsvolle zer-
So haben die Kurden den IS zwar im bracht haben, entweder, weil sie diese der stören.
Norden Syriens zurückdrängen können, Spionage verdächtigten, oder weil sie nicht Seit Monaten schon riefen radikale Isla-
in den Kampf ziehen wollten. misten zu Anschlägen in Tunesien auf. Am
Strom, Wasser und Nah- Anfang März gelang in der syrischen
Stadt Bab mehr als hundert IS-Gefangenen
Mittwoch haben die Extremisten ihre Dro-
hung wahr gemacht. Mindestens 20 aus-
rungsmittel werden knapp die Flucht, die meisten waren Kurden. ländische Touristen und 5 Tunesier starben
im „Kalifat“, doch niemand Zwei Drittel von ihnen wurden kurze Zeit bei dem Anschlag vor dem Parlament in
später wieder gefangen, die meisten sofort Tunis und bei der anschließenden Geisel-
wagt den Widerstand. erschossen. Zu den wenigen, die es in nahme im benachbarten Bardo-Museum.
nächtelangen Fußmärschen bis über die Unter den Toten waren Polen, Japaner,
doch im Süden stößt er auf wenige Hin- türkische Grenze in Sicherheit schafften, Spanier, Italiener und Franzosen. Anders
dernisse: Im Dezember tauchten in der gehört ein kurdischer Bauer, der immer als zunächst vermutet, wurden keine Deut-
Provinz Daraa an der jordanischen Grenze noch vor Angst zittert, wenn er von seinen schen verletzt oder getötet.
plötzlich Einheiten der Dschihadisten auf, Erlebnissen erzählt. Er spricht nur unter Zum zweiten Mal starben in Tunesien
die mit Panzertransportern und Gelände- der Bedingung, seinen Namen nicht zu Touristen bei einem Anschlag, in Djerba
wagen unbehelligt aus der Wüste im Nord- nennen. Denn er entkam, sein Sohn nicht. wurden 2002 elf Deutsche getötet. Danach
osten angerollt waren – vorbei an zwei der „Die Folter war schlimmer als beim Re- blieben viele Urlauber aus, auch diesmal
wichtigsten Militärflughäfen des Regimes gime“, erzählt er. „Sie haben uns mit Bun- wird die für Tunesien so wichtige Touris-
und durch Gebiete, die von der Armee be- senbrennern traktiert, bis wir gestanden, musindustrie unter dem Attentat leiden.

FOTOS: EZER MNASRI / ANADOLU AGENCY / GETTY IMAGES (U.); HAMIDEDDINE BOUALI / DEMOTIX (O.)
herrscht werden. Niemand hielt sie auf. zur PKK zu gehören.“ Dann beschädigte Einiges deutet darauf hin, dass die Täter
Was den Terrorstaat derzeit am härtesten ein Luftangriff die Gitter vor einem Fenster ursprünglich einen Angriff auf die tunesi-
trifft, sind die gezielten Luftangriffe der in- ihres Gefängnisses. „Wir haben drei Tage sche Demokratie geplant hatten: auf das
ternationalen Koalition auf ihre Stellungen, lang ganz leise das Mauerwerk aufgehebelt Parlament im Zentrum der Hauptstadt, wo
Konvois und schweren Waffen. Großangriffe und sind in kleinen Gruppen geflohen.“ zu jenem Zeitpunkt eine Debatte über
und Truppenverlegungen wie bis zum ver- Er war in der ersten Gruppe, sein Sohn neue Anti-Terror-Gesetze stattfand.
gangenen Sommer kann der IS kaum noch sollte gleich nachkommen. „Aber dann In einem Kommissionssaal des Parla-
unternehmen. Innerhalb seines Reiches hörten wir Schüsse hinter uns, sind nur ments referierte ein Vertreter des Gene-
agiert der IS daher zunehmend unsichtbar: noch gerannt und haben uns nicht mehr ralstabs über die Probleme der Sicherheits-
Die schwarzen Fahnen, die bis Herbst noch umgeschaut.“ kräfte, als draußen die ersten Schüsse
über jedem Dorf wehten, sind vielerorts ein- Der IS steigert die Grausamkeit, aber fielen. Während das Parlament evakuiert
geholt. Oder sie wurden, wie in Mossul, noch hat er sein Reich unter Kontrolle. wurde, griff Saida Ounissi, Abgeordnete
über den Häusern von Familien gehisst, die Der Betreiber eines Internetcafés in Rak- der islamischen Nahda-Partei, zu ihrem
den Treueeid auf den IS verweigert haben. ka, der IS-Metropole auf syrischer Seite, Handy und twitterte: „Große Panik – ein
Statt ihrer auffälligen Pick-ups und Humvees berichtet: „Wenn die ausländischen Kämp- bewaffneter Mann im Parlament.“ Ihr
nutzen sie beschlagnahmte Taxis. Selbst die fer reinkommen, eröffnen sie einen neuen Tweet, gesendet um 12.20 Uhr, war die ers-
neuen IS-Nummernschilder verschwanden Facebook-Account, chatten mit Freunden te Nachricht von dem Anschlag. Doch Ou-
rasch wieder von ihren Fahrzeugen. oder Verwandten – und löschen anschlie- nissi lag falsch: Die Attentäter feuerten vor
SPIEGEL-Informanten im Innern des ßend den Account.“ Selbst die treuesten dem schwer gesicherten Parlament auf
„Kalifats“ berichten von Unzufriedenheit Anhänger haben Angst. Touristen, die aus Reisebussen stiegen, wo-
über die katastrophale Versorgungslage. Susanne Koelbl, Christoph Reuter möglich, weil sie nicht ins Parlament ge-
96 DER SPIEGEL 13 / 2015
Trauerkundgebung am Mittwoch in Tunis: Kann dieser Anschlag das Land einen?

langten. Dann stürmten sie ins National- so Bouzid, habe er das Feuer eröffnet. Gleich nach dem Anschlag hieß es, nun
museum Bardo. Die Menschen um ihn herum schrien, man- sei der Arabische Frühling auch in Tunesien
Am Eingang wartete der Fremdenführer che fielen verletzt zu Boden. Die meisten gescheitert. Aber das Gegenteil ist der Fall:
Wassal Bouzid auf Nachzügler aus seiner flüchteten ins Museum, Bouzid aber rann- Tunesien ist, bei allen Problemen, für die
Reisegruppe, die im Museum noch Fotos te blindlings in die andere Richtung. Erst Extremisten eine Gefahr. Denn die Demo-
machen wollten. Zu seiner Rechten, so er- später erfuhr er, dass ein weiterer Attentä- kratisierung ist zwar nicht abgeschlossen,
zählt er, habe er plötzlich einen jungen ter in den Bus seiner Reisegruppe eindrang aber das Land befindet sich auf dem Weg
Mann gesehen, der eine Kalaschnikow aus und drei Urlauber tötete. der Stabilisierung – und es geht mittlerweile
seinem Rucksack zog. Der Mann trug Zwei Attentäter wurden von Sicherheits- gegen die Extremisten vor. Lange ignorier-
Jeans und eine blaue Jacke, keinen Bart. kräften erschossen, weitere entkamen. Die ten die Regierenden die Gefahr, erst in den
„Ich dachte zuerst, das sei bloß eine Spiel- Behörden identifizierten die Toten als Yas- letzten Monaten begannen die Sicherheits-
zeugwaffe“, sagt Bouzid, er klingt immer sine Laabidi und Hatem Khachnaoui, bei- kräfte, jungen Männern die Ausreise nach
noch ungläubig. Der Terrorist schien zu- de Tunesier. Aus Sicherheitskreisen heißt Libyen zu erschweren. Echte und mutmaß-
nächst selbst unsicher zu sein. Doch dann, es, sie seien zuvor in Libyen gewesen. liche Dschihad-Rückkehrer wurden verhaf-
Am Donnerstag bekannte sich der IS in tet. Mehrere Hundert sollen im Gefängnis
einer Audiobotschaft zu dem Anschlag – sitzen, vielfach ohne Anklage und Prozess.
und kündigte weitere Attentate an. In den Nach dem Anschlag demonstrierte die
sozialen Netzwerken bejubelten seine An- politische Elite Einigkeit. Rachid al-Ghan-
hänger die Tat und wiesen auf ein bereits nouchi, der Chef der Nahda-Partei, die im
im vergangenen Dezember veröffentlich- Herbst bei den Parlamentswahlen den Sä-
tes Video hin, in dem der tunesische IS- kularen unterlegen war, rief zum gemein-
Terrorist Boubakr Hakim sich zur Ermor- samen Kampf gegen den Terror auf. Pre-
dung zweier säkularer Oppositionspoliti- mier Habib Essid versprach, die Regierung
ker in Tunis bekannte und warnte: „Ihr werde das Land „ohne Gnade verteidigen“.
werdet nicht in Sicherheit leben, bis Tune- „Im Moment haben die Politiker einen
sien unter islamischer Herrschaft ist.“ gemeinsamen Feind: die Dschihadisten“,
Auch die Terrorgruppe Ansar al-Scharia sagt Michael Ayari von der International
hatte erst vor Kurzem zum „totalen Krieg“ Crisis Group. Bei aller Tragik sei es ein
gegen Tunesien aufgerufen. Die Gruppe Glück, dass der Anschlag nicht während
galt bisher als Qaida-nah, operiert aber zu- der unruhigen Zeit vor den Wahlen im ver-
nehmend gemeinsam mit dem IS in Libyen. gangenen Herbst geschehen sei. „Damals
Dort wurde am Tag vor dem Anschlag in war das Land gespalten in Säkulare und
Tunis ihr Kommandeur Ahmed al-Rouissi Islamisten“, sagt Ayari, „und ein Anschlag
getötet. Über Libyen schleust Ansar al- wie dieser wäre unweigerlich politisch in-
Scharia tunesische Dschihadisten nach Sy- strumentalisiert worden.“ Nun könnte er
rien. Meist sind es junge, arbeitslose Män- Tunesien möglicherweise sogar einen.
ner, oftmals gut ausgebildet, die in ihrer Dramatisch wäre es, wenn am Ende die
Heimat keine Zukunft sehen und so leichte junge Demokratie unter dem „Krieg gegen
Beute für die Extremisten sind. Denn Tu- den Terror“ leiden würde. Denn dann hät-
nesien ist zwar das Musterland des Arabi- ten die Extremisten gesiegt.
Fliehende Geiseln vor dem Bardo-Museum schen Frühlings – doch im Alltag der meis- Mirco Keilberth, Sandro Lutyens,
Aufruf zum „totalen Krieg“ ten Menschen hat sich wenig verbessert. Fidelius Schmid, Samiha Shafy

DER SPIEGEL 13 / 2015 97


Ausland

Das Gift hat gewirkt


Essay Premier Netanyahu hat die Wahl gewonnen, weil er die Palästinenser
unsichtbar gemacht hat. Von Nir Baram

Wahlsieger Netanyahu: Es wird keine zwei Staaten geben

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iese Woche besuchte ich das Ichilov-Krankenhaus in Tel sehnte. Am Wahltag heizte Netanyahu seinen Anhängern mit
Aviv für einen „Vorbereitungsrundgang für die Geburt“. Erklärungen über die massive, „gefährliche“ Wahlbeteiligung
Wir, das heißt acht junge Paare, die sich auf die Geburt der israelischen Araber ein, weshalb es für die jüdischen Israelis
ihres ersten Kindes vorbereiten, trafen uns dort. Als wir am Pflicht sei, an der Wahlurne zu erscheinen. Das war der Tiefpunkt
Kreißsaal und am Erholungsraum vorbeigingen und die breiten dieses Wahlkampfs – der mit Netanyahus größtem Triumph en-
Gänge durchschritten, deren Wände vollgepflastert waren mit dete. 30 Sitze holte die Likud-Partei, fast 50 Prozent mehr als in
Fotos von lächelnden Eltern und Kindern, kam mir plötzlich der den meisten Umfragen prognostiziert. In Israel bezahlt man kei-
Gedanke, dass wir all diese Kinder in einen Staat setzen, an des- nen Preis für Rassismus.
sen Zukunft wir zweifeln. Wir wollen nicht ständig apokalyp- Weshalb hat Netanyahu die Wahl gewonnen? Weil Netanyahus
tische Schreckensbilder vor Augen haben, sondern tauchen ganz Story die Story ist, welche die Mehrheit der jüdischen Israelis
gern in den Alltag ab – und dennoch schleicht sich manchmal glaubt: Wir leben in einem kleinen Staat, der von Feinden um-
die Erkenntnis ein, dass wir in einem Staat leben, dessen Grenzen ringt ist. Auch die übrige Welt liebt uns nicht, und der „Islamische
wir nicht ziehen können, weder heute noch in 40 Jahren, und Staat“ und Iran stehen vor unseren Toren. Da ist kein Platz für
dessen Existenz wir anzweifeln. Natürlich hatte ich gehofft, dass Schwäche, für Zugeständnisse und für anderes feinfühliges euro-
diese Wahl eine Wende bringen und sich eine neue Regierung päisches Gerede. Es gibt keine Hoffnung auf Veränderung, aber
bilden würde, die es wagt, unsere Zukunft zu gestalten. mit der Waffe in der Hand kann man überleben, wenn man hart
Diese Wahl war die widerwärtigste seit Langem. Die verschie- bleibt. Netanyahu war schon immer ein schlauer Angsthändler.
denen Gruppen der israelischen Gesellschaft sind in einen totalen Die Angst wurde zum Motiv, das jeden Vorstoß zum Wandel ne-
Krieg um die Macht gezogen: die jüdischen Siedler gegen die gierte; die Angst hat uns gleichsam im Jetztzustand erstarren las-
„verräterische Linke“, und Außenminister Avigdor Lieberman sen. Wir haben Angst, uns zu bewegen. Die bekannten politischen
mit hemmungsloser Hetze gegen die arabischen Israelis. Alle re- Rezepte, wie die Zwei-Staaten-Lösung oder die Arabische Frie-
deten vermeintlich über die Immobilienpreise und die hohen Le- densinitiative, erscheinen den meisten jüdischen Israelis heute
benshaltungskosten, doch nur Naive konnten glauben, dass es als verrückte Beatnik-Fantasie.
wirklich um diese Themen ging. Wir haben nicht verstanden,

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dass das Gift, das Premier Benjamin Netanyahu in den vergan- n Israel hat sich eine politische Wende ereignet: All jene ha-
genen Jahren gestreut hat, bei den meisten Israelis zu wirken be- ben gewonnen, die nicht an eine Lösung des Konflikts glau-
FOTO: NIR ELIAS / REUTERS

gann: nämlich die Idee, dass die Welt und insbesondere die Ara- ben und für ein unnachgiebiges Beharren auf einer Politik
ber den Juden feindlich gegenüberstehen und dass es keinen der Stärke stehen. Viele Jahre lang hat Netanyahu die politische
Ausweg aus dieser Konfrontation gibt. Die rassistischen Ausfälle These befördert, die er immer schon als Realität verkaufte: keine
gegen die arabischen Bürger waren so unverhohlen, dass ich Lösung, nur Beharren auf den eigenen Positionen. Nun hat Ne-
mich fast nach ein bisschen Heuchelei im öffentlichen Raum tanyahu geerntet, was er gesät hat: Seine These wurde zur ein-
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zigen Realität, zumindest in den Augen der Mehrheit der Grenzen ziehen, wenn eine Million Juden im Westjordanland le-
Israelis. ben könnten? Seit den Osloer Abkommen wurde viel geredet,
Bei diesen Wahlen habe ich, ohne Begeisterung, Meretz ge- es gab manche Zeremonien und Verhandlungen, doch nur ein
wählt, die linke Partei, die vier magere Sitze errang. Dass Meretz Prozess hat sich konsequent und ohne Unterlass behauptet: Es
so schwach ist, ist ein klares Zeugnis des Verfalls der israelischen wurden immer mehr jüdische Siedlungen gebaut.
Linken, die keine Vision mehr hat und sich wie eine Art geschlos-

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sener Klub verhält, der sich auf die Region Tel Aviv konzentriert. an darf nicht vergessen, dass Benjamin Netanyahu die
So hat die Linke die Fähigkeit eingebüßt, die jüdische Mehrheits- Wahlen auch noch aus einem anderen Grund gewonnen
gesellschaft anzusprechen. Der Grund, weshalb ich trotzdem Me- hat. So behauptet die israelische Linke seit den Achtzi-
retz wählte, war die Furcht, dass die Partei untergehen könnte, gerjahren, dass sich Europa und die USA nicht mit der Besatzung
und es hat tatsächlich nicht viel gefehlt. Zur Verteidigung muss abfinden würden und Israel sich dem südafrikanischen Modell
man allerdings sagen, dass Meretz und die Vereinigte Arabische annähere. Demgegenüber behaupten die Rechten stets, dass der
Liste, der Zusammenschluss der arabischen Parteien, die Einzigen Preis der Besatzung bezahlbar bleiben würde. Man muss leider
waren, die ein Thema ansprachen, das irgendwo tief im Keller zugeben: In dieser Sache haben die Rechten sich nicht geirrt, zu-
des Wählerbewusstseins begraben wurde: die Palästinenser. Zwei mindest vorläufig. Israel ist in den letzten Jahrzehnten stärker
Staaten? Ein Staat? Besatzung? Die Rechte der Palästinenser? und reicher geworden, es treibt regen Handel mit Staaten in der
Diese Fragen schienen die jüdische Öffentlichkeit in Israel nicht ganzen Welt. All das geschieht, während die grausame Besat-
zu interessieren. zungspolitik weitergeht. Netanyahu hat US-Präsident Barack
Seit den Tagen von Ehud Barak, also seit dem Scheitern von Obama lächerlich gemacht, Europa in die Schranken gewiesen
Camp David im Jahr 2000, trichtern sowohl die Mitte-links- wie und den Israelis gezeigt, dass man auch als Besatzer wirtschaftlich
die Rechtsregierungen ihren Bürgern ein, dass es auf palästinen- wachsen und die Besetzten sogar aus seinem Blickfeld entfernen
sischer Seite keinen Partner für Frieden gebe. So wurde die Be- kann. Das ist die Ware, die Netanyahu feilbot, und die Israelis
satzung fast 50 Jahre nach dem Sechstagekrieg von 1967 zur völ- haben sie gekauft.
ligen Normalität. Während sich in den Achtziger- und Neunzi- Seit einem Jahr befinde ich mich auf einer politischen Reise
gerjahren noch Teile der jüdisch-israelischen Öffentlichkeit über durch das Westjordanland. Für ein Buchprojekt spreche ich mit
die Besatzung, das Töten und die Straßensperren entrüsteten, Leuten in den Städten und Dörfern, mit Juden und Palästinensern
sind wir nun in der Phase der indifferenten Normalisierung an- aus allen Schichten. Ich sehe Verhaftungen, Straßensperren, sinn-
gelangt. Die Besatzung hat sich in den Augen der jüdischen Bür- lose Grausamkeit und großes Leid. Dabei nehme ich auch neue
ger zu einer bürokratischen Maschinerie gewandelt, die weit weg Ideen wahr und erlebe inspirierende Kooperationen. Viele Jahre
von ihrem Blickfeld operiert und von der sie am liebsten nichts unterstützte ich die Zwei-Staaten-Lösung, und auch heute wäre
wissen wollen. ich froh, wenn sie realisiert würde. Aber ich sehe auch, dass sich
Kürzlich war ich im Flüchtlingslager Balata bei Nablus, einem immer mehr Siedler im Westjordanland niederlassen und dass
der am dichtesten besiedelten Flüchtlingslager der Welt. In den die Verflechtung zwischen Juden und Palästinensern enger wird.
schmalen Gassen kann man beobachten, wie sich die Kinder zwi- Es ist schwer, sich vorzustellen, wie man die komplexe Verkno-
schen Abfallbergen herumtreiben. tung dieser beiden Völker lösen könnte.
Man sieht das Abwasser offen Diese Wahlen mögen auch ein Weckruf sein, um uns von alten
über die Straße fließen und kann „Wir, die Palästi- fixen Ideen zu befreien. Wir müssen uns neue Lösungskonzepte
den Erwachsenen bei Gesprächen anschauen und darüber nachdenken, ob die Idee der Trennung
über die hohe Arbeitslosigkeit zu- nenser“, sagte überhaupt noch realisierbar ist. Auch die Palästinenser denken
hören. Die Palästinenser, die ich
dort traf, waren schockiert über
mir ein Mann, darüber nach. Es gibt dort Kräfte, die sich für einen gemeinsamen
Staat einsetzen oder für neuartige Zwei-Staaten-Lösungen ohne
die Tatsache, dass ihre Not, ihr
Alltag, ja ihre Existenz, die israe-
„haben nicht das Trennung. Entscheidend ist jedenfalls der Kampf um gleiche Rech-
te für alle Menschen in diesem Land, die politische Praxis ist nur
lischen Wähler nicht mehr interes- Privileg, das das Mittel zu diesem Zweck. Man muss auch über mögliche neue
sieren. Sie können nicht begreifen, Partner auf jüdischer Seite nachdenken, die bereit sein könnten,
wie sie gleichsam von Zauber- Interesse an euch sich für die Gleichberechtigung einzusetzen. Die alte, auf ihre
hand aus dem israelischen Be-
wusstsein entfernt wurden. „Wir,
zu verlieren.“ Ideen fixierte israelische Linke hat nicht genug Kraft dazu.
Seit Bekanntwerden der Wahlresultate höre ich in meinem
die Palästinenser“, sagte mir ein Umkreis nur Wehklagen, Gedanken über Auswanderung und
Mann, dessen Familie 1948 aus Haifa vertrieben wurde, „haben Worte der Verzweiflung. Auch ich empfinde es als harten Schlag.
nicht das Privileg, das Interesse an euch zu verlieren. Euer Militär Aber als Bürger dieses Staates, der hier leben und seine Kinder
dringt in alle unsere Lebensbereiche ein, doch nun haben wir eine großziehen will, habe ich keine andere Wahl, als mich auf den
neue Phase erreicht: Wir langweilen euch nur noch, wie?“ Kampf vorzubereiten. Ich werde mich niemals mit einem Apart-
Diese Wahl ist ein konstituierender Augenblick, in dem man heidstaat abfinden, und aus meiner Sicht ist der Kampf um gleiche
sich die Wahrheit eingestehen sollte: Die Zwei-Staaten-Lösung Rechte für Palästinenser und Juden nicht zu Ende. Doch der jet-
ist zu einem Dibbuk, einem Spukgespenst, kleiner, elitistischer zige Misserfolg verlangt von uns, dass wir bereit sind, über unse-
Kreise der israelischen Gesellschaft verkommen, und weder sie ren bisherigen Weg Rechenschaft abzulegen – und der sich wan-
noch die internationale Gemeinschaft haben gemeinsam die Kraft, delnden Realität Rechnung zu tragen. Das könnte ein schmerz-
FOTO: FOTOGLORIA / LUZPHOTO / FOTOGLORIA

Israel zu zwingen, diese Lösung zu akzeptieren. Netanyahu hat hafter Prozess sein. Aber er ist notwendig.
im Wahlkampf ausdrücklich gesagt, was wir ohnehin ahnten: Es Aus dem Hebräischen von David Ajchenrand
wird keine zwei Staaten geben. Man kann sich immer noch zu
fruchtlosen Friedenskonferenzen treffen und in schönen Erinne- Der Schriftsteller Nir Baram, 38, wurde in Jerusa-
rungen an die Neunzigerjahre schwelgen, aber man tut gut daran lem geboren und stammt aus einer Politikerfami-
zu begreifen: Im Westjordanland entsteht eine Realität, welche lie, die der Arbeitspartei nahesteht. Sein Roman
die Entflechtung zwischen Palästinensern und Juden zusehends „Der Wiederträumer“ wurde auch ins Deutsche
unmöglich macht. Wie lange wollen wir noch über die Zwei- übersetzt; für seine Werke erhielt er mehrere
Staaten-Lösung reden? Wollen wir auch 2060 noch künstliche wichtige Literaturpreise.
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Falscher Geistlicher Schuler im Frankfurter Dom, Altstadt von Salvador: „Sie haben mich wie einen Bruder aufgenommen“

In Gottes Namen
Kirche Jahrelang gibt sich ein Deutscher in Brasilien als Bischof oder Mönch aus, er
predigt und nimmt die Beichte ab. So erschleicht er sich Geld, Unterkunft und
Anerkennung. Dann wird er abgeschoben – und irrt seither durch Deutschland. Von Jens Glüsing

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ardinal Andreas von Hohenzollern- noch ein. Eigentlich wollte er sich standes- Internet oder in Büchern. Seine Habe
FOTOS: TIM WEGNER/ DER SPIEGEL (L.); ALEX ROBINSON/ PICTURE ALLIANCE/ DPA (R.)

Sigmaringen, Sondergesandter des gemäß im Frankfurter Dom treffen, „doch schleppt er in sechs Plastiktüten mit sich
Papstes zur Aufklärung pädophiler ich hatte kein Geld für die Fahrkarte“. Da- herum, darin Bücher über Kirchenge-
Umtriebe in der katholischen Kirche und her also Siegburg. Ein großes Holzkreuz schichte, theologische Abhandlungen, Bild-
Erzbischof von São Paulo, ist hungrig wie mit silbernen Beschlägen baumelt vor sei- bände von Kathedralen.
ein Wolf. „Keinen Cent habe ich in der ner Brust, seine Haare und sein Bart sind Im Kloster Eberbach in Hessen stellte
Tasche“, klagt er, als er aus der Touristen- schneeweiß. Er trägt einen grauen Mantel, er sich als Erzbischof von São Paulo vor,
information von Siegburg bei Bonn stürmt. eine schwarze Hose und einen dunklen Pul- so drückte er sich um das Eintrittsgeld für
Die Damen vom Fremdenverkehrsamt ha- lover. Er hat auch eine rote Stola und eine den Besuch der Anlage. In Bayern, so er-
ben ihn für ein paar Stunden in ihrem war- weiße Mönchskutte dabei. Doch er ist kein zählt er, habe die Polizei dem „Herrn Pfar-
men Büro aufgenommen, es ist kälter hier Kardinal und kein Bischof und erst recht rer“ eine Mitfahrgelegenheit im Streifen-
als in Brasilien; eine Wohnung hat er nicht. kein Sondergesandter des Papstes. wagen angeboten. Im Kloster durfte er die
Der Verabredung waren mehrwöchige Seit mehr als drei Monaten irrt der Messe lesen, er machte nur wenige Fehler.
Verhandlungen vorausgegangen. Zunächst Mann so durch Deutschland, meist gibt er Er habe lange im Ausland gelebt, da seien
wollte er nicht reden, dann ließ er einen sich als Erzbischof aus, als Mönch oder als eben einige Dinge in Vergessenheit gera-
Termin platzen. „Ich will nicht enden wie Armenpriester. Er hat für jede Gelegenheit ten, erklärte er den Mönchen. „Aber sie
Gustl Mollath, den man für verrückt erklärt eine Identität, immer sind es Geistliche, haben mich wie einen Bruder aufgenom-
hatte“, sagt er. Schließlich willigte er den- er findet ihre Namen und Lebensläufe im men.“ Wenn er einmal nicht in Klöstern
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Ausland

