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Die Philosophie spricht viel vom Tun, aber wenig vom Lassen.

Die Leistun-
gen des Menschen können jedoch nur in der Einheit beider Bewegungen ge-
lingen. Dieses Motiv verfolgt Martin Seel in exemplarischen Untersuchungen
zur Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie einerseits, zur Handlungstheo-
rie und Ethik andererseits. Dabei kommt es zu einer weitreichenden Kritik
epistemologischer und moralischer Ideale. Das Buch mündet in den Entwurf
eines revidierten Begriffs von Selbstbestimmung: Im Erkennen und Handeln
kommt es darauf an, sichbestimmen zu lassen und doch zugleich sich bestim-
men zu lassen.Gegenüber den Vereinseitigungen bei Hume oder Kant, Nietz-
sche oder Heidegger wird damit eine Balance hergestellt, die in der Tradition
oft verfehlt worden ist.

Martin Seel lehrt Philosophie an der Universität Gießen. Im Suhrkamp Ver-


lag hat er u.a. veröffentlicht: Eine Ästhetik der Natur (stw 1231), Versuchüber
die Formdes Glücks(stw 1445), Ethisch-ästhetische Studien (stw 1249).
Martin Seel
Sich bestimmen lassen
Studien zur theoretischen
und praktischen Philosophie

Suhrkamp
Die Deutsche Bibliothek- CJP-Einheitsaufnahme
Ein Titeldatensatz für diese Publikation
ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlicb.

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1589


Erste Auflage 2002
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2002
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des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
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Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden
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Umschlag nach Entwürfen von
Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

I 2 3 4 5 6 - 07 06 05 04 03 02
Inhalt

Vorwort................................................ 7

I.
r. Am Beispiel der Metapher.
Zum Verhältnis von buchstäblicher und figürlicher Rede. . n
2. Über Richtigkeit und Wahrheit.
Erläuterungen zum Begriff der Welterschließung......... 45
3. Sprache bei Benjamin und Heidegger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
4. Die Erfüllung eines unerfüllten Versprechens.
Robert B. Brandoms pragmatische Sprachphilosophie . . . . 81
5. Für einen Holismus ohne Ganzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
6. Der Konstruktivismus und sein Schatten. . . . . . . . . . . . . . . . IOI
7. Medien der Realität - Realität der Medien . . . . . . . . . . . . . . 123
8. Bestimmen und Bestimmenlassen.
Anfänge einer medialen Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . 146

II.
9. Heidegger und die Ethik des Spiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
ro. Wege einer Philosophie des Glücks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
11. Aporien rationaler Selbstbegrenzung.................... 213
12. Ein Lob der Willensschwäche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
13. Über das Böse in der Moral. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
14. Drei Regeln für Utopisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
15. Kleine Phänomenologie des Lassens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
16. Sich bestimmen lassen. Ein revidierter Begriff von
Selbstbestimmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
Vorwort

Die hier vereinten Arbeiten aus den vergangenen dreizehn Jahren va-
riieren ein Motiv, das erst in der letzten vollends ausgesprochen wird.
Es betrifft die Verschränkung von Aktivität und Passivität, wie sie für
alle menschliche Orientierung maßgeblich ist. Die theoretische und
die praktische Hälfte des vorliegenden Buchs haben gemeinsam, dass
es in ihnen um das Unwillkürliche im Willkürlichen, das Unbe-
stimmte im Bestimmten, das Unverfügbare im Verfügbaren geht.
»Alles Tun ist ein Lassen« - mit diesem Nietzsche-Wort lässt sich
der springende Punkt der Studien auf einen einfachen Nenner brin-
gen. In allem Tun, wie instrumentell oder intellektuell es auch sei, sind
wir bestimmt gerade dann, wenn wir es sind, die uns oder etwas be-
stimmen. Mehr noch: In unserem Bestimmen frei sind wir nur, wenn
wir uns nach bestem Wissen und Gewissen von uns und der Welt be-
stimmen lassen.Es ist diese Justierung, in der sich die Fähigkeit zur
Selbstbestimmung beweist. Ich verwende also das Motiv des Lassens
nicht, um den Gedanken der Autonomie zu schwächen, sondern um
ihm eine realistische Gestalt zu geben.
Eine Verschränkung des Aktiven und Passiven kennzeichnet nicht
allein das freizügige Handeln, sondern auch das welthaltige Erken-
nen. Seit Kant ist das Miteinander von Spontaneität und Rezeptivität
im theoretischen Bereich nahezu selbstverständlich geworden. Doch
ist es auch hier nicht immer leicht, die Balance durchzuhalten, die von
den Phänomenen vorgezeichnet wird. Der Versuch, generell für den
Anteil des Passiven am Aktiven aufmerksam zu sein, führt auf der
ganzen Breite der Philosophie zu einer Zurückweisung von Alternati-
ven, mit denen die Stellung des Menschen verzeichnet wird. In der
Sprachphilosophie wird die Frage gegenstandslos, wer denn nun in
Regie genommen wird - die Sprache durch die Sprecher oder die
Sprecher durch die Sprache. In der Erkenntni~theorie hebt sich der
Gegensatz zwischen Realismus und Anti-Realismus auf. In der Ethik
ergibt sich eine Kritik an falschen moralischen Idealen; möglich wird
eine Erinnerung an Tugenden des Lasters, ohne die es keine men-
schengerechte Tugend gibt. In der politischen Philosophie kommt es
zu einer Revision selbstdestruktiver Utopien, die das untergraben, was
in ihnen an der Oberfläche entworfen wird. In der Handlungstheorie
kann das Verhältnis von Bestimmtsein und Bestimmendsein neu ge-
dacht werden; wir sind nicht entweder frei oder determiniert, sondern
7
von Möglichkeiten geleitet, in denen wir Spielräume offen haben. In-
dem wir bestimmen, lassen wir uns bestimmen.
Bedanken möchte ich mich bei Melisande Lauginiger und Vitus
Feindt, die bei der Homogenisierung der Rechtschreibung und ande-
ren Feinheiten sehr hilfreich gewesen sind.

Gießen, im Februar 2002 M.S.


I.
1. Am Beispiel der Metapher.
Zum Verhältnis von buchstäblicher
und figürlicher Rede

r. Troja voller Pferde

Die Metapher hat Konjunktur. In sprachphilosophischen Kreisen ist


die Metapher dieser Tage zum trojanischen Turnierpferd geworden,
aus dem mit allen Listen für und wider die Festung einer systemati-
schen Bedeutungstheorie gestritten wird. Wie keine andere scheint
diese Sprachform geeignet, das gegen das Vielformenheer der Sprache
widerständige Troja der Bedeutungstheorie allen hellenischen Tropen
zu öffnen und es damit in seinen Grundfesten zu erschüttern. Längst
aber steht Troja voller trojanischer Pferde. Selbst die göttlichen Beob-
achter wissen nicht länger zu sagen, ob die alten Bastionen erfolgreich
gestürmt oder die fremdsprachigen Invasoren erfolgreich eingebür-
gert wurden. Jede Bedeutungstheorie nämlich, die auf sich hält, hat
sich mittlerweile - meist am Beispiel der Metapher - auch eine Theo-
rie der figürlichen Rede zugelegt. Damit hat der argumentative
Kampf um Troja aber nicht nur einen neuen Schauplatz gewonnen;
unter den streitenden Parteien hat stillschweigend ein neues Kriteri-
um der Angemessenheit ihrer Bemühungen Anerkennung gefunden:
Jede Philosophie der Sprache muss erklären können, warum die so ge-
nannten uneigentlichen Sprachverwendungen ein ganz unentbehrli-
cher Bestandteil der menschlichen Sprache sind.
Meine These ist, dass die bekannten neueren Sprachtheorien die-
sem - ihrem eigenen - Kriterium nichtzu entsprechen vermögen. Zur
Verdeutlichung greife ich ein Beispiel heraus, das unmittelbar die Fra-
ge der Intentionalität sprachlicher Leistungen berührt. Zu den Merk-
würdigkeiten der Habermas'schen Theoriedes kommunikativen Han-
delnsgehört, dass diese die Behandlung der Formen figürlicher Rede
großzügig an eine konkurrierende Theorie der Sprache delegiert -
und zwar nicht an irgendeine, sondern an die ansonsten, das heißt als
Theorie der wörtlichen Bedeutung, scharf zurückgewiesene »inten-
tionale Semantik« im Gefolge von Grice. Die entscheidende Passage
im dritten Kapitel der Theoriedeskommunikativen Handelnslautet:
»Kooperative Deutungsprozesse durchlaufen verschiedene Phasen.
Deren Anfangszustand ist in der Regel dadurch definiert, daß sich die
II
Situationsdeutungen der Beteiligten für Zwecke der Handlungskoor-
dinierung nicht hinreichend überlappen. In dieser Phase müssen die
Teilnehmer auf die Ebene der Metakommunikation ausweichen oder
Mittel der indirekten Verständigung einsetzen. Eine indirekte Verstän-
digung verläuftnach dem Modell der intentionalenSemantik: der Spre-
cher gibt dem Hörer durch perlokutionäre Effekte etwas, das er
(noch) nicht direkt mitteilen kann, zu verstehen. In dieser Phase müs-
sen also perlokutionäre Akte in Zusammenhänge kommunikativen
Handelns eingebettet werden.« 1
Zwar hat Habermas diese Position inzwischen in einigen Punkten
modifiziert2, an der zenrralen These aber hat sich nichts geändert. Auf
der einen Seite steht der Prozess echter Verständigung, der sich im
»Originalmodus« direkter und buchstäblicher Rede erfüllt, »zu dem
sich die indirekte Verständigung, das Zu-verstehen-Geben oder das
Verstehen-Lassen, parasitär verhalten«. 3 Auf der anderen Seite stehen
die rhetorischen Techniken des Zu-verstehen-Gebens, bei denen ein
Sprecher einem Hörer etwas beizubringen sucht, das er auf direktivem
Weg nicht sagen kann oder will. Ob dieses auf »schlussfolgernde Ver-
arbeitung« abzielende Sprechen innerhalb des »verständigungsorien-
tierten« oder des »erfolgsorientierten« Handelns stattfindet, tut nichts
zur Sache. In jedem Fall, so Habermas, handelt es sich hier um Ver-
fuhren andeutenderRede.
Selbst wenn das richtig wäre, geriete die Theorie von Habermas mit
sich selbst in Konflikt. Nach Habermas' eigener Darstellung muss sich
das geltungsorientierte kommunikative Handeln oft notwendiger-
weise der »indirekten Verständigung« bedienen; gerade diese Verstän-
digungsform aber fällt aus dem Begriff des eigentlichen kommuni-
kativen Handelns heraus. Damit die Voraussetzung rationaler Verstän-
digung, nämlich die Gemeinsamkeit der »Situationsdeutungen«,
geklärt oder hergestellt werden kann, muss auf eine Weise sprachlich
1 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1981, Bd. 1,444
(Hervorhebung von mir, M.S.).
2 Er setzt »perlokutive« Wirkungen nicht länger mit »strategischen« Handlungserfolgen
gleich, und er hat neben den drei geltungsorientierten Sprachfunktionen der Theorie
des kommunikativen Handelns zusätzlich die »rhetorische« Dimension der »Welter-
schließung« eingerichtet, die in reiner Form durch die poetische Rede erfüllt sein soll.
Vgl. J. Habermas, Entgegnung, in: A. Honneth/H. Joas (Hg.), Kommunikatives
Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas' »Theorie des kommunikativen Handelns«,
Frankfurt/M. 1986, 327-405, bes. 362 L und ders., Exkurs zur Einebnung des Gat-
tungsunterschiedes zwischen Philosophie und Literatur, in: dcrs., Der philosophische
Diskurs der Modeme. ZwölfVorlesungen, Frankfurt/M. 1985, 219-247.
3 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, a.a.O., 385.
12
gehandelt werden können, die nicht im engeren Sinn als kommuni-
katives Handeln zu beschreiben ist. Zwar fasst Habermas zur Thema-
tisierung situationstragender Vorverständnisse auch den Weg der
»metakommunikativen« Rede ins Auge, die sich wiederum im Medi-
um unverstellten Sprechens vollziehen können soll. Aber auch für die-
se reflexive Thematisierung kann ja wiederum das Problem aufkom-
men, dass ein gemeinsames oder abweichendes Vorverständnis ins
Gespräch gebracht oder im Gespräch gehalten werden muss, das nicht
erneut in metakommunikative Distanz gebracht werden kann, wenn
die Unterhaltung überhaupt sinnvoll weitergehen soll. Weil das so ist,
steht das trojanische Pferd der indirekten Verständigung immer schon
tief in der Region des originalen kommunikativen Handelns: viel zu
tief, als dass Habermas die Entschärfung der gefährlichen Gabe guten
Gewissens dem Räumungskommando der intentionalen Semantik
überlassen dürfte. Dass sich Habermas zu dieser Konzession gezwun-
gen sieht, stellt die Beurteilung seiner Theorie vor eine eindeutige
Wahl. Entweder man akzeptiert ihren Begriff geltungsorientierten
kommunikativen Handelns, oder man akzeptiert ihren Begriff der so
genannten uneigendichen Rede. Im Blick auf die intentionalistische
Sprachtheorie bedeutet das: Entweder muss die Interaktionspragma-
tik gegenüber der Intentionspragmatik weitgehend kapitulieren, oder
aber sie muss zeigen, dass mit der intentionalistischen Analyse der fi-
gürlichen Rede etwas grundlegend faul ist. Mit anderen Worten - die
Grundintuition der Theoriedes kommunikativenHandelns,dass die
geltungsorientierte Verständigung begrifflichen Vorrang hat gegen-
über allen anderen Formen der Sprachverwendung und des Sprach-
verstehens, ist nur zu halten, wenn gezeigt werden kann, dass die so
genannte uneigendiche Rede selbst ein paradigmatischer Fall der
»originalen« sprachlichen Verständigung ist.
Ebendies möchte ich im Folgenden zeigen. Ich werde mich dabei
allerdings nicht um die Details der Frankfurter Pragmatik kümmern,
und ich werde auch die vielfältigen Diskussionen, wie sie am Beispiel
der Metapher zum Thema geführt worden sind, nicht im Einzelnen
kommentieren. 4 Ich werde mich vielmehr auf eine Kritik desAndeu-
tungsparadigmas der nichtwördichen Rede konzentrieren. Dieses Pa-
4 Vgl. S. Sacks (Hg.), On Meraphor, Chicago 1978; M. Johnson (Hg.), Philosophical
Perspectives on Metaphor, Minneapolis 1981; A. Haverkamp (Hg.), Theorie der Me-
tapher, Darmstadt 1983; Ph. forget (Hg.), Text und Interpretation, München 1984; J.
Derrida, Signatur Ereignis Kontext, in: dcrs., Ra.ndgänge der Philosophie, Wien 1988;
J. R. Searle, Reiterating the Differences. A Reply to Derrida, in: Glyph 1/r977, 198-
208;). Derrida, Limited lnc abc ... , in: Glyph 2/J977, 162-254.

13
radigma ist keineswegs eine Erfindung von Habermas oder Grice oder
Searle, es ist das die Sprachphilosophie gestern wie heute weithin be-
herrschende Muster der Explikation der figürlichen Rede. Noch die
prominentesten gegenwärtigen Kritiker des Paradigmas - Derrida
und Davidson - sind ihm mehr oder weniger stark verfallen. 5 Die
These der Andeutungstheorie ist, kurz gesagt, die, dass die (figürliche
oder sonst wie) nichtwörtlicheRede etwas zu verstehen gibt oder auf
etwas aufmerksam macht, das im Prinzip auch wörtlichhätte gesagt
oder erreiche werden können. Deswegen auch gilt die nicht-buch-
stäbliche Rede hier als uneigentlicheRede, das heißt: als uneigentliche
oder indirekte buchstäblicheRede.6 Was Formen figürlicher Rede be-
deuten oder bewirken, ist demnach prinzipiell nichts anderes als das,
was andere Formen buchstäblicher Rede hätten bedeuten oder bewir-
ken können. »Esgibt nur wörcliche Bedeutung - von dieser geht das
Andeuten aus, auf diese führt die andeutende Rede zurück.« So lautet
das oft verheimlichte Credo dieser Lehre. Freilich kennt die Andeu-
tungstheorie einige deutlich voneinander abweichende Varianten,
wodurch verständlich wird, warum unter den Verfechtern des Paradig-
mas so viel Unfrieden herrscht. Einmal wird der Witz der nichtwörtli-
chen Rede im erneuernden Vorgriffauf künftige wörcliche Rede gese-
hen. Anderen stellt sich ihre Leistung als Implikationeiner meist kom-
plexen Botschaft dar. Dritterseics wird das nichtwörtliche Reden im
Sinne einer Animation zum genaueren Bedenken oder Vorstellen einer
Sache gedacht. Ob sie die Innovation, die Implikation oder die Ani-
mation betont - in jeder dieser Versionen der Andeutungstheorie ist
etwas Richtiges erfasse.Trotzdem ist die Theorie im Ganzen verfehlt.
Der grundlegende Fehlschluss ist leicht zu benennen. Die Andeu-
tungscheorie schließt vom begrifflichen Primat der wörtlichen Bedeu-
tung auf einen begrifflichen Primat der wörtlichen Rede.Der Primat
5 Derrida ergeht sich in den Paradoxien und Aporien desParadigmas, hält diese aber für
ganz unausweichlich, ja geradezu für das Schicksal der Philosophie; vgl. neben den in
Anm. 4 genannten Texten: J. Derrida, Weiße Mythologie. Die Metapher im Text der
Philosophie. in: ders., Randgänge der Philosophie, a.a.O. Davidson dagegen leistet
eine vehemente (und in den negativen Argumenten auch weitgehend überzeugende)
Kritik des Andeurungsmodells, soweit es den Anspruch einer »Bedeutungstheorie«
der Metapher erhebt, fällt aber in seiner eigenen Analyse der metaphorischen Wir-
kung in eben jenes Paradigma zurück; vgl. D. Davidson, Was Metaphern bedeuten, in:
ders., Wahrheit und Interpretation, Frankfurr/M. 1986, 343-371.
6 Wenn ich statt von »buchstäblicher« vs. »figürlicher« Rede auch von »wörtlicher« vs.
michrwörtlicher« Rede spreche, ist stets der Unterschied zwischen (so genannter) »ei-
gentlicher« und (so genannter) »uneigentlicher« Rede, nicht aher die Differenz von di-
rekter und zitierter bzw. erwähnter Rede gemeint.

14
der wörtlichen Bedeutung beruht auf dem recht trivialen Umstand,
dass die - oder zumindest eine - wörtliche Bedeutung eines Satzes be-
kannt sein muss, damit der abweichende Gehalt oder Sinn oder Witz
einer nichtwörtlichen Verwendung des Satzes kenntlich werden kann.
In diesem Sinn ist die figürliche gegenüber der buchstäblichen
Sprachverwendung logisch parasitär. Der Streit um den Sinn unei-
gentlicher Rede ist im Kern ein Streit um die Bedeutung dieses Fak-
tums. Die Andeumngstheorie schließt aus diesem Faktum auf einen
unbedingten Primat der wörtlichen Rede. Sie folgert, dass es im Prin-
zip möglich wäre, sich in rein wörtlicher Rede zu verständigen. Das
Prinzip der Wörtlichkeit wird hier zum regulativen Prinzip der Spra-
che selbst. Man könnte auch sagen, die Andeutungstheorie schließt
vom begrifflichen auf den funktionalen Primat der wörtlichen Rede.
Natürlich bestreitet kein Theoretiker der Sprache, dass das verblümte
Reden für unsere Sprache, so wie sie ist, höchst wichtig und schwer er-
setzbar ist. Trotzdem, so behaupten die meisten, muss das Wesen der
Sprache so gedacht werden, als könnte all das unreine Reden auch
weggedacht werden. 7 Das ist auch nur konsequent, wenn es denn
wirklich so ist, dass die nichtwörtliche Rede nur ein guter oder
schlechter Ersatz für die wörtliche Rede ist.
So ist es aber in Wahrheit nicht. Ich halte es für eine Illusion, zu glau-
ben, dass zwischen dem eigentlichen und dem uneigentlichen Reden,
nur recht eigentlich besehen, nicht eigentlich ein Unterschied beste-
he. Man könnte das geradezu die trojanische Illusion der gegenwärti-
gen Sprachphilosophie nennen. Diese Illusion entsteht, wo es unter-
lassen bleibt, energisch nach der Funktion des nichtwörtlichen Spre-
chens im Leben der Sprache zu fragen. Diese Illusion vergeht, sobald
deutlich wird, dass die Möglichkeit nicht-wörtlichen Redens nicht
eine bloß kontingente,vielmehr eine durchaus konstitutiveEigenschaft
natürlicher Sprachen ist. Um dies zu erkennen, muss freilich auch der
Differenzder sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten streng Rechnung
getragen werden. Leider haben sich die bedeutenden Kritiker der
sprachphilosophischen Heiligung des Wörtlichen nur zu oft auf eine
Strategie der Nivellierung seiner Differenz zum nichtwörtlichen Re-
den eingelassen.8 Eine andere, aus der Tradition der Rhetorik und
7 Ein gutes Beispiel für diese Denkfigur ist J. R. Searle, Ausdruck und Bedeutung. Un-
tersuchungen zur Sprechakttheorie, Frankfurr/M. 1982.
8 Z.B. M. Johnson/G. Lakoff, Metaphors We Live by, Chicago 1980; R. Rorty, Is there
a Problem about Fictional Discourse?, in: D. Henrich/W. Iser (Hg.), Funktionen des
Fiktiven, München 1983; 67-94; Ch. Taylor, Theories of Meaning, in: ders., Human
Agency and Language, Philosophical Papers, Bd. I, Cambridge 1985, 248-291.

15
Poetik herrührende Misslichkeit der bisherigen Kritik am Andeu-
tungsparadigma liegt darin, dass dem wörtlichen Reden immer gleich
- und oft nur - der Eigensinn und die Autonomie der literarisch-poe-
tischen Sprachverwendung entgegengehalten wird. 9 Die alltägliche
Metaphorik und Rhetorik des Sprechens erscheint von dieser Warte
aus als ein Abfallprodukt, als eine Veifallsform der poetischen Rede
oder aber als eine Mischung aus problemlösender Prosa und weit-
erschließender Poesie. Auch diese Problemstellung halte ich für
unangemessen. Wie die ironische Bemerkung im Alltag nichts mit
romantischer Ironie zu tun hat, so liegen Welten zwischen einer me-
taphorischen Behauptung oder Aufforderung im Gespräch und ei-
nem künstlerischen Zeichenzusammenhang, der möglicherweise im
Ganzen wie eine Metapher aufzufassen ist. Mein Versuch über die
Metapher wird sich daher jeder Betrachtung ästhetischer Rede ent-
halten.
Ich werde die Analyse der Metapher im Folgenden so weit durch-
führen und differenzieren, dass die positive Kehrseite meiner zunächst
vor allem negativen Thesen fasslich wird (2-4). Danach werde ich die
Möglichkeit einer Verallgemeinerung der am Beispiel der Metapher
gewonnenen Einsichten erwägen (5). Abschließend werde ich im
Blick auf Habermas und Grice erstens erörtern, warum metaphori-
sche Rede ein originaler Modus gelingender Rede ist (6), und zwei-
tens, warum eine intentionalistische Metapherntheorie vom Ansatz
her zum Scheitern verurteilt ist (7).

2. Analyse einer Metapher

»In philosophischen Kreisen«, so habe ich geschrieben, »ist die Meta-


pher zum trojanischen Turnierpferd geworden, aus dem mit allen Lis-
ten für und wider die Festung einer systematischen Bedeutungstheo-
rie gestritten wird.« Ich möchte diesen Satz zum Beispiel meiner ers-
ten Betrachtung erheben. Dieser Beispielsatz hat den Vorteil, dass wir
den Kontext seines Vorkommens bereits genau kennen, da ich ihn als
zweiten Satz dieses Beitrags niedergeschrieben habe. Diese Kenntnis
ist nützlich, weil sich der Unterschied zwischen wörtlicher und nicht-
wörtlicher Bedeutung nicht eigentlich auf Sätze, vielmehr auf die Ver-
9 Z.B. A. Danco, Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst,
Frankfurt/M. 1984, Kap. 7; P. Rica:ur, Die lebendige Metapher, München 1986; Ha-
bermas, Der philosophische Diskurs der Modeme, a.a.O., 24off.
16
wendung von Sätzen bezieht. Der Unterschied zwischen buchstäbli-
chem und metaphorischem Ausdruck liegt in der Dimension der
Rede. Zwar sprechen wir nicht nur von buchstäblichen oder meta-
phorischen Äußerungen, sondern ebenso von entsprechenden Sätzen;
was aber einen metaphorischen von einem wörtlichen - oder genau-
er: einen metaphorisch verstandenen von einem wörtlich verstande-
nen - Satz unterscheidet, ist dies, dass er bereits im Hinblick auf eine
bestimmte Art seiner Äußerung aufgefasst wird. Bei unserem Bei-
spielsatz etwa ist klar, dass er nicht sinnvoll dazu gebraucht werden
kann, die Wahrheit der in ihm ausgedrückten Proposition zu be-
haupten. Was der Satz aussagt, ist so offensichtlich falsch, dass die Be-
hauptung dieses im Satz Gesagten offensichtlich abwegig wäre.
Schließlich sind Metaphern keine Pferde, auch keine hölzernen
und hohlen, und Theorien keine Festungen, in denen aus Pferden auf
Rädern um Sieg oder Untergang gefochten würde. Eine Metapher ist
die Äußerung des genannten Satzes aber nicht, weil der Satz allerlei -
wörtlich verstanden -Absurdes sagt, sie ist es, obwohl er das tut. Zwar
könnten sich philosophische Leser auch dann einen Reim auf den
Satz machen, wenn sie nicht wüssten, wo er das erste Mal vorgekom-
men ist; das heißt aber nur, dass sie in der Lage sind, sich eine sinn-
volle metaphorische Verwendung des Satzes zu denken.Wir haben es
also mit einer tatsächlichen oder möglichen sinnvollen Behauptung
eines - wörtlich verstanden - sinnlosen Satzes zu tun. Dass der Satz
an der gegebenen Stelle tatsächlich eine Behauptung darstellt - und
zwar eine ernsthafte, nicht etwa eine fingierte Behauptung-, scheint
schwer zu bestreiten; schließlich ist es diese Behauptung, die ich auf
den ersten fünf Seiten diskutiert habe. Ebenso schwer freilich lä.s.st
sich bestreiten, dass mit der Äußerung des Satzes etwas a~
wurde, was der Satz nicht Wort für Wort sagt.
Nun fällt es in unserem Fall nicht schwer, so etwas wie eine Ai,.,_
phraseder Metapher zu geben. Der metaphorische Satz sagt etwas
über die Prominenz der Metapher in den Diskussionen der gegen-
wärtigen Sprachphilosophie; er sagt, dass der Metapher hier eine pa-
radigmatische Rolle zukommt, und er sagt, dass es in der Diskussion
um die Metapher ans Eingemachte der Bedeutungstheorie geht. Wie
man sieht, ist diese einfache Paraphrase ihrerseits nicht ganz unmeta-
phorisch ausgefallen. Das braucht uns aber im Augenblick nicht zu
stören. Für die folgende Überlegung will ich sogar annehmen, dass es
für viele - durchaus lebendige und auffällige - Metaphern tatsächlich
nichtmetaphorische Paraphrasen gibt. Dann stellt sich die Aufgabeei-
17
ner Theorie der Metapher höchst einfach dar: Sie muss angeben kön-
nen, wie sich die nichtmetaphorische Paraphrase zum metaphori-
schen Sagen verhält. Trotz einer unendlichen Literatur liegt die eben-
so naheliegende wie plausible Antwort nur in einer unscharfen nega-
tiven Fassung vor. Der metaphorisch geäußerte Satz, so heißt es, gibt
etwas zu verstehen, das in keiner noch so ausführlichen Paraphrase re-
formuliert werden kann. Ich will versuchen, dieser meines Erachtens
richtigen Antwort einen klaren Sinn zu geben, indem ich versuche, sie
gegen zwei Formen ihrer Entschärfung zu verteidigen. Um Formen
der Entschärfung handelt es sich, weil beide Erläuterungen bestrebt
sind, der intuitiv unbestreitbaren Differenz zwischen Metapher und
Paraphrase eine möglichst harmlose Deutung zu geben, um die Ein-
heit (und Reinheit) eines allein an der wörtlichen Rede entwickelten
Begriffs der Bedeutung zu retten. Die Besonderheit metaphorischer
Rede, so argumentieren beide Positionen, hat mit einer eigenständi-
gen Bedeutung metaphorischer Äußerungen nichts zu tun. Aus ent-
gegengesetzter Richtung wenden sie sich gegen die Auffassung einer -
wie immer relativen - Autonomie metaphorischer Bedeutung. Der
Einfachheit halber werde ich den ersten Einwand den »rhetorischen"
und den zweiten den »semantischen« nennen, ohne freilich Rhetorik
und Semantik pauschal mit den skizzierten Positionen identifizieren
zu wollen. 10
Der rhetorischeEinwand besagt, dass die Funktion der zitierten
Metapher wie auch der ganzen metaphorischen Passage, in der sie auf-
tritt, nicht als darstellende zu verstehen sei, als Funktion eines Sagens.
Was die Metapher sagt,ist ja ohnehin falsch; es kommt darauf an, zu
sehen, was die metaphorische Äußerung tut. Sie stelle einen bestimm-
ten Rau:m, ein bestimmtes Klima für das im Text zu sagende her. Sie
tut dies, indem sie den philosophischen Verstand mit Hilfe der gebil-
deten Seele agitiert. Dabei macht sich unsere Metapher die agonalen
Konnotationen zunutze, die dem Begriff der Diskussion in unserer
Sprache beigelegt sind. Die Metapher aber hebt diese Konnotationen
nicht nur hervor, sie legt es in Erinnerung an die List des Odysseus
darauf an, das gewohnte Bild der sprachphilosophischen Fronten und
Konflikte in Verwirrung zu setzen. Derart gibt die metaphorische

ro Die dritte Variante der Andeutungstheorie, die den Aspekt der metaphorischen Be-
deutungsveränderung in den Vordergrund stellt, werde ich erst später kurz behan-
deln (vgl. Abschnitt 4). - Im Übrigen werde ich das Problem der Metapher durch-
weg am Beispiel metaphorischer Behauptungen erörtern; die Betrachtung metapho-
rischer Aufforderungen, Versprechen usw. ergibt keine grundsärzlich neuen Aspekte.

18
Äußerung eine Anregung, den Gegenstand ihrer Rede neu zu beden-
ken oder anders zu sehen. Auf diese Anregung, so sagt der Vertreter
des rhetorischen Einwands, zielt die metaphorische Agitation. Welche
Konsequenz Leser und Hörer aus dem metaphorischen Aufruf zur
Wahrnehmung ziehen, das bleibt deren Sache. Die Metapher be-
schränkt sich auf einen Beitrag zur Inszenierung der Redesituation,
deren Teil sie ist, ohne selbst den Part der bestimmenden Rede zu
übernehmen. Ausgehend von dem, was uns durch Sprache und Mei-
nung vertraut ist, spricht die Metapher vieles auf unvercraute Weise
an, doch artikuliert sie nichts, dem man wie einer Behauptung zu-
stimmen oder nicht zustimmen könnte. Kurz: Die Metapher befleißigt
sich nicht einesalternativen Sagens,sie hat etwasandereszu tun als das
Sagen.11
Was immer für diese Position spricht, sie gerät in Schwierigkeiten,
wenn sie erläutern will, wie denn der metaphorische Satz am Ort sei-
nes Vorkommens zu verstehensei. Es ist nämlich schwer zu bestreiten,
dass das Gefallen an einer Metapher etwas mit dem Akzeptieren der
metaphorischen Äußerung zu tun hat, auch wenn das Gefallen und
das Akzeptieren sich nicht immer ganz decken mögen. »Schön ge-
sagt«, mein Lieber, so könnte jemand dem Verfechter unseres Troja-
Satzes antworten, »nur gibst du ein reichlich überzeichnetes Bild der
Lage«. Würde aber die sprachphilosophische Lage als völlig verzeich-
net empfunden, so könnte auch die Eleganz der Metapher nicht län-
ger bewundert werden. Wir wären gezwungen, die metaphorische
Äußerung zurückzuweisen. Und es scheint so zu sein, dass wir eine
Metapher genau dann verstehen,wenn wir wissen, ob und in welchem
Grad wir ihr zustimmen oder nicht zustimmen können. 12 Von dieser
Bedingung des Verstehens aber hat der Rhetoriker keinen Begriff. Für
ihn reduziert sich das Verstehen einer Metapher auf die aktive oder
passive Reaktion des Hörers. Einer Metapher »zustimmen« heißt für
ihn lediglich, dass der Hörer bereit und in der Lage ist, der sprach-
bildlichen Regieanweisung auf irgendeine Art zu folgen. Dem Rheto-
riker liegt viel an dem Nachweis, dass es unangemessen ist, den Effekt
einer Metapher zu ihrem Gehaltzu stilisieren. Das ist sein Vorbehalt
gegen das, was ich als »Andeutungstheorie« bezeichnet habe. Die An-
deutungen, die eine erfolgreiche Metapher erzielt, dürfen nicht zu ih-

II Ein entschiedener Vertreter dieser Position ist Davidson; vgl. Anm. 5.


12 Eine ähnliche, auf die Zustimmungsbedürftigkeit von Metaphern zielende Erwide-
rung gibt M. Black, How Metaphors Work: A Reply to Donald Davidson, in: Sacks
(Hg.), On Metaphor, a.a.O., 181-192.
rer Bedeutung stilisiert werden. So einleuchtend das aber ist, der Ver-
treter dieser Position steht mit leeren Händen da, wenn er gefragt
wird, worin denn der besondere Mechanismus und die besondere
Prominenz des metaphorischenAndeutens liege. Alle möglichen wört-
lichen und nichtwörtlichen sprachlichen Operationen (selbst der
»gute Dienst der Champagnerflasche«) können die schöne Wirkung
haben, viel zu denken oder zu empfinden zu geben. Die Theorie des
Rhetorikers überspringt die genuine Artikulationsleistung der Meta-
pher, auf Grund derensie die Wirkungen erreicht, die sie erreicht. Das
ist nur konsequent, denn sie weigert sich ja, Annahmen darüber zu
machen, was eine metaphorische Äußerung - abgesehen von der
wörtlichen Bedeutung des verwendeten Satzes - bedeutet und sagt.
Mit dieser Weigerung aber vergibt die rhetorische These zur Funkti-
on der Metapher die Möglichkeit einer Erläuterung ihres Funktionie-
rens im einzelnen Fall.
An dieser Stelle melden sich die Vertreter des semantischenEin-
wands gegen die Auffassung einer genuin metaphorischen Bedeutung
zu Wort. Die Rhetoriker, sagen sie, haben durchaus Recht: Eine ge-
nuine Ausdrucksleistung der Metapher gibt es nicht. Sie machen nur
den Fehler, die sprachliche Funktion der Metapher neben die Funk-
tionen des Sagens zu stellen, anstatt zu erkennen, dass die Metapher
ihre animierenden, inszenierenden, illustrierenden, bündelnden und
agitierenden Funktionen nur erfüllen kann, weil sie allerlei impliziert
und durch Implikation mitteilt, ohne es lang und breit zu sagen. Me-
taphorische Aussagen zählen somit als Behauptungen wie andere Aus-
sagen auch. Zum Verstehen einer Metapher ist es nämlich durchaus
verlangt, um das in ihr Enthaltene zu wissen. Wer den Sinn der Aus-
sage, die Metapher sei zum trojanischen Turnierpferd geworden, ver-
steht, hat mindestens das verstanden, was die oben gegebene Para-
phrase sagt. Und diese oder eine andere Metapher als gelungen oder
treffend zu akzeptieren, sagen die Semantiker, heißt nichts anderes, als
zumindest der Mehrzahl der paraphrasierbaren lmplikate zustimmen
zu können - und natürlich den Umstand zu begrüßen, dass die
Metapher so vieles so bündig auf einmal sagt. Auf die Inhalte dieses
Sagens kommen wir in unserem Fall dadurch, dass wir - sei es auto-
matisch, sei es probierend - die hervorgehobenen Charaktere der tro-
janischen Konfliktsituation auf bekannte Charaktere der philosophi-
schen Diskussionssituation projizieren und uns hierdurch zu einer
Neubeschreibung der letzteren anregen lassen. Nur so wird verständ-
lich, wie die Anregung der Metapher im Wortlaut ihrer Äußerung an-
20
gelegt ist. Das metaphorische Reden funktioniert nur, weil notfalls
auch in direkter Rede angegeben werden kann, was in den Kreis sei-
ner Andeutung gehört. Kurz: Das mit metaphorischenAußerungen
durchaus Gesagteist nicht Eigentum des metaphorischenSagens.
Was immer für diese Position spricht, sie gerät in große Schwierig-
keiten, sobald jemand versucht, mit dem Prinzip der Paraphrasierbar-
keit, auf das sie sich beruft, wirklich Ernst zu machen. Ihr Vertreter
wird denn auch eilig hinzufügen, dass es faktisch sehr schwer, wenn
nicht gar unmöglich sei, die vollständige Paraphrase einer leidlich le-
bendigen Metapher zu geben. Der Rhetoriker lässt sich das nicht
zweimal sagen und macht sich ans Paraphrasieren. Er weist darauf
hin, dass es nicht damit getan ist, die Metapher einfach wie einen
Schlüsseltext zu lesen, bei dem man nur die Worte austauschen muss,
um den eigentlichen Sinn zu erhalten. Unser Satz sagt nicht, es sei die
Metapher zum trojanischen Beispielgeworden, an dem mit allen Lis-
ten um das Projekteiner geschlossenen Bedeutungstheorie gefochten
werde. Ohnehin werden wir das entscheidende Prädikat »trojanisch«
mit dieser Methode nicht los. Wir müssen also wohl oder übel die
ganze antike Schlachtordnung in unsere Übersetzung des metaphori-
schen Bildes mit einbeziehen. Stehen sich nicht in beiden Fällen zwei
Kontinente gegenüber, wie im einen Fall der europäische dem asiati-
schen, so im andern Fall der alte Kontinent den analytischen Koloni- ·
en? Und wie steht es mit dem Pferd? Steckt in der Anspielung auf die
List des Odysseus nicht bereits ein parodistischer Wink gegen die Pa-
raphrasentheorie, als wäre die Metapher etwas, aus dem man den In-
halt könnte entweichen lassen, so wie einst der homerische Held mit
den Getreuen des Nachts aus dem Bauch des trügerischen Geschenks
entwich? Apropos Geschenk: Wird der Fall der Metapher durch un-
sere Metapher nicht eigentlich als ein Geschenk hingestellt, als ein
wahres Lebenselixier für das in die Jahre gekommene Projekt einer Be-
deutungstheorie, das diese, in ironischer Umkehrung der trojanischen
Verhältnisse, zum eigenen Schaden misstrauisch von sich weist? Und
ist nicht der Kampf um die Metapher im metaphorischen Bilde nur
ein Zwischenspiel im Kampf um die Heimholung Helenas, also der
Sprache, also - der Paraphrasen wird kein Ende. Je besser unsere wört-
liche Auslegung des metaphorisch Insinuierten wird, desto mehr
scheinen wir uns von der Prägnanz der metaphorischen Behauptung
zu entfernen. Der Sinn der Metapher löst sich in die vielfältigen
Aspekte dessen auf, was mit ihr buchstäblich gemeint sein könnte.
Wir haben zwar jetzt einen Begriff davon, was es heißt, eine Metapher
21
zu verstehen und zu bejahen - nämlich bestimmte Implikate ihrer
Äußerung zu erkennen (oder zu konstruieren) und derenBehauptung
zustimmen zu können. Auch diese Bestimmung aber scheint den spe-
zifisch sprachlichen Charakter der Metapher zu überspringen. Wenn
das Gelingen einer metaphorischen Äußerung im Gelingen einer An-
zahl nichtmecaphorischer Äußerungen besteht, was unterscheidet
dann eine treffende Metapher von einer Reihe treffender buchstäbli-
cher Äußerungen zum selben Thema? Offenbar nichts. Wir haben et-
was darüber erfahren, wie das Verstehen von Metaphern verläuft,
ohne zu erfahren, was da eigentlich zu verstehen ist. Der Witz meta-
phorischen Redens bleibt völlig im Dunkeln. Die semantische Analy-
se des Funktionierens der Metapher führt zu keiner sinnvollen Be-
stimmung ihrer Funktion und daher, wie im umgekehrten Fall der
rhetorischen Erläuterung, ebenfalls zu keiner haltbaren Erklärung ih-
res Verstehens.
Das ewige Patt zwischen den Versionen einer Paraphrasentheorie
und denen einer Agitationstheorie der Metapher ist nur zu überwin-
den, wenn man das Haltbare der beiden Ansichten so verbindet, dass
sie statt zur Aberkennung zur Anerkennung der Autonomie meta-
phorischen Sprechens beitragen helfen. Die richtige Intuition am rhe-
torischen Einwand gegen diese Autonomie ist, dass die Metapher ei-
nen Zusammenhang wachruft und bildet, den sie innerhalb der Rede,
der sie selbst angehört, als einen für das sachbezogene Sprechen maß-
geblichen Kontext entwirft. Eine metaphorische Behauptung be-
hauptet nicht, was der mit ihr geäußerte Satz wortwörtlich sagt, sie
aktiviert und organisiert einen erhellenden und anregenden Bezug
zum Gegenstand ihrer Rede. Die gute Metapher erreicht dies durch
eine Kontamination zweier oder mehrerer Sprachfelder; diese Konta-
mination lässt das Thema der Rede in einem neuartigen Sinnzusam-
menhang erscheinen. Was die Metapher anbietet, ist die Einnahme
der von ihr dargebotenen Perspektive. - Der Kontakt zwischen den
beteiligten Sprachfeldern muss freilich gelingen. Er kann nur gelin-
gen, wenn durch ihn eine bemerkenswerte Seite dessen herausgestellt
wird, wovon im metaphorischen Sprechen die Rede ist. Dass der me-
taphorische Sprachzusammenhang auf verständliche Weise nur zu-
stande kommen kann, wenn er einen hinreichend einsichtigen Sach-
zusammenhang berühre oder eröffnet, ist die richtige Intuition des se-
mantischen Einwands gegen die Unterstellung eines Eigensinns einer
Metapher. Schließlich spricht auch der metaphorische Satz stets von
etwas,fordessen Thematisierung er einen bestimmten Kontext in An-
22
schlag bringt. An der traditionellen Auffassung der Metapher als eines
verkürzten Vergleichs ist immerhin so viel richtig, dass es zum Erfin-
den und Verstehen einer Metapher einer tatsächlichen oder vermeint-
lichen - und vor allem: einer bemerkenswerten- Ähnlichkeitsbezie-
hung zwischen dem Gegenstand der metaphorischen Aussage und der
von ihr eingespielten sachfernen Bildwelt (oder Bildwelten) bedarf,
einer Ähnlichkeit, wie sie in einem ausgeführtenVergleich dargelegt
und erörtert werden könnte. 13 Jedoch gibt die Metapher keinen Ver-
gleich, auch keinen noch so verkürzten, sowenig sie irgendwelche
Ähnlichkeiten behauptet. Sie gebrauchtsolche Ähnlichkeiten wie die-
jenige zwischen dem Kampf um Troja und der Auseinandersetzung
um eine geschlossene Bedeutungstheorie, um etwas ganz anderes zu
tun: um zusammenhängende Aspekte der Bedeutsamkeit der Sache
anzusprechen, von der sie spricht.
Was eine metaphorische Behauptung allererst behauptet, ist dies:
die Angemessenheit des Zusammenhangs, in dem sie ihren Gegen-
stand vorstellt. So ist die Behauptung meiner anfänglichen Troja-Me-
tapher eine durchaus andere als die der unmetaphorischen Thesen,
die ich nach und nach entwickelt habe und entwickeln werde. Nicht
dass der Glaube an die allein wörtliche Konstitution der Sprache auf
Sand gebaut ist, ist ihre Behauptung - das ist nur ein (bereits recht
weit hergeholtes) lmplikat unter anderen. Der Anspruch des meta-
phorischen Bildes ist es zunächst und vor allem, dass die von ihm ent-
worfene Szene gut gebaut ist. »Gut gebaut« aber ist die metaphorische
Konstruktion, wenn sie es vermöge der von ihr aufgenommenen und
angelegten Konnotationen ermöglicht oder erleichtert, eine auf-
schlussreiche Perspektive auf den Stand sprachphilosophischer Kon-
troversen zu gewinnen. Die Geltung oder Gelungenheit einer Meta-
pher bemisst sich an beidem: an der gelingenden Artikulation eines
akzeptierbarenZugangs zur angesprochenen Sache. 14
13 Zum Vergleich zwischen Metapher, einfachem Vergleich und ausgeführtem Ver-
gleich vgl. Davidson, Was Metaphern bedeuten, a.a.O., 354ff., der die aristotelische
Beobachtung der geringen Differenz zwischen Vergleichsbild und Metapher erneu-
ert (vgl. Aristoteles, Rhetorik, 1393b, 4ff., u. 1406 b, 2off.). Allerdings bleibt bei Da-
vidsons berechtigter Skepsis gegen die Übertreibung des Unterschieds zwischen »ver-
kürztem« und »kurzem« Vergleich wiederum der Unterschiedzwischen beiden
Sprachformen im Dunkeln. Es ist dies eine DifferenzderModalitätder entsprechen-
den Äußerung. Eine einfache Vergleichssetzung schlägteine bestimmte Betrach-
tungsweise ihres Gegenstands vor,eine im selben Bild sprechende Metapher dagegen
behauptet,dass dies nicht nur ein möglicher,sondern der angemessene Kontext der
Einschätzung ihres Gegenstands ist.
14 Erst in einer dezidiert ästhetischenVerwendung und Beutteilung von Metaphern

23
Die wechselweise Ergänzung und Korrektur der beiden fur sich ge-
nommen bodenlosen Gegenpositionen fuhrt auf eine positive Be-
stimmung der genuinen Funktion und Bedeutung metaphorischen
Sprechens. Aus der Agitationstheorie des »Rhetorikers« ist mittler-
weile eine »Organisationstheorie« geworden: Die gute Metapher trägt
dazu bei, einen bestimmten Zugang zum Gegenstand ihrer Rede zu
organisieren, das heißt herzustellen und hervorzuheben. Aus der Pa-
raphrasentheorie des »Semantikers« ist mittlerweile eine »Eröffnungs-
theorie« geworden, die sich nahtlos mit der reformulierten rhetori-
schen Position verbindet: Die gute Metapher eröffnet oder ermöglicht
neue (buchstäbliche) Erkenntnisse über den Gegenstand, den sie in
einen neuartigen oder neuartig artikulierten Zusammenhang stellt.
Dieses doppelte Ergebnis lässt an der Sprachleistung der Metapher ei-
nen Sinn erkennen, der sowohl ein spezifisches Zum-Ausdruck-Brin-
gen als auch ein spezifisches Zur-Geltung-Bringen umfasst. Zwar ent-
hält die Metapher in aller Regel gewisse buchstäblich formulierbare
Annahmen über den Gegenstand ihrer Aussage, und in aller Regel ist
es so, dass zumindest ein(~e dieser Implikate angebbar sein müssen,
wenn die metaphorische Außerung verstanden sein soll. Aber in sol-
chem in ihr Enthaltenen geht die Metapher ebenso wenig wie in der
enthaltsamen Organisation der Rede auf. Vielmehr macht die Meta-
pher die Relevanz desKontextsgeltend, den sie im jeweiligen Redezu-
sammenhang oder auch durch eine einzelne Äußerung vergegenwär-
tigt oder entwirft. Die Zustimmung zu einer metaphorischen Äuße-
rung, das ist meine These, gilt der Angemessenheit des Kontexts, den
die metaphorische Aussage zugleich artikuliert und gebraucht. Nur
einer »uneigentlichen« Sprachform wie der Metapher ist es gegeben,
die gesprächsleitende Perspektive auf einen Gegenstand in einem Zug
in Anspruch zu nehmen und zur Sprache zu bringen. 15

können diese beiden Aspekte auseinanderrreten. Alltäglich-prosaische Metaphern


sind dadurch gekennzeichnet, dass die Beurteilung ihres Ausdruckswerts mehr oder
weniger zusammenfällt mit der Beurteilung der Zugangsweise, der sie Ausdruck ver-
leihen. Ästhetisch dagegen kann ich Formulierungen und Texte schätzen, die gleich-
wohl keiner akzeptablen Sichtweise Ausdruck verleihen.
15 Eine These dieser Art steuert Max Black in seinen Arbeiten zur Metapher an, ohne
freilich zum Verhältnis zwischen dem metaphorischen Erzeugenund dem metapho-
rischen Amprecheneiner Erkenntnisperspektive deutlich Stellung zu nehmen. M.
Black, Metapher, in: Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, a.a.O., 55-79, und
ders., Mehr über die Metapher, in: ebd., 379-413.

24
3. Kontext, Situation, Perspektive

Mit der These von der kontextartikulierenden Leistung der Metapher


ist für den erhofften Abstand zu den andeutungstheoretischen Prä-
missen gesorgt. Bevor es nötig ist, die Reichweite dieser These einzu-
schränken, kommt es darauf an, den Grundgedanken zu präzisieren.
Die Begriffe des »Kontexts« und der »Relevanz«, die ich zur Be-
stimmung des metaphorischen Ausdrucks gebraucht habe, sind
durchaus zweideutig. Beide können sich entweder auf die Situation
der Rede beziehen, in der jemand eine metaphorische Äußerung
macht, oder aber auf die Sicht des Gegenstandsder Rede, die der Spre-
cher im Gebrauch einer Metapher favorisiert. Die erste Form der
Kontextbestimmung ist das, was man die (implizit oder explizit) per-
formative Einbettung oder Einrichtung von Gesprächsbeiträgen oder
sonstigen Redezusammenhängen nennt. Es kommt hier darauf an,
deutlich werden zu lassen, was im Verlauf eines Gesprächs oder einer
Überlegung gerade angebracht oder angesagt ist. Diese performative
Verständigung weniger über als vielmehr auf einen bestimmten Ge-
sprächszusammenhang ist freilich eine Bedingung jeder Art der Ver-
ständigung. Die wörtliche Rede bedarf der performativen Situierung
so gut wie die nichtwörtliche auch. Verständliche Rede überhaupt also
muss ihren eigenen Kontext zumindest in dem Sinn »artikulieren«
können, dass allen Beteiligten deutlich wird oder deutlich bleibt, wor-
um es in ihrem Verlauf geht. Zwar kann (von der künstlerischen Rede
weiterhin abgesehen) keine Form der Rede »für ihren Kontext sor-
gen«, da sie stets im Vorgegebenen ansetzt, aber sie ist darauf ange-
wiesen, sich auf nachvollziehbare Weise - und notfalls direkt und aus-
drücklich - um ihren Kontext zu sorgen. - Wenn das tatsächlich für
alle Formen der Rede gilt, so kann nicht hierin das Besondere des per-
spektivenartikulierenden Sprechens liegen. Die Kontexte, zu deren Ar-
tikulation etwa das metaphorische Sprechen im besonderen Maß be-
rufen ist, sind nicht die umstandsbedingten Kontexte der Rede, es
sind horizontbildende Zusammenhänge von Überzeugungen, die den
jeweiligen Gegenstandder Rede betreffen. Wie sich die performative
Gestaltung aller Gesprächsbeiträge anzeigend auf die Situation der
Rede bezieht, so kann sich die metaphorische Äußerung überdies an-
zeigend auf die inhaltlichen Perspektiven beziehen, unter denen die
Gegenstände des Gesprächs wahrgenommen werden. Dies wiederum
ist naturgemäß auch ein Beitrag zur Klärung der Situation der Rede;
denn selbstverständlich gehören die Sichtweisen der am Gespräch Be-
teiligten zum situativen und interaktiven Kontext eines Gesprächs
hinzu. Die Metapher, so möchte ich folgern, leistet ihren Beitrag zum
ausführenden Situationsbezug verständlicher Rede, indem sie über-
dies Konturen der {nach Meinung des Sprechers) maßgeblichen Sicht
des Gesprächsgegenstands artikuliert.
Ferner ist festzuhalten, dass Sichtweisen nicht nur logisch und
sachlich mehr oder weniger gut gebundene Meinungen sind. Die Ver-
bindung dieser Meinungen zu einer Sichtweise oder Einstellung ist
vielmehr wesentlich nach Gesichtspunkten der Relevanz gegliedert.
Diese Relevanz bemisst sich einerseits danach, worauf diese Orientie-
rungen gerichtet sind, und andererseits danach, wozu diese Orientie-
rungen jeweils dienen, was das Interesse derjenigen ist, die eine solche
Sichtweise haben. Folglich sind die Annahmen, die zu einer Sichtwei-
se gehören, auch unter dem Aspekt aneinander gebunden, wie wich-
tig sie für das sind, worauf eine Sichtweise orientiert. Wahrheit und
Fürwahrhalten allein verbürgen die Verbindlichkeit einer Sichtweise
nicht. Nicht nur das Sehen (Wissen, Erkennen, Beachten usw.) des
Wahren und Richtigen, sondern erst das richtigeWahrnehmen des für
eine Angelegenheit oder ein Thema Wichtigen macht die Gültigkeit
einer Sichtweise aus. Und nicht nur Annahmen gehören dem Ver-
bund einer Sichtweise an. Auch Wahrnehmungen, Gefühle, Fertig-
keiten usw. tragen zum werthaft gegliederten Kontext einer.Sichtwei-
se bei. Im Unterschied zur Umgebung von Handlungssituationen ist
dies ein »mobiler Kontext«; die Perspektive, die unsere Einschätzung
bestimmter Angelegenheiten prägt, wird unsere Orientierung leiten,
wo immer diese Angelegenheiten ins Spiel kommen. Das im gegebe-
nen Zusammenhang Entscheidende ist nun, dass dieses Verhältnis von
Meinungen, Absichten und Reaktionen, das eine Sichtweise bildet,
nicht in wörtlicher Darstellung zur Sprache kommen kann. Gewiss
lässt sich in wörtlicher Rede übereine gegebene Sichtweise sprechen,
lässt sie sich beschreiben und bewerten. Nur muss sie zu diesem
Zweck distanziert werden, sie kann nicht während dieser Thematisie-
rung vorbehaltlos in Anspruch genommen werden. Als Objekt einer
vergegenständlichenden Beschreibung und Reflexion verwandelt sie
sich in einen komplexen Sachverhalt, anstatt weiterhin eine komple-
xe Orientierung auf Gegenstände des Sprechens und Handelns zu bie-
ten. Die bekräftigende oder verändernde Kommunikation von Sicht-
weisen innerhalbihrer Perspektive bedarf der Verfahren »uneigentli-
cher« Rede. Dafür sind diese eigentlich da. Eine Sichtweise als
Sichtweise während der Inanspruchnahmedieser Sichtweise artikulie-
26
ren, das vermag allein die figürliche, zum Beispiel die metaphorische
Rede.
Sowenig die metaphorische Artikulation auf die Andeutungen re-
duziert werden darf, die sie enthält, sowenig darf sie schließlich mit
den Anspielungen gleichgesetzt werden, deren sie sich oft bedient.
Meine oben in Klammern eingeflochtene Bemerkung, nach der
Theorie des »Rhetorikers« könnte auch der »gute Dienst der Cham-
pagnerflasche« den einer guten Metapher ersetzen, spielt an auf eine
bekannte Bemerkung Hegels über die Quellen künstlerischer Inspira-
tion. 16 Eine solche Anspielung geht im Wesentlichen darin auf, das,
was man sagen will, so zu sagen, dass gleichzeitig an einen mehr oder
weniger entfernten Zusammenhang erinnert wird, der zu dem, was
man gesagt hat, in einer gezielt unbestimmten Beziehung steht. Was
der Effekt, der Inhalt der Anspielung sei, bleibt gänzlich dem Hörer
überlassen. Was eine gelungene Anspielung über das buchstäblich Ge-
sagte hinaus kommuniziert, ist das reine Faktum, dass Sprecher und
Hörer über ein einschlägig gemeinsames Vorwissen, über gemeinsame
Tradition, Bildung oder Erfahrung verfügen. Mit der Metapher ver-
hält es sich anders. Am Kriterium der Zustimmung wird das deutlich.
Die Zustimmung zu einer wörtlichen Äußerung, an der man eine be-
stimmte Haltung oder Sichtweise des Sprechers immer auch ablesen
kann, ist eine Zustimmung zu dieser Äußerung, nicht aber zu dem,
was sichtbildend hinter ihr steht. Genauso steht es mit der Zustim-
mung zu einer anspielenden Äußerung, nur dass hier die Bestätigung
und der Genuss der gemeinsamen Zugehörigkeit zu den Eingeweih-
ten hinzukommt. Jede Interpretation dieser Zugehörigkeit bleibt hier
taktvoll im Unbestimmten - und wegen dieser Unbestimmtheit ge-
fällt uns die anspielende Rede. Unbestimmtheit kennt auch die Me-
tapher. Was jedoch in einer guten Metapher unbestimmt oder doch
unterbestimmt bleibt, sind die Annahmen über ihren Gegenstand,
die sie teils andeutend enthält, teils imaginierend eröffnet. Folglich
muss auch die Zustimmung zu einer metaphorischen Äußerung in
dieser Hinsicht unbestimmt bleiben. Worauf sich diese Zustimmung
richtet, ist in erster Linie die Perspektive, in der die Metapher ihren
Gegenstand zeigt. Diese versucht sie auf die beschriebene Weise zu ar-
tikulieren; diese akzeptieren oder verwerfen wir, wenn wir die Meta-
pher akzeptieren oder verwerfen.

16 Vgl. G. W. F.Hegel,Vorlesungenüber die Ästhetik, in: ders., Werke in zwanzigBän-


den, Frankfurc/M. 1970, Bd. 13, 46.

27
4. Metaphernbegriffe

Wie gut oder schlecht unsere Beispielmetaphern auch seien, es han-


delt sich um neugeborene, recht auffällige und eher komplexe Bei-
spiele ihrer Gattung. Es ist daher an der Zeit, zu fragen, ob die per-
spektivenartikulierende Leistung dieser Metaphern auch repräsenta-
tiv ist für die Funktion metaphorischen Redens im Allgemeinen.
Sie ist nicht repräsentativ für all das, was die Philosophen unter
dem Titel »Metapher« zum Problem erhoben haben. Dass dieser Titel
recht Verschiedenes vereinigt, ist nicht die Schuld der Philosophen.
Denn der Bereich des Metaphorischen ist aus innerer Notwendigkeit
kein einheitlicher Bereich. Zu Lasten der Philosophen allerdings geht
das Versäumnis, die Bereiche des Metaphorischen nicht genau genug
zu unterscheiden. Wo diese Dimensionen nicht unterschieden wer-
den, dort kann auch der Zusammenhang des Phänomenbereichs Me-
tapher nicht einsichtig werden. Um anzudeuten, wie es damit steht,
möchte ich neben der kontextartikulierenden metaphorischen Äuße-
rung drei weitere Metaphernbegriffe unterscheiden: stellvertretende
Metaphern, übertrageneWortbedeutungen und die Bildlichkeiteiner
Sprache.
Stellvertretendnenne ich Metaphern, die ohne Verlust durch ihre
Paraphrase ersetzt werden können. Es gibt solche Metaphern: Auf
ihren - sprachlich bescheidenen - Fall ist die semantische Andeu-
tungstheorie zugeschnitten. Einfache prädikative Metaphern können
diesen Typus erfüllen. Es kann sein, dass die Äußerung »Sally ist ein
Eisklotz« nichts weiter bedeutet, als dass Sally äußerst unsensibel und
teilnahmslos ist. 17 Ebenso aber kann es sein, dass die Äußerung zwar
darauf hinweist, dass Sally unsensibel und teilnahmslos erscheint,
gleichzeitig aber zu bedenken gibt, dass Sally, wenn sie nur in Fahrt
kommt oder sich verstanden fühlt, dahinschmilzt wie Eis in der Son-
ne. Welche dieser beiden Paraphrasen die richtige ist, kann nur die
Kenntnis des Äußerungskontexts entscheiden. Bezeichnend ist, dass
die zweite Paraphrase gezwungen ist, das metaphorische Bild auf an-
dere Weise zu wiederholen. Hier ist es nicht so wie im ersten Fall, dass
der Versuch einer wörtlichen Übersetzung das metaphorische Bild er-
setzen kann. Im ersten Fall ist die Metapher treffend, wenn es stimmt,
dass Sally unsensibel und teilnahmslos ist. Im zweiten Fall ist die Me-
tapher treffend, wenn es angemessen ist, Sally in der durch das meta-
17 Das Beispiel stammt von Searle, der sich mit dieserAuslegung begnügt: J. R. Searle,
Metapher, in: ders., Ausdruck und Bedeutung, a.a.O., 103ff.
phorische Bild hervorgehobenen Ambivalenz wahrzunehmen, welche
Eigenschaften auf Sally in ihrem wechselnden Verhalten auch immer
zutreffen mögen. Im einen Fall steht die Metapher - auf knappe und
farbige, drastische oder taktvolle Weise - stellvertretend für eine im-
plizite wörtliche Beschreibung, im andern Fall stellt die Metapher
eine Sicht ihres Gegenstands her, die auch die Möglichkeit neuer Be-
schreibungen eröffnet. - Ein anderes Beispiel für stellvertretende Me-
taphern sind viele der terminologischen Metaphern. Auch hier ist es
oft nur die Tugend der bündelnden Kürze, deretwegen der metapho-
rische Ausdruck einem nichtmetaphorischen vorgezogen wird. Statt
die »trojanische Illusion« der Sprachphilosophie zu beklagen, könnte
ich ebenso gut über den Irrglauben an die allein wörtliche Konstituti-
on der Sprache lamentieren. Als höflich-denunziatorisches Etikett ist
die erste Formulierung allerdings ungleich besser. Nicht alles folglich,
was einen Unterschied in Schrift und Rede ausmacht, kann als Un-
terschied der Bedeutung der Redemittel aufgefasst werden. Insofern
erhält am Beispiel der stellvertretenden Metaphern nicht nur der rigi-
de Semantiker, sondern auch der rigide Rhetoriker Recht.
Auch das Phänomen der übertragenenWortbedeutungist nicht ge-
eignet, als Schlüssel zur Leistung metaphorischen Sprechens zu die-
nen. Wie Davidson und Searle hervorgehoben haben, besteht der
primäre metaphorische Effekt nicht darin, den im metaphorischen
Satz verwendeten Worten eine neue oder veränderte Bedeutung zu
verleihen. 18 Der Witz eines metaphorisch gebrauchten Satzes wäre gar
nicht erkennbar, würden die in ihm verwendeten Worte in anderen als
ihren bisherigen Bedeutungen gebraucht. Dass ein Satz nicht wörtlich
gemeint ist, ist ja eben der Ausgangspunkt seines metaphorischen
Sinns. Sobald die metaphorische Kontamination auf die beteiligten
Worte oder Sprachfelder abzufärben beginnt, geht es mit der ur-
sprünglichen metaphorischen Ausdrucksmöglichkeit zu Ende - mit
dem Ergebnis, dass die Sprache ein paar neue »übertragene« Wortbe-
deutungen gewonnen hat. Dass nicht Wirtschaftsbereiche, sondern
auch Metaphern »Konjunktur« haben können (und selbst: dass Wirt-
schaftszweige »Konjunktur« haben können!), geht wohl auf einen
ehemals metaphorischen Einsatz des Wortfeldes der (wirtschaftli-
chen) »Verbindungen« und seiner positiven Konnotation zurück -
heute handelt es sich um rein wörtliche Rede. Das Wort »Konjunk-
tur« hat die Bedeutung gewonnen, auch außerwirtschaftliche Boom-
Entwicklungen zu beschreiben. So wichtig die bedeutungsverändern-
18 Searle, Metapher, a.a.O.; Davidson, Was Metaphern bedeuten, a.a.O.
de Wirkung nicht aller, aber doch sehr vieler metaphorischer Rede-
weisen für das Leben einer Sprache ist, sowenig darf diese oft unver-
meidliche Wirkung populär gewordener Metaphern zur primären
Funktion des metaphorischen Ausdrucks stilisiert werden. Das Leben
einer lebendigen Metapher erfüllt sich nicht darin, den Tod der Auf-
erstehung in wörtlichen Bedeutungen zu sterben. Nur weil die Meta-
pher ein eigenes Leben vor dem Tod hat, kann sie noch in ihrem Ster-
ben dem Leben der Sprache dienen. 19
Die bisherigen Unterscheidungen machen es möglich, den idealty-
pischen Gang des Lebens einer Metapher zu zeichnen. Ins Leben tritt
die Metapher als neuartige Artikulation einer Sichtweise; ein langes
Leben ist ihr vergönnt, wenn sie populär wird als stellvertretende Cha-
rakterisierung dessen, was dank dieser Perspektive ersichtlich wurde;
die Metapher stirbt, wenn die Worte, aus denen sie gebildet war, zu
Ausdrücken für das werden, was die ursprüngliche Metapher hat
sichtbar werden lassen. Wie gesagt, dies ist eine stark idealisierte Ge-
schichte des metaphorischen Prozesses. Nicht jede gute Metapher
durchläuft diese Karriere. Metaphern können als stellvertretende Me-
taphern geboren werden, Metaphern können »sterben«, ohne je stell-
vertretend gebraucht worden zu sein, und nicht wenige Metaphern
weigern sich schlicht zu sterben (wenn sich nämlich die zugehörigen
Ausdrücke weigern, den metaphorischen Effekt zu versachlichen, wie
das »lachen« in »Die Sonne lacht«). Trotzdem bringt diese Geschich-
te die auffällige Kontinuität zwischen den drei Metaphernbegriffen
zum Vorschein. Sind die neuen starken Metaphern Ausdruck einer
veränderten Sicht auf ihren Gegenstand, ein Ausdruck, der meist zu-
gleich neue Beschreibungen dieses Gegenstands nahelegt, so ist die
Auffälligkeit solcher Metaphern in der rein bezeichnenden Qualität
übertragener Wortbedeutungen verschwunden, während die stellver-
tretenden Metaphern auf einer Zwischenstufe kontextartikulierender
Äußerungs- und übertragener Wortbedeutung verharren. Der Reich-
tum metaphorischer Sinnbedeucung, so scheint es, hat eine starke
Tendenz, in die inflationäre Währung versachlichender Prosa zu kon-
vertieren.
Wie aber vor allem Hans Blumenberg gezeigt hat, ist noch dies eine
allzu verkürzte Betrachtung. Denn die verblichenen Metaphern lösen
sich nicht allein in das Vokabular neuer buchstäblicher Beschreibun-
gen (oder Bewertungen) auf, sie gehen zugleich in die implizite Welt-
19 Vgl. etwa RicaoursüberzeugendeKritik an Derridas Überbetonung sprachlicherPro-
zessualirär,in: ders., Die lebendige Metapher, a.a.O., 267ff.
30
auslegung geschichtlicher Sprachen ein. 20 Die verblichenen Meta-
phern stehen nicht länger für das besondere Vorverständnis eines
Sprechers oder den besonderen Bedeutungszusammenhang einer
Rede, sie sind zu Elementen des Bedeutungsvorrats einer Sprachege-
worden. Was anfänglich Ausdruck einer besonderen Perspektive war,
geht jetzt in die Perspektive einer Sprache (oder eines Idioms in einer
Sprache) ein.
Diese BildlichkeiteinerSprachedarf nicht zu der leeren Feststellung
verleiten, es sei die Sprache im Ganzen eigentlich eine metaphorische
Operation. Diese Totalisierung gäbe mit dem Begriff der Metapher als
einer unter anderen sprachlichen Operationen auch den Begriff der
wörtlichen Bedeutung von Ausdrücken preis, ohne den ein sinnvoller
Begriff der Metapher wiederum nicht möglich ist. Die Bildlichkeit ei-
ner Sprache ist demgegenüber als ein Phänomen zu erkennen, das die
Differenz zwischen buchstäblicher und figürlicher Bedeutung und
Rede übergreift.Die Differenz beider sprachlichen Artikulationswei-
sen spielt sich innerhalbder Bildlichkeit und Perspektivik, mit ande-
ren Worten: der aspekt- und in diesem Sinn wirklichkeits- und wert-
bildenden Gliederung natürlicher Sprache ab. (Auch der Unterschied
zwischen Sprache und Welt gehört zu den Leistungendieser Gliede-
rung.) An dieser Bildlichkeit natürlicher Sprachen hat nicht nur das
Arsenal übertragener Bedeutungen teil, die längst ein Bestandteil
wörtlichen Ausdrucks geworden sind, sie organisiere sich in gleichem
Maße durch elementare synästhetische Vertauschungen und raum-
zeitliche Übertragungen, die kaum als ehemalige Metaphern, sondern
von vornherein ins wörtliche wie nichtwörtliche Reden eingebaut
sind. Die entscheidende Beobachtung (der Mark Johnson und Geor-
ge Lakoff jüngst wieder zu Leben verholfen haben 21 ) findet sich be-
reits bei Kant, wenn er in der Kritik der Urteilskraftan den »symboli-
schen Hypotyposen« der alltäglichen und auch der entschieden be-
griffiichen Rede eine elementar praktische Gliederung unserer
Sprache erkennt. 22 Dass wir eine Aussage begründen,dass wir ein Pro-
blem betrachten,dass wir überes reden oder uns auf es beziehen, dass

20 H. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, in: Archivfür Begriffsge-


schichte 6/r960, 7-142; ders., Beobachtungen an Metaphern, in: Archiv für Begriffs-
geschichte 15/r971, 161-214.- Die folgenden Überlegungen gehen zurück auf ein im
Sommersemester 1986 gemeinsam mit Thomas Rentsch gehaltenes Seminar über
Philosophische Metaphorologie.
21 Vgl. Anm. 8.
22 1. Kant, Kritik der Urteilskraft, in: ders., Werke, hg. v. W. Weischedel, Frankfurt/M.
1968, Bd. X, §59.

31
die Zeit eines Vortrags vergehtoder verstreicht,dass Metaphern Kon-
junktur haben, eine These Farbegewinnt, usw.-: all das sind im Deut-
schen recht solide wörtliche Redeweisen, die freilich wegen ihrer la-
tenten Bildlichkeit zugleich ein gehöriges Potential für metaphorisie-
rende Schöpfungen darstellen. So konnten die Troja-Metaphern an
die agonalen Konnotationen unserer Rede von argumentativen Aus-
einandersetzungen anknüpfen; so macht sich die Eisklotz-Metapher
die Sprache gewordenen (zumeist) negativen Assoziationen des Kal-
ten zunutze. Während wir aber einzelne metaphorische Äußerungen
jederzeit zurückweisen oder verwerfen können, steht uns die elemen-
tare, wörtliches und nichtwörtliches Reden übergreifende Anschau-
ungsweise unserer Sprache (diesseits der Literatur jedenfalls) nicht zur
Disposition. Gewiss, auch diese Sprache verändert sich mit der Ver-
änderung der in ihr geläufigen Ausdrucksweisen, aber diesen Prozess
haben die Sprecher der Sprache nicht in der Hand. An der Bildlich-
keit einer Sprache zeigt sich die nichtdistanzierbare Auslegung des
sprachlich artikulierten Weltverhältnisses der Kulturen, deren Spra-
che es ist. An den Unterschieden solcher Bildlichkeit wird oft am ge-
nauesten der Unterschied der geschichtlichen Welten deutlich, in de-
nen die Angehörigen verschiedener Kulturen, Klassen und Zeitalter
nicht zuletzt kraft der Differenz ihrer Sprachen leben. An der Unver-
zichtbarkeit sprachlicher Anschauungsmuster, an der Möglichkeit
und geradezu dem Zwang zur Weiterführung und Transformation der
hergebrachten sprachlichen Welt-Ausbildung zeigt sich andererseits
das anthropologisch Gemeinsame dieser so verschiedenen Welten.
An der elementaren Bildlichkeit einer Sprache zeigensichdiese Ver-
hältnisse - aber es wäre irreführend zu sagen, dass wir, die Sprecher
dieser Sprache, uns hierin die gemeinsame Gliederung der Welt zur
Anschauung und zur Geltung bringen. Das ist eben die Art, in der wir
Welt und Sprache haben. Mit der Verwendung von Metaphern im en-
geren und eigentlichen Sinn des Wortes verhält es sich anders. Die
Bildhaftigkeit von Metaphern ist distanzierbar. Für die kontextarti-
kulierenden Metaphern folgt daraus, dass sie als Ausdruck einer be-
sonderen, einer veränderlichen Perspektive auch dann verstanden
werden können, wenn diese zusammen mit der metaphorischen For-
mulierung bejaht wird. Und nur von dieser metaphorisch ermöglich-
ten Affirmation von Sichtweisen her, so denke ich, ist die Aufhebung
vormals »lebendiger« Metaphern einerseits in die nichtdistanzierbare
Perspektive einer Sprache, andererseits in die Distanz neuer gegen-
ständlicher Beschreibungen - und ist die Komplementarität dieser
32
beiden Prozesse - zu verstehen. Deshalb sollten die kontextartikulie-
renden Metaphern das Hauptbeispiel einer Theorie der Metapher
sein.

5. Jenseits der Andeutungstheorie

Der Gedanke, dass Metaphern kraft ungegenständlicher (genauer:


nicht sachverhaltsbestimmender) Darbietung eine »von innen« geleis-
tete Ausbildung von Sichtweisen sind, ist keineswegs neu, und er ist
auch in der jüngeren Diskussion immer wieder aufgenommen wor-
den. Wenn Blumenberg den erkennmispragmatischen und existenti-
ellen Orientierungssinn starker Metaphern hervorhebt 23, wenn La-
koff/Johnson das metaphorische Sprechen als Medium der Gestal-
tung und Artikulation handlungsleitender Situationsverständnisse
interpretieren 24, wenn Max Black die metaphorische Konstruktion
mit theoriebildenden Modellen der Wissenschaft vergleicht25 oder
wenn Paul Ricreur sagt, dass die gelungene Metapher ein Netzwerk
semantischer Wechselwirkungen erzeugt, die die Möglichkeit einer
Neubeschreibung der Wirklichkeit eröffnen 26 , so kommt bei allen
Unterschieden sowohl der zentralen Beispiele als auch der zentralen
Begriffe stets eine verwandte Intuition zum Ausdruck. Die Intuition
selbst geht weiter zurück. So könnte man Baumgartens Idee einer
»konfusen«, das heißt anschaulich komplexen Erkenntnis durchaus
im Sinn einer figürlichen Erkenntnis der »dunklen«, hintergründigen,
sichtbildenden Bedingungen des klaren und distinkten Erkennens
verstehen. Schon Baumgarten geht an einigen Stellen so weit, die
Komplementarität der kontextartikulierenden »ästhetischen« und der
sachverhaltsdarstellenden »logischen«Vernunft zu erwägen. 27 Ebenso
aufschlussreich ist ein anderes Zeugnis. In der monumentalen Einlei-
tung zur richtigenAuslegungvernuenjftigerRedenund Schriftendes Jo-
hann Martin Chladenius heißt es zur Erklärung des »Gebrauch(s) der
Metaphorischen Woerter«:
»Die Noch, welche uns antreibt, ein Wort im verbluemten Verstande
23 Blumenberg, Paradigmen, a.a.O., bes. 19ff
24 Lakoff/Johnson,Metaphors We Liveby, a.a.O., bes. 175ff.
25 M. Black, Models and Archetypes, in: ders., Models and Metaphors, lthaca 1962,
Kap. Xlll; ders., Mehr über die Metapher, a.a.O., 396 ff
26 Ricceur, Die lebendige Metapher, a.a.O., bes. 165u. 227ff.
2 7 A. G. Baumgarten, Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der
»Aesrhetica«(1750/58),hg. v. H. R. Schweizer, Hamburg 1983,bes. §§7/f. u. 423/f.

33
zu gebrauchen, bestehe in nichts anders, als in der Begierde sich so
vollstaendig auszudrucken, als nur moeglich ist, und also das nach-
drücklichste Wort zu gebrauchen. Folglich, wenn wir aus Noth eine
Metapher brauchen, und das erwehlte Wort auch wuercklich dazu
dienet, die Sache umstaendlich auszudruecken, so ist eine solche Me-
tapher richtig.«28
Es wäre ganz verfehlt, die von Chladenius betonte Notwendigkeit me-
taphorischer Rede lediglich aus einer Ersatzleistung für eine noch
nicht existierende buchstäbliche Kennzeichnung zu verstehen (ob-
wohl der Autor diese konventionelle Erklärung nicht durchweg ver-
meidet). Das würde wiederum bedeuten, die Leistung der Metapher
auf ihren Beitrag zur Sprachentwicklung zu verkürzen. Vielmehr legt
die Betonung der durch die treffende metaphorische Wendung er-
brachten »Vollständigkeit« und »Nachdrücklichkeit« nahe, dass hier
eine Ausdrucksmöglichkeit gegeben ist, die auf dem Weg einer direk-
ten Zuschreibung der verbapropria nicht zu realisieren wäre. Die
»Umständlichkeit« der Metapher wäre somit nichts Umständliches,
sondern das Erfordernis einer Präzision, die es darauf anlegt, die an-
gesprochene Sache in den Umständen ihrer Relevanz zur Geltung zu
bringen. Die Metapher brächte etwas in den Umständen seiner the-
menbezogenen Bedeutsamkeit zur Sprache. Diese alte Einsicht könn-
te fast zu einer terminologischen Neubildung verlocken. Von der »ge-
genständlichen« wörtlichen unterschiede sich die metaphorische als
»umständliche« Rede.
Ich erwähne diese Vorgeschichte nicht zuletzt deshalb, weil hier
deutlich wird, dass sich die These der perspektivenarrikulierenden
Funktion der Metapher auch bei Autoren finden lässt, die einer an-
deutungstheoretischen Erklärung ihres Funktionierens keineswegs
abgeneigt sind. Schließlich ist die Auffassung, dass die Metapher eine
komplexeindirekteMitteilungleistet, von der Behauptung, sie sei eine
komplexeArtikulation wahrnehmungsbildender Sichtweisen,so durch-
aus verschieden nicht. 29 Und dies nicht einmal nur auf den ersten
Blick. Warum sollte ein Andeucungstheoretiker nicht zugeben kön-
28 J. M. Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernuenfftigcr Reden und
Schriften, Leipzig 1742 (Photomechanischer Nachdruck, Düsseldorf 1969), 122.Vgl.
den ausführlichen Kommentar bei P.Szondi, Einführung in die literarische Herme-
neutik, Frankfurt/M. 1975,bes. 79 ff., wo Chladenius' Lehre vom »Sehe-Punckt«, das
heißt der Perspektivität des Verstehens, vorgestellt und in seinen metapherntheoreti-
schen Konsequenzen erörtert wird.
29 Beispiel einer solchen moderaten Version der Andcucungstheorie ist: W. Künne, ,Im
übertragenen Sinn,. Zur Theorie der Metapher, in: Conceptus 17/i983, 181-200.

34
nen, dass der Unterschied zwischen einer Metapher und ihrer Para-
phrase oder Interpretation wesentlich darin liegt, dass die Metapher
die Sicht, der sie Kontur gibt, zugleich einnimmt, während eine Para-
phrase nur das so Gesehene aussprechen kann, eine Interpretation an-
dererseits die metaphorisch favorisierte Sichtweise zum Gegenstand
ihrer Rede erheben muss? Eine Einigung in diesem Punkt scheint
denkbar. Und doch wäre sie trügerisch. Das erweist sich sofort, wenn
man nach der sprachphilosophischen Tragweite der scheinbar kon-
vergierenden Analysen der Metapher fragt. Inwiefern das Beispiel der
perspektivenartikulierenden Metaphern beispielhaft steht für eine
konstitutive Dimension der Sprache, daran werden sich die Geister
scheiden.
Ich möchte für eine starkeExemplarität der vorangegangenen Ana-
lysen plädieren. Das Beispiel der Metapher gewinnt trojanische Di-
mensionen, sobald man das an ihm Beobachtete einer doppelten Ver-
allgemeinerung umerzieht.
Die ersteVerallgemeinerung betrifft das Verhältnis von buchstäbli-
cher und metaphorischer Rede selbst. Sie lässt beide Ausdrucks-
formen in ihrer komplementären Sprachleistungerkennen. Wie die
wörtliche Rede darauf vertrauen muss, dass die Einstellung oder Per-
spektive, aus der sie formuliert ist, die sie jedoch nicht eigens charak-
terisiert, als sinnvoll erscheint, so muss die metaphorische Äußerung
darauf vertrauen, dass sie hinsichtlich ihres Gegenstands, den sie nicht
selbst zutreffend charakterisiert, haltbare Bestimmungen enthält und
eröffnet. In diesem Parallelismus liegt die schon bei Baumgarten na-
hegelegte Komplementarität. Eine wörtliche Äußerung artikuliert ei-
nen Sachverhalt unter Verzicht auf eine Charakterisierung der vor-
aussetzungsvollen Relevanz der Sache, um die es geht. Eine metapho-
rische Äußerung artikuliert die sichtgebundene Relevanz ihres
Gegenstands unter Verzicht auf eine zutreffende satzinterne Charak-
terisierung ihres Objekts. Folglich ist die Zustimmung zu einer wört-
lichen Aussage in erster Linie Zustimmung zur Wahrheit des im Satz
Gesagten und erst in zweiter Linie Zustimmung zur Angemessenheit
der Thematisierung der fraglichen Sache. Folglich ist die Zustim-
mung zu einer metaphorischen Aussage in erster Linie Zustimmung
zur Angemessenheit der Betrachtung ihres Gegenstands und erst in
zweiter Linie Zustimmung zu den Beschreibungen, die diese Be-
trachtung entlässt. Jede der beiden Äußerungsformen hebt das hervor
und legt darauf besonderes Gewicht, was die andere mehr oder weni-
ger unbestimmt lässt.

35
Die zweite Verallgemeinerung überträgt dieses Ergebnis auf das
sprachlicheHandeln im Ganzen, das nun als das Zusammenwirken
zweier irreduzibler Artikulationsmodi erscheint - der sachverhalts-
darstellenden und der perspektivenartikulierenden Rede. Zur Letzte-
ren würden demnach potentiell alle Formen des so genannten unei-
gentlichen Redens gehören. Die These der funktionalen Komple-
mentarität buchstäblicher und metaphorischer Rede würde hier
erweitert zur These der Komplementarität buchstäblicher und figür-
licher, direkter und indirekter Rede. Der Kern der These bliebe erhal-
ten: Wie die »gegenständliche« (das heißt gegenstandsbestimmende)
Rede nicht eigens die Sicht mit zur Geltung bringen kann, von der der
Sinn ihres Sagens zehrt, so kann die »umständliche« (das heißt per-
spektivenartikulierende) Rede nicht die Sachverhalte eigens zur Gel-
tung bringen, deren Bestehen aus der von ihr akzentuierten Perspek-
tive erkennbar wird. In diesem wechselseitigen Unvermögen aber, so
wäre die Behauptung, liegt das beiderseitige Vermögen.
Ich sage das im Konjunktiv, weil ich den Beweis für diese extreme
Verallgemeinerung meiner Beobachtungen an der Metapher hier
nicht antreten kann. Es käme zuallererst darauf an, den genauen Sinn
der zweiten These zu klären. Dazu aber wäre eine ausführlichere Phä-
nomenologie der figürlichen Rede vonnöten. Ähnlich der Überle-
gung zu den verschiedenen Metaphernbegriffen hätte diese nicht nur
weitere wichtige Formen nichtwörtlichen Sprachgebrauchs, sondern
ebenso ihre starken und schwachen, echten und kommissarischen, be-
deutungstragenden und dekorativen Versionenzu unterscheiden. Eine
Theorie der Funktion figürlicher Rede kann sich nicht auf unsere in-
tuitive Unterscheidung des Buchstäblichen und Figürlichen verlas-
sen. Eher ist damit zu rechnen, dass sich die gängigen, in der Ge-
schichte der Rhetorik vorbereiteten Unterscheidungen nicht mit der
funktionalen Differenz grundlegender sprachlicher Artikulationsmo-
di decken. Das ist ein zu weites Feld. Ich werde mich in den beiden
folgenden Abschnitten damit begnügen, die Intuition, die hinter der
zweiten Verallgemeinerung steht, einsichtig zu machen, indem ich le-
diglich die erste, allein auf das Beispiel der Metapher bezogene Verall-
gemeinerung kommentiere.
Trotzdem sei das grundsätzliche Argument, das für die zweite Ver-
allgemeinerung spricht, wenigstens genannt, auch wenn es die Analy-
sen einer philosophischen Rhetorik nicht ersetzen kann. Der Grund
dafür, dass wir die beiden kardinalen sprachlichen Artikulationswege
notwendig brauchen, ist schlicht der, dass wir als Handelnde ein dop-
36
peltes Verhältnis zu uns selbst und zur Welt immer schon haben. Un-
sere gegenständliche Wahrnehmung ist perspektivengebundene
Wahrnehmung, unsere Erkenntnis voraussetzungsgestützte Erkennt-
nis, unsere Handlungsziele sind entwurfsabhängige Ziele. Wie es nun
die Sprache ist, die dieses doppelte - und doppele revidierbare- Welt-
und Selbstverhältnis erzeugt, so ist es die Sprache auch, die es ermög-
licht und verlangt, dass ihre Sprecher sich ihrer Erfahrung und ihrem
Wissen in doppelter Artikulation zuwenden können.Jenseits der An-
deutungstheorie wird klar, dass die Sprache uns nicht nur befähigt, die
Dinge der Welt zu thematisieren, sondern zugleich, Hinsichten für
die Thematisierung der Dinge des Lebens zu entwerfen: und dass sie
das eine nur gewähre, weil sie die Artikulation des anderen erlaubt.

6. Bedingungen gelungener Rede

Die These der funktionalen Komplementarität wörtlicher und nicht-


wörtlicher Rede sieht sich mit einem starken Einwand konfrontiert.
Der Einwand setzt erneut bei dem Umstand ein, dass nichtwörtliche
Rede nur dann als sinnvoll kontextartikulierende Rede verstanden
werden kann, wenn die betreffenden Äußerungen jedenfalls keine
wörtlich verstandenen sinnvollen Äußerungen sind. Aufs Beispiel der
Metapher bewgen lautet der Befund, dass etwas als metaphorische
Äußerung nur gilt, wenn es nicht als sinnvolle wörtliche Äußerung
gilt. Die Metapher ist eben darin als Metapher erkennbar und
brauchbar, dass sie die Bedingungen wörtlicher Rede verletzt.Diese
Bedingungen sind aber nicht die Bedingungen eines bestimmten
Teilsder Sprache, es sind die Grundbedingungen der sprachlichen
Verständigung überhaupt. Was Sprache ist, muss an diesen Bedin-
gungen expliziert werden, da das die Bedingungen sind, die in jeder,
auch etwa in der metaphorischen Rede vorausgesetzt sind. So wie die
Lüge sekundär ist gegenüber dem Sagen der Wahrheit, so ist auch die
Verletzung der Konventionen des wörtlichen Redens begriffiich se-
kundär gegenüber der Erfüllung dieser Regeln - wie produktiv, be-
deutsam und verständigungsfördernd diese Verletzung auch immer
ausfallen mag. Kurzum, die beschriebene Funktion der nichtwörtli-
chen Rede ist lediglich eine - wie gesagt, wichtige - Zusatzfanktion
der Sprache.
Diesem Einwand liegt jener Fehlschluss zugrunde, auf den ich
schon zu Anfang hingewiesen habe. Zwar ist es richtig, dass der Be-

37
griff der nichtwördichen Rede den der wörtlichen Bedeutung von
Worten und Sätzen voraussetzt - das sagt ja schon der Name. Daraus
folgt aber nicht, dass die Explikation der buchstäblichen Redeimstan-
de sei, den alleinigen GrundbegriffsprachlichenHandelm zu geben. So
zulässig es ist, die Sprache - im Sinne der langue- als ein System von
Wortbedeutungen zu fassen, so unzulässig ist es, die »Standardform«
oder den »Originalmodus« der Rede - der parole- als denjenigen Ge-
brauch der Sprache zu konzipieren, der diesen Bedeutungsregeln ei-
ner Sprache entspricht. Die Dimension sprachlicher Außerung näm-
lich steht von vornherein in der Polaritäteiner eher buchstäblichen
oder eher figürlichen Verwendung der sprachlichen Mittel. Gewiss
verweist die primäre, die wörtliche Bedeutung eines Satzes auf mögli-
che sinnvolle wörtliche Verwendungen dieses Satzes. Und hier, in
wörtlichen Verwendungen, wird die Bedeutung von Ausdrücken,
wenn nicht konstituiert, so doch konfirmiert. Jede einzelne Verwen-
dung sprachlicher Mittel aber steht wiederum in der Polarität eines
eher buchstäblichen oder eher figürlichen Gebrauchs; in Situationen
sprachlicher Verständigung stehen wörtlicher Gebrauch und wörtli-
ches Verständnis immer bereits alternativ zu figürlichem Gebrauch
und figürlichem Verständnis. Welches von beidem intendiert, welches
von beidem sinnvoll ist, kann sich nur im jeweiligen Kontext ent-
scheiden.30
Der scheinbare Widerspruch, der sich aus der Bekräftigung einer-
seits des Primats der wörtlichen Bedeutung und andererseits der
Gleichursprünglichkeit buchstäblicher und figürlicher Rede ergibt,
ist nun leicht aufzulösen. Einerseits komtituiertdie Möglichkeit sinn-
vollen wörtlichen Redens die Möglichkeit sinnvollen figürlichen Re-
dens - das ist das logische Verhältnis; logisch gesehen ist die figürliche
Rede abkünfrig oder parasitär. Andererseits entspringt dieser Konsti-
tution die Paritätder Leistungenbeider Artikulationsmodi und somit
die ubiquitäre Polarität ihrer Verwendung; funktional gesehen sind
beide Sprachformen komplementär. Zugespitzt könnte es heißen: Ist
die buchstäbliche Rede konstitutiv für die Sprache, sind buchstäblich
und figürliche Rede konstitutiv für das sprachliche Handeln. Dass wir
sprachlichhandeln können, hängt davon ab, dass wir intersubjektive
Bedeutungskonventionen ausbilden können; dass wir sprachlich han-
deln können, hängt davon ab, dass wir über sachbildende und sieht-
30 Diesen Punkt heben Derrida und Davidson ganz zu Rechr hervor: Derrida, Signatur
Ereignis Kontext, a.a.O.; Davidson, Kommunikation und Konvention, in: ders.,
Wahrheit und Interpretation, a.a.O., 372-393.
bildende Artikulationsformen zugleich verfügen. Daher ist die Leis-
tung beider Artikulationsformen für die sprachliche Welterschlie-
ßung und Handlungsorientierung des Menschen ganz unentbehrlich
- beide zusammen konstituieren den innovativen und reflexiven
Weltbezug sprachlichen Handelns. Natürlich heißt das nicht, dass je-
dem wörtlichen Satz ein nichtwördicher und jedem figürlichen ein
buchstäblicher zu folgen hätte, damit wir uns wirklich verstünden. Es
heißt nur, dass wir uns nur dann wirklich verstehen, wenn wir uns in
den beiden Dimensionen verstehen, deren eine primär der wörtliche,
deren andere primär der nichtwörtliche Sprachgebrauch zum Aus-
druck bringt. Manchmal wird es eher - oder nur - der eine, manch-
mal eher - oder nur - der andere Modus sein, auf den sich ein Kom-
munikationsversuch stützt. Meist sind es beide.
Darin liegt nicht zuletzt ein empirisches Indiz dafür, dass die wört-
liche Rede nicht so etwas ist wie die der Sprache innewohnende regu-
lative Idee des Redens, der wir als endliche und siruationsgebundene
Wesen nun einmal nicht ganz zu entsprechen vermögen. Wie ich ab-
schließend zeigen möchte, ist die wörtliche Rede vielmehr lediglich
einegrundlegende Form, die Bedingungen gelingender Rede zu erfül-
len. Die nichtwörtliche Rede verletzt zwar die Regeln des wörtlichen
Sprechens, nicht aber das Grundprinzip sinnvoller Rede. Denn dieses
übergreift den wörtlichen und den nichtwörtlichen Gebrauch der
Sprache.
Die genaue Lektüre der Prinzipien gelingender Rede bei Habermas
und Grice lässt meines Erachtens allein diesen Schluss zu. Das Prin-
zip, an dem sich kommunikative Handlungen nach Grice ausrichten
müssen (auch wenn sie sich - wie im Fall der Lüge - nicht danach
richten), lautet bekanntlich: »Gestalte deinen Gesprächsbeitrag je-
weils so, wie es im akzeptierten Zweck oder der akzeptierten Richtung
des Gesprächs, an dem du teilnimmst, gerade verlange wird.«31 Grice
verstehe diesen Grundsatz als ein »Kooperationsprinzip«, das wir be-
achten müssen, wenn unsere Äußerungen überhaupt für andere ver-
ständlich sein sollen. Um verständlich zu sein, müssen unsere Äuße-
rungen möglichst zutreffendeund möglichst relevante- also in einem
doppelten Sinn begründete- Beiträge zur gegebenen Situation sein
(oder wenigstens so erscheinen). Trotz aller grundbegrifflichen Diffe-
renzen zwischen Grice und Habermas steht diese Kooperationsbedin-
gung sinnvoller Rede dem Habermas'schen Leitbegriff des verständi-
31 H. i' Grice, Logik und Konversation, in: G. Mcgglc (Hg.), Handlung, Kommuni-
kation, Bedeutung, Frankfurt/M. 1979, 243-265,bes. 248.

39
gungsorientierten Handelns außerordentlich nahe. 32 Auf diese
Berührung beider Theorien kommt es hier an, denn sie ist der Grund
dafür, dass Habermas glaubt, die Grice'sche Andeucungstheorie pro-
blemlos an die eigene Bedeutungstheorie anschließen zu können. Wie
Grice nämlich versteht Habermas die ausnahmslose und unverhüllte
Befolgung der Bedingungen gelingender Rede einzig als Leistung der
wörtlichenRede. Nach beider Ansicht definiertes die wörtliche Rede,
dass sie - und nur sie - in der Lage ist, diese Bedingungen uneinge-
schränkt {oder zumindest soweit wie möglich) zu erfüllen. Die Regeln
und Umstände der korrektenÄußerung von Sätzen fallen demnach
mit den Regeln und Bedingungen ihrer wörtlichenÄußerung zusam-
men. Konsequenterweise stellt sich die kooperationsbereite und ver-
ständigungsorientierte nichtwörtliche Rede für beide Autoren als ein
paradoxes Verhältnis dar. Hier nämlich werden die Bedingungen
sinnvoller Rede durch Verletzungerfüllt. Das Dilemma der pragmati-
schen Andeutungstheorie liegt im Begriff dieser seltsamen Erfüllung.
Da das Prinzip vernünftiger Rede so konzipiert ist, dass es eigentlich
nur in wörtlicher Rede erfüllt werden kann, muss sich auch seine ver-
ständigungsorientierte Nichterfüllung als bloß uneigendiche, und das
heißt hier: als eigentlich, nur eben indirekt, wörtlicheErfüllung er-
weisen. Aus dem begrifflichen Primat der wörtlichen Bedeutung wird
gefolgert, dass es überhaupt nur wördiche Bedeutung gibt. Wie gese-
hen lässt sich aber unter dieser Voraussetzung nicht beschreiben, was
zum Beispiel in der {nicht bloß stellvertretenden) metaphorischen
Rede tatsächlich geschieht.
Wenn das so ist, bleiben zwei Möglichkeiten offen. Entweder man
zieht aparte Konsequenzen im Sog Derridas oder Davidsons, sei es,
dass die Erwartung sinnvoller Rede selbst nicht sinnvoll sei, sei es, dass
es so etwas wie eine verschiedenen Sprachen gemeinsame Sprache im
Grunde nicht gebe.33 Diese Lösungen freilich sind mindestens so pa-
radox wie die Vorstellung einer durch Verletzung der Kommunikati-
onsregeln geleisteten Erfüllung dieser Regeln. Es empfiehlt sich daher,
den anderen Ausweg zu ergreifen, den die Analyse der trojanischen
Metaphern vorgezeichnet hat. Es ist davon auszugehen, dass die ge-
sprächskooperative und verständigungsorientierte figürliche Rede
32 Die Parallele zu Grice wird von Habermas in der Theorie des kommunikativen Han-
delns lediglich (mit einer unplausiblen kritischen Bemerkung zur Grice'schen »Rele-
vanzbedingung«) erwähnt; vgl. a.a.O., 418.
33 Zu Derrida vgl. Anm. 1 und 5; zu Davidson siehe ders., A Nice Derangement ofEpi-
taphs, in: E. LePore (Hg.), Truth and Interpretation. Perspectives on the Philosophy
of Donald Davidson, Oxford 1986, 433-446.
überhaupt keine Verletzung der Bedingungen gelungener Rede dar-
stellt. Man muss diese Bedingungen nur richtig verstehen - nicht als
Regeln der Bedeutung von Worten und Sätzen, sondern als Prinzipi-
en der Verständigung in Kenntnis der Regeln, die Bildung und Be-
deutung sprachlicher Ausdrücke und Einheiten bestimmen. Gewiss,
die nichtwörtliche Rede missachtet die Regel der wörtlichen Rede,
dass die Bedeutung einer Äußerung der Wort für Wort erstellten Be-
deutung des geäußerten Satzes zu entsprechen habe. Aber das ist nicht
die alleinige Bedingung der sinnvollen oder gelingenden oder ver-
nünftigen Rede. Diese Bedingung der Rede nämlich wird überboten
von einer anderen, einer allgemeineren Bedingung: der Anforderung
hinreichend artikulierter Rede. Diese wird von den sachbestimmenden
und den sichtbestimmenden Sprachformen gleichermaßen erfüllt.
Da die Verständlichkeit unserer Rede auf der Erkennbarkeit sowohl
der Sachen als auch der Sichten dieser Rede beruht, ist sie zum Zweck
der unverstellten Verständigung erst dann »hinreichend artikuliert«,
wenn sie nötigenfalls beides, Sicht und Sache, zur Sprache bringen
kann. Das Gebot der hinreichend artikulierten Rede ist also kein an-
deres als das ursprüngliche Prinzip der verständigungsorientierten
Kommunikation. Es verleiht diesem lediglich eine andere Deutung-
eine Deutung, die es verbietet, das Prinzip der gelingenden vorrangig
als ein Prinzip der gelingenden wörtlichen Rede zu lesen. Ein ange-
messener Begriff der Verständigung muss das sachbestimmende und
das kontextartikulierende Reden von Anfang an umfassen, wenn er
uns nicht blind machen soll für die Tatsache, dass wir im Gespräch
nicht notwendigerweise blind sind für die Zugangsweisen, aus denen
das Gespräch erfolgt. So verstanden sind die sprachlichen Bedeu-
tungsregeln nicht zuletzt dazu da, im perspektivenartikulierenden
Sprachgebrauch übertreten zu werden. Sprache, so könnte man sagen,
konstituiert den doppelten Weltbezug ihrer Sprecher durch die Frei-
gabe ihrer Regeln zum übertretenden, zum »umständlichen« - und in
der Folge: zum unaufwendig bedeutungsverändernden - Gebrauch.

7. Ausdrucksintentionen

Zum Schluss möchte ich thesenhaft andeuten, warum das Ergebnis


der voranstehenden Überlegungen für eine hermeneutische Philoso-
phie der Sprache günstiger ausfällt als für eine intentionalistische.
Wenn es so ist, dass das Potential der nichtwörtlichen Rede ins Herz
41
der originalen sinnvollen Rede gehört, lassen sich drei der bekannten
Argumente gegen eine intentionaliscische Semantik mit weiteren
Gründen stützen.
Erstensist eine andeutungstheoretische Auffassung a la Grice dar-
auf beschränkt, den kommunikativen Gebrauch der nichtwörtlichen
Rede verständlich zu machen. Gerade die Metapher jedoch ist eine
sprachliche Form, die keineswegs allein für den intersubjektiven
Sprachgebrauch verwendbar ist. Und nicht nur die Metapher; wahr-
scheinlich lässt sich von allen Formen indirekter und figürlicher Rede
sagen, dass sie auch im einsamen Denken und der sonstigen inneren
Rede sinnvoll aktualisierbar sind. Das gilt selbst für die Ironie (»Das
fängt ja gut an« usw.). Sichselberaber kann man nichts andeuten. Man
kann sich aber im eigenen Überlegen sehr gut den Sinnzusammen-
hang des eigenen Denkens und Handelns artikulierend präsent halten
(oder einen solchen Zusammenhang durch subsidiäre, nichtthemati-
sche Artikulation konturierend entwerfen). Der solitäre Gebrauch
perspektivenartikulierender Redeweisen ist allein jenseits des Andeu-
tungsparadigmas ohne Zusatzerklärungen verständlich. So recht die
intentionalistische Theorie daran tut, den kommunikativen Sprach-
gebrauch ins Zentrum ihrer Analyse zu stellen, so bleibt ihr doch der
Weg zu einer vollständigen Erklärung der Ubiquitär nichtwörtlicher
Redeweisen entschieden verbaut.
Zweitens ist so etwas wie eine außersprachliche metaphorische
Äußerungsabsicht schlechterdings undenkbar. Wenn die andeutungs-
theoretische Reduktion verfehlt ist, ist auch die intentionalistische
Reduktion nicht länger möglich, selbst wenn sie für die Erklärung des
wörtlichen Redens plausibel sein sollte. Die Metapher erweist sich
dann zusammen mit anderen figürlichen und indirekten Ausdrucks-
weisen als essentiell sprachliche Operation. Es gibt kein metaphori-
sches Denken außerhalb der Sprache, einfach weil es einer öffentli-
chen Sprache bedarf, um zwei oder mehrere sprachliche Felder zur
verständlichen Artikulation eines Sinnzusammenhangs zu kontami-
nieren. Trotzdem kann eine Differenz zwischen Äußerungsabsicht
und sprachlicher Realisierung natürlich auch im nichtwörtlichen Re-
den auftreten, und das entsprechende sprachliche Handeln kann
glücken oder missglücken. Aber was da glückt oder missglückt, sind
innersprachliche Operationen, ausgeführt durch sprachgebundene
Intentionen. In diesem Punkt ist ein Vergleich mit künstlerischen
Ausdrucksabsichten sinnvoll. Sowenig es »ästhetische Ideen« gibt un-
abhängig von der Arbeit mit künstlerischem Material (das immer
42
schon eine ästhetische Vorgeschichte hat), sowenig gibt es kontextar-
tikulierende Redeabsichten außerhalb einer Praxis sprachlichen Han-
delns.
Drittens scheitern viele intentionalistische Erläuterungen bereits
mit ihrer Bestimmung der Funktion des nichtwörtlichen Redens.
Häufig wird gesagt, die metaphorische oder sonst wie uneigentliche
Rede sei verlangt, wo wir unsere Ideen noch nicht klar ausdrücken
können. 34 Bei Searle etwa erhält man die Auskunft: »Oft verwenden
wir Metaphern gerade deshalb, weil es keinen wörtlichen Ausdruck
gibt, mit dem wir genau zum Ausdruck bringen könnten, was wir
meinen.« 35 Zweifellos gibt es Verlegenheitsmetaphern; es fragt sich
aber, ob diese Verlegenheit daraus entsteht, dass wir zwar genau wis-
sen, was wir sagen wollen, jedoch nicht wissen, wie wir es sagen kön-
nen. Zwar haben wir manchmal das Gefühl, dass unsere - oder dass
zumindest eine bestimmte - Sprache nicht recht zu dem passt, was wir
eigentlich sagen wollen. Aber dieses Gefühl ist doch zugleich das Ge-
fühl, nicht so genau zu wissen, was wir eigentlich sagen wollen; je-
denfalls so lange, wie wir noch keine Ausdrucksalternative - sei es in
der anfänglichen, sei es in einer anderen Sprache - gefunden haben.
Denn was eine klare Ausdrucksintention ist, wissen wir nur, wenn wir
wissen, was ein genauer Ausdruck dieser Intention ist oder wäre. An-
dere als sprachliche Kriterien der Klarheit von Gedanken und Inten-
tionen stehen uns nicht zur Verfügung. Das war wohl auch der ur-
sprüngliche Sinn des »Prinzips der Ausdrückbarkeit« bei Searle.36 So
verstanden aber widerlegt das Prinzip die Auslegung, die sein Erfinder
ihm am Beispiel der Metapher verleiht. Eine Intention, die ich nicht
»genau«, sondern »bloß« metaphorisch ausdrücken kann, ist in der
Logik dieses Prinzips eben keine klare Intention. Es hat also keinen
Sinn zu sagen, ich sei noch nicht in der Lage, die richtigen Ausdrucks-
mittel für meine eindeutige Ausdrucksabsicht zu finden. Ebenso we-
nig wie es Sinn hat, das metaphorische Reden als ein bloßes Über-
gangsstadium zum genauen Reden zu verstehen. Denn eine gute Me-
tapher ist so prägnant und klar und genau wie nur möglich. In guten

34 Von diesem Einwand ist Grice meines Erachtens nicht betroffen. Aus seinen Bei-
spielbetrachtungen nämlich geht durchaus hervor, dass es bei den ,,Konvcrsations-
implikaturen« fast stets um die Aktualisierung eines gemeinsamen Vorverständnisses
als eines gemeinsamen Vorverständnisses geht - oder eben um die indirekte Demons-
tration fehlender Gemeinsamkeit.
35 Searle, Metapher, a.a.O., 136.
36 Vgl. J. R. Searle, Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurc/M. 1971,
34/f.
43
Metaphern erfülle sich unsere Ausdrucksintention ebenso sehr, wie sie
sich in klaren buchstäblichen Äußerungen oder in gelungenen Kunst-
werken erfüllt. Dass sie sich erfüllt, heißt in den meisten dieser Fälle
(in freilich unterschiedlich starkem Maß), dass wir durchs Aus-
drucksgelingen etwas über unsere Intention erfahren, wovon wir vor-
her nichts - oder jedenfalls nichts Genaues - wussten. Die Artikulati-
onsmodi der Sprache sind nicht bloß dazu da, damit wir sagen kön-
nen, was wir meinen; das Schöne an ihnen ist, dass sie uns immer
wieder etwas zu meinen und über unser Meinen und Wollen zu ent-
decken geben.

44
2. Über Richtigkeit und Wahrheit.
Erläuterungen zum Begriff der Welterschließung

Mein Titel enthält bereits die These. Ich spreche über Richtigkeit und
Wahrheit, weil ich meine, dass der Begriff der>>Welterschließung« nur
im Rückgang auf diese beiden Begriffe erläutert werden kann. »Welt-
erschließung«, so möchte ich zeigen, ist ein Vorgang der Orientierung
zugleich am Richtigen und am Wahren. Welterschließung (in einem
bestimmten Bereich), so möchte ich sagen, ist eine Veränderung des
Verhältnisses der Orientierungen am Richtigen und am Wahren (in
einem bestimmten Bereich).
Dieser Vorschlag kommentiert einen notorisch dunklen Begriff
durch zwei notorisch schwierige Begriffe; ich muss daher versuchen,
den zweiten und den dritten Begriff wenigstens so weit zu erläutern,
dass sie den Dienst einer Erläuterung des ersten leisten können. Soll-
te dies gelingen, hätten wir Anlass, Heideggers und Habermas' Ver-
ständnis von Welterschließung als eines Gegenbegriffs zu Wahrheits-
oder Geltungsorientierung ebenso zu verwerfen wie jedes andere
dichotomische Verständnis, das »Welterschließung« auf die Seite ent-
wederder »Richtigkeit« oderder »Wahrheit« stellt.