unterkommt, steigt er in Pensionen ab, ge- Mindestens dreimal wurde er wegen fing in seiner Klosterzelle, er las gerade
legentlich reist er mit Billigbussen. Amtsanmaßung festgenommen und wie- eine alte Ausgabe der „Frankfurter Allge-
In Heidelberg griff die Polizei ihn auf, derholt nach Deutschland abgeschoben. meinen“. Die anderen Mönche behandel-
nachdem er in einem Pflegeheim als Bi- Zuletzt flog er im November auf, als er in ten ihn respektvoll; sie tuschelten, er sei
schof aufgetreten war, die Staatsanwalt- weißer Kutte bei einer Demonstration auf ein Opfer von Intrigen im Vatikan.
schaft ermittelt wegen Titelmissbrauchs der Avenida Paulista mitlief, der Pracht- Schuler nannte Namen und Dokumente,
und Diebstahls, denn er soll bei der Flug- straße von São Paulo. Er hatte behauptet, bot Kontakte von Informanten an, in allen
hafenseelsorge ein paar Bibeln geklaut er sei der Bischof von Osnabrück. Mehrere Einzelheiten beschrieb er Intrigen und Ver-
haben. Er bestreitet das. Beim Würzburger Tage saß er in Abschiebehaft, dann setzte tuschungsversuche der Kardinäle im Vati-
Dom gab er sich als Erzbischof von São die Polizei ihn in eine Lufthansa-Maschine kan. Die Telefonnummern stimmten, die
Paulo aus, doch eine Angestellte des Dom- nach Frankfurt. Nach der Landung fragte Namen stimmten, die Chronologie war
ladens kam ihm auf die Schliche. Er „kann ihn die Flughafenseelsorge, ob er Hilfe korrekt. Doch bei Nachfragen passte vieles
durch seine freundliche Art leicht das Ver- brauche, er lehnte ab. Ein paar Tage lang nicht mehr zusammen, der falsche Mönch
trauen seiner Gesprächspartner gewin- nächtigte er auf dem Flughafen, dann trat verwickelte sich in Widersprüche.
nen“, warnt das Bistum Limburg. „Jetzt er seine Reise durch Deutschland an. Einige Wochen nach dem Besuch
jagt die Polizei den falschen Bischof“, Siegburg ist Teil seiner alten Heimat, er schrieb Schuler einen Brief, in dem er sich
schrieb die „Bild“-Zeitung. spricht noch immer mit rheinischem Zun- entschuldigte: „Ich bin natürlich kein Kar-
Andreas von Hohenzollern-Sigmaringen
heißt in Wirklichkeit Wolfgang Schuler, er „Das würde den Faschisten in der Kirche so passen,
ist 66 Jahre alt und stammt aus Bonn. Er
ist Kunsthistoriker und Spezialist für Kir-
mich für verrückt zu erklären.“
chengeschichte. In den Achtzigerjahren genschlag. Er schlägt ein Restaurant zum dinal und möchte auch nie einer werden.“
hat er Abhandlungen über die Braun- Mittagessen vor, „lassen Sie uns zum Gezeichnet: Bruder Wolfgang. Später ka-
schweiger Spätgotik verfasst und in einer Schloss Auel fahren, dort hat man früher men noch ein paar Briefe von Itaparica,
Schriftenreihe über „Große Baudenkmä- vorzüglich gespeist“. Souverän lotst er einer Insel vor der Küste Bahias. Da nann-
ler“ Aufsätze veröffentlicht. Er spricht ein durchs Siebengebirge, dabei ist er seit über te sich der Absender wieder Andreas Kar-
schönes Deutsch, jedes Wort wägt er ab, 30 Jahren nicht mehr hier gewesen. dinal von Hohenzollern-Sigmaringen.
jeder Satz ist druckreif. Vier Sprachen be- Wolfgang Schulers Geschichte ist auch Jetzt also das zweite Treffen, acht Jahre
herrscht er, zudem Latein und etwas Alt- ohne seine Ausschmückungen abenteuer- später, in Deutschland. Schuler ist ein
griechisch. Die Geschichte der katholi- lich. Er hat eine Odyssee durch drei Konti- charmanter Gesprächspartner, beim Mit-
schen Kirche scheint er bis in die letzten nente und Dutzende Klöster, Kirchen und tagessen umschmeichelt er die Wirtin.
Verästelungen zu kennen, inklusive der Gemeinden hinter sich. Er hat im Elsass Wer ihn zum ersten Mal trifft, ist beein-
Intrigen der Äbte und Priester in den deut- gelebt und im Harz, in Neuseeland und in druckt von seinem Wissen. Es ist nicht
schen Klöstern. In der Liturgie ist er zu Brasilien. Als falscher Ordensmann hat er leicht, seine wahre Geschichte zu rekon-
Hause, als hätte er Theologie studiert. unzählige Geistliche und Gläubige genarrt. struieren. Seine Eltern sind verstorben,
Wolfgang Schuler, das kann man so sagen, Viele seiner Opfer sind wütend oder ent- seine Ex-Frau und seine Kinder leben in
ist von der katholischen Kirche besessen. täuscht, manche halten ihn für einen Hoch- Neuseeland, sie haben den Kontakt zu
Eigentlich müssen Geistliche sich auswei- stapler; andere glauben, er sei krank. ihm abgebrochen und möchten nicht re-
sen, wenn sie in fremden Gemeinden Mes- Letzteres müsste ein Arzt klären. Er den. Die getäuschten Priester, Mönche
sen lesen wollen. Sie benötigen ein „Zele- selbst jedenfalls sagt, er sei nie in psychia- und Bischöfe schämen sich zumeist, in
bret“, das Dokument wird vom jeweiligen trischer Behandlung gewesen. „Das würde mehreren Klöstern haben die Äbte Rede-
Ortsbischof oder Abt eines Klosters ausge- den Faschisten in der Kirche so passen, verbot erteilt. Doch es gibt auch Weg-
stellt. Wenn der Fremde überzeugend er- mich für verrückt zu erklären.“ gefährten und Bekannte, die bereit sind
scheint, verzichten offenbar viele Gemein- Hinterfragt man seine Identität, reagiert zu erzählen.
devorstände auf Förmlichkeiten. Experten Schuler verärgert. Verwickelt er sich in Schuler wuchs in den Fünfzigerjahren
gehen von weltweit bis zu tausend „vaga- Widersprüche, biegt er seine Geschichte in Bonn auf, er war Einzelkind. Sein Vater
bundierenden Bischöfen“ aus, berichtet die so hin, dass sie dennoch glaubwürdig er- sei Nazi gewesen, sagt er. „Ich habe jüngst
Katholische Nachrichtenagentur. „Wir er- scheint. Er testet geschickt das Wissen sei- herausgefunden, dass er während des
leben immer wieder, dass sich Personen als nes Gesprächspartners, wie ein Chamäleon Zweiten Weltkriegs ein bekannter General
Priester oder Ordensleute ausgeben, um il- passt er seine Biografie den Zweiflern an. in Hitlers Armee war“, schrieb Schulers
legal an Geld zu kommen“, sagt der Spre- Aber einmal hat er am Ende gebeichtet, Tochter vor sechs Jahren über ihren Groß-
cher der Deutschen Bischofskonferenz. dass er lügt. Das ist acht Jahre her. vater in einer neuseeländischen Zeitung.
Doch Wolfgang Schuler geht es nicht Schuler hatte sich damals als falscher „Das könnte erklären, warum mein Vater
um Geld, sondern um Anerkennung. Er Mönch in ein Zisterzienserkloster im bra- alles Deutsche hasst und sein ganzes Leben
sieht aus wie ein Geistlicher und redet wie silianischen Bundesstaat Bahia eingeschli- damit verbracht hat, vor seinem Heimat-
einer. Warum sollte er keiner sein dürfen? chen. Er habe lange im Vatikan gelebt land wegzulaufen.“
Was unterscheidet einen echten Mönch und besitze vertrauliche Informationen Schuler wuchs im Mief der Adenauer-
von einem falschen, wenn der Glaube über den Tod von Papst Johannes Paul I., Zeit auf, mit 18 Jahren ging er in ein Kloster.
doch da ist? schrieb er in einem Brief an das SPIEGEL- Seine Tochter schrieb 2009, dass er einer
Seine Rolle hat Wolfgang Schuler in Bra- Büro in Rio de Janeiro. Deshalb sei er ver- katholischen Bruderschaft in den Schweizer
silien eingeübt. Über zehn Jahre lang hat bannt worden. Jetzt sei er bereit zu reden. Alpen beigetreten sei, so habe er den Wehr-
er sich hier als Ordensmann durchgeschla- Die Spekulationen über den plötzlichen dienst umgangen. Schuler sagt dagegen, er
gen, hat in Klöstern gelebt, Messen gelesen Tod von Papst Johannes Paul I., der nur habe den Kartäuserorden in Frankreich auf-
und Beichten abgenommen, in kleinen Ge- 33 Tage im Amt war, füllen mehrere Bü- gesucht, die strengste aller Bruderschaften.
meinden wurde er als Bischof gefeiert und cher. Der Brief von „Bruder Wolfgang“ er- Und er behauptet, er sei als junger Mann
empfangen; und gelegentlich verprügelt, schien interessant genug, um den Absen- von einem Novizenmeister sexuell miss-
wenn man ihn als Hochstapler entlarvte. der zu besuchen. Bruder Wolfgang emp- braucht worden. Nachprüfen lässt sich das
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dass er Übernachtungen nicht bezahlt habe.
Der damalige deutsche Honorarkonsul
Wolfgang Roddewig hatte schon mit ge-
prellten Prostituierten zu tun, die von der
Bundesrepublik ihr Geld einklagen woll-
ten, und mit betrunkenen Matrosen, die
ihr Schiff verpasst hatten. Aber einen fal-
schen Bischof hatte er noch nie. „Zwangs-
einweisen konnte man ihn nicht, auch für
eine Auslieferung fehlte die juristische
Grundlage“, sagt Roddewig. „Ich dachte:
Dieses Problem lösen wir unbürokratisch.“
Es war das Jahr 2004, und Roddewig ver-
abredete sich mit Schuler in einem Restau-
rant, danach bot er ihm eine Fahrt in sei-
nem Dienst-Mercedes an. Er brachte ihn
direkt zum Flughafen, eskortiert von der
brasilianischen Polizei. Roddewig hatte ein
Ticket via Lissabon nach Frankfurt gekauft.
Schwindler Schuler in Sāo Paulo: Er zog durchs Rotlichtviertel und verteilte Geld an die Armen Und weil das billiger war, hatte er ein nor-
males Ticket gekauft und den Schein für
nicht, der Mann ist angeblich verstorben. sind Glaube und Frömmigkeit so präsent. den Rückflug aus dem Billett gerissen.
Vom Thema Homosexualität und Pädo- Es gibt eine Kathedrale, mehrere Klöster Doch nachdem Schuler in Europa ange-
philie in der Kirche ist Wolfgang Schuler und unzählige Kapellen. Geistliche werden kommen war, ließ er sich den Flug neu
besessen, so viel ist sicher. geachtet, sie genießen viele Privilegien, ausstellen. Zwei Wochen später war er zu-
Danach studierte er Kunstgeschichte in egal wie skurril sie sind. Ein durchgeknall- rück in Salvador.
Straßburg und spezialisierte sich auf Kir- ter Priester verkleidete sich einmal im Kar- Er kam in einer Favela unter, das Geld
chengeschichte. Mit seiner Familie wohnte neval und tanzte mit einem Obstkorb auf für die Miete verdiente er mit Französisch-
er in Hornburg im Harz; 1983 zogen sie dem Kopf durch die Straßen. Ein afrikani- unterricht. Bald nahm er seine alte Routine
nach Frankreich, zehn Jahre später nach scher Ex-Padre reiste monatelang durchs wieder auf: Er zog durchs Landesinnere,
Neuseeland. Doch auch dort kam Schuler Land, las Messen und fraß sich in Klöstern dorthin, wo man ihn noch nicht kannte.
nicht zur Ruhe. Ende der Neunzigerjahre durch, später fehlte oft das Tafelsilber. Im Jahr 2007 klopfte er an das Tor des
„ging er in den brasilianischen Urwald“, Mit der Bibel unter dem Arm zog Schuler Zisterzienserklosters von Jequitibá, knapp
wie seine Tochter schrieb. durch die Altstadt. Oft unternahm er Ex- 200 Kilometer von Salvador entfernt. Zum
Für einige Jahre fehlte jede Spur von kursionen in die Vororte und Dörfer des Re- Konvent gehören 18 Mönche, zwei sind
ihm, dann klopfte er vor etwa zehn Jahren côncavo, des tropischen Hinterlands. Seine Österreicher, sie leben von der Landwirt-
an die Tür des Benediktinerklosters São Kutte verlieh ihm Glaubwürdigkeit und ga- schaft. Bruder Meinrad Schröger erinnert
Bento in Salvador da Bahia, einer der äl- rantierte ihm kleine Gefälligkeiten: Er sich an Schuler: „Er hat sich als Kartäuser-
testen Bruderschaften Brasiliens. São Ben- brauchte kein Fahrgeld zu zahlen, Gläubige mönch vorgestellt, er war sehr überzeu-
to war damals in der Krise, den Mönchen luden ihn zum Essen ein. In São Francisco gend.“ Schuler erzählte ihnen, dass er an
fehlte Nachwuchs, es gab finanzielle Pro- do Conde las er die Messe. Die Einheimi- der Päpstlichen Universität Gregoriana in
bleme. Schuler wurde als Gast aufgenom- schen freuten sich über den vermeintlichen Rom studiert habe. Der Papst habe ihn
men, er bekam seine eigene Zelle, bei den Geistlichen aus Deutschland, sie empfingen ausgewählt, die Kirche zu reformieren,
Mönchen war er sehr beliebt. ihn mit allen Ehren. Schuler sagt, er habe doch die Homosexuellen-Mafia im Vatikan
„Er nahm an allen Offizien teil und dort wahre Menschlichkeit erfahren. „Die habe ihn in die Verbannung geschickt. Sei-
kannte die Regeln des Klosterlebens“, er- Armen auf der Straße behandelten mich ne Dokumente habe er verloren.
innert sich Mönch Mateus Monteiro. „Wir gut. Ich schlief wochenlang unter Markisen, „Wir waren offen für Neuerungen in der
boten ihm an, als Lehrer für Kirchenge- die Leute verehrten mich. Sie brachten mir Kirche“, sagt Schröger. „Die meisten Mön-
schichte unsere Seminaristen zu unterrich- Kaffee, es war meine schönste Zeit.“ Er che haben ihm geglaubt.“ Schuler arbei-
ten.“ Das allerdings reichte Schuler nicht, schwärmt von der Wärme Brasiliens und tete im Garten und als Pförtner. Einmal
er wollte dem Konvent beitreten. Doch den Menschen, während er in der Kälte ließen die Mönche ihn einen Gottesdienst
sein Verhalten machte Erzabt Emanuel Deutschlands sitzt und in einer Seezunge abhalten, da zog Schuler über die Kirchen-
d’Able do Amaral misstrauisch. „Nachts mit Kartoffelpüree stochert. Dabei hat er leitung und den Erzbischof von Salvador
streifte er durchs Rotlichtviertel und ver- die Armen doch getäuscht und ihr Vertrau- her. Der Abt war entsetzt. „Danach durfte
teilte Geld an die Armen.“ Schließlich en missbraucht. Oder etwa nicht? „Die Kir- er nie wieder einen Gottesdienst halten.“
lehnte der Erzabt sein Beitrittsgesuch ab, che ist eine Schule der Lüge“, entgegnet Nach sechs Monaten verkündete Schuler,
Schuler verließ wütend das Kloster. Schuler unwirsch. er habe nun eine Audienz beim Papst, die
Er erstand eine weiße Kutte, eine rote Und er war ihr gelehrigster Schüler? Mönche gaben ihm Geld für ein Ticket
Stola und ein Kreuz. Jeder kann das kau- Wieder wird er zornig: „Es ist meine Mis- nach Rom. Er nahm den Bus nach Salvador.
fen und sich als Priester ausstaffieren, es sion, die Kirche zu reformieren, dafür hat Dort arbeitete er an der Rezeption einer
ist nicht verboten. Es war der Moment, in mich der Papst nach Brasilien geschickt.“ Pension, in seiner freien Zeit zog er erneut
dem sich Bruder Wolfgang in den Kartäu- Manchmal jedoch wurden auch damals als Ordensmann durch die Gemeinden, er
serkardinal Andreas von Hohenzollern- die Gläubigen misstrauisch, dann riefen sie predigte als polnischer Erzbischof und bet-
FOTO: KLAUS HART

Sigmaringen verwandelte. im Kloster São Bento an und fragten, ob telte als Missionar um Geld. Und dabei
Für einen Kirchenbesessenen ist Salva- der Bischof aus Deutschland auch echt sei. wurden seine Angriffe gegen den Klerus
dor ein Paradies. Kaum eine Stadt besitzt Restaurantbesitzer klagten, dass er die Ze- immer heftiger. Er prangerte eine „pädo-
mehr Gotteshäuser, nirgendwo in Brasilien che geprellt habe; Pensionen reklamierten, phile Mafia“ in der brasilianischen Kirchen-
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spitze an, verleumdete den Erzbischof, trotz allem misstrauisch. Er bat Schuler Schuler behauptet, er leide an Prostata-
überall sah er Kinderschänder am Werk. um ein Dokument, das ihn als Mönch aus- krebs im Endstadium, er habe nur noch we-
Die brasilianische Bischofskonferenz in- weise. „Schuler rief noch einmal an, dann nige Monate zu leben, das hätten Ärzte im
formierte die Diözesen in einem Rund- habe ich nichts mehr von ihm gehört.“ Albert-Einstein-Krankenhaus in São Paulo
schreiben über den „falschen Padre“, sie Im Oktober nahm ihn ein Kloster der diagnostiziert. Doch Schuler ist dort nie be-
ließ sein Foto verteilen, im Radio wurde Bruderschaft Mosteiro da Transfiguração handelt worden. In einem Pflegeheim in
vor Schuler gewarnt. In der Altstadt von auf, in einer Stadt östlich von São Paulo. Heidelberg täuschte er jüngst einen Herz-
Salvador fiel eine aufgebrachte Meute über „Er sah aus wie ein Mönch, der einige Tage anfall vor, in einem ICE brach er zusammen.
den Hochstapler her und verprügelte ihn; Erholung braucht“, schreibt Abt Emanuele Vier Tage verbrachte er in der Klinik, dann
er wurde von der Polizei gerettet. Bargellini in einer E-Mail. Schuler durfte wurde er entlassen, offenbar war er wohlauf.
Im Jahr 2010 soll er erneut nach Deutsch- die Messe lesen, zehn Gläubige nahmen Das Mittagessen in der Nähe von Schloss
land abgeschoben worden sein. Schuler be- von ihm die Hostie in Empfang. Nach ein Auel hat Schuler vorzüglich gemundet,
hauptet allerdings, er habe Brasilien nicht paar Tagen wurde der Abt jedoch miss- von seiner Krankheit ist nichts zu spüren.
verlassen. Kurz darauf tauchte er in São trauisch. Er rief beim Kartäuserorden an, Dann bittet er um eine Mitfahrgelegenheit
Paulo auf, er sagt, er habe dort vier Jahre dort war Schuler nicht bekannt. Bargellini nach Frankfurt, er möchte auf dem Flug-
gelebt, bis zu seiner vorläufig letzten Ab- bat Schuler, das Kloster zu verlassen. Kurz hafen übernachten. Doch vorher wünscht
schiebung im November. Wieder unterrich- darauf schickte der Erzbischof von São er sich noch einen Abstecher zum Dom,
tete er Französisch, wieder nahm er seine Paulo eine Warnung an alle Diözesen. dort erklärt er einem japanischen Touristen
Ausflüge als falscher Geistlicher auf. Das war das vorläufige Ende des Lebens die Spätgotik. Dann lässt er sich in einer
Vor einem Jahr kreuzte er dann in der vom unechten Kardinal in Brasilien. Am billigen Pizzeria auf der Zeil absetzen.
deutschen katholischen Gemeinde von São 1. Dezember wurde er abgeschoben. Vielleicht würde ihm eine Therapie doch
Paulo auf. Er besuchte die Sonntagsmesse Ist Schuler ein gewiefter Betrüger, ein guttun, sagt er während der Autofahrt. „Es
in der Bonifatiuskirche, anschließend stell- harmloser Spinner oder ein Kranker? war die größte Dummheit meines Lebens,
te er sich bei dem ehemaligen Pfarrer In der Psychiatrie gibt es einen Fachbe- dass ich als junger Mann in ein Kloster ein-
Georg Fischer vor. „Er trug eine echte griff für chronische Lügner: das Münch- getreten bin.“ 
Mantelalbe“, erinnert sich der Geistliche, hausen-Syndrom. Es betrifft vor allem Pa-
so heißt das weiße Messgewand. Während tienten, die Krankheiten erfinden, aber es Video: Die Geschichten des
der Messe kniete er korrekt nieder, auch kann auch in Verbindung mit wahnhaften falschen Priesters
das Kreuz schlug er routiniert. Nur ein Persönlichkeitsstörungen auftreten, ausge- spiegel.de/sp132015brasilien
Quartier bekam er nicht, denn Fischer war löst durch ein Trauma aus der Kindheit. oder in der App DER SPIEGEL
Ausland

CH A RL E RO I sondern in Brüssel aufgenommen worden. Unter Fotografen


hat dieser Fall eine alte Debatte neu entfacht: Wie stark darf
man die Realität beugen? Und ab wann wird eine Inszenierung
zum Betrug? Die Diskussion um Charleroi berührt einen emp-
findlichen Nerv: die Glaubwürdigkeit von Bildern.
Auf dem Bild, das Troilo von Genion gemacht hat, sitzt die-

Der erfundene Bär ser mit nacktem Oberkörper und gesenktem Blick auf einem
Stuhl, in bläuliches Licht getaucht. Er wirkt wie ein trauriger,
alter Bär, der in seiner Höhle dem Ende entgegendämmert,
Global Village Wie ein Fotograf die belgische beleuchtet von einem Fernseher. „Philippe verbringt die meiste
Zeit in seinem schönen Haus in einem der gefährlichsten Stadt-
Stadt Charleroi ins falsche Licht rückte teile von Charleroi“, schrieb der Fotograf dazu. Der Subtext:
armer, kranker Fettsack; ein Sozialfall.
Genion war viel, Zeitungskolumnist, Musiker, Restaurant-
tester für den Gault Millau, Feuerwerker, Manager der Elek-
tronik-Band Front 242, Autor des Buchs „Inventar kleiner bel-
gischer Genüsse“. Depressiv, wie er auf dem Foto wirkt, ist er
nicht. Dazu sei das Leben viel zu kurz, sagt er. Irgendwann
begann er, sich für Wein zu interessieren, inzwischen ist er
Generalsekretär der belgischen Sommelier-Gilde. Genion ist
nicht gerade eine Figur, die für den inneren Zerfall Europas
steht.
Genion wurde in Charleroi geboren, er wuchs im Schatten
von Fördertürmen und Hochöfen auf. Mitte der Achtzigerjahre
kaufte er sich mit seinem Lebensgefährten in einer ruhigen
Seitenstraße für wenig Geld ein Haus, dessen Wände brüchig
waren und dessen Teppiche nach Katzenurin stanken, und
begann mit der Renovierung. In einigen Räumen seines Hauses
betreibt er seit anderthalb Jahren eine exklusive Weinbar. Ge-
nion steht eher für den Willen einer Stadt, sich neu zu erfinden.
Charleroi ist nicht hübsch, mittelgroß, das Zentrum wird
zerschnitten von Schnellstraßen und Brücken; es dominiert
der graue Koloss des Thy-Marcinelle-Stahlwerks, der mitten
in der Stadt liegt wie ein schlafendes Ungeheuer. Zu den pro-
minenten Söhnen zählt der Mörder und Sexualstraftäter Marc
Dutroux, der zuletzt hier lebte. Aber es gibt auch den Flughafen
und einen Gewerbepark, der Biotechnologie-Unternehmen an-
Sommelier Genion: Ein armer, kranker Sozialfall? zieht. An diesem warmen Frühlingstag fahren Inlineskater
durch die Innenstadt, junge Leute sitzen im Park. Giovanni

M
onsieur Genion arbeitet heute in Unterhose, das hatte Troilo aber sah nur das, was er sehen wollte. Auf seiner Website
er am Telefon bereits angekündigt. Und weil er kein schreibt er: „Perverser, kranker Sex, Rassenhass, neurotische
Mann ist, der sich verstellt, nur weil Besuch kommt, Fettleibigkeit und der Missbrauch von Psychopharmaka schei-
sitzt er tatsächlich nacktbeinig an seinem Schreibtisch in Charle- nen die einzigen Mittel zu sein, um dieses endemische Unbe-
roi, eine knappe Autostunde südlich von Brüssel. Philippe Ge- hagen erträglich zu machen.“ Ende Februar schrieb der Bür-
nion sagt, er habe gelernt, seinen Körper zu respektieren. Die- germeister an die Jury der World Press Photo Awards, Troilos
sen Respekt erwarte er auch von anderen. Bilder seien eine „gravierende Verzerrung“.
Sein T-Shirt über dem Bauch spannt, als hätte Genion verse- Auf einem Foto hält ein tätowierter Mann eine Pistole, auch
hentlich einen kleinen Mond verschluckt. Er ist 52 Jahre alt, das soll ein Beleg sein für die Abgründe dieser Ville noire, der
seinen Körperumfang führt er auf einen schlechten Metabolis- schwarzen Stadt, wie Troilo seine Serie nannte. „Ich habe hier
mus zurück, seine Ernährung sei ausgeglichen und gesund, zu- noch nie einen Menschen mit einer Pistole gesehen, ich habe
dem gehe er regelmäßig schwimmen. Um ihn herum stehen nicht einmal einen Schuss gehört“, sagt Philippe Genion, an
Weinflaschen aus den besten Lagen Frankreichs, Österreichs, einem trockenen Chardonnay nippend. Er habe Anfang März
Australiens und Deutschlands in Regalen, die bis zur Decke versucht, den Fotografen zu erreichen. „Ich wollte wissen, wie
reichen. Wegen seines Gewichts könne er sich schwer auf den ich seine Arbeit verteidigen kann.“ Genion findet das Bild von
Beinen halten, fährt Genion fort. „Deshalb habe ich mich für sich gelungen, aber natürlich, sagt er, „ist es eine Fiktion“. Bei-
das Foto auch hingesetzt, es hätte mir sonst viel zu lange ge- spielsweise hängt normalerweise ein großes, gerahmtes Ge-
dauert.“ mälde an der Wand, dort, wo Troilo den Weinhändler aufnahm.
Das Foto. Genion, der Mann mit dem Bauch, ist eines von Auf dem Foto aber fehlt das Gemälde. Wieso? Genion sagt, er
zehn Motiven, für die der italienische Fotograf Giovanni Troilo habe es nicht abgehängt; Troilo behauptet, er könnte sich nicht
im Februar mit dem World Press Photo Award ausgezeichnet erinnern, das Bild weggenommen zu haben – aber digital retu-
wurde. Troilo wollte an Charleroi und seinen Bewohnern den schiert habe er es auf keinen Fall.
FOTO: NATALIE HILL / DER SPIEGEL

Verfall und die Abgründe Europas zeigen, so hat er es erklärt. Genion hält den Streit über die Fotos eher für hilfreich als
Anfang März entschied die Jury, ihm den Preis zu entziehen, schädlich. Er sagt, die Aufregung nutze der Stadt, der Bürger-
wegen Regelverstoßes und Irreführung. Denn das Foto eines meister habe der Welt erklären können, wie lebenswert Charle-
kopulierenden Pärchens im Auto zeigte den Cousin des Foto- roi sei. Genion hofft, dass sein Weinladen jetzt ein wenig be-
grafen und war gestellt, ein weiteres Bild war nicht in Charleroi, kannter wird. Christoph Scheuermann

106 DER SPIEGEL 13 / 2015


Sport
Bergsteigen
Ohne Beweis
kein Preis
Was für Filmstars der Oscar, das ist für Berg-
steiger der Piolet d’Or, der Goldene Eis-
pickel. Jedes Frühjahr erhalten Alpinisten
den Preis für die beste bergsteigerische Leis-
tung. Im Vorjahr hatte die Verleihung an
den Schweizer Ueli Steck für Kritik gesorgt.
Steck hatte 2013 die Südwand des 8091 Me-
ter hohen Annapurna bestiegen, solo in
28 Stunden – allerdings konnte er nicht bele-
gen, den Gipfel wirklich erreicht zu haben.
Um einen erneuten Aufschrei zu vermeiden,
hat die Jury diesmal ausschließlich Kletterer
nominiert, die beweisen können, ihre Leis-
tung erbracht zu haben. Als Belege gelten
Fotos, Videos und GPS-Daten. Steck, einer
der besten Höhenbergsteiger der Welt, hatte
jedoch beim Aufstieg in der Annapurna-
Wand seine Kamera verloren und „im
Stress“ vergessen, ein GPS-Gerät einzu-
schalten. Zwar meldeten sich Zeugen, die
den Lichtkegel von Stecks Stirnlampe in
Gipfelnähe gesehen haben wollen; ob Steck
tatsächlich oben war, weiß nur er selbst.
Außerdem wurde die Jury der Piolets d’Or
neu besetzt. Bislang waren auch Journalis-
ten vertreten, nun besteht das Gremium
ausnahmslos aus Bergsteigern wie Ines Pa-
pert, der ehemaligen Gesamtweltcupsiege-
rin im Eisklettern. Papert legt Wert darauf,
Zweifel an der Entscheidung der Jury von
vornherein auszuschließen. „Der Berg- Extremkletterer Steck am Annapurna 2013
sport“, sagt sie, „lebt von Ehrlichkeit.“ red

Fußball Unzufriedene, die nicht ins cken zusammen. Das Feind- jahrelang gegen Mauern.
„Gegen Mauern“ Stadion kommen, in der bild DFB verhärtet sich. Mittlerweile gibt es eine An-
Stadt unterwegs sein wer- SPIEGEL: Warum ist er bei näherung, die Verbände sind
Der Hannovera- den. Außerdem werden so vielen Fans verhasst? jedoch nicht sehr beweglich.
ner Fanforscher auch Fans bestraft, die mit Gabler: Der DFB wird dafür SPIEGEL: Aber auf Randale
FOTOS: CHRISTOPHER NE / FIRO SPORTPHOTO (U.); MARTIN HOFFMANN / IMAGO (M.); PATITUCCIPHOTO (O.)

Jonas Gabler, 33, Gewalt nichts zu tun haben. verantwortlich gemacht, wie muss der DFB reagieren.
über den SPIEGEL: Worin liegt dann der mit Fans umgegangen wird. Was kann er tun?
ewigen Konflikt Sinn dieser Maßnahme? Und das sah lange so aus: Gabler: Ich plädiere dafür, un-
zwischen DFB Gabler: Der DFB hofft auf höhere Strafen, höhere Zäu- bequeme Fans stärker einzu-
und Fans eine Entsolidarisierung der ne, mehr Regeln, mehr Poli- binden, um bei ihnen ein
anderen Fans mit den Ran- zei, mehr Ordner. Das Verantwortungsbewusstsein
SPIEGEL: Der DFB bestraft dalierern. Doch solche kol- kommt nicht gut an bei jun- zu schaffen. Wer sich ausge-
den 1. FC Köln für Ausschrei- lektiven Strafen bewirken gen Leuten. Viele haben schlossen fühlt, verhält sich
tungen. Unter anderem das Gegenteil: Die Fans rü- ernste Anliegen, liefen aber entsprechend. Seit Jahrzehn-
bleibt bei drei Heimspielen ten verordnet der Verband
ein Teil der Kurve geschlos- den Klubs, in Infrastruktur
sen. Was halten Sie davon? zu investieren, in Videoüber-
Gabler: Ich finde das sehr pro- wachung und Drehkreuze
blematisch. am Stadioneingang. Trotz-
SPIEGEL: Wieso? dem diskutieren wir immer
Gabler: Weil die DFB-Richter noch die gleichen Probleme.
die Wirkungen nicht bedacht Ich frage mich, warum es
haben. Die Polizei wird nicht noch nie die Auflage gab,
begeistert sein, dass während Geld in einen echten Dialog
der Spiele ein paar Tausend Protesttransparente bei Bundesligaspiel mit Fans zu stecken. buc

DER SPIEGEL 13 / 2015 107


Radrennen in Hamburg

Triathlon an der Hamburger Binnenalster

108 DER SPIEGEL 13 / 2015


Sport

Energie aus der Elbe


Olympia Wettkämpfe am Wasser – mit dieser Idee will Hamburg die Sommerspiele
nach Deutschland holen. Die Stadt muss sich auf eine Geduldsprobe einstellen.

M
anchmal war die Angst vor Olym- Hamburg ist keine schlechte Wahl. Das
pia in Berlin spürbar. Bei einem Simulation des Olympiaparks in Hamburg Olympiakonzept der Stadt klingt reizvoll,
Themenabend der Nolympia-Ini- es setzt auf Nachhaltigkeit, kurze Wege
tiative vor Weihnachten sprach der pen- und weniger auf Pomp. Schwimm-Olym-
sionierte Garmischer Förster Axel Doering piasieger Michael Groß sagt: „Potemkin-
als Hauptredner. Er hatte vor zwei Jahren sche Dörfer wie in Sotschi wird es bei uns
mitgeholfen, die Bewerbung Münchens um nicht geben.“
Winterspiele zu kippen. Der Aktivist aus Die Planer wollen Olympia als Entwick-
Bayern schnappte sich das Mikrofon und lungsprojekt nutzen, als „städtebaulichen
rief in den Saal: „Die Leute, die Olympia Motor“, wie Nikolaus Goetze vom zustän-
planen, werden euch belügen, sie werden digen Architektenbüro gmp sagt. Auf einer
euch betrügen, sie werden euch verleum- Elbinsel im Hafen, dem Kleinen Gras-
den, sie werden mit falschen Zahlen arbei- brook, soll der zentrale Olympiapark ent-
ten, glaubt mir, es geht denen nur darum, stehen, mit Olympiastadion, Olympiahalle,
Geld zu verdienen, ihr werdet eure Stadt einem Schwimmstadion und dem Athle-
nicht wiedererkennen. Ihr müsst stark sein, tendorf. Vor Jahren schon gab es Pläne,
ihr müsst zusammenhalten, nur so könnt IOC bis Anfang 2016 eingegangen sein. Im auf dem Gelände die Universität anzusie-
ihr den Irrsinn stoppen.“ Sommer 2017, bei der IOC-Session in Lima, deln, die Politiker trauten sich den Sprung
Stille im Auditorium, große Augen. Eine wird dann die Olympiastadt für 2024 ver- über die Elbe damals nicht zu. Mit Olym-
junge Frau mit Hut flüsterte: „Oh, mein kündet. Viele, viele Millionen werden wo- pia und den zu erwartenden Fördermitteln
Gott.“ möglich versanden. München kostete die des Bundes soll es nun klappen.
Monate später lässt sich sagen: Es ist gescheiterte Kandidatur um die Winter- „Spiele am Wasser“, davon träumen die
vorbei. Die Berliner müssen keine Angst spiele 2018 insgesamt 33 Millionen Euro. Hamburger. Mit Barkassen sollen Besucher
FOTOS: TIM DE WAELE / CORBIS (L. O.); ANGERER / HOCH ZWEI / IMAGO (L .U.); ARCHITEKTEN VON GERKAN, MARG UND PARTNER (GMP) / BÜRO GÄRTNER UND CHRIST (R.)

mehr haben vor dem Gespenst Olympia. Eine Olympiabewerbung ist eine Wette und Athleten zu den Wettkampfstätten ge-
Sie sind aus dem Rennen. auf die Zukunft. Die Kandidaten wissen bracht werden. Für die Zeit der Spiele sollen
Hamburg soll für Deutschland die Som- nie, ob sie etwas herausbekommen. Ma- Kreuzfahrtschiffe im Hafen festmachen und
merspiele 2024 holen, so hat es das Präsi- drid gab nach drei vergeblichen Anläufen als schwimmende Hotels genutzt werden.
dium des Deutschen Olympischen Sport- auf. London schaffte es beim ersten Ver- Derzeit werden auf dem Kleinen Gras-
bundes (DOSB) am Montag beschlossen. such. Alles ist möglich auf dem Weg in brook Autos verschifft. Von dem Areal aus
Am Ende eines monatelangen Schaulau- den Sportolymp. ist die Elbphilharmonie gut zu sehen, auch
fens fing sich die Hauptstadt, die nie wirk- Dass sich der DOSB für Hamburg ent- so ein Hamburger Zukunftsprojekt. Die
lich mit der Olympiaidee warm wurde, schieden hat, hat eine gewisse Logik. Von gläserne Fassade des Konzerthauses fun-
eine Absage ein. Anfang an war es Präsident Alfons Hör- kelt wie ein Juwel, wenn die Abendsonne
Hamburg schlägt Berlin, die Elbmetro- mann darum gegangen, jene Stadt ins Ren- daraufscheint. Der Bau ist aber auch ein
pole gewinnt gegen die Weltmetropole, ge- nen zu schicken, in der die Zustimmung Mahnmal. 187 Millionen Euro waren ur-
gen die Hauptstadt, gegen Hipster-City. In für das Olympiaprojekt am größten ist. sprünglich veranschlagt für die „Elfi“, in-
der O2-Arena, gleich neben dem Stadion Das Trauma von München, wo eine Be- zwischen stehen 866 Millionen zu Buche.
des HSV, stieß die sportaffine Prominenz werbung für Winterspiele 2022 am Bürger- Was kostet Olympia? Diese Frage ist
der Hansestadt auf die Nominierung an. willen scheiterte, soll sich nicht wiederho- zum jetzigen Zeitpunkt nicht seriös zu
Nur Bürgermeister Olaf Scholz wirkte selt- len. Berlin mit seinem Ruf als Welt- und beantworten.
sam zurückgenommen, sprach von einer Sportstadt hätte beim IOC zwar vermut- Eine von der Hamburger Bürgerschaft
„sehr, sehr großen Ehre“, mehr Emotionen lich bessere Chancen gehabt, am Ende im Mai vorigen Jahres geforderte Mach-
mochte er nicht aufbringen. auch als Olympiastadt nominiert zu wer- barkeitsstudie liegt immer noch nicht vor.
Vielleicht hatte Scholz, ein Zahlen- den. Aber das Risiko, schon bei der Bürger- Bislang gibt es nur Kostenschätzungen. So
mensch, da schon die Folgen im Kopf. befragung im Herbst durchzufallen, war seien für den Bau des Olympiaparks auf
Hamburg ist eine Eventstadt. Musicals, Ha- in der Hauptstadt größer. dem Kleinen Grasbrook und alle weiteren
fengeburtstag, die Harley Days, der Schla- Eine Umfrage im Februar ergab, dass in Anlagen knapp zwei Milliarden Euro zu
germove, die Cruise Days, ständig ist et- Hamburg 64 Prozent der Bürger eine Be- veranschlagen. Hinzu kommen die Kosten
was los. Das Event Olympia ist jedoch eine werbung befürworten, in Berlin nur 55 Pro- für eine verbesserte Infrastruktur und für
sehr große Nummer. zent. Mit seiner Entscheidung für die Han- Sicherheitsmaßnahmen. Manche Experten
Rund 100 000 Euro hat die Stadt bislang sestadt ging der DOSB auf Nummer sicher. gehen davon aus, dass Olympia in Ham-
für die Kampagne ausgegeben. Pillepalle. Der Verband hat jetzt, wenn nicht noch burg am Ende zehn Milliarden Euro kosten
Ab jetzt wird es teuer. Im Herbst müssen etwas schiefgeht, einen Olympiakandida- wird.
die Bürger bei einer Befragung der Bewer- ten, und der deutsche Sport hat ein Zu- Wann eine aussagekräftige Kalkulation
bung das Okay erteilen. Danach beginnt kunftsprojekt, mit dem sich Umbaumaß- vorliegt, ist nicht abzusehen. Christoph
die verschärfte Planungsphase, ein erster, nahmen zur Renovierung des Spitzen- Krupp, Chef der Senatskanzlei, kennt die
ziemlich konkreter Entwurf muss beim sports gut begründen lassen. Genese des Finanzierungsplans für die
DER SPIEGEL 13 / 2015 109
trin des IOC. Vor vier Monaten rief der
deutsche IOC-Präsident Thomas Bach die
Agenda 2020 aus. Olympische Spiele sollen
demnach künftig mit weniger Prunk und
Protz auskommen. Wie ernst es Bach mit
seiner Reform zum Maßhalten ist, wird
sich bei der Olympiakür 2017 in Lima zei-
gen. Dort steht wohl auch Doha als Be-
werber für die Spiele 2024 zur Wahl, und
man kann sich ungefähr vorstellen, wie
die Katarer klotzen werden, um die IOC-
Mitglieder zu überzeugen.
Dass Hamburg in Lima gewählt wird, ist
nicht ernsthaft zu erwarten. Für die USA
geht Boston an den Start, und die Univer-
sitätsstadt in Massachusetts ist Favorit.
Olympiakandidat Boston (Simulation) Weil die Amerikaner seit den Spielen von
Atlanta 1996 auf Olympia warten, weil sie
gemäß dem Rotationsprinzip des IOC ein-
Olympischen Spiele 2012 in London. „Da Das olympische Erbe – oft gleicht es ei- fach mal wieder dran wären. Weil der US-
gab es am Anfang nur einige wenige Zah- ner Hölle aus Beton. Zu besichtigen ist das Sender NBC mit dem IOC einen neuen
len und ganz viel Text“, sagt Krupp. Mit in Athen, Austragungsort der Spiele 2004, Rekord-Fernsehvertrag über 7,65 Milliar-
den Jahren habe es dann „immer mehr und in Peking, Gastgeber 2008, wo viele den Dollar abgeschlossen hat.
Zahlen und immer weniger Text“ gegeben. der Sportstätten kaum noch genutzt wer- Außerdem stehen den Olympiaplänen
„So wird das hier auch sein.“ den und teilweise verrotten. des DOSB die Fußballer im Weg. Der DFB
Die Hamburger müssen vermutlich Olympische Spiele können eine Stadt will die Europameisterschaft 2024 nach
ohne verlässliche Zahlen in das Referen- aber auch positiv verändern. London, die Deutschland holen, und die Wahrschein-
dum gehen. Wann genau die Abstimmung Olympiastadt von 2012, hat durch die Spie- lichkeit ist hoch, dass der amtierende Welt-
stattfinden soll, ist noch offen. Die politi- le einen Mangel in seiner Infrastruktur be- meister den Zuschlag für das Turnier be-
schen und juristischen Hürden für ein sol- hoben. Die Acht-Millionen-Metropole ist kommt. Offiziell unterstützt der DFB die
ches Bürgervotum sind hoch. Kaum je- eng bebaut. Trotzdem lag im Osten ein Olympiabewerbung. Und Alfons Hörmann
mand im Rathaus rechnet ernsthaft damit, Stadtviertel brach, verarmt, geprägt von wird nicht müde zu betonen, dass in
dass ein dazu notwendiges Gesetz vor Ab- Industrieruinen und mäßig integriert in Deutschland auch mehrere Großereignisse
lauf der offiziellen IOC-Bewerbungsfrist das öffentliche Verkehrsnetz: Stratford. in einem Jahr möglich seien. Aus Fußball-
am 15. September verabschiedet werden Heute kommt man leicht mit der Bahn kreisen ist jedoch zu hören: „Niemand im
kann. Es könnte zu einer absurden Kon- dorthin, auch von auswärts, denn es gibt DOSB glaubt wirklich daran, dass die Spie-
stellation kommen: Die Bürger stimmen einen Bahnhof, der international angebun- le 2024 nach Deutschland kommen könn-
erst über das Olympiaprojekt ab, nachdem den ist. Der Queen Elizabeth Olympic ten.“ Die Olympiakampagne werde eher
sich die Stadt bereits offiziell beworben Park, wie das Zentrum der Spiele inzwi- als „Sensibilisierungsbewerbung für die
hat. Derzeit wird für das Referendum ein schen heißt, ist grün, autofrei und für jeden Öffentlichkeit“ gesehen, sagt ein einfluss-
Termin im November angepeilt. kostenlos zugänglich. Aus dem Athleten- reicher DFB-Funktionär, als Warm-up für
Die Frage, die sich die Hamburger dann dorf entstand eine Anlage mit 2800 Woh- den eigentlichen, den realistischen Termin:
stellen müssen, lautet: Wollen wir uns nungen, die eine Hälfte gehört dem kata- 2028.
Olympia wirklich leisten? Und warum? rischen Staatsfonds, die andere wird ge- Hamburg wird auch da starke Mitbewer-
Für den Sport in der Stadt und auch in nossenschaftlich verwaltet, um die Mieten ber haben: eventuell Paris, Sankt Peters-
ganz Deutschland brächte eine Kandidatur bezahlbar zu halten. burg, Melbourne. Sollte 2028 nicht die
„Rückenwind“, glaubt DOSB-Chef Hör- Manche Sportstätten, etwa das Hockey- Hansestadt, sondern ein anderer europäi-
mann. Fördergelder würden leichter bewil- stadion, waren Provisorien und sind kom- scher Kandidat ausgewählt werden, würde
ligt, neue Energie würde freigesetzt. Im plett abgebaut worden. Die Schwimmare- auch der Termin 2032 automatisch ausfal-
Breitensport, vor allem im Spitzensport. na wurde verkleinert und dient nun als len. Denn zweimal hintereinander Olym-
Olympiasieger Groß sagt, mit dem Ziel Hallenbad. Auch das Olympiastadion wird pia in Europa, das ist beim IOC nicht
Olympia habe „das elfjährige Talent einen gestutzt, statt 80 000 Zuschauern Platz zu durchsetzbar. Das Abenteuer Sommer-
Grund weiterzumachen“. Heute fehlt selbst bieten, schrumpft die Kapazität auf 54 000. spiele könnte für Hamburg zur Gedulds-
jenen, die es schon an die Spitze geschafft Im Herbst werden hier Spiele der Rugby- probe werden.
haben, oft die Motivation. Groß nennt den WM ausgetragen, von Sommer 2016 an In Berlin müssen sie sich darüber keine
Fall des Schwimmers Markus Deibler, der nutzt der Fußballklub West Ham United Gedanken mehr machen. Das Thema
neun Tage nach seinem Weltrekord und der die Arena für seine Heimspiele. Olympia hat sich für die Stadt für lange
Goldmedaille über 100 Meter Lagen bei der Ob sich Olympia auch längerfristig für Zeit erledigt. Die Berliner Olympiagegner
Kurzbahn-WM vom Leistungssport zurück- London auszahlt und Stratford ein Eigen- feierten die Entscheidung für Hamburg als
trat. „Ich glaube nicht, dass jemand so etwas leben entwickelt, ob die dort geplanten ihren Sieg. Und sie setzten sich gleich ein
tun würde, wenn er wüsste, dass er an Dependancen eines Museums, eines Thea- neues, noch größeres Ziel. „IOC und
Olympischen Spiele im eigenen Land teil- ters und des University College ihr Publi- DOSB zerschlagen, Olympia verhindern –
nehmen könnte“, sagt Groß. kum finden werden, das wird sich erst in überall!“, gaben sie als neue Parole aus.
Die Hoffnungen des organisierten den nächsten Jahren zeigen. Nächstes Einsatzgebiet: Hamburg.
FOTO: REUTERS

Sports dürften für die Bürger in Hamburg Olympiabefürworter klammern sich Rafael Buschmann, Markus Deggerich,
eher nachrangig sein. Sie werden die Zu- gern an das Beispiel London. Sie klam- Maik Großekathöfer, Detlef Hacke,
kunft ihrer Stadt im Blick haben. mern sich auch an die angeblich neue Dok- Gunther Latsch, Gerhard Pfeil

110 DER SPIEGEL 13 / 2015


Sport

Ein Funken Mut


Essay Was Hamburgs Olympiabewerbung für die Zukunft des Landes bedeuten könnte
Von Wolfram Eilenberger

G
äbe es internationale Wettkämpfe in den Disziplinen Sollten sich nicht gerade diejenigen, denen die Idee der olym-
Verantwortungsscheu und Innovationsangst, Team pischen Bewegung bis zur Unkenntlichkeit pervertiert erscheint,
Deutschland hätte auch 2015 seinen Spitzenplatz im im Umkehrschluss fragen, worin deren eigentlich bewahrenswer-
Medaillenspiegel sicher. Mit einer Kampagne, die in ihrer ideen- ter Kern liegen könnte? Wie steht es um die Idee einer Zusam-
freien Trägheit fast schon an Sabotage grenzte, verspielte Berlin menkunft der Weltjugend im Zeichen sportlicher Exzellenz und
seine Olympiachance bereits im ersten Wahlgang. Stattdessen fairen Wettstreits? Welche Art von Ereignis vermag es heute, die
soll nun mit Hamburg die kleine deutsche Lösung ins Rennen globale Aufmerksamkeit über mehrere Tage oder gar Wochen
geschickt werden. Die signifikant höhere Zustimmung der zu bündeln und damit tatsächlich so etwas wie ein planetarisches
dortigen Bevölkerung, hieß es, habe letztlich den Ausschlag ge- Bewusstsein zu schaffen? Wie viele dieser Ereignisse haben mit
geben. Doch auch in der Hansestadt agitieren gleich mehrere Tod, Leid und Terror zu tun? Wie viele mit Lebensfreude, Leibes-
Aktionsbündnisse und Initiativen gegen Olympia. Die strikte schönheit und der schlichten Faszination dessen, was Menschen
ablehnende Haltung gegen das „Wahnsinnsprojekt“ organisiert möglich ist? Wird verstanden, dass ein Nein zu Olympia auch
sich dabei in erwartbarer Weise um Begriffe wie „Kommerziali- ein Nein zu den Paralympics bedeutet – und damit zu einer der
sierung“, „Korruption“, „Kostenexplosion“ und „fehlende Trans- machtvollsten emanzipatorischen Bewegungen unserer Zeit?
parenz“. Während Diktaturen seit Jahrzehnten darum wetteifern, dieses
In der Tat wurde die olympische Bewegung in den vergangenen Ereignis um jeden ökologischen wie ökonomischen Preis an sich
Jahrzehnten durch strukturelle Korruption und schlicht krimi- zu reißen, stecken die Demokratien der westlichen Welt – unter
nelles Verhalten führender Mitglieder des IOC schwer beschädigt. dem Druck ihrer bis zur Hysterie sensibilisierten Öffentlich-
Kein Zweifel auch, dass spätestens mit den Spielen von Peking keiten – immer häufiger bereits im Vorfeld zurück. Das ist falsch.
und Sotschi die Idee sportlicher Völkerverständigung ad absur- Das ist kontraproduktiv. Das ist feige. Wem die Idee des Sports
dum geführt wurde. Und ja, Olympia ist ein Milliardengeschäft, überhaupt am Herzen liegt, für den kann es in Sachen deutsche
bei dem großindustrielle Seilschaften und Sponsoreninteressen Olympiabewerbung deshalb nur eine verantwortungsvolle Frage
eine prägende Rolle spielen. geben: Wer, wenn nicht wir? Was benötigt wird, ist kein kritisches
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ganz offen mit Nein zu Olympia, sondern ein transformatives Ja.
Ihnen sein: Diese Welt, in der wir leben, ist nicht die beste aller Tatsächlich sind die Zeiten für eine ereigniserneuernde Kandi-
möglichen. Zudem ist sie mittlerweile erdumspannend eine ka- datur so gut wie nie zuvor. Selbst härteste Kritiker gestehen zu,
pitalistische. Niemand vermag sich den damit verbundenen Leit- dass die zuletzt beschlossenen Reformen innerhalb des IOC einen
logiken zu entziehen. Ich nicht. Sie nicht. Und auch nicht das neuen Standard im Bereich der globalen Sportverbände etablie-
System Leistungssport. Aber was folgt daraus? ren. Eine selbstbewusste deutsche Bewerbung für 2024 – oder
auch 2028 – könnte diese Impulse aufnehmen und beispielhaft
vorantreiben. Mag man es in den saturierten Altbaumilieus von
Berlin-Kreuzberg oder dem Hamburger Schanzenviertel – als
Epizentren des olympischen Widerstands – auch nicht wahrhaben
wollen, es gibt auf diesem Erdball zahlreiche Länder, ja, ganze
Kontinente, die ihre Augen voll Hoffnung und Nachahmungs-
willen auf die Entwicklungen in unserem Land richten. Und zwar
gerade in den Bereichen, in denen die jüngsten Olympischen
Spiele sich als besonders verheerend erwiesen haben: Ökologie,
Nachhaltigkeit, Infrastruktur.

A
nstatt sich in kulturell tief verankerter Alleszermalmung zu
üben, wäre es eine Überlegung wert, für Hamburg 2024 ein-
fach einmal – wie heißt das im Sport so schön – unser Bestes
zu geben. Bereits jetzt lassen sich die Begriffe benennen, die eine
ideale deutsche Olympiaerzählung zu tragen verstünden: Nachhaltig-
keit, Fairness, Transparenz, Partizipation. Gerade weil diese Schlag-
worte bereits heute so abgedroschen klingen, schreien sie nach
konkreten Umsetzungen, die ihren wegweisenden Sinn für alle er-
lebbar machen. Hamburg 2024 kann ein solches Projekt werden.
Deshalb müssen wir nicht gleich alle „Feuer und Flamme“ sein. Ein
Funken Mut und Zutrauen würde für den Anfang genügen. Es wäre
der Mut, sich gemeinsam eine Zukunft vorzustellen, die mehr be-
deutet als nur eine triste Fortsetzung des Status quo. Es wäre nicht
zuletzt der Mut, der jeden wahren Sportler im Herzen antreibt.
ELIAS HAUCK

Eilenberger, 42, ist Publizist und Philosoph. Er ist Chefredakteur des


„Philosophie Magazins“ und besitzt einen Trainerschein des DFB.

DER SPIEGEL 13 / 2015 111


Wissenschaft+Technik
Archäologie
Mossuls Schätze retten
Um der Vernichtungswut der Terrormiliz IS
im Irak etwas entgegenzusetzen, hat ein in-
ternationales Forscherteam das „Project
Mosul“ gegründet. Auf ihrer Internetseite
und in Archäologieblogs bitten die Wissen-
schaftler Experten und Touristen, die früher ein-
mal im archäologischen Museum in Mossul waren,
dort aufgenommene Fotos und Videos zu schi-
cken. Die Zerstörung des Museums sei „nahezu
vollständig“, schreiben die Initiatoren, man
könne die alten Schätze aber zumindest virtuell
in 3-D rekonstruieren. Dies könne nicht nur
helfen, später Kopien der Antiken anzufertigen,
sondern auch, Artefakte aus dem Museum auf
dem Schwarzmarkt ausfindig zu machen. Die Wis-
senschaftler sind Stipendiaten eines von der EU
3-D-Rekonstruktion finanzierten Projekts zum Thema Digitalisierung
des „Löwen von Mossul“ und kulturelles Erbe. elg

Medizin nicht nur von der Mikrobe, dabei entstehen. So finden


„Wir sind zu sehr auf sondern auch von der Immun- wir hoffentlich Therapien,
antwort des Infizierten. Bei mit denen wir eine zerstöre-
Erreger fixiert“ der Diphtherie etwa ist es die rische Immunreaktion ab-
Die Ärztin und Mikrobiologin starke Entzündungsreaktion, mildern können, bis sich der
Liise-Anne Pirofski vom Albert Ein- die den Menschen tötet. Körper des Patienten von
stein College of Medicine in SPIEGEL: Was ist zu tun? selbst erholt. Statt also zu
New York fordert neue Strate- Pirofski: Wir müssen genauer sehr auf die Erreger fixiert
gien im Kampf gegen Infektions- erforschen, wie ein Mensch zu bleiben, sollten wir besser
krankheiten. auf einen Mikroorganismus versuchen, den infizierten
reagiert, welche Schäden Wirt zu stärken. ble
SPIEGEL: Sie würden gern
den Begriff „Krankheitserre-
ger“ abschaffen. Wieso? Pirofski
Pirofski: Weil er unser Den-
ken in die falsche Richtung
lenkt. Die ersten in der Me-
dizingeschichte entdeckten
Mikroben waren tatsächlich
krank machend, aber heute
wissen wir: Ein und derselbe Fußnote
Mikroorganismus kann dem
einen Menschen schaden –
dem anderen aber nicht. Es
hängt auch vom Wirt ab, ob
eine Erkrankung entsteht.
20000 FOTOS: FOTOLIA (U.); J. TORRES PHOTOGRAPHY (M.); PROJECTMOSUL.ITN-DCH.NET (O.)

SPIEGEL: Inwiefern kann die- Brustvergrößerungen


ses falsche Denken, wie Sie nehmen Chirurgen in
sagen, den Fortschritt in der Deutschland jedes Jahr
Infektionsmedizin aufhalten? vor. Dass solche Eingriffe
Pirofski: Es geht zu oft nur heikle Folgen haben
darum, den Mikroorganismus können, hat bereits 2010
mit einem Antibiotikum ab- ein Skandal um minder-
zutöten oder mit einem wertige Silikonkissen ge-
Impfstoff zu bekämpfen. zeigt. Nun warnt das
Doch gegen Tuberkulose, französische Gesundheits-
Malaria, Herpes und Pilz- ministerium, dass man-
infektionen haben wir nach che Prothesen eine selte-
wie vor keinen wirksamen ne Lymphdrüsenkrebsart
Impfstoff. Vielleicht ist unser Tuberkulose-Bakterien begünstigen könnten.
alter Ansatz ausgereizt. 173 Frauen seien bisher
Der Schaden kommt nämlich weltweit daran erkrankt.

112 DER SPIEGEL 13 / 2015


Schleimige Romantik
Pilzmücken-Larven beleuchten die Waitomo-Höhlen
in Neuseeland; die bläuliche Lightshow ist Ergebnis
biochemischer Prozesse im Körper der Insekten.
Die Tiere spinnen Fäden und spannen so, zwecks
Beutefang, ein Schleimnetz an der Grottendecke.

Kommentar

Big Brother Barbie


Stoppt die Totalüberwachung der Kinder!
Vorbei sind die Zeiten, in denen Barbie nur blond und schön Kinder sogar noch, wenn sie die Kleinen stundenlang durch
sein musste. Die Puppe der Moderne soll nun auch noch quas- YouTube und sonst wohin surfen lassen und sie bereits im
seln können. Noch in diesem Jahr will der US-Konzern Mattel Grundschulalter mit den neuesten Apple- oder Samsung-
eine elektronisch aufgepeppte Version des Spielzeugklassikers Produkten ausstatten. Schon speichert ein Schrittzähler im
herausbringen – ausgestattet mit einem Spracherkennungssys- Handy, wie weit das Kind am Tag so läuft, Ortungsdienste
tem. „Hello Barbie“ kann Fragen stellen und beantworten – registrieren die Wege von Sohn und Töchterchen, Chat-
FOTO: SHAUN JEFFERS / CATERS NEWS AGENCY

und sie hat eine Verbindung zum Internet. Alles, was die Kin- programme saugen den gesamten Datenbestand aus dem
der mit der Puppe ihres Vertrauens besprechen, wird an ein Adressbuch und verraten, wann und wie oft das Kind online
amerikanisches Start-up gesendet, dort gespeichert und ausge- ist, welche Nachrichten es bereits gelesen hat und welche
wertet. Für die Werbebranche ein Traum. Ein Skandal, Fotos es versendet. Mathe- und Vokabel-Apps verzeichnen
empören sich hingegen Datenschützer, und auch viele Eltern die Übungsdauer und Lernerfolge von Schülern – dagegen
gruseln sich. haben Eltern gar nichts.
Tatsächlich aber ist die neugierige Barbie nur eines von vie- Solange Mama und Papa von der Überwachung ihrer
len Beispielen dafür, wie die Industrie versucht, an wertvolle Kinder profitieren, werden die Maschen des Netzes eher noch
Informationen zu kommen. Dafür eignen sich Smartphones enger. Dagegen erscheint eine Spionagebarbie fast schon
oder Tablets. Hier befördern die Eltern das Ausspähen ihrer harmlos. Katrin Elger

DER SPIEGEL 13 / 2015 113


Teststart der neuen „Angara“-Rakete
in Plessezk im Dezember 2014

Holpernd zum Mond


Raumfahrt Die neue Trägerrakete „Angara“ und ein futuristischer Weltraumbahnhof
in Sibirien sollen Russlands Stellung als Supermacht im All sichern. Doch
immer wieder scheitern die Planer an Korruption, Bummelei und Misswirtschaft.

H
inter Betonmauern mit Stachel- senschaftlich-produzierenden Vereinigung Sogar der Erzfeind und Erzkonkurrent
draht arbeiten Wissenschaftler, die Energomasch“ ein überdimensionaler Rot- Amerika profitierte vom Know-how der
von Triebwerken schwärmen wie armist von der Wand eines fünfstöckigen Moskauer Wissenschaftler. Schon 1997,
Dichter von ihren Geliebten. Die Männer Plattenbaus. Plakate säumen die Straße des Russland lag wirtschaftlich darnieder,
haben einst Physik studiert oder Elektro- Sieges, die zum Werksgelände am nord- hatten die USA mit Energomasch einen
technik, und sie sind nicht mehr die Jüngs- westlichen Stadtrand von Moskau führt. Vertrag über die Lieferung von 101 Trieb-
ten: Weil es an Nachwuchs mangelt, arbei- Ihre Motive erinnern an Triumphe der sow- werken für die Trägerrakete „Atlas“ ab-
ten viele von ihnen weiter, obwohl sie das jetischen Raumfahrtindustrie, an denen geschlossen. Rund eine Milliarde Dollar
Rentenalter längst erreicht haben. Wenn Energomasch maßgeblich beteiligt war: bezahlten die Amerikaner, die russischen
sie an Festtagen zusammenkommen, sin- Triebwerke des erfolgreichsten russischen Triebwerke waren besser und billiger als
gen sie ein Lied, das in ihrer Jugend eine Raumfahrtbetriebs steckten in der „R-7“, die eigenen.
Art Hymne für sie war. „Auf dem Mars der ersten Interkontinentalrakete weltweit, Heute schrauben die Männer in der
werden Apfelbäume blühen“, heißt es da- sie brachten den „Sputnik“ ins All, den ers- Werkhalle am neuesten Triebwerk, dem
rin. Damals waren Kosmonauten Halb- ten Satelliten, und als ersten Menschen 1961 RD-191, das künftig die „Angara“ serien-
götter, und Raketenbauer verdienten glän- auch Jurij Gagarin. Eine bunte Werbetafel weise ins Weltall befördern soll – die erste
zend und wurden mit Orden überhäuft. neueren Datums fasst Selbstbewusstsein Rakete, die nach dem Zerfall der Sowjet-
FOTO: DPA

Wie ein Bote aus diesen alten Zeiten und Anspruch der Firma zusammen. „Mit union entwickelt wurde. Zu einem Testflug
grüßt draußen vor den Toren der „Wis- Energomasch in den Kosmos“, steht darauf. ihrer schweren Variante, der „Angara A-5“,
114 DER SPIEGEL 13 / 2015
Technik

Euro schweres Raumfahrtprogramm bis


zum Jahr 2020.
Gegen den liberaleren und eher markt-
wirtschaftlich orientierten Teil der Regie-
rung um Premier Dmitrij Medwedew
drückte Putin im Januar die Gründung ei-
nes gewaltigen Staatskonzerns durch. Er
soll alle Raumfahrtfirmen unter einem
Dach und dem Namen Roskosmos ver-
einen. Vorbild ist der 2007 gegründete
Nuklearkonzern Rosatom, der seitdem
drei Reaktoren in China und Iran gebaut
hat, in verschiedenen Ländern entstehen
weitere 13 Atommeiler.
Putins Mann für die Macht im All ist
Vizepremier Dmitrij Rogosin. Wie kein an-
derer verkörpert der flamboyante Natio-
nalist, ehemals Moskaus Botschafter bei
der Nato in Brüssel, Russlands neuen Ehr-
geiz im Weltraum. Als die Amerikaner
wegen des Ukrainekonflikts Sanktionen
gegen Russland beschlossen, liebäugelte
Rogosin mit einem Gegenboykott. „Dann
sollen die Amis doch ihre Kosmonauten
mit dem Trampolin zur ISS befördern“,
twitterte er.
Mal verkündet Rogosin in einem pro-
grammatischen Artikel in der Regierungs-
zeitung, dass Russland den Mond koloni-
sieren und „dort für immer präsent sein
werde“, schließlich sei der Erdtrabant die
einzige derzeit zugängliche Quelle für au-
ßerirdische Rohstoffe. Mal macht er wegen
der hohen Kosten einen Rückzieher, um
dann mitanzusehen, wie in seinem neuen
Weltraumkonzern die Mondpläne wieder-
belebt werden. Sie sind Teil der jüngst be-

Ende vergangenen Jahres gab Russlands auf „rund eine Milliarde Dollar“. Die Ame-
Präsident Wladimir Putin persönlich den rikaner veranschlagen allerdings eine ge-
Startbefehl. Vor laufenden Kameras hob ringere Summe. Russlands neue
er besonders den militärischen Nutzen der Mehr als zwei Jahrzehnte nach dem All-Macht
neuen Trägerrakete hervor, mit der auch Zerfall der Sowjetunion ist Russland noch
Spionage- und Überwachungssatelliten in immer eine Supermacht im All. Nur mit-
den Orbit geschossen werden können. hilfe der Russen können die Amerikaner Maximale Nutzlast
„Dies stärkt die Sicherheit unseres Lan- derzeit Astronauten zur Internationalen für erdnahen Orbit,
in Tonnen
des“, sagte Putin. Raumstation (ISS) schicken. Und auch die
Wie die ihm unterstellten Triebwerk- Frachtrakete „Antares“, die Essen, Klei-
bauer wird auch Wladimir Solnzew poe- dung und wissenschaftliche Geräte trans- 2,0 24,5 20,0
tisch, wenn er seinen neuesten Coup be- portiert, fliegt mit Triebwerken aus Russ-
schreibt. „Die Amerikaner haben sich so- land.
fort in unser Triebwerk verliebt“, sagt er. In Sibirien wird ein neuer Weltraum-
„Wir konnten gar nicht anders, als ihnen bahnhof gebaut, eine eigene Raumstation
jetzt eine Modifikation des RD-191 zu ver- ist für 2024 geplant. Die russischen Module
kaufen.“ Solnzew ist Direkter des Ener- der ISS funktionieren auch allein im All
gomasch-Mutterkonzerns RKK Energija. und könnten als Basis für den neuen rus-
Im Januar hat er den Deal mit der Firma sischen Stützpunkt dienen. Und längst
Orbital Sciences Corporation aus dem US- gibt es Pläne, den Mond zu besiedeln und
Bundesstaat Virginia besiegelt. Und das, den Mars zu erschließen.
obwohl wegen des Ukrainekriegs zwi- Unter den Kommunisten war die Raum-
schen Washington und Moskau Eiszeit fahrt gleichsam ein Teil der nationalen Idee,
herrscht und Falken in Moskau und Wa- Putin will sie als solchen wieder aufleben ES
shington versuchten, das Geschäft zu tor- lassen. Ein halbes Dutzend Mal wurde in land rop
pedieren. den vergangenen zwei Jahren ein 9,5 Mil- zum Vergleich:
60 Triebwerke sollen geliefert werden, lionen Dollar teurer Spielfilm über Gagarin „Angara 1.1“ „Angara A5/KVRB“ „Ariane 5 ES
die ersten zwei schon im Juni dieses Jahres. im Staatsfernsehen gezeigt. Ende 2013 be- 34,9 m 64,0 m 59,0 m
Das Auftragsvolumen beziffert Solnzew schloss der Kreml ein rund 30 Milliarden Maximalhöhe

DER SPIEGEL 13 / 2015 115


kannt gewordenen „Raumfahrtkonzep- Jahres hatte eine der – für ihre Zuverlässig- Für ihre Spionagesatelliten müssen Mos-
tion 2016–2025“, die Putin zur Unterschrift keit gerühmten – „Sojus“-Raketen eine kaus Generäle nun auf bewährte Analog-
vorliegt. Fehlfunktion. Zwei europäische Satelliten technologie aus den Sechzigerjahren zu-
Rogosins Sprunghaftigkeit verweist auf landeten in einer falschen Umlaufbahn. rückgreifen: Sie schicken tonnenschwere
das größte Problem der postsowjetischen Die „Angara“-Rakete soll nun Abhilfe Kameras ins All, die Filmrollen aus dem
Raumfahrt. „Russland hat seine Ziele im schaffen. Der Start ist allerdings mit 50 Mil- Orbit abwerfen, wie „Jantar“, der im Mai
Weltraum noch nicht eindeutig definiert“, lionen Euro mehr als doppelt so teuer wie vergangenen Jahres startete, aber nach
sagt Iwan Moissejew. Der renommierte der einer „Proton“-Rakete. „Proton“, der vier Monaten abstürzte.
Weltraumexperte gilt als einer der Väter Lastesel der Moskauer Raumfahrt, hat seit Nun ruhen die Hoffnungen auf einem
der Raumfahrtgesetzgebung; seit mehr 1965 400 Starts hinter sich gebracht. Im Juli milliardenschweren Projekt im Grenzge-
als 20 Jahren berät er die Regierung. In 2013 stürzte eine „Proton“-Rakete kurz biet zu China. Sieben Flugstunden von
Moissejews Wohnung im Norden Moskaus nach dem Start ab, weil die Sensoren des Moskau entfernt entsteht dort der neue
stapelt sich Fachliteratur, an der Wand in Leitsystems verkehrt montiert worden wa- Weltraumbahnhof Wostotschny („Der Öst-
seinem Arbeitszimmer hängt eine Dankes- ren. Drei Satelliten für das Navigationssys- liche“). Russland will sich damit von der
urkunde, unterzeichnet von Russlands ers- tem Glonass, das russische Pendant des bisher genutzten Basis Baikonur unabhän-
tem Präsidenten Boris Jelzin. amerikanischen GPS, wurden zerstört. gig machen, die in Kasachstan liegt und
Dem Mega-Staatskonzern Roskosmos Glonass wird vom russischen Verteidi- gegen eine jährliche Pacht von 115 Millio-
mit geschätzten 244 000 Mitarbeitern steht gungsministerium betrieben; entsprechen- nen Dollar vertragsgemäß bis 2050 zur Ver-
Moissejew skeptisch gegenüber. „Weil Auf- de Empfänger gehören längst zur Stan- fügung steht.
traggeber und Lieferanten nun gleichsam dardausrüstung von Smartphones. Doch Zusammen mit der „Angara“-Rakete
eine Firma sind, muss sich die Lage nicht die Satelliten sind auf eine Funktionsdauer soll das Kosmodrom in Sibirien für die
unbedingt verbessern“, sagt er. Einer sei- von gerade mal zehn Jahren ausgelegt, wo- leuchtende Zukunft der vaterländischen
ner Kollegen, der die Korruption und bei bislang noch keiner so lange durchge- Raumfahrtindustrie stehen. Sichtbar wer-
mangelnde Transparenz der Branche an- halten hat. Der älteste amerikanische GPS- den dort allerdings auch die Probleme, die
geprangert hatte, ist Anfang Februar ge- Satellit ist seit fast 25 Jahren im Einsatz. den erträumten Aufbruch behindern. Die
feuert worden. Zu den hausgemachten Qualitätsproble- Mega-Baustelle sorgt immer wieder für
Dabei hat der Moskauer Rechnungshof, men kommen die Sanktionen wegen des Negativschlagzeilen: Risse durchziehen
der über die Staatsausgaben wachen soll, Ukrainekonflikts. Selbst militärische Satel- das Mauerwerk noch nicht fertiggestellter
schon 2013 kritisiert: „Die Ausgaben für liten bestehen zu zwei Dritteln aus impor- Bauten, Staatsanwälte ermitteln wegen
das Weltraumprogramm wachsen um das tierten Komponenten, viele Teile stammen Korruption, immer wieder müssen inkom-
Zweieinhalbfache, die Effizienz aber ist aus Europa und den USA. Eine Hoffnung petente oder allzu geldgierige Manager
niedrig.“ Nur die Hälfte der geplanten Ra- auf schnellen Importersatz gibt es nicht – entlassen werden.
ketenstarts sei durchgeführt worden. „Die die russische Mikroelektronikbranche Der Chef der Baufirma Dalspezstroj, ein
Kosten für Bau und Unterhalt von Satelli- hinkt den Weltmarktführern um viele Jah- Generalleutnant außer Dienst, steht vor Ge-
ten und Raketen sind viermal so hoch wie re hinterher. richt, weil er zwei Milliarden Rubel unter-
im Westen“, heißt es in dem Bericht. Die Russlands Militärsatellitennetz ist inzwi- schlagen haben soll, umgerechnet mehr als
Aufsichtsbehörde sprach gar von „kollek- schen so ausgedünnt, dass Moskau derzeit 30 Millionen Euro. Vor Kurzem wurde be-
tiver Verantwortungslosigkeit“. nicht einmal in der Lage ist, Raketenstarts kannt, dass ein Unternehmen aus der be-
Im Jahr 2011 hatte eine Pannenserie die der Amerikaner oder anderer Länder aus nachbarten Großstadt Blagoweschtschensk
Nation erschüttert. Vier Satelliten und eine dem All in Echtzeit zu verfolgen. Das für vier – fürs Wostotschny-Personal fertig-
Rakete versagten beim Start oder im Welt- Überwachungssystem „Oko-1“, („Auge“), gestellte – Häuser Geld eingestrichen hat.
all, der Schaden belief sich auf fast eine hal- hat im Januar seine letzten beiden Him- Drei von ihnen standen allerdings nur auf
be Milliarde Euro. Im August vergangenen melsspäher außer Betrieb genommen. dem Papier.
Als Vizepremier Rogosin Ende Februar
Wostotschny besuchte, bekam er ob des
Schlendrians und der Verzögerungen ei-
nen regelrechten Tobsuchtsanfall. Per Er-
lass versetzte er „all die Bürokraten, die
in Moskau an dem Projekt arbeiteten“,
nach Wostotschny in die sibirische Taiga.
Zudem verordnete er eine Änderung des
Semesterplans in Blagoweschtschensk, der
nächstgelegenen Universitätsstadt, und
kommandierte Hunderte Studenten als
kostengünstige Helfer an die Kosmodrom-
baustelle ab – ganz in der Tradition sowje-
tischer Baubrigaden.
Ende des Jahres schon soll die erste Ra-
kete von Wostotschny aus in den Welt-
raum starten, natürlich im Beisein von Prä-
sident Putin. Die „Angara“-Startrampe ist
noch nicht gebaut, anders das Raumfahrt-
FOTO: YEVGENY KONDAKOV

museum des Kosmodroms. Es wurde be-


reits vor elf Monaten eröffnet – ganz so,
als läge die Zukunft der russischen Raum-
fahrt in ihrer Vergangenheit.
Energomasch-Fabrik bei Moskau: „Auf dem Mars werden Apfelbäume blühen“ Pavel Lokshin, Matthias Schepp