1. Heidegger und Goodman

Von dieser Problemstellung direkt berührt ist Heideggers These, die


Orientierung an der Wahrheit von Aussagen, überhaupt an so etwas
wie beanspruchter Gültigkeit, sei zweitrangig gegenüber jenen prag-
matisch bewährten Formen des Verstehens, die am Anfang von Sein
und Zeit als die primären menschlichen Orientierungen vorgestellt
werden. Dieser von Heidegger gegen die philosophische Tradition
einschließlich der Anfänge analytischer Philosophie gerichteten The-
se ist von Ernst Tugendhat und Jürgen Habermas energisch wider-
sprochen worden. 1 Seit längerem aber hat Heidegger in dieser Sache

r M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1979, bes. §§33 u. 44; E. Tugendhat, Der
Wahrheitsbegriffbei Husserl und Heidegger, Berlin 1970; ders., Selbstbewußtsein und
Selbstbestimmung, Frankfurt/M. 1979, Kap. X; J. Habetmas, Der philosophische
Diskurs der Modeme, hankfurr/M. 1985, Kap. VI; eine Heidegger entgegenkom-
mende Rekonstruktion versucht C. F. Gethmann, Heideggers Wahrheitskonzeption

45
gewichtige, wenn auch ihrerseits sehr divergente Bündnispartner er-
halten - ich denke etwa an Charles Taylor, Michel Foucaulc, Jacques
Derrida oder Richard Rorcy. Auf die eine oder andere Weise relativie-
ren alle diese Autoren die Bedeutung des Wahrheits- oder Geltungs-
bezugs im sprachlichen Handeln zugunsten einer mehr oder weniger
extremen Betonung, sei es der Produktivität und Prozessualität allen
Sprechens, sei es der offenbarenden Kraft oder determinierenden
Macht der Sprache überhaupt. Auf diese Hintergründe kann ich hier
nicht eingehen. 2 Ich möchte einen anderen, nüchterneren Bünd-
nispartner Heideggers ins Spiel bringen, der sich meines Wissens nie
auf Heidegger bezogen hat - Nelson Goodman.
Der Begriff der »Richtigkeit« nämlich, den ich verwenden werde,
hat gewisse Ähnlichkeiten mit demjenigen, den Nelson Goodman in
Waysof Worldmaking und den nachfolgenden Publikationen ge-
braucht.3 Man könnte von »pragmatischer Richtigkeit« sprechen,
einschließlich erkenntnispragmatischer Richtigkeit, für die sich
Goodman vorwiegend interessiert. »Richtigkeit« ist bei Goodman ein
Terminus für die Angemessenheit, für das »Passen«von Handlungen
und Handlungserzeugnissen zu einem jeweiligen (auf Erkenntnis zie-
lenden oder im Rückgriff auf bestimmte Erkenntnisse zu realisieren-
den) Zweck. Dieses Passen ist nicht primär ein Passen-aufetwas, son-
dern, wie Goodman sagt, ein Passen-ineinen Kontext, in dem es je-
weils um etwas, z. B. um bestimmte Operationen oder Erkenntnisse
geht. In vielen Fällen bemisst sich diese Richtigkeit an etablierten
Standards, die jedoch ihrerseits revidiert werden können und revidiert
werden müssen, wenn sich herausstelle, dass sie nicht die Orientie-
rung leisten, die sie zu leisten vorgeben, oder wenn sich die kogniti-
ven Absichten in einer Weise ändern, dass die alten Standards nicht
mehr brauchbar sind. Nach Goodman und seiner Mitautorin Elgin
freilich gibt es - jedenfalls im Bereich der Erkenntnissuche - sehr all-
gemeine Standards der Richtigkeit, als da sind »Konsistenz«, »Kon-
stanz« und »Relevanz«.4 Richtig sind Handlungen und ihre Erzeug-

in seinen Marburgcr Vorlesungen. Zur Vorgeschichre von »Sein und Zeit« (§44), in:
Forum für Philosophie !lad Homburg (Hg.), Heidegger: Innen- und Außenansich-
ten, Frankfurr/M. 1989. JOH30.
2 Vgl. Studie 3 in diesem Band.
3 N. Goodman, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/M. 1984, bes. Kap. VII; ders.,
Vom Denken und anderen Dingen, Frankfurt/M. 1987, bes. Kap. II; ders./C. Z. El-
gin, Revisionen. Philosophie und andere Künste und Wissenschaften, frankfurt/M.
1989, bes. Kap. I u. X.
4 Goodman/Elgin, Revisionen, a.a.O., 25ff.
nisse, die einen stimmigen und relevanten, jedoch nicht unnötig ori-
ginellen Beitrag zu dem liefern, worum es jeweils geht.
Diesem Begriff von Richtigkeit ordnet Goodman den Begriff der
Wahrheit uncer. »Richtigkeit« wird zu einem Covering Word für alle
Arten kognitiven Gelingens, auch und gerade für solche Arten, die
sich, wie Goodman meint, nicht auf Aussagenwahrheit beziehen (ei-
nes der Beispiele ist Erkenntnis im Bereich der Kunst). Damit steht
Goodman in der erwähnten Kontroverse auf Heideggers Seite. Für
ihn ist die Wahrheit von Aussagen lediglich ein Sonderfall der verste-
henden oder erkennenden Leistungen des Menschen. Dass dieser
Sonderfall ein sehr wichtiger Fall ist, bestreitet Goodman natürlich so
wenig wie Heidegger; beide aber sind der Meinung, die traditionelle
Fixierung auf die Aussage und ihre mögliche Wahrheit sei ein Irrweg
bei dem Versuch, die Leistungen unseres Verstehens zu verstehen.
Man darf sich bei dieser Nähe der beiden Autoren nicht durch ihre
unterschiedliche Terminologie täuschen lassen. Heidegger hat die bei-
den Begriffe »Richtigkeit« und »Wahrheit« bekanntlich anders, näm-
lich in umgekehrter Bedeutung gebraucht. Er nennt das, was ich in
Anlehnung an Goodman »Richtigkeit« nenne, Wahrheit, und das,
was üblicherweise »Wahrheit« heißt, Richtigkeit. Auch kann man dar-
über streiten, in welchem Maß Goodman'sche »Richtigkeit« und Hei-
degger'sche »Wahrheit« wirklich gleichzusetzen sind; für das systema-
tische Argument jedoch, auf das es hier ankommt, ist das Faktum der
Berührung aufschlussreich genug. Dass hier eine direkte sachliche
Verbindung besteht, liegt zumindest für Sein und Zeit auf der Hand.
Dort spricht Heidegger z. B. von der »Sicht des Daseins«, die sich in
der primären Erschlossenheit des pragmatischen Weltverstehens bil-
de. Im Haben einer solchen Sicht bekundet sich die Fähigkeit des
»Verstehens«, d. h. der sinnhaften Orientierung in lebenswelt!ichen
Kontexten. Wer eine Sicht dieser Art hat, wer sich auf etwas versteht,
der hat Zugang zu etwas, dem ist ein Bereich der Welt erschlossen.
Heidegger schlägt deshalb vor, den Begriff der »Sicht« von aller opti-
schen Metaphorik abzulösen und ihn rein formal als pragmatische
Zugangsfähigkeit zu interpretieren. Auf diese Weise kann man »Sicht
und Sehen so weit formalisieren, dass damit ein universeller Terminus
gewonnen wird, der jeden Zugang zu Seiendem und zu Sein als Zu-
gang überhaupt charakterisiert«. 5 Obwohl Heidegger die Rede von
der »Angemessenheit« solcher Zugänge strikt vermeidet, liegt es doch

5 Heideggcr, Sein und Zeit, a.a.O., 147.

47
nahe zu sagen, dass in der Gegebenheit (im »Gelichtetsein«) solcher
Zugänge zugleich eine interne Dimension pragmatischer Richtigkeit
und Unrichtigkeit liege. Indem ich einen Zugang zur Wirklichkeit
habe, habe ich auch Kriterien des Umgangs mit dem, womit ich da zu
tun habe. Wer hämmern kann, weiß, was es heißt, den Nagel schief
einzuhämmern. Dass Heidegger immer wieder sagt, auf die Formu-
lierbarkeitsolcher Kriterien oder den Bezugauf sie komme es nicht an,
muss nicht so verstanden werden, als gäbe es hier keine Richtigkeit,
die sich notfalls auch auf explizite Kriterien bringen lasse. Was Hei-
degger meint, ist zunächst nur, was auch der späte Wittgenstein nicht
müde wurde zu betonen, nämlich dass Formen menschlicher Praxis
sich nicht über eine Kenntnis der Regeln bilden, denen sie implizit fol-
gen - wie immer sich eine solche Kenntnis auch nachträglich ausbil-
den mag. Praktiken sind regelhafte Verhaltensweisen, denen Maßstä-
be der Richtigkeit innewohnen, ohne sich notwendigerweise über den
Bezug auf solche Maßstäbe zu organisieren und zu reproduzieren.
Heideggers »Wahrheit« eröffnet in diesem Sinn einen praktischen Be-
zug zu etwas; einen solchen Bezug oder Zugang, meint Heidegger in
Sein und Zeit, muss man haben, bevor man Kriterien haben kann, an-
hand derer man das durch ihn »Entdeckte« (oder ihn selbst) kritisch
beurteilen kann.
Mir diesem Argument geht Heidegger der Würde der Aussagen-
wahrheit an den Kragen. Dieser pragmatische Zugang zu etwas, argu-
mentiert Heidegger, konstituiert überhaupt erst so etwas wie die Fra-
ge nach der Wahrheit von Sätzen, sei also dieser gegenüber primär.
Man muss schon in Verhältnissen (Goodman'scher) Richtigkeit zu
Hause sein, um die Frage nach Wahrheit von etwas überhaupt stellen
zu können. Heidegger sagt es so: Man muss schon verstehenden Zu-
gang zur Welt haben, bevor man mit einem oder zu einem behaup-
tenden Satz Stellung nehmen kann. So heiße es in der Logik-Vorle-
sung von 1925'26: »Der Satz ist nicht das, darin Wahrheit erst möglich
wird, sondern umgekehrt, der Satz ist erst in der Wahrheit möglich.
Satz ist nicht der Ort der Wahrheit, sondern Wahrheit der Ort des Sat-
zes.«6
Ich meine jedoch, dass diese Umkehrung ebenso unplausibel ist
wie die Auffassung, gegen die sie sich wendet. Ich denke, dass sich ein
plausibler Begriff von Welterschließung nur gewinnen lässt, wenn
dieses Entweder-oder eines Primats, sei es der »Richtigkeit«, sei es der
6 M. Heideggcr, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, in: ders„ GSA, fl. Abteilung, Bd.
21, Frankfurt/M. 1976, 125.
»Wahrheit«, überwunden ist. Dabei kommt es mir im Folgenden
nicht darauf an, den Begriff der Welterschließung durch die beiden
geläufigeren Begriffe zu ersetzen. Das wäre ein großer Verlust. Denn
Heideggers Terminologie der »Erschlossenheit« ist eine ingeniöse Prä-
gung, weil sie semantisch genau zwischen den erkenntnistheoretisch
kontroversen Wortfeldern der »Erfindung« und der »Entdeckung«
liegt. Ich folge Heidegger darin, dass ich Welterschließung weder
(primär) als eine Sache der Erfindung noch (primär) als eine Sache der
Entdeckung von Welt oder Wirklichkeit verstehe; vor diese Alternati-
ve gestellt (wie sie Richard Rorty zu Beginn seines Kontingenz-Buchs
mit großer Emphase reproduziert7), scheint mir Enthaltung die ein-
zig richtige Anrwort.

2. Richtigkeit

Ich gebrauche den Begriff der »Richtigkeit« in einer zwar von Good-
man inspirierten, jedoch von seinem Verständnis abweichenden Wei-
se. »Richtigkeit« ist demnach ein Wort, mit dem die Korrektheit des
Herangehens an eine Situation oder Aufgabe bewertet wird. Stan-
dards der Richtigkeit, so kann man sagen, legen die (oder eine) ange-
messene Art desZugangsder Handelnden in einem Handlungsbereich
fest. Richtig in diesem Sinn können nicht nur Handlungen, sondern
auch Einstellungen und Sichrweisen sein, aus denen die betreffenden
Handlungen vorgenommen werden. Richtigkeit, so verstanden, ist
pragmatische Angemessenheit des Zugangs zu erwas.
Ich möchte den Aspekt des Zugangsbetonen. Richtigkeit, von der
ich spreche, garantiert nicht den Erfolg einer Handlung, sie eröffnet
lediglich die Aussicht eines solchen Erfolgs. Das richtige Herangehen
ermöglichtein Gelingen des Handelns, bewirkt ihn aber allein noch
nicht. »Richtigkeit« in der Bedeutung pragmatischer Angemessenheit
von Orientierungen ist also eine durchaus begrenzteVerwendung des
Wortes »richtig«. Sie meint den richtigen Handgriff, aber nicht schon
die gelungene Operation - erwa wenn einer vorschriftsmäßig häm-
mert, aber den Nagel dennoch nicht in die Wand bekommt (weil die-
se aus Stahlbeton ist). Sie meint die richtige Frage, aber nicht schon
die richtige Anrwort auf diese Frage - so wie man in der Philosophie
sagen kann, der Autor habe die richtige Frage gestellt, aber die falsche

7 R. Rorcy, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1989.

49
Antwort gegeben. Sie meint die richtige Einstellung, aber nicht schon
die richtige oder erfolgreiche Handlung aus dieser Einstellung - so
wie nach Niederlagen im Sport manchmal gesagt wird, immerhin, die
Einstellung habe gestimmt; so wie man im moralischen Verhalten
manchmal sagen kann, die Absichten seien die besten (richtigsten)
gewesen, dennoch sei die Hilfeleistung nicht zustande gekommen.
Meine Verwendung des Wortes meint die richtige Sicht einer Sache,
aber nicht notwendigerweise eine in allen Aspekten richtige Ansicht
dieser Sache - so wie man von jemandem sagen kann, er habe eine
richtige Sicht des »nouveau roman«, verkenne jedoch den Rang Clau-
de Simons, oder: er habe eine richtige Sicht der Entwicklungen in
Osteuropa, verkenne aber die Bedeutung Weißrusslands, oder allge-
meiner: er habe im Grunde ein richtiges Verständnis von etwas, auch
wenn er hier und da irre, danebenliege oder danebengreife. Die Di-
mension von Richtigkeit, um die es in jedem dieser Fälle geht, ist im-
mer die der Angemessenheit eines solchen bereichseröffnenden Ver-
ständnissesvon den Dingen, um die es im jeweiligen Handlungszu-
sammenhang geht - in jener weiten Bedeutung von »Verstehen«, mit
der Heidegger in Sein und Zeit operiert. Sich auf etwas verstehen: das
ist hier die primäre Bedeutung von »verstehen«. Wer sich in diesem
Sinn auf etwas versteht, weiß, worauf es ankommt, weiß, wie er vor-
gehen kann, weiß seine Fähigkeiten einzusetzen - hat einen richtigen
Zugang zu dem, worum immer es geht.
Wollte man allgemeine Kriterien dieser Art von Richtigkeit ange-
ben, so wären es Relevanz und Ökonomie. Handlungen und Hand-
lungsweisen müssen in Bezug auf Situation und Zweck des Verhaltens
abgestimmt (hierfür relevant) sein und dies in einer nicht unnötig auf-
wendigen (d. h. ökonomischen) Anwendung der verfügbaren Fähig-
keiten und des verfügbaren Wissens. Wer sich in einem Bereich oder
in einer Dimension des Handelns angemessen verhält, tut das, worauf
es ankommt, in einer Weise, die im Verhältnis zu den gegebenen Mit-
teln und Möglichkeiten steht. Das kann in unterschiedlichen Kon-
texten sehr Unterschiedliches bedeuten. »Angemessenheit des Zu-
gangs zu etwas«, wie die genannten Beispiele zu erkennen geben, be-
trifft jeden nur denkbaren menschlichen Handlungsbereich -
Einstellungen zum Beruf oder im Sport, in der theoretischen oder in
der herstellenden Tätigkeit, in moralischer oder politischer Hinsicht.
Diese (und weitere) Einstellungen betreffen nicht notwendigerweise
unterschiedliche Handlungsbereiche, sie können in ein und demsel-
ben Bereich (sukzessiv oder simultan) gefragt sein. Es handelt sich um
50
Dimensionen der Orientierung im Handeln, die miteinander koexi-
stieren und auch konfligieren können. Das normative Element, das
im Begriff der Richtigkeit angesprochen ist, kann primär kognitive,
moralische oder ästhetische Normen betreffen und wird selten nur
eine einzige dieser Normen betreffen. Der Begriff von Richtigkeit,
den ich hier verwende, ist also von bestimmtensolcher Bedeutungen
des Normativen freizuhalten. »Pragmatische Angemessenheit des Zu-
gangs zu etwas« kann eine technische, eine moralische, eine politische,
eine theoretische, eine ästhetische oder eine existentielle Dimension
haben; sie kann alle diese Dimensionen haben, aber auch jede einzel-
ne dieser Dimensionen entbehren.
Statt von einem »bereichseröffnenden« Verständnis, das in der
pragmatischen Angemessenheit von Zugängen gegeben ist, hätte ich
auch gleich von einem »welterschließenden« sprechen können. Je-
doch wäre das vorschnell. Denn die entscheidende Frage wird durch
einen so gefassten Begriff von Richtigkeit erst gestellt. Es ist die Frage
danach, wie sich das, was auf der linken Seite meiner beispielgeben-
den Sätze steht, zu dem verhält, was auf ihrer rechten Seite steht. Dass
hier eine Verbindung besteht, scheint klar; von jedem der Fälle von
Richtigkeit, die ich genannt habe, wird man sagen können, dass siele-
diglich up to a point unabhängig seien von der möglichen Falschheit
oder Verkehrtheit oder Misslichkeit dessen, was als Fokus der betref-
fenden Zugänge angesprochen ist. Aber wie diese Verbindung besteht,
ist vorderhand unklar. Wie sich das Sich-auf-etwas-Verstehen zu den
Arten des Verständnisses von etwas verhält, das mit solchen Zugangs-
weisen implizit und explizit gegeben ist - das ist die Frage, die gestellt
werden muss, um Aufschluss über den Sinn der Rede von »Welter-
schließung« zu erhalten. Diese Frage betrifft nicht allein die Richtig-
keit jeweiliger Orientierungen,sondern zugleich die Wahrheitder in
ihnen enthaltenen Annahmen. Sie betrifft den Status der Überzeu-
gungen, die in eine solche Orientierung eingegangen, aus diesem Zu-
gang heraus zugänglich oder für diesen Zugang wesentlich sind - sie
betrifft die Frage, wie es denn mit ihrer»Richtigkeit« steht. Der här-
teste Fall der Richtigkeit von Überzeugungen aber ist der Fall ihrer
Wahrheit.

51
3. Wahrheit

Unter Überzeugungen verstehe ich explizit oder implizit für wahr ge-
haltene Aussagen beliebiger Art. Unter »Wahrheit« verstehe ich die
Wahrheit von Aussagen aller Art, also auch von evaluativen Aussagen.
Wahrheit in diesem Sinn ist Wahrheit der Proposition eines behaup-
teten oder als Feststellung geäußerten Satzes, ganz egal, was für ein
Satz das sei - solange seine Äußerung überhaupt als sinnvolle Be-
hauptung oder Feststellung verständlich ist. Nur dann ist ein Aussa-
gesatz überhaupt wahrheitsfähig, wenn er von einem Sprecher in ei-
nem bestimmten Sinn behauptet wird (oder so aufgefasst wird, als sei
er es); in diesemSinn hängt die Art seines Wahr- oder Falschseins vom
Kontext seines Behauptetseins ab. Gleichwohl ist die Wahrheit oder
Falschheit selbsteine kontexttranszendenteEigenschaft einer in einem
bestimmten Sinn behaupteten Aussage. Diese ist wahr oder nicht,
gleichgültig, ob ihr Wahr- oder Falschsein erkannt wird oder zum
Zeitpunkt der Behauptung dieser Aussage erkannt werden kann - so-
lange die betreffende Behauptung wenigstens insoweit verständlich
ist, als erkennbar ist, was es heißen würde oder wenigstens heißen
könnte, dass sie sich bewahrheitet. Kurz: Eine Aussage ist wahr, wenn
es sich so verhält, wie der behauptete Satz es sagt. Propositionale
Wahrheit ist zutreffende Aussage über etwas.
Zieht man evaluative Aussagen in Betracht - »Mazda baut die
schönsten Autos«; »Dies ist ein Verbrechen« usw. -, so mag es unan-
gemessen erscheinen, von Wahrheit als einer »transzendenten«, nicht
an die Beurteilungsmittel und Beurteilungskriterien der Urteilenden
gebundenen Eigenschaft zu sprechen. Es kommt aber jeweils auf den
Behauptungssinn der betreffenden Sätze an. Eine Tatsachenbehaup-
tung - »Mazda produzierte im Jahr 1992 1,3 Millionen Autos«; »Der
Mann kam durch drei Schüsse zu Tode« - reklamiert Wahrheit in ei-
nem anderen Sinn als ein Geschmacksurteil oder ein moralisches oder
gerichtliches Urteil. Die Stärkeund der Sinn eines Wahrheitsanspruchs
variiert mit der Art der Belege bzw. Argumente, die man für die Gül-
tigkeit der betreffenden Behauptungen aufbringen kann. Der An-
spruch, abgesehen von seiner Stärke, ist aber jeweils der, dass es sich
so verhält, wie der zu einem bestimmten Zeitpunkt behauptete Satz
es sagt: Das ist bei evaluativen Aussagen nicht anders als bei deskrip-
tiven. Jeder, der den Satz versteht, kann ihm zustimmen oder aber ihn
bestreiten (oder sich enthalten) - mit denjenigen Mitteln, mit denen
ein solcher Satz eben bestritten oder bekräftigt werden kann; keines
dieser Mittel aber garantiert im einen wie im anderen Fall, dass eine
Revision auch der wohlerwogensten Stellungnahme nicht doch fällig
werden kann. Geschmacksurteile (und andere evaluative Urteile) un-
terscheiden sich allerdings von deskriptiven und bestimmten Arten
normativer Aussagen darin, dass die Eigenschaft der Wahrheit oder
Falschheit, obwohl kontexttranszendent, in ihrem Fall keine unver-
lierbareEigenschaft dieser Sätze ist. Nicht immer ist es hier eine Revi-
sion der früheren Auffassung, wenn einer ursprünglich vertretenen
Aussage nicht länger zugestimmt wird. Die neuen Autos von Hyun-
dai könnten Anlass sein, das ästhetische Urteil über die Produktion
von Mazda zurückzunehmen, ohne dass man sagen müsste, es habe
sich als falsch erwiesen. Der neue Zeuge im Mordprozess hingegen,
der die alte Beweislage über den Haufen wirft, bringt die alte Aussage
über den Schuldigen zu Fall, ebenso wie eine neue Entdeckung über
die Beschaffenheit von Gold die bisherige Analyse dieses Metalls revi-
diert. Obwohl wir mit jeder Behauptung sagen, dass es so und nicht
anders sei, gilt nicht jede Behauptung ein für alle Mal. 8 Zwar könnte
man die Rede von Aussagenwahrheit für den Fall reservieren, in dem
diese beiden Komponenten zusammenfallen, aber das ist im gegen-
wärtigen Zusammenhang nicht nötig. Ich möchte diskutieren, wie
sich Einstellungen und deren mögliche Richtigkeit (im erläuterten
Sinn von »Richtigkeit«) zu den mit ihnen verbundenen Annahmen
und deren möglicher Triftigkeit verhalten - ohne den Kreis dieser An-
nahmen zu beschränken. Deswegen spreche ich von »Wahrheit« im
weiten Sinn eines Zutreffens von Aussagen gleich welcher Art.

4- Spracheals Modell

Pragmatische Angemessenheit von Einstellungen und Handlungs-


weisen und propositionale Wahrheit von Annahmen in dem durch sie
zugänglichen Bereich - als ein Verhältnis dieser Größen möchte ich
Welterschließung interpretieren.
Worin das welterschließende Verhältnis dieser beiden Komponen-
ten besteht, lässt sich am sichersten an sprachlichen Konstellationen
verdeutlichen. Der Prozess der Welterschließung betrifft Standardsder
Richtigkeit einer Sprachezugleich mit Überzeugungenhinsichtlichder
8 Zur Differenz zwischen Wahrheit und Begründbarkeit sowie zur Wahrheitsfähigkeit
evaluativer Aussagen vgl. H. Pumam, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frank-
furt/M. 1982,bes. Kap. VI u. IX.

53
Wahrheit der Aussagen in dieser Sprache. Die betroffenen Standards
und Überzeugungen sind diejenigen einer (wie immer großen oder
kleinen) Sprachgemeinschaft. Welterschließung wäre demnach als ein
Erosions- und Revisionsprozess zu verstehen, der diese beiden Di-
mensionen zugleich umfasst. Er lässt die Auffassungen über eine be-
stimmte Sache zugleich mit den tragenden Hinsichten und Standards
dieser Auffassungen wankend werden - und vice versa. Dieses »zu-
gleich« bedeutet vor allem, dass es im Fall welrerschließender Umori-
entierung müßig ist zu fragen, ob die neu entdeckte Wahrheit für die
neue Sprache oder die neu entwickelte Sprache für die neue Einsicht
verantwortlich ist. Denn der Prüfstein für die Angemessenheit einer
Sprache ist die Formulierbarkeit aufschlussreicher Wahrheiten (»Ein-
sichten«) in dieser Sprache; »aufschlussreiche Wahrheit« ist anderer-
seits nur dort möglich, wo es in einer betreffenden Sprache auf-
schließende Unterscheidungen gibt. Wo beides fraglich wird, der
Grad der Angemessenheit einer Sprache (oder eines Sprachspiels) und
der Umstand der Wahrheit ihrer zentralen Sätze, ist der Prozess einer
doppelcen Umorientierung gefordert, der zugleich ein Prozess verän-
derter Weltgewinnung ist.
Beide Aspekte sprachvermittelter (Um-)Orientierung berühren
sich am handgreiflichsten in der Frage der Gültigkeit behauptender
Stellungnahmen. Mit solchen Stellungnahmen ist stets ein doppelter
Anspruch verbunden: derjenige der Relevanz und Deutlichkeit der
Behauptung einerseits, und derjenige der Wahrheit des behaupteten
Satzes andererseits. Entsprechend schließt die Begründung einer Be-
hauptung sowohl den Nachweis der kontextuellen Angemessenheit
der Behauptung als auch der sachlichen Wahrheit des Behaupteten
ein. Begründungen stehen also weder einfach auf der Seite der Orien-
tierung an Maßstäben der »Richtigkeit« noch einfach auf der Seite ei-
nes Bezugs auf »Wahrheit«. Ihre Leistung ist es vielmehr, zwischen der
allgemeinen Sicht einer Sache und bestimmten Ansichten von dieser
Sache zu vermitteln.
Das Beispiel von Behauptungen ist gewiss ein sehr eingeschränktes
Modell dessen, was mit »Welterschließung« bei und seit Heidegger
gemeint ist. Anders als Heidegger oder Goodman (aber ähnlich wie
Rorty oder Pumam) meine ich jedoch, dass der überschaubare Fall
von Behauptungen durchaus geeignet ist, das für Zustände und Vor-
gänge der Welterschließung zentrale Verhältnis von Richtigkeit und
Wahrheit zu erhellen. Sobald man ihn nämlich als einen exemplari-
schen Fall des allgemeineren sprachbezogenen Modells versteht, he-

54
ben sich viele der Beschränkungen auf. Wenn wir den Gedanken Hei-
deggers ernst nehmen, dass Welterschließung eine Leistung verstehen-
der Weltzuwendung ist, so kann dies nicht unabhängig von der Mög-
lichkeit sprachlich expliziten Verstehens verstanden werden, auch
wenn es absurd wäre zu sagen, Welterschließung sei nur ein Vorgang
komplexer sprachlicher Umstellung. Sie ist Sache einer Umstellung,
die sich wesentlich auch als sprachliche vollzieht. Ob jemand sich eine
neue Sportart erschließt, z.B. Golflernt, Kinder in die Welt setzt oder
von einem tiefgreifenden politischen Umsturz betroffen ist - jedes
Mal ändern die Beteiligten Grundorientierungen ihrer einschlägigen
Praxis, d. h. ihren Zugang zur sportlichen, familiären oder politischen
Welt auf eine Weise, dass sie diese zugleich (in mehr oder minder
großem Maß ohne ihr Zutun) geändert.finden. Es ändert sich das, was
sie im jeweiligen Bereich für gegeben und relevant hielten, zusammen
mit dem, was sie (nun) für wahr halten. Es ändert sich die Art, in der
sie die Welt sehen, zugleich damit, was sie da sehen; es ändern sich die
Standards und Gesichtspunkte, nach denen sie urteilen, zusammen
mit den Urteilen, zu denen sie im Einzelnen kommen. Es ändern sich
die Orientierungen in den Dimensionen der Richtigkeit und der
Wahrheit.
Das ist selbst dann so, wenn einer das Hämmern lernt - jedenfalls
solange wir diese Tätigkeit von einem Akt der bloßen Dressur unter-
scheiden wollen: Solange wir das Hämmern so beschreiben wollen,
dass dieser Jemand sich auf das Hämmern versteht-dass er nach und
nach hämmern lernt. Er weiß dann, dass beim Hämmern unter ande-
rem die Beschaffenheit der Wand zu beachten ist, dass es da weitere
Faktoren gibt, die zu berücksichtigen sind und hinsichtlich derer man
sich irren kann - hinsichtlich derer überhaupt nur irren kann, wer
schon hämmern kann. Wer so hämmern lernt, lernt auch, sich im
Hämmern und beim Hämmern zu korrigieren - er erwirbt eine fal-
lible Praxis, deren er gleichwohl sicher sein kann-, solange die inter-
nen Maßstäbe und Fertigkeiten dieser Praxis nicht selbst ins Wanken
geraten.

55
5. Erster Einwand

Diese erste Erläuterung des welterschließenden Verhältnisses der Ori-


entierung am Richtigen und am Wahren kann von zwei Seiten ange-
griffen werden. 9 Beide Male lautet der Einwand, meine Darstellung
lege ein Gleichgewicht der beiden Begriffe nahe, das nicht wirklich
bestehe. Jede Seite erklärt einen der beiden Begriffe zum grundlegen-
deren Begriff- den der Richtigkeit oder den der Wahrheit. Wahrheit
ist lediglich ein Fall der Richtigkeit, sagen die einen. Richtigkeit ist le-
diglich ein Fall der Wahrheit - behaupten die anderen.
Heidegger und Goodman gehören zur ersten Partei. Bei Goodman
findet sich eine These, die cum grano salis von Heidegger stammen
könnte - die These nämlich, »Richtigkeit« (also Heideggers »Wahr-
heit«) sei eine viel grundlegendere Sache als »Wahrheit« (also Heideg-
gers »Richtigkeit«). Wenn sich daher Goodmans These als falsch er-
weist, haben wir auch einigen Anlass, Heideggers These zurückzuwei-
sen, d. h. die Auffassung, »Welterschließung« sei primär eine Sache
der »Richtigkeit«, nicht hingegen der »Wahrheit« (in der üblichen
Terminologie gesagt). Ich möchte kurz zeigen, dass Goodmans These
falsch ist, und dann sehen, was sich daraus für das Verständnis von
»Welterschließung« ergibt.
Goodmans Behauptung lautet, der Begriff der Wahrheit sei abhän-
gig von dem der Richtigkeit, nicht jedoch umgekehrt. Wahrheit, so
Goodman, braucht immer »Hilfe« vonseiten der Richtigkeit, Rich-
tigkeit aber nicht immer Hilfe von seiten der Wahrheit. 10 Dass eine
Aussage auf einen Gegenstand passt, dass sie zutrifft, ist demnach le-
diglich einer unter anderen Fällen eines Passens von Handlungen zu
dem Kontext, in dem es um kognitive Orientierungen geht. A~serto-
risches Passen-auf(einen Gegenstand) ist für Goodman ein Fall des
pragmatischen Passens-ineinen Kontext oder Diskurs. 11
9 '!reffender wäre es vielleicht zu sagen, es handle sich hier um ein Verhältnis der Ori-
entierung durch das Richtige zu derjenigen am Wahren; denn die Richtigkeit ist ja
nicht primär <las,worauf wir orientiert sind, sondern vielmehr das, woran wir uns
orientieren (oder schärfer noch das, was um- oft genug hinter unserem Rücken- ori-
entiert). Außerdem handelt es sich immer um das, was wir (berechtigter- oder unbe-
rechtigterweise) für richtig oder wahr halten. Ausführlich müsste es deshalb heißen,
es handle sich hier um ein Verhältnis der Orientierungen durch das für richtig und an
dem für wahr Gehaltenen.- Ich behalte jedoch die abkürzende Redeweise bei.
m Goodman/F.lgin, Revisionen, a.a.O., 203 u. 206f.
u In diesem Zusammenhang scheint bei Goodman eine sukzessive Radikalisierung
vorzuliegen: vgl. ders., Weisen der Welterzeugung, a.a.O., 176f.; ders., Vom Denken
und anderen Dingen, a.a.O., 63 f.; ders./Elgin, Revisionen, a.a.O., 206 f. u. 208.
Zwei Gründe vor allem sind es, mit denen Goodman die Auffas-
sung eines Vorrangs pragmatischer Richtigkeit gegenüber propositio-
naler Wahrheit stützt. 1. Nicht überall, wo kognitive Richtigkeit von
Bedeutung sei, spiele Aussagenwahrheit eine Rolle - z.B. nicht bei
Kunstwerken oder der Anfertigung von Proben. 2. Die Frage nach
Wahrheit von Aussagen könne sich allein innerhalb symbolischer Sys-
teme stellen, die von vornherein Standards der Richtigkeit unterlie-
gen; daher sei Wahrheit lediglich »ein Bestandteil der Richtigkeit«, je-
doch, siehe Grund (1),kein notwendiger Bestandteil. Wahrheit, sagen
Goodman und Elgin, »ist gelegentlichein Bestandteil der Richtig-
keit«.12
Jedoch ist gerade die erste These wenig einleuchtend. Aus dem
Umstand nämlich, dass nicht jede Erkenntnis auf propositionale
Wahrheit zielt, folgt keineswegs, dass nicht jede Erkenntnis durch die
Möglichkeit der Bewahrheitung von Aussagen vermitteltist. Zwei Ar-
ten kognitiver Orientierung sind hier zu unterscheiden. Auf der einen
Seite stehen - vorwiegend wissenschaftliche - Erkenntnisformen, de-
ren Telos wahre Aussagen oder Aussagensysteme sind; hier haben wir
es mit Erkenntnis zu tun, die auf wahre Aussagen zielt. Auf der ande-
ren Seite stehen Erkenntnisformen, deren Medium unter anderem
wahre Aussagen sind; hier haben wir es mit Erkenntnis zu tun, die sich
auf dem Wege einer Gewinnung bewahrheiteter Aussagen vollzieht -
wie im Fall ästhetischer oder ethischer Erkenntnis. Um welchen der
beiden Fälle - und seiner vielen Zwischenstufen - es sich auch han-
delt, in jedem Fall ist ein Bezug auf die Wahrheit von Aussagen mit im
Spiel. Ebendies - dass es keine Erkenntnis diesseits zumindest des
Mediums propositionaler Wahrheit gibt - möchte ich gegen Good-
man (und Heidegger) behaupten. Selbst im extremen Fall der Kunst
verhält es sich so, dass wir der nicht-propositionalen ästhetischen Er-
kenntnis am Kunstwerk nicht ohne das Medium propositionaler Er-
kenntnisse über das Kunstwerk teilhaftig werden können. Goodman
und Heidegger übersehen, dass das einzige Kriterium, das uns zur
Überprüfung der pragmatischen Angemessenheit des Verständnisses
von etwas oder auf etwas zur Verfügung steht, dasjenige einer Über-
prüfung der implizierten Aussagen überden betreffenden Gegenstand
ist. 13

12 Goodman/Elgin, Revisionen, a.a.O., 207.


13 Zum Argument gegen Heidegger siehe ausführlicher Studie 9 in diesem Band.

57
6. Richtigkeit und Wahrheit

Zwar ist pragmatische Richtigkeit eine unumgängliche Bedingungal-


len Bezugs auf Wahrheit, zugleich aber ist die Beurteilung von Wahr-
heit ein unerlässliches Kriterium der Richtigkeit. Es gibt keine Wahr-
heit außerhalb faktischer oder möglicher Kontexte der Richtigkeit; es
gibt keine Wahrheit ohne einen möglichen angemessenen Zugang zur
betreffenden Wahrheit. Das ist das eine. Das andere aber ist: Es gibt
keine Richtigkeit ohne einen möglichen Test der Wahrheit; die Rich-
tigkeit von Handlungen muss sich an ihren Ergebnissen ersehen las-
sen, und dazu bedarf es eines Urteils, und also des Bezugs auf Wahr-
heit - und zwar auch dann, wenn dieses Ergebnis nicht die Form ei-
ner Aussage hat (wenn es sich also um Kunstwerke, Wasserproben
oder politische Entscheidungen handelt). So sehr also die Wahrheit
Hilfe von seiten der Richtigkeit braucht, so sehr braucht die Richtig-
keit Hilfe - von seiten der Wahrheit.
Das bedeutet, dass von einer strikten Interdependenz, d. h. einer ir-
reduziblen wechselseitigen Abhängigkeit der Begriffe des Richtigen
und des Wahren auszugehen ist. Jeder dieser Begriffe lässt sich nur un-
ter Rekurs auf den anderen erläutern, ohne dass sich der eine mit Hil-
fe des anderen definieren ließe. »Wahrheit« und »Richtigkeit« verwei-
sen aufeinander, ohne aufeinander rückfuhrbar zu sein.
Wahrheit ist von Richtigkeit abhängig in dem Sinn, dass es nur
dort, wo es sprachliche oder sprachgebundene oder mit Sprache ver-
bundene Standards der Richtigkeit gibt, auch wahre Aussagen geben
kann. Aber Wahrheit geht über Richtigkeit darin hinaus, dass auch
die besten Standards nicht über Wahrheit entscheiden(sondern ihrer-
seits wiederum im Namen der Wahrheit revidiert werden können).
Wahrheit ist zwar an das Gegebensein von Sprache und sprachlichen
Standards gebunden, nicht jedoch an eine bestimmteSprache oder ei-
nen bestimmtenStandard.
Richtigkeit andererseits ist abhängig von Wahrheit, weil sich nur
zusammen mit der Wahrheit von Aussagen in einer Sprache die An-
gemessenheit dieser Sprache erweisen kann. Richtigkeit aber geht zu-
gleich über Wahrheit hinaus, als sie - in der Konstellation der Unter-
scheidungen, Regeln und Standards, die eine Praxis leiten - Hinsich-
ten der behauptenden Stellungnahme entwirft oder eröffnet, die dem
Vollzug entsprechender Stellungnahmen - und damit dem Anspruch
auf Wahrheit - häufig vorausliegen.
Man kann also sagen: Es gibt Wahrheit nur in faktischen oder mög-
liehen Kontexten der Richtigkeit; aber die Richtigkeit des prag-
matisch Richtigen können wir allein in Relation auf propositio-
nale Wahrheit ermitteln. Es gibt Wahrheit nur innerhalb von Syste-
men der Richtigkeit, aber Wahrheit ist keine Spielart, vielmehr ein
konstitutives Widerspielaller Richtigkeit. Richtigkeit von Zugängen
zur Wirklichkeit bemisst sich daran, dass sie jeweils Zugänge zu wah-
ren Überzeugungen eröffnen; das Zutreffen von Aussagen lässt sich
andererseits allein innerhalb revidierbarer Sichtweisen prüfen. Das
Richtige ist Bedingung des Wahren, das seinerseits Korrektiv des
Richtigen ist.

7. Zweiter Einwand

Spätestens hier meldet sich der zweite Einwand. In seiner radikalsten


Form leugnet er jede grundsätzliche Differenz zwischen den Orien-
tierungen am Richtigen und am Wahren. Im Grunde gehe es doch -
am Beispiel von Behauptungen - bloß um zwei Arten des Dafürhal-
tens: um Meinungen über die Angemessenheit einer Behauptung im
gegebenen Kontext einerseits und über die Wahrheit des Behaupteten
andererseits. Den zwei Arten des Dafürhaltens entsprechen zwei Ar-
ten des Urteils, die jeweils etwas anderes zum Gegenstand haben; das
eine trifft Aussagen über das (richtige oder falsche) Herangehen an
eine Sache, das andere über die Sache. Beide Arten von Aussagen aber
beurteilen wir danach, inwieweit sie begründet sind: ob wir Gründe
haben, anzunehmen, sie seien wahr. Darum sind implizite oder expli-
zite Überzeugungen hinsichtlich der Wahrheitvon Aussagen der Fels,
auf dem das ganze Gebäude unserer Orientierungen ruht. Was ich im
Anschluss an Heidegger und Goodman »Richtigkeit« genannt habe,
wäre also nur ein spezieller Fall der Wahrheit - ein Fall der Wahrheit
von meist impliziten Annahmen über die Relevanz und die Ökono-
mie, kurz: über die pragmatische Angemessenheit eines jeweiligen
Herangehens an etwas. »Richtigkeit« beträfe demnach einfach die Be-
gründetheit unserer Annahmen oder Urteile über die Angemessenheit
unserer sprachlichen oder sonstigen Mittel, mit denen wir etwas -sei-
en es möglichst triftige Erkenntnisse oder möglichst stabile Wände
oder möglichst komplexe Kunstwerke - zu erreichen versuchen. Ori-
entierung am Richtigen wäre daher nicht allein mit Orientierungen
an Aussagen und ihrer erhofften Wahrheit »verbunden«, sie wäreOri-
entierung an einer bestimmten Art von Aussagen: an denjenigen Aus-

59
sagen, mit denen wir unseren Zugang, unsere Einstellung zu einer Sa-
che bewerten.
Dieser Einwand nivelliere die Differenz zwischen der Sicht einer
Sache und der betreffenden Sache. Der Umstand, dass man auch die
Sicht einer bestimmten Sache wiederum zu einer thematischen und
thematisierten Sache - zur Sache einer deskriptiven oder evaluativen
Aussage - machen kann, berechtigt jedoch nicht zu dem Schluss,
Überzeugungen hinsichtlich der Angemessenheit eines Zugangs zu
einer Sache seien nichts anderesals Auffassungen über eine beliebige
Sache. Denn diese Überzeugungen lassen sich selbst nur innerhalb ei-
nes mehr oder weniger angemessenen Zugangs (im Gebrauch einer
mehr oder weniger angemessenen Sprache) formulieren. Die triftige
Beurteilung von etwas - und sei es ein Zugang zu etwas - setzt das
Haben eines Zugangs voraus, und zwar eines solchen, der brauchbar
ist für die Beurteilung dessen, was da beurteilt werden soll. Aus dieser
Tatsache hat Heidegger in Sein und Zeit auf die begriffiiche Zweitran-
gigkeit aussagenförmiger Stellungnahmen geschlossen. Auch wenn
das ein Fehlschluss ist (wie ich in der Behandlung des ersten Einwands
zu zeigen versucht habe), gibt es noch lange keinen Anlass, in den ge-
genteiligen Fehlschluss zu verfallen und Heideggers Einsicht zu miss-
achten. Man muss einen angemessenen Zugang zu etwas haben, bevor
man überhaupt etwas treffend beurteilen kann -soweit hat Heidegger
recht; aber einen angemessenenZugang zu etwas zu haben bedeutet,
dass sich gegebenenfalls nicht nur die Auffassungen über die zugäng-
liche Sache, sondern - zusammen mit diesen - auch die Auffassungen
über diesenZugang selbstbewahrheiten lassen müssen - hierin haben
die Vertreter des zweiten Einwands Recht. Sobald man aber erkennt,
dass es sich auch bei dieser Beobachtung um eine Teilwahrheit han-
delt, hebt sich der Charakter eines Einwands auf. Alle Orientierung
an der »Richtigkeit« von Zugängen, Einstellungen, Sichtweisen usw.
ist in ihrer kognitiven Substanz abhängig von der Wahrheit der
Annahmen, die sie impliziert - soviel ist am zweiten Einwand rich-
tig. Alles Fürwahrhalten von Aussagen andererseits ist in seiner
Triftig-keit abhängig vom Gegebensein aufschlussreicher Zugänge zu
den Gegenständen dieses Fürwahrhaltens - soviel ist am ersten Ein-
wand richtig. Der Zusammenhang ist nicht nach einer Seite hin auf-
zulösen.
In einer moderateren Fassung hingegen lässt sich der zweite Ein-
wand zwar wiederum nicht als echter Einwand, aber doch als wichti-
ge Klarstellung verstehen. Er lässt sich dann als Protest gegen die ver-
60
mutete Tendenz auffassen, »Richtigkeit« zu einer eigenen Geltungsdi-
mension neben, vor oder über den unterschiedlichen Arten der Wahr-
heitsorientierung zu erheben. 14 Für diesen Protest gibt es jedoch hier
keinen Anlass. Die »Richtigkeit«, von der ich spreche, ist keine eigene
Dimension der Geltung oder Wahrheit, sondern vielmehr eine kon-
stitutive Dimension der Orientierung an Geltung oder der Wahrheit
(unterschiedlicher Art). Sie bezeichnet pragmatische Voraussetzun-
gen, unter denen Annahmen über die Wirklichkeit notwendigerwei-
se stehen. Ob aber ein solcher vorausgesetzter Zugang richtig, ange-
messen, produktiv und dergleichen ist, entscheidet sich allein als eine
Frage nach der Relevanz und Wahrheit der durch diesen Zugang
eröffneten oder ihn tragenden Überzeugungen. Das ist, um es
nochmals zu sagen, die Abhängigkeit aller Richtigkeit von der Stütze
der Wahrheit. Richtigkeit ist kein Korrektiv der Wahrheit, während
Wahrheit eines der Richtigkeit ist. Wahrheit ist also nicht im selben
Sinn abhängig von Richtigkeit wie Richtigkeit von Wahrheit. Das än-
dert aber an der Tatsache dieser zweiten Abhängigkeit nichts; es än-
dert nichts an der Tatsache, dass wir Richtigkeit voraussetzen müssen,
wenn wir überhaupt nach Wahrheit fragen. Richtigkeit lebt von ei-
nem Kredit auf Wahrheit, Wahrheit lebt von der Gewährung solchen
Kredits - auch wenn wir, denen es im Interesse an verlässlichen Ori-
entierungen um beides geht, diesen in jeder einzelnen Stellungnahme
kündigen können.

8. Korrigierbarkeit

Das Verständnis von Wahrheit, das diesen Erläuterungen zugrunde


liegt, kommt demjenigen nahe, das Hilary Putnam in selbstkritischen
Kommentaren zu seiner eigenen früheren Position heute vertritt,
ebenso demjenigen, das Albrecht Wellmer in Auseinandersetzung mit
Rorty, Habermas und Putnam entwickelt hat. 15 Putnam und Wellmer
wenden sich gegen einen metaphysischen Realismus, einen epistemi-
schen Idealismus und einen epistemischen Relativismus gleicher-
14 So lassen sich Habermas' Bedenken gegen eine Aufwertung der welterschließenden
Kraftder Sprache verstehen.
15 H. Pumam, Repräsentation und Realität, Frankfurt/M. 1991, bes. Kap. V1 (mit einer
Revision der wahrheitstheoretischen Position in: ders., Vernunft, Wahrheit und Ge-
schichte, a_a,O.); ders., The Many Faces ofRealism, lllinois 1987; A. Wellmer, Wahr-
heit, Kontingenz, Modeme, in: ders., Endspiele. Die unversöhnliche Modeme,
Frankfurr/M. 1993, 157-177.
maßen. Unter »metaphysischem Realismus« versteht Putnam die Auf-
fassung, was Wahrheit sei, lasse sich hinreichend in nicht-epistemi-
schen Begriffen erläutern, d. h. unabhängig von allen Begriffen der
»Richtigkeit«. Unter »epistemischem Idealismus« verstehe ich eine
Position wie diejenige Putnams zur Zeit von Reason,Truthand History
oder auch diejenige einer »Konsenstheorie der Wahrheit« im Sinne
von Habermas und Apel; Wahrheit wird hier in epistemischen Be-
griffen einer idealisierten oder ultimativen Akzeptierbarkeit erläutert.
Einen »epistemischen Relativismus« vertritt Rorty, wenn er Wahrheit
auf die »Brauchbarkeit« eines Vokabulars reduziert oder wenn er sagt,
Wahrheit sei ein Kompliment für Überzeugungen, die »zur Zeit«
nicht revisionsbedürftig seien. 16 Für einen »pragmatischen Realis-
mus«17a la Putnam oder Wellmer hingegen - man könnte ihn auch
einen »korrektiven Pragmatismus« nennen - sind Richtigkeit, Be-
gründbarkeit und Wahrheit interdependente und irreduzible Begrif-
fe, die sich wechselseitig erläutern. is

Einen solchen korrektiven Pragmatismus kennzeichnet dreierlei:

1. Er vertritt die Auffassung einer wahrheitstheoretischen Koexistenz


von Relativität und Irrelativität. i 9 Wahre Aussagen sind nur in relati-

16 Rorry, Kontingenz, Ironie und Solidarität, a.a.O., 31 u. ders., Solidarität oder Ob-
jektivität?, in: ders., dass., Stuttgart 1988, u-37, 17. - Sowohl der epistemische Rela-
rivisr als auch der episremische Idealist geben mit der »Rechrferrigungsrranszendenz
der Wahrheit« auch die »Darstellungstranszendenz der Welt« auf- der Relarivisr frei-
lich bereits in erster oder mittlerer, der Idealist dagegen in letzter und rein regulativer
Instanz; zur Unhaltbarkeit beider Operationen vgl. W Künne, Brentanos blühender
Baum. Plädoyer für eine nicht-epistemische Wahrheitsauffassung, in: Forum für Phi-
losophie Bad Homburg (Hg.), Realismus und Antirealismus, Frankfurr/M. 1992,
224-244. Demgegenüber wahrt ein pragmatischer Realismus beide Distanzen, ohne
einer Spielart des Mythos vom Gegebenen zu unterliegen.
17 Diese Bezeichnung zieht Putnam der eigenen früheren Kennzeichnung »interner
Realismus« vor: ders., Tbc Many Faces ofRealism, a.a.O., 17.
18 Dieselbe Position vertritt Donald Davidson: »Ifl am right, each of rhese concept, (i.
e. meaning, trurh and belief, M. S.) requires rhe orhers, but none is subordinate to,
much less definable in rerms of, rhe orhers. 'frurh emerges not as wholly derached
from belief (as a correspondence theory would make ir) nor as dependenr on human
merhods and powers of discovery (as epistemic theories of truth would make ir).
What savcs truth from being •radically non-epistemic, (in Putnam's words) is not rhar
trurh is epistemic bur rhar belief, rhough its ties wirb meaning, is intrinsically veridi-
cal.« (A Coherence Theory ofTrurh and Knowledge. Afcerrhoughrs 1987, in: A. Ma-
lachowski (Hg.), Reading Rorry, Oxford r991, r36.)
19 H. Purnam, Why Reason Can't be Naturalized, in: ders., Realism and Reason, Cam-
ven Sprachen formulierbar, man kann auch sagen: Wahrheit ist nur in
relativen Sprachen existent; dennoch ist der Anspruch auf Wahrheit
oft ein irrelativer Anspruch, der Anspruch, zu jeder Zeit und für jede
Sprache (in der er sich überhaupt formulieren lässt) als wahr erwiesen
werden zu können.

II. Ein moderates, von unnongen Idealisierungen 20 befreites Ver-


ständnis von Wahrheitsansprüchen. Zu einem Wahrheitsanspruch
gehört nicht der Glaube, die eigene Auffassung sei nicht revidierbar,
sondern allein die Erwartung, dass sie nicht revidiert werde.Die Un-
terstellung der Wahrheit des Behaupteten ist keine Unterstellung der
Irreversibilität der Behauptung. Der Glaube, dass ein Satz nicht revi-
diert werden wird, ist etwas anderes als zu glauben, dass er nicht revi-
diert werden kann. Nur die erste Unterstellung ist mit Geltungsan-
sprüchen notwendigerweise verknüpft; die Unterstellung absoluter
Wahrheit (im Sinn einer absoluten, ultimativen Erfassung des Wah-
ren) hingegen ist für Wahrheitsansprüche nicht konstitutiv.

III. Der völlige Verzicht auf das Ideal des Wahrheitsbesitzes, und sei es
als regulatives Ideal. Wenn Wahrheitsansprüche ihrem Wesen nach
fallibel sind, wird der Gedanke eines ultimativen Erkenntnisbesitzes,
eines Endpunkts der Wahrheitserfassung, leer. Idee der Wahrheit ist
nicht länger der vollständige Wahrheitsbesitz, auch nicht die unendli-
che Wahrheitssuche (denn dieses Bild reproduziert nur den possessi-
ven Gedanken), sondern vielmehr einfach: die korrigierbare Recht-
fertigung von Überzeugungen. Korrigierbarkeit ist die Idee des Be-
zugs auf Wahrheit.

9. Welterschließung

Ich kehre nun zu meiner Definition von »Welterschließung« zurück.


Welterschließung (in einem bestimmten Bereich), so hatte ich gesagt,
ist eine Veränderung des Verhältnisses der Orientierungen am Richti-
gen und am Wahren (in einem bestimmten Bereich). Prozesse der
Welterschließung ereignen sich, wenn sich mit unserem Zugang zu ei-

bridge 1988, 229-247, bes. 234; J. Habermas, Entgegnung, in: A. Honnech/H. Joas
(Hg.), Kommunikatives Handeln, Franfurt/M. 1986, 327-405, bes. 350/f.
20 Vgl. hierzu Wellmer, Wahrheit, Kontingenz, Modeme, a.a.O. u. ders., Konsens als
Telos der sprachlichen Kommunikation?, in: H.-J. Giegel (Hg.), Kommunikation
und Konsens in modernen Gesellschafi:en,Frankfurt/M. 1992, 18-30.
nem Bereich der Wirklichkeit grundlegende Auffassungen über die
Phänomene dieser Wirklichkeit verändern. Im radikalsten Fall, der
aber ein bloßer Grenzfall sein dürfte, erö.lfoetWelterschließung eine
Wirklichkeit so, dass dabei ein ganzer Bereich von Phänomenen al-
lererst bekannt wird. Welterschließung wäre hier Offenbarung zu-
gleich einer genuinen Sicht und einer genuinen Sache.
Wie schon bei Heidegger entspricht dem prozessualenBegriff von
Welterschließung ein statischerBegriff. Dem Vo,;gangder Welter-
schließungentspricht ein Zustand der Erschlossenheit des Wirklichen,
d. h. einer etablierten Orientierung in den Dimensionen des Richti-
gen und des Wahren. Da dies jedoch nur zwei Seiten einer Medaille
sind, werde ich mich weiterhin am prozessualen Begriff orientieren.
Versteht man Welterschließung als einen Vorgang der simultanen
Revision von Orientierungen sowohl in der Dimension der Richtig-
keit als auch in der Dimension der Wahrheit, so kann man sagen, dass
hier die Interdependenz von Richtigkeit und Wahrheit praktisch
wird. Vorgänge der Welterschließung nötigen zu einer doppelten
Neuorientierung: einer Orientierung sowohl hinsichtlich der Stan-
dards der Orientierung als auch hinsichtlich dessen, was durch diese
Standards erfasst, entdeckt oder geregelt wird. Welterschließung ist
nicht einfach wie die Aneignung oder das Erlernen einer neuen Spra-
che für im Wesentlichen bekannte Dinge. Welterschließung ist wie
das Erlernen einer neuen Sprache für wesentlich noch unbekannte
Dinge. Das Weltwissen und das Sprachwissen modifizieren sich hier
in einem Zug. Und zwar so, dass die eine Revision nicht der anderen
nachfolgt, vielmehr so, dass beide auf eine oft undurchsichtige Weise
zugleich vorgenommen werden. Das schließt nicht aus, dass wir im
Nachhinein so etwas wie eine rationale Rekonstruktionunseres verän-
derten Weltverhältnisses leisten können, dass wir Gründe für diese
Veränderung sowohl unserer sprachgebundenen Standards als auch
unserer sprachgebundenen Überzeugungen haben. Es schließt nur
aus, dass der Neuartigkeit von Zugängen oder der Neuheit von sach-
lichen Überzeugungen ein Vorrang bei der radikalen Umorientierung
in einem bestimmten Bereich zugeschrieben werden kann. Im Prozess
der Welterschließung zwingt der Zweifel an der Wahrheit bisheriger
Überzeugungen zu Korrekturen an bisherigen Einstellungen und
Maßstäben und zwingt die Revision der Richtigkeit zur Konfrontati-
on mit neuen Einsichten.
Die bescheidenste Form von Welterschließung dürfte in Phä-
nomenen wie dem einer gelungenen sprachlichen Prägung liegen.
64
»Welterschließung« wäre somit selbst ein Beispiel für Welcer-
schließung. Auch eine innovative Metapher z. B. gibt eine neue Per-
spektive auf ihren Gegenstand frei und lässt im selben Zug Neues an
ihrem Gegenstand sehen. 21 Dasselbe lässt sich von innovativen Theo-
rien sagen. Sie entwickeln einen bis dahin unbekannten Zugang zu ei-
nem Thema, in dem zugleich, oft im Zuge einer neu entwickelten Ter-
minologie, neue Einsichten fassbar werden. Beides ist hier eins. Star-
ke Theorien produzieren neue Wahrheiten, weil sie zugleich die
Einschätzung der Relevanz und der Wahrheit des bisher für wahr Ge-
haltenen revidieren. Bei der Kunst hingegen scheint eine Seite des
Verhältnisses von Richtigkeit und Wahrheit auszufallen. Entspre-
chend haben Autoren wie Feyerabend, Goodman oder Rorty in der
Kunst den Kronzeugen einer nicht auf Wahrheit fixierten Erkennt-
nistheorie gesehen. Dahinter aber stehe ein Irrtum. Zwar artikulieren
Kunstwerke in der Regel keine propositionale Wahrheit, sondern (un-
ter anderem) Sichtweisen, Einstellungen, Zugänge zu faktischer und
möglicher Wirklichkeit, und sind somit (in Goodmans Terminologie)
Gebilde innovativer Richtigkeit, nicht hingegen interessanter Wahr-
heit. Aber diese innovative Richtigkeit ist selbst wiederum nur zu-
gänglich vermöge interessanter Wahrheit - interessanter Wahrheit
nämlich über das Kunstwerk, die Aufschluss über seine ästhetische
Verfassung gibt. Das eine existiert auch hier nicht ohne das andere,
nur sind die Rollen anders verteilt. Am Kunstwerk eröffnet die Wahr-
heit oder Plausibilität einer Interpretation einen Zugang zu der vom
Werk eröffneten und dargebotenen Sichtweise; die Triftigkeic von
Aussagen über das Werk ist hier Medium einer Begegnung mit der
Kraft der vom Werk präsentierten Sicht. 22
Dies alles sind Vorgänge der Welterschließung im Kleinen. Welter-
schließung im Großen liegt eher in politischen Prozessen vor, etwa in
der Auflösung des sozialistischen Lagers. Die Maßstäbe, nach denen
in ihrer Folge z. B. deutsch-deutsche und jetzt innerdeutsche Vorgän-
ge in Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft gemessen wurden,
haben sich auf allen Seiten aufgelöst. Sie gelten nicht mehr, damit gilt
auch manches nicht mehr, was durch diese Maßstäbe gerechtfertigt
schien; dazu kommt der affektive Haushalt, in dem praktische Maß-
stäbe weit mehr als theoretische ihren Sitz haben. So stehen die alten
Bundesbürger vor dem Problem, zu ihrer Geschichte zählen zu müs-
21 Vgl. Studie I in diesem Band.
22 M. Seel, Kunst, Wahrheit, Welterschließung, in: F. Koppe (Hg.), Perspektiven der
Kunstphilosophie, Frankfurt/M. 1991, 36-80.