116 DER SPIEGEL 13 / 2015


Technik

gebeten, die Geschwindigkeit noch zu er-


höhen. Nicht nötig, 8 g reichten aus, haben
sie mir gesagt. In den Achtzigerjahren bin
ich schon mal in Kampfflugzeugen mitge-
flogen – ich hatte damals bereits Freude
an extremer Beschleunigung.
SPIEGEL: Sie müssen auch Russisch können.
Wie kommen Sie damit voran?
Brightman: Ich lerne vier Stunden täglich,
um mir verschiedene technische Worte ein-
zuprägen. Russisch ist nicht gerade die ein-
fachste Sprache. Aber ich hatte von An-
fang an ein Gefühl für sie, weil ich schon
in jungen Jahren die wunderbaren Liebes-
lieder von Sergej Rachmaninow gesungen
habe.
SPIEGEL: Seit wann wünschen Sie sich, ins
All zu fliegen?
Brightman Brightman: Ach, das ist eigentlich ein Kind-
heitstraum, der sich auf einmal realisieren
lässt. Ich bin 1960 geboren, die Mondlan-
dung habe ich 1969 live im Fernsehen ver-

„Das Leben ist folgt. An diesen Tag erinnere ich mich ge-
nau, da entstand der Wunsch, auch einmal
etwas Außergewöhnliches zu tun.

gefährlich“ SPIEGEL: Sie haben Ende der Siebziger


dann auch einen Discohit zum Thema ge-
sungen: „I Lost My Heart to a Starship
Weltraumtourismus Die britische Trooper“.
Brightman: Das war die Zeit, als wir alle
Sopranistin Sarah Brightman, dachten, bald selbst in den Weltraum rei-
54, über die dreijährige Vorberei- sen zu können und dass es in nicht allzu
ferner Zeit jede Menge Kolonien, ganze
tung auf ihre Reise zur Städte da draußen gäbe.
Internationalen Raumstation SPIEGEL: Welches Lied werden Sie im All
aufnehmen?
SPIEGEL: Am 1. September wollen Sie ins Brightman: Wir arbeiten an einem Stück,
All starten – wie qualvoll ist das Raum- das ich auch in dieser schwierigen Umge-
fahrttraining für eine Künstlerin? bung singen kann, zusammen mit einem
Brightman: Manchmal habe ich im Sternen- Chor und einem Orchester unten auf der
städtchen, dem Moskauer Ausbildungszen- Erde.
trum, 15-Stunden-Tage. Um 8.30 Uhr geht SPIEGEL: Geht es Ihnen am Ende nur um
es los, es dauert bis 18 Uhr, dazwischen Werbung für sich selbst?
nur eine halbe Stunde Pause, dann die Brightman: Da gäbe es nun wirklich kosten-
Hausaufgaben am Abend. Manchmal bin günstigere Möglichkeiten.
ich fix und fertig. Seit der Schulzeit habe SPIEGEL: Weltraumtouristen vor Ihnen
ich so etwas nicht mehr durchgemacht. haben zwischen 20 und 40 Millionen Dol-
Aber anders als in der Schule kann man lar auf den Tisch gelegt. Was kostet Sie
nicht mal für ein paar Minuten wegdäm- der Trip?
mern. Hier ist pausenlos volle Konzentra- Brightman: Das darf ich aus Vertragsgrün-
tion verlangt. den nicht sagen. Ich zahle aber jeden Cent
SPIEGEL: Müssen Sie sich beim Singen nicht selbst.
konzentrieren? SPIEGEL: Haben Sie Angst?
Brightman: Doch, aber Kunst ist im Kern Brightman: Die Sojus-Rakete ist ziemlich
kreativ. Während der Ausbildung zur sicher. Auch die anderen Kosmonauten
Raumfahrerin hingegen geht es darum, fes- wissen, was sie tun, sie haben Familie,
te Abläufe zu 100 Prozent zu verinner- Kinder. Wenn ich auf Tournee gehe, kann
lichen, auch durch Auswendiglernen, mir ein Scheinwerfer auf den Kopf fallen,
durch Wiederholen. Von dem, was ich ler- weil ihn jemand schlecht befestigt hat. So
ne, hängt mein Leben und das der anderen gesehen ist das Leben im Allgemeinen
Astronauten ab. gefährlich.
SPIEGEL: Wie hat Ihnen die Riesenzentri- Interview: Pavel Lokshin, Matthias Schepp
FOTO: REX / ACTION PRESS

fuge gefallen, in der Sie der achtfachen


Erdbeschleunigung ausgesetzt waren? Video:
Brightman: Das war großartig, auch wenn Star bei den Sternen
es sich anfühlte, als säße ein Elefant auf spiegel.de/sp132015brightman
meiner Brust. Ich habe die Russen sogar oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 13 / 2015 117


Technik

tern. Auf menschliche Befehle reagierten den Anweisungen seiner Programmierer

Auf Absturz sie nicht mehr.


„Pan-Pan!“, funkte die Crew, ein Not-
signal in der internationalen Luftfahrt.
folgt – reagiert vollkommen falsch.
Beim deutsch-französischen Airbus-
Konzern ist man auf diese Technologie, in

programmiert Wenige Minuten dauerte der Horrortrip,


für die Piloten die wohl längsten Minuten
ihres Lebens. Dann, es war 8.06 Uhr, wur-
Fachkreisen Fly-by-Wire genannt, beson-
ders stolz. Spezielle Rechner an Bord aller
Airbus-Jets überwachen, ob sich das Flug-
Luftfahrt Die Analyse des Bei- de ihnen klar, dass es ein Computerfehler zeug in einer sicheren Fluglage befindet.
sein musste, der den Flug auf Todeskurs Automatisch greifen sie in die Steuerung
nahe-Crashs von Flug LH 1829 lenkte. Und sie kamen auf die entschei- ein, sobald ihnen Daten über die Ge-
zeigt, wie der Computer das dende Idee, wie das Leben der Menschen schwindigkeit und Lage des Flugzeugs mel-
an Bord von Flug LH 1829 zu retten sei: den, dass ein Strömungsabriss bevorsteht,
Steuer übernahm – und die Pilo- Rechner aus. im Luftfahrt-Englisch ein „Stall“. Ein Stall
ten zu Zuschauern degradierte. Kurzerhand griff der Kapitän an die kann leicht zum Absturz führen.
Konsole über seinem Kopf, drückte dort Allerdings können sich Computer auch

A
ls sich die Nase des Flugzeugs zwei Schalter – und kappte damit die irren, und genau dies taten sie bei Flug LH
plötzlich nach unten neigte, dürfte Stromzufuhr für die Computer. Jetzt, end- 1829. Auslöser des Abwärtstörns waren
die 109 Menschen an Bord von lich, konnte er die Steuerflächen an den Sensoren an der Außenhaut des Flugzeugs,
Lufthansa-Flug LH 1829 ein heftiges Ma- Flügeln und am Heck wieder bewegen. Die die den Anstellwinkel messen, also die
gensausen befallen haben. 15 Minuten wa- Maschine fing sich. Lage der Maschine im Luftstrom. Beim
ren da seit dem Start im spanischen Bilbao Gerettet. Start in Bilbao muss der Jet eine besonders
vergangen, und alles hatte nach einem Als wäre nichts gewesen, setzten die Pi- feuchte Luftschicht durchflogen haben.
Routineflug ausgesehen. loten den Airbus 110 Minuten später plan- Dafür spricht jedenfalls der Zustand der
Am Morgen des 5. November 2014 nä- mäßig in München auf. Eine ruhige Lan- entsprechenden Sensoren: Gleich drei die-
herte sich der Airbus A321 seiner Reise- dung. Da waren die Ermittler der Bundes- ser Geräte, die die Form eines Windfähn-
flughöhe, die Stewardessen bereiteten den stelle für Flugunfalluntersuchung bereits chens haben, sitzen rechts und links am
Bordservice vor. Was in der Kabine nie- auf dem Weg, um die Flugschreiber des Rumpf. Zwei von ihnen froren ein.
mand ahnen konnte: Die beiden Piloten Airbus zu beschlagnahmen. „Die Software nimmt an, der Messwert
vorn im Cockpit kämpften in diesem Mo- Ebenso rasch sprach sich die Nachricht der beiden gefrorenen Sensoren müsse,
ment verzweifelt gegen den Absturz. vom Beinahe-Crash unter den Lufthansa- weil identisch, der korrekte sein“, erklärt
Ihre Instrumente zeigten eine Sinkrate Piloten herum. Alle wussten: Nur der Er- der Informatiker Peter Ladkin von der Uni
von über 1000 Metern pro Minute an, die fahrung des Kapitäns, der schon mehr als Bielefeld. „Den dritten Wert, der richtig
Maschine (Kennzeichen D-AIDP) rauschte 15 Jahre im Cockpit des A320 seinen ist, verwirft der Rechner als fehlerhaft.“
in die Tiefe, nahm immer mehr Fahrt auf. Dienst tut, war es zu verdanken, dass die- Die Flugcomputer der Lufthansa-Ma-
Die Männer rissen den Steuer-Joystick nach ser Routineflug nicht im Desaster endete. schine wähnten sich also im extremen Steil-
hinten, versuchten, das Flugzeug wieder in Denn trainiert hat eine solche Situation flug, und sie reagierten so, wie man sie
den Griff zu bekommen, doch was sie auch noch niemand in der zivilen Luftfahrt. programmiert hat: Sie drückten die Ma-
taten – es funktionierte nicht, es war, als Wie konnte es überhaupt dazu kommen? schine herunter und akzeptierten keine
vollführten sie nur eine irre Pantomime. Der noch unveröffentlichte Zwischen- Steuerimpulse der Piloten mehr. „Zum
Wie von Geisterhand raste die Maschi- bericht der Unfallanalysten beschreibt Glück kannte sich der Kapitän in der kom-
ne weiter gen Erdboden, gesteuert nicht eine bizarre Sicherheitslücke: Ein Compu- plexen Systemarchitektur aus“, sagt Lad-
mehr von den Piloten im Cockpit, sondern tersystem, das dazu da ist, Piloten vor Feh- kin, „weniger geschulte Piloten wären auf
von einer stärkeren Macht: den Compu- lern zu bewahren, das darüber hinaus brav diese Idee vermutlich nicht gekommen.“

München
6
DEUTSCHLAND
Flugzeug außer Kontrolle
Lufthansa-Flug LH 1829 von Bilbao
nach München am 5. November 2014 Sichere Landung
SCHWEIZ am Zielflughafen.

Plötzlich senkt der Airbus


Start eines Luft- seine Nase und beginnt FRANKREICH
hansa-Airbus einen steilen Sinkflug. Das
A321-200 mit Flugzeug reagiert nicht auf 5
109 Menschen die Versuche der Piloten, ITALIEN
an Bord. den Airbus abzufangen.
Die Piloten fliegen weiter auf 8200 Metern.
Um keine weiteren Probleme zu riskieren,
1 steigen sie nicht wieder auf.
Bilbao 4
2 3
Etwa 15 Minuten nach dem Start Erst als einer der Piloten die Computer
hat die Maschine eine Flughöhe abschaltet, kann er die Maschine wieder
von ca. 9500 Metern erreicht. selbst steuern und den Sinkflug stoppen. Quelle: avherald.com

120 DER SPIEGEL 13 / 2015


Der Zwischenfall hat Unruhe in der
Branche ausgelöst. Denn Ende vergange-
nen Jahres stürzte ein A320 der malaysi-
schen Fluggesellschaft Air Asia vor der
Küste Indonesiens ins Meer. Der Jet war
geradewegs in eine Gewitterzelle gesteuert,
in der besonders kalte, feuchte Luft die
Sensoren umströmt. Laut Radar flog er in
seinen letzten Momenten ein höchst son-
derbares Manöver: Die Maschine schoss
steil nach oben, ehe sie vermutlich einen
Strömungsabriss erlitt – und fiel. Der Zwi-
schenbericht der Unfalluntersucher wird
seit Monaten geheim gehalten.
Für Airbus ist die Diskussion vor allem
deshalb unangenehm, weil der A320 ihr
wichtigster Flieger ist; Tausende Jets dieses
Typs stehen weltweit in Diensten der Flug-
gesellschaften.
Dass dessen Sensoren für den Anstell-
winkel anfällig fürs Vereisen sind, haben
inzwischen auch Mechaniker der Lufthansa
bestätigt, die nach dem Bilbao-Zwischen-
fall in ihren Wartungscomputern mehr als
ein Dutzend Vorkommnisse dieser Art fan-
den. Andere Fluggesellschaften wie Virgin
melden ähnliche Probleme, weswegen das
Thema im April bei der wichtigsten Fach-
konferenz für Flugzeugwartung in Prag auf
der Agenda ganz nach oben gerutscht ist.
Airbus steht unter Druck. Gleich nach
dem Sturzflug von Bilbao hat der Konzern
Notanweisungen an Piloten und Mechani-
ker versendet. Ein Software-Update soll
die falsche Computerreaktion verhindern,
die Aufsichtsbehörden stünden hinter die-
sen Maßnahmen, verkündete der Konzern.
Vor allem aber muss Airbus den Auslö-
ser für das Fehlverhalten der Rechner be-
seitigen. Alle drei Mess-Sensoren (Stück-
preis rund 15 000 Euro) in der ganzen Flot-
te auszutauschen würde jedoch Hunderte
Millionen Euro kosten. Diskret hat das Un-
ternehmen deshalb bislang nur Lufthansa
zugesagt, die Geräte in ihrer A320-Flotte
gegen Modelle eines anderen Herstellers
zu wechseln.
Allerdings: Auch die Austauschmodelle
scheinen anfällig für tiefe Temperaturen
zu sein. Das liegt an den empfindlichen
Stellrädchen im Innern des Instruments,
die bei dem einen Gerät vereisen, weil sich
in Zwischenräumen Wasser einlagert. Bei
den Sensoren des anderen Herstellers wie-
derum zieht sich das Metall in der Kälte
so zusammen, dass es plötzlich hakt und
nicht mehr frei beweglich ist.
Was den Airbus-Sensoren fehlt, ist eine
Heizung im Kern ihrer komplizierten Me-
chanik. Konkurrent Boeing verwendet sol-
che Heizanlagen – dabei sind die meisten
Boeing-Maschinen gar nicht so dringend
angewiesen auf korrekte Informationen
über den Anstellwinkel.
Denn die Boeing 737, das Konkurrenz-
modell zum A320, besitzt gar kein Fly-by-
Wire-System. Gerald Traufetter

DER SPIEGEL 13 / 2015 121


Wissenschaft

Babys für alle


Medizin Tausende Euro kostet eine künstliche Befruchtung – jetzt will ein belgischer Arzt den
Preis so weit senken, dass sich auch arme Afrikanerinnen ihren Kinderwunsch erfüllen können.

B
is 2050 soll die Bevölkerung Afrikas cher in Vorträgen über HIV, Tuberkulose, Er zeigt das Video einer Frau aus Ghana,
um 1,3 Milliarden Menschen wach- Malaria. Es ging schließlich um Länder, in die leise erzählt, wie sehr sie sich nach
sen, und Willem Ombelet arbeitet denen eine Frau durchschnittlich fünf Kin- einem Kind sehnt. Dass sie sich verhext
daran, dass es auch ganz sicher so kommt. der bekommt – wer will da eine IVF-Klinik fühle und die Nachbarn fragten: „Wie
Ombelet eilt durchs Krankenhaus, vor- für Arme eröffnen? kannst du existieren, so ohne Kind?“
bei an dem Plastikmodell eines Uterus und Die Frage ist doch: Haben Entwicklungs- In vielen ländlichen Gebieten werden
an Bildern von Eileitern. Hinter den Türen länder nicht eher ein Problem mit Emp- kinderlose Frauen verstoßen, die Ehen an-
der Labors beugen sich Mitarbeiter über fängnisverhütung als mit Empfängnis? nulliert, die Schuld sowieso immer der
Mikroskope, in mannshohen Brutschrän- Diesen Gedanken findet Ombelet igno- Frau zugeschoben. In manchen Gegenden
ken lagern Embryos. Ombelet leitet die rant. Einem weißen Pärchen würde man verliert sie sogar ihren Namen.
Abteilung für Geburtshilfe und Gynäkolo- dies wohl nie an den Kopf werfen: Tut mir Der Wert einer Frau wird in diesen Ge-
gie des St.-Jans-Krankenhauses im belgi- leid, es gibt schon zu viele von euch. sellschaften an ihrer Gebärfähigkeit ge-
schen Genk. Wenn es beim Kinderkriegen Ombelets Haare sind mittlerweile er- messen. Entsprechend sind Kinderlose in
hapert, dann helfen er und seine Leute. graut, und sein Frust ist einem Galgen- Entwicklungsländern eher depressiv, sui-
Aber die Unterstützung ist – wie überall humor gewichen: „Früher sagte man mir: zidgefährdet, ärmer, häufiger mit HIV infi-
auf der Welt – teuer. Du bist verrückt. Heute heißt es: gute Idee. ziert. Im Alter fehlt ihnen die Absicherung.
Mehr als 3000 Euro kostet eine künst- Aber Geld gibt’s nicht.“ Rund fünf Millionen IVF-Kinder sind
liche Befruchtung in Deutschland. In Groß- seit Louise Brown, dem ersten Reagenz-
britannien sind es sogar umgerechnet 7000 glasbaby, geboren worden – mehr als die
Euro. Ombelet will den Preis für ein Baby Hälfte davon im winzigen Europa. Dabei
auf 200 Euro drücken. leben schätzungsweise 180 Millionen un-
„In manchen Ländern Afrikas sind 300 fruchtbare Frauen in Entwicklungsländern.
Euro inklusive Personalkosten realistisch“, Ursache sind häufig Geschlechtskrank-
sagt er. „In Deutschland natürlich nicht. heiten. Eine Chlamydien-Infektion etwa
Aber weniger als 1000 Euro – das ist si- kann dazu führen, dass die Eileiter ver-
cherlich machbar.“ kleben. So kommt es, dass 30 Prozent der
Doch es gehe ihm gar nicht so sehr um Frauen in manchen Teilen Subsaharas
Europa, fügt er gleich hinzu. Stattdessen unfruchtbar sind. Ein häufiger Grund für
wolle er die Befruchtung im Reagenzglas Kinderwunschbehandlung in Deutschland
(in vitro) so günstig machen, dass sie sich Gynäkologe ist: das Alter.
jeder leisten kann, sei es in Indonesien, Ombelet Es gehe ihm, sagt Ombelet, auch nicht
Tansania, Ghana oder im Sudan. Wo es darum, einer Familie die Zeugung von
moderne Kliniken gibt, deren Preise für möglichst vielen Babys zu ermöglichen.
die In-vitro-Fertilisation (IVF) die europäi- Künstliche Befruchtung – Eher gehe es um ein Kind, vielleicht zwei.
schen aber teils noch übertreffen. Wo auch Erst in dem Amerikaner Jonathan van
wie hierzulande Paare versuchen, Kinder
leicht gemacht Blerkom fand Ombelet endlich einen
zu kriegen, manchmal vergebens. Vereinfachtes Verfahren Gleichgesinnten. Als junger Biologe hatte
Als junger Arzt arbeitete Ombelet 1984 Eizellen und Spermien brauchen van Blerkom Rinderembryos durch Ne-
im südafrikanischen Pretoria. Manche sei- eine Nährlösung, konstante braska fahren müssen. Damit sie die Reise
ner Patientinnen waren schüchtern, sie Temperatur und einen unbeschadet überstehen, bastelte er sich
drucksten herum, hatten Schwierigkeiten, stabilen pH-Wert. seinen eigenen Mini-Inkubator. Embryos,
über ihr eigentliches Problem zu sprechen: Der Block speichert fand van Blerkom auf seinen Touren he-
dass sie sich ein Kind wünschten. die Temperatur. raus, sind ziemlich robust.
Südafrikas erstes Retortenbaby war ge- Aus Natron und Zitronen- Eizelle und Ombelet deutet an die Decke. Auf dem
Spermien
rade zur Welt gekommen. Seine Zeugung säure entsteht CO2. Das Dach der Klinik stehen große Tanks, aus
war teuer gewesen. Für Ombelets Patien- Gas strömt ins zweite CO2 denen Kohlendioxid in die Inkubatoren
tinnen kam die Behandlung daher niemals Reagenzglas und stabili- gepumpt wird. Eine Belüftungsanlage
infrage: Wer konnte so viel zahlen? siert den pH-Wert. saugt Laborluft heraus und pustet saubere
unter
Damals schon fragte er sich, ob das wohl Preis für einen Versuch 1000 € Luft hinein. Die ersten Tage verbringt der
möglich sei: eine simple IVF-Methode zu Embryo in diesen Maschinen. Fällt die
finden, die auch dort funktioniert, wo Men- Temperatur im Brutschrank, schlagen die
FOTO: WIKTOR DABKOWSKI / DER SPIEGEL

Derzeit kostet eine In-vitro-


schen nicht krankenversichert sind, wo der Behandlung in Deutschland 3000 – 5000 €* Systeme Alarm. Ein solches Labor kostet
Strom ausfallen kann und das jährliche Millionen Euro.
Durchschnittseinkommen bei einigen Hun- Zum Vergleich: USA etwa 12 000 €
Aber all das, sagt Ombelet, sei überflüs-
dert Euro liegt. sig. Tatsächlich? Ombelet winkt ab. „Mo-
Doch wenn er auf Kongressen seine Idee Großbritannien etwa 7000 € ment! Wir werden beweisen: Es geht.“
vortrug, kamen kaum mehr als 20 Zuhörer. Südafrika etwa 3000 € Eine junge Mitarbeiterin im Kittel stellt
Es waren Tagungen über Gesundheit in * je nach Methode, Präparaten und Alter der Frau
einen Klotz auf den Tisch, kleiner als ein
Afrika, also saßen die restlichen 700 Besu- Schuhkarton. Darin stecken zwei Reagenz-
122 DER SPIEGEL 13 / 2015
Säuglinge in Malawi: „Wie kannst du existieren, so ohne Kind?“

gläser in dafür vorgesehenen Löchern. Ein nia und Ghana vorstellte, winkten die ab: beeindruckende 34 Prozent. Allerdings wa-
schmales Röhrchen verbindet beide. Eure Studien macht erst mal mit euren ei- ren alle 40 Teilnehmerinnen ansonsten ge-
In das erste schüttet die Laborantin eine genen Kindern, hieß es. Zu oft gab es das sund und jünger als 36 Jahre.
Nährlösung. Tausende Spermien werden schon: Weißer Mann will Afrika retten. „Mit solchen Patientinnen hätte ich
darin um eine Eizelle konkurrieren. Das Doch mittlerweile wirbt die WHO für mehr erwartet“, sagt Thomas Ebner. Aber
Gemisch im zweiten Glas sorgt für ein gu- das Projekt. Die europäische Vereinigung er bewundere die Kollegen. Dafür, dass
tes Befruchtungsklima: Dafür wirft die der Reproduktionsärzte hat eine Arbeits- sie etwas versuchen, was es in der Branche
Frau eine Natrontablette hinein. Als sie gruppe dazu gegründet. Als Ombelet die der Reproduktionsmediziner selten gibt:
Zitronensäure dazukippt, schäumt das Ge- ersten Daten veröffentlichte, jubelten Kol- den Versuch, die IVF günstiger zu ma-
misch auf. „Das blubbert wie Champa- legen über „beeindruckende Ergebnisse“. chen – anstatt immer aufwendiger.
gner“, sagt Ombelet. Ärzte in Kenia, Botswana und Ghana Wie sehr der Preis der künstlichen Be-
Das Prinzip ist so einfach wie Backen: schrieben ihm. Ist Ombelet also am Ziel? fruchtung auch in Deutschland eine Rolle
CO² entsteht und strömt über das Röhr- Georg Griesinger leitet das Universitäre spielt, zeigte sich 2004: Damals kürzte die
chen zur Eizelle. Der künftige Embryo ist Kinderwunschzentrum in Lübeck und findet Regierung die Unterstützung auf die Hälfte,
nun für die ersten Tage versorgt: Er be- es nicht verwunderlich, dass eine IVF so sim- und es gab sie auch nur für Frauen unter
kommt Nährstoffe, es herrschen 37 Grad pel ablaufen kann. In den Anfangsjahren 40. Sofort ging die Zahl der Hilfesuchenden
Wärme (der Klotz speichert die Tempera- habe man die Embryos quasi in der Bade- drastisch zurück: um rund 40 Prozent.
tur) und ein fast neutraler pH-Wert. Dazu wanne warm gehalten. „Aber dahin wollen Stattdessen fahren viele deutsche Paare
ein günstiges Ultraschallgerät und ein Mi- wir natürlich nicht zurück.“ In Europa wer- ins Ausland, wo die Befruchtung weniger
kroskop – fertig ist das Befruchtungslabor. de sich die Methode daher sicherlich nicht kostet. „Wenn es uns gelänge, eine IVF für
Erst am dritten Tag wird der Stopfen durchsetzen, aber wenn sonst keine Option 200 Euro anzubieten“, sagt der britische
aus dem Reagenzglas gezogen. Ist ein Em- verfügbar sei – „warum nicht?“ Wie sicher Arzt Ian Cooke, „dann könnte das auch
bryo gut gewachsen, wird er in die Gebär- die Methode sei und wie effektiv, müsse den europäischen Markt aufmischen.“
mutter eingesetzt. allerdings eine Vergleichsstudie mit mehr Cooke hat mit drei Kollegen die „Low
Moderne Medikamente, die die Reifung als tausend Patientinnen erst noch zeigen. Cost IVF Foundation“ gegründet; das Pro-
der Eizellen anregen, können Hunderte Thomas Ebner vom Kinderwunschzen- jekt zielt aber ebenfalls auf afrikanische
Euro kosten. Ombelet setzt auf ein Mittel trum Linz findet die Methode spannend, Länder.
aus den Achtzigern: Clomifen wirkt schwä- wenn auch „zu rustikal“. Bei ihm arbeitet Willem Ombelet muss nun beweisen,
cher, ist aber für nur zehn Euro pro Be- eine Fachkraft, die nur damit beschäftigt dass seine Methode vor Ort funktioniert
handlung erhältlich. Der Mediziner will ist, den Zustrom von Gasen zu kontrollie- und nicht nur im Labor. 2016 soll das erste
vor Ort fertige Sets verteilen und hofft auf ren. Moderne Inkubatoren für 100 000 Euro Kind zur Welt kommen. Doch das Vorha-
Gelder von Nichtregierungsorganisationen. zeichnen die Zellteilung sogar minütlich ben rückt immer wieder in die Ferne.
Die Labormitarbeiter will er in Belgien auf. „Wir verhätscheln die Embryos“, sagt Dafür rief vor ein paar Tagen ein Rin-
ausbilden. Allerdings kann mit der Metho- Ebner. „Wir müssten uns viel öfter fragen: derzüchter aus Paraguay an. Er habe 50 000
de nur unfruchtbaren Frauen geholfen wer- Was nützt das?“ Kühe auf seiner Ranch. Zur Besamung
FOTO: TOBY BINDER / ANZENBERGER

den. Produziert der Mann beispielsweise Reproduktionsmediziner messen ihren müsse er sie jedes Mal in ein Reproduk-
zu wenige Spermien, hilft nur ein moder- Erfolg anhand der Schwangerschaftsrate. In tionszentrum transportieren lassen. Ob
neres Verfahren weiter. Deutschland liegt sie im Mittel bei 30 Pro- Ombelets System das nicht auf der Weide
Mehr als 20 Kinder sind mithilfe von zent pro Zyklus. Das bedeutet: Die meisten erledigen könne. Vielleicht, überlegt Om-
Ombelets Technik bereits auf die Welt ge- Frauen brauchen mehrere Versuche, um belet, könnten die Rinder ein zweites
kommen, alle in Belgien. Als der Gynäko- schwanger zu werden. Die Wissenschaftler Mal helfen: nämlich dabei, sein Projekt zu
loge seine Idee Kollegen in Südafrika, Ke- um Ombelet erzielten in ihrer Pilotstudie finanzieren. Laura Höflinger

DER SPIEGEL 13 / 2015 123


Wissenschaft

Am Länderinstitut für Bienenkunde bei

Begattung im Berlin spähen die Forscher auf der Suche


nach milbenfesten Tieren mit Infrarot-
kameras in die Stöcke. Die Fahndung kon-

Mondschein zentriert sich auf Arbeitsbienen, die be-


sonders gründliches Putzverhalten zeigen.
„Manche Tiere erkennen offenbar, ob in Honigbiene im Einsatz
Tiere Züchter und Forscher der verschlossenen Brutzelle etwas nicht Optimiert auf Friedfertigkeit und Fleiß
stimmt“, sagt Institutsleiter Kaspar Biene-
suchen nach der Honigbiene der feld. „Solche Zellen werden dann ausge- vielerlei Drohnen paaren – aber stets unter
Zukunft – sie muss vor allem räumt.“ Damit unterbinden die Putzteufel Kontrolle des Züchters.
die Fortpflanzung der Parasiten – bislang Das ist nicht einfach: Bienen paaren sich,
der zerstörerischen Varroa-Milbe die wirksamste Gegenwehr. wenn man sie lässt, kreuz und quer zwi-
standhalten. Eine derart vorteilhafte Fertigkeit sollte schen den Völkern. Nicht selten bringt eine
sich eigentlich rasch in der Bienenwelt ver- Königin in ihrer Vorratstasche Spermien-

D
ie Bienen fliegen wieder, sie haben breiten. Wo natürliche Auslese herrscht, klümpchen von zwei Dutzend verschiede-
überlebt. Seit Tagen summen sie wären Bienen mit Hygienesinn klar über- nen Drohnen mit nach Hause.
um ihre Stöcke am Rand des Wäld- legen. Aber diese Auslese gibt es kaum. Auf der Suche nach einer Lösung stieß
chens. Matthias Engel, Imker im hessischen Viele Imker setzen flächendeckend Che- Engel auf ein altes, halb vergessenes Ver-
Frankenberg, hat Glück gehabt. Nur 8 von mikalien ein und bringen damit schwache fahren: die Mondscheinbegattung. Die
seinen 120 Völkern sind im Winter zugrun- wie starke Völker gleichermaßen über die Idee ist, dass nur erwünschte Partner sich
de gegangen. Runden. im Luftraum begegnen. „Ich lasse Weib-
So eine Quote muss heute schon als Er- Dabei gibt es inzwischen Bienenstaaten, chen und Männchen erst in der Dämme-
folg gelten. Die wenigsten Imker im Land die den Milben dank natürlicher Auslese rung fliegen“, sagt der Imker. Dann haben
kamen so glimpflich davon. Fast 30 Pro- von selbst standhalten – einige in Südfrank- sie den Himmel für sich. Denn die anderen
zent der Bienenvölker haben es diesmal reich, andere auf Inseln wie dem schwedi- Bienen im Umkreis sitzen um diese Zeit
nicht ins Frühjahr geschafft. schen Gotland in der Ostsee oder Texel längst wieder in ihren Stöcken.
Engel aber will sein Ergebnis noch ver- vor der niederländischen Küste. Doch in So weit die Theorie. In der Praxis jedoch
bessern. Seit Jahren züchtet der Jungimker imkerischer Hinsicht überzeugen die Über- kann man eine Königin nicht einfach bis
Bienen besonderer Art. Er achtet dabei lebenskünstler noch nicht: Sie legen keine zum Abend einsperren. Die Arbeiterinnen
nicht nur auf Sammelfleiß und Sanftmut. nennenswerten Honigvorräte an. dulden das nicht. Wenn Majestät sich bei
Eine andere Eigenschaft wird immer wich- Den meisten Honig liefern nun einmal gutem Paarungswetter nicht hinausbe-
tiger: Engels Völker sollen sich nicht so Bienen, die stark und ausdauernd brüten. quemt, wird sie erbarmungslos gezwickt
einfach ausrotten lassen. Und eben das sind die Bedingungen, die und gepiesackt.
Die Hauptschuld an den Verlusten trägt auch die Varroa-Milbe schätzt. Besonders „Deshalb bringe ich die Völker tagsüber
eine winzige Milbe namens Varroa destruc- gemütlich hat sie es bei der klassischen in eine dunkle Kühlkammer“, sagt Engel.
tor. Vor knapp vier Jahrzehnten wurde sie Honigbiene (Apis mellifera). Deren Erbgut Die Bienen halten darin folgsam Nachtruhe.
aus Asien eingeschleppt, inzwischen steckt haben Generationen von Züchtern auf Erst gegen Abend, wenn es noch warm ist,
sie praktisch in jedem Bienenstock. Friedfertigkeit und Honigfleiß optimiert. kommen sie wieder ins Freie – und die
Die Varroa-Milben befallen die Brutzel- Imker Engel will deshalb wieder mehr Mondscheinbegattung kann beginnen.
len der Honigbiene, dort saugen sie an den Vielfalt ins Erbgut bringen. Aus dem er- Auch Engels Bienen brauchen noch
Larven und Puppen. Ihre Wirtstiere, wenn weiterten Genpool, so hofft er, gehen auch Chemie. Aber inzwischen, versichert der
sie schlüpfen, sind oft schon verkümmert; Tiere hervor, die an das Leben mit dem Züchter, seien sie schon deutlich robuster.
in der Regel sterben sie früh. Auch erwach- Parasiten besser angepasst sind. Bei Engel Andere Imker können Königinnen bei
senen Bienen setzen die Blutsauger zu: dürfen sich deshalb die Königinnen mit ihm bestellen. Er verschickt sie per Brief-
Durch die Einstiche im Chitin- post in je einem Plastikkäfig,

FOTOS: KAGE MIKROFOTOGRAFIE / OKAPIA (U.); JULIAN HERBERT / REX FEATURES / ACTION PRESS (O.)
panzer können allerhand Viren zusammen mit einem Reise-
eindringen. gesinde von zehn Arbeite-
Viele Bienenvölker sind so rinnen.
stark belastet, dass nur Chemie Mit der Auslese hat aber
sie retten kann; häufig beduns- auch Engel, wie alle Züchter,
ten die Imker ihre Stöcke mit noch seine liebe Not. Manche
Ameisensäure. Der Milbe hat Bienen geraten ihm allzu stech-
das bislang nicht groß gescha- wütig. Andere schwärmen so
det. Deshalb sucht nicht nur Im- gern, dass immer mal wieder
ker Engel nach Bienen, die aus das halbe Volk den Stock ver-
eigener Kraft mit den Parasiten lässt.
fertig werden. Wird den Züchtern je ein
„Die Zucht resistenter Stäm- rundum erfreuliches Arbeits-
me ist auf lange Sicht wohl das tier gelingen? „Milbenresisten-
einzige Mittel“, sagt Ralph Büch- te Völker werden wir schon in
ler vom Bieneninstitut Kirch- wenigen Jahren haben“, sagt
hain. Er koordiniert Experi- Bienenforscher Büchler. „Aber
mente mit insgesamt 2000 Völ- von Bienen, die den Imker
kern. Jede Generation durch- auch wirtschaftlich zufrieden-
kämmt er nach möglichst robus- stellen, sind wir noch weit ent-
ten Brummern. Varroa-Milbe auf Biene (200-fach vergrößert): Jedes Volk ist befallen fernt.“ Manfred Dworschak

124 DER SPIEGEL 13 / 2015


Schauplatz von Blockupy-Demonstration in Frankfurt

Proteste SPIEGEL: Können Sie die An- die Probleme der Zeit. Das
„Falscher Adressat“ hänger der Blockupy-Bewe-
gung verstehen in ihrer Wut?
Ziel meines Entwurfs war, ein
lebendiges Symbol zu schaffen,
Prix: Natürlich. Die Frage ist, und es wird sicher in den men-
Wolf D. Prix, Frankfurt ausschließlich von wie weit man damit kommt. talen Besitz der Leute über-
72, Mitbe- Polizisten besiedelt. Die Eröff- Proteste mögen lustig sein, gehen, die es jeden Tag sehen.
gründer des nung war klein, aber fein. obwohl sie sicher nicht mehr SPIEGEL: Man wird auch die
Wiener Archi- Man hat auch auf die Ereig- so lustig sind wie früher, aber Bilder von den Tumulten im
tekturbüros nisse draußen Bezug ge- wenn man mit ihnen nichts Gedächtnis behalten.
Coop Him- nommen und dazu das Üb- erreicht, dann sind sie just for Prix: Hat die jüngere Genera-
melb(l)au und liche gesagt: Protestieren fun. Das Gebäude ist viel- tion die Bilder der Revolution
Schöpfer des sei ein Grundrecht, Gewalt leicht der Beweis dafür, dass von 1968 in Paris noch vor
Neubaus der müsse abgelehnt werden. ich doch noch ein etablierter Augen? Das Gebäude für die
Europäischen Zentralbank (EZB) Aber meiner Meinung nach Architekt geworden bin und EZB trägt jetzt sicherlich zur
in Frankfurt am Main, über die ist die EZB der falsche Adres- mich jetzt auf der anderen Polarisierung bei, aber lassen FOTOS: HERBERT NEUBAUER / PICTURE ALLIANCE / DPA (U.); BOILLOT / DAVIDS (O.)
Ausschreitungen anlässlich der sat dieser Proteste. Seite des Zauns befinde. Sie uns 30 Jahre abwarten,
Einweihung des Gebäudes SPIEGEL: Warum? Aber ich bekenne mich nun wie man es dann betrachtet.
Prix: Natürlich ist diese Institu- einmal zu dem vereinten Ich bin jedenfalls stolz.
SPIEGEL: Herr Prix, Sie waren tion kein antikapitalistisches Europa. Für dieses Europa ist SPIEGEL: Vielleicht finden Sie
am vergangenen Mittwoch Instrument, aber ich glaube, das Gebäude ein Symbol. es nicht so schlimm, dass sich
bei der Eröffnung anwesend, dass sie mehr denn je eine SPIEGEL: Ihre scharfkantige viel abspielt um Ihr Gebäude?
die Anlass war für Straßen- enorme Wichtigkeit hat für Architektur war in dieser Wo- Prix: Ich wäre nicht Prix,
kämpfe. Die Protestler setz- den Zusammenhalt Europas. che eher das Sinnbild eines wenn ich das nicht auch
ten Reifen und Polizeiautos Die Proteste sind eher als zornigen Europas. schätzen würde.
in Brand, es gab Verletzte auf Attacken auf die reichen euro- Prix: Das mag sein, aber es ist SPIEGEL: Sie haben 1970 im
beiden Seiten. Wie haben die- päischen Staaten gemeint. kein Zufall, dass heute viele Rahmen einer Kunstaktion
se Szenen auf Sie gewirkt? SPIEGEL: Sie gelten als Rebell – Gebäude an alte Wehrtürme sogar Sprengsätze gezündet.
Prix: Vom Gebäude aus konnte als jemand, der mal sagte, erinnern. Fensterschlitze, dicke Prix: Die Herzschläge unseres
ich natürlich keine Kämpfe se- Architektur müsse brennen. Wände, hinter denen sich die Teams sorgten dafür, dass in
hen. Erkennen konnte ich nur Prix: Architektur soll sich ins Menschen regelrecht verschan- der Landschaft 60 Sprengsät-
das große Aufgebot der Poli- Gedächtnis einbrennen, das zen. Die Gesellschaft reagiert, ze gezündet wurden – ein
zei, es schien fast so, als wäre meinte ich damals, 1968. wohl aus Angst, regressiv auf poetisches Statement. uk

126 DER SPIEGEL 13 / 2015


Kultur
Hollywood lich 160 Menschen. 2013 wur- Claudia Voigt Mein Leben als Frau
Sniper-Hype
Clint Eastwoods Scharfschüt-
de er in Texas von einem
anderen Veteranen ermordet.
Der Film sorgte bei seinem
Synthetische Probleme
zenepos „American Sniper“ Start in den USA für eine Bei dem Wort Lebensentwurf
hat mehr als 500 Millionen Kontroverse. Einige Kritiker muss ich immer an einen
Dollar eingespielt und ist nun warfen ihm Kriegsverherr- Schnittmusterbogen denken.
der erfolgreichste Kriegsfilm lichung vor, andere lobten Als ob man sein Leben ent-
aller Zeiten. Der Film beruht seinen Realismus. Nun zeigt werfen könnte wie ein Kleid
auf der Autobiografie von sich, dass der Erfolg keines- mit Trompetenärmeln und
Chris Kyle, einem ehemali- wegs auf die USA beschränkt einem glockigen Saum. Ich
gen Mitglied der Spezialein- ist. Auch in Ländern wie Ita- habe da Zweifel. Über mein
heit Navy Seals. Zwischen lien ist der Film über den Leben kann ich sagen, dass
2003 und 2009 erschoss Kyle von Bradley Cooper gespiel- es – um im Bild zu bleiben –
bei Einsätzen im Irak angeb- ten Schützen, der süchtig etwas schief zusammenge-
nach dem Krieg wird und sich näht wurde.
im Zivilleben irgendwann Fast zehn Jahre lang war ich eine alleinerziehende Mut-
fremd fühlt, ein Blockbuster, ter, das hatte ich so eher nicht geplant. Hinzu kam, dass
in Deutschland sahen ihn ich mir als berufstätige, weiße, heterosexuelle Mittel-
schon über 900 000 Zuschau- schichtsfrau erstaunt die Augen rieb, als ich feststellte, dass
er. Hollywood plant weitere um mich herum fast ausschließlich weiße, heterosexuelle
Sniper-Filme wie Michael Mittelschichtsmänner Karriere machten. Darüber habe ich
Bays „13 Hours“ über einen einige Artikel geschrieben. Nun befinde ich mich in einer
Einsatz von US-Einheiten Schublade mit lauter Etiketten, die manche junge Feminis-
in Libyen. Möglicherweise tinnen ablehnen. Das geht in Ordnung. Ich will nur sagen,
gibt es sogar eine Fortset- nicht alles im Leben folgt einem selbstbestimmten Plan.
zung. Im Mai erscheinen die Der Musiker Elton John hat mit seinem Partner David
Memoiren von Kyles Frau: Furnish zwei Söhne, die von einer Leihmutter zur Welt
Cooper in „American Sniper“ „American Wife“. lob gebracht wurden. Obwohl zwei schwule Männer mit-
einander keine Kinder zeugen können, war der Kinder-
wunsch von John und Furnish offensichtlich so groß,
dass sie eine Familie gründen wollten.
Gurlitt zeichnete Vertrag muss jetzt In einem Interview hat der ebenfalls schwule italienische
Endlich Rückgabe noch dem Nachlassgericht in Modedesigner Domenico Dolce nun gesagt, eine Familie
München vorgelegt werden. sollte aus Vater, Mutter, Kind bestehen. Kinder, die durch
Der ersten Übergabe eines Grund hierfür: Um den Be- künstliche Befruchtung gezeugt wurden, bezeichnete
Bilds aus dem Nachlass des sitz des 2014 verstorbenen er als „synthetisch“. Der Designer ist die eine Hälfte des
NS-Kunsthändler-Sohns Cor- Gurlitt konkurrieren dessen Duos Dolce & Gabbana, und das hat seit Erscheinen des
nelius Gurlitt an die Erben Cousine als gesetzliche Erbin Interviews ein Problem: Elton John rief zum Boykott
des einstigen jüdischen Eigen- sowie das Kunstmuseum der Marke auf. Dolce & Gabbana existiert aber nur, weil
tümers steht nichts mehr im Bern als testamentarischer es Kunden mit dem Geschmack von Elton John gibt.
Weg. Kulturstaatsministerin Erbe. Beide Parteien hatten Auf Instagram schrieb der Musiker: „Was nehmt ihr
Monika Grütters (CDU) hat sich aber stets für die zügige euch heraus, meine wunderbaren Kinder als ,synthetisch‘
FOTO: KEITH BERNSTEIN / WARNER BROS. (O.); ILLUSTRATION: PETRA DUFKOVA / DIE ILLUSTRATOREN / DER SPIEGEL

die erste Restitutionsverein- Rückgabe von Raubkunst zu bezeichnen?“ Warum, habe ich mich gefragt, regt sich
barung unterzeichnet. Der ausgesprochen, mit beiden Elton John so auf? Warum fühlt er sich von Äußerungen
Vertrag betrifft das Max-Lie- wurde der Vertrag abge- angesprochen, die nicht auf ihn persönlich zielten?
bermann-Gemälde „Zwei stimmt. Auch die baldige In den vergangenen 50 Jahren haben sich die Möglich-
Reiter am Strand“. Grütters Rückgabe eines Ölgemäldes keiten, das eigene Leben in aller Offenheit so zu leben,
sagt, sie sei „heilfroh, dass von Henri Matisse an die wie man es für richtig hält, in der westlichen Welt drama-
dies nun gelungen ist“. Bei Nachkommen des Kunsthänd- tisch erweitert. Dafür haben viele Schwule gekämpft. Und
solchen Rückführungen gehe lers Paul Rosenberg zeichnet auch viele Frauen. Es gibt heute zahlreiche Optionen.
es weniger um materielle sich ab. uk Doch aus der psychologischen Forschung ist das „Para-
Werte, sondern vor dox der Wahlmöglichkeiten“ bekannt. Wählen zu müssen
allem um „die An- bedeutet Stress, und je mehr Möglichkeiten es gibt, desto
erkennung der Op- weniger glücklich ist man mit der einmal getroffenen
ferbiografien“. In Entscheidung. Sie muss dem Vergleich standhalten mit
diesem Fall gehört allem, was man nicht hat. So hat die erkämpfte Freiheit
zu den Anspruchs- zu einem unguten Gegeneinander der Lebensentwürfe
berechtigen der geführt: Karrierefrauen gegen Hausfrauen gegen berufs-
New Yorker Jurist tätige Mütter gegen junge Feministinnen; Schwule mit
und Holocaust- Kindern gegen Schwule ohne Kinder. Vielleicht könnten
Überlebende Da- wir zur Abwechslung mal damit aufhören, das Leben
vid Toren, 89, er ist der anderen zu bewerten. Und uns eingestehen, dass sich
der Großneffe des manches im Leben einfach ergibt.
früheren Eigen-
tümers. Der unter- Liebermann-Bild „Zwei Reiter am Strand“, 1901 An dieser Stelle schreiben Claudia Voigt und Elke Schmitter im Wechsel.

DER SPIEGEL 13 / 2015 127


Autorin Hirsi Ali

Botschaft vom Scheiterhaufen


Religionen Ayaan Hirsi Ali ist die meistgehasste Islamkritikerin der westlichen Welt.
Sie nannte Mohammed einen „perversen Mann“ und „Tyrannen“. Nun will sie den Islam
reformieren. Aber warum sollte das funktionieren? Von Georg Diez

128 DER SPIEGEL 13 / 2015


Kultur

A
yaan Hirsi Ali hat sich etwas ver- Sohn marokkanischer Einwanderer, ver- Aber so viel ist sicher: Der Mord an
spätet. Ihre Assistentin schickt eine suchte, ihm mit einem großen Messer den Theo van Gogh war ein Schock. Er war,
Mail, dass sie noch im Verkehr fest- Kopf abzuschneiden, dann rammte er ihm wie der 11. September 2001 und wie der
steckt. Einer ihrer zwei Bodyguards sagt, ein kleineres Messer in die Brust, um sei- Irak-Krieg 2003, das Ende von etwas: von
dass sie gleich da sein wird. Aber 15 Minu- nen Brief an Hirsi Ali zu befestigen. der Vorstellung einer liberalen oder neo-
ten Verspätung sind schon okay, wenn man Die Niederlande würden zerstört wer- liberalen westlichen Siegerwelt, die alle
zwei, drei oder mehr Todesdrohungen ge- den, schrieb er in diesem Brief, Europa mögen und zu der alle gehören wollen.
gen sich hat und wohl die meistgehasste würde zerstört werden, die Vereinigten Und er war der Anfang von etwas: von
Islamkritikerin der westlichen Welt ist. Staaten würden fallen. Und: „O Hirsi Ali, einer unübersichtlichen neuen Weltunord-
Die zwei Bodyguards sind vorgefahren, auch du wirst zugrunde gehen.“ nung, in der es auch darum ging, den mo-
um sich den Ort des Interviews anzuschau- Van Gogh und Hirsi Ali hatten sich mehr ralischen Kompass neu zu justieren – wo-
en. Die Bar des Ritz-Carlton, in der Nähe als ein Jahr zuvor bei einem Abendessen für stehe ich, was will ich, wofür bin ich
des großen öffentlichen Parks von Boston, kennengelernt. Sie erkannten sich als Frei- bereit zu kämpfen?
des Common. Sie sind schon älter, nicht geister, mutig, fast rücksichtslos gegen sich „Damals nannte man mich alarmistisch“,
unfreundlich, aber auch nicht sonderlich und gegen andere. sagt Ayaan Hirsi Ali im Ritz-Carlton in
gesprächig. Einer von ihnen war 30 Jahre Theo van Gogh hatte Mohammed einen Boston. „Heute passiert genau das, wovon
lang in der israelischen Armee. Der andere „Vergewaltiger“ und einen „dunklen On- ich damals gesprochen habe.“
schaut skeptisch.
Der dritte Bodyguard kommt mit Hirsi
Ali. Sie hat eine schwarze Hose an und ei-
„Der Westen“, sagt sie, „ist von Selbstzweifeln zerfressen,
nen schwarzen Blazer, hochhackige Schu- und wir werden das bereuen.“
he, silberne Ohrringe. Sie hat einen festen
Händedruck. Sie ist 45 Jahre alt. Ihre kel“ genannt, er machte auch Scherze über Sie meint: „Islamischer Staat“. „Charlie
Schönheit und ihr Lächeln wurden schon den jüdischen Schriftsteller Leon de Win- Hebdo“. Antisemitismus. Boko Haram.
öfter beschrieben. ter, der sich, so van Goghs Fantasie, beim Die Angst des Westens vor einem Islam,
„Sorry“, sagt sie, „dass ich zu spät bin.“ Sex Stacheldraht um den Schwanz wickelt der seine Werte unterläuft. Das ist das Jahr
Sie ist freundlich und gelassen. Sie und „Auschwitz, Auschwitz“ ruft; die Is- 2015, und was heute passiert, hat viel damit
spricht von ihrem neuen Buch, das von ih- lamisten nannte er „Ziegenficker“. zu tun, was 2003, 2004 geschah.
rer Hoffnung auf eine „islamische Refor- Gemeinsam hatten van Gogh und Hirsi Im Leben von Ayaan Hirsi Ali hat sich
mation“ handelt. Sie sei da sehr optimis- Ali den zehnminütigen Kurzfilm „Submis- viel getan in dieser Zeit. Sie hat den fast
tisch, sagt sie. Sie wirkt nicht wie eine Frau, sion Part 1“ gedreht, sie hatte das Dreh- genauso berühmten britischen Historiker
die gejagt wird, seit sie am 12. September buch geschrieben, er hatte Regie geführt. und Bestsellerautor Niall Ferguson gehei-
2002, nach dem Jahrestag der Anschläge Der Film beginnt mit einem halb nackten, ratet, sie ist jetzt Mutter, ihr Sohn Thomas
von Washington und New York, bei einer von einem Schleier kaum verhüllten Frau- wird in diesem Jahr vier. Es gibt glamou-
Diskussion im holländischen Fernsehen er- enkörper, auf den die ersten Verse des Ko- röse Bilder von diesem Power-Paar der
klärte, dass sie den Glauben verloren habe. ran projiziert sind. Es geht in diesem Film Neocons, der Neokonservativen, mit einer
„Dann sind Sie keine Muslimin mehr“, rief um das Lebensthema von Hirsi Ali: um gemeinsamen Mission: Dass der Westen
einer der muslimischen Männer, mit denen die Würde und Freiheit der Frau im Islam. herrschen muss, das sei „die Aufgabe des
sie diskutieren sollte. „Sie sagen, dass der „Es ist doch seltsam, dass ich noch keine weißen Mannes“, wie sie sagt.
Islam rückschrittlich ist! Sie lügen!“ muslimische Frau getroffen habe, die sich „Der Westen ist von Selbstzweifeln zer-
„Es ist auch meine Religion“, sagte Hirsi für deine Emanzipationsbemühungen be- fressen“, sagt Hirsi Ali, „und wir werden
Ali, ohne ihre Ruhe zu verlieren. „Und dankt hätte“, schrieb später eine Freundin das bereuen. Wir hatten einen großen Ein-
wenn ich sie rückschrittlich nennen will, Theo van Goghs in einem offenen Brief fluss in der Welt. Wir haben unsere Ideen
dann tue ich das. Ja, der Islam ist rück- an Hirsi Ali. „Ich habe gehört, dass viele exportiert, Freiheit, Gleichheit, Menschen-
schrittlich.“ zufrieden sind mit dem Ritualmord an rechte. Warum tun wir das nicht mehr? Es
Sieben Tage später meldete die Zeitung Theo. Du hast dem radikalen Islam einen war zum Wohl der Menschen. Heute aber
„De Volkskrant“, dass Ayaan Hirsi Ali, die großen Dienst erwiesen, Ayaan, du kannst gibt es einen lächerlichen Relativismus.
manche damals den „holländischen Sal- stolz sein.“ Heute ist es fast blasphemisch, wenn man
man Rushdie“ nannten und manche „den Hat sie die Dynamik von Angst und Ver- überhaupt von westlichen Werten spricht.“
schwarzen Voltaire“, untergetaucht sei. dacht, von Terror und Vergeltung noch an- Auf diesem „Schlachtfeld der Ideen“
Sie wurde schon damals gehasst, und es geheizt durch das, was sie tat und sprach? müsse der Westen gegen den politischen
wurde nicht besser, als sie im Januar 2003 War sie eine Kriegshetzerin, wie manche Islam gewinnen: nicht durch militärische
Mohammed einen „perversen Mann“ meinen, eine Predigerin des Hasses? Konfrontation, sagt sie, obwohl sie den
nannte, einen „Tyrannen“, der seinem bes- Oder ist sie eine Heldin der Aufklärung, Irak-Krieg heute noch verteidigt und schon
ten Freund die Tochter wegnimmt, um die weil sie sich für die universalen Menschen- damals die kriegerische Rhetorik lieferte.
Neunjährige dann zu heiraten. rechte eingesetzt hat, für die Freiheit der Es liegt eine gewisse Härte in ihr, wenn
Es wurde auch nicht besser, als sie im Frauen, „die ihren eigenen Körper besit- sie das sagt, selbst wenn sie lächelt, was
April 2003 die Einwanderungspolitik der zen sollten“? Weil sie gegen die Verfolgung sie oft tut. Es ist eine Härte, die auch mit
Niederlande „naiv und feige“ nannte und von Schwulen kämpft? Weil sie sich immer ihrer Biografie zu tun hat.
forderte, dass einige der Grundrechte zeit- auf die Seite des Einzelnen stellt, des Indi- Ihr Vater war ein charismatischer Mann,
FOTO: JASON GROW / DER SPIEGEL

weise eingeschränkt werden sollten, damit viduums gegen den Druck der Gruppe, der der in den Sechzigerjahren böse Satiren
man das Problem des radikalen Islam über- Gemeinschaft, des Clans? schrieb über die somalischen Politiker
haupt lösen könnte. Die Geschichte von Ayaan Hirsi Ali ist seiner Zeit, der in Italien und den USA
Und es wurde wirklich heftig, als am kompliziert. Sie ist so etwas wie ein Pris- studiert hatte und in den Siebzigerjahren
2. November 2004 der Filmemacher Theo ma, durch das man diese Zeit betrachten lange im Gefängnis saß, bis er fliehen
van Gogh mit mehreren Schüssen ermor- kann, und je nachdem, was man sehen will, konnte, erst nach Saudi-Arabien, dann
det wurde – Mohammed Bouyeri, der sieht man, was man sieht. nach Äthiopien, schließlich nach Kenia,
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Kultur

1 3 4

Stationen einer Karriere


1 Hirsi Ali mit späterem Ehemann Ferguson in New York 2005 2 Bei ihrer Vorstellung als Kandidatin der rechtsliberalen Freiheitspartei VVD mit
Geert Wilders 2002 3 Bei ihrem ersten Tag als Parlamentsabgeordnete in Den Haag 2003 4 In afrikanischer Stammestracht 2003

wo auch Ayaan Hirsi Ali aufwuchs, und Auch der Beschluss des Bundesverfas- dass der Islam sich nie ändern werde. Ich
der sich später weigerte, mit ihr zu reden, sungsgerichts wäre für sie so ein Fall, bin Atheistin, und ich glaube immer noch,
weil sie den Islam beleidigt habe. wonach das grundsätzliche Verbot von dass Allah ein absolutistischer, eifersüch-
Hirsi Ali ist ein Mitglied des Clans der Kopftüchern bei Lehrerinnen aufgehoben tiger, gnadenloser Gott ist. Aber auch
Darod, deren Frauen berühmt für ihre werden muss – dieses Beispiel zeigt aber mehr und mehr Moslems erkennen, dass
Schönheit sind: die Models Iman oder Wa- auch, dass die Frage immer wieder neu der Islam als politische Philosophie zu ei-
ris Dirie etwa. Ihr Großvater war einer der verhandelt werden sollte, ob etwa das nem totalitären System wird.“
Kriegsherren der Majerteen, eines Unter- Kopftuch Zeichen der Unterdrückung ist, Es sind vor allem drei Faktoren, die sie
Clans der Darod, eines Kriegerclans. die der Rechtsstaat bekämpfen muss, oder zuversichtlich machen, dass eine islami-

FOTOS: GETTY IMAGES (L.); PETER HILZ / HOLLANDSE HOOGTE / LAIF (M. O.); SERGE LIGTENBERG / HH / VISUM (M. U.); BETTINA FLITNER / LAIF (R.)
Ein wenig spiegelt sich das in ihren eine kulturelle Praxis, die der liberale Staat sche Reformation funktionieren könnte,
Kämpfen, in ihrem Mut, in ihren Urteilen, respektieren muss. Faktoren, die auch für Luthers Reforma-
die manchmal fast mechanisch wirken. Sie „Reformiert euch! Warum der Islam sich tion wichtig waren: eine Medienrevolution,
floh aus einer Religion, die sie einmal für ändern muss“, so heißt ihr Buch auf damals die Druckerpresse, heute das Inter-
die einzige Wahrheit gehalten hatte. Sie Deutsch, auf Englisch trägt es den Titel net; eine urbane, gut ausgebildete, wohl-
floh aus einer Welt, in der jeder Mensch „Heretic“, was etwas subtiler ist und pas- habende Mittelschicht, die aus eigenem
seinen Platz hatte, den niemand verlassen sender, denn die Argumentation von Hirsi Interesse eine freiere Gesellschaft will;
durfte. Sie floh vor einem Denken, das das Ali ist von ihrer eigenen Geschichte ge- Staatsführer wie etwa der ägyptische Prä-
Denken verbot. prägt. „Infidel“ heißt ihre Autobiografie sident Sisi, der ausgerechnet am Neujahrs-
Sie selbst nannte sich einmal in einem aus dem Jahr 2007 auf Englisch, die Un- tag 2015 in der extrem konservativen
Interview einen somalischen „Warlord“, gläubige. „Ich bin eine Nomadin“, nannte Azhar-Universität eine „religiöse Revolu-
der einen Kampf gegen „die Muslime“ sie 2010 das Buch über ihre Emigration tion“ forderte.
führt. Der niederländische Publizist Geert nach Amerika, und jetzt lautet der Titel Hirsi Ali weiß, dass eine Reformation
Mak, der Hirsi Ali zuvor unterstützt hatte, im Englischen „Häretikerin“, das hat den lang und blutig sein wird: Luthers Aufstand
warnte sie dagegen öffentlich in einem Scheiterhaufen, auf dem Johanna von hatte mehr als hundert Jahre Krieg zur Fol-
Artikel vor dem religiösen und ethnischen Orléans landete, schon im Titel. ge. Sie weiß auch, dass es im Islam keine
Hass, den sie schüre. Die Diskussion um Für ihre Verhältnisse ist es aber ein ge- zentrale Gewalt gibt, keinen Adressaten
die Muslime im 21. Jahrhundert erinnere radezu positives Buch, das geprägt ist von also für den reformatorischen Eifer, wie es
ihn, schrieb er, an die Diskussion um die der Erfahrung des Arabischen Frühlings, für Luther der Papst der katholischen Kir-
Juden im 20. Jahrhundert. der für sie ein Zeichen dafür ist, dass der che war: Bei 1,6 Milliarden Muslimen wür-
Für sie war das genau der ausweichende Islam sich von innen heraus verändern de eine Reformation in jedem Land anders
Ton und die naive Argumentation der kann – und sogar schon dabei ist, den Sä- aussehen und anders verlaufen.
westlichen Intellektuellen, die Hirsi Ali kularisierungsschub nachzuholen, der auch „Aber dieser Prozess der Reformation
kritisiert und gegen die sie anschreibt, auch im christlichen Europa nötig war, damit hat bereits begonnen“, sagt sie, „er hat im
in ihrem neuen Buch. Ihre besonderen sich eine Gesellschaft aus den Fängen der Grunde schon mit dem Ende des Osmani-
Gegner sind diese „Kulturrelativisten“, die Religion befreien und zu Freiheit und schen Reichs begonnen: Es geht darum,
sie des „Multikulturalismus“ bezichtigt, Wohlstand finden konnte. dass der Einzelne den Koran als Quelle
den sie für eine Ideologie hält, die die Un- „Ich habe mich geirrt“, sagt sie ohne des Ruhms und der Wahrheit infrage stellt.
terdrückung der Frauen duldet und damit große Geste, aber auch ohne große Reue, Der Koran also nicht als Gottes Wort, son-
fördert. „es war falsch, dass ich noch 2010 meinte, dern als von Menschen geschrieben. Das
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Kultur

ist ein tiefer Wandel. Für die Medina-Mus- Es werden die Frauen sein, sagt Hirsi le Jahre später haben die beiden zusam-
lime ist das nicht hinnehmbar.“ Ali, die diese Reformation voranbringen mengearbeitet. „Wir sind natürlich alle die
Medina-Muslime, so nennt Hirsi Ali die müssen – die muslimischen Männer hat Summe dessen, was wir erlebt haben“,
radikalen Muslime. Medina deswegen, sie aufgegeben: Das macht sie noch nicht sagt sie ausweichend im Interview.
weil Mohammed erst dort, nach seiner Zeit zu einer Feministin im klassischen Sinne, Sie hat in den vergangenen Jahren viele
in Mekka, einen kriegerischen Islam ent- was wiederum dazu führt, dass es genauso Schlachten überlebt, Schlachten, in denen
wickelt habe. Die frommen, nicht fanati- Feministinnen gibt, die sie hassen, wie wel- es auch immer um ihr Privatleben ging. Um
schen Muslime nennt sie Mekka-Muslime. che, die sie bewundern. die Frage beispielsweise, ob sie sich die nie-
Und dann gebe es noch eine dritte Gruppe: Auch in ihrem neuen Buch schreibt sie derländische Staatsbürgerschaft erschlichen
Reformer, Häretiker, die versuchen müss- darüber, wie sie sich selbst vom Islam ent- habe, als sie angab, sie sei vor einer Zwangs-
ten, die fromme Mehrheit auf ihre Seite fernt hat: als strenggläubiges Mädchen in heirat geflohen. Damals zerbrach an die-
zu bringen. „Was wir erleben“, sagt sie, Somalia und in Kenia, das davon über- sem Streit die Regierungskoalition.
„ist ein Kampf um die Herzen und Hirne zeugt war, Salman Rushdie müsse getötet Sie ist weit gekommen: Nomadin, Un-
der normalen Muslime.“ werden für seine „Satanischen Verse“. Vie- gläubige, Häretikerin, vom somalischen