65
sen, was sie bisher nicht zu ihrer Geschichte zählten, und damit his-
torische Prozesse für relevant halten zu müssen, die sie bisher nicht
oder kaum für relevant hielten - was sie mit einer Fülle bislang ver-
miedener oder verdrängter, zum Teil aber auch befreiender Einsichten
konfrontiert.
Jedes dieser Beispiele müsste eigens analysiert werden. Jedoch sind
es jedes Mal Beispiele eines doppelten, nicht nur simultanen, sondern
auch interdependenten Umstellungs- und Einstellungsvorgangs; in
jedem dieser Beispiele haben wir es mit einem veränderten oder neu-
en Zugang zu einer veränderten oder neuen Wirklichkeit zu tun. Der
Prozess einer solchen doppelten Veränderung, so wollte ich zeigen, ist
das, was das Wort »Welterschließung« eigentlich meint. Daraus erge-
ben sich einige Konsequenzen, die abschließend wenigstens genannt
sein sollen:

I. Da Richtigkeit und Wahrheit nicht konvergent sind und es in ge-


schichtlichen Lebensformen keine endgültigen Standards der Rich-
tigkeit geben kann, ist Welterschließung ein infiniter und außerdem
nicht-teleologischer Prozess.

II. Dennoch lässt die gegebene Bestimmung die Möglichkeit eines


normativen Begriffs von Welterschließung offen, d. h. von so etwas
wie gelungener Welterschließung. Allerdings ist dies ein sehr formaler
Begriff. Gelungene Welterschließung, so könnte man vielleicht sagen,
liegt da vor, wo es sich um einen Korrekturprozess handelt, der für
weitere Korrekturprozesse offen ist.

III. Korrektive Welterschließung in diesem Sinn unterscheidet sich


von allen Formen einer reduktiven,die im Namen sei es einer ultima-
tiven Wahrheit, sei es einer ultimativen Richtigkeit erfolgt. Redukti-
ve Welterschließung tendiert zur Elimination des Widerspiels zwi-
schen Wahrheit und Richtigkeit und ist daher - im Namen der Ver-
lässlichkeit menschlicher Orientierungen - möglichst zu vermeiden.

IV. Wenn das einleuchtend ist, so ist in theoretischem Zusammen-


hang jede prinzipielle Oppositionvon »Welterschließung« und »Gel-
tungsorientierung« zu vermeiden, wie sie bei Heidegger und Haber-
mas in gegensätzlichen Versionen vorliegt. 23 Eine starke Opposition
23 Zu dieser Komplementarität vgl. N. Kompridis, Oiscourse without Learning? Ha-
bermas' Predicament, Ms., Frankfurt/M. 1990.
66
beider Pole nämlich ist Zeichen nicht nur reduktiver Welter-
schließungsprozesse,sondern auch einer reduktiven Theorie dieser
Prozesse. Denn die Entgegensetzungvon Welterschließung und Gel-
tungsorientierung ist gerade der negative Fall von Welterschließung -
ein begrifflich ebenso wie politisch negativer Fall, wie sich an Heideg-
ger sehr gut sehen lässt. Ein angemessenes Verständnis von Welter-
schließung wird also nicht diesen negativen Fall zum paradigmati-
schen Fall erheben dürfen. Viel eher müsste die Ambivalenz von Welt-
erschließungsprozessen im Mittelpunkt stehen, die Tatsache, dass sie
sowohl reduktiv als auch korrektiv verlaufen können. Korrektive
Welterschließung jedenfalls ist Geltungs- oder Wahrheitsorientie-
rung, freilich unter besonderen Umständen - solchen Umständen
nämlich, in denen sich das Gültige in seinen beiden Grunddimensio-
nen - der Richtigkeit und der Wahrheit - nicht länger versteht.

V. Dies verweist auf die Möglichkeit, sich auch dann noch rational -
zu begründeten Korrekturen fähig und bereit- zu verhalten, wenn die
bislang geltenden Maßstäbe mitsamt der von ihnen gestützten Über-
zeugungen der Kritik verfallen. Rationalität darf also nicht als ein Ver-
such verstanden werden, Prozessen der Welterschließung kurzfristig
oder langfristig Einhalt zu gebieten oder diese von irgendeinem
Außenstandpunkt her zu steuern. Dies zu wollen oder zu wünschen
wäre vielmehr gänzlich irrational. Korrektiv verstandene Rationalität
ist vielmehr die beste - kognitiv beste, ethisch beste, selbst ästhetisch
beste -Art, sich zum Faktum der in unterschiedlichen Lagen und Zei-
ten unterschiedlich deutlichen und dramatischen Prozessualität aller
unserer Orientierungen zu verhalten.
3. Sprache bei Benjamin und Heidegger

Zwei gegen alle

Unter den Spielarten moderner Sprachphilosophie herrschte von An-


fang an Uneinigkeit darüber, was eigentlich ihr Gegenstand sei. Falls
Rudolf Carnap, der Martin Heidegger 1931mit einem veritablen Ver-
riss bedachte, je in Sein undZeitgeschaut hat, den Umriss einer neuar-
tigen Analyse der Sprache hätte er dort schwerlich entdeckt. Anderer-
seits waren die in der Tradition Freges und Wittgensteins stehenden
Bemühungen, die Analyse der Sprache zur ersten Philosophie zu er-
heben, frühzeitig von dem Verdacht begleitet, das Unternehmen
»Sprachphilosophie« werde von den falschen Leuten betrieben. Die-
ses Misstrauen bestand schon, bevor die Philosophie durch das fol-
genreiche Exil der Wiener und Berliner Positivisten in ein angelsäch-
sisches und ein kontinentales Departement auseinanderfiel. So do-
zierte der junge Heidegger in seiner Marburger Logik-Vorlesung im
Wintersemester 1925/26 wochenlang über die Bedeutung des Satzes
»Diese Tafel ist schwarz«, nur um zu dem Schluss zu gelangen, das
Phänomen der Sprache sei überhaupt noch nicht erkannt. In § 34 von
Sein und Zeit heißt es entsprechend: »Die Philosophische Forschung
wird auf ,Sprachphilosophie, verzichten müssen, um den Sachen
selbst nachzufragen, und sich in den Stand einer begrifflich geklärten
Problematik bringen müssen.« Damit war allerdings kein genereller
Verzicht auf Sprachphilosophie angemahnt, sondern nur eine Abkehr
von aller bisherigen, bloß so genannten, die sich, wie Heidegger mein-
te, an einen barbarisch engen Begriff von Sprache und Bedeutung ge-
klammert hatte.
Heidegger fasste Sprache in der Vielfalt ihrer Formen als ein
Grundelement der sinnhaften praktischen Gliederung der menschli-
chen Handlungswelt auf. Für die Autoren der analytischen Tradition
dagegen stand stets eine bestimmte dieser Formen, die Aussage in ih-
rer Funktion der Darstellung von Sachverhalten, im Mittelpunkt des
Interesses. Die hierbei leitende Vorstellung, Sprache sei vor allem ein
Instrument der Erkenntnis und ihrer Mitteilung, hatte ein anderer,
noch viel krasserer Außenseiter bereits 1916radikal verworfen. Walter
Benjamins höchst ambitiöser, dem Freund Scholem und der Schub-
lade vorbehaltener Traktat ÜberSpracheüberhauptund die Sprachedes
Menschen ist dem Kampf gegen das gewidmet, was er die »bürgerli-
68
ehe Auffassung« der Sprache nennt. »Sie besagt: Das Mittel der Mit-
teilung ist das Wort, ihr Gegenstand die Sache, ihr Adressat der
Mensch.«
Die »Unhaltbarkeit und leere« dieser Auffassung möchte Benja-
min erweisen. Für ihn liegt der Sündenfall darin, Sprache als Produkt
einer zeichenverwendenden Tätigkeit des Menschen zu verstehen.
Der späte Heidegger wiederum hat eben dies (mit verhüllter Kritik an
den eigenen pragmatistischen Jugendsünden) an Wilhelm von Hum-
boldt und der gesamten, bis in die Gegenwart reichenden Sprach-
philosophie kritisiert: »So kommt es, daß die grammatisch-logische,
die sprachphilosophische und die sprachwissenschaftliche Vor-
stellung von der Sprache seit zweieinhalb Jahrtausenden dieselbe
geblieben ist, obwohl die Erkenntnisse über die Sprache sich fort-
gesetzt mehrten und wandelten. Man könnte diese Tatsache sogar
als einen Beweisgrund für die unerschütterliche Richtigkeit der lei-
tenden Vorstellungen über die Sprache anführen. Niemand wird wa-
gen, die Kennzeichnung der Sprache als laucliche Äußerung innerer
Gemütsbewegungen, als menschliche Tätigkeit, als bildhaft-begriffli-
ches Darstellen für unrichtig zu erklären oder gar als nutzlos zu ver-
werfen.« Heidegger setzt sogar hinzu: »Das angeführte Betrachten der
Sprache ist richtig.« Aber das ist ein tödliches Kompliment. Denn wer
bei dieser oberflächlichen »Richtigkeit« stehenbleibt, meint Hei-
degger (und meinte auch Benjamin), hat nichts, aber auch gar nichts
vom Wesen der Sprache begriffen.
Publiziert wurden diese Sätze 1959, in Heideggers Sammlung Un-
terwegszur Sprache.Die Wirkung des Bandes dürfte hierzulande dar-
in gelegen haben, die besten seiner Leser vor die Regale mit der ana-
lytischen Literatur zu treiben. Ein Jahr später erschien in den USA,
mit einer Widmung an »Rudolf Carnap, dem Lehrer und Freund«,
Wordand Object,das Hauptwerk von Willard Van Orman Quine.
Hätte Heidegger in diesen Band geschaut, der erste Satz hätte ihm
wohl genügt. »Language is a social art«, heißt es da. Sprache, sagt
Quine, ist eine techne,ein Erzeugnis der Gemeinschaft, ein Mittel des
intersubjektiven Verkehrs. So grausam dies in den Ohren Heideggers
oder Benjamins auch geklungen hätte - dieses Buch hatte Wirkung.
Damit, könnte man denken, war die Sache entschieden: Die nüch-
ternen Analytiker aus Übersee hatten die tiefsinnigen Sprachdenker
vom Kontinent aus dem Feld geschlagen.
Doch es kam anders. Die krasse Divergenz, die schon im Publika-
tionsort der beiden Bücher ins Auge springt (das eine erschien bei
69
Neske in Pfullingen, das andere im Verlag des Massachusetts Institute
of Technology) war zugleich Anfang einer seltsamen Konvergenz.
Diese wurde umso deutlicher, je mehr der radikalhermeneutische Zu-
gang Heideggers bei Autoren wie Gadamer, Apel oder Tugendhat an
die analytische Problemstellung herangeführt wurde. Sie wurde umso
deutlicher, je mehr auf der anderen Seite - bei Autoren wie Davidson,
Putnam oder Rorty - die behavioristischen, physikalistischen und
empiristischen Prämissen Quines revidiert oder fallengelassen wur-
den. Obwohl dies bis heute zu keiner inhaltlichen Übereinstimmung
geführt hat, hat es doch zu einer Übereinstimmung hinsichtlich der
Aufgaben philosophischer Sprachbetrachtung geführt. Beide Tradi-
tionen sind sich heute darin einig, dass das Problem der Sprache, zu-
sammen mit denen des Verstehens, Übersetzens und Interpretierens,
im Zentrum fast aller ihrer Problemstellungen steht.
Dabei ist die Sprache nie allein Gegenstand, vielmehr stets zugleich
Leitfaden der Reflexion. Alle die genannten Autoren könnten daher
dem Verdikt des jungen Heidegger zustimmen, eine Sprachphiloso-
phie, die sich als Spezialdisziplin von der Explikation der Breite
menschlicher Weltverhältnisse fernzuhalten versuche, habe ihren Na-
men nicht verdient.

Korrespondenz einer anderen Art

Über Heideggers und Benjamins ursprüngliche These freilich ist da-


mit mit noch nichts entschieden - noch nicht einmal über ihre Aner-
kennung als ernst zu nehmende These. Dass das sprachliche Handeln
des Menschen der falsche Ausgangspunkt sprachphilosophischer Un-
tersuchungen sei - diese Behauptung umstritten zu nennen, wäre fast
schon zu viel gesagt. Obwohl sie im Fahrwasser der Dekonstruktion
heute in vieler Munde ist - niemand scheint sich wirklich dafür zu in-
teressieren. Niemand interessiert sich dafür, die These der Abkünftig-
keit des sprachlichen Handelns gegenüber der analytisch beherrsch-
ten, aber inzwischen hermeneutisch gelockerten Szene tatsächlich
durchzufechten. In den Denkschriften zu Heideggers hundertstem
Geburtstag blieb das Problem der Sprache seltsam unbeachtet. Eine
hochgelehrte Studie, die sich unter Heideggers Grundmaxime stellt,
weicht der aktuellen Diskussion bis auf wenige Bemerkungen aus. 1 Es
I M. Riede!, Hören auf die Sprache. Die akroamatische Dimension der Hermeneutik,
Frankfurt/M. 1990.
ist, als hätten sich die Leser Heideggers (soweit sie nicht über den
Rhein gegangen sind) damit abgefunden, dass mit des Meisters Reden
über Sprache nun einmal kein Staat zu machen sei. Mit Benjamin
steht es kaum anders. In dieser Lage mag es nützlich sein, daran zu er-
innern, worum es den beiden Dissidenten mit ihrer Abweichung
ging.
Heideggers Ausgangspunkt war der Gedanke, nur das, was schon
praktische Bedeutung habe, könne vermittels sprachlicher Bedeutung
an- oder ausgesprochen werden. Das »primäre Bedeuten« sei nicht in
Leistungen der Prädikation gegeben, vielmehr in dem Zutunhaben
mit etwas, worin dieses belangvoll werde. Aus dieser Bedeutsamkeit,
lehrte Heidegger, wächst unseren Worten Bedeutung zu. Der frühe
Heidegger versteht Sprache als Artikulation des »Sinns« oder »Ver-
ständnisses«, aus dem heraus etwas als »Gliederbares« schon »vorge-
zeichnet« ist. Nicht die Artikulation eines Gedankens durch Darstel-
lung einer Sache,sondern Artikulation einer Situationdurch das An-
sprechen ihrer relevanten Aspekte ist für Heidegger das grundlegende
Phänomen.
Von dieser pragmatisch motivierten Theorie des »bedeutenden Ver-
haltens«, die eine gewisse Nähe zu ihren amerikanischen Vorläufern
und Nachfolgern wahrt, ist Heidegger jedoch bald abgerückt. Die
Verankerung sprachlicher Leistungen in den Orientierungen alltägli-
cher Praxis erschien ihm jetzt als eine unerlaubte Reduktion. In den
späten Meditationen zur Sprache kommt es zu einer verwegenen Um-
kehrung. Hatte Sprache in Sein und Zeit ihren Ort in der menschli-
chen Praxis, so heißt es nun, menschliche Praxis habe ihren Ort in der
Sprache. Das unwägbare Geschehen der Sprache rückt an die Stelle
der Differenzierungsleistung der umsichtig handelnden Menschen.
Die Sprache, sagt Heidegger nun, »ist uns stets schon voraus«. Alle
Rede, auch und erst recht diejenige, die über Sprache spricht, ist Rede
aus Sprache. »Die Sprache spricht«, sagt Heidegger lakonisch. Die
Tätigkeit des Sprechers ist abhängig von diesem Sprechen der Spra-
che. Die Menschen »beherrschen« eine Sprache nur, weil ein nicht
von ihnen gemachtes Spiel von Unterscheidungen da ist, auf das sie
zurückgreifen, dem sie »entsprechen« können - und entsprechen
müssen, wenn sie überhaupt etwas sagen wollen.
Heidegger versteht Sprache nun nicht länger als Artikulation,son-
dern stattdessen als Bedingunglebensweltlicher Bedeutsamkeit. Sie
wird zu einem Generator der Unterscheidungen, die den Wirklich-
keitscharakter geschichtlicher Wirklichkeiten bestimmen. Sprache
71
eröffnet den Spielraum der menschlichen Welt. Sie konstituiert die
Unterschiede zwischen Welt und Ding, zwischen Wort und Gegen-
stand, zwischen Sicht und Sache. Aber sie konstituiert diese Differen-
zen nicht ein für alle Mal, im Sinne einer bleibenden Ordnung, viel-
mehr als eine Bewegung von Unterschieden, die einander bedingen,
überlagern, verdecken, verändern. Sprache, sagt Heidegger jetzt, ist
das »Verhältnis aller Verhältnisse« - der Kontext aller Kontexte, der
von keinem Kontext aus dingfest gemacht werden kann.
Es ist diese späte Theorie, die sich vielfach mit Benjamins Spekula-
tionen berührt. Wo Heidegger die Sprache ein »Geläut der Stille«
nennt, spricht Benjamin nicht weniger paradox von Sprache und
Schrift als einem »Archiv unsinnlicher Ähnlichkeiten«. Beide verste-
hen Sprache als ein Bedeutungsgefüge, in dem sich alles sprachliche
Operieren notwendigerweise bewegt. In allem, was gesagt oder ge-
schrieben wird, bleibt dieses Bedeutungsgefüge weitgehend unausge-
sprochen. Es ist darüber hinaus unaussprechlich. Es gibt keinen Ort,
von dem aus es übersichtlich dargestellt werden könnte. Folglich ist es
unkontrollierbar. Es ist nur als ein Prozess bedeutungsbildender und
bedeutungsverändernder Konstellationen gegeben. Es kann nicht als
ein Ineinandergreifen verschiedener Sprachfunktionen beschrieben
werden, denn es ermöglicht diese Funktionen erst. Das Gefüge der
Sprache kann auch nicht an einer äußeren Welt festgemacht werden,
denn seine Differenzierungen bestimmen zuallererst die Art unseres
Zugangs zu einer solchen Welt.
Heidegger und Benjamin beziehen einen radikalen Standpunkt der
Immanenz. Sprache, sagen sie, ist als Medium der Artikulation von et-
was nur begriffen, wenn sie zuvor als artikulierendes Medium begrif-
fen worden ist. Die Artikuliertheit der Rede ist abhängig von der Ar-
tikulation der Sprache. Wer spricht, hält sich »im Haus« der Sprache
auf, heißt es bei Heidegger. Benjamin hätte es wohl anders gesagt: Wer
eine Sprache spricht, ist im Labyrinth ihrer Stadt unterwegs.
Man könnte dies, in Anlehnung an Formulierungen bei Benjamin,
eine Korrespondenztheorie der Sprache nennen. Jedoch darf »Korre-
spondenz« hier nicht im üblichen Sinn verstanden werden. Sprachli-
che Handlungen gewinnen ihre Bedeutung hier nicht aus der Korre-
spondenz mit einer vorsprachlich gegliederten Welt. Sie gewinnen
ihren Sinn auch nicht aus einer Korrespondenz mit anderen Spre-
chern. Sie gewinnen ihren Wert vielmehr aus einer Korrespondenz
mit der Sprache, die ihrerseits Effekt vielfacher Korrespondenzen in
der Sprache ist. Alle anderen Formen von »Korrespondenz«, wie das
72
Zutreffen von Aussagen und die Zustimmung durch andere, so be-
haupten Heidegger und Benjamin, sind zweitrangig gegenüber den
Phänomenen innersprachlicher Korrespondenzen. Der Bezug, den
wir durch Sprache auf die Welt und die anderen nehmen, wäre dem-
nach abhängig von den Bezügen, die sich in einer Sprache unab-
schließbar bilden. Es sind diese internen Bezüge, die alle Möglichkei-
ten sprachlichen Handelns erst eröffnen. Deswegen sind Heidegger
und Benjamin der Meinung, dass die herrschende Sprachphilosophie
am falschen Ende ansetzt, wenn sie den Zeichengebrauch von Spre-
chern in den Mittelpunkt stellt.

Profane Offenbarung

Beide Autoren sprechen, wenn sie die Priorität der Sprache betonen
wollen, gelegentlich von ihrer »offenbarmachenden« oder »offenba-
renden« Kraft. Ihre Korrespondenztheorie ist eine Offenbarungstheo-
rie. Sprache offenbart nicht erwas, sie offenbart sich - sie setzt Mög-
lichkeiten sprachlichen Handelns frei, die nicht anders als von ihr, der
Sprache her, verstanden werden können. Das mag sich theologisch
anhören, zumal bei Benjamin, der sich von der kabbalistischen Tradi-
tion anregen ließ. Die leitende These hat jedoch mit Theologie nichts
zu tun. Für Benjamin hat dies Winfried Menninghaus in einer sei-
nerzeit bahnbrechenden Untersuchung gezeigt.2 Er weist nach, dass es
Benjamin von Anfang an um ein zwar exzentrisches, aber durchaus
profanes Verständnis der normalen Sprache ging. Die okkulten und
mystischen Quellen, auf die sich Benjamin bezieht, dienen ihm als
Anhaltspunkte zur Aufdeckung einer nichtinstrumentellen Dimensi-
on aller Sprache. Menninghaus spricht von einem »inhaltstranszen-
denten Inhalt« der Sprache, die »als solche erwas realisiert, was sie
nicht aussagt«. Worin aber dieser »Inhalt« besteht und wie er sich im
Genaueren zu den Inhalten sprachlicher Mitteilung verhält, auf die
sich die übliche Philosophie der normalen Sprache konzentriert, dar-
über ist bei Menninghaus nur wenig zu erfahren.
Eine Gefahr, die in dieser Zurückhaltung liegt, hat Bettine Menke
genau erkannt. In ihrer umfangreichen, mit gelegentlich wuchernder
Intensität verfassten Studie zu Benjamins Spracharbeiten warnt sie
vor einer Arbeitsteilung, die »den skandalösen Anspruch des Benja-

2 W Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, Frankfurt!M. r980.

73
minschen Konzepts« übersieht. 3 Im Blick aufMenninghaus und an-
dere Interpreten (wie zum Beispiel Habermas) argumentiert Menke
gegen eine poetologische Verkürzung Benjamins. Es gehe Benjamin
nicht um eine bestimmte Seite der Sprache, die gegenüber ihrer Mit-
teilungsfunktion vernachlässigt worden sei, es gehe ihm um etwas, das
das »Funktionieren aller Sprache« erst ermögliche. Es gehe ums Ganze
- um einen Begriff von Sprache, der diese nicht zu einem Mittel der
Erfassung außersprachlicher Gegebenheiten reduziere.
Damit ist eine Position der Immanenz bezogen, wie sie heute vie-
lerorts eingenommen wird. Wenn Menke sagt, bei Benjamin werde
»eine Konzeption von ,Wahrheit, lesbar, die dem Bemühen der ,Phi-
losophie,, ,Wahrheit< unabhängig von den Umwegen, Derivationen,
Verfehlungen der Sprache zu denken, entgegensteht, weil sie diese an
die Sprache konstitutiv bindet« - so ist damit cum grano salis eine
Auffassung formuliert, die in der postempiristischen Philosophie ei-
nes Nelson Goodman, Hilary Putnam oder Richard Rorty seit länge-
rem zu Hause ist. Es wäre interessant gewesen, zu erfahren, was von
Benjamin her an diesen Autoren, die sich ja ebenfalls um einen nicht-
reduktiven Sprachbegriff bemühen, auszusetzen wäre. Diesen Weg ist
Bettine Menke jedoch nicht gegangen. Sie findet in Benjamin viel-
mehr einen eigensinnigen Bündnispartner für eine dekonstruktive
Sprachtheorie. ·
Tatsächlich steht Benjamin einem Derrida in der obsessiven Beto-
nung des Umstands, dass Sprache nicht nur nicht ist, was sie zu sein
scheint, sondern geradezu der ständige Umsturz all dessen ist, als was
sie uns erscheint, kaum nach. Menkes Deutung ist also keineswegs
von außen herangetragen. Außerdem bestätigt sie indirekt Benjamins
Nähe zu Heidegger, etwa wenn es heißt: »Die Sprache ist nicht In-
strument und nicht Mittel des Subjekts, sondern jenes Medium, an
das und in dem es sich verliert, um zu sprechen: die Sprache spricht
(von sich selbst).«
Die Frage ist aber, was die nimmermüde Betonung der Prozessua-
lität und Selbstbezogenheit der Sprache wirklich einbringt - abgese-
hen von der Kritik an einem Sprachmodell, das kaum jemand länger
vertritt. Wenn sich viele der führenden Sprachphilosophen heute in
einem einig sind, so darin, dass das »repräsentationslogische« Modell
einer sprachlichen Erfassung außersprachlicher Bedeutungen unhalt-
bar ist. Umstritten sind lediglich die Konsequenzen, die sich daraus
3 B. Menke, Sprachfiguren. Name-Allegorie- Bild nach Walter Benjamin, München
1991.

74
ergeben. Hier aber kann die Dekonstruktion nicht richtig liegen.
Denn sie ist dem Bild, mit dem sie hadert, verfallen. Wer behauptet,
Sprache müsse als unendlicher »Umweg« zur metaphysisch konzi-
pierten Wahrheit, als ewige »Verzögerung« einer unmittelbaren, das
heißt vorsprachlichen »Präsenz« des Gegebenen aufgefasst werden,
vertritt lediglich eine Variante des attackierten Modells. Menke gerät
daher ihrerseits in Schwierigkeiten, das Skandalon eines radikalen
Bruchs mit der traditionellen Sprachauffassung zu denken.
Dennoch bringt ein dekonstruktiv gelesener Benjamin etwas zuta-
ge, was für die Einschätzung seines Verhältnisses zu Heidegger wich-
tig ist. In einer philologisch etwas windigen, gedanklich aber ingeni-
ösen Interpretation von Benjamins Text Die Aufgabe des Übersetzers
hat Paul de Man, auf den sich auch Menke stützt, eine subversive Les-
art der eschatologischen Kategorien bei Benjamin vorgeschlagen.4
Benjamin entwickelt in jenem Text den Gedanken einer »reinen«
Sprache, in der die Vielheit der bisherigen Sprachen am »messiani-
schen Ende der Geschichte« unterzugehen bestimmt sei. Die »über-
historische Verwandtheit der Sprachen«, behauptet er, beruhe »darin,
daß in _ihrerjeder als ganzer jeweils eines und zwar dasselbe gemeine
ist, das dennoch keiner einzelnen von ihnen, sondern nur der Allheit
ihrer einander ergänzenden Intentionen erreichbar ist: die reine Spra-
che«.
Versteht man dies als positiven Grenzbegriff, ist eine metaphysi-
sche Lesart unvermeidlich. Reine Sprache enthielte die Offenbarung
einer absoluten Sinnordnung, in der alle Unsicherheiten des Verste-
hens und Meinens ausgelöscht wären. Alle empirischen Sprachen
wären höchst unvollkommen gemessen an dieser ihrer reinen Form.
De Man dagegen schlägt vor, »reine Sprache« als negativen Grenzbe-
griff aufzufassen. So gelesen, handelt Benjamin nicht davon, was un-
seren Sprachen schmerzlich versagt ist, sondern davon, was sie unver-
meidlich prägt. Sie können sich nicht zu einer endgültigen Sprache
verbinden, sie bilden sich in einer unabschließbaren Interaktion un-
terschiedlicher Sprechweisen fort. Nach de Man demonstriert Benja-
min mit Hilfe des Konstrukts einer »reinen Sprache«, wie falsch die
Auffassung von Sprache als eines sicheren Regelwerks ist. »Am wenig-
sten gibt es so etwas wie eine reine Sprache; sie existiert lediglich als
eine beständige Unterbrechung, die allen Sprachen als solchen inne-
wohnt, auch und besonders derjenigen, die man die eigene nennt.
4 P de Man, Condusions. Walter Bcnjamin's »The Task of the Translator«, in: ders.,
The Resistance to Theory, Minneapolis 1986.

75
Was man die eigene Sprache nennt, ist die entfernteste, die entfrem-
detste von allen.«
Man versteht Benjamins Text wohl nur, wenn man sieht, wie der
Autor zwischen der positiven und der negativen Lesart schwankt. Die
negative aber ist die theoretisch interessante. Aus ihr ergeben sich ra-
dikale Konsequenzen für einen profanen Begriff sprachlicher »Offen-
barung«. Die »Entfremdung« nämlich, von der de Man spricht, wird
in der negativen Lesart zu einem positiven Begriff. »Entfremdung«,
Offenheit der sprachlichen Verweisungen, Unsicherheit der Bedeu-
tungen und des Meinens, wird zu einem Wahrzeichen sprachlichen
Lebens. Wirkliche Entfremdung wäre demnach gerade das Umge-
kehrte - jeder Versuch, die von de Man herausgestellte Unbehaustheit
in der Sprache auszuräumen. Entfremdung wäre ein Zustand der Li-
quidationder Fremdheit-in-Sprache. Am Begriff der reinen Sprache
stellt Benjamin - so verstanden - klar, dass Sprache wohl doch nicht
das Haus des Seins und die Wohnung des Menschen ist, wie es sich
der späte Heidegger ausgemalt hat. Die unwägbare Korrespondenz in
den Sprachen und die unaufhebbare Interaktion zwischen ihnen of-
fenbaren vielmehr eine geschichtliche Welt, in der die Menschen
nicht bleibend zu Hause sein können.
Man muss freilich aus der dekonstruktiven Lesart wiederum her-
austreten, um die Kraft dieser Deutung voll zu erfassen. Wovon Ben-
jamin in seinen Sprach-Studien spricht, ist nicht das selbstgenügsame
Walten der Sprache, es ist die Situation der sprachlich Lebenden. Sie
leben in einer von Korrespondenzen durchwogten Welt, sie sprechen
eine von Korrespondenzen angetriebene Sprache - und leben doch in
Verhältnissen, sprachlichen wie sozialen, die sie blind und taub wer-
den lassen für den hierdurch sich eröffnenden Möglichkeitsraum ih-
rer Wirklichkeit. Aufmerksamkeit für diese Korrespondenzen aber ist
Benjamins gewiss einseitige, dennoch ernst zu nehmende Definition
von Freiheit. Seine Korrespondenztheorie der Sprache ist eine Theo-
rie der verstellten Freiheit.

Linguistischer Faschismus?

Eine solche Deutung, die das ethische Motiv der nichtinstrumentali-


stischen Sprachtheorien hervorheben würde, wäre geeignet, ihre Lek-
türe vor einer grotesken Vereinseitigung zu bewahren. Die Bewegung
der Sprache zu betonen ist eines; ein anderes ist es, bloß noch diese Be-
76
wegung gelten zu lassen. Die Aufdeckung des ethischen Motivs in
Benjamins Schriften macht deutlich, dass eine Theorie sprachlicher
»Offenbarung« sehr wohl einen Raum für die Freiheit der Sprechen-
den offen lassen kann. Ein Verständnis, das dies beachtet, könnte ge-
eignet sein, das Bedenken zu entkräften, das Ernst Tugendhat vor ei-
niger Zeit vorgebracht hat: »Heideggers Diktum, daß die Sprache
denkt, gehört zum Finstersten, was in der Philosophie je gesagt wor-
den ist, weil es eine Bankrotterklärung aller Philosophie ist und der
tiefste Ausdruck der Gegenaufklärung.« 5
Die Frage bleibt freilich, ob sich dieser Verdacht für Heidegger so
deutlich wie für Benjamin ausräumen lässt. Ein neues Buch zur
Sprachphilosophie Heideggers und Wittgensteins beantwortet diese
Frage negativ.6 Heidegger, so versucht James Edwards in einer sehr
klar geschriebenen Abhandlung zu zeigen, hat zwar mit guten Grün-
den die »Autorität der Sprache« gegen die Überheblichkeit des abend-
ländischen Rationalismus ins Feld geführt, jedoch um keinen akzep-
tablen Preis. Edwards folgt Heidegger in der Zurückweisung eines
»linguistischen Humanismus«, der den Menschen als Sprachbenutzer
und Sprachbeherrscher versteht. Er rekonstruiert Heideggers Position
plausibel aus einer Zurückweisung verschiedener sprachphilosophi-
scher Reduktionsversuche. Sprache sei weder als Mittel zur Darstel-
lung der äußeren Welt noch als Mittel des Ausdrucks der inneren
Welt, noch als Mittel der Verständigung zwischen Individuen ange-
messen verstanden. Vielmehr sei das »Ereignis« der Sprache als jener
»Ort aller Orte« anzuerkennen, der selbst auf nichts rückführbar sei.
»Es gibt nichts anderes«, sagt Heidegger in Unterwegszur Sprache,
»worauf das Ereignis noch zurückgeführt, woraus es gar erklärt wer-
den könnte.«
Bei Sätzen wie diesem angekommen, schaut sich Edwards jedoch
ein wenig verwundert um. Er sieht die Kritik am linguistischen Hu-
manismus in einen »linguistischen Faschismus« umschlagen. Heideg-
ger, so Edwards, hält die gegen den Humanismus ins Spiel gebrachte
Position einer Irreduzibilität des Sprachlichen nicht durch. In dem-
selben Augenblick, in dem er mit guten Gründen feststellt, Sprache
sei durch nichts anderes zu erklären, habe er sie schon zu einem »Er-
eignis« verklärt, das dem Menschen »das Gesetz« seines Seins vorgebe.
Er fälsche das kritische Argument gegen die reduktionistischen Theo-
5 E. Tugendhar, Die Seinsfrage und ihre sprachliche Grundlage, in: Philosophische
Rundschau, 24/i977.
6 J. C. Edwards, The Aurhoriry ofLanguage, Tampa 1990.

77
rien zu einer devoten Anrufung des souveränen Waltens der Sprache
um. Mit Derrida sieht Edwards hierin die Restituierung einer sinnge-
benden Instanz, einen Rückfall ins »logozentrische« Denken. Der Ge-
danke einer Souveränität der Sprache, die den menschlichen
Machtanspruch durchbricht, verwandle sich in eine Lehre von der
Subalternität des Menschen gegenüber den »Weisungen« des neuen
Souveräns.
Auch wenn es bei Edwards ein wenig so aussieht, als sei Heidegger
aus schlechter Gewohnheit in eine autoritäre Denkfigur zurückgefal-
len - die Sache hat eine innere Logik. Aus dem Umstand, dass alles
Denken und Sprechen an den Spielraum einer Sprache gebunden ist,
schließt Heidegger, alles Denken und Sprechen habe der Sprache zu
entsprechen, auf Sprache zu »hören«. Das aber ist ein Fehlschluss.
Zwar trifft es zu, dass alles Sprechen auf Artikulationsmöglichkeiten
einer Sprache zurückgreifen muss, die es nicht zu seinen Zwecken ent-
worfen hat. Trotzdem sind wir in jeder einzelnenÄußerung frei, dies
oderjenes zu sagen, dies oderjenes zu vertreten, dies oderjenes zu tun,
ganz egal, was uns die Sprache, die wir gerade sprechen, jeweils nahe,
legen mag. Aus »der Sprache« ergehen überhaupt keine Weisungen,
denen entsprochen oder nicht entsprochen werden könnte. Das Ge-
gebensein einer Sprache eröffnet vielfältige Möglichkeiten des Redens
- das ist alles. Wieder ließe sich sagen: Sprache offenbart nicht etwas,
sondern allein sich. Aber dieses »Sich-Offenbaren« lässt sich ohne
Hinweis auf die Position der individuellen Sprecher nicht verständ-
lich machen. Was in und mit Sprache da ist, sind unendlich variable
Möglichkeiten des Sprechens.Dass »die Sprache spricht«, kann nur be-
deuten, dass sprachliches Handeln sich notwendigerweise in einem
unerschöpflichen Spielraum dieser Möglichkeiten bewegt. Die Pro-
zessualität oder »Ereignishafrigkeit« der Sprache und die Freiheit der
Sprechenden sind zwei Seiten einer Medaille. Beide, die Sprache und
die Sprechenden, beziehen ihre Autonomie aus ihrer Abhängigkeit
voneinander.
Kaum anders stand es schon bei Wilhelm von Humboldt zu lesen.
Jedenfalls hielt Humboldt es für ausgemacht, dass die These eines Pri-
mats der Sprache gegenüber dem Sprechen so falsch ist wie diejenige
eines Primats des Sprechens gegenüber der Sprache. Der linguistische
Humanismus muss also nicht überwunden, er muss lediglich richtig
verstanden werden. Sowenig wie die Korrespondenz mit der Welt
oder mit den anderen Sprechern ist die Korrespondenz in einer Spra-
che das letzte Fundament sprachlichen Lebens. Die Rückführung der
78
Sprache auf ein immanentes Offenbarungsgeschehen ist so verkehrt
wie die von Heidegger und Benjamin verworfenen Formen der Rück-
führung auch.

Wittgenstein als Retter

Im Wittgenstein-Kapitel seines Buchs kommt Edwards zu einer ganz


ähnlichen Moral. Bei Wittgenstein werde weder das Sprechen einsei-
tig in der Sprache noch die Sprache einseitig im Sprechen verankert -
noch beide in den Ordnungen eines außersprachlichen Sinns. Witt-
genstein sei gelungen, was Heidegger bloß wollte - »die Sprache als
die Sprache zur Sprache bringen«. Tatsächlich hat Wiccgenstein wohl
die besten Aussichten, als Kardinal-Heiliger der Sprachphilosophie
ins Stammbuch des zo. Jahrhunderts einzugehen. Auf ihn können
sich heute alle Parteien berufen, ob sie sich nun eher an Heidegger
oder Quine, Davidson oder Habermas, Derrida oder Benjamin ori-
entieren mögen. Wittgenstein, so scheint es, kann die Sprachphiloso-
phen aus den Engpässen herausführen, in die sie sich aus wechselsei-
tigem Misstrauen hineinmanövriert haben. Das Bild des Retters frei-
lich ist trügerisch - wollte doch Wittgenstein die Sache nur retten,
indem er die Sache vor ihrer Theorie zu retten versuchte. Der Retter
kam in der Gestalc eines Totengräbers. In Anlehnung an Rorty findet
Edwards auch dies noch tröstlich. Telos der Sprachphilosophie wäre
die Erlösung von allen ihren Übeln - und sogar von ihr selbst.
Wäre es so, wäre Wiccgenstein vielleicht der schlimmste Reduktio-
nist von allen. Er hätte die Möglichkeit von Sprachphilosophie auf
null reduziert - und nicht allein aller herkömmlichen, wie Heidegger
es bescheidenerweise für sich reklamierte. Das kann aber nicht wahr
sein. Denn entweder hat Wiccgenstein den Reduktionismus der tra-
ditionellen und modernen Sprachphilosophie erfolgreich kritisiert-
dann gibt es hier auch wirklich etwas zu sagen. Oder aber er hat ge-
zeigt, dass es hier nicht wirklich etwas zu sagen gibt - dann können
wir auch seineArgumente vergessen. Es ist absurd, Wittgensteins Ana-
lysen (vorgeblich) ernst zu nehmen und doch (mit Rorcy) für die zwei-
te Alternative zu plädieren. Ist Witcgenstein ein Anti-Reduktionisc in
Bezug auf die Phänomene,ist er auch ein Anti-Reduktionist in Bezug
auf die Theoriedieser Phänomene, was immer er selbst und seine
Freunde dazu sagen mögen. Wenn da allerhand ist, was eine Theorie
verkürzen kann, dann ist da auch allerhand, was sie auf komplexe
79
Weise aufklären kann. Es wäre kein schlechter Abschluss des sprach-
philosophischen Jahrhunderts, wenn mit ihm die einseitige Rück-
führung der Sprache entweder auf eine Darstellung der Welt oder auf
eine Kommunikation mit anderen oder auf eine Offenbarung ihrer
selbst zu Ende ginge.

80
4. Die Erfüllung eines unerfüllten Versprechens.
Robert B. Brandoms
pragmatische Sprachphilosophie

Dass die Grenzen zwischen dem angelsächsischen und dem konti-


nentalen Denken mehr und mehr unscharf werden, ist in der Philo-
sophie schon seit längerem ein Gemeinplatz. Auseinandergerissen in
den dreißiger Jahren, haben sich die beiden Traditionen erst langsam,
jedoch in den achtziger Jahren verstärkt aufeinander zubewegt. Trotz
aller Berührungen und Begegnungen aber gab es bisher keine heraus-
ragende Veröffentlichung, von der sich sagen ließ, dass sie mit glei-
chem Gewicht auf dem Boden beider philosophischen Traditionen
steht. Dieses Buch gibt es jetzt. Robert B. Brandoms voluminöses,
700 eng bedruckte Seiten umfassendes Werk Making it Explicit.Rea-
soning,Representingand DiscursiveCommitment (Cambridge/Mass.
1994) nennt zwar die Amerikaner Wilfrid Seilars und Richard Rorty
als wichtigste Paten; die leitenden Motive und Konzeptionen aber
entstammen einer anderen Quelle. Es ist das erste Buch analytischer
Philosophie, das nur aus der kontinentalen Tradition heraus ver-
ständlich ist. Es handelt sich um ein philosophisches System aus der
Feder eines analytisch trainierten Philosophen.
Gewiss, die analytische Philosophie hat bedeutende systematische
Werke hervorgebracht, von Rudolf Carnaps Meaning and Necessity
über Willard van Orman Quines WtJrdand Objectbis hin zu Richard
Rortys Philosophyand the Mirror of Nature, das der analytischen die
kontinentale Philosophie als Therapie verschrieb. Der Gedanke eines
umfassenden philosophischen Systems aber blieb ihr fremd. Die li-
terarische Domäne der analytischen Philosophie ist die Präsentation
und Sammlung von Papers,mit einer gehörigen Skepsis gegenüber
dem einigenden Wurf. Nicht so Brandom. Sein stilistisches Ideal ist
nicht die provokative Lakonie des Hegel-Preisträgers Donald David-
son, sondern der exzessive Diskurs eines Georg Wilhelm Friedrich
Hegel. Zusammen mit dem englischen Kollegen John McDowell bil-
det der Amerikaner Brandom ein Gespann, das sich, wie Rorty in sei-
nem Buch Truth and Progress kolportiert, als Kopf der »Pittsburgh
School ofNeo-Hegelians« versteht.
Weist Brandoms Systemgeist zurück ins neunzehnte Jahrhundert,
so weist seine Themenstellung noch einmal zurück ins zwanzigste.
81
Während allerorten Abgesänge auf den linguisticturn gehalten wer-
den, verspricht Brandom, die in ihn gesetzten Hoffnungen endlich
einmal zu erfüllen. Die Menschen, so beginnt das Buch, unterschei-
den sich von allen anderen Lebewesen dadurch, dass sie voneinander
»wir«sagen können. Sie können einander als diejenigen erkennen, die
einander als intentionale Wesen erkennen können. Die Analyse dieser
Fähigkeit kann sich als Analyse der sprachlichen Formen vollziehen,
mit denen intentionale Zustände explizit gemacht werden können -
bis hin zu einer Analyse derjenigen sprachlichen Mittel, mit denen
diese philosophischeExplikation durchgeführt wird. Mit Heidegger
schlägt Brandom vor, die Welt von dem gemeinsamen Inderweltsein
der Menschen her zu verstehen. Mit Hegel orientiert er sich dabei an
den Formen der Selbstvergewisserung des menschlichen Geistes. Wie
einst die Phänomenologiedes Geistesentwirft Making it Explicit das
Bild einer kulturellen Praxis, die ihrer grundlegenden Möglichkeiten
inne zu werden vermag. Das Ziel ist eine »einheitliche Sicht der Spra-
che und des Geistes«.
Vom Idealismus Hegels ist dabei zunächst wenig zu spüren. Das
liegt an dem dritten und bei weitem am häufigsten aufgerufenen
Kronzeugen des Autors: Ludwig Wittgenstein. Mit dem Wittgenstein
der Philosophischen Untersuchungen sieht Brandom die Leistungen der
Sprache in einem impliziten Wissen-Wie verankert, das von Fall zu
Fall durch ein explizites Sagen-Dass artikuliert werden kann. Sprache
basiert auf einer Beherrschung von Regeln, die gekonnt werden müs-
sen, bevor sie gewusst werden können. »Geist« im Sinn eines inhalt-
lich differenzierten Meinens und Fühlens, Beabsichtigens und Wün-
schens, oder mit einem neueren Kunstwort: die »Intentionalität« des
menschlichen Bewusstseins erwächst implizit beherrschten Vollzügen
der sprachlichen Praxis. Sobald diese aber beherrscht werden, stehen
weitreichende Möglichkeiten der ausdrücklichen Äußerung bereit.
An diesen Formen eines »making it explicit«, sagt Brandom, lässt sich
studieren, wie menschliche Orientierung auch in ihren unausdrückli-
chen Vollzügen verfasst ist.
Diese linguistische Praxis, mit der rationales Überlegen und Han-
deln möglich wird, erscheint dabei als eine wesentlich sozialePraxis.
In erneuter Anlehnung an Wittgenstein wird die Verbindlichkeit
sprachlicher Regeln als ein normativesVerhältnis gedeutet. Sprachli-
che Regeln sind Handlungsweisen, auf die sich die Teilnehmer einer
Sprachgemeinschaft untereinanderfestlegen. Sie können nur dort be-
stehen, wo eine wechselseitige Einschätzung der Angemessenheit
82
sprachlicher Vollzüge möglich ist. Die Sprecher einer Sprache schrei-
ben einander wechselseitig die Berechtigung zu - oder bestreiten ein-
ander das Recht-, bestimmte Handlungen zu tun, bestimmte Auf-
fassungen zu vertreten oder bestimmte Schlüsse zu ziehen. Nur in der
Reichweite dieser intersubjektiven Korrigierbarkeit kann es effektive
sprachliche oder sonstige Regeln geben, die sich von bloßen, äußer-
lich feststellbaren Regelmäßigkeitendes Verhaltens ebenso unterschei-
den wie von ihrer bloßen, uneingeübten Kenntnis als Regeln. Für das
Bestehen sprachlicher Verkehrsformen ist es darüber hinaus kenn-
zeichnend, dass es für das Selbstverständnis der Teilnehmer etwas aus-
macht, ob sie und wie sie sich miteinander verständigen können. Nor-
mative Verhältnisse sind nicht zuletzt an den Folgen erkennbar, die
ihre Verlerzung für die Beteiligten hat.
Die einfachste Sanktion, der sie dabei erliegen können, ist die, dass
das eigene Reden von den anderen als folgenlos behandelt wird. Ver-
mieden wird diese Sanktion, solange die anderen in der eigenen Rede
einen relevanten oder orientierenden Beitrag zur gemeinsamen kom-
munikativen und sonstigen Praxis erkennen. Ihr Handeln ist dann an
ein Geben und Einfordern von Gründen angeschlossen, wodurch es
zu einem für andere verständlichenHandeln wird. Auf diese Weise
macht sprachliche Interaktion es möglich, dass sich die Beteiligten als
rationale Gegenüber anzuerkennen vermögen.
Das Bestehen einer sozialen Welt ist also gleichursprünglich mit
dem Eintritt in einen »Raum von Gründen«, wie Brandom mit einer
Wendung von Seilars sagt. Ausdrücklich zur Sprache kommen diese
Gründe bei Gelegenheit von Argumentationen. Die Bedeutung des
Gebens und Einforderns von Gründen für die menschliche Praxis er-
läutert Brandom an dem Modell einer Bewertung von Spielständen
analog der Zählweise im amerikanischen Baseball. So wie dort der
Stand des Spiels nach unterschiedlichen Parametern auf einer An-
zeigetafel festgehalten wird, so führen die Teilnehmer an einer Ar-
gumentation stillschweigend Buch über den Haushalt der durch
Schlussfolgerungen verbundenen Überzeugungen der anderen be-
teiligten Sprecher. Diese Liste verzeichnet, worauf sich der andere
Sprecher diskursiv festgelegthat und zu welchen Behauptungen er
diskursiv berechtigtist. Argumentation erscheint so als ein Prozess
der Veränderung eines »Spielstands« von Festlegungen und Berech-
tigungen, der von allen Beteiligten verfolgt werden muss. Dabei ist
jederzeit eine doppelte Buchführung verlangt: Dem anderen einen
intentionalen Zustand zuzuschreiben bedeutet, die Gründe für seine
Auffassungen oder Bestrebungen als angemessen oder unangemes-
sen zu bewerten und dabei die jeweils eigenen Auffassungen ins
Spiel zu bringen. Für Brandom wird hieran die »inferentielle Arti-
kulation« des kommunikativen Handelns deutlich. Die Gehalte ei-
ner begriffiich differenzierten Sprache ergeben sich aus den Rollen,
die ihnen in Prozeduren der Folgerung zukommen oder zukommen
können.
Was auf den ersten Blick wie eine aberwitzig buchhalterische Ver-
stehenslehre aussieht, ist in Wahrheit eine überzeugende Theorie der
unausweichlichen Kontextualität, Perspektivität und somit Alterität
kommunikativer Vorgänge. Im wechselseitigen Verstehen geht jeder
von anderen Voraussetzungen aus und kann doch einen Anschluss an
die Überzeugungen der anderen gewinnen. Dies geschieht durch ein
Verfahren der Interpretation, in dem das Worüberder Rede aus der
Warte des Verstehenden identifiziert werden muss, ohne dass dabei
das Gesagte - also das Wasder Rede - der eigenen Meinung angegli-
chen werden müsste. Diese Überbrückung unterschiedlicher Verste-
hensperspektiven kann jedes Mal von neuem gelingen - obwohl sie
natürlich in jedem einzelnen Fall scheitern kann -, weil in Hand-
lungszusammenhängen, in denen überhaupt kommuniziert werden
kann, genügend unausdrückliche und unproblematische Annahmen
und Folgerungen in Kraft sind, die keiner interpretativen Vergewisse-
rung bedürfen. In der sprachlichen Kommunikation schätzen wir die
Einschätzungen der anderen ein und nehmen sie darin als in ihren
Handlungen verständliche Andere wahr.
Im Fahrwasser eines mit Motiven einer Hegel'schen Anerken-
nungslehre aufgeladenen späten Wittgenstein tritt Brandom für eine
durch und durch pragmatischeSprachtheorie ein. »Durch und durch«
pragmatisch ist diese Theorie zum einen, weil sie den einfacheren Weg
einer intentionalistischen Pragmatik, wie sie in den sechziger Jahren im
Anschluss an Paul Grice entwickelt worden ist, verwirft. Die Struktur
propositionaler Intentionalität, sagt Brandom, darf nicht vorausge-
setzt werden, sondern muss zusammen mit den Prozeduren sprachli-
chen Handelns aufgeklärt werden. Damit sind die Weichen zuguns-
ten einer strikt intersubjektivistischenPragmatik gestellt. Dezidiert
pragmatisch ist Brandoms Theorie zum andern, weil sie Pragmatik
nicht lediglich als eine sinnvolle Ergänzung der Semantik, sondern als
ihre Fundierung versteht. Die Frage der Semantik, wie Worte und
Sätze zu ihrem Inhalt kommen und darüber hinaus die Frage nach
dem Gehalt geistiger Zustände kann nur im Rahmen einer Pragmatik
84
beantwortet werden, die untersucht, was wir im Gebrauch sprachli-
cher Mittel tun.
Diese Konstruktion kehrt die vorherrschende sprachtheoretische
Rangordnung um. Statt zuerst nach der Bedeutung von Sätzen zu fra-
gen und dann nach den Möglichkeiten ihrer Verwendung, möchte
Brandom den Begriff der Bedeutung aus diesen Möglichkeiten ent-
wickeln. Das Verhältnis von Sprache und Welt soll aus der Rolle der
Sprache bei der Ausbildung einer sozialen Welt deutlich werden. Aus
diesem Programm ergeben sich die beiden Teile des Werks. Dem Ent-
wurf einer pragmatischen Sprachtheorie im ersten Teil folgt im länge-
ren zweiten Teil eine äußerst produktive, mit allen analytischen Schi-
kanen versehene Durchführung. Eine Vielzahl der Probleme, mit de-
nen sich die analytische Sprachphilosophie dieses Jahrhunderts
herumgeschlagen hat, wird hier einem neuen Verständnis zugeführt.
Der Begriff der Wahrheit wird ebenso kommentiert wie die neueren
Theorien der Referenz, die Bedeutung von Eigennamen und deikti-
schen Ausdrücken wird ebenso ausführlich behandelt wie die Rolle
des logischen Vokabulars und die Substituierbarkeit von Ausdrücken
in argumentativ gleichwertigen Sätzen. Ein besonderes Augenmerk
widmet Brandom der Analyse »anaphorischer« Ausdrücke, mit denen
unterschiedliche Sprechereignisse und Verstehensperspektiven in Ver-
bindung gehalten und in Verbindung gestellt werden. Brandom zeigt
hier, wie die Sprache ihren Sprechern die Mittel zur Verfügung stellt,
ihre individuellensprachlichen Handlungen und Sichtweisen zur in-
tersubjektivenErschließung einer objektivenWelc zu verbinden.
Mit dieser Durchführung erfüllt der Autor das Versprechen einer
vollblütigen pragmatischen Sprachtheorie zum ersten Mal. Gegeben
wurde dieses Versprechen schon öfter. Vor Wittgenstein hatte bereits
Heidegger in Sein und Zeit eine entschlossen beim menschlichen
Handlungszusammenhang einsetzende Sprachtheorie entworfen.
Später hatte John Austin in seinen Vorlesungen zum Thema How to
Do Thingswith Wordrebenso einen Neuanfang empfohlen wie Ha-
bermas in seiner TheoriedeskommunikativenHandelns.Immer aber
war es bei Vorstudien geblieben, die im Sand verliefen, bevor es zu der
entscheidenden Frage kam, wie denn die situationsinvariante Bedeu-
tung von Worten und Sätzen in den Vollzügen des sprachlichen Ge-
brauchs tatsächlich verankert ist. In dieser Frage hatte die Wahrheits-
semantik sehr viel tragfähigere Antworten gegeben. Erst jetzt liegt
eine konkurrenzfahige Alternative vor.
Autoren wie John McDowell, Hilary Putnam, Richard Rorty und

85
Jürgen Habermas haben sich bereits aufBrandom als einen Anwalt ih-
rer Sache berufen. Schon muss sich der Autor der Vereinnahmung
durch seine erlauchten Kollegen erwehren. Im Falle Rortys etwa war
ein heftiges Dementi nötig, da dieser ihn für die Partei eines philoso-
phischen »Relativismus«zu vereinnahmen suchte, dem Brandom mit
seiner Integration von Perspektivismus und Objektivismus gerade
entkommen will (in einer Brandom gewidmeten Diskussion in der
Zeitschrift Philosophyand Phenomenological Research,Jg. 56/r996).
Besonders für Habermas aber stellt Making it Explicitein wahres Göt-
tergeschenk dar. Ist doch die Sprachphilosophie einerseits der theore-
tische Kern, andererseits der am wenigsten überzeugend ausgeführte
Teil seines Denkens. Wie man hört, sind die Renovierungsarbeiten
bereits im Gange.
Auch in der Theorie aber sind Erfüllungen häufig mit Enttäu-
schungen verbunden. Die härteste Kränkung, die Brandom seinen
Vorläufern zumutet, ist die vehemente Rehabilitierung der Aussage
und ihrer Behauptung als sprachtheoretisch zentrales Thema. Alle Be-
fürworter einer radikalen pragmatischen Wende von Heidegger bis
Habermas sahen gerade in der Orientierung an der Aussage einen
Sündenfall der theoretischen Philosophie. Immer wieder wurden an-
dere Satzarten und Sprechakte in Konkurrenz gegen die seit Aristote-
les' Zeiten favorisierte Aussage geschickt. Mit überzeugenden Argu-
menten macht demgegenüber Brandom deutlich, dass gerade eine
entschieden pragmatische Theorie an der Prominenz der Behauptung
von Aussagen festhalten muss. Allein durch den Austausch von Be-
hauptungen kommt jene Sphäre von aktuellen oder potentiellen
Gründen ins Spiel, mit der sich der Raum einer kulturellen Praxis öff-
net. Auch als Antwort auf die Frage nach dem Was, dem Wie und dem
Warum unseres Wollens oder Wünschens müssen Behauptungen
geäußert werden. Die Überwindung der repräsentationalistischen
Auffassung, die Sprache primär als Abbildung des Wirklichen und
erst sekundär als ein soziales Verhältnis deutet, muss selbst als eine
Theorie der Darstellung ausgeführt werden. Die Idee einer Ge-
brauchstheorie der Sprache steht und fällt mit einer pragmatischen
Theorie der Repräsentation.
Obwohl Brandom in diesem Punkt eher traditionell argumentiert,
ist die tragende Disposition seines Werks alles andere als konventio-
nell, um nicht zu sagen =entrisch. Im Gegenzug gegen den Empi-
rismus wie gegen das natürliche Bewusstsein setzt er nicht bei der
sinnlichen Wahrnehmung und den Auskünften aus ihr (oder über sie)
86
an, sondern bei der Praxis der Argumentation. Der intersubjektive
Austausch von Gründen erscheint als der zentrale Umschlagplatz der
Vernunft, den alle anderen Güter des Erkennens und Handelns kreu-
zen müssen, wenn sie einen Beitrag zu rationalen oder wenigstens ver-
ständlichen Orientierungen leisten wollen. Die sinnliche Wahrneh-
mung wird von Brandom als ein zentraler »Input«, das Handeln da-
gegen als der entscheidende »Output« der Argumentation verstanden.
Während Wahrnehmungen als Stützen für Behauptungen fungieren
können, sind Handlungen auf die Stütze durch Behauptungen ange-
wiesen, mit denen das Ziel und die Mittel des Handelns bestimmt
werden können. Im Unterschied zum Wahrnehmen und Handeln
zeichnet es dabei wiederum die Behauptung aus, dass sie in beiden ar-
gumentativen Rollen auftreten kann. Für sie können Gründe vorge-
bracht werden und sie kann als Grund vorgebracht werden. Wenn
also das ganze Spektrum der Rationalität erfasst werden soll, muss zu-
allererst die Rolle von Aussagen im Spiel des Gebens und Einforderns
von Gründen untersucht werden. Menschliches Reden und Handeln,
sagt Brandom, erhält seine Kontur aus dem Netz der aktuellen und
potentiellen Gründe, in das es immer schon eingebettet ist.
So einleuchtend das ist, so fragt es sich doch, worin das Sprachspiel
der Argumentation seinerseits eingebettet ist. In der Tendenz, weder
den Begriff der Intentionalität noch den der äußeren Welt unerläutert
vorauszusetzen, neigt Brandom dazu, die diskursive Intersubjektivität
absolut zu setzen. Den Reduktionismus der Intentionalisten und Ma-
terialisten beantwortet er mit einem Reduktionismus der lntersub-
jektivität. So heißt es immer wieder, am Ausgangspunkt der Theorie
solle zwar ein normatives, aber kein intentionales Vokabular verwen-
det werden. Aus der internen Normativität der sprachlichen Praxis
möchte Brandom sowohl den Begriff der Intentionalität des Bewusst-
seins als auch den der Faktizität der Welt gewinnen. Damit jedoch er-
liegt er einer Illusion, von der bereits der frühe Heidegger und der spä-
te Wittgenstein nicht frei waren. Es ist der Glaube, im Ausgang von
einem vorreflexiven sprachlichen Können reflexiv »hinter« die Posi-
tionen des Subjekts und des Seienden gelangen zu können.
Es bleibt aber ganz unklar, wie die Normativität des sprachlichen
Handelns erläutert werden soll ohne einen Bezug auf die Absicht,sich
jeweils angemessenzu verhalten. Mit dieser Angemessenheit aber ist
bereits eine Welt von Gegenständenim Spiel, die sich unabhängig von
den Verhaltungen der Menschen verhalten und es allein dadurch un-
terschiedlichen Sprechern erlauben, sich gemeinsam auf etwas zu be-
87
ziehen. Keine Normativität ohne Intentionalität - keine lntersubjek-
tivität ohne Objektivität. Von sprachlicher Kompetenz kann erst die
Rede sein, wo aufseiten der Sprecher die Fähigkeit der reflexiven und
explikativen Distanzierungder stillschweigend beherrschten Vollzüge
gegeben ist. Erst die Fähigkeit zum Abstand von Gegenstand und Ge-
genüber der Rede macht Leistungen des Verstehens möglich. Ohne
ein Urteil darüber, welche Vollzüge richtig und welche falsch sind,
gibt es keine im strikten Sinn richtigen und falschen Vollzüge. Das
implizite Können, so wäre daher gegen Brandom zu sagen, ist nicht
das Fundament, sondern der Partner des expliziten Wissens. Zusam-
men eröffnen sie die Sphäre des menschlichen Geistes, inmitten einer
Welt von Objekten, die in unterschiedlichen Kulturen und Sprachen
unterschiedlich erschlossen werden kann. Es wäre daher klüger, aller-
dings auch bescheidener gewesen, mit Donald Davidson, den Bran-
dom hier gewaltsam überbieten möchte, von einer unauflöslichen In-
terdependenzdes Subjektiven, des Intersubjektiven und des Objekti-
ven auszugehen.
Auf dem Niveau der analytischen Philosophie, so liegt es daher
nahe zu sagen, führt kein Weg zu den Hierarchien der Systemphilo-
sophie vergangener Zeiten zurück. Entweder man entwirft ein philo-
sophisches System oder man erkennt die Interdependenz philosophi-
scher Grundbegriffe und Grundprobleme an. Glücklicherweise kann
sich Brandom angesichts dieser Alternative nicht entscheiden. Das er-
füllt sein Werk mit einer gehörigen inneren Spannung und verspricht
ihm ein langes Leben. Haben sich doch die bedeutenden Werke der
Philosophie nur selten an den eigenen Bauplan gehalten.