„Wir müssen reformieren“


Dokumentation Ayaan Hirsi Alis Thesen zum Wandel der islamischen Glaubenslehre

I
n den letzten zwanzig Jahren gaben lischer Idioten, die argumentierten, die dendemokraten. Niemand kann in
sich die westlichen Nationen aus Redakteure des Magazins hätten es an Europa ein Interesse daran haben, auf
Angst, kulturell unsensibel oder gar „gesundem Menschenverstand“ fehlen diesem gefährlichen Pfad in die Polari-
rassistisch zu erscheinen, alle Mühe, den lassen, als sie Muslime beleidigten. Und sierung zu rutschen.
Forderungen ihrer muslimischen Bürger die Bluttat habe nichts mit dem Islam Man findet in allen heiligen Schrif-
nach einer Sonderbehandlung entgegen- zu tun. Die Millionen, die mit dem ten, in der Bibel wie im Koran, Stellen,
zukommen. Wir haben muslimische Re- Schild „Je suis Charlie“ auf die Straßen in denen Intoleranz und Ungleichbe-
gierungschefs beschwichtigt, die auf uns gingen, konnte diese Argumentation al- handlung gerechtfertigt werden. Aber
einwirkten, damit wir bei uns die Presse, lerdings nicht beruhigen. im Christentum gab es einen Wandel.
die Geschichtsbücher und Lehrpläne In einer Zeit wie dieser verlieren Be- In dessen Verlauf brachten diejenigen,
zensieren und Universitäten einen Maul- hauptungen, die „Extremisten“ hätten die den Status quo aufrechterhalten
korb anlegen. Wir kamen den Vorsit- mit der „Religion des Friedens“ nichts wollten, einst die gleichen Argumente
zenden islamischer Organisationen in un- zu tun, schlicht ihre Glaubwürdigkeit. vor wie heute Muslime: Sie würden
serer Gesellschaft entgegen, die von Der Feind in diesem Krieg behauptet beleidigt, das neue Denken sei Gottes-
Hochschulen verlangten, Redner wieder genau das Gegenteil. Man nehme zum lästerung. Tatsächlich modernisierten
auszuladen, die sie als „beleidigend“ ge- Beispiel das Buch des Qaida-Funktio- sich das Christentum und das Judentum
genüber Muslimen einstuften. Anstatt närs Abu Musab al-Suri, „Der Aufruf durch wiederholte respektlose Angriffe
mit islamischen Dissidenten den Schulter- zum weltweiten islamischen Wider- auf die Religion. Und diese erfolgten
schluss zu üben, behandelten die west- stand“. Als Feinde des Islam listet Suri ebenso in der Kunst wie in der Wissen-
lichen Regierungen sie als Störenfriede. auf: die Juden, Amerika, Israel, die schaft. Und dafür sorgte auch bissige
Und wir haben Dschihadisten sogar Freimaurer, die Christen, die Hindus, Satire.
finanziell unterstützt wie den Mörder die Apostaten (einschließlich der eta- Die muslimische Reformation wird
Theo van Goghs, der vom niederländi- blierten islamischen Politiker, Funktio- nicht von der Azhar-Universität in
schen Sozialsystem lebte. näre und ihrer Sicherheitsapparate), Kairo ausgehen, sondern viel eher von
Dennoch wage ich zu hoffen, dass die heuchlerische Gelehrte, Bildungssyste- einer rastlosen Kampagne der Bloßstel-
Ereignisse im Januar 2015 zu einem me, Satelliten-TV-Sender, Sport sowie lung religiösen Irrsinns. Wenn ein Mus-
Wendepunkt werden. Nicht, dass das alle Künste und Unterhaltungsstätten. lim sieht, wie jemand dieses Buch liest,
Massaker an den Mitarbeitern von Es wäre geradezu zum Lachen, wenn es und behauptet, dies würde ihn kränken
„Charlie Hebdo“ besonders blutig gewe- nicht so tödlich ernst wäre. und seine religiösen Gefühle verletzen,
sen wäre. Bei ihrem Angriff auf die von Westliche Politiker, die darauf beste- dann sollte die Antwort lauten: „Was ist
der Armee betriebene Schule im pakista- hen, solch unverhohlene Drohungen zu wichtiger? Deine heilige Schrift? Oder
nischen Peschawar haben die Taliban im ignorieren, gehen zwei Risiken ein. das Leben des Autors dieses Buches?
Dezember 2014 sehr viel mehr Kinder Nicht nur bestärken ihre Worte („Der Deine heilige Schrift? Oder der Rechts-
ermordet. Und deutlich mehr Menschen Islam gehört zu Deutschland“) die Fana- staat? Menschenleben, menschliche
starben in derselben Woche bei dem An- tiker. Sie schaffen auch ein politisches Freiheit, menschliche Würde: Sie sind
griff von Boko Haram auf Baga in Nige- Vakuum. Schon vor „Charlie Hebdo“ alle wichtiger als jeder heilige Text.“
ria. Eine Rolle spielt vielmehr die Tatsa- gingen Deutsche unter dem Banner der Christen und Juden haben diese Ent-
che, dass die Fanatiker ein Dutzend Pegida in Dresden und anderen deut- wicklung schon hinter sich. Jetzt ist es
Menschen deshalb ermordeten, weil sie schen Städten auf die Straße. In ganz an der Zeit, dass auch die Muslime sie
Karikaturen des Propheten Mohammed Europa mobilisieren populistische hinter sich bringen. In diesem Sinn – in-
gezeichnet und veröffentlicht hatten. Parteien immer mehr Wähler gegen Zu- sofern ich leidenschaftlich an die welt-
Natürlich folgten die üblichen feigen wanderung und den Islam, vom Front verändernde Kraft respektloser Angriffe
Leitartikel und Presseerklärungen mora- national in Frankreich bis zu den Schwe- auf angeblich unantastbare Dinge glau-

132 DER SPIEGEL 13 / 2015


Flüchtling zur niederländischen Parlamen- weit verbreitet“, schreibt sie etwa, „dass Dass der Islam sich verändert, das haben
tarierin zur Dozentin in Harvard. Sie hat, sie in der islamischen Welt auf fast univer- auch andere beschrieben, etwa der fran-
so scheint es, sich immer nur auf sich selbst selle Akzeptanz stößt.“ zösische Historiker Emmanuel Todd, der
verlassen. Manche sagen, sie sei dabei op- Ayaan Hirsi Ali ist eine Frau mit vie- im islamistischen Terror eine Art Rück-
portunistisch gewesen, manche bewundern len Feinden, mit vielen mächtigen und zugsgefecht sieht vor den unausweich-
sie gerade für ihre Durchsetzungskraft, für auch vielen oft falschen Freunden: lichen Konsequenzen, die die Moderne für
ihren Mut. Der Film „Submission“ etwa wurde auf islamisch geprägte Gesellschaften hat.
Die Frage bleibt, für wen sie schreibt, YouTube von dem Benutzer „Liberty- Ayaan Hirsi Ali, so wirkt es, hatte ihre
wer ihr Publikum ist, wer dieses Buch le- OfSpeech“ eingestellt und mehr als Zeit, hatte ihre Aufmerksamkeit; das war
sen wird: Es sind wohl eher die westlichen 200 000-mal angesehen, er wurde aber vor mehr als zehn Jahren.
Eliten, die sie damit erreicht, und weniger auch von einem wohl eher rechtsextremen Sie muss los. Ihr Bodyguard begleitet
die Frauen in den muslimischen Ländern, Benutzer mit dem Namen „aryanpower14“ sie nach draußen. „Sorry“, sagt sie noch
die sie mit pauschalen Sätzen eher ver- eingestellt und mehr als 400 000-mal einmal und streckt die Hand aus, „sorry,
schrecken wird: „Heute ist die Scharia so angesehen. dass ich zu spät war.“ 

Schule in Peschawar nach Taliban-Massaker, „Charlie Hebdo“-Attentäter in Paris, Boko-Haram-Terroristen in Nigeria: „Auch ich bin Charlie“

be – bin auch ich Charlie. Und doch deutlich machen, dass unser Tun in die- und repressiven Gesellschaften in der
müssen wir mehr tun, als nur irregeleite- sem Leben wichtiger ist als alles, was Falle. Wird sich die Reformation des
te Formen der Religiosität zu brandmar- mit uns möglicherweise geschieht, Islam weithin ausbreiten oder ein loka-
ken. Wir müssen reformieren. wenn wir gestorben sind. Sie müssen les Ereignis bleiben? (Der Protestantis-
Ich weiß, dass jeder, der eine Reform deutlich machen, dass das Scharia- mus setzte sich auch nicht in der gesam-
des Islam vertritt, ein Risiko eingeht. Recht eine begrenzte Rolle besetzt und ten Christenheit durch.) Wird die mus-
Ich möchte folglich unmissverständlich klar den Gesetzen der Staaten unterzu- limische Reformation wie einst ihre
klarmachen: Ich will keinen Krieg, ganz ordnen ist, in denen Muslime leben. Sie christliche Vorläuferin Religionskriege
im Gegenteil. Ich rede ausdrücklich ei- müssen den Praktiken ein Ende setzen, heraufbeschwören, bevor ihre heil-
ner friedlichen Reform das Wort: einer bei denen indirekt Zwang ausgeübt samen Wirkungen spürbar werden?
kulturellen Kampagne, die auf einen wird. Und sie müssen sich vom Kon- Die Antworten auf diese Fragen hän-
Wandel der Glaubenslehre zielt. zept des wörtlichen Aufrufs zum be- gen vor allem von den Muslimen und
Es gibt fünf grundlegende Konzepte waffneten Kampf gegen Nicht-Muslime ihren Entscheidungen ab. Aber bis zu
im Islam, die mit der Moderne unverein- und jene Muslime, die sie zu Apostaten einem gewissen Maß spielen auch Ent-
bar sind: oder Häretikern erklären, vollständig scheidungen im Westen eine Rolle.
‣ der Status des Koran als das letztgülti- distanzieren. Unterstützen wir die Reformation? Oder
ge und unveränderliche Wort Gottes Von dieser Reformation würden nicht unterminieren wir sie unbeabsichtigt?
und die Unfehlbarkeit Mohammeds nur Frauen, Homosexuelle und religiöse Für all jene, die immer noch unsicher
als des letzten göttlich inspirierten Minderheiten profitieren. Ich glaube, sie sind, wie sie auf die Worte eines Ket-
Gesandten; liegt auch im Interesse des Islam. Auch zers reagieren sollen, führe ich Voltaire
‣ die Betonung des Jenseits gegenüber eine Institution, die höchste Verehrung ins Feld, den freiesten der Freidenker.
dem Hier und Jetzt im Islam; genießt, braucht Erneuerung, um den „Ich verachte Ihre Meinung“, soll er
‣ der Anspruch der Scharia als ein um- Zusammenbruch zu vermeiden. Restau- Claude Helvétius geschrieben haben,
fassendes Rechtssystem, welches ration ist für den Islam keine plausible „aber ich gäbe mein Leben dafür, dass
FOTOS: BASIT GILANI / DPA (L.); ABACA (M.); AFP (R.)

das spirituelle wie das weltliche Reich Option mehr, egal wie viel Blut Islamis- Sie sie sagen dürfen.“
beherrscht; ten vergießen. Tatsächlich wird das Risi- Die Morgendämmerung einer mus-
‣ die Verpflichtung des gewöhnlichen ko, dass ihnen das ganze System über limischen Reform ist der richtige Augen-
Muslims, das Rechte zu gebieten dem Kopf zusammenstürzt, desto grö- blick, um uns daran zu erinnern, dass
und das Verwerfliche zu verbieten; ßer, je gewalttätiger sie auftreten. das Recht, frei und ohne Furcht denken,
‣ das Konzept des Dschihad, des Im letzten Jahrzehnt starben Tausen- reden und schreiben zu können, etwas
„heiligen Krieges“. de Unschuldige in einem eskalierenden Heiligeres ist als jede Religion.
Muslimische Geistliche müssen aner- Krieg, den Sekten über die Grenzen tru-
kennen, dass der Koran nicht der letzt- gen. Zig Millionen unbeteiligter Männer, Auszüge aus: Ayaan Hirsi Ali: „Reformiert euch!
Warum der Islam sich ändern muss“. Knaus
gültige Quell der offenbarten Wahrheit, Frauen und Kinder sitzen in gescheiter- Verlag, München; 304 Seiten; 19,99 Euro. Ab 1. April
sondern nur ein Buch ist. Sie müssen ten Staaten, stagnierenden Wirtschaften im Buchhandel.

DER SPIEGEL 13 / 2015 133


Szene aus MDR-Produktion „Nackt unter Wölfen“

Buchenwald-Überlebende Apitz, Stefan Jerzy Zweig 1964, Szene aus DDR-Film „Nackt unter Wölfen“ 1962: Tapfere Antifaschisten besiegen Nazi-Schergen

Das Kind im Koffer


Fernsehen Mit einer Neuverfilmung des DDR-Bestsellers „Nackt unter Wölfen“ erinnert die ARD
an die Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald vor 70 Jahren. Die Geschichte wird
ideologisch entrümpelt, aber die ganze Wahrheit wird noch immer nicht erzählt. Von Martin Doerry

A
m 11. April 1945 überfliegen ame- Unter den Gefangenen aus den Reihen Mann, der sich ihnen in den Weg stellt.
rikanische Artillerie-Aufklärer das des kommunistischen Untergrunds gibt es Schließlich kommen aus der Lautsprecher-
Konzentrationslager Buchenwald, nun kein Halten mehr. Hunderte stürmen anlage des KZs die erlösenden Worte eines
in der Ferne sind Panzermotoren zu hö- aus ihren Baracken auf das Tor und die Häftlings: „Wir sind frei!“ Jubel bricht aus,
ren. Unter den SS-Leuten bricht Panik Wachtürme des KZs zu. Mit Gewehren glücklich fallen sich die ausgemergelten
aus. Einige flüchten, andere wollen noch und Handgranaten, die sie für diesen Tag Gestalten in die Arme.
schnell sämtliche Häftlinge des Lagers versteckt haben, überwältigen die Kämp- Mit diesen triumphierenden Bildern
erschießen. fer ihre Bewacher, sie töten jeden SS- endet einer der bekanntesten DDR-Filme,
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Kultur

„Nackt unter Wölfen“, 1962 von Frank hener Wissenschaftler wie Julius H. Schoeps die die moralische Integrität seiner Mithäft-
Beyer gedreht, nach der Vorlage des gleich- oder David A. Hackett geholt. linge beweisen sollte: Ein Transport aus
namigen Buchs von Bruno Apitz, des mit In Buchenwald waren zwischen 1937 Auschwitz bringt im Frühjahr 1945 einen
etwa zwei Millionen verkauften Exempla- und 1945 etwa 250 000 Menschen inhaftiert, dreijährigen jüdischen Jungen nach Bu-
ren populärsten Romans der DDR. „Nackt die meisten mussten in den umliegenden chenwald. Das Kind ist in einem Koffer
unter Wölfen“ schuf so etwas wie den Fabriken und Steinbrüchen arbeiten; etwa versteckt und wird sogleich, ohne dass es
Gründungsmythos des einzigen sozialis- 56 000 wurden umgebracht, darunter fast die Nazis mitbekommen, von den kommu-
tischen Staates auf deutschem Boden: Tap- 12 000 Juden und Tausende russische nistischen Kapos in ihre Obhut übernom-
fere Antifaschisten besiegen die Nazi- Kriegsgefangene. Am Tag der Befreiung men. Die Männer versorgen den Jungen,
Schergen und machen den Weg frei für lebten noch 21 000 Häftlinge im Lager, un- sie spielen mit ihm, aber, so entscheidet
eine gerechte Gesellschaft. ter ihnen auch Bruno Apitz, der Autor von der Führer des militärischen Widerstands,
Jetzt, 53 Jahre danach, wird das Lager „Nackt unter Wölfen“. sie dürfen ihn nicht behalten. Der Junge
auf dem Ettersberg bei Weimar ein weite- Apitz (1900 bis 1979) hatte allerdings soll mit dem nächsten Transport in ein an-
res Mal im Film befreit. Regisseur Philipp die letzten Tage in einem Versteck in der deres Lager abgeschoben werden, um den
Kadelbach und Drehbuchautor Stefan Kol- Kanalisation verbracht und die Flucht der geplanten Aufstand gegen die Nazis nicht
ditz haben „Nackt unter Wölfen“ mit ei- Nazis gar nicht mitbekommen. Als er zu gefährden – das Todesurteil für das Kind.
nem Fünf-Millionen-Etat für den MDR Nun kommt es zur großen Katharsis. Zu-
und das Hauptabendprogramm der ARD
in Szene gesetzt*. Wieder brechen wenige
Die Häftlinge zahlen einen erst wehrt sich ein Häftling, dann sind es
zwei, dann drei: Keiner will den Jungen
Wochen vor Kriegsende Chaos und Hektik hohen Preis für ihre herausrücken. Wenn wir das Kind opfern,
unter den Bewachern von Buchenwald aus, Menschlichkeit, sie werden so sagt schließlich einer der Männer, op-
wieder holen die Häftlinge ihre Waffen fern wir alles. Mit anderen Worten: Eine
aus den Verstecken in den Baracken, wie- wochenlang gefoltert. Revolution darf ihre eigenen Maßstäbe
der wollen sie auf die Wachposten losstür- nicht verraten.
men. Doch ihre Anführer sind klug genug, schließlich nach oben kletterte, so berich- Manche Kritiker haben in der Darstel-
um den Aufstand im letzten Moment ab- tet die Historikerin Susanne Hantke, sei lung dieses Widerstands gegen den Aus-
zublasen: Es fehlt an Gewehren und Mu- der Spuk schon vorbei gewesen. lieferungsbefehl später einen stillen Protest
nition, um es mit mehr als tausend SS-Leu- Apitz zählte zum Umfeld, aber nicht zur gegen den Kadavergehorsam des Stalinis-
ten aufzunehmen. Führung des gut organisierten kommunis- mus gesehen. Doch Apitz war ein Idealist
Stattdessen kommt wenig später aus den tischen Widerstands in Buchenwald. Die und glaubte noch an die Versöhnung von
Lautsprechern die Stimme eines SS-Offi- SS hatte die Organisation des Lageralltags Parteidisziplin und Humanität.
ziers: „Das Lager wird aufgegeben, wir in die Hände einer Selbstverwaltung der Er lässt die Häftlinge allerdings einen
treten den Rückzug an.“ Die Bewacher Häftlinge gelegt, die seit 1943 von den Ka- hohen Preis für ihre Menschlichkeit zahlen,
machen sich also aus dem Staub, aus Angst dern eines geheimen „Internationalen La- denn die Nazis erfahren natürlich, dass
vor den anrückenden Amerikanern stür- gerkomitees“ unterwandert war. Die mehr ein kleiner Junge versteckt worden ist.
zen sie in ihre Autos oder verschwinden als 200 Kapos verfügten über erhebliche Die Männer werden wochenlang gefoltert,
zu Fuß in den Wäldern. Die plötzlich von Privilegien, waren ordentlich gekleidet doch niemand verrät das Kind und die Na-
ihren Peinigern verlassenen Gefangenen und ausreichend ernährt. Und sie wurden men der Mitglieder des kommunistischen
stolpern verwirrt und erschöpft über den zuweilen zu Herren über Leben und Tod, Widerstands. Wer so standhaft ist, der siegt
Appellplatz des Lagers. Kein Jubel, kein etwa wenn sie die Namen von Genossen militärisch und moralisch zugleich.
Siegesrausch. aus den Listen jener Häftlinge streichen Mit einer solchen Botschaft konnte das
Eine nicht ganz so heldenhafte, aber da- durften, die nach Auschwitz oder Bergen- Ulbricht-Regime in Ostberlin gut leben,
für eine wahre Geschichte. Der ideologisch Belsen deportiert werden sollten. zumal die Konkurrenten aus Buchenwald
imprägnierte Schluss dieses Romans, der Der ehemalige Buchenwald-Häftling Jor- bei Erscheinen des Buchs 1958 längst aus-
Generationen von DDR-Bürgern als Schul- ge Semprún hat die Kollaboration stets gebootet waren. Apitz’ Buch wurde in der
lektüre verordnet wurde, war weitgehend verteidigt. Nur so habe man die Schlüssel- DDR sofort zum Bestseller und der Autor
FOTOS: MDR / UFA FICTION / EPD (O.); ULLSTEIN BILD (U. L.); DEFA / DT. FILMINSTITUT, FRANKFURT (U. R.)

erfunden. Historisch Interessierte wissen stellungen in der Lagerhierarchie einneh- bald mit Ehrungen überhäuft. Auch die
das schon lange, nun aber wird die für men und damit zum Beispiel die „Verlang- Verfilmung durch Frank Beyer 1962, mit
DDR-Nostalgiker bittere Kunde bis in die samung und, punktuell, die Sabotage der Stars wie Armin Mueller-Stahl oder Erwin
letzten Wohnzimmer zwischen Chemnitz Rüstungsproduktion“ organisieren können. Geschonneck, mehrte den Ruhm von
und Rostock ausgestrahlt. Dennoch wurde die Verstrickung der „Nackt unter Wölfen“.
Ufa-Produzent Nico Hofmann, der mit „roten Kapos“ in das Terrorsystem der SS Beyer hatte ganz bewusst in Schwarz-
dem Team Kadelbach/Kolditz bereits die schon kurz nach Kriegsende zum Politi- Weiß und mit eher leisen Tönen gedreht,
erfolgreiche Trilogie „Unsere Mütter, un- kum. Die Moskauer Exilkommunisten um der psychologisch so spannende Konflikt
sere Väter“ gedreht hat, spricht von einer Walter Ulbricht sahen in den durch die um das Schicksal des kleinen Jungen
notwendigen Korrektur. Um die „in Jahr- Lagerhaft gestählten Genossen vor allem nimmt große Teile der Filmhandlung ein,
zehnten gepflegte Legendenbildung“ zu Rivalen um die Macht in Ostberlin und der brutale Alltag des Lagers findet nur in
konterkarieren, weiche sein Film im ent- desavouierten sie nach Kräften. Mit einer Andeutungen statt, richtig Krawall gibt es
scheidenden Moment von der literarischen Reihe von Parteitribunalen wurden die in der Defa-Produktion erst am Schluss,
Vorlage und der ersten Verfilmung ab. Hof- Exhäftlinge aus dem Weg geräumt, zwei bei der Befreiung.
mann hat sich dafür den Beistand angese- landeten sogar im Gulag. Das Team um TV-Regisseur Philipp Ka-
Als sich Bruno Apitz Mitte der Fünfzi- delbach wählt für seinen neuen Film dage-
* Sendetermin: 1. April, 20.15 Uhr, Das Erste. Im An- gerjahre an die Niederschrift von „Nackt gen von Anfang an die laute Variante.
schluss um 22 Uhr die Dokumentation „Buchenwald. unter Wölfen“ machte, ging es ihm auch Schon in der ersten Szene, bei der Ankunft
Heldenmythos und Lagerwirklichkeit“. 2012 erschien im um eine Ehrenrettung der Leidensgefähr- der Protagonisten in Buchenwald, wird fast
Aufbau Verlag eine erweiterte Neuausgabe des Romans
„Nackt unter Wölfen“ von Bruno Apitz mit einem Nach- ten aus Buchenwald. Und zu diesem Zweck ununterbrochen geschrien. „Ihr seid ehrlos,
wort von Susanne Hantke. entwickelte er eine anrührende Geschichte, wehrlos, rechtlos“, brüllt ein SS-Mann die
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Nicht im Frühjahr 1945, sondern schon
im August 1944 traf der dreijährige Stefan
Jerzy Zweig zusammen mit 2000 weiteren
jüdischen Häftlingen in Buchenwald ein –
so hat es der britische Historiker Bill Niven
vor einigen Jahren herausgefunden. Das
Erscheinen des Jungen, barfuß und an der
Hand seines Vaters, des Anwalts Zacharias
Zweig, löste demnach unter den SS-Leuten
zunächst große Aufregung aus; es gab Kin-
der und Jugendliche im Lager, aber Stefan
war mit Abstand der Jüngste.
Der kleine Junge bekam die Häftlings-
nummer 67509 und wurde für die kommu-
nistischen Kapos zu einer Art Maskottchen.
Die SS freilich wollte den Jungen so
schnell wie möglich wieder loswerden und
nach Auschwitz bringen. Hier nun traten
offenbar die Kapos auf den Plan, sie stri-
chen Stefan von der Liste – und setzten ei-
nen anderen Namen an seine Stelle, den
des 16-jährigen Sinto-Jungen Willy Blum,
der tatsächlich in den Tod geschickt wurde.
Stefan Jerzy Zweig blieb in Buchenwald,
zusammen mit seinem Vater erlebte er die
Befreiung. Ob Bruno Apitz ihm im Lager
überhaupt begegnet war, ist ungewiss. Si-
cher ist hingegen, dass die beiden sich bei
FDJ-Gruppe in der Gedenkstätte Buchenwald um 1980: Bittere Kunde für DDR-Nostalgiker einem von den DDR-Medien arrangierten
Fototermin 1964 im Weimarer Hotel Ele-
neuen Häftlinge an. „Welche Hure hat dich streute, aber intensive Bilder. Die Filmleu- phant getroffen haben. Der inzwischen er-
in die Welt geschissen?“, pöbelt ein ande- te hatten im Umfeld des Drehorts südlich wachsene Stefan war zu diesem Zweck aus
rer. Die Ankömmlinge werden blutig ge- von Prag mit großem Aufwand (und Erfolg) Frankreich angereist; er ließ den ganzen
schlagen und eingeschüchtert. nach Statisten suchen lassen, die besonders Rummel geduldig über sich ergehen, ob-
Seit vielen Jahren hat es kein deutscher mager und ausgehungert aussehen. Aller- wohl er wusste, dass der Roman das ganze
Regisseur mehr gewagt, das Leben und dings hätten sie den Männern während Drama nur in sehr groben Umrissen er-
Sterben in einem Konzentrationslager auf der Filmarbeiten auch die tägliche Rasur zählt. Auch die ARD-Verfilmung von
den Bildschirm oder die Leinwand zu brin- ausreden sollen. Wer nur Scherben oder „Nackt unter Wölfen“ verliert kein Wort
gen. Kadelbach und Co. wollen sich nun stumpfe Klingen besaß, lief in der Regel über das NS-Opfer Willy Blum.
offenkundig nicht vorwerfen lassen, die nicht perfekt rasiert durchs Lager. Wird die Neuverfilmung nun eine große
Verhältnisse in Buchenwald zu verharm- Ehrlicher als der Defa-Film ist die neue Debatte auslösen? Hofmann hofft auf ein
losen. So viel Gewalt sieht man selten im Version immer dann, wenn sie die Hie- ähnliches Echo wie bei der Trilogie „Un-
deutschen Fernsehen. Vor allem die Folter- rarchie der Häftlinge erkennen lässt. sere Mütter, unsere Väter“. Sein Co-Pro-
szenen gegen Ende sind so drastisch gera- Manchmal unterscheiden sich die Kapos duzent Benjamin Benedict rechnet sogar
ten, dass sie auch in einem Splattermovie von ihren Leidensgenossen mehr als von mit einer neuen deutsch-deutschen Debat-
auftauchen können. Immer wieder werden den SS-Leuten, jedenfalls im Habitus. Sie te über Antifaschismus, so jedenfalls zitiert
die beiden Kapos Höfel und Kropinski (ge- stolzieren durch die Baracken, geben ihn das „Neue Deutschland“.
spielt von Peter Schneider und Rafael Sta- strenge Befehle, rauchen lässig ihre Zi- Beachtung fand das Filmprojekt bisher
chowiak) bestialisch gequält, sie wimmern garetten und versammeln sich zu gehei- eher im Osten der Republik. Die „Mittel-
und schreien markerschütternd. Irgendwie men Verschwörertreffen, die merkwürdig deutsche Zeitung“ und die „Super Illu“
so muss er wohl geklungen haben, der spiegelbildlich zu den Sitzungen der SS- berichteten von den Dreharbeiten. Die
Soundtrack des Terrors, ganz genau weiß Offiziere ablaufen. „Sächsische Zeitung“ hat vorsorglich ihre
das natürlich niemand mehr. In einer Szene lässt sich der Lagerälteste Leser gewarnt: „Das Risiko ist groß, dass
Nico Hofmann findet diese Bilder zwar Krämer (Sylvester Groth), also der Chef der MDR mit der Neuverfilmung die Er-
auch schrecklich, aber notwendig. „Die der Häftlingsselbstverwaltung, von einem innerungskultur seiner Zuschauer durch-
Wirklichkeit war noch viel schlimmer“, ar- anderen Häftling einen Knopf an seine einanderwirbelt oder sie vor den Kopf
gumentiert der Produzent. Das ist richtig. Weste annähen; der Mann macht das etwas stößt.“
Aber ist es auch richtig, in einen Grau- ungeschickt und wird von Krämer mit ei- Das westdeutsche Publikum allerdings
samkeitswettbewerb mit der Realität ein- ner herrischen Geste weggestoßen. Immer- muss „Nackt unter Wölfen“ überhaupt erst
zutreten? Zu welcher Erkenntnis soll das hin darf sich der Häftling seinen Lohn, eine mal kennenlernen. Der Roman ist den Le-
verhelfen? Extraportion Essen, noch schnell von ei- sern im Westen bisher weithin unbekannt.
FOTO: EASTBLOCKWORLD.COM

Klüger werden die Zuschauer des neuen nem Teller kratzen.


Films aus ganz anderen Gründen. Kadel- Auf eine Korrektur aber hat das Team
bach zeigt – in Farbe natürlich – das all- um Nico Hofmann verzichtet. Den drei- Video: Der Defa-Hit
tägliche Elend im Lager, Kranke, Hungern- jährigen Jungen gab es zwar wirklich in „Nackt unter Wölfen“
de und Sterbende, die Verzweiflung der Buchenwald, aber seine Geschichte hat spiegel.de/sp132015woelfe
Häftlinge. Das sind eher beiläufig einge- sich ganz anders zugetragen. oder in der App DER SPIEGEL

138 DER SPIEGEL 13 / 2015


Kultur

Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“; nähere


Informationen und Auswahlkriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller

Belletristik Sachbuch

1 (–) Jussi Adler-Olsen 1 (3) Helmut Schmidt


Verheißung Was ich noch sagen wollte
dtv; 19,90 Euro C. H. Beck; 18,95 Euro

Ermittler Carl Mørck befasst 2 (1) Wilhelm Schmid


sich mit dem Jahre zurücklie- Gelassenheit – Was wir gewinnen,
genden Tod einer Frau, wenn wir älter werden Insel; 8 Euro
die kopfüber in einem Baum
hängend gefunden wurde 3 (2) Hape Kerkeling
Der Junge muss an die frische Luft
Piper; 19,99 Euro
2 (1) Martin Suter
Montecristo Diogenes; 23,90 Euro 4 (4) Udo Ulfkotte
Gekaufte Journalisten Kopp; 22,95 Euro
3 (2) Michel Houellebecq
Unterwerfung DuMont Buch; 22,99 Euro 5 (–) Mahtob Mahmoody
Endlich frei Bastei Lübbe; 19,99 Euro
4 (7) Lucinda Riley
Die sieben Schwestern 6 (20) Thilo Bode
Goldmann; 19,99 Euro Die Freihandelslüge DVA; 14,99 Euro

5 (–) Amos Oz 7 (7) The Bodleian Library (Hg.)