88
5. Für einen Holismus ohne Ganzes

Holismen gibt es viele. Es handelt sich hierbei um Theorien, in denen


die Funktion oder Bedeutung tragender Elemente aus ihrem Zusam-
menhang mit anderen entsprechenden Elementen verstanden wird,
die zusammen ein wie immer zu charakterisierendes Ganzes bilden.
Die Elemente, um die es jeweils geht - Begriffe, Gedanken, Worte,
Sätze, Aussagen, Handlungen oder Tugenden - können, so sagt eine
holistische Explikation, nicht je für sich expliziert werden; sie müssen
aus den Beziehungen heraus verstanden werden, die sie untereinander
unterhalten. Dieses für die jeweiligen Elemente konstitutive Verhält-
nis wird von holistischen Theorien so verstanden, dass sich darin ein
Ganzes bildet oder gebildet hat. Hierin muss bewandert sein, wem der
Sinn der Glieder dieses Ganzen zugänglich sein soll.
Der Sinn dieses Ganzen ist freilich alles andere als klar. Gewiss, auf
seine Weise formuliert jeder Holismus eine Lehre von einem Ganzen,
das mehr ist als die Summe seiner Teile. Der Anspruch philosophi-
scher Holismen jedoch ist damit noch nicht geklärt. Auch die Ge-
staltpsychologie beispielsweise untersucht Ganzheiten, die auf eine
Summe ihrer Partien nicht rückführbar sind. Doch dies sind Einhei-
ten, die in der Wahrnehmung überschaut und auf diese Weise in ihrer
Ganzheit erfasst werden können. Wir können sie vor uns bringen. Bei
den Zusammenhängen, von denen der philosophische Holismus han-
delt, ist dies nicht der Fall. Hier haben wir es mit einem Komplex von
Verweisungen zu tun, der von denen, die sich in ihm bewegen, gera-
de nicht überschaut und erfasst werden kann. Über diese Situation -
wir haben es mit Formen der Einheit zu tun, die kein erkennbares
Ganzes bilden - möchte ich im Folgenden einige Betrachtungen an-
stellen.
Es kommt mir dabei darauf an, ein falsches Bild dieses Ganzen zu
kritisieren, das sich fast überall einstellt, wo von holistischen Struktu-
ren die Rede ist. Die Rede von einem Ganzen legt leicht eine Außen-
perspektive auf dieses Ganze nahe, die eine plausible Analyse von
vornherein verstellt. Freilich ist der philosophische Holismus ein zu
weites Feld. Ich werde mich hier auf den Holismus in der Theorie des
Geistes und der Bedeutung beschränken, um an diesem Beispiel zu er-
kunden, wie eine holistische Theorie sinnvoll entwickelt werden
kann. Der paradoxe Titel meines Versuchs nimmt das Ergebnis vor-
weg: Der für Überzeugungen und Bedeutungen konstitutive Verwei-
89
sungszusammenhang darf nicht als ein bestimmbares Ganzes verstan-
den werden. Meine Vermutung ist, dass sich dieses Ergebnis auch in
anderen Bereichen holistischer Theoriebildung bestätigen könnte; je-
doch muss dies an dieser Stelle eine Vermutung bleiben.

1. Pro und Contra

Prima facie haben holistische Theorien des Geistes und der Bedeu-
tung eine große Stärke und eine ebenso große Schwäche. Besser als an-
dere Theorien können sie erklären, wie es möglich ist, dass einem Ge-
danken ein bestimmter Gehalt zukommt. Schlechter als andere Theo-
rien aber können sie erklären, wie es möglich ist, die so bestimmten
Gehalte zu kommunizieren.
Eine Theorie des Geistes argumentiert holistisch, wenn sie an-
nimmt, dass die Überzeugungen, die jemand hat, ihren Gehalt nur in
Abhängigkeit von weiteren seiner Überzeugungen haben. Jede einzel-
ne Meinung gewinnt ihre Bedeutung demnach aus den Beziehungen,
in denen sie zu anderen Meinungen steht. Nach dem Vorschlag von
jüngeren Auroren wie Seilars und Brandom - oder älteren wie Kant 1
- sind diese Beziehungen als Relationen des Schließens zu verstehen.
Überzeugungen können einander enthalten, einander stützen oder
einander ausschließen. So enthält die Meinung, dass es in Hamburg
regnet, die Überzeugung, dass es eine Stadt dieses Namens gibt; sie
stützt die Vermutung, dass dort die Straßen nass werden; sie schließt
die Annahme aus, dass dort die Sonne scheint. Auf diese Weise sind,
dem Holismus zufolge, viele oder alle unsere Meinungen miteinander
vernetzt. Der menschliche Geist ist nicht eine Ansammlung isolierter
Daten, sondern ein dynamisches Ganzes von Gedanken. Entspre-
chend haben die Ausdrücke einer Sprache ihre Bedeutung gemäß der
Rollen, die sie im meist impliziten Geschehen der Verschränkung von
Gedanken haben.
Entwickelt wurde diese Auffassung in Zurückweisung einer Ab-
bildtheorie des Geistes, bei der das Verhältnis von Gedanke und Rea-
lität im Vordergrund steht. Ihr zufolge gewinnen Überzeugungen

r »Wie wir des Schließens beständig bedürfen und es endlich ganz gewohnt werden, so
bemerken wir zuletzt den Unterschied nicht mehr, und halten oft, wie bei dem soge-
nannten Betruge der Sinne, erwas für unmittelbar wahrgenommen, was wir doch nur
geschlossen haben.« (1. Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders.,Werke, hg. v. W.
Weischedel, Frankfurt/M. 1968, Bd. III u. IY, B 359/A 303.)

90
ihren Inhalt je für sich aus ihrem Bezug auf die Welt. Diese Theorie
hat jedoch große Schwierigkeiten zu erklären, wie diese Beziehung
zustande komme. Denn wie kann sich eine Überzeugung auf ein be-
stimmtes Stück Wirklichkeit beziehen, wo sie doch alles andere unbe-
stimmt lässt? Hier verfügt die holistische Deutuns: über eine überlege-
ne Antwort. Sie versteht die Bestimmtheit einer Uberzeugung aus ih-
rer Stellung zu vielen weiteren Überzeugungen. Jedoch führt diese
Überlegenheit geradewegs in ein neues Dilemma. Denn wenn unsere
Überzeugungen ein System bilden, wie kann man dann überhaupt
eine Überzeugung haben oder verändern, ohne zugleich alle anderen
mit in Betracht zu ziehen? Wie kann man eine oder seine Überzeu-
gungen überprüfen, ohne sie alle auf die Probe zu stellen? Wie kön-
nen verschiedene Personen einander verstehen, obwohl sie doch nie-
mals genau dieselbe Menge von Meinungen haben? Wie können sie
sich auf einen Gedanken einigen, ohne in allen übereinzustimmen?
Und wenn sie zu einer Übereinstimmung kommen, wie können sie
wissen, worauf (alles) sie sich verständigt haben?
Das Schicksal des philosophischen Holismus dürfte sich daran ent-
scheiden, ob er eine Gestalt gewinnt, der den genannten Vorteil be-
wahrt und doch den genannten Nachteil vermeidet. Ich werde
zunächst zwei Varianten kommentieren, die diesen Test nicht beste-
hen können und anschließend eine dritte, die ihn besteht.

2. Radikaler Holismus

»Radikal« nenne ich einen Holismus, der eine starke Auslegung der
Gesamtheit des Zusammenhangs der jeweils thematischen Elemente
gibt. In unserem Zusammenhang bedeutet dies, dass Gedanken oder
Bedeutungen ihre Kontur aus ihrer Stellung zum Ganzen eines Den-
kens oder einer Sprache gewinnen. Es bedeutet ferner, dass jeder neue
Gedanke und jede neue Äußerung - oder stärker noch: überhaupt je-
der Akt des Denkens und Sprechens - dieses Ganze derart modifiziert,
dass auch alle seine Teile eine Modifikation erfahren. Diese Explikati-
on, so scheint mir, ist geradewegs absurd. Denn sie läuft darauf hin-
aus, dass das Verständnis eines einzelnen Elements - sei es ein Gedan-
ke oder ein Wort - ein (wie immer implizites) Verständnis eines
Ganzen von Gedanken oder Bedeutungen ist. Da dieses Ganze aber
nicht kommunizierbar sein kann - denn kommunizieren können wir
nur Sätze und deren Gehalte -, wäre ein radikaler Holismus eine
Theorie der Unmöglichkeit des verständlichen Denkens und Spre-
chens und somit eine Theorie der Unmöglichkeit seiner selbst.
Freilich ist mir kein Theoretiker bekannt, der einen solchen radi-
kalen Holismus tatsächlich vertritt. Von Kommentatoren jedoch wird
gelegentlich behauptet, dass ein konsequenterHolismus des Geistes
oder der Bedeutung die Gestalt eines solchen radikalenHolismus an-
nehmen müsste. »Ifholism is true, then I can't understand any of your
language unless I can understand practically all of it«, schreiben Jerry
Fodor und Ernest Lepore in ihrer Einführung in den Holismus. 2 Kurz
darauf schreiben sie Michael Dummett die Auffassung zu, dass das
Verstehen sprachlichen Sinns eine lediglich »partielle«, keineswegs
aber eine »perfekte« Übereinstimmung unter Sprechern zur Voraus-
setzung hat, woraus sie folgern »that semantic holism is denied«. 3 Man
sieht hier, wohin eine starke Auslegung des »alle« im Fall holistischer
Beziehungen führt: zu der Annahme, dass ich alles verstehen muss,
um überhaupt etwas verstehen zu können. Das ist schon deshalb kei-
ne haltbare Position, weil sie keinen vernünftigen Begriff des Lernens
übrig lässt. Denn wenn ich immer schon alles verstanden haben muss,
um überhaupt etwas verstehen zu können, wird jede Veränderung
meines sprachlichen oder sonstigen Wissens zu einem mysteriösen
Vorgang: zu einem Sprung in einen anderen Zustand, der mir per de-
finitionem nicht begreiflich werden kann. Nicht weniger ist die Idee
einer »perfekten Übereinstimmung« zwischen Sprechern ein Unding;
denn dies wäre eine Übereinstimmung, die von den Beteiligten nicht
mehr in Frage gestellt werden könnte, was dem Charakter einer frei-
en Übereinstimmung grundsätzlich widerspricht. Und schließlich
setzt diese Übereinstimmung zweier Sprecher eine Übereinstimmung
im Wissen voraus, was wiederum ein Ding der Unmöglichkeit ist, da
jede zwei Sprecher eine Fülle unterschiedlicher Situationen durchlau-
fen und somit eine Fülle unterschiedlicher Kenntnisse gewonnen ha-
ben.
Nun sind es gerade solche Absurditäten eines, wie sie meinen, kon-
sequenten Holismus, auf die Fodor und Lepore aufmerksam machen
wollen. Wie abwegig das hierbei präparierte Modell jedoch ist, wird
schon im Vorwort ihres Buches deutlich, wenn sie die generelle Stra-
tegie holistischer Explikationen erläutern. »This is a book about
holism about meaning; roughly, it's about the doctrine that only
whole languages or whole theories or whole belief systems realfyhave
2 J.Fodor/E. Lepore,Holism.A Shopper'sGuide, Oxford (u.a.) 1992, 9.
3 Ebd., IO.

92
meanings, so chat ehe smaller units - words, sentences, hypotheses,
predications, discourses, dialogues, texts, thoughcs, and ehe like - are
merely derivative.«4 Hier wird eine Hyposcasierung des Ganzen ma-
nifest, vor der sich ein plausibler Holismus strikt fern halten sollte.
Die Annahme, dass es nicht die Ausdrücke und Glieder einer Sprache,
sondern vielmehr die Sprachen sind, die eigenclich Bedeutung haben,
mache das Ganze einer Sprache zu einer Super-Einheit (einem Super-
Prädikat oder einem Super-Satz), zu der alle kleineren Einheiten in ei-
nem parasitären Verhältnis stehen. Das erweckt den Eindruck, als
müsste die Bedeutung »einer Sprache« verstanden werden, um der Be-
deutung ihrer Worte und Sätze inne werden zu können. So eine Be-
deutung aber hat keine der bekannten menschlichen Sprachen. Spra-
chen haben überhaupt keine Bedeutung; weder bringen sie etwas zum
Ausdruck, noch geben sie etwas zu verstehen. Nur in der Praxiseiner
Sprache haben Ausdrücke Bedeutung; Sprachen sind ein Zusammen-
hang der Verwendungihrer diversen Elemente, in dem diese ihre Be-
deutung haben und verändern. Dieser Prozess der Bildung und Ver-
änderung von Bedeutungen wird durch die Verdinglichung der Spra-
che zu einem bedeucungscragenden Ganzen schon im Ansatz verfehlt.

3. Partieller Holismus

Auf den ersten Blick scheint es einen einfachen Ausweg aus dem
Phantasma eines radikalen Holismus zu geben. Anstatt zu sagen, dass
alles verstanden werden muss, um etwas zu verstehen, könnte man
vorsichtiger sagen, dass einigesverstanden werden muss, damit etwas
verstanden werden kann. Etwas weniger vorsichtig könnte es auch
heißen, dass vielesverstanden werden muss, damit überhaupt eines
verstanden werden kann. Dies ist die Variante, die Brandom in seinem
jüngsten Buch vertritt: »On an inferentialist account of conceptual
content, one cannot have any concepts unless one has manyconcepts.
For the content of each concept is articulated by its inferential relati-
ons to other concepts. Concepts, then, must come in packages
(though it does not yet follow that they must come in just one great
big one).« 5 Auch dies ist eine, wie Brandom sagt, »resolut« holistische
Position, aber sie versucht sich der radikalen Spielart fern zu halten.
Sie begrenzt die Reichweite dessen, wovon der Sprecher einer Sprache
4 Ebd.,X.
5 R. B. Brandom,Articulating Reasons,Cambridge/Mass.2000, 15 f.

93
oder das Subjekt eines Denkens Kenntnis haben muss, um eigenen
oder fremden Äußerungen und Gedanken Bedeutung beimessen zu
können. Man könnte daher von einem partiellen Holismus sprechen.
Begriffe erhalten demnach ihren Stellenwert aus ihrer Beziehung zu
einer Menge anderer Begriffe, die sich in ihrem Begriffsumfang ge-
genseitig konturieren. Diese Menge aber ist eine begrenzte Menge, so
dass nicht länger das gesamte Feld der Sprache überblickt werden
muss, um eine Äußerung zu verstehen. Entsprechendes gilt für Über-
zeugungen. Eine bestimmte Überzeugung ist demnach in ihrem Ge-
halt nicht länger an ein Gesamtsystem von Überzeugungen gebun-
den, sondern lediglich in einer Region von Meinungen inferentiell
verankert.
Bei einem zweiten Blick jedoch erweist sich dieser Ausweg als Sack-
gasse. Denn alle die Probleme des radikalen Holismus kehren inner-
halb des partiellen zurück. Gleichgültig nämlich, wie groß das jewei-
lige Ganze gedacht wird, an dem Problem, das Verstehen von etwas an
das Verstehen eines Ganzen zu binden, hat sich nichts verändert.
Wenn ich eines verstehen will, muss ich alles verstehen; wenn ich ei-
nes verändere, ist alles verändert; wenn ich eines kommuniziere, muss
ich alles kommunizieren. Innerhalb der für Überzeugungen oder Be-
deutungen konstitutiven »Bereiche« bleibt alles beim Alten. Hinzu
kommt, dass die Rede von »Paketen« oder »Bündeln« von Begriffen
oder Gedanken gerade im Rahmen einer inferentialistischen Theorie
recht irreführend ist. Hier werden Grenzen suggeriert, die sich gerade
nicht ziehen lassen. Denn wie stehe es mit dem Inhalt des Pakets, dem
ein Begriff wie »Regen« angehört? »Himmel«, »Wolken«, »Feuchtig-
keit« gehören wohl hinein, aber wie steht es mit »Erkältung«, »Mon-
sun« oder »Hundertwasser«? Hierauf gibt es keine vernünftige allge-
meine Antwort. Das kommt darauf an, möchte man sagen - es
kommt auf die sprachliche Praxis an, in der von Regen jeweils die
Rede ist. Dann aber ist es mit den Regionen von Begriffen und Über-
zeugungen nicht weit her. Jede vermeintliche Grenze, jedes vermeint-
liche Ende ihrer Verknüpfung kann jederzeit überschritten werden.
Die Folgerungen, durch die Begriffe und Überzeugungen miteinan-
der verbunden sind oder verbunden sein können, kennen weder ein
Ende noch eine Grenze. Das aber bedeutet, dass der so vernünftig er-
scheinende partielle Holismus den desaströsen Konsequenzen eines
radikalen Holismus schutzlos ausgeliefert ist.

94
4. Moderater Holismus

Trotzdem ist es der partielle Holismus, der in die richtige Richtung


weist. Man darf nur nicht dem Bild einer Grenze erliegen, wie es von
Brandoms Metapher suggeriert wird. Dieses Bild nämlich verdeckt
die Unschärfe, die jeder solche Grenze anhaften muss. Es verdeckt da-
mit die Unbestimmtheit, in der sich die in Begriffen und Überzeu-
gungen enthaltenen Implikationen vom Standpunkt jedes denkbaren
Sprechers verlieren. Dieser Unbestimmtheit trägt Brandom dort
Rechnung, wo er davon spricht, dass man keinen einzigen Begriff ha-
ben kann, ohne viele zu haben. Dies aber kann nur heißen: unbe-
stimmt viele. Sobald wir diese konstitutive Unbestimmtheit oder Of-
fenheit holistischer Beziehungen ernst nehmen, erhalten wir eine mo-
derate Version, die das gemeinsame Dilemma des radikalen und des
partiellen Holismus vermeidet.
Hierzu müssen alle Vorstellungen eines geschlossenen, fertigen
und überschaubaren Ganzen über Bord geworfen werden. Holistische
Beziehungen dürfen in der Philosophie des Geistes und der Sprache
nicht als Beziehungen zwischen Teilen und einem Ganzen gedacht
werden. Denn dies ist mit der Hypostasierung verbunden, dass da ein
Ganzes ist, in dem das Teil seine Stelle hat, die ihm von diesem
Ganzen gleichsam zugewiesen wird - so als sei das Teil unfertig, para-
sitär, Fragment, das Ganze aber heil. Weder das Vokabular einer Spra-
che noch die Überzeugungen einer Person aber bilden eine Totalität,
in das die Partikel eingepasst werden könnten wie die Teile eines Puz-
zles in das vollständige Bild. Ein solches Gesamtbild existiert hier
nicht und kann hier nicht existieren, da die Relationen, aus denen die
Elemente ihren Stellenwert erhalten, nur für die Subjekte eines Den-
kens und Sprecher einer Sprache bestehen. Dies bedeutet: sie sind al-
lein von innen - aus dem Vollzug des Denkens und Sprechens - als
verbindende und verbindliche Relationen erkennbar. Das gilt auch
gegenüber Dritten: Ich kann fremde Äußerungen und Gedanken nur
verstehen, wenn ich sie in den Haushalt meiner Sprach- und Welt-
kenntnis einordnen kann, wenn ich mich also meinerseits im Innern
einer Praxis des Sprechens und Überlegens aufhalte, wo es wiederum
kein überschaubares Ganzes gibt. Das so verstandene Ganze einer
Sprache oder eines Denkens ist ein leerer Begriff.
Folgt man diesen Beobachtungen, so zeigt sich, dass die konstitu-
tiven Beziehungen zwischen Begriffen und Überzeugungen nicht zwi-
schen Teilen und einem Ganzen bestehen, sondern aus Relationen,
95
die sie untereinander unterhalten. Die Kenntnis dieser Elemente ist
eine Kenntnis dessen, wie sie zueinander stehen - inwieweit sie ein-
ander enthalten, einander ausschließen oder einander stützen. Im Fall
konkreter Vorkommnisse dieser Elemente - also beim Verstehen von
Äußerungen und Argumenten - ist dies zugleich eine Kenntnis des-
sen, welche Verbindungen für das Erfassen ihrer spezifischen Bedeu-
tung relevant sind. Wenn ich einen Kochtopf kaufen möchte und er-
fahre, dass dieser Topf einen Boden aus Kupfer hat, so genügt es zu
wissen, dass es sich hier um ein Metall handelt, das die Wärme gut lei-
tet. So kann der Vorgang des Kochens beschleunigt und Energie ge-
spart werden. Kontrollieren kann ich diese Aussage, wenn ich zudem
um die rötliche Färbung von Kupfer weiß. Mit diesen Annahmen
über die Leitfähigkeit und die Farbe von Kupfer sind eine Vielzahl
weiterer Annahmen verbunden - über die Erhitzung anderer Stoffe,
über unterschiedliche Energiequellen, über Farbunterschiede usw.-,
aber es wäre ganz sinnlos, alleszu wissen oder wissen zu wollen, was
hiermit verbunden ist. Vieles Relevante zu wissen, muss hier strikt un-
terschieden werden von der Fähigkeit, alles Relevante zu wissen: denn
dies wäre überhaupt kein Wissen derart, wie es Sprecher einander zu-
schreiben und voneinander erwarten können. Denn etwas zu wissen
oder zu verstehen bedeutet, es vor einem Hintergrund als bedeutsam
erkennen zu können - vor einem Hintergrund, aus dem immer eini-
gesins Licht gerückt werden kann, aber niemals alles.
Hier zeigt sich außerdem, dass die konstitutiven Beziehungen, wie
sie zwischen Begriffen und Überzeugungen bestehen, nicht davon zu
trennen sind, wie die Sprecher einer Sprache zueinander stehen. Be-
griffe und Gedanken haben einen Gehalt nur gemäß der Rolle, in der
sie als Unterscheidung oder Aussage zählen. Dieses »als etwas zählen«
ist das Produkt einer kommunikativen Praxis, in der ein Ausdruck
oder eine Äußerung als verständlich oder unverständlich, berechtigt
oder unberechtigt aufgefasst wird. Wie Brandom in der Nachfolge
Wittgensteins überzeugend deuclich gemacht hat, sind die Beziehun-
gen, die Begriffe und Gedanken »untereinander unterhalten«, nicht
zu trennen von jenen, die denkende und sprechende Subjekte unter-
einander unterhalten. Ein moderater Holismus ist daher zugleich ein
sozialer Holismus. Der Stellenwert, den die jeweiligen Einheiten un-
tereinander haben und gewinnen, ist gebunden an jenen, den die Ver-
wender dieser Einheiten untereinander haben und gewinnen. Andere
oder auch sich selbst zu verstehen bedeutet, sich auf diese Verhältnis-
se zu verstehen. Es bedeutet kundig zu sein in Relationen des Folgerns
96
und Argumentierens, in denen die Medien des Denkens und Spre-
chens eine artikulierte Bedeutung und seine Gegenstände eine arti-
kulierbare Bedeutsamkeit gewinnen.
Auch hierbei handelt es sich um Zusammenhänge, die nur von in-
nen erkundet werden können - mit erneut unbestimmten Grenzen
der Reichweite und Relevanz dieses Wissens. In einer von Brandom
ausgehenden Überlegung zum Verhältnis von Überzeugungs-Holis-
mus und sozialem Holismus hat Michael Esfeld für die offene Reich-
weite holistischer Verhältnisse eine einleuchtende Formel nahegelegt.6
Holistische Beziehungen - und mit ihnen das, was verstanden werden
muss, wenn etwas verstanden werden soll - reichen nicht ad infini-
tum, sondern lediglich ad indefinitum. Dieser Vorschlag, der Kants
Strategie bei der Auflösung der Antinomien der theoretischen Ver-
nunft variiert/ resümiert die Position eines moderaten Holismus, der
die Fallstricke des radikalen und partiellen Holismus vermeidet. Er
macht die konstitutiven Beziehungen, die den Einheiten des Spre-
chens und Denkens einen bestimmten Inhalt verleihen, als Verbin-
dungen innerhalb eines insgesamt nicht bestimmbaren Verweisungs-
zusammenhangs deutlich. Da es eine kommunikative Praxis ist, in der
Ausdrücke und Überttugungen ihren Inhalt erhalten, erweist sich
auch die Reichweite ihrer Bestimmtheit als eine letzdich praktische
Frage. Denn es liege niemals ein für alle Mal fest, inwieweit man die
Überzeugungen eines anderen teilen oder überblicken muss, um eine
seiner Äußerungen zu verstehen. Es kann und darf offen bleiben, bis
zu welchem Punkt wir einander folgen und verstehen können (und
wollen). Statt »ad infinicum« - ins Unendliche - zu reichen, sind die
Vernetzungen des Denkens »ad indefinitum« - bis ins Unbestimmte
- artikuliert. Einen bestimmten Gehalt haben unsere Gedanken vor
dem Hintergrund einer unbestimmt weiten Verbindung mit anderen
Gedanken und mit den Gedanken anderer. Das genügt. Und wie
schon Wilhelm von Humboldt bemerkte- allein das macht unser ein-
sames wie gemeinsames Reden interessant.

6 M. Esfeld, Ein Argument für sozialen Holismus und Übeneugungs-Holismus, in:


Zeicscbrift für philosophische Forschung 54/2000, 387-407, bes. 398 L 405.
7 Kant, Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., B 540, B 549.

97
5. Ein unbestimmtes Ganzes

Auch Humboldt aber gehört zu denen, die gegen die Verlockung ei-
nes radikalen Holismus nicht vollständig gefeit waren. In der Einlei-
tung zu dem Kawi- Werkzeichnet er sein berühmtes Bild vom Ganzen
der Sprache: »Man kann die Sprache mit einem ungeheuren Gewebe
vergleichen, in dem jeder Teil mit jedem andren und alle mit dem
Ganzen in mehr oder weniger deutlich erkennbarem Zusammenhan-
ge stehen. Der Mensch berührt im Sprechen, von welchen Beziehun-
gen man ausgehen mag, immer nur einen abgesonderten Theil dieses
Gewebes, thut dies aber instinctartig immer dergestalt, als wären ihm
zugleich alle, mit welchem jener einzelne nothwendig immer in Über-
einstimmung stehen muss, im gleichen Augenblick gegenwärtig.«8
Trotz ihres extremen Gestus würde man diese Passagevöllig verfehlen,
läse man sie als Passierschein ins Reich eines rigiden Holismus. Zum
einen ist das Ganze, von dem Humboldt spricht, ein »ungeheures«
Gewebe, in dem die Sprechenden keinen gesicherten Ort zu finden
vermögen. Zum andern wird die Vorstellung einer vollständigen Er-
fassung des sprachlichen Zusammenhangs eindeutig als eine reflex-
hafte Fiktion des Verstehens gekennzeichnet. Im sprachlichen Han-
deln operiert der Mensch so, »als wären« ihm alleImplikationen des
eigenen und fremden Denkens »im gleichen Augenblick gegenwär-
tig«. Wie der Konjunktiv betont, ist dies aber keineswegs der Fall.
Diese von Humboldt ins Spiel gebrachte Fiktion einer vollständigen
Durchgestimmtheit des sprachlich artikulierten Geistes macht frei-
lich den Zauber deutlich, den die Volte des radikalen Holismus auch
auf diesen Autor ausübt. Dabei ist sprachliches Verstehen in Wahrheit
an keinerlei Fiktionen der Transparenz gebunden. Es bewegt sich in
Kontexten einer mehr oder weniger weit reichenden Bestimmtheit,
die nur in Horizonten der Unbestimmtheit ihre jeweilige Deutlich-
keit gewinnt. Im ausgeleuchteten Umkreis des Geistes könnte dage-
gen überhaupt nichts deutlich werden.
Um etwas zu verstehen, müssen wir unbestimmt vieles verstehen:
Diesem Grundsatz weiß sich ein moderater Holismus verpflichtet.
Wie der Name sagt, ist auch dies eine Lehre von einem Ganzen.
»Ganzes« aber meint hier weder etwas Umfassendes noch etwas
Erfassbares, sondern - gut hermeneutisch - einen offenen Horizont
8 W. v. Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren
Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in: ders., Schriften
zur Sprachphilosophie, Darmstadt 1963, 446.
von Bezügen, vor dem jeder einzelne Ausdruck und jeder einzelne Ge-
danke eine hinreichend bestimmte Gestalt gewinnt. Dieses Ganze ist
überhaupt nur da, wo wir uns in seinen Verweisungen bewegen, und
das bedeutet: wo wir es sind, die diese Verweisungen auf eine unüber-
schaubare Weise erzeugen und verändern. Es ist das Produkt einer
forclaufenden Geschichte des kommunikativen Handelns, ein Pro-
dukt freilich, das sich selbst im Prozess dieses Austauschs fortwährend
wandelt. Diese doppelte Prozessualität von Sprache und Geist hat
Humboldt mit einer geradezu obsessiven Aufmerksamkeit verfolgt.
Lakonisch heißt es einmal: »Die Sprache ist gerade insofern objectiv
einwirkend und selbständig, als sie subjektiv gewirkt und abhängig
ist.«9 Und es ist kein Zufall, dass sich bei dem Hegelianer Brandom
Formulierungen finden, die sich cum grano salis in der konrinentalen
- von Charles Taylor im Blick auf Hamann, Herder, Hegel, Hum-
boldt und Heidegger einmal nachgezeichneten - H-Linie der Sprach-
philosophie vorgeprägt finden. 10 Seiner Auffassung zufolge, sagt
Brandom, »ist das Besondere und Bemerkenswerte der Sprache gera-
de die Weise, in der sie uns über unseren Kenntnisstand hinaus ver-
anlaßt, Verpflichtungen einzugehen, ohne daß wir wirklich verstehen,
wozu wir uns im einzelnen verpflichten. Das ist es, was es für uns
heißt, die Welt zu erfassen: Über sie zu sprechen und etwas über sie
auszusagen. Indem wir Worte so benutzen, wie wir sie benutzen, kön-
nen wir Verpflichtungen eingehen, deren Konsequenzen wir nicht im
Ganzen überschauen können.« 11
Trotzdem sind es natürlich unsere Festlegungen, durch die wir so
festgelegt werden. Etwas Bestimmtes zu sagen - und also: sich im
Denken und Handeln auf etwas Bestimmtes festzulegen - bedeutet
nun einmal, sich auf Möglichkeiten einzulassen, die nicht erst durch
diese Handlung geschaffen wurden. Wie für das sprachliche, so gilt
dies für alles übrige Tun. Die Bedingtheit eines freien Tuns - und da-
mit zugleich: die Freiheit dieses Tuns - wird jedoch theoretisch ver-
fehlt, wenn ihm ein stillschweigender Ausgriff auf ein Unbedingtes
zugemutet wird. Bedingt und frei ist es vielmehr in einer Situation der
Offenheit und Unbestimmtheit der Möglichkeiten, in denen und zu
denen es steht. »Wenn ich etwas sage, mache ich einen Zug in einem
9 Ebd., 438.
IO C. Taylor, Bedeutungstheorien, in: ders., Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitli-
chen Individualismus, Frankfurt/M. 1992, 52-117,bes. 63 ff.
II R. B. Brandom, Von der Begriffsanalyse zu einer systemarischen Metaphysik. Inter-
view mit Susanna Sehellenberg, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47/,999,
wo5-I020, hier I013.

99
Spiel, und es liegt an mir, das zu tun oder nicht zu tun - zum Beispiel
zu sagen, etwas sei aus Kupfer. Aber es hängt nicht von mir ab, wofür
ich mich mit dieser Äußerung verpflichtet habe. Das ist eine Frage ih-
rer weiterreichenden Bedeutung.« 12 Alles, was wir sagen und denken,
reicht weiter als das, was wir zu sagen und denken vermögen, obwohl
diese Reichweiten nur ein weiterer Effekt der Kultur unseres Denkens
und Sprechens sind: dieses ebenso beunruhigende wie bei näherer Be-
trachtung beruhigende Faktum sollte ein philosophischer Holismus
nicht aus dem Auge verlieren.

12 Ehd., 1016.
IOO
6. Der Konstruktivismus und sein Schatten

Von nichts wimmelt unsere Zeit so sehr als von Konstruktivisten,


könnte man in Abwandlung eines Satzes aus der Vorrede von Jean
Pauls Vorschuleder Ästhetik sagen (der 1804 den »Ästhetikern« galt).
Kaum einer unter den Gebildeten glaubt noch an eine ready-made-
world, deren innere Verfassung ihrer Entdeckung harrt. In Ehren er-
graute Geographen legen ungefragt ein Bekenntnis zur Konstruiert-
heit ihrer Forschungsgegenstände ab, unter Anglisten gilt es als ausge-
macht, dass die Realität ein Machwerk kultureller Erzählungen ist,
Biologen überbieten sich darin, denen, die es ohnehin schon glaub-
ten, mit neu gewonnener Autorität zu versichern, bei der landläufig so
genannten »Wirklichkeit« handle es sich um eine Ausgeburt mensch-
licher Gehirne.
So nah ist der Konstruktivismus dem Common Sense noch nie ge-
wesen. Erreicht hat er ihn freilich nicht, und das wird er wohl auch
nicht schaffen. Der Eindruck, dass wir uns im Erkennen und Han-
deln nach den Dingen richten müssen, ist einfach zu stark, als dass wir
im Alltag - also dort, wo der Common Sense zu Hause ist - von der
Überzeugung lassen könnten, unsere zutreffenden Gedanken seien
eine Wiedergabe des Soseins der Dinge. Der alltägliche Realismus hält
dem grassierenden Konstruktivismus bisher noch stand. Für die phi-
losophische Theorie allerdings besagt das nicht viel. Denn sie ist meist
erfolgreicher damit gewesen, die Meinung der vielen zum Schein zu
erklären, als ihr im Großen und Ganzen Recht zu geben.
Hier aber ist eine Differenzierung nötig. Denn das zuletzt Gesagte
trifft nur auf den epistemologischenKonstruktivismus zu, der nach
allgemeinen Bedingungen der Erkennbarkeit von Wirklichkeit fragt.
In einem anderen Sinn nämlich hat der Konstruktivismus den Com-
mon Sense durchaus erobert. Ein Konstruktivismus des Sozialen ist
innerhalb wie außerhalb der Akademien weithin akzeptiert. Die Ge-
pflogenheiten und Regeln des gesellschaftlichen Verkehrs werden
nicht - wie in früheren Zeiten - als Ausdruck einer vorausliegenden
natürlichen oder göttlichen Ordnung, sondern als veränderbares
Menschenwerk verstanden. Die soziale Welt mit ihren Institutionen,
Organisationen, Haltungen, Rangordnungen usw. erscheint so als ein
durchaus künstliches Gebilde. Auch viele, die mit hartnäckigen an-
thropologischen Konstanten rechnen und insofern auch in Bezug auf
den Menschen als biologisches und kulturelles Wesen eine realistische
101
Einstellung haben, werden die weite Sphäre des Normativen kaum als
eine Reproduktion natürlicher Vorgaben ansehen wollen. Zwar gibt
es genügend Naturalisten, die das kulturelle Geschehen auf evolu-
tionäre Anpassungsleistungen zurückführen möchten, aber den all-
täglichen Verstand haben sie bis dato nicht auf ihrer Seite. Im norma-
len Leben unserer Breiten sind wir einerseits Konstruktivisten - und
sind es andererseits nicht.

Sowohl als auch (1)

Auch in der Wissenschaft kann man das eine und das andere sein. Die
Soziologen Peter Berger und Thomas Luckmann, die 1966 mit ihrem
Buch The Social Constructionof Realityden Anstoß zu einem mittler-
weile inflationären Jargon gegeben haben, enthalten sich in ihrer Ein-
leitung ausdrücklich einer Stellungnahme in Sachen eines philoso-
phischen Realismus oder Anti-Realismus. Der Philosoph John Searle,
der 1995 mit The Constructionof SocialRealitybeinahe denselben Ti-
tel wählte, offenbar ohne das Buch seiner Vorgänger zu kennen, ver-
tritt entschieden die These einer Konstruiertheit sozialer Tatsachen,
um mit gleicher Vehemenz die These einer Konstruiertheit der »rohen
Tatsachen« der Natur zu bestreiten. 1 Demnach ist die soziale Wirk-
lichkeit ein Erzeugnis kollektiver Praktiken und doch eine Wirklich-
keit, über die sich objektive Aussagen treffen lassen (wie zum Beispiel
darüber, dass der Euro fällt oder steigt). Diese gesellschaftliche Wirk-
lichkeit aber ruht nach Searle auf einer primären, von den Naturwis-
senschaften thematisierten Wirklichkeit, die unabhängig von unse-
rem Erkennen und Handeln besteht. Je nach Gegenstand des Erken-
nens, würde das bedeuten, sollte man entweder Konstruktivist oder
aber Realist sein. Der soziale Konstruktivismus wäre somit vereinbar
mit einem philosophischen Realismus.
Dass Konstruktivismus und Realismus vereinbar sein können, ist
auch eine der Thesen des kanadischen Philosophen Jan Hacking, von
dem die bislang ausführlichste Studie zur konstruktivistischen Mode
stammt. 2 Hacking schlägt zwei Unterscheidungen vor, die für die Ein-
1 P. L. Berger/Th. Luckmann, Die gesellschafi:liche Konstruktion der Wirklichkeit,
Frankfurt/M. 1970; J. R. Searle, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklich-
keit, Reinbek 1997.
2 I. Hacking, The Social Construction ofWhat?, Cambridge/Mass. 1999; eine gekürz-
te Ausgabe ist im selben Jahr unter dem Titel "Was heißt ,soziale Konstruktion,?« in
Frankfurt/M. erschienen.
102
schätzung der Diskussionslage äußerst hilfreich sind. Das ist zum ei-
nen die Unterscheidung zwischen einem »interaktiven« und einem
»theoretischen« Konstruktivismus. Interaktiv sind konstruktivistische
Theorien, die auf ihren Gegenstandsbereich zurückwirken können -
und nicht selten auch: in einem politischen Sinn auf ihn einwirken
sollen. Die Erkenntnis, dass Geschlechterrollen »sozial konstruiert«
sind, kann eine Veränderung des Verhaltens der Geschlechter bewir-
ken; Erkenntnisse über die Identität von Quarks hingegen haben auf
deren Verhalten keinen Einfluss. Während die Klassifikationen der
Sozialwissenschaften interaktiv sind, sind es die der Naturwissen-
schaften in der Regel nicht. Hieran schließt sich eine zweite Differenz
an. In der Diskussion über die Spielarten des Konstruktivismus, sagt
Hacking, muss deutlich zwischen dem »Gegenstand« einer Konstruk-
tion und der »Idee« dieser Konstruktion unterschieden werden. Beide
Begriffe gebraucht Hacking in einem weiten Sinn. »Gegenstand« ist
das, was jeweils (vermeintlich oder tatsächlich) konstruiert wird- ob
das nun Krankheiten, Geschlechterverhältnisse oder Elementarteil-
chen sind. »Idee« dagegen meint das Medium, durch das die Kon-
struktion jeweils (erhellend oder verstellend) erfolgt- mögen das nun
Begriffe, Einstellungen oder Theorien sein. Diese zweite Unterschei-
dung nun setzt Hacking ein, um die Grenzen jedes Konstruktivismus
deutlich zu machen - Grenzen, die sowohl die Welt des Sozialen als
auch die Welt der Natur betreffen.
Was innerhalb eines Baseballspiels als ein »Wurf« oder ein »Schlag«
zähle, ist sozial konstruiert, denn ohne die Regeln - in Hackings Wor-
ten: ohne die »Idee«-dieses Spiels gäbe es keine erfolgreichen oder er-
folglosen Aktionen dieser Art. Aber die einzelnen Würfe oder Schlä-
ge - also die »Gegenstände« des Baseballspiels - sind durchaus real.
Die soziale Konstruktion einer Sportart schafft Tatsachen, die es nur
zusammen mit dieser Konstruktion gibt. Aber die so geschaffenen Er-
eignisse sind ihrerseits keine Konstruktionen, sondern Bewegungen
von Schlägern und Flugbahnen von Bällen. Mit den Gegenständen
der Naturwissenschaften, sagt Hacking mit einem Seitenblick auf die
von Alan Sokals Parodie auf konstruktivistische und dekonstruktivis-
tische Theorien ausgelöste Debatte 3, verhält es sich noch einmal an-
ders. Die Gegenstände der Naturwissenschaften bestehen unabhän-
gig von den kulturellen Praktiken ihrer Erkenntnis; sie sind keine
menschlichen Konstruktionen und verdanken sich keiner. Zur Er-
3 Sc.Weinberg, SokalsExperiment, in: Merkur 5r/r997, 30-40; A. Sokal/J. Bricmont,
Eleganter Unsinn, München 1999.
103
kenntnis dieser Gegenstände freilich bedarf es einer erheblichen sozia-
len Konstruktion - derjenigen, die wir pauschal »die Naturwissen-
schaften« nennen. Dass dies eine kulturelle Veranstaltung ist, bedeu-
tet aber nicht, dass auch die Objekte dieser Veranstaltung es wären.
Auch diejenigen, die neuerdings behaupten, naturwissenschaftliche
Tatsachen seien das Ergebnis einer »sozialen Konstruktion«, Hacking
nennt Forscher wie Karin Knorr-Cetina, Andrew Pickering und Bru-
no Latour, sollten dies beachten. Konstruiert sei die jeweilige Klassifi-
kation von Gegenständen, nicht aber die erfolgreich klassifizierten Ge-
gemtände. Die naturwissenschaftliche Erhebungvon Tatsachen, nicht
aber die so erhobenen Tatsachenseien Produkte menschlicher Praxis.
»Alle diese Ideen haben wie jede andere Idee auch ihre Geschichte,
und sie haben verschiedene Arten von Geschichte, darunter auch eine
Sozialgeschichte. Doch die Quarks, die Gegenstände selbst, sind kei-
ne Konstrukte, sie sind weder gesellschaftlich noch geschichtlich be-
dingt. «4

Starker Realismus

Alle Erkenntnis des Wirklichen, nicht aber alles als wirklich Erkann-
te ist unausweichlich konstruktiv. Mit diesem einleuchtenden
Schiedsspruch aber fangen die Probleme erst an. Denn jetzt steht das
Verhältnisvon Realität und Erkenntnis auf dem Plan, das seinerseits
konstruktivistisch oder realistisch gedacht werden -kann.
Auf den ersten Blick liegt eine realistische Deutung des salomoni-
schen Spruchs nahe. Eine solche findet man in dem Buch von Searle.
Searle legt dar, dass von Konstruktionen nur die Rede sein kann, wenn
man zugleich annimmt, dass es einen Bereich des Wirklichen gibt, der
sich keiner wie immer gearteten Konstruktion verdankt. Dies ist die
vom Menschen unabhängig bestehende Realität, deren Erforschung
sich die Naturwissenschaften zur Aufgabe machen. Jedoch dürfen wir
diese »ohnehin« bestehende Wirklichkeit nicht mit der von der Phy-
sik, Chemie und Biologie jeweils erkanntenWirklichkeit identifizie-
ren. Denn dann würden wir die von unserem Erkennen unabhängige
Realität mit dem Stand unserer Forschung gleichsetzen - und sie da-
mit in Abhängigkeit von unserem Erkennen setzen. Entsprechend,
sagt Searle, muss die ontologische Frage nach dem Begriff der Realität
von der erkenntnistheoretischen Frage nach ihrer Erkennbarkeit als
4 Hacking, Was heißt >sozialeKonstruktion,?, a.a.O., 46.

104
Realität freigehalten werden. Will er diese Konfusion vermeiden, darf
sich ein philosophischer Realismus weder anmaßen zu sagen, wie die
Welt im Innersten beschaffen ist, noch darüber Auskunft geben, ob
und wie sie sich unserem Erkennen offenbart. Ei muss sich damit be-
gnügen, unseren Alltagsverstand in der Annahme zu bestärken, dass
es eine von unserem Denken und Handeln unabhängige Realität gibt,
die der Gegenstand der naturwissenschaftlichen Forschung und dar-
über hinaus die Basis aller sonstigen Konstruktionen ist. Searles The-
se lautet daher, »daß es eine Seinsweise der Dinge gibt, die von allen
menschlichen Repräsentationen logisch unabhängig ist. Der Realis-
mus sagt nicht, wie die Dinge sind, sondern nur, daß es eine Seins-
weise der Dinge gibt.« 5
Man muss sich den letzten Satz auf der Zunge zergehen lassen. Der
Realismus wird hier auf die Annahme einer »Seinsweise«(»a way that
things are«, wie es im Original heißt) festgelegt, die von jedem Bezug
auf die Frage ihrer Erkennbarkeit abgelöst sein soll. Diese innere Ver-
fassung der Welt hat nach Searle nichts mit der Möglichkeit ihrer Er-
fassung zu schaffen. Dennoch soll das allem zugrunde liegende Sosein
eine bestimmte Seinsweise sein. »Die wirkliche Welt kümmert sich
nicht darum, wie wir sie beschreiben, und bleibt unter den vielen ver-
schiedenen Beschreibungen, die wir von ihr geben, dieselbe.«6 Es
bleibt aber völlig unklar, wie diese Selbigkeit gedacht werden soll.
Denn die Bestimmtheit von etwas lässt sich nicht ohne die Möglich-
keit der Bestimmung dieses Bestimmten denken. Indem Searle an-
nimmt, dass es eine feststehende Verfassung des Seienden gibt, denkt
er diese insgeheim doch von der Möglichkeit einer ultimativen Be-
schreibung her, die sie genau so erfassen würde, wie sie tatsächlich ist.
Damit aber kommen alle die erkenntnistheoretischen Fragen durch
die Hintertür wieder herein, die er gerade durch die Vordertür hin-
auskomplimentiert hatte. Wider Willen begeht er eben den Fehler,
den er um jeden Preis vermeiden wollte: die Verfassung der Welt von
der Möglichkeit ihrer Erfassung her zu denken.

5 Searle, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, a.a.O., 165.


6 Ebd., 173.
Kantischer Konstrukivismus

Aber vielleicht ist das gar kein Fehler - wenn man ihn nur richtig
macht. Schließlich ist es eine der weitreichenden Einsichten der Kri-
tik der reinen Vernunft,dass zwar die Realität unabhängig von ihrer
Erkenntnis, nicht aber der Begriffder Realität unabhängig von einem
Begriff ihres Begreifensals Realität gedacht werden kann. Keiner hat
die von Hacking angemahnte Differenz zwischen Begriff und Gegen-
stand penibler beachtet als Kant. Die Gegenstände der empirischen
Welt, darin stimmt Kant dem Alltagsverstand und seinen Anwälten
zu, haben ihr Sein unabhängig davon, ob und wie wir dieses erken-
nen. Aber was es heißt, dass Gegenstände diese oder jene Verfassung
haben, diese Frage lässt sich nur zusammen mit der Frage nach der
Möglichkeit ihrer Erkennbarkeit erörtern. Der Begriff der Realität
verweiseauf den Begriff ihrer Erkennbarkeitals Realität. Dass wir über
den erkennenden Zugang zur Realität sprechen müssen, wenn wir
über die Verfassung der Realität sprechen, zeigt sich nirgends deutli-
cher als dort, wo wir einen Begriff der nackten oder - wie es bei Searle
heißt - »rohen« Wirklichkeit zu fassen versuchen.
Das ist der plausible Kern des Gedankenexperiments mit den
»Dingen an sich«. Dies wären Dinge, heiße es in der Kritik der reinen
Vernunft,»ohne Rücksicht darauf, ob und wie sie uns gegeben sein
mögen«.7 Die Betonung liegt auf dem »uns«. Denn auch die »Dinge
an sich«, was immer das wäre, können nicht anders gedacht werden
als so, wie sie Erkenntnissubjekten einer anderenArt gegeben sein
könnten. (Kant stellt sich vor, dass sie nicht wie unsereins auf sinnli-
che Erfahrung angewiesen wären.) Jeder Begriff des Seins, das ist die
Moral dieser Überlegung, verweist auf einen Begriff seines Gegeben-
seins. Dies bedeutet jedoch nicht, dass nur das wirklich wäre, was uns
im Erkennen faktisch zugänglich ist; vielmehr zeichnet sich alles
Wirkliche gerade durch eine weitgehende Unterbestimmtheit und
Unbekanntheit aus. Wieder erweist sich hier die Differenz zwischen
Begriff und Gegenstand als ausschlaggebend. Dass wir die von uns er-
zeugten Begriffe verwenden müssen, um etwas in seinem Sosein zu er-
kennen, bedeutet nicht, dieses Sein selbst sei ein Erzeugnis unserer
Begriffe.8

7 1. Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werke, hg. v. W. Weischedel, Frank-
furc/M.1968, Bd. III, B 179.
8 Nach Kants eigener Darlegung in dem Abschnitt über die Differenz zwischen phä-
nomenaler und noumenaler Welt ist der Gedanke eines Dings an sich an den Ge-

106
Es ist einfach so, dass unsere Begriffe Konsequenzen haben, die sich
nur zusammen mit dem ergeben können, wofür sie aufschlussreiche
Begriffe sind. Ein Objekt wie die Erde ist rund unabhängig davon, ob
irgendjemand irgendwann merkt, dass es so ist. Aber dass ein solches
Objekt die Bestimmtheitdes Runden hat, ist nicht unabhängig davon,
dass irgendwer über das Prädikat »rund« verfügt, mit dem Rundes
vom Eckigen, Ovalen, Platten und Zerdellten usf. unterschieden wer-
den kann. Rundheit existiert nicht unabhängig von der Möglichkeit
der Prädizierung von etwas als »rund«. Dasselbe gilt für die Unter-
scheidung von Bäumen und Büschen. Auch diese ist nicht »da
draußen« irgendwo vorgeschrieben; aber die beteiligten Begriffe grei-
fen nur (mit den Vagheiten, die zu solchen Begriffen gehören), wenn
ihnen sachlich etwas entgegenkommt. Was die Verfassung von etwas
ist, ergibt sich allein zusammen mit den Konstruktionen, mit denen
wir Aspekte seines Soseins herauszufinden versuchen. Der von unse-
rem Machen unabhängige Teil der Welt sieht kein bestimmtes Be-
schriebenwerden vor; er antwortet auf unsere Beschreibungen, indem
er bei entsprechender Unterscheidung und Untersuchung die von uns
entworfenen Charaktere zeigt - oder eben nicht zeigt. So sehr die Dif-
ferenzen, die wir dabei entdecken, unabhängig von unserer Praxis der
Differenzierung bestehen, als fixierbare Differenzen können sie nur
innerhalb dieser Praxis erkennbar werden oder, wie Kant gesagt hätte,
»ersch~inen«.So oder so, es sind unsereBestimmungen, die es möglich
machen, uns von Aspekten der Realität bestimmen zu lassen.
Kant gilt als der Urvater der heutigen Konstruktivisten, und das
ganz zu Recht, aber er taugt ebenso gut zum Ahnherrn aufgeklärter
Realisten. Gegen diese Einschätzung hätte er kaum etwas einzuwen-
den gehabt. Denn indem er den Konstruktivismus erfand, wollte er
die Alternative zwischen Konstruktivismus und Realismus gegen-
standslos machen.

Radikaler Konstruktivismus

Dieser moderate »Kantische Konstruktivismus« ist natürlich nicht


mehr als eine historisch und systematisch umstrittene, von Autoren
wie Peter F. Srrawson und Hilary Purnam favorisierte Lesart der Kri-
danken der umfassenden Erfassung eines Gegenstands oder aller Gegenstände ge-
bunden - aber dies ist ein genau genommen unverständlicher Gedanke, wie Kant
selbst einzuräumen bereit ist.

107
tik der reinenVernunft.Diese Lesart trifft bei denen auf Skepsis, die ein
Faible für radikale Lösungen haben und erst recht bei denen, die glau-
ben, dass die Philosophie ein solches Faible ist. Auch diejenige Spiel-
art eines theoretischen Konstruktivismus, die sich als »Radikaler Kon-
struktivismus« bekannt gemacht hat, kann sich als eine Deutung der
Theorie Kants präsentieren. Die Zusammenführung von Konstrukti-
vismus und Realismus muss ihr als ein fauler Kompromiss erscheinen.
Anstatt auf halbem Weg stehenzubleiben, möchte sie mit nietzschea-
nischer Verve reinen Tisch machen. Der Anstoß kommt diesmal nicht
allein von den Naturwissenschaften, sondern von Naturwissenschaft-
lern - vorwiegend von Biologen, die die in der Neurophysiologie ge-
wonnenen Ergebnisse philosophisch ernst nehmen wollen. Propagiert
von den Kommunikationswissenschaftlern Siegfried J. Schmidt und
Gebhard Rusch haben die Arbeiten von Humberto R. Maturana,
Francisco J.Varela, Gerhard Roth und anderen überall dort große Be-
achtung gefunden, wo der Gedanke der Fiktionalitäc des Wirklichen
nicht als beklemmende, sondern als befreiende Botschaft aufgenom-
men wurde. 9
»Wenn eine Erkenntnis objektive Realität haben, d.i. sich auf einen
Gegenstand beziehen, und in demselben Sinn und Bedeutung haben
soll«, schreibt Kant in der Kritik der reinen Vernunft,»so muß der Ge-
genstand auf irgend eine Art gegeben werden können.« 10 Wodurch
aber, so fragt die neuere Hirnforschung, sind uns Gegenstände ir-
gendeiner Art gegeben? Sie sind uns, so werden wir belehrt, nicht
durch »die Sinne« gegeben, wie Kant mit der empiristischen Traditi-
on annahm, sondern durch die Steuerungsleistungen des Gehirns. Es
verarbeitet physikalische und chemische Nervenreize, die durch die
Umwelt eines lebenden Systems verursacht wurden. Diese neurona-
len Impulse enthalten jedoch keinerlei Information über qualitative
Unterschiede, also über Sinnesqualitäten dieser oder jener Art; sie un-
terscheiden sich allein in ihrer Intensität. Erst durch die Zuordnung
im Gehirn wird dieser neutrale neuronale Code dazu verwendet, jene
qualitativen Differenzen herzustellen,die wir in unserer verbalen Spra-
che als Sinneseindrücke und Sinnesqualitäten unterschiedlicher Art
beschreiben. Hierin liegt die informationelle »Geschlossenheit« le-
bender Systeme - jene »autopoietische« Organisation des Lebendi-

9 S. J. Schmidt (Hg.), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, Frankfurt/M.


1987; ders. (Hg.), Kognition und Gesellschaft. Der Diskurs des radikalen Konstruk-
tivismus 2, Frankfurt/M. 1992.
ro KdrV B 194.
ro8
gen, die alle für den Organismus lebenswichtigen Informationen
selbst erzeugt. Also, folgern die Vertreter des Radikalen Konstrukti-
vismus, ist das, was uns als Wirklichkeit unseres Lebens erscheint,
nichts weiter als eine Konstruktion unseres Gehirns. Für Gerhard
Roth ist dies eine natürliche Konsequenz aus dem Stand der biologi-
schen Forschung: »Daß die Wirklichkeit ein Konstrukt ist, läßt sich
empirisch gut nachweisen.«11
Ich möchte mir an dieser Stelle den obligatorischen Aufschrei
ersparen, dass man doch um Himmels willen auf erkenntnistheo-
retische Fragen keine empirischen Antworten geben könne. Auch
die Hypostasierung des Gehirns zu einem umsichtigen Handlungs-
subjekt soll uns hier nicht kümmern. Denn es steht ja außer Zweifel,
dass das Gehirn ein höchst konstruktiv verfahrendes Organ ist. Die
Frage ist nur, ob der Schluss von der Konstruktivität des Erkennens
auf die durchgehende Konstruiertheit des Erkannten tatsächlich
zulässig ist.
Die Antwort ist negativ. In einer ebenso kenntnisreichen wie un-
nachgiebigen Abhandlung hat Ulf Dettmann den Fehlschluss auf-
gedeckt, der in diesem nahtlosen Übergang vom Erkennen auf das
Erkannte liegt (der im Übrigen auch die kulturrevolutionären Ambi-
tionen des Radikalen Konstruktivismus beflügelt).12 Dettmann be-
streitet die These der autopoietischen Verfassung lebendiger Organis-
men. Aus der Neutralität des neuronalen Codes folgt nicht die Indif-
ferenz des Gehirns gegenüber Ereignissen der objektiven Welt.
Entscheidend ist vielmehr, dass zwischen inneren und äußeren Ereig-
nissen eine »Kovarianz«besteht, die es erlaubt, einen kausal gesteuer-
ten Bezugzwischen Umweltereignissen und ihrer neuronalen Reprä-
sentation zu gewährleisten. »Um einen informationellen Zugang zur
Realität zu besitzen, muß ein lebendes System aber keinen direkten
Zugang zu ihr besitzen und auch nicht die Qualitäten von Reizen co-
dieren und decodieren können, sondern es muß über Repräsentatio-
nen dieser Realität verfügen, die als Indikatoren für Eigenschaften
dieser Realität fungieren können.« 13 Welcher Art diese Repräsentatio-
nen sind, ob es sich um rein sensorische Indikatoren oder um bedeu-
tungshafre Zeichen einer verbalen Sprache handelt, ist für das Argu-
ment unerheblich. »Daß ein Nervensystem nur die Einheitssprache
elektrischer Signale versteht, muß genausowenig bedeuten, daß es
n G. Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, rrankfurt/M. 1994, 281.
12 U. Dettmann, Der Radikale Konstruktivismus, Tübingen 1999.
13 Ebd., 165.
109
keine Informationen über die Umwelt des betreffenden lebenden Sy-
stems übermitteln kann, wie es für die Einheitssprache elektrischer
Leitungen in einem Auto bedeuten muß, daß sie dem Fahrer keine In-
formationen über bestimmte Zustände seines Autos übermitteln
könnten.« 14
Es verhält sich unter diesem Aspekt mit der neuronalen »Sprache«
nicht anders als mit der verbalen Sprache auch: Die Arbitrarität ihrer
Elemente tut der Prägnanz ihrer Darstellungen keinen Abbruch. Das
Medium, in dem Wirklichkeit dargestellt wird, muss selbst kein Ab-
bild der Wirklichkeit sein, die in ihm dargestellt werden kann. Den-
noch kann es eine informative Darstellung nur leisten, wenn es sich
auf Zustände und Vorgänge zu beziehen vermag, die nicht lediglich
seine eigenen Effekte sind. So gewiss die Informationen, die das Ver-
halten eines Organismus steuern, seine Erzeugungen sind, so gewiss
sind es extern stimulierte Erzeugnisse, die nur aus dem kausalen Zu-
sammenspielvon System und Umwelt den Status von Informationen
erhalten können. Von einer Geschlossenheit informationeller Syste-
me kann daher keine Rede sein.
Nach Dettmanns Darlegung liefern also gerade die neurophysiolo-
gischen Befunde keinen Beleg für die These, die Wirklichkeit, in der
wir leben, sei insgesamt ein »Konstrukt des Gehirns«. 15 Schwer zu be-
gründen ist diese Auffassung ohnehin. Schließlich kann das Gehirn,
das sich seine eigene Wirklichkeit konstruiert, nicht selber Marke Ei-
genbau sein. Bereits Schopenhauer hatte seine liebe Mühe damit,
plausibel zu machen, dass die Welt zwar im Kopf, zugleich aber der
Kopf in der Welt ist. Dem Radikalen Konstruktivismus geht es nicht
besser. Wie bei Schopenhauer feiere auch bei Gerhard Roth das Ding
an sich ein triumphales Comeback; es soll helfen, den Kopf aus der
theoretischen Schlinge zu ziehen. »Die Paradoxie, daß mein Gehirn
ein Teil der Welt ist und sie gleichzeitig hervorbringt, wird durch die
Unterscheidung zwischen realem und wirklichem Gehirn gelöst.«16
Die phänomenale Welt erscheint so als ein Erzeugnis des Gehirns, das
seinerseits einer transphänomenalen Welt angehört, die freilich prin-
zipiell unerkennbar bleibt. Das Ergebnis ist eine Zweiweltenlehre
ganz neuer Art. »Dasjenige Gehirn, das mich selbst hervorbringe, ist
mir selbst unzugänglich, genauso wie der reale Körper, in dem es
stecke, und die reale Welt, in der der Körper lebt. Daraus folgt zu-

14 Ebd.
15 Roch, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, a.a.O., 19.
16 Ebd., 325.
IIO
gleich: Nicht nur die von mir wahrgenommenen Dinge sind Kon-
strukte in der Wirklichkeit, ich selbstbin ein Konstrukt.«17
Während Kants Rede von den »Dingen an sich« in der moderaten
Lesart ein reines Gedankenexperiment darstellt, das klären soll, was
»empirische Realität« vernünftigerweise heißen kann, schrumpft die
Unterscheidung von Realität und Wirklichkeit hier zu einem ver-
zweifelten Postulat, mit dem der Verfasser aus der geschlossenen An-
stalt des eigenen Systems auszubrechen versucht. Ein prinzipiell un-
erkennbares Ansieh aber ist nichts weiter als ein Irgendwie und Ir-
gendwas, ein bloßer Notbehelf, ein Begriff, der per definitionem nicht
geklärt werden kann - ein Unding im strengsten Sinn des Wortes. Zu-
dem bindet es den Radikalen Konstruktivismus paradoxerweise an ei-
nen extremen Realismus. Eigentlich möchte Roth gegen Platon argu-
mentieren und ihm nüchtern entgegenhalten: »Die Wirklichkeit ist
die einzige Welt, die uns zur Verfügung steht.« 18 Aber da er auf die Ge-
schlossenheit erkennender Systeme fixiert ist, kann er dies nur vor-
bringen, indem er mit Platon eine tiefere Realität annimmt, zu deren
Erkenntnis man freilich nicht allein schwer, sondern überhaupt nicht
gelangen kann. Wie jede Philosophie, die Platon in Bausch und Bo-
gen überwinden will (oder allgemeiner: wie jede, die eine ältere nur
vom Kopf auf die Füße stellen möchte), bleibt der Radikale Kon-
struktivismus an die Position gefesselt, für deren Überwindung er sich
hält. Wie Ian Hacking richtig bemerkt, hat der universelle Konstruk-
tivismus, der alles Wirkliche zum kognitiven Machwerk erklärt, »bis-
lang noch nicht seinen Berkeley gefunden, der dies kunstgerecht dar-
legen könnte«. 19

Interpretationsphilosophie

Aber man soll die Hoffnung nicht aufgeben. Es bezeichnet recht ge-
nau das Programm der »Interpretationsphilosophie« Günter Abels,
einen Konstruktivismus zu vertreten, der nicht die Leiche seines Ge-
genteils im Keller versteckt halten muss. 20 Den Gedanken einer an-
sichseienden Welt hält Abel für »nicht explizierbar«. Er sieht sehr
klar, dass eine solche innere Bestimmtheit der Welt nur zusammen
17 Ebd., 293.
18 Ebd., 297.
r9 Hacking, Was heiße ,soziale Konscrukrion,?, a.a.0., 46.
20 G. Abel, lnterpretationswelren, Frankfurc/M. 1993; ders., Sprache, Zeichen, Inter-
pretation, Frankfurt/M. 1999.
III
mit ihrer absoluten Bestimmung gedacht werden kann; dies aber ist
eine widersinnige Vorstellung, da - omnis determinatio est negatio-
alles Bestimmen seiner Natur nach ein beschränkendes Erfassen ist.
In dieser Lage bleibt für Abel nur eine konsequente Reflexion auf das
übrig, was uns als Wirklichkeit zugänglich ist, oder genauer: auf das,
was aus der Perspektive als endlicher erkennender Wesen, die wir
nun einmal sind, als Wirklichkeit überhaupt zugänglich sein kann.
»Das Äußerste, zu dem wir vorzudringen vermögen, ist unsere Le-
benspraxis, die aufgrund ihres perspektivischen, konjekturalen, kon-
struktionalen, ein- und auslegenden, kurz ihres interpretativenCha-
rakters als Interpretations-Praxis gefaßt werden kann.« 21 Interpretati-
vität erscheint so als »Grundcharakter menschlicher Welt-, Fremd-
und Selbstverhältnisse«.22 Da die Größen der Welt, des Selbst und
der Anderen außerhalb solcher Verhältnisse nicht fassbar sind, er-
scheint es nur natürlich zu sagen: *Existenz ist letztlich interpreta-
tiv.«23
Diese Theorie kulminiert in einem »Satzder Interpretation«, der da
lautet: »Alles,was ,ist,, ist Interpretation und Interpretation ist alles,
was ,ist,.«24 Diese Sentenz liest sich wie die Zauberformel eines Kon-
struktivismus ohne schlechtes Gewissen. Entsprechend beeilt sich
Abel, den Eindruck einer blanken Identität von »Sein«und »Interpre-
tation« zu zerstreuen. Über »Sein« oder »Realität« als solche soll viel-
mehr gar nicht länger gesprochen werden; nur von dem der mensch-
lichen Praxis zugänglichenSein könne in der Philosophie die Rede
sein. Alles aber, was uns irgendwie zugänglich ist, ist durch uns stets
schon irgendwie bestimmt - seine Wirklichkeit verdankt sich einer
vorausgehenden Leistung der Interpretation. Jedes bestimmte Sein,
jede »So-und-so-Welt«, folgert Abel, ist das Ergebnis einer interpreta-
tiven Konstruktion. »Jede individuierte wirkliche Welt ist interpre-
tierte Welt, ist Interpretationswelt.« 25
Auf diese Weise wird der Begriff der Wirklichkeit mit dem einer
»So-und-so-Welt« gleichgesetzt, genauer mit einer Pluralität solcher
Welten. 26 Wenn Abel daher von dem »ursprünglich-konstruktiona-
21 Abel, Sprache, Zeichen, Interpretation, a.a.O., 59.
22 Ebd., 15 f.
23 Ebd., 45.
24 Zuerst in: G. Abel, Nominalismus und Interpretation, in: J.Simon (Hg.), Nietzsche
und die philosophische Tradition, Bd. II, Würzburg 1985, 60; zum Folgenden vgl.
Abels erneuten Kommentar, in: ders., Sprache, Zeichen, Interpretation, a.a.O., 57-
64.
25 Abel, Sprache, Zeichen, Interpretation, a.a.O., 59.

Il2
len« Interpretationscharakter »eines jeden Welthabens« spricht27, so
ist hierin die Differenz zwischen »Welthaben« und »Welt«absichtsvoll
getilgt. Welt und Weltbezug sind eins geworden - wie es bei einem
Konstruktivismus nicht anders sein kann, der mit dem esseest inter-
pretari einmal wirklich Ernst machen will. Wir können, sagt Abel,
über die Welt nur so sprechen, dass wir über unser Welthaben spre-
chen - also ist Welt, über die man verständlich reden kann, nichts an-
deres als eine Vielfalt von Weisen, Welt zu haben. Der recht verstan-
dene Satz der Interpretation klärt darüber auf, dass mit ihm »die ganze
Dichotomie von ,wahrer Wirklichkeit< und ,bloßem Schein, zurück-
gelassen und der Boden der Interpretationsverhältnisse betreten
wird.« 28
Die entscheidende Operation ist auch hier wieder die Reduktion
des Seins auf ein Sosein. Anders als Searle aber nimmt Abel diese Re-
duktion mit voller Absicht vor; zudem wird das Wirkliche diesmal
nicht als ein letztes Sosein, sondern als eine Pluralitätvon Seinsweisen
(unterschiedlicher kategorialer Stufen 29 ) gedacht. Der richtige Ge-
danke, dass von einem Sosein nur unter Rückgriff auf ein wenigstens
mögliches Bestimmtsein gesprochen werden kann, wird scheinbar
zwanglos fortgeführt zu der Behauptung, dass »Sein« nur als »Be-
stimmtsein« zu denken ist. Gerade das aber folgt nicht. Denn der Be-
griff des Wirklichen ist nicht an den ihres Bestimmtseins,sondern le-
diglich an den ihrer Bestimmbarkeitals Wirklichkeit gebunden. Wirk-
lichsein bedeutet bestimmbar zu sein, ohne doch bestimmt zu sein -
ohne allein auf unsere Bestimmungen festgelegt zu sein.
Abel selbst kommt diesem Befund nahe, wo er über die »interne Al-
terität« alles Wirklichen spricht. Gemeint ist, dass es keine ab-
schließenden Bestimmungen geben kann, da alles, was so und so be-
stimmt worden ist, mag es auch für seinen Zweck zutreffend be-
stimmt worden sein, grundsätzlich anders hätte bestimmt werden
können. Das ist der Grund, warum Wirklichkeit für Abel nicht mit
einem Sosein gleichgesetzt werden darf. Konsequent gedacht aber
müsste folgen, dass Wirklichkeit auch nicht mit diesemoderjenem So-
sein zu identifizieren ist. Sie darf mit überhaupt keinem Sosein gleich-
gesetzt werden. Sie darf es nicht, weil sie unter unbestimmt vielen ver-
schiedenen Aspekten stets so oder anders erfasst werden kann. Darin

26 Vgl. ebd., 209-216.


27 Ebd., 51.
28 Ebd.
29 Zu diesen Stufen vgl. Abel, Interpretationswelten, 14 ff. u. 340-349.

II3
ist sie bestimmbar, aber niemals abschließend bestimmt. Wer also die
Alterität von Wirklichkeitskonstruktionen ernst nehmen möchte,
müsste auch bereit sein, die Alterität des Wirklichen ernst zu nehmen.
Diese Konsequenz aber weigert sich Abel zu ziehen. Denn er ist der ir-
rigen Ansicht, die mit ihr ins Spiel gebrachte Differenz von gedeute-
ter und ungedeuteter Welt sei ein Wiedergänger des ontologischen
Unterschieds zwischen der ansichseienden »wahren« und der füruns-
seienden scheinhaften Welt. Deswegen zieht er sich darauf zurück, al-
les Sein in ein »Ansehen« zu verwandeln, damit nur ja keine Differenz
zwischen Sein und Erfasstsein bestehen bleibt. Auf diese Weise werde
deutlich, »daß es nicht um Seins-, sondern um Interpretationsver-
hältnisse geht«.30
Es geht aber um beides. Wer Sein durch Ansehen ersetzt, verliert
den Sinn für die Alterität dessen, was da angesehen wird. Wer die Al-
terität des Wirklichen in eine Alterität seiner Interpretation verwan-
delt, verliert jeden prägnanten Begriff dieser Alterität. Ein solcher Be-
griff der Alterität - und mit ihm: ein prägnanter Begriff des Wirkli-
chen - liegt aber weder in dem Glauben an eine absolute Seinsweise
noch in dem Glauben, alles Sein sei ein durch Interpretation erzeugtes
Sosein. Denn wirklich ist nur, was so und anders ist. Es ist so, wie es
von zutreffenden Bestimmungen erfasst wird und darüber hinaus so,
wie es von anderen Bestimmungen (seien es nun unsere oder die an-
derer) erfasst werden könnte - und darüber hinaus so, wie es von gar
keinen Bestimmungen erfasst, wohl aber von einer nicht auf Bestim-
mung fixierten Wahrnehmung vernommen werden kann.
Das klingt dunkel, aber es ist ganz einfach. An jedem beliebigen
Wahrnehmungsobjekt, sei es ein Ball oder eine Ballerina, kann es er-
fahren werden. Wir können beide - und alles andere - so oder anders
beschreiben, ohne sie je vollständig beschreiben zu können. Wir kön-
nen beiden - und fast allem anderen - unter Verzicht auf eine be-
stimmende Festlegung begegnen. 31 Es macht die Wirklichkeit von al-
lem aus, was wir als wirklich erkennen, dass es unter diesem oder je-
nem Aspekt zutreffend aufgefasst und doch nicht insgesamt erfasst
werden kann.

30 Ebd., 66.
31 Wie das geht, habe ich erläutert in: M. Seel, Ästhetik des Erscheinens, München
2000, bes. 49-100.

II4
Unterbestimmtheit

Diese grundsätzliche Unterbestimmtheit des Wirklichen, wie sie sich


in allen Kontexten unseres theoretischen und praktischen Bestim-
mens zeigt, verfehlen viele Realisten und Konstruktivisten gleicher-
maßen. Ein Verständnis von Realität aber, das für das Widerspiel von
Erfassbarkeit und Unerfassbarkeit nichts übrig hat, ist nicht das,
wofür es sich ausgibt - ein Verständnis von Realität. Denn hier wird
Realität entweder auf ein (faktisch oder kontrafaktisch) geleistetes Be-
stimmtsein oder auf ein nicht erfassbares Wesen reduziert.
Der rigorose Konstruktivismus macht sich mal der einen, mal der
anderen Verkürzung schuldig. Der ersten Reduktion unterliegt Abel.
Worüber die radikalen Konstruktivisten noch freimütig rätseln, näm-
lich über die Verfassung eines Seins »hinter« den Konstruktionen, dar-
über wird jetzt ein philosophisches Redeverbot verhängt. Freilich
kommt es nicht als ein Verbot daher, sondern als der beinahe beiläu-
fige Hinweis auf etwas, von dem nicht sinnvoll gesprochen werden
könne. Wie jedoch an Abels eigenen Ausführungen deutlich wird, ist
die These der Nichtexplizierbarkeit einer Differenz von Sein und So-
sein nicht haltbar. Denn diese Differenz lässt sich gerade innerhalbei-
nes konstruktivistischen Ansatzes fassen - als ein Anderssein des
Wirklichen, das sich in dem Andersseinkönnen seiner Erfahrung und
Erfassung zeigt. Dennoch tut Abel recht daran, die von Searle und
Roth empfohlene Trennung von Interpretation und Realität - und
entsprechend: Ontologie und Erkenntnistheorie - nicht mitzuma-
chen. Wir können Wirklichkeit nur von den Bedingungen ihrer Er-
kennbarkeit her denken; aber alles geht verloren, wenn dabei Realität
mit jeweiliger Erkanntheit gleichgesetzt wird.
Auch die zweite Reduktion, die es für nötig hält, so etwas wie ein
»Ding an sich« zu postulieren, muss die Differenz von Sosein und
Sein verfehlen. Jedoch ist der Konstruktivismus eines Gerhard Roth
der Position Abels insofern voraus, als er über der Alterität von
Interpretationen nicht die Alterität der Realität vergisst. Im Zusam-
menhang einer Erörterung der Objektivität von Wahrnehmun-
gen kommt Roth, wie nicht anders zu erwarten, zu einer recht skepti-
schen Einschätzung. »Wahrnehmung ist immer aspekthaft und
ausschnitthaft; die Aspekte mögen dabei wenige oder viele sein, der
Ausschnitt eng oder weit. Es ist aber unmöglich, alle Aspekte zu er-
fassen und auch völlig unnütz, sondern nur diejenigen müssen erfasst
werden, die für den wahrnehmenden Organismus überlebensrelevant
n5
sind.«32 Wenn wir »überlebensrelevant« im gegenwärtigen Zusam-
menhang durch ein schlichteres »relevant«ersetzen (was ja zumindest
immer bedeutet: lebensrelevant),kann man dieser Analyse nicht nur
für die sensorische Wahrnehmung gleich welcher Stufe, sondern für
auch alles sonstige Erkennen zustimmen. Eine Erkenntnis nennen wir
nur das, was Aufschluss über einen in irgendeiner Weise relevanten
Umstand gibt. Diese Relevanz aber ergibt sich, wie die Konstruktivis-
ten aller Couleur richtig betonen, stets aus einer bestimmten und da-
mit beschränkten Perspektive. Es gibt also keinen plausiblen Begriff
von Erkenntnis, der nicht zugleich ein Begriff dieser Beschränkung
wäre.
Eine mangelnde Objektivität unserer Erkenntnis aber folgt daraus
nicht. Denn dass wir nur Aspekte der Welt erkennen können, spricht
in keiner Weise dagegen, dass es Aspekte der Weltsind, die wir so er-
kennen. Richtig verstanden, lässt dieser Gedanke für die Annahmeei-
ner unergründbaren Hinterwelt gar keinen Raum. Denn Aspekt be-
deutet ja eben das: eine Seite, einen Zug von etwas, aber doch zu-
·gleich: eine Seite und einen Zug von etwas,das uns so und so gegeben
ist. Andere erkennende Wesen mögen andere Züge erkennen (und
mögen das fragliche Etwas auch anders individuieren), aber auch sie
werden es aspekthaft erkennen. Sobald man einen unverfälschten Be-
griff der Erkenntnis einsetzt, verschwindet der Zwang, hinter der uns
zugänglichen Welt eine andere, hinter dem Zusammenhang der uns
zugänglichen »Erscheinungen« ein uns betrüblicherweise unzugängli-
ches »Wesen«der Dinge zu vermuten. Alles, was wir hier nicht allein
vermuten, sondern aus Erfahrung und Imagination wissenkönnen, ist
dies: dass viele Beschreibungen zu ihrem jeweiligen Zweck, aber kei-
ne Beschreibungen in einem absoluten Sinn erschöpfend sein kön-
nen.
Die Konstruktionen unseres Erkennens erschließen Aspekte der
einen Welt; sie erzeugen auf diese Weise eine kulturelle Welt, die ih-
rerseits zum Gegenstand eines vielfachen Erkennens und Konstru-
ierens wird. Es sind unsere Konstruktionen, die uns eine Welt im Er-
kennen aufschließen, und es ist eine Welt, an der sich diese Kon-
struktionen als aufschlussreich bewähren müssen. Keiner dieser
Faktoren darf zur Funktion des anderen herabgesetzt werden; keiner
ist unabhängig vom anderen zu erläutern. Gerade die weitreichende
Unabhängigkeit der Welt von unserem Erkennen muss aus der nicht
wegzudenkenden Möglichkeit ihrer Erkennbarkeit verstanden wer-
32 Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, a.a.O., 67.

n6
den. Es ist hier nochmals an den weitsichtigen Ratschlag von Hacking
zu erinnern. So sehr die Wirklichkeit unabhängig von unserem Er-
kennen besteht, ihr Begriff ist nicht unabhängig von einem Begriff der
Möglichkeiten und Grenzen unseres Erkennens zu gewinnen. Nur
wenn das beachtet wird, ist das Ziel zu erreichen, das schon Kant vor
Augen hatte und das Abel wie viele andere Philosophen der Gegen-
wart verfolgt, nämlich »die klassische Dichotomie von Idealismus und
Realismus zurückzulassen«.33

Sowohl als auch (2)

Dieses Zurücklassen aber kann nur durch einen Blick in den Spiegel
gelingen. Da der Konstruktivismus seinen Schatten nicht loswerden
kann, sollte er mit ihm zu leben versuchen, wie umgekehrt der Rea-
lismus damit leben lernen muss, Widerschein eines wenn auch nicht
radikalen, so doch konsequenten Konstruktivismus zu sein.
Dieses Miteinander zweier Positionen, die gerne getrennt gehalten
werden, wird manchen derer missfallen, die an keiner der beiden Po-
sitionen Gefallen finden. Statt eines moderaten Sowohl-als-auch plä-
dieren sie für ein rigoroses Weder-noch. Zu den Autoren, die hier für
eindeutige Verhältnisse sorgen wollen, gehören insbesondere Richard
Rorty und Donald Davidson. 34 Während sich aber für Rorty das zwi-
schen Realisten und Anti-Realisten verhandelte Problem bei genauer
Betrachtung erledigt, ist Davidson lediglich mit den handelsüblichen
Reaktionen auf das Problem unzufrieden. Davidson nimmt den Be-
griff der Wahrheit zum Anlass, sowohl die ontologische Verlagerung
der Welt in ein Jenseits der Erkennbarkeit als auch die erkenntnis-
theoretische Gleichsetzung der Welt mit dem Erkennbaren zu ver-
werfen. »Realism with its insistence on radically nonepistemic corres-
pondence, asks more of truth than we can understand; antirealism,
with its limitation of truth to what can be ascertained, deproves truth
ofits role as an intersubjective standard. We must find another way of
viewing the matter.«35
Davidsons Festhalten an einem starken Begriff der Objektivität

33 Abel, Sprache, Zeichen, Interpretation, a.a.O., 17.


34 R. Rorty, The World Weil L.ist, in: ders., Consequences of Pragmacism, Minneapo-
lis 1982, 3-18. D. Davidson, The Structure and Content ofTruch, in: The Journal of
Philosophy 87i1990, 279-328.
35 Davidson, The Structure and Content of1ruth, a.a.O., 309.

n7
aber lässt deutlich werden, dass es lediglich eine bestimmte Versiondes
Realismus ist, die er verwirft - diejenige, die alle Spuren der Weltbe-
gegnungaus dem Begriff der Welt tilgen will. »I suggest that interpre-
tation depends ( ... ) on the external objects and events salient to both
speaker and interpreter, ehe very objects and events ehe speaker's
words are then taken by ehe interpreter to have as subject matter.« 36
Diese Deutung führt zu der bekannten Theorie der Triangulation, die
die Tätigkeit eines konstruktiven wechselseitigen Interpretierens zu-
sammen mit der Erreichbarkeit einer objektiven Welt zu erläutern er-
laubt. »The ultimate source ofboth objectivity and communication is
ehe triangle chat, by relating speaker, interpreter, and ehe world, de-
termines ehe contents of thoughc and speech.«-17 Dies läuft erneut auf
eine strikte Interdependenz zwischen den Begriffen der sozialen Kon-
struktion und der objektiven Welt hinaus. Wir können unsere kogni-
tiven Konstruktionen nur als Konstruktionen einer allgemein zu-
gänglichen Welt und diese objektive Welt nur als Gegenstand unserer
interaktiven und interpretativen Praxis verstehen - ohne dass einer
dieser beiden Seiten ein begrifflicher Vorrang zukommt. »Unsere Be-
griffe sind unsere«, schreibt Davidson in einem anderen Text an die
Adresse Rortys, »aber das heißt nicht, daß sie nicht auf ebenso wahre
wie nützliche Weise eine objektive Realität beschreiben.« 38
Dies aber ist kein zaghaftes Weder-noch, sondern ein entschiede-
nes Sowohl-als-auch, wie es heute (nach der überwundenen Verirrung
in einen »internen Realismus«) auch von Hilary Putnam vertreten
wird. 39 Dieses Sowohl-als-auch begnügt sich nicht mit dem halbherzi-
gen Vorschlag Searles, je nachdem, ob es um soziale oder »rohe« Tat-
sachen gehe, sollte man entwederKonstruktivist oder Realist sein. Es
macht vielmehr eine Grundposition des Erkennens deutlich, die - für
alle seine Gelegenheiten und Vollzüge - jenseits dieser Alternative
steht. Man kann nicht nur, wie es bei Hacking heißt, sowohl sozialer
Konstruktivist als auch theoretischerRealist sein. Man kann darüber
hinaus als theoretischer Komtruktivist zugleich Realistsein. Und man
sollte es sein. Denn ein plausibler Konstruktivismus schließt einen

36 Ebd., 321.
37 Ebd., 325.
38 D. Davidson, ls Truth a Goal ofEnquiry?, in: ders., 'fruth, Meaning and Knowledge,
hg. v. U. M. Z.egler\, London-New York 1999, 19.
39 Vgl. Putnarns Auseinandersetzung mit Rorty und Davidson, in: ders., The Question
of Realism, in: ders., Words & Life, Cambridge/Mass. 1995, 295-312;desgleichen sei-
ne Doppelstrategie gegen Bernard Williams' Realismus und Nelson Goodmans lr-
realismus, in: ders., Renewing Philosophy, Cambridge/Mass. 1992, Kap. 5 u. 6.

n8
plausiblen Realismus mit ein - und vice versa. Das ist gewiss ein mo-
derater Konstruktivismus und ein moderater Realismus, aber wer sagt
denn, dass die philosophische Wahrheit nicht auch einmal moderat
bleiben kann?

Aliens

Ein Gedankenexperiment von Thomas Nagel greift dieses salomoni-


sche Resümee nochmals von realistischer Seite an. »In a very strong
sense, the world extends beyond the reach of our minds«: So lautet das
Credo, das er Konstruktivisten gleich welcher Spielart entgegenhält. 40
Nagel erweckt die Opposition von Idealismus und Realismus dadurch
zu neuem Leben, dass er alle diejenigen, die nach einem dritten Weg
suchen, ebenfalls zu Idealisten erklärt. Idealistisch ist für ihn jede Po-
sition, die das Wirkliche als einen Inbegriff des durch den Menschen
Erkennbaren versteht. Dies ist nicht allein der Idealismus Berkeleys,
sondern auch Kants, soweit dieser sich als »empirischer Realist« ver-
steht. Vor allem aber zielt Nagels Attacke auf Davidson, weil dieser
sich weigert, der Unterscheidung zwischen der Welt und unserer Kon-
struktion der Welt überhaupt einen Wert beizumessen. Zu diesem
weitherzigen Idealismus könnte man weitere Autoren zählen, die Na-
gel 1986, als er seine Widerlegung in The Viewfrom Nowherepubli-
zierte, noch nicht im Auge hatte - etwa Jahn McDowell mit Mind and
Worldoder Robert B. Brandom mit dem achten Kapitel von Making
it Explicit,in dem dieser eine intersubjektivistische Theorie der Ob-
jektivität entwirft, der die Maxime zugrunde liegt, »that what is ex-
pressed must be undersrood in terms of the possibility of expressing
it«.41
Dieses Zutrauen in die Macht des menschlichen Geistes erfüllt Na-
gel mit Misstrauen; es erscheint ihm hybrid. Darum erfindet er ein
Beispiel, das den Glauben an die prinzipielle gedankliche Erschließ-
barkeit der Welt durch den Menschen erschüttern soll. Zur Vorberei-
tung erinnert er an blind oder taub geborene Menschen, die keinen
Zugang zur Welt der Farben oder Töne haben; keiner, der sehen und
hören kann, vermag ihnen diesen Zugang zu vermitteln. Entspre-

40 Th. Nagel,The View from Nowhere,New York-Oxford1986, 90.


41 R. B. Brandom, Arriculation Reasons,Cambridge/Mass.2000, 6; ders., Making it
Explicit,Cambridge/Mass.1994; J.McDowell,Mind and World, Cambridge/Mass.
1994.

ll9
chend können normale neunjährige Menschenkinder kein Verständ-
nis der Maxwell'schen Gleichungen, der Allgemeinen Relativitäts-
theorie oder des Gödel'schen Theorems erreichen. Wenn das aber der
Fall ist, so macht Nagel geltend, ist es auch denkbar, dass es Wesen
gibt, zu deren Intelligenz sich diejenige der klügsten Menschen wie
das Begreifen eines normalen Neunjährigen verhält. Diese denkbaren
Wesen können Zusammenhänge begreifen, deren Erkennbarkeit uns
Menschen grundsätzlich entzogen ist. Trotzdem wäre es so, dass sie
sich wie wir - und unsere Neunjährigen - auf ein und dieselbe Wirk-
lichkeit beziehen, die sie allerdings umfassender zu erkennen vermö-
gen. Ja, so fährt Nagel fort, diese Aliens können sogar unseren Begriff
der Realität teilen. Jedoch erweist sich dies jetzt als ein Begriff, dessen
Gegenstand nicht länger mit der durch ausgerechnet unsere kogniti-
ven Fähigkeiten erkennbaren Welt gleichgesetzt werden dar( Realität,
so folgen Nagel, muss daher in strikter Unabhängigkeit von Prozedu-
ren des menschlichen Geistes verstanden werden. Es besteht aller
Grund zu der Annahme, dass die Wirklichkeit unsere Erkenntnis-
fähigkeit prinzipiell übersteigt.
In Nagels eigenen Worten lautet das Resümee: »Creatures who re-
cognize their limited nature and their containment in the world must
recognize both that reality may extend beyond our conceptual reach
and that there may be concepts that we could not understand. The
condition is met by a general concept of reality under which one's ac-
tual conception, as weil as all possible extensions of that conception,
fall as an instance.«42 Dieser Befund lässt jedoch zwei Lesarten zu, die
von Nagel nicht eigens unterschieden werden. Die erste lautet: Wir
haben nur dann einen angemessenen Begriff von Realität, wenn wir
auf ein Junktim von Realität und menschlicher Erkennbarkeit verzich-
ten. Die zweite dagegen lautet: Wir haben nur dann einen angemes-
senen Begriff von Realität, wenn wir auf ein Junktim von Realität und
Erkennbarkeitverzichten.
Zur Begründung der ersten These reicht Nagels Argument aus. Es
gibt keinen Grund, die Welt auf das zu reduzieren, was für den Men-
schen heute oder morgen erkennbar ist. Das kamische Junktim von
Realität und Erkennbarkeit ist damit jedoch nicht aufgelöst. Denn
hierfür müsste die zweite Lesart plausibel gemacht werden. Es müsste
- analog dem Versuch von Searle - gezeigt werden, wie der Begriff der
Realität unabhängig von aller- menschlichen oder übermenschlichen
- Erkennbarkeit expliziert werden könnte. Dies kann Nagels Überle-
42 Nagel, The View from Nowhere, a.a.O., 98.

120
gung nicht leisten, da es sich durchweg um ein Argument der Er-
kennbarkeit handelt. Es besagt ja, dass für erkennende Wesen prinzi-
piell andereerkennende Wesen denkbar sind, deren Erkenntnisse für
sie unzugänglich sein könnten. Auch für diese superklugen Wesen
aber müsste gelten, dass sie sich ihrerseits klarmachen können, dass es
supersuperkluge Wesen geben könnte, für die dann wiederum gelten
müsste - usw. Auch wer die Reduktion der Erkennbarkeit auf
menschliche Erkennbarkeit nicht mitmacht, erläutert den Begriff der
Realität mit Hilfe eines Arguments der Erkennbarkeit. 43 Durchweg
wird Realität aus den Bedingungen ihrer kognitiven Zugänglichkeit
gedacht. Indem Nagel die Opposition zwischen Idealismus und Rea-
lismus zugunsten des Letzteren wiederherstellen will, bricht er sie nur
ein weiteres Mal auf: Realität erweist sich als das in vieler Hinsicht Er-
kennbare, das in der Macht keines (Typs von) Erkennenden steht.

Bestimmtheit

Hier stellt sich der Zurückweisung der Alternative zwischen Realis-


mus und Anti-Realismus ein vorerst letztes Problem. Wenn man näm-
lich sagt, dass die Realität jeden denkbaren erkennenden Zugang
transzendiert - hat man dann nicht doch wieder den Begriff einer
Realität eingeführt, die jenseitsalles denkbaren Erkennens liegt? Müs-
sen wir, wenn wir die Begrenztheit jedes kognitiven Zugangs betonen,
nicht doch einen unbegrenzten Zugang denken? Postulieren wir nicht
insgeheim ein extrakluges Subjekt, das von seinem Gottesstandpunkt
aus in der Lage wäre, die Dinge so zu erkennen, wie sie ihrem Wesen
nach sind? Verkehrt sich das Kant'sche wie das Nagel'sche Gedanken-
experiment nicht doch zu einer Lehre von den unerkennbaren Din-
gen an sich?
So mag es scheinen. Der Fehlschluss jedoch, der diese Konsequenz
nahelegt, basiert erneut auf der Annahme, dass die Betonung der
Aspekthaftigkeit des Erkennens insgeheim das Postulat eines nicht
mehr aspekthaften Erkennens enthält. Nur wenn dieser Schluss er-
laubt wäre, wäre es so, dass der hier vertretene moderate Realismus
insgeheim ein Hyperrealismus wäre, so wie es sich bei Kant darstellt,
wenn man seine Unterscheidung zwischen empirischem und absolu-
43 Nagel müsste Husserl zustimmen, wenn dieser sagt: »Ein Gegenstand, der ist, aber
nicht, und prinzipiell nicht Gegenstand eines Bewußtseins sein könnte, ist ein Non-
sens.« - E. Husserl, Analysen zur passiven Synthesis, Den Haag 1966, 19 f.

121
tem Realismus als eine positive These versteht (wie Kant es selber in
seinen schwächeren Momenten tut). Dann sieht es so aus, als müsste
eine unzugängliche Realität »hinter« den Objekten und Ereignissen
angenommen werden, die für uns als Wirklichkeit erkennbar sind.
Ein nicht länger aspekthaftes Erkennen aber wäre ein nicht länger
nach Hinsichten der Wahrnehmung oder Untersuchung bestimmtes
Erkennen - und also gar kein Erkennen. Dass Erkenntnis eine in je-
weiligen Hinsichten begrenzte Erkenntnis ist, konstituiert überhaupt
ihren Wert als Erkenntnis. (Diejenigen Begrenzungen, die wir als Be-
schränktheiteines Standpunkts kritisieren, sind solche, denen gegen-
über wir günstigere Alternativen zu haben glauben.) Die grundsätzli-
che Partialität unseres - und allen - Erkennens darf nicht als
Schwundstufe eines umfassenden Erkennens verstanden werden.
Denn dies ist ein leerer Begriff, da er mit der erforderlichen Be-
stimmtheit von Erkenntnissen nicht vereinbar ist. Haltlos ist daher
auch die Annahme einer ursprünglichen Verfassung von Objekten,
wie sie unabhängig von unseren oder anderen erkennenden Zugängen
wären. Denn diese Verfassung ist selbst eine Bestimmtheit, die nur aus
der Möglichkeitvon Bestimmungen gedacht werden kann. Hinter den
Dingen und Prozessen, wie wir sie im Alltag und in der Wissenschaft
mit Hilfe vielfultiger Konstruktionen kennen, ist überhaupt nichts.
An und von ihnen aber lässt - oder ließe - sich vieles Weitere erken-
nen; das ist alles.

122
7. Medien der Realität-
Realität der Medien

Medien sind eigentlich nichts Besonderes. Wir sehen im Medium des


Lichts, wir hören im Medium von Geräuschen, wir kommunizieren
im Medium der Sprache, wir tauschen im Medium des Geldes. Me-
dien eröffnen jeweils ein Spektrum von Differenzen, denen im Wahr-
nehmen, Erkennen und Handeln eine bestimmte Gestalt zugewiesen
werden kann. Medien stellen eine offene Reihe von Unterschieden
oder Abstufungen einer bestimmten Art bereit (unterschiedliche Hel-
ligkeit, unterschiedliche Laute, unterschiedliche Worte, unterschied-
liche Geldmengen z.B.), innerhalb derer etwas als etwas Bestimmtes
aufgefasst oder angestrebt werden kann (eine bestimmte visuelle Ge-
stalt, ein bestimmter Klang, eine bestimmte sprachliche Äußerung,
ein bestimmter Preis). So sehen wir im Medium des mehr oder weni-
ger Hellen, hören im Medium des mehr oder weniger Lauten, tau-
schen im Medium des mehr oder weniger Teuren, kommunizieren im
Medium weitläufiger phonetischer, syntaktischer, semantischer und
pragmatischer Differenzen, die wir mit jeder bestimmten Äußerung
in ein bestimmtes Verhältnis setzen. Wir orientieren uns im Medium
von Unterschieden, die einen Unterschied machen. Dies tun wir
nicht nach Lust und Laune, dann und wann, sondern fast jederzeit
und überall. Denn unser Verhältnis zu allem, wozu wir ein intentio-
nales Verhältnis haben, ist durch und durch medial.
Die Aussage, dass Medien nichts Besonderes sind, ist ihrerseits
nichts sehr Besonderes. Die apriorischen Formen des Verstandes, von
denen Kant in der Kritik der reinen Vernunftzu zeigen versucht, dass
sie in aller empirischen Erkenntnis tätig sind, bedeuten ein Verfügen
über Unterscheidungsmöglichkeiten, mit Hilfe derer allein etwas als
etwas erkannt werden kann - sie sind, wenn Kant Recht hat, unver-
äußerliche Medien des Erkennens. Vor diesem Hintergrund ist es für '
Hegel selbstverständlich, dass wir erst durch diverse Verfahren des
Unterscheidens zu bestimmter Anschauung, Einsicht oder Handlung
kommen - und uns philosophisch im »Medium des Begriffs«über die
Bedeutung dieser Unterscheidungen Aufklärung verschaffen können.
Und auch unsere Umgangssprache kennt allerlei Wendungen, in de-
nen der mediale Sinn von Wahrnehmen und Erkennen anerkannt
wird - wenn wir etwa sagen, dass sich jemand im Medium der Male-
rei oder der Musik besser auszudrücken wisse als mit Worten.
123
Freilich: dass eine Sache irgendwie geläufig ist, bedeutet nicht viel.
Erst wenn wir mit diesen Vormeinungen Ernst machen, kann sich er-
stens zeigen, ob es denn zutriffi:, dass alle unsere Weltbegegnung me-
dialen Charakter hat, und zweitens, was das denn heißt, dass es so ist.
Das ist aber eigentlich nur die Nebensache meiner Betrachtungen.
In der Hauptsache möchte ich klären, welche Rolle die neuen, elek-
tronischen Medien in der menschlichen Welterschließung spielen.
Für diese Klärung - oder doch den Beginn einer solchen Klärung -
aber ist ein gewisser (in seiner Kürze recht abenteuerlicher) Umweg
durch erkenntnistheoretische Gefilde nötig. Denn eine Theorie der
sehr speziellenMedien, wie die neuen Medien es sind, kann zu plausi-
blen Resultaten nur führen, wenn sie im Blick auf die generelleMe-
dialität unserer Weltzugänge ausgeführt wird.

1. Ein allgemeiner Begriff des Mediums

An diese allgemeine Vermitteltheit sollten meine anfänglichen Be-


merkungen erinnern. Medien, so habe ich beiläufig gesagt, »seien Un-
terschiede, die einen Unterschied machen«. 1 In einem Medium, heißt
das, können Unterschiede gemacht werden, weil das Medium Unter-
schiede bereitstellt; in dieser Bereitstellung liegt die Leistung des Me-
diums. Der Begriff des Mediums verweist folglich auf einen Begriff
dessen, was vermöge eines Mediums zur Auffassung und Ausführung
kommen kann. Es »gibt« Medien nur zusammen mit dem, was wir
durch sie zur Kenntnis oder in Aussicht nehmen können - wie es um-
gekehrt das medial Vermittelte nicht ohne die Vermittlung der Medi-
en gibt. Bestimmte Preise können nur festgelegt werden, wo es ein
Spektrum unterschiedlicher Geldbeträge gibt, bestimmte Sätze kön-
nen nur gebildet werden, wo ein mehr oder weniger reichhaltiges Vo-
kabular zur Verfügung steht. Medien sind also keine Instrumente, mit
denen etwas erreicht oder zugänglich wird, das auch anders erreicht
werden könnte. Medien sind konstitutiv für die Handlung, die in
ihrem Element ausgeführt wird. Ohne Licht hätten wir nichts zu se-
hen, ohne Sprache hätten wir nichts zu sagen. Medien, mit einem
Wort, sind Elemente, ohne die es das in einem Medium Artikulierte
nicht gibt.
Inspiriert durch eine Abhandlung des Wahrnehmungspsychologen
1 Die Formulierung geht zurück auf G. Bateson, Ökologie des Geistes, Frankfurt/M.
1985,488, vgl. 614 ff.

124
Fritz Heider hat Niklas Luhmann dies als Differenz zwischen Medium
und Form erläutert. 2 Das ist eine elegante terminologische Prägung,
die ich übernehmen möchte, obwohl sie ihre Tücken hat, auf die ich
aber hier nicht eingehen werde. 3 (Ich werde versuchen, ihnen still-
schweigend zu entkommen.) Unter Medien versteht Luhmann »lose
gekoppelte Elemente« einer bestimmten Art, die zur »festen Kopp-
lung« bestimmter Formen gerinnen können. 4 Medien fungieren wie
Bausteine, mit denen so oder anders gebaut werden kann; als Baustei-
ne einer bestimmten Art (als Lego-Bausteine, sagen wir) sind sie (im
Baukasten) »lose« miteinander verbunden und können sich zu belie-
bigen »festen« Formen verbinden, etwa zu einer Garage für Spiel-
zeugautos. Ein seriöses Beispiel ist wiederum die Sprache. Die Worte
einer Sprache können in die Gestalt einzelner Sätze gebracht werden;
sie fungieren dabei als das »Medium« eines Vokabulars, dem die
»Form« eines bestimmten Satzes gegeben wird. Medien stellen einen
Spielraum von Möglichkeiten der Formbildung dar. Für den Status
eines Mediums ist es dabei bezeichnend, dass auch seine locker ver-
bundenen »Elemente« wiederum als Formen aufgefasst werden kön-
nen, die dann wiederum in einem anderen Medium operieren. So sind
die Worte einer Sprache, also die »Medien« des gerade gegebenen Bei-
spiels, ihrerseits »Formen«, nämlich Gestaltungen im Medium von
Lauten, und auch Laute können wieder als Formen aufgefasst werden,
nämlich Gestaltungen im Medium von Geräuschen, wie auch einzel-
ne Geräusche wieder als Formen aufgefasst werden können, nämlich
als Ereignisse im Medium des Rauschens, das den Hintergrund allen
Hörens bildet, wie auch an diesem Rauschen mit Hilfe entsprechen-
der Apparaturen wieder Formen unterschieden werden können, näm-
lich als Gestalten in der Sphäre messbarer Frequenzen - usw.
An dieser Stufung des Verhältnisses von Medium und Form, bei
2 F.Heider, Ding und Medium, in: Symposion 1/r927, ro9-157; N. Luhmann, Die Rea-
lität der Massenmedien, Opladen 1996, 6ff. u. ders., Die Kunst der Gesellschaft,
Frankfurt/M. 1995, Kap. 3, wo Luhmann S. 167 ausdrücklich auf die erkenntnistheo-
retische Bedeutung der Unterscheidung hinweist. - Meine Ausführungen freilich ver-
halten sich zu denjenigen Luhmanns ähnlich wie diese zu denen Fritz Heiders: ange-
regt durch sie, aber nicht auf ihrer Linie. So verbinde ich die Medienanalyse mit einer
Spielart des philosophischen Realismus, während Luhmann philosophisch möglichst
neutral bleiben möchte (vgl. aber ders., Die Realität der Massenmedien, Opladen
1996, bes. 18 f. u. ders., Erkenntnis als Konstruktion, Bern 1988).
3 Luhmann hat sie zunächst für Zwecke der Ästhetik entworfen; vgl. hierzu meine Re-
zension: N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschafr, in: European Journal of Philoso-
phy 4/r996, 390-393.
4 Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.a.O., 167 ff

125
der einem schwindlig werden kann, wird zum einen die Relativität der
Medien deuclich. Es gibt keine letzten Elemente, aus denen die Ele-
mente aller anderen Medien und ihrer möglichen Formen gebildet
wären. Jede, auch jede vermeinclich »letzte« Unterscheidung, spielt
sich in einem Raum von Unterschieden ab, die nicht zugleich Gegen-
stand dieser Unterscheidung sein können. Zum andern bestätigt sich
hierin erneut die wechselseitige Abhängigkeit von Medium und
Form. Medien sind Medien für Formen, Formen sind Formen in Me-
dien.'
»Medien«, heißt es bei Luhmann, »sind eine offene Mehrheit mög-
licher Verbindungen, die mit der Einheit eines Mediums noch kom-
patibel sind.« 6 Der Begriff der »Einheit« eines Mediums hebt die Be-
schränkungen hervor, denen jedes Medium ausgesetzt ist und die es
seinerseits jeder Formbildung in seiner Sphäre setzt. Im Medium des
Lichts lassen sich keine Gedanken formulieren, es sei denn unter Hin-
zunahme des Mediums schriftlicher Zeichen; im Medium des Alpha-
bets lassen sich keine akustischen Schwingungen oder räumlichen
Distanzen messen, auch wenn wir die entsprechenden Differenz-
punkte mit einzelnen Buchstaben des Alphabets bezeichnen können;
im Medium des Geldes lassen sich keine Gegenstände ertasten, wie
sich im Medium des mehr oder weniger Festen keine Preise eindeutig
festlegen lassen. Diese ganz zufälligen Beispiele zeigen, wie sehr sich
menschliche Kulturen immer schon in einer multimedialen Welt be-
wegen - in einer Lebenswelt, die aus spezifischen Beschränkungen der
Wahrnehmungsleistung ihrer Bewohner entsteht, die mit Hilfespezi-
fischer anderer Beschränkungen vielfach überwunden werden kön-
nen. Durch Unterschiede einer bestimmten-immer begrenzten -Art
eröffnen Medien spezifische Möglichkeiten der Fixierung von Unter-
schieden und damit des Wahrnehmens, Erkennens und Handelns.
Durch Medien sind Spielräume des (in unterschiedlichen Verhältnis-
sen) sinnlichen, kognitiven, instrumentellen, sozialen, politischen,
wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und künstlerischen Operierens
gegeben, aus denen die kulturelle Wirklichkeit eines jeweiligen Le-
bensbereichs besteht. Was Luhmann »Formen« nennt, sind ja nicht
Hüllen, die erst noch mit Inhalt gefüllt oder Muster, die einer vorge-
gebenen Materie erst noch aufgeprägt werden müssten; es ist das, was
im Unterscheiden jeweils fassbar, erkennbar, intendierbar wird: Ob-
jekte der sinnlichen Wahrnehmung, Pläne des Handelns, merkantile
5 Vgl. ebd., 167-172.
6 Ebd., 168.

126
Strategien, Gewinne, Objekte der Kunst und all dergleichen. Mit ei-
nem Wort: Was durch Medien zugänglich wird, sind Gegebenheiten
der unterschiedlichsten Art. Als ich vorhin lapidar sagte, Medien sei-
en Unterschiede, die einen Unterschied machen, hätte ich also auch
einfach sagen können: Medien sind Zugänge, die etwas gegeben sein
lassen.