Judas Suhrkamp; 22,95 Euro Leitfaden für britische Soldaten in
Deutschland 1944
6 (3) Stephen King Kiepenheuer & Witsch; 8 Euro
Revival Heyne; 22,99 Euro
8 (5) Guido Maria Kretschmer
7 (5) Klaus Modick Eine Bluse macht noch keinen
Konzert ohne Dichter Sommer Edel Books; 17,95 Euro
Kiepenheuer & Witsch; 17,99 Euro 9 (8) Peter Scholl-Latour
Der Fluch der bösen Tat
8 (10) John Grisham Propyläen; 24,99 Euro
Anklage Heyne; 22,99 Euro
10 (9) Alexander von Schönburg
9 (4) Cornelia Funke Smalltalk Rowohlt Berlin; 16 Euro
Reckless – Das goldene Garn
Dressler; 19,99 Euro 11 (12) Heinrich August Winkler
Geschichte des Westens – Die Zeit
10 (6) Kiera Cass der Gegenwart C. H. Beck; 29,95 Euro
Selection – Der Erwählte
Fischer Sauerländer; 16,99 Euro 12 (6) Miriam Gebhardt
Als die Soldaten kamen DVA; 21,99 Euro
11 (–) Jan Weiler
Kühn hat zu tun Kindler; 19,95 Euro
13 (11) Paul Sahner
Merci, Udo! Herder; 16,99 Euro
12 (14) Dörte Hansen 14 (13) Thomas Piketty
Altes Land Knaus; 19,99 Euro
Das Kapital im 21. Jahrhundert
C. H. Beck; 29,95 Euro
13 (17) Milan Kundera
Das Fest der Bedeutungslosigkeit 15 (–) Fritz J. Raddatz
Hanser; 16,90 Euro Jahre mit Ledig
Rowohlt; 16,95 Euro
14 (19) Susanne Fröhlich
Wundertüte Fischer Krüger; 16,99 Euro
Der vor Kurzem verstorbene
15 (–) Sabine Ebert Kritiker und Journalist hinter-
1815 – Blutfrieden Knaur; 24,99 Euro lässt eine Liebeserklärung
an die Sechzigerjahre und sei-
16 (13) Sebastian Fitzek ne Zeit beim Rowohlt Verlag
Passagier 23 Droemer; 19,99 Euro
16 (14) Ferdinand von Schirach
17 (12) Jürgen von der Lippe Die Würde ist antastbar Piper; 16,99 Euro
Beim Dehnen singe ich Balladen
Knaus; 14,99 Euro
17 (–) Naomi Klein
Die Entscheidung S. Fischer; 26,99 Euro
18 (11) John Williams 18 (10) Stefan Klein
Butcher’s Crossing dtv; 21,90 Euro
Träume S. Fischer; 19,99 Euro

19 (9) T. C. Boyle 19 (–) Yvonne Hofstetter


Hart auf hart Hanser; 22,90 Euro Sie wissen alles C. Bertelsmann; 19,99 Euro
20 (8) Cassandra Clare 20 (15) Florian Huber
City of Heavenly Fire – Chroniken der Kind, versprich mir, dass du dich
Unterwelt Arena; 24,99 Euro erschießt Berlin; 22,99 Euro

DER SPIEGEL 13 / 2015 139


Kultur

Das Gen der Volksfeinde


Literatur Ljudmila Ulitzkaja ist eine der bekanntesten Autorinnen Russlands und eine Kritikerin Putins.
Schon ihre Großväter waren Opfer des Stalinismus. Von Elke Schmitter

E
s gibt viele Tote in Ljudmila Ulitz- Feld eine Vertreterin des Common Sense, melsurium geschätzter Dinge des Alltags,
kajas Leben, und viele sind daran zu von lichter Klarheit und weitläufigem von geflochtenen Körben, Bildern der En-
Tode gekommen, dass sie Russen Engagement. Sie besuchte eine Erziehungs- kelkinder und emaillierten Töpfen. Doch
waren. Boris Nemzow bildet das vorläu- kolonie und berichtet über Gefängnisse, Ulitzkaja ist von leiser Konzentration und
fige Ende einer Kette, die mit ihrem Groß- sie erzählt von Begegnungen mit Straßen- im Gespräch von einer Geduld, in der sich
vater Jakow Ulitzki beginnt. Als wir sie kindern, Provinzpolitikern und ihrem Gelassenheit und Vorsatz treffen.
im Februar in ihrer Moskauer Wohnung eigenen angekündigten Tod, einem Mam- Sie arbeitet an einem Buch, in dem es
trafen, gab es den Toten Boris Nemzow in makarzinom. Sie hat sich, einstweilen um das Schicksal ihrer Familie geht, ge-
Ulitzkajas Leben noch nicht. Mit seiner erfolgreich, in Israel behandeln lassen. nauer: um das Leben ihres Großvaters
Ermordung am 27. Februar in direkter In das namhafte Blochin-Spital in Moskau Jakow Ulitzki. Sie hat diesen Mann nur
Nähe des Kreml sei, so sagt sie nun, eine wollte sie nicht gehen. Dort waren schon einmal gesehen – ein Umstand, der ihr das
neue Grenze überschritten – diese Grenze, zwei ihrer Freundinnen gestorben. Die Schreiben erleichtert. Denn das neue Buch
jenseits derer man „ohne jeden Vorbehalt Zustände „in diesem Krebszentrum wa- soll kein historischer Bericht, sondern ein
von politischem Terror sprechen kann“. ren so schlimm, dass es den Patienten Roman werden. Sie müsse sich selbst über-
Ljudmila Ulitzkaja, 72, ist die vermutlich dort noch schlechter ging als ohnehin raschen können, sagt sie. Das Unbewusste
einflussreichste Schriftstellerin des heuti- schon. Gerüchte sprachen von Schmier- und die Fantasie werden die Lücken füllen,
gen Russland. Im Ausland wird sie als eine geld, von Nötigung. Ich habe nichts da- die das Leben gerissen hat.
Autorin geschätzt, deren Erzählungen und gegen, wenn etwas Geld kostet, aber ich Begonnen hat es mit einem Koffer. Als
Romane – leicht zu lesen und von wider- möchte direkt dafür zahlen, nicht auf ihre Großmutter Maria Petrowna Ulitzkaja
standsfähigem Humor – Einblick in das krummen Wegen“. starb, hat sie ihn geerbt; er war voller Pa-
Alltagsleben namentlich russischer Frauen Ljudmila Ulitzkaja ist eine kleine, über- piere, aber leider nicht nur. „Schon nach
geben, denn die Männer machen sich rar. raschend zarte Person. Ihr großer Kopf mit der ersten Nacht hatten sich Wanzen in
Sie sind notorische Schwindler, freundliche dem kurz geschnittenen Haar und einem der Wohnung eingenistet.“ Sie verbannte
Alkoholiker oder in ihr Werk versunkene Gesicht, in dessen Ruhe man spazieren ge- den Koffer auf den Balkon und versuchte,
Künstler. Sie sind auf der Flucht in die Ar- hen kann, lässt auf eine Babuschka schlie- ihn zu vergessen, schließlich vergaß sie ihn
beit, zu anderen Frauen, zu ihren Müttern. ßen, die auch gut in ihre Küche passen wirklich. Als sie ihn nach einem ihrer zahl-
Und sie treten, wie auch in der Wirklich- würde – wie die Küche einer russischen losen Umzüge schließlich wieder in die
keit, früher ab: Die Lebenserwartung rus- Großmutter aus einem sanften Volksmär- Hand bekam, fand sie eine Art Brei aus
sischer Männer liegt derzeit bei 65 Jahren. chen, umgeben von einem gehegten Sam- toten Insekten und zerfressenen Papieren
Die Frauen schlagen sich auf weibliche darin und ein Konvolut, das wanzensicher
Art durch – in Ulitzkajas Werk nicht immer eingewickelt war. Dies Päckchen enthielt
mit einem Lied, aber doch mit einem Wort Notizen ihrer Großmutter und eine Reihe
auf den Lippen. Das verschafft Erleichte- von Briefen – vielleicht, sagt sie heute,
rung zwischen dem letzten und dem nächs- „das Glück meines Lebens“.
ten Problem: Der Geliebte geht fremd, der Der erste Brief war von 1911. Sie nahm
Chef macht Avancen oder der Kollege kei- ihn zur Kenntnis und machte den Koffer
ne, das Kind wird krank oder der Ehemann wieder zu. Vor vier Jahren las sie ihn er-
depressiv. Das Leben aber wird nicht als neut. Das Schriftstück war nun 100 Jahre
Tragödie erzählt, sondern als eine Farce, alt, eine magische, auffordernde Zahl. Ein
in der die Anteilnahme der Autorin sich Jubiläum der Schmerzen. Ulitzkaja bat
gut demokratisch verteilt. Ulitzkaja ist im- eine Archivarin, die Papiere, die sie kaum
mer aufseiten ihrer Figuren; sie sind ver- entziffern konnte, für sie zu transkribieren.
dreht oder unzuverlässig, vom Leben über- So lernte sie Jakow Ulitzki kennen, und
fordert oder vom Schicksal übersehen, aber nun wusste sie, warum sie sich all die Jahre
lächerlich sind sie nie. Das begründet die gescheut hatte, diese Seiten zu lesen. „Ich
Beliebtheit ihrer Literatur im gegenwärti- hatte Angst vor diesen Skeletten, vor den
gen Russland und in Europa; es sind soli- Familiengeheimnissen.“
darische Mitteilungen aus einer Welt, in Es gibt wohl kaum eine russische Fami-
der stabile Tristesse und rasende Verände- lie, die keine Geheimnisse hat. Der stali-
rungen sich scheinbar die Waage halten. nistische Terror erfasste, so oder so, fast
Nun ist von Ulitzkaja ein Buch mit per- alle Mitglieder des Arbeiter-und-Bauern-
sönlichen Notizen und politischen Stel- Staats seit der Revolution 1917. Dessen trai-
lungnahmen erschienen, dessen russische nierte Terrortechniken in Form von Schau-
Ausgabe sich schon fast eine halbe Million prozessen und Exekutionen, Pogromen
FOTO: LJUDMILA ULITZKAJA

Mal verkauft hat*. Sie ist auch auf diesem und Deportationen, Arbeitslagern und
Verbannung dauerten bis zu Stalins Tod
* Ljudmila Ulitzkaja: „Die Kehrseite des Himmels“. Aus
im März 1953, dann kamen die sogenannte
dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Carl Han- Großvater Ulitzki 1955 Tauwetter-Periode unter Chruschtschow,
ser Verlag, München; 224 Seiten; 19,90 Euro. Verurteilt als „Volksfeind“ die Ära Breschnew – und erst mit Gorba-
140 DER SPIEGEL 13 / 2015
Ljudmila Ulitzkaja, 72, veröffentlichte 1983 beim sowjetischen deutsch-polnischen Juden, der zum christlichen Glauben übertrat
Kinderbuchverlag ihre erste Geschichtensammlung; seit 1992 pu- und seine Einbürgerung in Israel juristisch zu erzwingen versuchte.
bliziert sie in dichter Folge Romane und Erzählungen, die im russi- „Das grüne Zelt“, ihr bislang letzter Roman, zeigt am Lebenslauf
schen Alltag spielen. Mit dem Roman „Daniel Stein“ eroberte seiner Protagonisten unterschiedliche Spielarten von Widerstand
sie 2006 zum ersten Mal historisch-politisches Terrain; die tragiko- und ideologischer Anpassung in der Sowjetunion seit Stalins
mische Geschichte ist vom Fall Oswald Rufeisen inspiriert, einem Tod 1953.

tschow gab es so etwas wie ein allgemeines den Akten überhaupt trauen, all den Ge- In der Kindheit der Autorin herrschte
Aufatmen, eine kurze Phase der Vergegen- ständnissen, die unter Folter oder durch Stummheit, was die Vergangenheit betraf.
wärtigung, was überhaupt passiert war in Erpressung entstanden sind? Und für die Gegenwart galt das Flüstern.
den beinahe 70 Jahren nach dem Sturm Wo die Tatsachen nicht bekannt werden „Die Flüsterer“, so heißt ein Buch des bri-
auf das Winterpalais und der Ermordung dürfen und die staatlichen Medien Organe tischen Historikers Orlando Figes über die
der Zarenfamilie. der Propaganda sind, werden auch Fami- stalinistische Zeit der Sowjetunion, basie-
Die Opfer des deutschen Angriffs auf lien stumm, wenn es um ihre Geschichten rend auf Gesprächsprotokollen, persön-
die Sowjetunion werden auf über 25 Mil- geht. Die freundliche Redseligkeit von lichen Erinnerungen und Aktenfunden.
lionen geschätzt, die Opfer des Stalinismus Ulitzkajas Romanfiguren, die rückhaltlose Ulitzkajas Großmutter, eine Lehrerin, hat
auf bis zu 20 Millionen. Doch das Geden- Offenheit, mit der sie ihre Mitmenschen nur geflüstert, wenn sie zu Hause war, in
ken an diese Toten ist schwieriger zu er- ins Vertrauen ziehen – und mit welcher ihrem Zimmer in der typischen Moskauer
möglichen, nicht nur aus sachlichen Grün- der Leser selbst ins Vertrauen gezogen Gemeinschaftsbehausung, der Kommunal-
den. Wer kein unmittelbar persönliches In- wird –, erscheint wie der humane Kontra- ka, die viele Menschen in einer der alten
teresse nachweisen kann, also eine enge punkt zur sowjetischen Vergangenheit. herrschaftlichen Wohnungen zusammen-
verwandtschaftliche Verbindung mit den Und zur putinistischen Gegenwart, in der pferchte, jede Familie in einen Raum.
FOTO: DENIS SINYAKOV / DER SPIEGEL

Denunzierten, den Verschwundenen und die Krim-Frage auch jene Milieus in un- Selbst wenn sie ihrer Enkelin nur sagen
Ermordeten, bekommt bis heute keinen versöhnliche Lager spaltet, in denen das wollte, dass sie eine Flasche Milch kaufen
Einlass in die staatlichen Archive. Noch Diskutieren über Jahrzehnte ein Wert an sollte, stellte sie sich in die Mitte ihres
schwerer aber wiegt vielleicht die Furcht, sich gewesen ist, die der Künstler und der Zimmers, die Verbindungstür zur Linken
was in den Akten schläft: Ist es der mora- Intelligenzija. Man spricht nicht mehr mit- war mit einem Buffetschrank verstellt, an
lische Freispruch oder eine Schuld? Sind einander, oder man verbirgt, was man der zur Rechten hing ein dicker Teppich.
es Verrat und Verleumdung oder Beweise denkt, um sich nicht voneinander trennen Sie flüsterte aus einer Angst, die schon
von Treue und Integrität? Und kann man zu müssen. Gewohnheit geworden war. Sie hatte
DER SPIEGEL 13 / 2015 141
für das, was man ihm angetan hat. Und für die Großmutter eine praktisch-sinn-
doch gibt die Antwort natürlich Auf- volle Handlung gewesen sein, die Familie
schluss – nur eben mehr über das System von einem „Volksfeind“ zu trennen, von
als über den Einzelnen. Warum wurden einem also, der nicht als einfacher Krimi-
beide Großväter Opfer des Stalinismus? neller einsaß, sondern als das Gewissen
Der Vater ihrer Mutter, Boris Ginsburg, der Revolution.
hatte ursprünglich Jura studiert. 1917 war Und noch etwas wusste Jakow Ulitzki
er beinahe fertig, doch er sollte ein weite- nicht, als er an diesem Tag 1955 in Moskau
res Jahr absolvieren, für ein „sowjetisches war. Es steht in einem Brief, den Ulitzkaja
Diplom“. Er fand diesen Vorschlag lächer- in diesem Koffer fand, einem Brief ihres
lich und wurde Geschäftsführer einer Fa- Vaters Jewgenij an das Gericht. Nachdem
brik. „Heute wäre er ein erfolgreicher Busi- Jakow Ulitzki verhaftet worden war,
Ulitzkaja, Eltern um 1946 nessman, damals nannte man ihn einen schrieb er: Wenn das Gericht befindet, dass
„Gene lesen wie einen Text“ Spekulanten. Er organisierte Material für mein Vater Jakow Ulitzki ein Volksfeind
seine Fabrik, das war auf legalem Wege ist, dann betrachte ich mich nicht als sei-
gar nicht immer möglich. Und vermutlich nen Sohn.
organisierte er dabei auch das eine und Eine Gattin, die sich hat scheiden lassen,
andere für seine Familie.“ Ginsburg wurde ein Sohn, der sich losgesagt hat, und eine
wegen „Wirtschaftsvergehen“ in den Fer- Enkelin, die nun ein Buch über dieses Le-
nen Osten verbannt, 1941 kam er zurück. ben schreibt. Ulitzkaja, die ihre Stelle in
Vergleichsweise hatte er Glück: Er war der biologischen Forschung 1970 verlor, als
kein politischer Häftling, er wurde nicht sie Samisdat-Literatur in Umlauf brachte,
körperlich ruiniert. Und er konnte Ehe- ist fasziniert von der Idee, „dass unsere
mann, Vater und Großvater sein. „Dieser Gene zu lesen sind wie ein Text. Ich bin
Wahnsinn wird nicht lange dauern, so soll von diesem Text geprägt, meine Kinder
er gesagt haben bei der Revolution. Am und meine Enkel sind es. In gewissem Sinn
Ende dauerte der Wahnsinn länger als ist das Universum ein Text.“
sein Leben.“ Ihre Wohnung, in der auch ihr Schreib-
Der andere Großvater ist es, dem Ulitz- tisch steht, ist ein weitläufiger, ruhiger Ort.
kaja ihr nächstes Buch widmen wird – Ihr Mann, der Bildhauer Andrej Krassulin,
dem Vater ihres Vaters, einem Mann, den hat sein Atelier nicht weit von hier. Freun-
sie nur einmal im Leben sah. Jakow Ulitz- dinnen rufen an und sprechen sich aus,
ki war Ökonom, belesen, musisch begabt, dann geht es zu wie in ihren Erzählungen:
ein sozialistischer Idealist, Sohn eines Man redet über Reisen, Lieben, Krankhei-
jüdischen Uhrmachers aus Kiew. In Ulitz- ten. Sie lässt sich nicht beherrschen von
kajas Wohnung hängen zwei Fotos von der Politik, aber sie nimmt daran teil, wie
dieser Werkstatt ihres Urgroßvaters, das schon ihr Leben lang. „Ich habe daran ge-
eine aus dem Jahr 1903, das zweite aus arbeitet, keine Angst zu haben.“
dem Jahr 1905, nach einem Pogrom. Man Am Tag des Trauerns für Boris Nemzow
Großvater Ginsburg, Verlobte Jelena um 1915 sieht zertrümmerte Möbel und zerrissene war sie nicht unter den Demonstranten in
Verurteilt als „Spekulant“ Bücher. Moskau, sondern nahm in Tiflis an einem
Auch von Großvater Jakow Ulitzki, dem Gedenkabend für Boris Pasternak teil, der
Grund dazu. Ihre Nachbarin, so Ulitzkaja, Helden ihres Manuskripts, gibt es zwei sich aus Furcht vor Stalin auf dem Lande
habe ihren Großvater denunziert. „Dabei Fotos: Das eine zeigt ihn in Uniform als verkroch und dem es untersagt wurde, den
hatte meine Großmutter ihr dieses Zimmer jungen Mann, das andere nicht lange vor Literaturnobelpreis in Stockholm entge-
überhaupt verschafft. Sie war eine ehema- seinem Tod. Er ist aus dem Lager zurück, genzunehmen.
lige Schülerin von ihr.“ das er nur ein Jahr überleben wird. Er Ihre Welt ist größer geworden, seit die
Großmut ist eine gefährliche Regung in schaut frontal in die Kamera und stützt Sowjetunion in sich zusammenfiel und sie
einem von Misstrauen und Abhängigkeit sich auf einen Stock, im Hintergrund ein ungehindert reisen kann, nach Italien und
organisierten System. Großmut macht ver- aus schmalen Latten gezimmerter Zaun Frankreich, nach Israel und nach Berlin.
dächtig, denn sie stellt eine moralische und eine Datschensiedlung. Keine Umge- Ihre Welt ist kleiner geworden, seit die Re-
Selbstbehauptung dar, die genau dieses bung für ein Klavier, eine Bibliothek und gierung Putins die Gesellschaft spaltet in
Misstrauen und diese Abhängigkeit ne- urbane Geselligkeit, für all das, worauf sei- jene, die sich nach vorn sehnen in die Ver-
giert. Ulitzkajas Großeltern beider Seiten ne Träume zielten. gangenheit, in ein machtvolles Imperium –
waren gebildete Juden; sie beherrschten Dies ist der Mann, den sie für einen Tag und die anderen, die in den Küchen sitzen
mehrere Sprachen. Beide Großmütter lang sah, als ihm erlaubt wurde, auf dem und reden, die Petitionen schreiben und
brachten ihre Familien zeitweise allein Weg vom Gulag in die Verbannung seine demonstrieren, wie früher. Nur sind es we-
durch, denn beide Großväter waren in sta- Familie in Moskau zu sehen: seine Enkelin niger geworden. „Vielleicht sind wir daran
linschen Lagern. Der eine, Boris Ginsburg, Ljudmila, seinen Sohn und seine eigene selbst schuld. Unter uns war kein Havel.
war 1943, im Jahr ihrer Geburt, schon wie- Frau. Die es längst nicht mehr war: Unsere Havels sind emigriert.“
der zurück. Der andere, Jakow Ulitzki, Sie hatte sich von ihm scheiden lassen, Auch ihre Kinder leben nicht mehr in
FOTOS: LJUDMILA ULITZKAJA

war bis 1955 in der Republik Komi am schon fast 20 Jahre zuvor. „Ich weiß nicht, Russland. Ulitzkaja bleibt.
nördlichen Polarkreis. ob er das je erfahren hat.“ Er schrieb ihr
Es hat etwas Absurdes, nach den Grün- Briefe, sie antwortete ihm; das ist das Video:
den für eine Verurteilung in einem Terror- Material, das Ulitzkaja in Händen hält. Ljudmila Ulitzkaja liest
system zu fragen, so, als gäbe es so etwas Die Scheidung kommt darin nicht vor. spiegel.de/sp132015ulitzkaja
wie eine Verantwortung des Verurteilten Ulitzkaja weiß die Gründe nicht; es mag oder in der App DER SPIEGEL

142 DER SPIEGEL 13 / 2015


Kultur

Es dürfte eine der letzten großen Herden in den USA sein.


Die Tiere, deren Zahl einstmals in die Millionen ging, sind so
gut wie ausgerottet, mit dem erwünschten Nebeneffekt, den
Ureinwohnern damit ihre Lebensgrundlage zu entziehen. Als
dem Trupp unterwegs ein paar Flussindianer begegnen, sagt
Grausame Prärie Miller zynisch: „Die leben von Wels und Karnickel. Lohnt sich
nicht mehr, sie noch abzuknallen.“
Mehr als zwei Wochen benötigt der Trupp, um auch nur
Buchkritik Noch eine Entdeckung aus den Fuß der Berge zu erreichen. Bis dahin hat es Strapazen,
dem Werk des verstorbenen US-Schriftstellers Qualen und Risiken genug gegeben, aber was dann kommt,
stellt alles in den Schatten. Der Anmarsch und das kommende
John Williams: „Butcher’s Crossing“ Gemetzel werden von Williams mit einer beharrlichen Ken-
nerschaft geschildert, die umwerfend ist und es mit Melvilles

S
ein Roman „Stoner“, der vor anderthalb Jahren auf oder Hemingways Schilderung einer besessenen und todes-
Deutsch veröffentlicht wurde, war ein überraschender, mutigen Jagd aufnehmen kann.
ein geradezu überwältigender Erfolg. Der so gut wie un- „Butcher’s Crossing“ ist ein ungestümer und bestürzender
bekannte US-Schriftsteller John Williams kam mit der Ge- Roman über die Wildnis der Natur und die Verwilderung
schichte eines privat wie beruflich eher glücklosen Literatur- des Menschen. Es wäre unfair, zu viel über Verlauf und Ende
wissenschaftlers postum zu Bestsellerehren. zu verraten. John Williams schafft es immer wieder, dem
Hunderttausende Leser fand das Werk allein in Deutschland,
auch in anderen europäischen Ländern rührte William Stoner,
der Romanheld, die Kritik wie das Publikum. Zuvor hatte der
1965 erstmals publizierte und damals kaum beachtete Roman
schon in den USA ein glanzvolles Comeback erlebt.
Jetzt erscheint bei uns, nach diesem Erfolg, ein zweiter Ro-
man des 1922 in Texas geborenen, 1994 in Arkansas gestorbenen
Schriftstellers: „Butcher’s Crossing“, ein düsteres und aufwüh-
lendes Werk, in dessen Titel nicht zufällig Metzgerwesen und
Wegkreuzung eine Einheit bilden.
Wer aber eine verwandte Geschichte, ein ähnliches Ambiente
oder den aus „Stoner“ vertrauten Tonfall erwartet, muss ent-
täuscht werden. Es mag auch sein Gutes haben, dass dieser
Roman, der im Original 1960, also fünf Jahre vor „Stoner“,
herauskam, erst nach dem Bestsellererfolg die deutsche Leser-
schaft erreicht. Man wird – und sollte – dem großartigen Erzähler
Williams vertrauen, obgleich manches an diesem Buch zunächst
befremdlich wirken mag. Der Roman spielt Anfang der Siebzi-
gerjahre des 19. Jahrhunderts jenseits der Zivilisation und be-
ginnt wie ein Western. Butcher’s Crossing ist der Name einer
armseligen Siedlung irgendwo im Mittleren Westen, die aus
sechs „grob gezimmerten Gebäuden“ und dem außerhalb ge-
legenen Haus eines Fellhändlers besteht.
Auch hier trägt der Held den Vornamen William, doch wird Aufgetürmte Bisonschädel 1870: Menschliche Verwilderung
er vom Autor Williams gekonnt auf Distanz gehalten und dem
Leser bis zum Schluss, anders als Stoner, nicht ans Herz wach- Roman unerwartete Wendungen zu geben, mal für die Jäger
sen. William Andrews, Anfang zwanzig, der glückliche, mal ihr Leben bedrohende, und sie so zu insze-
in Harvard studiert hat, ist von Boston aus nieren, dass nicht nur der erlebnishungrige William Andrews,
über New York und St. Louis zwei Wochen sondern auch der Leser immer wieder kalt erwischt wird.
hierher unterwegs gewesen, mal per Bahn, mal Hinzu kommen grandiose Schilderungen von Licht und
per Kutsche. Nun erhofft er sich fern der Städ- Landschaft.
te Freiheit und Lebenskraft. Er will zum Mann Es wäre allerdings nicht verkehrt gewesen, dem Roman wie
werden. Allerdings läuft das Greenhorn gleich in der amerikanischen Neuausgabe ein Nachwort beizugeben,
zu Beginn eingeschüchtert vor dem Liebes- in dem die vom Autor präzise angepeilte historische Situation
angebot einer jungen Frau davon. erläutert wird, deren Kenntnis nicht unbedingt vorausgesetzt
Einen Ritt in die endlose Ebene der Prärie werden kann. Jene Wegkreuzung, auf die im Titel angespielt
John Williams indes traut er sich zu. Als Teilnehmer und wird, steht für einen wirtschaftlichen Umbruch in den USA,
Butcher’s Geldgeber einer Jagd auf Bisons, die nordame- der dem Jagdfieber in die Quere kommt.
Crossing rikanischen Wildrinder, deren Fell in jenen Und gern würde man sich von einem Williams-Forscher
Aus dem Tagen als Exportware hoch im Kurs steht, zieht erklären lassen, wie es dem Autor möglich war, dermaßen
amerikanischen er mit drei Männern los: mit Schneider, dem kenntnisreich und detailgetreu die Büffeljagd darzustellen.
Englisch von Spezialisten fürs Abhäuten, Hoge, der den mit Denn John Williams war – ähnlich wie sein Stoner – Hoch-
Bernhard Robben. Proviant und Werkzeug beladenen Ochsen- schuldozent für Literatur. Vier Romane hat er insgesamt
Deutscher
Taschenbuch karren lenkt, und Miller, dem Kopf der Mann- geschrieben, darunter auch einen historischen: „Augustus“.
schaft, der behauptet, vor mehreren Jahren in Für dieses Porträt des römischen Kaisers erhielt er 1973 den
FOTO: EXCLUSIVEPIX

Verlag, München;
368 Seiten; einem in den Bergen versteckten Tal Hunderte, National Book Award. Die Übersetzung ist schon in Arbeit,
21,90 Euro. ja Tausende Büffel gesehen zu haben. das Buch erscheint im nächsten Jahr. Volker Hage

DER SPIEGEL 13 / 2015 143


Medien
Soziale Netzwerke
Xing kämpft mit
Fälschungsattacke
Das mehrheitlich zum Burda-
Verlag gehörende soziale
Netzwerk Xing hat mit Fake-
Profilen zu kämpfen. Seit
August 2014 sei ein Fake-
Cluster aktiv, heißt es in
einem Vorstandspapier. Bei
Xing geht man von knapp
20 000 gefälschten Profilen
aus. Zunächst vermutete das
Unternehmen eine Cyber-
attacke. Doch vor allem das
Muster der Profile machte
Experten des Portals stutzig:
Szene aus Krimiserie „Schuld“ Es handelt sich um deutsche
Namen, sie enthalten echte
Berufe und existierende
ZDF Städtenamen – wobei vor
452 Krimis an 365 Tagen allem kleinere Städte über-
repräsentiert seien. Am auf-
fälligsten ist, dass die Profile
Der Publikumserfolg des ZDF basiert auch 32 Prozent der besten Sendezeit zwischen einfach nur existieren, ohne
und vor allem auf einem Genre: Krimis. 20.15 Uhr und 22 Uhr mit Krimis belegt. aktiv zu sein. In einer inter-
452 Kriminalfilme wurden 2014 zum ersten Offenbar soll das auch so bleiben. Zwar nen Präsentation heißt es,
Mal gesendet, wie eine Anfrage der schreibt ZDF-Intendant Thomas Bellut an die Profile seien raffiniert er-
Berliner Bundestagsabgeordneten Gesine die Abgeordnete, dass das ZDF nicht vorha- stellt worden. So wurden
Lötzsch (Die Linke) an das ZDF ergab. be, „in diesem Jahr den Anteil an Krimi- stets verschiedene IP-Adres-
128 Kriminalfilme liefen zur Primetime um nalfilmen strukturell zu erhöhen“. Dennoch sen verwendet, auch die
20.15 Uhr, 82 davon waren Erstausstrah- gehe er, wenn überhaupt, nur von einer benutzten E-Mail-Adressen
lungen. Damit waren im vergangenen Jahr leichten Abweichung im Jahr 2015 aus. mum seien teilweise ungewöhnlich.
Hinter der Fake-Attacke
könnte ein Konkurrent ste-
cken, der gezielt versucht,
Gleichstellung gung ist die Wochenzeitung siert der Verein die geringen die Reputation von Xing zu
Mehr Frauen „Die Zeit“ mit einem Anteil Fortschritte bei anderen Pu- schädigen. Intern schließt
von rund 38 Prozent. Pro- blikationen wie der „Frank- man auch andere Gründe
an der Spitze Quote hatte sich 2012 gegrün- furter Allgemeinen“ und
Die Chefetagen deutscher det, um die männliche Domi- dem Magazin „Focus“, die
Printmedien werden weibli- nanz in den Chefetagen deut- den Anteil weiblicher Füh-
cher: Laut neuen Zahlen des scher Medien anzuprangern. rungskräfte kaum erhöhen
Journalistenvereins ProQuo- Bis 2017, so das Ziel, sollen konnten. Damit wirkten die
te konnten sieben von acht Journalistinnen mindestens Blätter „wie von gestern“, so
Leitmedien den Frauenanteil 30 Prozent der Führungs- Nora Jakob aus dem Vor-
unter ihren Führungskräften kräfte ausmachen. Diese Vor- stand von ProQuote. Bei den
seit 2012 steigern. Einzige gabe haben bislang nur „Die Berechnungen berücksichtigt
Ausnahme: Beim Springer- Zeit“ und „Bild“ erreicht. der Verein neben der
Blatt „Die Welt“ sank der Mehrere Medien konnten Anzahl weiblicher Führungs- Startseite von Xing
nach Einfluss gewichtete An- den Anteil weiblicher Chefs kräfte auch deren Position:
teil von Frauen in Führungs- in den vergangenen drei Jah- Eine Chefredakteurin nicht aus, etwa dass jemand
positionen von knapp 14 auf ren allerdings deutlich stei- zählt beispielsweise doppelt für eine wissenschaftliche
rund 12 Prozent. Spitzen- gern, darunter auch der so viel wie eine Ressortlei- Arbeit herausfinden möchte,
reiter bei der Gleichberechti- SPIEGEL. Gleichzeitig kriti- terin. red wie lange es dauert, bis ge-
fälschte Profile gelöscht wer-
37,9 Frauen in journalistischen Führungspositionen bei Print-Leitmedien, gewichteter Anteil in Prozent den. Ein Xing-Sprecher sagt,
30,1 Februar 2012 Februar 2015 man werde die gefälschten
26,1 Quelle: ProQuote
Profile identifizieren und
21,7 23,1 löschen. Der Aufwand sei
FOTO: GORDON MUEHLE / ZDF (O.)