2. Medien der Realität

An diesem Punkt kommt die Realität ins Spiel. Durch Medien, so


können wir jetzt nämlich sagen, ereignet sich das Gegebensein von
Gegebenem. Sie sind Gelegenheitenzum Gegebenseinvon etwas. Ge-
geben in diesem Sinn ist alles, was wahrgenommen, erkannt, vorge-
nommen, kurz: die Stelle eines intentionalen Objekts einnehmen
kann. Dies können natürliche oder artifizielle, konkrete oder abstrak-
te Gegenstände sein, soziale oder fiktive Tatsachen, Geräte oder
Kunstwerke, Texte oder Personen. Dieses Gegebene, was immer es ist,
kann Objekt unseres Vernehmens oder Vorhabens nur sein, wo Me-
dien da sind, vermöge derer es für uns ein Dasein haben kann. Kein
intentional Gegebenes ohne Medium seines Gegebenseins, könnte
der entsprechende Slogan lauten, oder einfacher noch: keine Inten-
tionalität ohne Medialität.
Damit sind wir aber bei der Realität noch nicht angekommen.
Denn dem intentional Gegebenen muss - über das Faktum seines Ge-
gebenseins für jemanden hinaus - keinerlei Realität zukommen. Ein-
hörner sind uns durch diverse Erzählungen »gegeben«, aber es gibt sie
im Unterschied zu Nashörnern nicht wirklich. Was es gibt, sind Er-
zählungen, in denen Einhörner vorkommen. Das, was wir »Realität«
nennen, ist folglich ein Modus des intentionalen Gegebenseins von et-
was: diejenigen Objekte, von denen sich zutreffend sagen lässt, dass es
sie tatsächlich gibt. An dem Verhältnis von Einhörnern und Erzäh-
lungen - es gibt keine Einhörner, aber es gibt Erzählungen über sie,
und nur weil es diese Erzählungen gibt, kann es (die Rede von) Ein-
hörnern geben - lässt sich aber deutlich sehen, dass das rein intentio-
nale Gegebensein unabhängig von der Möglichkeit eines überdiesrea-
len Gegebenseins nicht zu denken oder zu erläutern ist. Es muss Wirk-
lichkeit da sein, damit über sie hinaus fingiert und entworfen werden
kann. Es muss Wirkliches gegeben sein, damit auch Nichtwirkliches
thematisch werden kann. Der Grundbegriff des Gegebenseins betrifft
127
das, was uns als (vermeintlich oder tatsächlich) Wirklichesgegeben ist.
Wenn aber alles intentionale Gegebensein medialen Charakter hat,
dann auch und gerade jenes, das uns als Realität gegeben ist. Wer sagt,
keine Intentionalität ohne Medialität, muss auch sagen, keine (dem
intentionalen Verhalten zugängliche) Realität ohne sie.
Medien, alle Medien, so könnte man (ein wenig großzügig 7) fol-
gern, sind Medien der Realität - derjenigen Realität, die in der Bil-
dung entsprechender Formen unterscheidend zugänglich ist, ob dies
nun sichtbare Objekte, Naturgesetze oder ökonomische Krisen sind.
Auf diese Weise hätten wir Anschluss an den anfangs nur hingeworfe-
nen Satz gefunden, unser Verhältnis zur Welt und zu uns selbst - un-
ser Verhältnis zu allem, wozu wir ein intentionales Verhältnis haben -
sei durch und durch medial. Medien, so ließe sich sagen, bilden
Domänen des Wahrnehmens, Erkennens und Handelns aus, in denen
wir uns zu der erfassten oder intendierten Wirklichkeit der zugehöri-
gen Formen verhalten. Anders als in der Möglichkeit solcher Verhält-
nisse ist für uns - oder sonst ein wahrnehmendes und erkennendes
Wesen - keine erfahrbare Wirklichkeit da.
Keine erfahrbareWirklichkeit wohlgemerkt: keine Wirklichkeit,
die als so-und-so bestimmte erfahren werden kann. Die These lautet
nicht, dass alles, was ist, medial vermittelt ist - wir werden gleich se-
hen, warum es verfehlt wäre, dies anzunehmen. Medial vermittelt ist
vielmehr alles, wozu wir ein vernehmendes oder vornehmendes Ver-
hältnis haben: alles, was wir in seinem gegenwärtigen, vergangenen
oder künftigen Gegebensein (auch affektiv) auffassen, intendieren
oder imaginieren können. Schmerzen und Lüste beispielsweise (und
andere Episoden der inneren Erfahrung) treten nicht notwendiger-
weise in der Vermittlung eines Mediums in Erscheinung. Sobald wir
sie aber als Schmerzen oder Lüste zu bestimmen, zu bestehen oder

7 Großzügigdeshalb, weil zu den durch Medien in diesem allgemeinen Sinn erschlosse-


nen »Realitäten« auch fiktive oder virtuelle Welten gehören - etwa das fiktive Nord-
amerika Karl Mays oder die imaginäre Stadt einer Computersimulation. Nur wenig
großzügig jedoch, weil auch diese Fiktionen oder Simulationen eine neue Realitätder
Erfahrunghervorbringen. - Die erkenntnistheoretisch gewiss heikle Großzügigkeit,
die ich mir hier erlaube, hat den argumentationsstrategischen Sinn, die Rede von
»Medialität« so weit wie irgend sinnvoll möglich auszudehnen, um dann zu zeigen,
dass sie mit einem moderaten philosophischen Realismus kompatibel ist. Die folgen-
den Überlegungen können als Versuch gelesen werden, radikalen Konstruktivisten,
Dekonstruktivisten, lnterpretationisten und anderen emphatischen Anti-Realisten
(und Spät-Nietzscheanern) so weit wie möglich entgegenzukommen - und ihnen
dann einen realistischen Strick zu drehen. - Eine Kritik an diesen Positionen ent-
wickelt Studie 6, die Prämissen dieser Kritik entfaltet Studie 8.

128
zu beeinflussen suchen, nehmen wir sie im Licht von Unterschiede-
nen oder Unterscheidungen wahr, die für unsere Praxis - für unser
Verhalten zu uns und anderen - einen Unterschied machen. Wir tre-
ten in ein mediales Verhältnis zu unserem leiblichen Empfinden.
Wir bestimmen die Ereignisse unseres Empfindens im Medium von
Differenzen, die ebendies erlauben: dass wir uns - theoretisch oder
praktisch - bestimmend zu Episoden der inneren Erfahrung verhal-
ten.
Keine dem intentionalen Bewusstsein zugängliche Realität ohne
Medialität, ist darum aus der Warte wahrnehmender und erkennen-
der Wesen zu sagen. (Was außerhalb dieser Warte zu sagen wäre, wis-
sen wir nicht - müssten wir sagen, wüssten wir nicht, dass es außer-
halb einer erkennenden Warte nichts zu sagen gäbe.) Wie Kant rich-
tig gesehen hat, ist der Begriff der Realität von demjenigen ihres
möglichen Zugänglichseins als Realität nicht zu trennen. 8 Zugäng-
lichsein aber heißt, zugänglich für jemanden zu sein, der über eine be-
stimmte kognitive Ausstattung verfügt - und damit über ein Spek-
trum von Medien, in denen diese oder jene Form unterscheidbar
wird. Die Rede von Realität hat daher nur im Rückgang auf faktische
und mögliche Vollzüge und Praktiken des Wahrnehmens, Erkennens
und Handelns Sinn, in denen sie erkannt oder verkannt werden kann.
Die kantischen »Gegenstände unserer Erfahrung«, so hat John Mc-
Dowell diese Überlegung ergänzt, können daher verstanden werden
als »part of a whole thinkable world«: als Elemente all dessen, was Ob-
jekt denkbarerbegrifflicher Erkenntnis sein kann, auch wenn unser
faktischesErkennen diese Weite des Wirklichen bei weitem nicht zu
erfassen vermag. 9
Auf dieser Linie lässt sich das Wirkliche - »die Welt« - als Inbegriff
alles dessen verstehen, wovon zutreffende begriffliche Erkenntnis et-
was aussagen kann: als Inbegriff aller Gegenstände wahrer Sätze. (Wer
einen engen Begriff des Wirklichen vorzieht, kann sagen: aller empi-
rischen Sätze, aber dieser Vorzug müsste erst einmal begründet wer-
den.) Die Welt, so müsste es folglich heißen, ist alles, wovon der Fall

8 Auch der »intuitive« Verstand, den Kant dem beschränkteren menschlichen in einem
Gedankenexperiment gegenüberstellt, müsste über eine bestimmte, andersartige An-
schauung verfügen, der ihm die Dinge gegeben sein lässt. Denn ,die Möglichkeit ei-
nes Dinges [kann] niemals bloß aus dem Nichtwidersprechen eines Begriffs desselben,
sondern nur dadurch, daß man diesen durch eine korrespondierende Anschauung be-
legt, bewiesen werden«. 1. Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werke, hg. v. W.
Weischedel, Frankfurc/M 1968, Bd. III, B 308.
9 J. McDowell, Mind and World, Cambridge/Mass., 36.

129
sein könnte. 10 Diese Erläuterung bindet den Begriff des Wirklichen
an den der Gegenstände des begriffiich denkbarerweise Erkennbaren.
Dies mag - unter medientheoretischem Aspekt - als eine unerlaubte
Privilegierung eines Mediums, nämlich des begriffiichen Denkens
und Erkennens erscheinen. Aber dieser Eindruck wäre verkehrt.
Denn McDowells kantianische These lautet, dass ein Element des Be-
grifflichen in alle Arten der wahrnehmenden und erfahrenden Welt-
begegnung hineinreicht (oder doch: hineinreichen kann 11), eben weil
in aller Wahrnehmung Unterschiede vorausgesetzt und Unterschiede
erfahren werden, die als begriffiiche Unterscheidungen expliziert wer-
den können. Alle Wahrnehmung, heißt das, ist medial in dem Sinn,
dass sie auf bestimmten Unterschieden (Medien) basiert, die Unter-
scheidungen (Formbildungen) erlauben, die einer begrifflich erken-
nenden Verarbeitung ojfemtehen.
Damit ist gesichert, dass sich mediale Welterschließung, wie diver-
gent und plural sie auch sei, gleichwohl auf eineWelt bezieht. 12 Diese
kann so oder anders, außerdem mehr oder weniger erschlossen wer-
den. Jedenfalls kann nicht nur das als Realität zählen, was auf die eine
oder andere Weise medial erschlossen ist. Realität ist keine Funktion,
sie ist vielmehr der notwendige Widerpartdieser Erschließung. So wie
wir von zahlreichen Realitäten wissen, von denen die Menschen lan-
ge Zeit keinerlei Kenntnis hatten, so können wir uns Realitäten den-
ken, von denen wir noch keine Wahrnehmung oder keine Darstellung
haben - und vielleicht nie haben werden. Ebenso ist die These der
Medialität erkennbarer Realität mit der Tatsache vereinbar, dass sich
die Wirklichkeit jeder realisierbaren Möglichkeit einer vollständigen
Erfassung entzieht. Dass Medialität die Zugänglichkeit von Realität
bedeutet und der Begriff der Realität den der Akrualisierbarkeit von
Medien impliziert, bedeutet also nicht, dass sich das Wirkliche in sei-
nem jeweiligenmedialen Zugänglichsein erschöpft. Es bedeutet nicht
ro Gegenüber Wittgensteins Sentenz »Die Welt ist alles, was der Fall ist« hat dieser Satz
bei allem Nachteil der Ungrammatikalität den Vorteil, nicht die Illusion zu er-
wecken, eine vollständige Beschreibung oder Erfassung des Wirklichen sei denkbar.
Die Welt wird lediglich als Fülle zutreffend individuierbarer und charakterisierbarer
Gegenstände und Ereignisse gefasst, die durchaus als ineffabel gedacht werden kön-
nen. Die prinzipielle Darstellbarkeit des Wirklichen kann so mit seiner prinzipiellen
Undarstellharkeit zusammengedacht werden, entgegen McDowells Behauptung:
»The world is embracablc in thoughc., (Ebd., 33.)
II Die~e einleuchtende Modifikation schlägt vor: C. Wright, Human Nature?, in: Eu-
ropean Journal of Philosophy 4/r996, 235 ff., bes. 245.
12 Dies ist jedenfalls dann gesichert, wenn wir einen nichtrelativistischen Begriff von
»Erkennmis, zugrunde legen, wie ich es für unvermeidlich halte; vgl. Studie 8.

130
einmal, dass Realität von bestimmten Arten ihres jeweiligen Zugäng-
lichseins abhängigist. Denn wozu wir Zugang haben, wenn und so-
weit wir zu RealitätZugang haben, sind Objekte, die eine von unse-
rem Wahrnehmen und Erkennen unabhängiges Bestehen haben. Me-
dialität bedeutet Zugänglichkeit von Realität, und Realität schließt
eine wenigstens denkbaremediale Zugänglichkeit ein, aber Realität ist
nicht allein das, was uns gestern oder heute oder morgen erkennend
zugänglich ist. (Aus diesem Grund wäre der Slogan »Keine Realität
ohne Medialität« irreführend.) Realität, wenn wir das Wort ernst neh-
men, ist unabhängig davon, welche ihrer Aspekte uns jeweils zugäng-
lich sind. Ihr Begriff freilich schließt ein, dass jeder ihrer Aspekte zu-
gänglich werden kann, wenngleich wegen der konstitutiven Aspekt-
haftigkeit und Relevanzgebundenheit allen Erkennens niemals alle
zugänglich sein können.
Diese prinzipielle mediale Zugänglichkeit der Realität kann freilich
zweierlei bedeuten. Sie kann eine Zugänglichkeit von Umständen be-
deuten, die durch die Formen eines Mediums allererst hervorgebracht
wurden, oder aber eine Aufdeckung von Umständen, die auch unab-
hängig von ihrer Zugänglichkeit bestehen. Im einen Fall erschließt
das Medium einen Bereich, der allein durch diese Erschließung gege-
ben ist. Im andern Fall erschließt das Medium einen Bereich, der
durch diese Erschließung auf eine bestimmte Weise gegebenist, aber
auch unabhängig vom Zeitpunkt und der Art seiner Erschließung be-
steht.
Ein Stück »absoluter« Musik etwa macht nichts weiter zugänglich
als seine im Medium von Klängen oder Geräuschen gebildeten For-
men; auch das Medium Geld macht unbegrenzte Märkte nicht bloß
zugänglich, es schafftsie so, dass sie allen, die Geld haben, zugänglich
sind. Hingegen werden im Medium des Lichts Gegenstände sichtbar,
deren Gegebensein gleichwohl nicht an ihre Sichtbarkeitgebunden
sind: dieselben Gegenstände können auch ertastet oder akustisch ge-
ortet werden. Die Konstitution eines Wirklichkeitsbereichs muss hier
als Zugänglichwerden von Gegebenheiten verstanden werden, die
auch unabhängig von dieser Konstitution bestehen. Wieder anders
verhält es sich im Fall sprachlicher Darstellung. Zwar macht das Me-
dium sprachlicher Unterscheidungen die Sphäre Frege'scher Gedan-
ken nicht allein zugänglich, sondern schafft überhaupt erst die Mög-
lichkeit der Bildung von Gedanken; die Möglichkeit aber, die so ge-
schaffen ist, erlaubt die Formung von Sätzen, mit denen gesagt
werden kann, wie es sich unabhängig von unserem Denken und Spre-
131
chen verhält. Der Gedanke, dass Schnee weiß ist, lässt sich nur im Me-
dium einer Sprache formulieren - anders gibt es ihn nicht; dennoch
bezieht er sich auf etwas, das nicht von der Art der Sprache ist. Dass
wir uns nur mit Hilfe des Satzes »Der Schnee ist weiß« auf den Um-
stand beziehen können, dass Schnee weiß ist, zeigt, dass es keiner
sprachfreie Bestimmung der Verfassung von Gegenständen gibt, auch
wenn ihr Bestehen als Tatsachen von einem erkennenden Zugang zu
ihnen unabhängig ist. 13
Das gilt übrigens auch von den Gegebenheiten, die - wie Stücke
absoluter Musik und weltumspannende Märkte- erst durch einen be-
stimmten Mediengebrauch wirklich geworden sind. Sobald der Ge-
brauch der entsprechenden Medien etabliert ist, werden vielfältige so-
zialeTatsachen geschaffen, die erkannt oder verkannt werden können.
Schon dies zeigt, dass das menschliche Weltverhältnis nicht generell
nach dem Modell eines rein erzeugenden Mediengebrauchs expliziert
werden kann. Außerdem müssen diesem Mediengebrauch bestimm-
ter Formen - in unserem Fall: Klänge oder Metalle - immer schon
vorgegeben sein, damit diese in die Funktion eines musik- oder markt-
erzeugenden Mediums treten können. Rein erzeugende Medien, be-
deutet das, sind nur dort überhaupt möglich, wo auch die überdies
entdeckenden Medien der sinnlichen Erfahrung und der sprachlichen
(und sonstigen, etwa bildlichen) Erkenntnis in Arbeit sind.
An welchen der beiden Fälle - und ihrer vielfältigen Vermischun-
gen - wir aber auch denken, in jedem Fall gilt: Im Gegebensein von
Medien tun sich Möglichkeiten der Erfahrung und des Handelns auf,
die anders nicht da sind, anders nicht ergriffen werden können, an-
ders nicht zugänglich sind. Vor diesem Hintergrund ist der Satz zu
verstehen, den ich oben in Zurückweisung einer instrumentalisti-
schen Deutung der Medien formuliert habe: »Medien sind Elemente,
ohne die es das in einem Medium Artikulierte nicht gibt.« Freilich
müssen wir diesen Satz jetzt ergänzen. Medien sind Elemente, ohne
die es das in einem Medium Artikulierte nicht gibt - wohl aber häu-
fig das, worauf sich die Artikulation bezieht.Ohne das Medium Licht
gibt es zwar keinen sichtbaren Gegenstand, wohl aber den Gegen-
stand, auf den unser Sehen gerichtet wäre, wenn wir denn Licht zum
Sehen hätten. Ohne das Medium Sprache gäbe es nicht den Gedan-

13 Dass Tatsachen allein sprachlich formuliert werden können, schließt die Möglichkeit
einer sprachfreien Wahrnehmung von Gegenständen nicht aus, sondern setzt sie vor-
aus. Aber die Wahrnehmungeines grünen Gegenstands ist etwas anderes als die Er-
kenntnis,dass dieser Gegenstand grün ist.
132
ken, dass die Erde eine Kugel ist, wohl aber die Kugelgestalt der Erde.
Dass Medien Elemente sind, ohne die es das in einem Medium Arti-
kulierte, also die in ihm bildbaren »Formen«, nicht gibt, bleibt also
richtig. Gleichwohl können sich die Formen eines Mediums auf Ge-
gebenheiten beziehen, die ihre Existenz nicht - oder nicht allein -
dem Medium verdanken, in denen sie zur Wahrnehmung oder Dar-
stellung kommen. (Der Witz eines Mediums wie der Fotografie, um
ein anderes Beispiel zu geben, besteht ja nicht zuletzt darin, Ding-
konstellationen anschaulich zu halten, die in zeitlich und oft auch
räumlich unerreichbarer Feme liegen. Fotografien etablieren die
Möglichkeit, Szenen anzuschauen, die nicht mehr wirklich sind, aber
dennoch wirklich waren.) Gleichgültig aber, ob Medien eine Wirk-
lichkeit zugänglich machen, die mit ihnen steht und fällt (die es nur
gibt, wo diese Medien in Gebrauch sind), oder eine, die mit ihnen nur
in Erscheinung tritt (die nur bekannt ist, wo diese Medien in Ge-
brauch sind), stets wird ein Bereich des Wahrnehmens, Erkennens
und Handelns eröffnet,der im Gebrauch der betreffenden Medien als
Wirklichkeit zählt.
Ich plädiere, mit einem Wort, für einen moderaten Konstruktivis-
mus, der mit einem moderaten Realismus nicht nur vereinbar ist,
sondern ein moderater Realismus ist.14 Beides gehört zusammen. Ein
moderater Konstruktivismus besagt, dass Wirklichsein bedeutet, als
Wirklichkeit zugänglich sein zu können - zugänglich im Gebrauch
von Medien, in denen bestimmte Formen des Wirklichen unter-
scheidbar werden. Ein moderater Realismus besagt, dass Wirklichsein
bedeutet, von aktualen Zugängen unabhängig sein zu können - un-
abhängig von ihrer Erschließung als bestimmte Formen in einem be-
stimmten Medium. Aus der internen Verbindung von Medialität und
Realität folgt also nicht, dass alle Wirklichkeit im Grunde eine me-
diale Konstruktion ist. Es folgt lediglich, dass es mediale Konstruk-
tionen sind, durch die uns oder überhaupt jemandem so etwas wie
Realität gegeben oder zugänglich ist. Realität ist nicht als mediale
Konstruktion, sondern allein vermögemedialer Konstruktion gege-
ben.

14 Man könnte also von einem »realistischen Konstruktivismus« sprechen, wie Thomas
Luckmann in einem Kommentar zu diesen Überlegungen vorgeschlagen hat, dem
ich wichtige Hinweise verdanke.

133
3. Ein spezielles Medium

Soweit habe ich recht wahllos von ganz unterschiedlichen Medien ge-
sprochen - vom Licht und der Sprache, vom Geräusch und vom Geld.
Sie dienten als Exempel für ein allgemeines Verständnis medialer Ver-
hältnisse. Dieses allgemeine Verständnis möchte ich jetzt einsetzen für
eine Bestimmung - oder jedenfalls den Anfang einer Bestimmung -
des besonderen Weltzugangs und Weltverhältnisses, das die neuen
Medien eröffnen.
Lassen Sie mich zunächst vereinfachend festlegen, was neue Medi-
en sind. Auf dem heutigen Stand der Entwicklung können wir uns auf
ein überschaubares Modell beschränken. Ich möchte es den »umfas-
senden Computer« nennen. Es ist dies ein Computer, der auch die
Funktion eines komfortablen Radio-, Fernseh- und Videogeräts er-
füllt, mehrere CD-Laufwerke hat, an das Internet angeschlossen ist,
mit dem man auch E-Mail versenden, faxen und telefonieren kann,
wenn man wil! so, dass man den oder die Partner am Bildschirm se-
hen kann. Dieses, wie es in der Sprache des Marktes heißt, »konver-
gente« Gerät, mit dem man Spiele spielen und Bankgeschäfte erledi-
gen, technische Anlagen steuern oder ein Zeitungslayout herstellen
kann, ist eine Maschine, wie es sie heute im Wesentlichen gibt, auch
wenn sie für die meisten von uns im Moment noch ein bisschen zu
teuer ist. Mit etwas zusätzlicher Phantasie könnten wir uns den um-
fassenden Computer auch an ein spezielles Gestell - den »umfassen-
den Fernsehsessel«, wie der Hersteller es nennt - angeschlossen den-
ken, von dem aus wir uns (gegen Gebühr) in virtuelle Räume begeben
können, die von verschiedenen Sendern und Diensten (wie dem
Europäischen Bibliotheksdienst oder dem »Mittendrin-statt-nur-da-
vor«-Service des DFB) angeboten werden.
Um den Status zu umreißen, der den neuen Medien - vertreten
durch den »umfassenden Computer« - unter der Vielzahl anderer
Medien zukommt, möchte ich kurz vier Einteilungen kommentieren,
mit deren Hilfe wir Medien klassifizieren können.
Wir können - erstens - zwischen natürlichenund nichtnatürlichen
Medien unterscheiden. Licht beispielsweise ist ein natürliches Medi-
um, für das wir heute allerdings vielfache künstliche Äquivalente ha-
ben. Der umfassende Computer hingegen ist kein Äquivalent für wel-
terschließende Differenzen, die - wie das Helldunkel des Lichts - von
Natur aus da sind, er ist durch und durch ein Artefakt, also ein nicht-
natürliches Medium.
134
Medien können - zweitens - als verzichtbar oder unverzichtbar
eingestuft werden. Für jemanden, der kaum etwas sieht (aber, neh-
men wir an, sich mit anderen Sinnen orientieren kann), ist Licht ein
Medium, auf das er verzichten kann; für jemanden, der sich primär
durch das Sehen orientiert, ist Licht ein unverzichtbares Medium.
Das Beispiel unseres umfassenden Computers zeigt, wie bestimmte
Medien evolutionär oder historisch bedingte Karrieren machen kön-
nen. In den fünfziger Jahren galt der Besitz eines einfachen Fernsehers
als entbehrlicher Luxus, heute würden viele von uns den Besitz eines
Computers - und bald: eines umfassenden Computers - als »unver-
zichtbar« einstufen. Und auch wenn sich heute und wohl auch mor-
gen noch einzelne Individuen sinnvoll gegen den Gebrauch von Com-
putern entscheiden können, die moderne Gesellschaft kann es längst
nicht mehr. In diesem Sinn sind die Vorstufen des umfassenden Com-
puters bereits heute zu weitgehend unverzichtbaren Medien gewor-
den.15
Medien können - drittens - (eher) Wtihmehmungsmedien, Hand-
lungsmedien oder Darstellungsmedien sein. Licht ist ein Medium der
Wahrnehmung, Geld ist ein Handlungsmedium, Sprache ist ein Dar-
stellungsmedium, das freilich eine konstitutive Rolle auch im Vollzug
menschlicher Handlungen spielt. Man sieht hier nochmals, wie schon
an den ersten beiden Einteilungen, wie allgemein - und notgedrun-
gen pauschal - der allgemeine Begriff des Mediums ist, mit dem hier
begonnen wurde. Eine ausgearbeitete Theorie der Medien hätte eine
Theorie der Differenz und des Verhältnissesder unterschiedlichen Ar-
ten von Medien zu sein. Für den umfassenden Computer freilich gilt,
dass er die zuletzt markierten Differenzen überspringt: Er ist Medium
der Wahrnehmung nicht weniger als Handlungsmedium und ein
Darstellungsmedium allemal. Dies führt uns direkt zur vierten und
entscheidenden Differenz.
Medien können - viertens - exklusiveoder inklusiveMedien sein.
»Inklusiv« nenne ich Medien, die Leistungen anderer Medien mit
einschließen oder bündeln können; »exklusiv«nenne ich Medien, bei
denen dies nicht der Fall ist. Geld beispielsweise ist ein sehr exklusives
Medium; im Medium des Geldes lässt sich nichts beschreiben, abbil-
den, ertasten oder zum Klingen bringen {was seiner Macht bekannt-
lich keinerlei Abbruch tut). Der umfassende Computer hingegen ist
ein außerordentlich inklusives Medium: in seinem Gebrauch können
15 Man könnte zusätzlich zwischen physiologischer und kultureller Unverzichtbarkeit
unterscheiden.
135
wir lesen und schreiben, verbal kommunizieren, Bilder und Filme
herstellen oder wahrnehmen, Musik herstellen und wahrnehmen und
vieles Weitere mehr. Die Grundunterscheidung, auf der er basiert, ist
ein minimaler (mit den Werten o und r operierender) Code, der zur
Produktion aller möglichen Werte gebraucht werden kann. Er kann
die Medien der Sprache und Schrift, des Bildes und Klangs gleicher-
maßen und gleichzeitig aktivieren; er ist bilderzeugend, tonerzeugend
und textverarbeitend in einem. Weil die Unterschiede, mit denen er
technisch operiert, auf einfachster syntaktischer Differenzierung be-
ruhen, aus denen sich alle möglichen - bildliche, sprachliche, klang-
liche und sogar räumliche - Differenzen aufbauen und ineinander
transformieren lassen, kann der umfassende Computer mehr - und
mehr unterschiedliche-Unterschiede bereitstellen als irgendein ande-
res Medium. Dabei addiert oder kombiniert der Computer nicht ein-
fach unterschiedliche hergebrachte Medien, er generiertTexte, Bilder,
Klänge oder maschinelle Operationen nach ein und demselben digi-
talen Verfahren. Er aktualisiert und transformiert die Formen der vi-
suellen, bildlichen, akustischen und sprachlichen Wahrnehmung der
Welt, so stark, dass bei Benutzern und zumal Theoretikern dieses Me-
diums gelegentlich der Eindruck entsteht, es handele sich hier um
eine ganz andere (oder um einen völligen Verlust der) Welt.
Ich halte fest: Unser integrierter Computer ist ein nichtnatürliches,
historisch und kulturell zunehmend unverzichtbares inklusives Medi-
um. Dieses verschärft die multimedialen Verhältnisse, in denen wir
immer schon stehen. Wir haben hier ein Multimedium, das ganz un-
terschiedliche Medien in einen Gebrauch zusammenführe und da-
durch eine durchaus neuartige Form der Weltbegegnung schafft. Was
für eine Begegnung aber ist das? Wie sieht die Wirklichkeit aus, die
uns der umfassende Computer eröffnet?
Dass wir gleichzeitig hören, sehen, sprechen und einiges andere
tun, ist natürlich noch überhaupt nichts Besonderes. Das tun wir
auch sonst ständig, etwa wenn wir am Bahnsteig stehen und auf einen
Zug warten, die neuesten Werbeflächen betrachten, uns nebenher
eine Cola aus dem Automaten holen und dabei ein Liedchen pfeifen,
mit dem wir ein Kind beeindrucken wollen. Was durch den umfas-
senden Computer (und seine diversen Vorläufer) neu hinzukommt,
ist eine unerhörte Reichweite, ein unerhörter Wechsel und eine uner-
hörte Transformation der Wahrnehmungen und Kommunikationen,
die wir in einer Situation vollziehen können. Wie vielfach bemerkt
worden ist, hat sich durch die elektronischen Medien eine gravieren-
136
de Lockerung des Zusammenhangs von erfahrener Situation und Si-
tuation der Erfahrung ereignet. Die Begegnung mit Situationen, in
denen sie nie waren und nie sein werden, ist für die heutigen Men-
schen dank der Massenmedien zu einem ganz alltäglichen Ereignis ge-
worden. Die Situation, die erfahren wird, ist bei der Verfolgung einer
Kriegsberichterstattung oder eines Fußballspiels im Fernsehen eine
gänzlich andere als die, in der erfahren wird. Die »Situation der Er-
fahrung« ist hier nicht länger deckungsgleich mit der »erfahrenen Si-
tuation«, wie dies in früheren Zeiten weitgehend der Fall war. Wir
können Konzerte hören, die ganz woanders gegeben werden, Kriege
verfolgen, die uns gänzlich unbehelligt lassen, mit Leuten reden, die
wir nie gesehen haben, Texte lesen, die (so) nie geschrieben wurden
usw. - und dies alles von einem einzigen Schauplatz aus. Der inte-
grierte Computer also eröffnet uns in großem Maßstab Zugang zu Si-
tuationen, in denen wir nicht sind. Wir sind in Wahrnehmung und
Kommunikation nicht länger an die Situation unseres leiblichen Auf-
enthalts gebunden. Die mediale Erfahrung wird hier zu der Erfahrung
einer (momentan oder dauerhaft, de facto oder prinzipiell) leiblich
unerreichbaren Welt innerhalb der leiblich erreichbaren Welt. 16
Die durch den umfassenden Computer gewonnene Wirklichkeit
ist somit eine um leiblich unerreichbare Situationen - weit - erwei-
terte Wirklichkeit. Freilich waren unerreichbare Situationen schon
lange vor den neuen Medien zugänglich. Man musste nur ins alther-
gebrachte Kino gehen, einen Roman lesen, eine mit Bildern der Hei-
ligenlegende ausgemalte Kirche besuchen oder an ekstatischen Ritua-
len teilnehmen. Sich mit dem leiblich erschließbaren Raum nicht zu-
frieden zu geben, dürfte ein generelles Kennzeichen menschlicher
Kulturen sein. Nur waren das in den vergangenen Jahrhunderten stets
Sonderpraktiken, die eindeutig aus der primären lebensweltlichen
Praxis herausgehoben waren. Jetzt sind sie völlig alltäglich geworden.
Es wird zu einer alltäglichen Grundsituation des Menschen am Ende
des 20. Jahrhunderts, über die Situation seiner leiblichen Anwesen-
heit hinaus zu sein.
Hinzu kommt die schon erwähnte Tatsache, dass wir die Situatio-
nen, zu denen wir uns medial in Beziehung setzen, ständig und mit
hohem Beliebigkeitsgrad wechseln können, während wir einem sol-

16 Dazu ausführlicher: A. Keppler, Mediale Erfalrrung, Kunsterfuhrung, religiöse Er-


falrrung. Über den Ort von Kunst und Religion in der Mediengesellschaft, in: A. Ho-
ner/R. Kurc/J. Reichertz (Hg.), Diesseitsrdigion. Zur Deutung der Bedeutung mo-
derner Kultur, Konstanz 1999, 183-200.

137
chen Wechsel - beim Zappen durch Fernsehkanäle oder beim Surfen
durchs Internet - zugleich in einem hohen Maß ausgesetzt sind. Me-
diale Weltbegegnung im Zeichen des integrierten Computers ist eine
Begegnung mit einem unüberschaubaren und letztlich unkontrollier-
baren Spektrum von Gegebenheiten, deren Status selbst äußerst va-
riabel ist. Auch ein geübter Benutzer dieses einheitlichen elektroni-
schen Mediums kann nicht immer wissen, welchen Status die Bilder,
Klänge, Reden und Texte haben, die ihm da begegnen - ob es sich um
eine technisch induzierte, also verändernde Wiedergabe realer Situa-
tionen handelt, ob dies eine Live-Übertragung oder eine Aufzeich-
nung ist, eine vollständige oder gekürzte Aufzeichnung, ob es sich
vielmehr um eine fingierte Situation handelt, ob die Fiktion (wenn es
eine ist) an realen Schauplätzen oder auf den Wegen der Computersi-
mulation hergestellt wurde, ob die Worte, die zu hören sind, je in rea-
ler Kommunikation hintereinander gesprochen wurden oder sich ei-
ner technischen Zusammenstellung verdanken, ob die Texte, die zu
lesen sind, von einer Autorin verfasst wurden oder sich nach und nach
- hypertextuell - aus seiner Fülle von Zugriffen ergeben haben, usw.
Im Gebrauch des umfassenden Computers tritt eine ontologische
Unschärfeein. Es ist nicht immer und niemals völlig klar, was für Sei-
endes es ist, das dem Lautsprecher und Bildschirm entgegenkommt.
Das Spektrum reicht vom bloßen Bild und dem bloßen Klang zu den
vielen Weisen einer modifizierenden Wiedergabe von Dingen, Ereig-
nissen und Situationen. Der umfassende Computer ist daher ein Me-
dium, das sich (wie bereits die Sprache) der oben getroffenen Eintei-
lung zwischen Medien, die handfeste oder simulierte Wirklichkeiten
erzeugen und solchen, die überdies eine externe Wirklichkeit er-
schließen,entzieht. Beides kann der Fall sein und oft ist beides der Fall
- ohne dass wir immer genau wüssten und wissen könnten, in wel-
chem Maß und Verhältnis es so ist.
Aus dieser konstitutiven Instabilität und Variabilität der medialen
Präsentationen ist geschlossen worden, die vom Gebrauch der neuen
Medien geprägte Welt habe nur noch wenig mit der alten Realität ei-
ner verlässlichen Eigenständigkeit von Dingen und Ereignissen zu
tun. Die so genannte reale Situation verliere mehr und mehr an Ge-
wicht gegenüber der virtuellen medialen Situation. Außerdem wür-
den die vermeintlich realen Situationen diesseits der Medien mehr
und mehr in medialen Schemata wahrgenommen, so dass alles in al-
lem der Befund eines »Verschwindens der Wirklichkeit« unausweich-
lich sei - jener Wirklichkeit, der ein Bestehen unabhängig von ihrer
138
faktischen medialen Erschlossenheit zugesprochen werden könne.
Realität sei daher nicht länger als Widerpart, sondern allein noch als
Produkt medialer Weltgewinnung denkbar. Ein »moderater« Kon-
struktivismus der Medientheorie, wie ich ihn skizziert habe, sei
spätestens durch das Auftreten des umfassenden Computers wider-
legt.
Demgegenüber möchte ich die These verteidigen, dass die Neuen
Medien zwar eine radikale Erweiterung des bisherigen Medienge-
brauchs darstellen, aber mehr auch nicht. 17 Es handelt sich lediglich
um die exponentiale Fortführung einer langen historischen Entwick-
lung- einer mit dem ersten Bild und dem ersten Satz begonnenen Be-
wegung des medialen Ausgreifens in immer entferntere Bereiche. Die
mediale Revolution macht keine erkenntnistheoretische Revolution
nötig. Im Gegenteil: Wir können sie als die mediale Revolution, die
sie historisch gesehen ist, nur begreifen, wenn wir in erkenntnistheo-
retischen Angelegenheiten auch im Global Village die Kirche im Dorf
lassen.18

4. Zur Realität der neuen Medien

Zu den Fragen, die hier zur Entscheidung stehen, zählen die Folgen-
den:
Ist es wahrscheinlich oder wenigstens denkbar, dass das spezielle
Medium des integrierten Computers die Position eines allgemeinen
Mediums erringt?
Ist es wahrscheinlich oder wenigstens denkbar, dass der umfassen-
de Computer in der Lage ist, alle oder doch annähernd alle Medien
der Welterschließung in seinen Gebrauch mit einzuschließenund so
an seinen Gebrauch anzuschließen,dass er zu einer Art Supermedium
wird, durch das wir alle die Wirklichkeiten erzeugen, die uns offen-
stehen?
Ist es wahrscheinlich oder wenigstens denkbar, dass die zu Beginn
skizzierte allgemeine Medientheorie zugunsten einer speziellen Theo-
17 Diese These betrifft ausdrücklich den alltäglichen Mediengebrauch; sie ist vereinbar
mit der Auffassung, der integrierte Computer stelle technischeinen grundsätzlich
neuen Zustand dar.
18 Zu den Positionen und ihren Vertretern, gegen die ich hier implizit noch einmal ar-
gumentiere, s. M. Seel, Vor dem Schein kommt das Erscheinen. Bemerkungen zu ei-
ner Ästhetik der Medien, in: ders., Ethisch-ästhetische Studien, Frankfurt/M. 1996,
104-125.

1 39
rie der elektronischen Medien abdanken muss, einfach weil das elek-
tronische Medium Computer zum schlechthin paradigmatischen
Medium geworden ist?
Ist es empirisch wahrscheinlich oder wenigstens konsistent denk-
bar, dass die Differenz von Wahrnehmungssituation - der realen Si-
tuation vor dem Computer - und wahrgenommener Situation - der
medialen Situation im Computer - nach und nach verschwindet? 19
Nichts dergleichen, so meine ich, ist konsistent denkbar, geschwei-
ge denn wahrscheinlich.
Bis heute zumindest, so sollten wir uns erinnern, ist die Differenz
zwischen Wahrnehmungssituation und wahrgenommener Situation
angesichts der elektronischen Medien noch recht intakt. Die Fähig-
keiten des Sehens, Hörens, Lesens sowie der verbalen Kommunika-
tion müssen vorausgesetzt werden, bevor überhaupt ein massenme-
diales Ereignis stattfinden kann, das sie einzeln oder zusammen in
Anspruch nimmt. Würden die Adressaten über die entsprechenden
Fähigkeiten nicht bereits verfügen, wäre ihnen nicht mehr als ein Irr-
lichtern auf der Fläche des Bildschirms zugänglich, begleitet von be-
deutungslosen Geräuschen. Noch befinden wir uns vor dem umfas-
senden Computer: Er ist ein spezielles Ding in unserer Umgebung,
das nur dem einer ergiebigen Benutzung offensteht, der bestimmte
Kompetenzen mitzubringenin der Lage ist. Selbst dann aber, wenn
wir eines Tages in den umfassenden Computer einsteigen wie in ein
Cockpit auf dem Jahrmarkt, muss weiterhin eine erfolgreiche leibli-
che Orientierung mitgebracht werden, damit wir den medial simu-
lierten Raum überhaupt wie einen Raum explorieren können. Wir
könnten Raumwahrnehmung und Raumorientierung nicht im si-
mulierten Raum lernen. Und so weiter. Wenn wir mit jemandem zu-
sammen ins Cockpit steigen, sollte Kommunikation mit diesem an-
deren möglich sein - eine Kommunikation, die wiederum nicht in
der parasozialen Interaktion mit Gestalten auf dem Bildschirm oder
im Cyberspace, sondern allein im Austausch mit realen Gegenübern
erlernt und erprobt werden kann. Die Interaktion mit virtuellen Ge-
genübern setzt ein »Interface« mit einem realen Gegenüber und
damit die Kenntnis des grundsätzlichen Unterschieds zwischen rea-
len und virtuellen Gegenübern auch dann voraus, wenn es im Ein-

19 Was übrigens bedeuten würde, dass die oben konstatierte Entfernung von Erfah-
rungssituation und erfuhren er Situation nur eine kurze historische Episode wäre: Das
weitgehende Zusammenfallen beider Situationen wäre durch das überhandnehmen
der medialen Erfahrung schon bald wieder erreicht.

140
zelfall zu Verwechslungen der unterschiedlichen Positionen kommen
mag.
Dass die Differenz zwischen leiblich erschlossener und digital
eröffneter Wirklichkeit durch den integrierten Computer nicht ge-
tilgt werden kann, liegt unter anderem daran, dass er wesenclich auch
ein Bildmedium ist.20 Denn Bilder können als Bilder nur wahrge-
nommen werden, wo das, was in oder auf ihnen zu sehen ist, nicht
gleichgesetzt wird mit dem, was die Bildfläche ist. Sie präsentieren et-
was, was ansonsten, außerhalb der Präsentation im Bild, nicht präsent
ist (ein Merkmal, das das Bild mit den meisten anderen Zeichen teilt).
Ein Bild von einer Pfeife ist eben keine Pfeife, wie sehr die Gestalt auf
dem Bild (im Verhältnis ihrer Partien) auch der Gestalt einer Pfeife
ähnlich sein mag. Die Objekte oder Szenen auf einem Bild sind nur
für das Auge da. Bilder zeigen Dinge oder Szenen ohne leiblich-
räumliche Zugänglichkeit als Dinge oder Szenen. Nur wo dies er-
kannt wird, können Bilder als Bildergesehen werden. Wo die Kom-
petenz der Unterscheidung von Bildgeschehen und realem Gesche-
hen verschwindet, verschwindet auch die Gegebenheit von Bildern.
Daher kann der Fall nicht eintreten, dass das Bildmedium integraler
Computer unser Realitätsverständnis eines Tages im Ganzen be-
herrscht - denn es wäre dann kein Bildmedium mehr. Das Bildmedi-
um des umfassenden Computers, heißt das, kann deswegen zu einem
»Verschwinden der Wirklichkeit« nichts beitragen, weil es mit dem
Verschwinden der Differenz von wirklichen und bildlich erscheinen-
den Dingen selbst verschwinden würde. Bilder gibt es nur, wo es
Erscheinungen im Bild gibt, die sich auf signifikante Weise von Er-
scheinungen außerhalb des Bildes unterscheiden - aus diesem relativ
schlichten Grund sind wir vor einem Versinken in der» Bilderflut« der
modernen Medien sicher, wie es von den Apokalyptikern und Inte-
grierten des Mediengewerbes seit nun schon über fünfzig Jahren mit
Schaudern bzw. Freuden angekündigt wird.
Nun könnten die Propheten der virtuellen Welt freilich entgegnen,
dass das Verschwinden der alten Wirklichkeit erst mit dem allgemei-
nen freien Eintritt in die Weiten des Cyberspace eintreten werde. Sie
könnten - mit Recht, wie ich meine- daraufhinweisen, dass der vir-f
20 - auch wenn er als ein solches (allein) nicht definierbar ist. Er ist eine Maschine der
digitalen Speicherung und Umsetzung von Informationen (im technischen Sinn von
Information), mit dem unter anderem Bilder produziert werden können - eine Di-
mension freilich, die viele seiner absehbaren Nutzungen dominiert. - Wenn ich im
Folgenden abkürzend von einem »Bildmedium« spreche, so ist gemeint: der integra-
le Computer, soweiter ein Bildmedium ist.
tuelle Raum des Cyberspace gerade kein Bildraum ist, sondern ein
Phänomen sui generis. Wir begegnen hier nicht, wie im Bild, (Zei-
chen von) Gegenständen oder Zuständen, die das Bild auf einer sicht-
baren Fläche zur Erscheinung bringt. Wir explorieren einen Raum
von Erscheinungen, der sich in vielen Aspekten nicht von dem Er-
scheinungsraum unterscheidet, der als Umgebung des Leibes erfahren
wird. Es ist ein Raum, der (weitgehend) wie der Raum ist, in dem wir
leiblich anwesend sind. - Die Grenze aber zwischen dem Raum, der
wie jener ist, in dem wir sind und jenem, in dem wir sind, dürfte er-
neut nicht zu überspringen sein - weder in der medial aufgerüsteten
Praxis noch in der Theorie dieser Praxis. Denn sobald wir nicht län-
ger wüssten, dass der Raum, den wir in unserem integrierten Fern-
sehsessel erfahren, nicht der Raum ist, in dem wir faktisch sind, wäre
das, was wir erfahren, nicht länger ein anderer Raum, sondern allein
ein chaotisches Andrängen von visuellen Impulsen, dem wir ohne
Ordnungsmöglichkeit - ebenso hilflos wie angstvoll - ausgeliefert
wären. Raumwahrnehmung ist nur möglich, wo das Subjekt dieser
Wahrnehmung die Position seines Leibes kennt, wo es in einem mi-
nimalen Sinn weiß, wo es ist (andernfalls wäre es nicht einmal fähig,
sich zu verirren). Daher ist keine Welt möglich, die vollständig oder
auch nur in erster Linie eine virtuelle Welt wäre.21 Wie Bildwahrneh-
mung nur als eine Modifikation des räumlichen Sehens möglich ist,
so ist der virtuelle Raum nur als eine Modifikation des Raums leibli-
cher Anwesenheit möglich.
Trotzdem kann der Satz stehenbleiben, den ich vorhin zur Be-
schreibung der medialen Revolution gebraucht habe, die sich um uns
herum vollzieht: »Es wird zu einer alltäglichen Grundsituation des
Menschen am Ende des 20. Jahrhunderts, über die Situation seiner
leiblichen Anwesenheit hinaus zu sein.« »Über die Situation seiner
leiblichen Anwesenheit hinaus sein« kann aber eben nur, wer weiter-
hin in einer Situation seiner leiblichen Anwesenheit ist. Die virtuellen
Situationen und Welten hängen vom Gegebensein realer Situationen
und Welten ab. Ihre durch die Verbreitung der Neuen Medien ge-
schaffene Zugänglichkeit jedoch verändert die Realität dieses realen,
lebensweltlichen Lebens dramatisch. Insofern haben die neuen Me-
dien Realität und schaffensie neue Realitäten - nicht freilich durch
eine Abschaffung der Wirklichkeit, sondern durch ihre Veränderung:
21 Dies schließt nicht die Möglichkeit aus, dass der Aufenthalt in virtuellen Räumen in
künftigen Gesellschaften in einem quantitativen Sinn der dominierende sein könn-
te.
durch die Eröffnung der Möglichkeit, uns nahezu andauernd auf Si-
tuationen zu beziehen, in denen wir nicht sind.
Das Phänomen der durch die neuen Medien erzeugten »ontologi-
schen Unschärfe« ist also durch meine Kritik an extremistischen er-
kenntnistheoretischen Folgerungen nicht relativiert. Wir wissen oft
nicht genau, was für Situationen (oder Informationen) es sind, auf die
wir uns im Gebrauch der elektronischen Medien beziehen, und es
kostet einige Mühe und Erfahrung, hier zu hinreichend (wenn auch
niemals absolut) verlässlichen Einschätzungen zu kommen. Schon bei
der guten alten Sprache aber ist dies nicht grundsätzlich anders. Auch
hier mussten und müssen wir mit hartnäckigen Unschärfen der Be-
zugnahme und des Status von Reden und Schriften leben. Auch im
Gebrauch dieses inklusiven Mediums konnten und können wir in
sehr entfernte Welten ausgreifen, ohne dass wir immer wüssten, ob
unseren eigenen Sätzen oder denen anderer eine greifbare Wirklich-
keit entspricht. Die neuen Medien steigernalso auch hier eine Ten-
denz unseres generellen Weltverhältnisses, ohne uns ein im Ganzen
neues zu bescheren.
In der Frage der Abhängigkeit der neuen Medien von anderen und
älteren Medien müssen zwei Aspekte klar auseinandergehalten wer-
den: ein logisch-phänomenologischer und ein historisch-soziologi-
scher. Logisch-phänomenologisch betrachtet sind die elektronischen
Medien sekundäre Medien; die Nutzung ihrer spezifischen Leistun-
gen ist erst auf der Basis eines erfolgreichen Gebrauchs anderer Me-
dien möglich. Ihr Weltbezug erweitert den menschlichen Weltbezug,
anstatt ihn von Anfang neu zu stiften. Dieser logisch-phänomenolo-
gische Primat der hergebrachten leiblich-sprachlichen Welterschlie-
ßung gegenüber der hochtechnischen Erschließung virtueller Wel-
ten, der es unnötig erscheinen lässt, großartige erkenntnistheoreti-
sche Revolutionen auszurufen, sagt aber alleine nichts - und ich
meine wirklich: nichts - über die kulturelle, soziale und gesellschaft-
liche Rolle der Neuen Medien aus. Mit erkenntnistheoretischen Be-
trachtungen lässt sich darüber gar nichts sagen, auch wenn viele -
und gerade viele der euphorischen - Medientheoretiker diesen Un-
terschied nicht wahrhaben wollen und daher zu philosophisch wie
empirisch absurden Diagnosen gelangen. Welche Medien in heuti-
gen und künftigen Kulturen die Rolle eines Leitmediums bei der
Konstruktion sozialer und gesellschaftlicher Wirklichkeiten spielen
und spielen werden, das ist eine offene Frage, die von meiner Leug-
nung eines theoretischen Primats dieser Medien ausdrücklich offen-
143
gelassen wird. Aber auch wenn die Menschen eines Tages vorwiegend
vircuelle Räume zu ihren Erlebnisräumen machen sollten (oder aus
Gründen der Umweltzerstörung machen müssten), den Spielraum
ihres leiblich~sprachlichen Verhaltens könnten sie dadurch nur er-
weitern, nicht überspringen. 22
Ich komme also zu dem Schluss, dass auch der umfassende Com-
puter kein alles umfassendes Medium sein kann. Er ist »umfassend«
allein in dem komparativen Sinn, dass er technische Anwendungen
einschließt, die lange nur getrennt zugänglich waren, nicht hingegen
in einem absoluten Sinn einer Integration aller Zugänge, die wir zu
uns und der Welt haben. Medien; auch die in hohem Maß inklusiven
Medien, existieren nur im Plural. Sie sind Wirklichkeiten, durch die
wir auf die eine oder andere Weise Wirklichkeit haben. Sie sind, wie
es am Anfang hieß, Gelegenheiten zum Gegebensein, und sie sind
selbst ein Gegebenes, das aus externer oder auch reflexiver Warte als
gegeben erscheint. Kein einzelnes Medium kann die Position der Welt-
erschließung alleine okkupieren.
Diese Beobachtung führt am Ende zu einer positiven Beschreibung
jener verwirrenden Stufung unseres medialen Weltverhältnisses, das
uns zu Beginn in einen gewissen Schwindel versetzte. Jedes Medium
stellt seinen Benutzern ein bestimmtes Spektrum von Formen bereit.
Durch diese Formen bildet sich ein Bereich des für sie Wirklichen, der
in der Perspektive eines anderen Mediums (oder, wie im Fall der Spra-
che oder des künstlerischen Bildes, in reflexiver Selbst-Distanzierung)
als ein Zusammenhang von Formen des Wirklichen beschrieben wer-
den kann. Dies bedeutet, dass wir das Wirkliche nicht allein im
Brennpunkt jew:eiliger Medien, sondern auch in ihrem Rücken an-
treffen können, freilich nur, wenn wir ein anderes Medium oder eine
andere Perspektive aktivieren. Die Wirklichkeit erweist sich hier als
reicher als alles, dem wir im Medium eines Mediums begegnen kön-
nen, auch wenn wir das Wirkliche selbst nur aus Möglichkeiten sei-
ner medialen Zugänglichkeit zu denken vermögen. So verstanden,

22 Dies hat zur Folge, dass Medienkompetenz als eine generelleKompetenz verstanden
werden muss; wer außer den (elektronischen) »Medien« nichts beherrscht, versteht
sich gerade auf die neuen Medien nicht. Dies hat eminente praktische und politische
Folgen. Die Alphabetisierung eines kompetenten Mediengebrauchs setzt soziale und
sprachliche Alphabetisierung voraus (wer nicht lesen kann, kommt im Internet nicht
weit). Wir erleben derzeit eine radikale Veränderung der sozialen und individuellen
Lebenssituation, die nur insgesamtbewältigt werden kann. Wer nicht in der Lage ist,
in der natürlichen Lebenswelt an mehreren Lebenssphären zu partizipieren, wird dies
auch in der Begegnung mit virtuellen Welten nicht sein.

144
führen uns gerade die Neuen Medien einen Reichtum des Wirklichen
vor Augen, den auch alle künftigen neuen Medien nicht werden be-
herrschen können.

145
8. Bestimmen und Bestimmenlassen.
Anfänge einer medialen Erkenntnistheorie

I.

Indem wir bestimmen, lassen wir uns bestimmen.


Dies gilt für alle Formen des Bestimmens, gleich ob es sich um ein
theoretisches, praktisches oder ästhetisches Bestimmen handelt. So
unterschiedlich das Verhältnis von Bestimmen und Bestimmenlassen
in allen diesen Fällen ist, außerhalb dieses Verhältnisses ist keinerlei
Bestimmung möglich.
Indem wir uns bestimmen, lassen wir uns bestimmen: Dieses be-
sondere praktische Verhältnis ist lediglich ein Fall jenes allgemeinen
Verhältnisses. Auch uns können wir nur bestimmen, indem wir be-
schreibend und wertend bestimmen- und uns dabei bestimmen lassen.
Unter »Bestimmen« verstehe ich ein erkennendes Festhalten oder
Festlegen, wie etwas ist oder wie etwas sein soll. Von diesem Bestim-
men aber soll hier allein in theoretischer Bedeutung die Rede sein.
Unter theoretischem Bestimmen verstehe ich jedes Feststellen, was
und wie etwas ist. Man könnte es auch das konstatierende Bestimmen
nennen. Es findet seinen Ausdruck in deklarativen Sätzen der Form:
»Es ist der Fall (es ist so, ich meine), dass p«. Dies können beschrei-
bende oder bewertende Sätze sein. Der Unterschied zwischen theore-
tischem und praktischem Bestimmen, wie er hier verstanden wird,
liegt nicht in der Differenz von Beschreibung und Bewertung, son-
dern in der Verwendungvon Beschreibungen und Bewertungen. De-
klarative Sätze werden zu praktischen Sätzen, wenn sie als Gründe für
oder gegen eine Art des Handelns eingesetzt werden. Sie sind Aus-
druck eines lediglich konstatierenden Bestimmens, solange sie nicht
in dieser Funktion aufgefasst werden.

2.

Wodurchlassen wir uns bestimmen, wenn wir zu erkennen versuchen,


was oder wie etwas ist?
Durch die Gegenständeunseres Erkennens, wäre eine naheliegende
Antwort.
Durch die Medien unseres Erkennens, lautet die Antwort, die heute
oft anstelle der naheliegenden gegeben wird.
146
Beide Antworten aber gehören zusammen. Nur weil wir uns in un-
serem Erkennen durch Medien des Erkennens bestimmen lassen, ist es
möglich, dass wir uns in unserem Erkennen durch die jeweiligen Ge-
genstände unseres Erkennens bestimmen lassen. Nur weil es Gegen-
stände gibt, die ein von unserem Erkennen unabhängiges Bestehen
haben, ist es möglich, durch Medien einen erkennenden Zugang zu
Gegenständen zu haben.
In allem Bestimmen haben wir es mit einem zweifachen Bestim-
menlassen zu tun, einem gegenständlichen und einem medialen. Das
gegenständliche Sichbestimmenlassen ist nur zusammen mit einem
medialen Sichbestimmenlassen möglich. Von diesem Zusammen-
hang handelt meine Betrachtung: Sie handelt von dem Zusammen-
spiel von medialem und materialem Sichbestimmenlassen im konsta-
tierenden Bestimmen.
Innerhalb und außerhalb der Philosophie wird heute viel über das
mediale Weltverhältnis des Menschen diskutiert. Diese Diskussion ist
manchmal mit der starken erkenntnistheoretischen Suggestion ver-
bunden, erst die »mediale Revolution« habe die Augen über die Ver-
fassung menschlicher Wirklichkeiten geöffnet. Die Erinnerung an die
Medialität allen Erkennens wird umstandslos als Argument für diver-
se Spielarten des Konstruktivismus und Anti-Realismus verwendet,
als gehörte es bereits zur Definition von Erkenntnismedien, Erzeuger
und nicht Entdecker eines Wirklichen zu sein. Eine weniger voreilige
Besinnung auf das Verhältnis von Medialität und Realität im Erken-
nen, so soll sich im Folgenden zeigen, gibt demgegenüber Anlass -
oder vielmehr, sieht man auf jüngere Arbeiten von John McDowell,
Crispin Wright, Hilary Putnam und Robert Brandom1, weiterenAn-
lass -, die theoretische Alternative »Konstruktivismus oder Realis-
mus« zu überwinden. Sie bietet Gelegenheit, einen Konstruktivismus
zu entwerfen, der einen philosophischen Realismus impliziert und ei-
nen Realismus, der nur zusammen mit einem philosophischen Kon-
struktivismus expliziert werden kann.

1 J. McDowell, Mind and World, Cambridge/Mass. 1994; C. Wrighr, Truth and Ob-
jeccivity, Cambridge/Mass. 1992; ders., Human Nature? Rez. v. J. McDowell, Mind
and World, in: European Journal of Philosophy 4/r996, 23;-2;4; H. Pumam, The
Many faces ofRcalism, LaSalle1987; ders., The Question ofRealism, in: ders., Words
and Life, hg. v. J. Conant, Cambridge/Mass. 1994, 295-312; R. B. Brandom, Making
it Explicit. Reasoning, Representing and Discoursive Commitment, Cambridge/
Mass. 1995.
147
3.