19,6
16,3 16,7 16,7 16,9 16,7 groß und erfordere in vielen
14,1 13,6 12,1
Fällen „Handarbeit“. Zudem
5,9 4,3 habe der Vorstand beschlos-
sen, juristisch gegen un-
bekannt vorzugehen. mum

DER SPIEGEL 13 / 2015 145


Comedian Kebekus

Lecker Mädchen
Humor Komikerinnen erobern Bühnen und TV-Shows. Aber niedlich war gestern:
Frauen wie Carolin Kebekus sind deutlich bis ans Vulgäre. Von Michaela Schießl

146 DER SPIEGEL 13 / 2015


Medien

M
a-stur-ba-tion“, schreit Carolin Ke- dings gehen die Zuschauer nicht mehr Bier Aber sie ließ sich Zeit, wollte Routine ge-
bekus von der Bühne hinab und holen, wenn eine weibliche Comedian die winnen. „Ich stand dreimal auf der Bühne,
lässt die einzelnen Silben wie Ohr- Bühne betritt. hab mich noch am Mikrofon festgehalten,
feigen in die Gesichter des Publikums klat- Die zierliche, 1,64 Meter kleine Kölnerin da war schon ein Agent im Publikum. Ich
schen. „Was ist denn das für ein Wort! ist eine geborene Rampensau. Schon als sollte sofort auf Tour gehen, Programm
Nach Spaß klingt’s nicht! Eher nach einem Kind sei sie „unangenehm albern“ gewe- schreiben, ins Kino, Sendungen machen.
Befehl. Jawoll, Herr Oberst, ich habe alles sen, sagt sie. Auf Familienvideos sieht man Ich habe alles abgelehnt. Dann hieß es
wegmasturbiert.“ sie immerzu etwas aufsagen, etwas vortan- gleich: Die ist zickig.“ 
Die Jungs dagegen hätten tausend lusti- zen, einen Witz erzählen.  Als zu Weih- Kebekus übte. Sie stand auf der Bühne,
ge Wörter fürs Wichsen, erklärt die Komi- nachten der Nikolaus kam, versteckte sich spielte in Filmen und Sitcoms, trat in Co-
kerin und zählt genüsslich auf: fünf gegen ihr Bruder heulend vor Angst unterm medy-Shows auf. 2011 startete sie ihr So-
Willi, dem Arbeitslosen die Hand schüt- Tisch, während sie den Zauselbart zulaber- loprogramm „Pussyterror“. Das lief so gut,
teln, einen von der Palme wedeln, Ren- te. „Ich trug ihm ein Gedicht vor, dann noch dass ihr der WDR 2013 eine eigene Show
dezvous mit Grete Faust, Mütze-Glatze. ein Gedicht, dann kam die Flöte dran und gab. Doch unmittelbar vor der Erstaus-
Deshalb würden die Kerle auch andauernd das Klavier – konnte ich alles nicht, aber strahlung von „Kebekus!“ schmiss der Sen-
darüber reden, aber die Frauen nie, weil das war mir egal.“ Hauptsache, Auftritt. der ein kirchenkritisches Video raus, in
masturbieren so ekelig mechanisch klinge, dem Kebekus eine rappende Nonne spiel-
aber auch, weil die Jungs sich dann scheiße te, die notgeil den Jesus am Kreuz ableck-
fühlten. Kebekus hebt die Stimme, mimt te. Stocksauer warf Kebekus hin und ließ
das naive Frauchen: „Nein, Schatz, ich wissen: „Fernsehen ist von, mit und für
habe mich noch nie angefasst, ich brauche Asoziale.“
das nicht, dein Penis ist doch so grooooß.“ Kurz darauf wechselte die Senderlei-
Die Zuschauer johlen, Carolin Kebekus tung. Der neue Intendant Tom Buhrow
ist in ihrem Element. Mit vollem Körper- traf sich mit der Künstlerin und versuchte,
einsatz erobert die 34-Jährige auf ihrer sie umzustimmen. Es dauerte, bis sie sein
„Pussyterror Tour“ die Comedy-Bühnen Flehen erhörte.
des Landes. Sie nennt sich „Witze-Bitch“ Ihre neue Show „Carolin Kebekus: Pus-
und „Muschido“ und gilt als das größte Ta- syTerror TV“ startet am Samstag, 21. März,
lent im deutschen Humorbetrieb. Als dre- um 21.45 Uhr. Kebekus macht Musik, spielt
ckiges Hirn im putzigen Frauenkörper be- auf der Bühne, empfängt Gäste und zeigt
schrieb sie die „Süddeutsche Zeitung“. Einspielfilme. Angst vor einer neuerlichen
„Ja“, sagt Kebekus, „das klingt nach mir.“ Zensur hat sie nicht. „Der WDR weiß jetzt,
2013 und 2014 gewann sie den Deut- worauf er sich einlässt, und will das auch.
schen Comedy-Preis, vergangenes Jahr Und ich weiß, wie weit ich gehen kann.
moderierte sie die Gala und ließ sich als Ich lecke in der neuen Show an allem, au-
sterbender Schwan an einem Seil von der ßer an Jesus.“
Decke herabschweben, als Parodie auf die Kirchenhäme ist eines ihrer Steckenpfer-
Schlagersängerin Helene Fischer. de. Schon als Kind hat sie sich gegruselt
Deren perfekter Weiblichkeit setzt Ke- „vor diesem ausgemergelten, blutenden
bekus ihre eigene, bisweilen vulgäre Derb- Mann am Kreuz“ und der damit verbun-
heit entgegen – und erobert damit die Män- denen ewigen Schuld. Vor allem aber
nerdomäne Stand-up-Comedy. Interessant Schauspielerin Engelke treibt sie die Geschlechterproblematik um.
dabei: Sie ist beileibe kein Einzelphäno- Themen wie die „unsägliche“ Diskussi-
men. Seit Oktober vergangenen Jahres hat on um den After-Baby-Body, das Frauen-
es Gerburg Jahnkes rein weibliche Kaba- Um die Wartezeit bis zum Studium zu bild, das Heidi Klum bei „Germany’s Next
rett- und Comedy-Show „Ladies Night“ überbrücken, jobbte sie als Praktikantin Topmodel“ vermittelt, überhaupt die Re-
ins Hauptprogramm der ARD geschafft. bei der Filmfirma, die die RTL-Comedy- duzierung der Frau auf ein Schönheitsideal
Das uralte Vorurteil, dass Frauen Humor sendung „Freitag Nacht News“ produzierte. bringen sie auf der Bühne so richtig in
schlicht nicht können, scheint plötzlich wie Nicht lange, und sie stand vor der Kamera. Rage. „Mein ganzes Leben lang bin ich
weggelacht. Hugo Egon Balder, Schauspieler und Ur- dazu erzogen worden,  meinen Körper
Mit einer nie da gewesenen Selbstver- gestein der deutschen Witzindustrie, er- scheiße zu finden, damit ich teure Cremes
ständlichkeit tummelt sich eine ganze kannte ihr Talent. „Als Komiker braucht kaufe. Anstatt zu sagen: Cellulite ist nur
Schar weiblicher Humorfachkräfte auf man neben einer großen Portion Intelli- eine Frage der Beleuchtung.“
Bühnen und im Fernsehen – und begnügt genz den Mut zur Hässlichkeit, zur totalen Ja, sie sei Feministin, sagt sie, auch wenn
sich längst nicht mehr mit niedlichen Ulk- Selbstaufgabe, zur Demontage. Das kön- sie mit dem Begriff so ihre Probleme habe.
nudelnummern. Was ist geschehen, dass nen nicht viele.“ Er klingt ihr zu männerfeindlich, zu lei-
Frauen plötzlich öffentlich Pimmel, Fotze, Kebekus konnte. „Nur dastehen mit ei- denschaftslos:„Das Bild vom Feminismus
Kotze sagen dürfen – und trotzdem geliebt nem Mikro und den Leuten Geschichten ist immer noch verstaubt und unsexy. Man
werden? erzählen, sich so nackt zu machen vor dem hat immer den Reflex zu sagen: Ja, ich bin
FOTOS: DAVID KLAMMER / DER SPIEGEL

„Früher wurden komische Frauen im Publikum, das mach ich am allerliebsten“, Feministin, aber ich bin trotzdem eine ech-
Fernsehen eher belächelt“, sagt Kebekus. sagt sie. Dazu braucht es eine Menge te Drecksau im Bett, das müssen Sie mir
„Sie mussten trutschig und tollpatschig Selbstvertrauen. „Sie hatte von Anfang an glauben!“ 
sein, sich verkleiden und lustige Brillen eine unglaublich freche Schnauze“, erin- Man ahnt: Der WDR wird ganz stark
aufsetzen. Heute kann eine Frau ohne den nert sich Balder. 2006 durfte die Exprakti- sein müssen.
ganzen Klimbim auf die Bühne und darf kantin die Show bereits mitmoderieren. Kebekus ist politisch, aber sie will
herb und derb sein. Ist man laut und direkt, Sie entschied sich, nicht zu studieren auch nicht bei jedem Thema moralisch
dann wird einem auch zugehört.“ Neuer- und lieber gleich Komikerin zu werden. werden. „Manche Sachen sind einfach nur
DER SPIEGEL 13 / 2015 147
Medien

lustig.“ Diese Einstellung teilt sie mit ihrem kennt diesen Zwiespalt nicht. „Hella ist Die „dicke Tante“ (von Sinnen über von
Idol Anke Engelke. „Mit Anke hat sich immer Hella“, sagt Hugo Egon Balder, der Sinnen) inszenierte sich gewohnt krawal-
eine Tür aufgemacht, von der man gar mit ihr 1988 die RTL-plus-Show „Alles lig – doch langjährige Kolleginnen wie
nicht wusste, dass sie existiert. Was sie nichts oder?!“ und bis 2010 die Sat1-Sen- Anke Engelke lassen sich nicht täuschen.
machte, war einfach nur gut gespielt. Sie dung „Genial daneben“ bestritt. „Hella von Sinnen mag es im Fernsehen
spielt völlig unverkrampft aus dem Arsch Hella von Sinnen ist groß, laut, rotzig gerne laut und bunt, das macht ihr Spaß,
heraus. Das ist schon ein Vorbild.“ und unbezwingbar. Sie trägt immerzu bei aller Tiefe. Sie ist eine sehr kluge,
Ein paar Kilometer weiter, auf der an- Overalls, in denen sie ihr großes Herz ver- manchmal weise Frau.“
deren Seite des Rheins, sitzt die Königin steckt – und gern auch ein paar Flaschen Dementsprechend scharf ist ihr Blick
der deutschen Komik und denkt darüber Kölsch. Die 56-jährige lesbische Feministin auf den Hype um die neuen, scheinbar so
nach, was sie ausgelöst hat. „Was Carolin mit den streng nach hinten gegelten Haa- emanzipierten Komikerinnen. „Ich habe
macht, ist neu“, sagt Anke Engelke. „Frü- ren hat eine Klappe, groß wie die einer immer schon alles gemacht, was ich wollte.
her musste eine Frau, die über Männer Nussknackerfigur. Und die hält sie prak- Ich hab 1990 mein erstes Interview in der
herzieht, hässlich sein. Carolin aber ist ein tisch nie. ,Zeit‘ gegeben, das stand drin: Ich ficke
lecker Mädchen. Das geht also endlich: ge- Das musste am vergangenen Montag gerne, ich fresse gerne, ich saufe gerne.“
scheit und hübsch und gemein sein.“ auch der Chef des Fernsehsenders Tele5, Die neue Derbheit ist vielleicht doch
Daran ist sie nicht unschuldig. Mit En- nicht so neu, so sieht von Sinnen das. Ge-
gelke zog die Gemeinheit ins weibliche nauso wenig wie die große Zahl von
Komikfach. „Bei ,Ladykracher‘ fingen wir Humoristinnen.
an, Kinder schlecht zu behandeln, ohne Die Story vom neu entfachten Weiber-
auflösende Schlusspointe und ohne Ironie. humor ist für von Sinnen vielmehr ein wei-
Das war sehr befreiend. Weil es nun mal terer „lustiger Trick des berühmten Patri-
ein gesellschaftlicher Fakt ist, dass Kinder archats“. Tatsächlich habe es weibliche
oft behandelt werden wie der letzte Komikerinnen schon immer gegeben: Gi-
Dreck.“ sela Schlüter, Grethe Weiser an der Seite
Unvergessen ihr Sketch, in dem sie eine von Heinz Erhardt, Beatrice Richter neben
Mutter spielt, deren kleine Tochter ihr zum Diether Krebs, und selbst Loriot hätte nie
Geburtstag eine selbstgebastelte Holzente so wirken können ohne die kongeniale
schenkt. Mama ist wütend: „Du weißt ge- Evelyn Hamann. „Das Problem ist doch,
nau, dass Mama sich eine Freisprechanlage dass immer nur die Männer gehypt wur-
gewünscht hat. Was soll ich mit einer Ente? den. Der Fokus lag immer nur bei den
Kann ich damit telefonieren? Du gehst Jungs.“
jetzt rein. Die Mama ist sehr enttäuscht.“ Es sei also Quatsch, so zu tun, als ob
Totaler Hyperrealismus, so nennt Engel- die Mädels nun unter den Steinen vorge-
ke ihr Stilmittel, das in Variationen auch krochen kämen.
von den nachrückenden Kolleginnen ge- „Was passiert, ist vielmehr, dass die Ker-
nutzt wird. le, die in den Sendern, Produktionsfirmen
„Kebekus kann den Männern auf der und Medien das Sagen haben, erstmals auf
Bühne ins Gesicht sagen: ,Ihr seid wahn- die Frauen achten. Und, Überraschung:
sinnig primitiv und wahnsinnig durch- Die meisten Komikerinnen, die nun sicht-
schaubar, ihr seid so armselig, echte Lut- bar werden, wie Kebekus oder die
scher.‘“ Die Männer ertrügen das, es be- Humoristin von Sinnen Deutschiranerin Enissa Amani, sind jung
diene sogar eine gewisse masochistische und attraktiv.“ Oder wie Kebekus es aus-
Tendenz, glaubt Engelke. „Aber ich bin drückt: fuckable.
sicher: Sie würden sich das nicht gefallen Kai Blasberg, erfahren. Er hatte in der Dennoch freut sich von Sinnen über die
lassen, wenn Carolin nicht so attraktiv Hamburger Kneipe Zwick zwischen St.- neue Aufmerksamkeit, denn für sie sind
wäre. Wäre sie hässlich, würden die Män- Pauli-Stadion und Reeperbahn zur Presse- Frauen ohnehin die besseren Komiker.
ner mit Sachen werfen.“ konferenz geladen. Vorgestellt wurde „Jüngste Beispiele: Die Schnarch-mich-an-
Ihr eigenes komisches Talent habe sie Hugo Egon Balders neue Talkshow „Der Laudatoren bei der Verleihung der ,Gol-
nicht selbst entdeckt, sondern andere, sagt Klügere kippt nach“, in der sich ab Oster- denen Kamera‘ waren doch eine Schande!
Engelke. „Komisch war ich erstmals in der montag Balder, Hella von Sinnen und Gäs- Wer hat den Laden gerockt? Cordula Strat-
,Wochenshow‘, da war ich schon 30 Jahre te unter der Leitung des nüchternen Mo- mann. Und bei der Berlinale-Eröffnung
alt. Ich komme nicht aus gereiftem Humor- derators Wigald Boning gepflegt betrinken machte Anke Engelke einen derart über-
Torf.“ Ihre Themen und Sketche stammen und dabei live und ungeschnitten Tages- ragenden, coolen, souveränen Job, dass es
allesamt von anderen Autoren. „Als themen diskutieren. einer den Atem raubt.“
Schreiberin bin ich regelrecht talentfrei. Mehrfach setzte Blasberg zur Rede an, Die Feministin von Sinnen drückt sogar
Meine Arbeit ist, was ich aus den Texten doch immer wieder fuhr ihm Hella von ein Auge zu, wenn sich die jungen Humor-
mache.“ Sinnen in die Parade, schrie dazwischen, schaffenden vom traditionellen Feminis-
Engelke ist Schauspielerin, sie schlüpft neckte ihn, forderte ihn heraus. Sie heizte mus distanzieren, „solange sie im Pro-
FOTO: DAVID KLAMMER / DER SPIEGEL

in Rollen. Die 49-Jährige kann die Mode- die Fotografen an, warf sich in ihrem gramm feministische Dinge sagen und
ratorin spielen, sie kann sich in jeden nur weißen Overall mit der Aufschrift: „Ich nicht die Fick-mich-Tussis geben“.
denkbaren Typ verwandeln. Aber sie kann bin Tolerist“ in immer neue Posen. Artig Dann sei bald mal Schluss mit der Le-
einfach nicht als Anke dastehen und so dasitzen und lauschen widerstrebt nun gende vom männlichen oder weiblichen
tun, als fielen ihr ihre Text gerade ganz mal ihrer anarchischen Natur. Für die Humor. „Es gibt keinen Unterschied. Ent-
spontan ein. „Das ist doch gelogen.“ Entertainerin ist auch eine Pressekonfe- weder ist etwas lustig und gut gesetzt, oder
Hella von Sinnen, seit Jahrzehnten eine renz nichts anderes als eine Unterhaltungs- es ist am Arsch nicht witzig, und die Pointe
Naturgewalt des weiblichen Humors, show. ist versemmelt. Punkt.“ 

148 DER SPIEGEL 13 / 2015


Nachrufe
JOHANNES GRÜNDEL, 85 er 1962 mit der 4-×-100-Meter-
Der Moraltheologe war ein Staffel Europameister; als
katholischer Freigeist, der sich Kommunalpolitiker saß er für
gern zu strittigen Fragen sei- die CDU im Rat der Stadt
ner Kirche äußerte und Wi- Köln; und als Sportfunktionär
derspruch nicht scheute. Ihm machte er sich um Fortuna
galt die Verantwortung des Köln verdient. 2006 rettete er
Einzelnen viel, darum lehnte als Vorsitzender den Verein
er Pauschalisierungen ab und vor dem Ruin und führte den
kritisierte Kirchenführer, die ehemaligen Bundesligisten
Abtreibung mit Euthanasie zumindest wieder in die dritte
verglichen oder schlicht als Liga. Klaus Ulonska starb am
Mord bezeichneten. Fast drei 13. März in Lindenthal. red
Jahrzehnte lang prägte er
durch seinen Lehrstuhl für BERNHARD ELIAS, 89
Moraltheologie an der Lud- Anne Frank bewunderte sei-
wig-Maximilians-Universität nen Sinn für Humor ebenso
München angehende Theo- wie seine Eislaufkünste. Sie
logen. Noch länger wirkte er war die jüngere Cousine von
MICHAEL GRAVES, 80 nebenbei in Freising-Hohen- Bernhard Elias. Alle riefen ihn
Der Architekt und Designer aus den USA beherrschte das bachern als Seelsorger. Der ge- „Buddy“, nur Anne nicht – sie
große Format: In Kairo schuf er am Ufer des Nils eine An- bürtige Schlesier, der sich stets nannte ihn Bernd und erfand
lage mit, unter anderem, einem Hotel und mehr als hun- gegen lebensverlängernde in ihrem berühmten Tagebuch
dert Luxuswohnungen; auch die öffentliche Bibliothek in Maßnahmen um jeden Preis eine Filmszene, in der Bernd
Denver stammt von ihm. Sein berühmtestes Objekt aber ausgesprochen hatte, starb am und sie Schlittschuh laufen. Die
ist ein metallischer Teekessel mit blauem Kunststoffgriff 16. März in Freising. wen beiden jüdischen Kinder hatten
für den italienischen Fabrikanten Alessi. Graves, der Mit- die ersten Lebensjahre gemein-
erfinder des postmodernen Stils, spielte mit Farben und For- GÜNTER VOGELSANG, 95 sam in Frankfurt am Main
men, mit Rundungen, Säulen, Türmchen. Mehrmals war er Er war bereits weit über 70 verbracht, 1931 emigrierte der
als Architekt für den Disney-Konzern tätig, die Bildwelt der Jahre alt, als er mit seinem Cousin in die Schweiz. Er ab-
Comics schien ihn in seiner Arbeit zunehmend zu inspirie- Freund und Mentor Berthold
ren. Doch die Fröhlichkeit seiner Werke provozierte die Beitz die Basis für eine Fusion
Anhänger einer schlichteren Ästhetik. Graves, der im Alter der Stahlfirmen Thyssen und
auf einen Rollstuhl angewiesen war, entwarf schließlich Krupp legte. Beitz hatte Vo-
auch Produkte für das Gesundheitswesen wie Nachtschrän- gelsang 1968 zum Chef des
ke und Betten, „sie bringen einen zum Lächeln“, sagte er. schwer angeschlagenen
Michael Graves starb am 12. März in Princeton. uk Krupp-Konzerns gemacht. In
nur drei Jahren gelang dem
Betriebswirt die Sanierung.
WALENTIN RASPUTIN, 77 Trotzdem blieb Vogelsang
Der Sohn einer armen si- nicht in dem Essener Unter-
birischen Bauernfamilie ge- nehmen. Er wurde Berater,
hörte zu den Großen der Multi-Aufsichtsrat in Konzer-
russischen Literatur. Die nen wie Thyssen und ein solvierte eine Schauspielausbil-
Weite Sibiriens und die Strippenzieher der deutschen dung und war mit „Holiday on
Kargheit des ländlichen Wirtschaft. Als Krupp 1997 Ice“ unterwegs. Dann spielte
Lebens prägten ihn. Seine erneut in Schieflage geriet, er am Theater und fürs Fern-
FOTOS: ULLSTEIN BILD (U.); IMAGO (R.); FRED R. CONRAD / THE NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF (O.)

schriftstellerische Arbeit führten Beitz und Vogelsang sehen: „Tatort“, „Traumschiff“,


hatte einen melancholi- geheime Verhandlungen mit „Schwarzwaldklinik“. Seine
schen Grundton, er widme- Politik, Banken und Manage- Stimme erklang in „Bibi
te sie der Bewahrung der ment, um aus Thyssen und Blocksberg“- und „Benjamin
Natur und der Volkstraditionen. Seine erste Erzählung ver- Krupp einen überlebensfähi- Blümchen“-Hörspielen. Im
öffentlichte Rasputin im Alter von 24 Jahren in der sibiri- gen Stahlkonzern zu schmie- Kino war er oft in Filmen zu
schen Literaturzeitschrift „Angara“, bald darauf publizierte den. Günter Vogelsang starb sehen, die sich mit dem Holo-
er in großen Moskauer Blättern wie „Ogonjok“. Sein Kurz- am 16. März in Düsseldorf. fdo caust auseinandersetzen
roman „Abschied von Matjora“ über den Untergang eines („Bronsteins Kinder“). 1996
Dorfs durch den Bau eines Stausees machte ihn weltbe- KLAUS ULONSKA, 72 wurde Elias Präsident des
rühmt. Das sowjetische Imperium empfand er als positive Als er 1961 bei den Deutschen Anne-Frank-Fonds und enga-
Verkörperung der traditionellen russischen Staatlichkeit. Junioren-Meisterschaften die gierte sich für die Opfer des
Die mit dem Zerfall der Sowjetunion beginnende Libera- 200 Meter in 21 Sekunden lief, Nationalsozialismus. Die Erin-
lisierung lehnte er ab. Rasputin war konservativ in der schwärmte ein Zuschauer, nerung an seine Cousine, die
Tradition Fjodor Dostojewskis; den nach diesem benann- der Ulonska nehme die Kurve im Alter von 15 Jahren im
ten Preis erhielt er 2001. Er bekannte sich zur „russischen mit voller Kraft, „das gefällt Konzentrationslager gestorben
Idee“ und den „volkspatriotischen Kräften“. In einem mir an diesem Talent am war, sei für ihn „zum Wich-
Aufruf warnte er, der Staat dürfe nicht „zur Futterkrippe meisten“. Ulonska zeigte sei- tigsten“ geworden, sagte er.
für gierige Neureiche werden“. Walentin Rasputin starb ne Tatkraft auf vielen Fel- Buddy Elias starb am 16. März
am 14. März in Moskau. ukl dern. Als Leichtathlet wurde in Basel. kle
DER SPIEGEL 13 / 2015 151
Personalien

Der Onkel
Ihr Großonkel prophezeite
einst 15 Minuten Ruhm für je-
dermann. Jetzt reklamiert
die amerikanische Modefoto-
grafin Abby Warhola, 30, ihren
Anteil an öffentlicher Auf-
merksamkeit. „Uncle Andy“
soll die Dokumentation hei-
ßen, die Warhola mit ihrem
Partner Jesse Best produzieren
will. In dem Film über den
Pop-Art-Künstler, der das „a“
am Ende seines Nachnamens
eliminierte, werden unter
anderem unbekannte Familien-
fotos gezeigt. Verwandte er-
zählen, wie sie Onkel Andy in
seinem mit Kunst und Siam-
katzen überfüllten New Yor-
ker Haus besucht haben. Die
Finanzierung des Films soll
über Crowdfunding erfolgen.
Das Andy Warhol Museum in
Pittsburgh, der Geburtsstadt
des Sohnes osteuropäischer
Einwanderer, lobt das Projekt
als „süße Familiengeschichte“,
wird sich aber finanziell nicht
engagieren: „Als Non-Profit-
Organisation“, so eine Muse-
umsvertreterin, „unterstützen
wir keine kommerziellen
Projekte.“ ks

Horst Seehofer, 65, bayerischer Ministerpräsident, Marc Robert, 55, Bürgermeister von Rambouillet im
hat seine Modelleisenbahnwelt erweitern können. Als Südwesten von Paris, hat „im Namen der Moral“
Dank für eine Rede vor SPD-Fraktionsvorsitzenden Werbeplakate von den Bussen seiner Gemeinde ent-
aus Bund und Ländern bekam Seehofer nicht nur eine fernen lassen. Das Plakat des Internetportals Gleeden
Spielzeugfigur geschenkt, die Willy Brandt darstellt. für Partnervermittlung zeigt nichts als einen ange-
Auch der legendäre Salonwagen des früheren SPD- bissenen roten Apfel und den Slogan „Die erste von
Kanzlers, mit dem er durchs Land reiste, ziert jetzt im Frauen entworfene Site für außereheliche Begegnun-
Maßstab 1:87 Seehofers Eisenbahnlandschaft. Der gen“. Robert ist nicht allein: Ein katholischer Verein
CSU-Chef zieht sich am Wochenende gern in seinen hat mehr als 23 000 Unterschriften gegen die „skan-
Hobbykeller zurück. Brandt ist nach Angela Merkel dalöse Werbung“ gesammelt, sechs weitere Gemein-
die zweite Kanzlerfigur in Seehofers Sammlung. cnm den haben die Plakate bereits abgehängt. red

152 DER SPIEGEL 13 / 2015


Möchtegernkämpfer der kurdisch-irakischen Region
bei Erbil, wo Peschmerga-Kämp-
FOTOS: S. 152: ABBY WARHOLA (O. L.); WARHOL.COM (O. R.); DIETER MAYR / AGENTUR FOCUS (U. L.); S. 153: ANDREW PARSONS / I-IMAGES (O.); QUELLE: YOUTUBE (M. L.); GETTY IMAGES (M. R.); EKKEHARDMAASS.DE (U. L.); NILS BAHNSEN (U. R.)

Der Londoner Bürgermeister fer ausgebildet werden. Johnson


Boris Johnson, 50, posierte mal in benutzte das Foto jetzt zur
Straßenarbeiterkleidung, mal Illustration eines Textes über die
mit unattraktivem Fahrradhelm, Zerstörung von Kulturgütern
zuletzt in Wathose, hüfthoch durch die Terrororganisation „Is-
im Wasser stehend – Hauptsache, lamischer Staat“, den er auf
die Leute haben etwas zu gu- der Website des „Telegraph“ ver-
cken und manchmal auch zu la- öffentlichte. Der Brite schreibt:
chen. Die neueste Selbstinsze- „Ich bin kein Soldat. Aber wenn
nierung des konservativen Politi- ich hören würde, dass eine Spe-
kers wirkt eher befremdlich: zialeinheit aus Pfeife rauchen-
Im Businessanzug mit einem Ge- den Geschichtsfreaks und Alter-
wehr im Anschlag liegt er im tumsdenkmal-Fetischisten zusam-
Gras, an seiner Seite ein Mann mengestellt wird, die sich
in Tarnuniform. Das Bild ent- der Abwehr dieser Barbaren ver-
stand im Januar während eines schreibt – ich glaube, ich wäre
Besuchs britischer Truppen in sehr versucht mitzumachen.“ ks

Kurzferien in Gaza Mann und Frau


Im Februar hat der britische Künstler Banksy einen Film über Sie sei weder Mann noch Frau,
seine heimlich im Gazastreifen gesprayten Graffiti veröffent- sagt das australische Model
licht. Der Film lädt auch ironisch dazu ein, dort Urlaub zu Ruby Rose, 29, von sich. Als
machen. Jetzt veröffentlichten palästinensische Jugendliche Fünf- oder Sechsjährige betete
eine Videoreplik: Die Jungs von Gaza Parkour bieten sich sie, keine Brüste zu bekom-
Banksy und der Welt als Führer an – Salto springend und rad- men. Als Teenager wurde sie
schlagend. „Wir kannten Banksy überhaupt nicht“, sagt gemobbt und manchmal ver-
Muhammed Al Jakhbeer, 25, einer der beiden Gründer der Grup- prügelt, weil sie anders war als
pe. Niemand hatte damit gerechnet, dass sich ihr Clip im Netz andere Mädchen. Später ließ
wie ein Lauffeuer verbreiten würde. „Am liebsten üben wir sie sich die Haare lang wach-
auf dem Friedhof“, sagt Al Jakhbeer. Da gebe es genug Mau- sen, um als Model anerkannt
ern zum Bespringen, Sand zum Abrollen – und keine Störer. zu werden, und schnitt sie wie-
Parkour sei ein perfektes Hobby für das Leben in Gaza: der ab, weil es sich falsch an-
das Leid, die Zerstörung, der Wassermangel, die Perspektiv- fühlte. Heute, nach jahrelanger
losigkeit – für einen kurzen Moment sei das alles weg, sagt er. Therapie, akzeptiert sie ihren
„Schließlich heißt dieser Sport auch Freerunning.“ red weiblichen Körper. Als MTV-
Moderatorin und DJ wurde
Rose Down Under ein Star.
Jetzt schickt sie sich an, die
USA zu erobern. Mit ihrer Ver-
lobten lebt Rose in Los Ange-
les, und ab 12. Juni ist sie in der
dritten Staffel der Erfolgsserie
„Orange Is the New Black“ zu
sehen. Als Stella Carlin kommt
sie in den TV-Frauenknast
und wird gleich von zwei Mit-
gefangenen begehrt. ks

Ekkehard Maaß, 63, Publizist, Liedersänger, Menschen- Tom Koenigs, 71, menschenrechtspolitischer Sprecher
rechtsaktivist, erhielt in Brüssel von der tschetsche- der Grünen-Fraktion, soll im Auftrag Deutschlands den
nischen Exilregierung den Orden „Koman Sij“ (Ehre der Friedensprozess in Kolumbien voranbringen. Wie aus
Nation). Der ehemalige DDR-Bürgerrechtler unter- dem Auswärtigen Amt zu hören ist, will Bundesaußen-
stützt seit Jahren politisch Verfolgte aus Tschetsche- minister Frank-Walter Steinmeier Koenigs als Sonder-
nien, die nach Unabhängigkeit von Russland streben. beauftragten berufen, um die Verhandlungen über ein
Seine Wohnung im Prenzlauer Berg dient als Anlauf- Friedensabkommen zwischen der kolumbianischen
stelle für Asylsuchende aus der Region. Gegen Maaß’ Regierung und der Rebellengruppe Farc zu unterstützen.
Ernennung zum Honorarkonsul durch die Exilregie- Koenigs begleitete Steinmeier auf seiner letzten Latein-
rung hatte der Kreml schon vor Jahren offiziell beim amerika-Reise Mitte Februar. Die Politiker sprachen in
Auswärtigen Amt protestiert. stb Bogotá auch mit ehemaligen Farc-Kämpfern. mah

DER SPIEGEL 13 / 2015 153


Hohlspiegel Rückspiegel

Aus der „Pegnitz-Zeitung“: Zitate


„Außerdem brüten auf den großflächigen
Wiesen viele Feldhasen.“ Die „Neue Zürcher Zeitung“ zum SPIE-
GEL-Artikel „Immer wieder Kopfschüt-
teln“ über den Nato-Oberbefehlshaber in
Europa, Philip Breedlove (Nr. 11/2015):

Aus dem „Jeverland-Boten“ „Wir sind nicht in der Lage, genau zu ver-
folgen, was in der Ostukraine geschieht“,
sagte Breedlove. In Mons hiess es zur Be-
Aus den „Lübecker Nachrichten“: „Um gründung, es sei einfacher, einen grossen
die Internetkriminalität besser zu Truppenaufmarsch zu beobachten als
bekämpfen, sollen 16 statt 26 Stellen kleinere Bewegungen direkt hinter der
bereitgestellt werden.“ Frontlinie. Womöglich hat die Zurückhal-
tung aber auch politische Hintergründe.
Der SPIEGEL hatte jüngst über den Un-
mut im deutschen Aussenministerium
und im Kanzleramt über Äusserungen
Breedloves zur militärischen Lage in der
Ukraine berichtet, welche Berlins Frie-
densbemühungen hintertrieben.

Die „Hannoversche Allgemeine“ zum


SPIEGEL-Artikel „Ich habe es einfach satt“
Aus der TV-Beilage „prisma“ über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk
(Nr. 7/2015):

Aus dem Katalog des Fachhändlers Der ARD-Journalist und Hanns-Joachim-


Grube: „Natürlich ist auch Echt- Friedrichs-Preisträger Christoph Maria
zeitortung möglich, und Sie können Fröhder rechnete jüngst im SPIEGEL fast
Ihren Hund obendrein anrufen.“ verbittert mit „Tagesschau“ und „Tages-
themen“ ab … Es ist nicht unüblich, dass
Veteranen jedweder Profession dem Ein-
druck verfallen, früher sei alles besser ge-
wesen. Im öffentlich-rechtlichen System
Aus der aber nimmt die Diskussion um Berufs-
„Allgemeinen Zeitung“ Mainz ethos und das eigene journalistische
Selbstverständnis gerade erst Fahrt auf.

Aus einer Meldung des „Evangelischen Die „Nürnberger Nachrichten“ zum


Pressedienstes“: „Mit Blick in die kirchli- SPIEGEL-Artikel „Mumie auf Station“
che Zukunft sagte Brandy, künftig würden über Vorwürfe gegen das Klinikum Bay-
Frauen bis zur Leitung auf Augenhöhe mit reuth (Nr. 12/2015):
den Männern und langfristig mit einem
leicht wachsenden Übergewicht wirken.“ Der Anklagebehörde liegen gleich meh-
rere Strafanzeigen vor … Zu den akten-
kundigen Fällen gehört auch die „Ram-
ses-Affäre“ vom Sommer 2013, die der
SPIEGEL nun am Wochenende ans Licht
der Öffentlichkeit gebracht hat: Ein tod-
kranker Patient aus Oberfranken soll
auch dann noch künstlich beatmet wor-
den sein, als bereits Gliedmaßen abge-
Aus „Landshut aktuell“ storben waren.

Der Literaturkritiker und ehemalige SPIE-


Aus der „Main-Post“: „Und als dann Pfar- GEL-Redakteur Hellmuth Karasek im
rer Gerhard Weber während des Gottes- „Hamburger Abendblatt“:
dienstes noch das Kirchen anfing, waren
die Gottesdienstbesucher restlos irritiert.“ Später kam mir das Wissen im SPIEGEL
zugute. Herausgeber Rudolf Augstein
machte an die Manuskripte der Redakteu-
re seine Anmerkungen in Sütterlin, und
jüngere Kollegen kamen zu mir und lie-
ßen sie sich entschlüsseln. Herrschaftswis-
sen! „Was heißt das?“, fragte ein Kollege.
Aus der „Rheinischen Post“ Ich antwortete: „Das heißt ‚Quatsch‘.“
154 DER SPIEGEL 13 / 2015

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