Zwei Faustregeln vorweg:


Jede Analyse der Medien des Erkennens wäre blind, würde sie den Ge-
genständen des Erkennens kein eigenes Gewicht einräumen.
Jede Analyse des Erkennens von Gegenständen wäre borniert, würde
sie den Beitrag der Medien des Erkennens übersehen.
Die Rede von »Medien« des Erkennens sollte freilich nicht ver-
gessen machen, dass das Verhältnis von Bestimmen und Bestim-
menlassen ein altes philosophisches Thema ist. Dass wir uns im ge-
lingenden Erkennen vom Wesen der Dinge bestimmen lassen, war
für die griechischen Philosophen selbstverständlich. Dass wir, zu-
sätzlich zu der Rezeptivität unserer Sinne, in allem Erkennen durch
die Formen unseres Erkennens bestimmt sind, ist der Grundgedanke
der Kritik der reinenVernunft.Wo seither nach den Voraussetzungen
des Erkennens gefragt wird, kommt stets auch das in seinem Vollzug
Unerkannte, Unbekannte oder Unbestimmte zur Sprache. So bei
Hegel, der das Bewusstsein in einen Prozess des sich Herausarbeitens
aus der Unbestimmtheit setzt und ihm erst am Ende eine wenigstens
prinzipielle Selbsterkenntnis zugesteht. So bei Wilhelm von Hum-
boldt, wenn er Sprache als Prozess versteht, der alle Sprecher unü-
bersehbar prägt und ihnen allein in dieser Prägung die Freiheit ver-
leiht, individuelle Sprecher zu sein. So bei Wittgenstein, wenn er
Sprachspiele als Verbindungen von Tätigkeiten beschreibt, die weit-
hin unausgesprochenen Regeln folgen. So bei Heidegger, wenn er
sagt, dass alles Sprechen ein »Hören« auf das Sprechen der Sprache,
ein Mitgehen mit ihrem im ganzen unbeherrschbaren Unterschei-
dungsspiel ist. So bei Davidson, wenn er Sprechen und Verstehen als
Interpretationshandeln versteht, in dem ein gemeinsames Verständ-
nis aus unbestimmten Voraussetzungen immer erst hergestellt wer-
den muss.
Unbestimmtheit ist ein wichtiges Stichwort: Alles Sichbestimmen-
lassen schließt ein Sicheinlassen auf Unbestimmtheiten ein. Für die
Seite der Gegenstände hat dies Kant radikal formuliert, als er sagte,
die »Dinge an sich« seien für uns nicht erkennbar. Seine Nachfahren
aber haben eine konstitutive Unbestimmtheit auch auf der Seite des
erkennenden Zugangs zu den ihres Wesens beraubten Objekten gese-
hen. Sobald der unumgängliche Zugang im Erkennen - wie bei
Humboldt, Nietzsche, Frege, Wittgenstein und ihrenNachfolgern -
148
zunehmend am Leitfaden der Sprache expliziert wird, treten auch hier
mehr und mehr Unbescimmtheitsstellen in den Blick.2
Das zweifache Sichbescimmenlassen erweist sich als eine zweifache
Quelle von Unbestimmtheit: aufseiten der Medien wie aufseiten der
Gegenstände des Bestimmens. Wo Bestimmen ist, tut sich Unbe-
stimmtheit auf.
Es bestehe jedoch keinerlei Anlass, hieraus nihilistische Konse-
quenzen zu ziehen. Denn die unauflösliche kognitive Verschränkung
von Bestimmtheit und Unbestimmtheit bedeutet lediglich, dass alles
Erkennen eben ein Bestimmenist: ein Festhalten von etwasim Unter-
schied zu vielem anderen.Es bedeutet freilich auch, dass die Horizon-
te des Unbestimmten mit jedem noch so genauen Erkennen mic-
wachsen. Das Ideal eines vollständigen Erkennens ist leer. Sowenig
das Bestimmen alles ist, sowenig können wir alles bestimmen.

4-

Unter Erkennen verstehe ich das Gewinnen einer Überzeugung, dass


essichso und so verhält.Jede so gewonnene Erkenntnis ist immer eine
Erkenntnis, dass- dieser oder jener Sachverhalt besteht oder nicht be-
steht. Wer glaubt, eine Erkenntnis gewonnen zu haben, reklamiert zu
wissen,dass es sich so und so verhält. Nicht nur eine Meinung, son-
dern darüber hinaus eine Erkenntnis hat er gewonnen, wenn es sich
tatsächlich so verhält, wie er glaubt, dass es sich verhält - worüber frei-
lich auch Dritte nur Meinungen haben können, von denen sie an-
nehmen oder hoffen, dass es sich um Erkenntnisse handelt. Wie alles
Wissen ist auch alles Erkennen prinzipiell fallibel: es kann zu tatsäch-
lichen oder nur vermeintlichen Erkenntnissen führen.
Den Ausdruck »Erkennen« gebrauche ich als Bezeichnung eines
kognitiven Prozesses, der zu vermeintlicher oder tatsächlicher Er-
kenntnis führt: zu der bloßen Ansicht, dass es sich so und so verhält
(und es verhält sich doch anders) oder aber zu der Einsicht, dass es so
und so ist (wie es tatsächlich ist). Erkennen, so verstanden, ist der ge-
lingende oder misslingende Erkenntnisversuch.
Von diesem engen Erkenntnisbegriff lassen sich andere Begriffe der
Erkenntnis abheben - solche eines nichtpropositionalen Erkennens,
wie es etwa durch viele Kunstwerke oder auch philosophische Texte
2 Hierzu G. Gamm, Hucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als
Ausgang der Modeme, Frankfurt/M. 1994-

149
ermöglicht wird. Auch dies sind sinnvolle Verwendungen des Wortes
»Erkenntnis», die jedoch nur im Kontrast zur Fähigkeit und Form des
propositionalen Erkennens geklärt werden können. Der enge Begriff
von Erkenntnis, auf den ich mich hier beschränke, ist der logisch ge-
sehen basale Begriff. Nur wo dieses Erkennen erreichbar ist, sind an-
dere Formen des Erkennens erreichbar.

5.

Von dem propositionalen Erkennenmöchte ich einen sehr viel weite-


ren Begriff der Wahrnehmungunterscheiden. 3 Zwar sind viele Wahr-
nehmungen zugleich Wahrnehmungen, dasses so und so ist, zum
Beispiel, dass auf dem Baum eine Katze sitzt; sie schließen dann ein
Erkennen ein. Viele Wahrnehmungen aber implizieren kein proposi-
tionales Meinen, keine begriffliche Identifikation von Sachverhalten.
Die Wahrnehmung einer Katze auf dem Baum impliziert dann kein
Bewusstsein der Tatsache,dass eine Katze auf dem Baum ist. Sie ist
einfach die Wahrnehmung einer Katze, die auf einem Baum sitzt -
wie wir sie etwa einem Hund oder einer anderen Katze problemlos zu-
schreiben können. Es werden dieselben Gegenstände wahrgenom-
men, freilich nicht in der selben Weise: nicht in einem begrifflichen
Diskriminieren, sondern allein in einem sensorischen Eruieren. Das
sensorische Eruieren wird nicht weitergeführt oder ist nicht offen für
ein begriffliches Diskriminieren, wie dies bei sprachfähigen Individu-
en der Fall ist. So sehr auch unsere Wahrnehmungen vielfach nicht
propositional artikuliert sind, sie lassensich in vielen Aspekten pro-
positional artikulieren. 4
Den Übergängen und Beziehungen von eruierender und erken-
nender Wahrnehmung kann hier nicht im Einzelnen nachgegangen
werden. In Übereinstimmung mit Davidson 5 möchte ich nur anmer-
ken, dass zum propositionalen Erkennen das Vorliegen von Überzeu-
gungen gehört, die zum Gegenstand weiterer Überzeugungen ge-
macht werden können. Wer nicht zu der eigenen Meinung und zu der
von anderen Stellungnehmen kann, wer also nicht fähig ist, Meinun-

3 Vgl. zum Folgenden W. Künne, Sehen. Eine sprachanalytische Betrachtung, in: Lo-
gos N.F. 2/r995, rn3-121.
4 Hierzu Wright, Human Nature?, a.a.O., 244 f.
5 D. Davidson, Rational Animals, in: E. LePore/B. McLaughlin (Hg.), Actionsand
Events. Perspectives on the Philosophy of Donald Davidson, Oxford 1988, 373-380.
gen überMeinungen zu haben, lebt diesseits eines propositionalen Be-
wusstseins. Nur wo diese Bedingungen erfüllt sind, soll von Erkennt-
nis oder dem Vermögen des Erkennens die Rede sein. Nur wo sie er-
füllt sind, tut sich die Schere von Bestimmen und Bestimmenlassen,
Bestimmtheit und Unbestimmtheit auf. Nur wo sich mit einer Welt
von Bestimmungen eine Welt des Unbestimmten auftut, tut sich die
Sphäre menschlichen Tuns und Lassens auf.

6.

Wahrnehmen und Erkennen können sich nicht ohne Medien vollzie-


hen - nicht ohne vermittelnde, tragende Elemente, die im Erkennen
wirksam sind, ohne Gegenstand des jeweiligen Erkennens zu sein.
Was die erkennende von der eruierenden Wahrnehmung grundsätz-
lich unterscheidet, ist der Gebrauch artifiziellerMedien. Anders als
Licht oder Schall, den Medien des Sehens und Hörens, sind die Me-
dien des Erkennens nicht von Natur aus da, sie gehören nicht zur
natürlichen Ausstattung der Erkennenden. Sie müssen im sozialen
Leben kulturell gebildet werden.
Das erste dieser Medien ist die Sprache. Auch Bilder können als Er-
kenntnismedien dienen, wie zahllose Geräte als Medien des Erken-
nens fungieren können, vom Schreibstift über die Lupe bis hin zum
Computer. Aber Sprache ist das einzige Erkenntnismedium sine qua
non. Ohne die Ausbildung einer Sprache können die anderen Medi-
en nicht als Erkenntnismedien entwickelt und genutzt werden. Alle
anderen Medien sind Erkenntnismedien nur zusammen mit dem Me-
dium der propositionalen Artikulation.
»Artifiziell« ist dieses Medium freilich in einem sehr besonderen
Sinn. Es ist weniger ein Erzeugnis des menschlichen Geistes als viel-
mehr sein erstes Zeugnis - jedenfalls solange wir mit »Geist« die
Fähigkeit des im strikten Sinn erkennendenVerhaltens meinen. Zu-
sammen mit den entsprechenden physiologischen Voraussetzungen
ist dieses Medium konstitutivfür die begrifflichen Gehalte, die in ihm
zu Darstellung und Ausdruck gebracht werden können. Sprache ist
für das propositionale Denken nicht wie eine Brille, die uns besserse-
hen macht; ihr Gebrauch lässt uns nicht besser erkennen, er lässt uns
erkennen.6
6 Der hier vorgeschlageneBegriffdes sprachlichen »Mediums«ist daher von Rortys Kri-
tik an Theorien, die Spracheals ein Medium desAusdrucks präexistencergeistigerGe-
Dieses Erkennenkönnen, das im Sprechenkönnen liegt, hat soziale
Wurzeln. Wie Humboldt, Wittgenstein, Davidson, Habermas oder
zuletzt Brandom ausgeführt haben, sind propositionale Einstellungen
allein im Gegebensein einer intersubjektiven Sprache gegeben (wie
verschieden das Verständnis von »intersubjektiver Sprache« bei diesen
Autoren auch ist). Die genannten Autoren behandeln alle jenen Pro-
zess, dem Davidson den schönen Namen »Triangulation« gegeben
hat. Sie handeln von der theoretisch gleichursprünglichen Rolle sub-
jektiver, intersubjektiver und objektiver Erkenntnis. Jedes Erkennt-
nissubjekt hat die Position eines unter anderen Sprachteilnehmern in
einer Welt von Dingen und Ereignissen, die diesen Sprechern ge-
meinsam zugänglich sind. Dass Erkennen nur in dieser Dreiecksbe-
ziehung möglich ist, liegt letztlich daran, dass die Fähigkeit zu erken-
nen die Fähigkeit einschließt, die eigene kognitive Position zur Dis-
position stellen zu können.
Die erkennende Stellungnahme dazu, wie es sich mit etwas (in der
Welt) verhält, ist nicht möglich ohne die erkennende Stellungnahme
zu dem Gedanken,dass es sich so verhält. Um zu einem Gedanken
Stellung nehmen zu können, muss dieser aber in einer Weise objekti-
viert werden können, die ihn aus der Unverbindlichkeit einer nur sub-
jektiven Regung herausnimmt. Er muss als Laut oder Schrift gegen-
über einem beliebigen Adressaten geäußert werden können, der ihn in
seinem Anspruch auf Gültigkeit anerkennen kann. (Die Bedeutung
eines beliebigenAdressaten weise darauf hin, dass zu einer Sprache
mindestens drei gehören - noch eine Triangulation). Nur wo Zei-
chenelemente verfügbar sind, mit denen beliebige Gedanken gegen-
über beliebigen Adressaten geformt werden können, sind Gedanken
verfügbar, die als Gedanken vertreten oder bestritten, verneint oder
bejahe werden können. Ohne das Medium einer Sprache wären also
keine Gedanken da, mit denen und zu denen Stellung genommen
werden könnte.
Ohne das Medium einerSprache, wohlgemerkt. Obwohl sie nicht
im gängigen Sinn - wie eine Brille oder Lupe - ein Artefakt ist, ist die
Sprache erkennender Wesen (verglichen mit den naturgegebenen Me-
dien der Sinneswahrnehmung) darin höchst artifiziell, dass sie als eine
Pluralität sehr verschiedener Sprachen existiere, die sich in vielen Zü-
gen arbiträr zu den Dingen verhält, die in ihr zum Ausdruck kommen.
halte verstehen, nicht betroffen (R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frank-
furt/M. 1989, 32). Vgl. die Stichworte zum Begriff des Mediums im nächsten Ab-
schnitt.
(Man könnte hier mit Herder sagen: dass der Mensch Sprache hat,
verdankt er seiner Natur, aber welcheer hat, ist Zeichen seiner Kultur.)
Erkenntnismedien sind Medien, die in weiten Teilen so oder auch an-
ders hätten ausfallen können, wie selbstverständlich und ohne Alter-
native (und physiognomisch beredt) ihr Gebrauch den Erkennenden
auch erscheinen mag, wie wenig arbiträr die Wahl dieser oder jener
Worte und Sätze innerhalb einer Sprache also auch sein mag. Eine Sa-
che kann mit diesem oder jenem Begriffbezeichnet, kulturelle Welten
können in dieser oder jener Sprache erschlossen, ein Objekt, eine
Handlung, eine Situation kann auf diese oder jene Weise dargestellt
werden. Indem wir mit Hilfe artifizieller Medien erkennen, heißt das
aber, lassen wir uns nicht allein durch die Gegemtände,sondern eben-
so durch die Medien unseres Erkennens bestimmen.
Heure wird gern die weit radikalere Folgerung gezogen, die von uns
erkennbare Realität im Ganzen sei ein Erzeugnis oder eine Konstruk-
tion unserer Erkenntnismedien, allen voran der Sprache (oder neuer-
dings wieder des Bildes). Die härteste Realität wäre demnach die Rea-
lität der Medien. Dass dies nicht wahr sein kann, folgt aber bereits aus
der unumgänglichen Materialität der sprachlichen oder sonstigen Er-
kenntnismedien. Sie sind aus einem Stoff, der nicht ihre eigene Kon-
struktion sein kann. Nur weil sie Realität haben, können sie Realität
geben.

7.
Was aber ist eigentlich ein Medium?
Eine sehr weite, Wahrnehmungs-, Darstellungs- und Handlungsme-
dien umfassende Definition könnte lauten: Medien sind Unterschie-
de, die einen Unterschied machen.7 Medien sind ein Reservoir von
Elementen einer Art, die jeweils in eine Konfiguration treten müssen,
damit etwas Bestimmtes erreicht werden kann. So ermöglichen un-
terschiedliche Lichtwerte das Sehen bestimmter Objekte; so ermögli-
chen Geldbeträge die Bildung eines Preises für eine Ware; so ermög-
licht die Kombination der Werte o und r die Eingabe, Speicherung
und Errechnung einer Fülle von Daten; so ermöglicht die Anordnung
unterschiedlicher sprachlicher Ausdrücke die Feststellung, dass es sich

7 Die Formulierung geht zurück auf G.Bateson, Ökologie des Geistes, Frankfurt/M.
1985;vgl. Studie 7 in diesem Band.

153
hiermit so und so verhält. Medien stellen Differenzen bereit, mit de-
nen im Gebrauch des Mediums ein Unterschied gemacht werden
kann. Ohne die vergleichsweise unbestimmten Kräfte des Mediums
kann nichts vergleichsweise Bestimmtes geschehen.
Niklas Luhmann hat dieses Verhältnis mit Hilfe der Unterschei-
dung von »Medium« und »Form« erläutert. 8 Medien, sagt Luhmann,
stellen »Elemente« bereit - Lichtwerte, Geldmengen, Worte usw.-,
die zu bestimmten Formen »verkoppelt« werden können. So eröffnet
das Helldunkel des Lichts ein begrenztes Spektrum sichtbarer Objek-
te; so werden Worte zu einem Satz, mögliche Geldmengen zu einem
Preis verbunden, usw. Die Formen, die so entstehen, sind nur mög-
lich durch die Bereitstellung der Medien; Medien aber müssen von
vornherein als Generatoren möglicher Formen verstanden werden, in
denen etwas - ein Ding oder ein Gedanke - eine bestimmte Gestalt
erreichen kann. In Luhmanns Terminologie: Medien sind Medien für
Formen, Formen sind Formen in Medien.
Im Fall der Sprache wiederholt sich dieses Verhältnis von Medium
und Form auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Im Medium der Lau-
te formen wir Worte, im Medium der Worte formen wir Sätze, im
Medium der Sätze formen wir Sequenzen der Rede oder eines Texts.
Nur vermöge dieser gestuften Formenbildung kann Sprache die inne-
re Gliederung erreichen, mit der sie die Funktion eines Darstellungs-
mediums erfüllen kann. Sie erlaubt es, darzustellen, dass es sich mit ei-
ner Sache so und so verhält. Wenn diese Sache ein wahrnehmbarer
Gegenstand ist, so spielen die Medien der äußeren Wahrnehmung di-
rekt in die propositionale Erkenntnis hinein. Die Medien des Erken-
nens sind vielfach an die Medien der Sinneswahrnehmung ange-
schlossen. Aber dass diese - und die entsprechenden physiologischen
Voraussetzungen - verfügbar sind, heißt noch nicht, dass Erkennen
verfügbar sei. Dies ist, um es zu wiederholen, erst der Fall, wo das ar-
tifizielle sprachliche Medium ins Spiel kommt, das eine begriffliche
Diskriminierung und propositionale Darstellung des Gegebenen er-
laubt. Dieses Medium kann Sprache nur sein, weil sie in ihrer hohen
syntaktischen und semantischen Differenzierung eine Vielzahl von
Konstruktions- und Unterscheidungsmöglichkeiten bereitstellt, mit
denen die Sprachbenutzer je nach Bedarf kleine oder große Unter-
schiede machen können. Es stellt seinen Verwendern eine Fülle von
Unterschieden bereit, mit der eine Fülle von Unterschieden gemacht
werden kann.
8 N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, FrankfurdM. 1995, Kap. 3.

154
8.

Eine Besonderheit der Sprache liegt zusätzlich darin, dass viele ihrer
Differenzen zugleich Differenzierungen sind. Sprecher einer Sprache
machen nicht allein Unterschiede, sie wissen auch, dass sie Unter-
schiede machen, oder können es doch wissen. Sie haben Unterschei-
dungen zur Verfügung, die es ihnen erlauben, etwas als dieses und
nicht als jenes darzustellen und zu erkennen. Jede der Unterschei-
dungen aber, die sie dabei verwenden, ist mit unübersehbar vielen
weiteren Unterscheidungen verbunden, so dass jede einzelne Unter-
scheidung ihren Wert letzclich aus einem von den einzelnen Spre-
chern unbeherrschbaren Unterscheidungsspiel gewinnt. Der Slogan,
»Indem wir bestimmen, lassen wir uns bestimmen«, trifft somit gera-
de auf die einfachsten sprachlichen Verwendungen zu.
Der Unterschied der Ausdrücke »Hund« und »Katze«etwa bietet
eine Unterscheidung zwischen Hunden und Katzen an, die im Ge-
brauch dieser Worte meist selbstverständlich getroffen wird. Und so
für alle anderen Prädikate auch. Einen prädikativen Ausdruck ver-
stehen heißt, ihn wenigstens ungefähr von anderen, semantisch ver-
wandten oder konträren Ausdrücken abgrenzen zu können; es heißt,
sich in einem Feld von Bedeutungen zu bewegen, von sprachlichen
Unterschieden also, die als Unterscheidungen auf mögliche Diffe-
renzen in der Sache verweisen. Sind Hunde und Katzen als Säuge-
tiere bekannt, ist eine weitere Unterscheidung im Spiel, zwischen
Säugetieren und anderen, und darin bereits viele Weitere mehr: zwi-
schen Tieren und Pflanzen beispielsweise, zwischen Lebewesen und
anorganischen Stoffen, usw. Das implizite Wissen der einzelnen
Sprecher reicht jeweils unterschiedlich weit, aber die Reichweite, in
der sie weitere Bestimmungen über die Gegenstände ihrer Rede ge-
ben können, ist immer begrenzt. Hinter einem Saum der leidlich ge-
sicherten Kenntnisse beginnt ein Bezirk von Vermutungen, in dem
die Konturen mehr und mehr verschwimmen, um sich im Dunkel
des Nichtwissens zu verlieren. Unbestimmtheit begleitet das bestim-
mende Reden - aber, wie man an der alltäglichen und wissenschaft-
lichen Rede sieht, sie geleitet sie gar nicht so schlecht. Denn die
Fähigkeit der erkennenden Differenzierung ist eine Fähigkeit der für
den jeweiligen Zweck hinreichendenund hinreichend relevantenDif-
ferenzierung. Man braucht ja nicht allwissend zu sein, um zu sehen
und zu sagen, dass der Hund die Katze jagt. (Man darf es auch gar
nicht sein, denn ein allwissendesWesen hätte keinen Sinn für die Re-
155
levanz von Wissen und daher kein \Vissen;Allwissenheit ist ein höl-
zernes Eisen).
Die Unbestimmtheit, von der wir uns tragen lassen, wenn wir de-
klarative (oder auch andere) Sätze gebrauchen, ist also nicht einfach
ein Mangel an Sinn oder Bestimmung, sondern eine weitläufige Vor-
prägung dessen, was innerhalb einer Sprache sinnvoll gesagt werden
kann. Die semantisch gehaltvollen Elemente des Mediums Sprache
sind Bildungen, auf die die Bildung eines bestimmten Satzes oder
Texts zurückgreifen kann und zurückgreifen muss. Die Bildung unse-
rer Gedanken greift auf sprachliche Bildungen zurück, die nicht zu-
gleich eine Bildung unseres aktualen Denkens sind. Dennoch legt kei-
nes dieser Elemente das Denken auf einen bestimmten Kurs des Er-
kennens fest. Das Vokabular einer Sprache schreibt keine einzelne
Äußerung in dieser Sprache vor. Auch wenn wir nur sagen »Die Kat-
ze ist auf dem Baum«, treffen wir eine Wahl der Worte, die auch an-
ders hätte ausfallen können. Wir hätten auch sagen können »Da ist
eine Mieze auf der Eibe«, und anderes mehr. Meist sind diese Wahlen
alles andere als bewusst, und oft werden sie uns durch Routinen des
Alltags und ritualisierte Verhaltenskontexte abgenommen. Wie be-
wusst oder unbewusst wir unsere Worte aber wählen und von Fall zu
Fall auch bilden mögen, wir wählen und bilden unsere Worte und Sät-
ze aus dem Reservoir einer jeweiligen natürlichen Sprache (oder auch
einiger solcher Sprachen). In Syntax und Semantik lassen wir uns be-
stimmen von den Kräften des linguistischen Mediums, innerhalb des-
sen wir unsere Gedanken, Einsichten, Erkenntnisse gewinnen.
Diese Betrachtung macht Heideggers berüchtigtes Diktum, es sei
weniger der Mensch als vielmehr die Sprache, die spreche, wenigstens
verständlich. Die Sprache eröffnet einen intransparenten Horiront
von Unterschieden, ohne den es für uns im Denken und Sprechen
keinen Unterschied gäbe. Aber jeder simple Beispielsatz macht auch
deutlich, warum der Satz »Die Sprache spricht« nicht für bare Münze
genommen werden darf. Denn die Sprache mag zwar einen weiten
Raum von Bedeutungen und Beziehungen eröffnen, aber sie sagt
nichts, und schon gar nichts Bestimmtes. Dies bleibt ihren Sprechern
überlassen. Außerdem »spricht« die Sprache nur, solange die Sprecher
einer Sprache diese Sprache gebrauchen. Nur solange die Sprecherin-
nen einer Sprache ihre Lage im Medium dieser Sprache bestimmen,
nur solange können sie sich von dem Reichtum ihrer Elemente und
Formen bestimmen lassen.
9.
Wenn wir aber erkennend bestimmen, lassen wir uns nicht nur von
der Sprache (und weiteren Medien) bestimmen, ebenso werden wir
durch die Gegenständeunseres Erkennens bestimmt. Das mediale und
das gegenständliche Sichbestimmenlassen sind untrennbar miteinan-
der verbunden.
Ein als Behauptung verwendeter deklarativer Satz sagt, wie es sich
mit etwas verhält. Wenn es sich so verhält, wie der Sarz sagt, dass es
sich verhält, ist der fragliche Satz wahr. Die Wahrheit einer Aussage,
so kann man daher auch sagen, steht und fällt mit der Verfassung der
Gegenstände, über die sie etwas sagt.
Dieses »überdie sie etwassagt«aber darf nicht übergangen werden.
Denn eine bestimmte Verfassung zeigen beliebige Objekte der Er-
kenntnis erst dann, wenn ihnen im Gebrauch sprachlicher Unter-
scheidungen bestimmte Eigenschaften korrekt zugeschriebenwerden.
Nur der erkennenden Auffassung zeigt ein Gegenstand diese oder jene
Verfassung- verstanden als das, was sich zutreffend über ihn aussagen
lässt. Die Wahrheit einer Aussage steht und fällt mit der Verfassung ih-
res sprachlicherschlossenen Gegenstands. Das Medium einer Sprache
macht den fraglichen Gegenstand in einer bestimmten Weise für das
Erkennen zugänglich, jedoch so, dass die hiermit angesprochene Be-
schaffenheit des Gegenstands entscheidet, ob die getroffene Aussage
wahr ist oder nicht. Unabhängig von der Reichweite eines erkennen-
den Zugangs macht die Rede von einer Verfassung von Gegenständen
keinen Sinn, da wir - wie Strawson überzeugend dargelegt hat 9 - von
»Tatsachen« nur im Zusammenhang mit dem behauptenden Ge-
brauch von Aussagen sprechen können. Außerhalb der Reichweite
möglicher Erkenntnis »gibt« es keine Tatsachen. Die Welt besteht
nicht aus Tatsachen (aus allem, »was der Fall ist«), sondern aus Ge-
genständen und Ereignissen, denen im Gebrauch einer propositiona-
len Sprache diese und jene Beschaffenheit zugesprochen, an denen
diese oder jene Beschaffenheit entdeckt werden kann. Diese Verfas-
sung ist weder nur mediale Konstruktion noch eine inhärente, von der
Möglichkeit des Erkanntwerdens unabhängige Struktur. Die mediale
Konstruktion - die Unterscheidungen, die in einer zutreffenden Aus-
sage gebraucht werden und im Spiel sind - legt vielmehr frei, wie der
Gegenstand in dieser oder jener Hinsicht ist, und zwar in eben derje-

9 P. F.Strawson, Truth, in: G. Pitcher (Hg.), Truth, New Jersey 1964, 32-53.

157
nigen Hinsicht, in der die Aussage etwas über den Gegenstand sagt.
Ohne solche durch das Erkenntnsmedium bereitgestellte Hinsichten
könnte kein Gegenstand eine Beschaffenheit zeigen, an der sich ent-
scheidet, ob eine ihn betreffende Aussage wahr ist oder nicht.
»Die Katze ist auf dem Baum.« Wir könnten Katzen anders nennen
und sie anders von anderen Lebewesen unterscheiden; wir könnten
Bäume anders nennen und anders sortieren, sie etwa mit Laternen-
pfählen oder Hochstrommasten in eine Klasse tun; dann hätte der
Satz eine andere Bedeutung, als er sie im Deutschen hat. Aber wenn
wir Katzen überhaupt unterscheiden wollen und Bäume, etwa so wie
im Deutschen, dann können wir, wenn eines der Tiere, die wir »Kat-
ze« nennen, auf einem der Gewächse ist, die wir »Baum« nennen, und
wir angeben wollen, was der Aufenthaltsort dieser Katze ist, nur sa-
gen: ,,Die Katze ist auf dem Baum.« Was legt uns da fest, könnte man
nochmals fragen: die Sprache oder die Katze? Nun, offensichtlich bei-
des. Wir lassen uns ebenso von den Unterscheidungen unserer Spra-
che wie durch die Unterschiede an den fraglichen Gegenständen be-
stimmen. Alles erkennende Bestimmen, hatte es daher anfangs ge-
heißen, geht mit einem doppelten Sichbestimmenlassen zusammen.
Wenn wir sagen, wie etwas ist, ergreifen wir einen sprachlichen Zu-
gang, oder nehmen ihn auf, oder bilden ihn weiter, oder bilden ihn
um; in jeder dieser Bewegungen lassen wir uns vom Medium einer ge-
schichtlich gewachsenen Sprache bestimmen. Zugleich aber, mit
Rücksicht auf das Objekt der darstellenden Rede, nehmen wir auf,
wie es mit dem Gegenstand steht. Worüberaber unsere Sätze sind und
unter welchem Aspektsie einen Gegenstand thematisieren, dies fest-
zulegen liegt weder in der Macht der Sprache noch in der Macht des
angesprochenen Gegenstands, sondern allein in der Hand derer, die
denkend und sprechend etwas zu erkennen versuchen. Obwohl sie
sich von der Kultur ihrer Sprache wie von der Struktur der Gegen-
stände bestimmen lassen müssen, bleibt ihre Aussage über den jewei-
ligen Gegenstand doch ihre Bestimmung. Sie sagen, dass es sich mit
diesem Objekt so und so verhält, sieirren sich, wenn sie sich irren, sie
haben Recht, wenn sie Recht haben. Geleitet von der Sprache, in der
Begegnung mit dem Gegenstand, bestimmen sie,wie es hiermit und
damit ist.
10.

An den Phänomenen des Verstehens und Übersetzens lässt sich dieser


Zusammenhang weiter verdeutlichen. Wir könnten den aus dem
Mund eines anderen geäußerten Satz »Die Katze ist auf dem Baum«
nicht verstehen, wenn wir nicht - im Prinzip wenigstens - die Mög-
lichkeit hätten, unsererseits nachzusehen, wo die Katze ist. Nur weil
sich die Katze unabhängig von unserer Rede verhält, können wir in
unserer Rede etwas Verständliches (und, wenn wir Glück haben,
Wahres) über die Katze sagen. Natürlich gibt es andere Fälle, in denen
die Sache nicht so eindeutig ist (etwa bei der Rede über Don Quichot-
te). Aber ohne die Dimension der Rede über äußere Objekte, deren
Verhalten keine Funktion unserer Rede ist, gäbe es keine verständli-
che Rede, einfach deshalb, weil wir die Rede der anderen nicht auf
identifizierbare Gegenstände der Rede beziehen könnten (eine Not-
wendigkeit auch des Redens über Don Quichotte). Wir kämen in die
Situation der sprachlichen Triangulation erst gar nicht hinein - in die
Situation, uns gegenüber jemandem mit unseren wechselseitigen Ge-
danken über etwas verständigen zu können.
Wie Quine, Gadamer und Davidson überzeugend hervorgehoben
haben, ist es für Sprachen (wie für innersprachliche Idiome) wesent-
lich, in andere Sprachen übersetztwerden zu können - jedenfalls für
alles Sprechen und Schreiben, das als Medium propositionaler Er-
kenntnis fungiert. Diese Übersetzung aber ist nur möglich, wenn die
Gegenstände einer jeweiligen Rede mit hinreichender Deutlichkeit
identifiziert werden können, und das bedeutet: wenn diesen Gegen-
ständen eine Unabhängigkeit von der jeweiligen Art zu reden zuge-
sprochen werden kann - eine Unabhängigkeit von der Sprache, in der
sie jeweils als Objekte des Erkennens angesprochen werden. Im Fak-
tum der Übersetzbarkeit unterschiedlicher Sprachen, bedeutet dies,
zeigt sich eine den Sprechern gemeinsame Fähigkeit des Bezugs auf
eine gemeinsame Realität.
Natürlich kann man darüber streiten, ob diese Übersetzbarkeit
tatsächlich besteht. Mir scheint aber, dass alle Fälle, angesichts derer
man streiten kann, erst auf dem Boden eines intra- oder interlingua-
len Verstehens und Interpretierens möglich sind, für das diese Mög-
lichkeit nicht sinnvoll geleugnet werden kann. w Denn eine Praxis als
sprachlichePraxis verstehen zu können heißt ja bereits (nach Wittgen-
ro A. Wellmer, Verstehen und Interpretieren, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie
45/r997, 393-414.
159
stein), wichtige Teile dieser Praxis verstehenzu können (oder zumin-
dest, wenn noch keine Übersetzungen vorliegen, anzunehmen, dass sie
auf dem Weg einer Übersetzung verständlich ist). Wenn das soeben
skizzierte Argument aber richtig ist, so berechtigt die Realität einer
(prinzipiell schrankenlosen) sprachlichen Interaktion zur Annahme
der Realität einer vom Belieben einzelner Sprecher und Sprachge-
meinschaften unabhängigen Welt. Und sie berechtigt, stärker noch,
zur Annahme der Realität einer unabhängig von der sprachlichen Pra-
xis bestehenden Welt. Denn wenn die Verständlichkeit sprachlicher
Kommunikation davon abhängt, dass viele Gegenstände ihrer Rede
unabhängig von der Position der jeweiligen Teilnehmer (seien dies
Sprecher oder Sprachgemeinschaften) identifiziert werden können,
und es so etwas wie verständliche (Erkenntnis-) Kommunikation gibt,
so folgt, dass die Gegenstände unserer darstellenden Rede mehr als
bloße Fiktionen und Funktionen unseres Sprechens, nämlich ein ei-
genständiger Gegenhalt des sprachlichen Handelns sind.
Anders als durch den Bezug auf Objekte, deren Verhalten nicht in
der Macht der erkennenden Subjekte liegt, wäre der relative Erfolg des
menschlichen Denkens und Erkennens schlicht rätselhaft. Für die
Einschätzung der medialen Natur des Erkennens ergibt sich hieraus
eine wichtige Konsequenz: Von Medien des Erkennens kann nur dort
die Rede sein, wo diese nicht allein eine besondere soziale, kulturelle
und technische Wirklichkeit erzeugen,wie Sprache und Wissenschaft
dies zweifellos tun, sondern im selben Prozess vielfältige Aspekte einer
ihrem Vollzug vorausliegenden Wirklichkeit entdecken. Diese Dop-
pelzügigkeit jedes erkennenden Weltverhältnisses wird von Heideg-
gers Begriff der »Welterschließung« genau erfasst.11 Die Künstlichkeit
des sprachlichen Mediums erlaubt nicht den Schluss auf eine generel-
le Künstlichkeit der Gegenstände unseres Erkennens. An der Mög-
lichkeit der Übersetzung zeigt sich auch, dass aus der grundsätzlichen
Arbitrarität des Vokabulars einer Sprache nicht auf die Relativität der
in ihr formulierten Erkenntnisse geschlossen werden darf. Im Ge-
genteil, nur wegen der Beliebigkeit vieler Ausdrucksmittel ist Über-
setzbarkeit möglich, und nur deshalb ist das sprachliche Medium
grundsätzlich offen für die Darstellung sei es neuer Wirklichkeiten,
sei es neuer Aspekte des Wirklichen. Arbitrarität ermöglicht Objekti-
vität. Sie hält das sprachliche Medium offen für eine über historische
und kulturelle Schranken hinausgehende Erkenntnis des Wirklichen.
Auf diese Weise ist Sprache das primäre Medium eines über das Ge-
n Vgl. Studie 2 in diesem Band.

160
wahren von Dingen und Ereignissen hinausgehenden Bewusstseins
von Realität.

II.

Die Annahme, dass das Faktum der Übersetzbarkeit von Sätzen die
Erkennbarkeit satzunabhängig bestehender Gegenstände belegt,
muss freilich richtig verstanden werden. Sie meint nicht, dass zwi-
schen erkennenden Wesen eine unbegrenzte Kommunikation ihrer
Meinungen möglich ist; mit einem Farbenblinden kann ich nun ein-
mal keine Ansichten über grüne und rote Gegenstände austauschen.
Die These lautet allein, dass zwischen ihnen eine erkenntnisbezogene
Kommunikation möglich ist, wie begrenzt oder weitreichend diese
auch sein mag. Erkenntnis aber kann zwischen Sprechern und Spra-
chen nur übertragen werden, wenn Objekte des Erkennens erfolg-
reich identifiziert werden können. Also müssen wir annehmen, dass
alle Wesen, die überhaupt erkenntnisfähig sind, prinzipiell auch fähig
sind, sich auf Objekte einer gemeinsamen Welt zu beziehen.
Wir identifizieren Katzen mit Hilfe unserer Wahrnehmung. Könn-
ten wir Katzen nicht sehen, hören, tasten oder auch riechen, wären für
uns keine Katzen da (obwohl in der Gegend Katzen sein könnten).
Wir können aber Katzen sehr wohl identifizieren, wenn der eine oder
andere Sinn ausfällt: im Prinzip sogar, wenn von den vier relevanten
Sinnen drei ausfallen (ob wir unserenBegriff der Katze auf der Basis
nur eines äußeren Sinnes hätten ausbilden können, tut hier nichts zur
Sache). Das bedeutet: wir können bestimmte Wahrnehmungsmedien
- das Sehen, das Hören - ruhen lassen und uns trotzdem erfolgreich
auf Katzen beziehen, z.B. erkennen, dass die Katze auf der Matte ist.
Wenn sie sich denn verständigen könnten, könnten sich auch ein
Blinder und ein Tauber über diese Katze verständigen. Sie könnten
ihre begrenzten Wahrnehmungen so nutzen, dass sie zusammen von
derselben Sache sprechen können. (Dies tun wir im Übrigen immer;
unsere Wahrnehmung ist immer begrenzt, nur meist weniger.) Eine
erfolgreiche Identifikation der Objekte unserer Rede wäre selbst dann
noch möglich, wenn wir Kommunikation mit Außerirdischen hätten,
die physiologisch ganz anders veranlagt wären als wir. Nehmen wir an,
sie wären mit hochempfindlichen Wärmesensoren ausgestattet, etwa
der Art, wie sie bei uns in sehr primitiver Form zur Regelung von
Außenleuchten üblich sind. Was für uns handfeste Gegenstände sind
161
- Katzen, Bäume, Matten-, das sind für sie (die sie selber intelligen-
te elektromagnetische Wärmefelder sind) unterschiedliche Wärme-
bündel oder Wärmeprofile. Wenn es gelänge, per Computer mit ih-
nen zu kommunizieren, könnten wir mit ihnen Informationen über
die Gepflogenheiten beliebiger Katzen austauschen. Wir könnten uns
mit ihnen, die wir mit bloßem Auge gar nicht wahrnehmen können,
auf Ausschnitte einer Realität beziehen.
Diese ausgedachten Wesen teilen mit uns nur einen halben unserer
fünf Sinne - sie können in ihrem Erkennen mit dem Medium des
Lichts ebenso wenig anfangen wie mit dem Medium der Töne, mit
dem Medium des mehr oder weniger Festen ebenso wenig wie mit
dem Medium von Gerüchen (alles potentielle Unterschiede, die für
uns einen Unterschied machen) - aber sie können gleichwohl erken-
nen. Sie verfügen über eine Sinneswahrnehmung anderer Art, die mit
der Grunddifferenz wärmer/kälter operiert, und, natürlich, sie haben
eine im Medium der Temperatur artikulierte Sprache, die sie in die
Lage versetzt, ihre Sprache in eine andere Sprache zu übersetzen, in
der sie andere Sprecher und Sprachen verstehen können. Die wenig
originelle Lehre aus diesem Beispiel ist, dass wir in vieler Hinsicht
nicht dieselbe Voraussetzung haben müssen, um mit anderen von
denselben Dingen reden zu können: weder physiologisch, noch bio-
graphisch, noch kulturell. Nur muss jede Partei eine Sprache haben -
was bedeutet, jede Partei muss all das gemeinsam haben, was es zum
Haben einer Sprache braucht. Beide müssen erkennende Wesen sein:
Wesen, die sich in ihrem Erkennen sowohl durch die natürlichen und
kulturellen Medien ihres Erkennens als auch durch die natürlichen
und kulturellen Gegenstände ihres Erkennens bestimmen lassen kön-
nen. Wenn sie aber nur dies gemeinsam haben, werden sie zugleich
sehr viel mehr gemeinsam haben: die exzentrische Position, das Re-
gelfolgen und Triangulieren, Technikbenutzung, die Kunst der Über-
setzung und Interpretation, eine Moral, und was die Sapientologie
sonst noch alles anzugeben weiß ... 12
12 Diese Überlegung hat freilich zur Kehrseite, dass erkennende Wesen denkbar sind,
von denen wir nicht erkennenkönnen, dass sie erkennende Wesen sind - weil sie
Wahrnehmungsmedien benutzen, die uns (mitsamt unseren Apparaten) unzugäng-
lich sind, so wie es mit jenen Wärmewesen war, bevor die Technik uns in die Lage
versetzte, in eine computergesteuerte Kommunikation mit ihnen zu treten. Ein on-
tologischer Optimismus der Art (wie ihn Davidson manchmal suggeriert), dass alle
sprechenden Wesen für alle anderen sprechenden Wesen ein offenes Ohr haben wer-
den, ist also nicht angebracht-der einen oder anderen Seite könnte das Ohr (das Me-
dium) für eine intergalaktische Verständigung fehlen. Wäre es so, könnten sie sich
nicht gemeinsamauf die gemeinsame Welt beziehen.

162
12.

Aus der Sprachgebundenheit allen Erkennens, so zeigt die reale wie


die soeben fingierte Erkenntnispraxis, folgt nicht die Sprachgeboren-
heit alles Erkannten. Sprache konstituiert einen erkennenden Zugang
zur Welt, sie ist beteiligt bei der Erzeugung vielfältiger kultureller Tat-
sachen, aber sie konstituiert nicht die äußere Welt; vielmehr macht sie
ihre Benutzer offen für eine erkennende Begegnung mit ihr. Sie macht
es möglich, in der Behauptung wahrer Aussagen zu erkennen, wie es
mit den Dingen, über die sie etwas sagen, in den angesprochenen
Hinsichten tatsächlich steht. Sprache als Medium des Erkennens
schiebt sich nicht vor die Gegenstände des Erkennens, sondern gibt
sie zu einem stets aspekthaften Erkennen frei. Wir können nicht bloß
erkennen, wie die Dinge aus unserer Warte sind, wir können aus un-
serer Warte erkennen, wie die Dinge sind.
Ohne den Zugang eines Satzes ist kein Gegenstand des Erkennens
gegeben: Dieser Satz ist nur die Kehrseite des anderen, dass viele Ob-
jekte unseres Erkennens unabhängig von unserem Erkennen beste-
hen. Zu Gegenständen nicht nur der sensorischen Wahrnehmung,
sondern eines dezidierten Erkennenswerden Wahrnehmungsobjekte
nur im Zusammenhang des Gebrauchs von Sätzen, mit denen etwas
über diese Objekte gesagt wird: Als Erkmntnisobjekte sind sie allein so
gegeben. Dennoch existieren viele Objekte unabängig von jeder er-
kennenden Bezugnahme auf sie. Obwohl einem erkennenden Wesen
die Objekte seines Erkennens nicht sprachunabhängig gegebensein
können, so können sie doch unabhängig von allem Erkennen beste-
hen. Die Erde bestand lange vor jedem Gedanken an die Gestalt der
Erde. Die Kugelgestalt der Erde bestand wie die Erde lange vor jedem
Gedanken an eine Kugelgestalt der Erde. Ob die Erde die Gestalt ei-
ner Scheibe oder einer Kugel hat, konnte nur erkannt werden im Me-
dium einer Sprache, in der die Unterscheidung von »Scheiben« und
»Kugeln« bereitgestellt war. Als erkannt wurde, dass die Erde nicht
eine Scheibe, sondern (eher) eine Kugel ist, wurde (nach allem, was
wir heure wissen) entdeckt,wie es sich mit der Erde in dieser Hinsicht
tatsächlich verhält. Was für eine Gestalt jedoch der Erde unabhängig
von jedem kognitiven Idiom zukommt, dies wäre eine sinnlose Frage.
Denn die Frage, welche Gestalt einem bestimmten Ding zukommt
(oder allgemeiner, wie es sich mit etwas tatsächlich verhält), kann sich
nur in einem kognitiven Idiom stellen; keine Bestimmtheit ohne we-
nigstens mögliche Bestimmung. Auch wenn somit die Vorstellung ei-

163
ner unabhängig von allen Medien des Erkennens bestehenden Verfas-
sung- und mit ihm der Gedanke einer »absoluten Auffassung«u - der
Welt preisgegeben werden muss, der Gedanke einer unabhängig von
den Erkenntnisvollzügensprachfähiger Wesen bestehenden Verfas-
sung der Welt bleibt erhalten. Zu dieser Verfassung gehört alles das,
was in gelingendem Erkennen als Beschaffenheit der Dinge festgehal-
ten werden kann. Die Dinge und Ereignisse der Welt bestehen unab-
hängig von unserem Erkennen, aber eine bestimmte Verfassung zei-
gen sie allein in Antwort auf unser erkennendes Bestimmen. 14
Das Wirkliche darf also keinesfalls auf das reduziert werden, was
uns (oder sonst einem erkennenden Wesen) auf dem Weg der Er-
kenntnis als Wirkliches bekannt oder zugänglich ist. Es gehört zur
Natur des Wirklichen, unendlich reicher zu sein als alles, was erken-
nend als Wirklichkeit zugänglich ist, sogar erheblich reicher als alles,
was erkennenden Wesen jemals zugänglich sein kann. Dennoch, ob-
wohl das Wirkliche die kognitive Kapazität erkennender Wesen
grundsätzlich übersteigt, lässt sich der Begriffder Wirklichkeit nur im
Zusammenhang einer Analyse der Bedingungen ihrer Erkennbarkeit
als Wirklichkeit erläutern. Denn wirklich ist alles das, was Gegen-
stand wahrer Sätze - also haltbarer Erkenntnisse - sein kann. Obwohl
das Wirkliche alle denkbaren faktischen Erkenntnismöglichkeiten
weit übersteigt, ist sein Begriff an den Gedanken einer prinzipiellen
Erkennbarkeit gebunden. 15 Denn was es heißt, dass viele Dinge und
Ereignisse der Natur ohnehin,unabhängig von unserem Zutun beste-
hen, kann nur dadurch erläutert werden, dass erklärt wird, was es
heißt, zu erkennen,dass sie und wie sie bestehen. So wie es im Begriff
der Erkenntnis liegt, dass etwas als wirklich oder in seiner Wirklich-
keit erkannt werden soll, so liegt es im Begriff der Wirklichkeit, das zu
sein, was erkennend erschlossen werden kann, auch wenn es faktisch
nie erschlossen werden mag.
Das Wirkliche ist das Erkennbare - alles das, was erkennend be-
stimmt werden kann, obwohl es in allem und für alles Erkennen weit-
hin unbestimmt bleibt. Der Blick auf die Medialität eines erkennen-

13 Wie ihn Bernard Williams, Erhics and the Limits of Philosophy, London 1985,Kap.
8 entfaltet und Hilary Putnam, RenewingPhilosophy, Cambridge/Mass.1992, Kap.5
kritisiert.
14 Dies gilt übrigens auch von kulturellen Objekten, die zwar aus Praktiken des Be-
stimmens hervorgegangen sind, aber dennoch (in unterschiedlichen Graden) unab-
hängig von ihrer jeweiligenBestimmung durch ihre Benutzer bestehen.
15 Diese Position vertritt auch Crispin Wright, Human Nature?, a.a.O., in seiner Kri-
tik an John McDowell, Mind and World, a.a.O.

164
den Zugangs zur Realität öffnet den Blick gleichermaßen für die be-
schränkte wie für die unbeschränkte Erkennbarkeit des Wirklichen.

13.

Es ist ein zentraler Gedanke bereits der Kritik der reinenVernunft,dass


der Begriff eines Gegemtandsder Erfahrung nur zusammen mit dem
Begriff der Erkenntnis eines solchen Gegenstands erläutert werden
kann. Diesem Motiv bin ich in meinen Überlegungen stillschweigend
gefolgt. Wie Kant verstehe ich Wirklichkeit als einen Inbegriff der Ge-
genstände möglicher Erkenntnis, allerdings ohne den Zusatz, hier
handle es sich lediglich um die Welt der Erscheinungen. Denn die
harte Opposition von (erkennbarer) empirischer und (unerkennba-
rer) absoluter Realität ergibt sich nur daraus, dass Kant den Begriff der
Erkenntnis an die implizite Norm einer vollkommenen oder voll-
ständigen, weil durch kein sinnliches Medium gefilterten, Erkenntnis
bindet. Eine Reflexion auf die Medialität des Erkennens aber zeigt,
dass die Annahme einer Erkenntnis ohne sinnliches Medium ebenso
leer ist wie die Annahme einer denkbaren vollständigen Erkenntnis.
Versteht man Wirklichkeit als Inbegriff der Gegenstände aller wahren
(oder auch nur: aller wahren empirischen) Aussagen, so schließt dies
die Annahme einer »vollständigen« oder »wesensmäßigen« Erkennt-
nis dieser Gegenstände nicht mit ein. Dass wir »jedes«Wirkliche er-
kennen können, heißt gerade nicht, wir könnten »alles«an ihm er-
kennen. Dass Wirklichsein heißt, Gegenstand wahrer Erkenntnis sein
zu können, bedeutet nicht, dass alle Wirklichkeit Gegenstand wahrer
Erkenntnis ist oder es eines fernen Tages sein wird, sondern gerade,
dass vieles Wirkliche für uns und alle anderen Erkennenden heute wie
morgen unzugänglich bleibt. Es genügt zu sagen, dass Realität alles
das ist oder alles das hat, was Gegenstand wahrer Erkenntnis sein
kann. Die prinzipielle Unbestimmbarkeit allesdessen, was ist, wird so
vereinbar mit der prinzipiellen, aber notwendig ausschnitthaften Be-
stimmbarkeit aller Gegenständetriftigen Erkennens. Die Unzugäng-
lichkeit des Wirklichen erweist sich so als Kehrseite seiner kognitiven
Zugänglichkeit.
Ohne eine Opposition von zugänglicher und unzugänglicher
Wirklichkeit kommt also auch eine mediale Epistemologie nicht aus.
Nur ist dies nicht länger eine Differenz zweier »Welten« - der Dinge
»für uns« und der Dinge »an sich«-, sondern eine Differenz innerhalb
165
der einen, prinzipiell erkennbaren und doch weithin unerkannten
und unbekannten Welt. Eine dynamische, mit jeder neu gewonnenen
und jeder neu verlorenen Erkenntnis neu gezogene Grenze verläuft
zwischen dem, was erkennend zugänglich und dem, was erkennend
unzugänglich ist, war oder bleibt. Wie es (hiermit und damit) wirk-
lich ist, kann in der Geschichte des Erkennens erkannt und verkannt,
entdeckt und verdeckt, vergessen und in Erinnerung gerufen werden.
Es kann zur Bestimmung gebracht, im Unbestimmten gelassen oder
ins Unbestimmte entlassen werden. 16
Ein Verständnis von Realität, das diese vom Prozess ihrer begrenz-
ten medialen Erkennbarkeit her versteht, gibt den Gedanken einer
unabhängig von uns bestehenden Welt ebenso wenig preis wie den ei-
ner unserem Kenntnisstand widerstreitenden Beschaffenheit der
Welt. Auf diese Weise münden die Überlegungen zu einer medialen
Erkenntnistheorie, die ich hier angestellt habe, in einen relationalen
(auf die Möglichkeit sprachlichen Erkennens bezogenen) Begriff des
Wirklichen, der mit einem philosophischen Realismus nicht nur ver-
einbar, sondern eine Spielart des philosophischen Realismus ist.

16 Historisch-kulturelle Wirklichkeit könnte dann mit Heidegger als Prozessder Ent-


schließung und Verbergung von naturhalter und sozialer Wirklichkeit verstanden
werden.
166
II.
9. Heidegger und die Ethik des Spiels

Nach eigenem Verständnis hat Heidegger keine Ethik geschrieben,


ebenso wenig wie eine Ästhetik oder eine Erkenntnistheorie. Heideg-
ger hat die übliche Arbeitsteilung der Philosophie bewusst unterlau-
fen. Nicht um ein bestimmtes Weltverhältnis des Menschen geht es
ihm, es geht ihm um dasWeltverhältnis des Menschen, dem gegen-
über jede in einem spezifischen Sinn theoretisch erkennende, ästhe-
tisch wahrnehmende und moralisch engagierte Zuwendung als ab-
künftig erscheint. Diese Zweitrangigkeit stellt sich auf den ersten
Blick als ein begriffliches Verhältnis dar: Die umsichtige Erschlossen-
heit ebenso wie die entschlossene Distanzierbarkeit der menschlichen
Lebenswelt ist etwas, das in den Sonderleistungen einer ausdrücklich
theoretischen, ästhetischen oder moralischen Orientierung immer
bereits vorausgesetzt ist. Der erste Grund für Heideggers Rückstieg
hinter die philosophische Geltungsreflexion ist folglich methodischer
Natur: Die Begriffe theoretischer, ästhetischer und moralischer Gel-
tung sind allein auf der Basis einer Analyse des In-der-Welt-Seins zu
analysieren. Trotzdem legt schon die Sprache der Heidegger'schen
Analysen die Frage nahe, ob die methodische Begründung tatsächlich
die einzige Begründung seines Verfahrens liefert. Ich werde im Fol-
genden die Auffassung vertreten, dass Heideggers Fragestellung nicht
allein methodisch, sondern in entscheidendem Maß ethisch motiviert
ist. Die Methodik einer Radikalisierung der philosophischen Gel-
tungsreflexion ist bei Heidegger untrennbar vermischt mit einer Ethik
der Relativierung der Geltungsdimensionen, die das ursprüngliche
Thema der arbeitsceiligen philosophischen Betrachtungsweise waren.
Ich möchte zeigen, dass Heidegger keine Ethik hat, weil seine Philo-
sophie eine Ethik ist.
Thema jeder Ethik ist die Möglichkeit individuell gedeihlichen Le-
bens und sozial verbindlichen Handelns. Das ist auch bei Heidegger
nicht anders. Und doch entspricht seine implizite Ethik nicht dem
üblichen Typus. Heideggers praktische Philosophie hat die Form ei-
ner Ethik zweiter Ordnung. 1 Es geht hier nicht um den Status mora-

I Diese Ethik »zweiterOrdnung« ist nicht zu verwechseln mit den Urteilenzweiter Ord-
nung, die das Medium auch einer philosophischen Ethik erster Ordnung sind (das
heißt mit Urteilen über die Beschaffenheit unserer moralischen Urteile erster Ord-
nung). Die übliche Ethik (erster Ordnung) spricht - unter anderem - in Urteilen
zweiter Ordnung von der Verfassung unserer moralischen Urteile, Heideggers Ethik

169
lischer Orientierungen im Unterschied und im Verhältnis zu anderen
Formen der Orientierung im Handeln; Heideggers Ethik handelt von
der Möglichkeit eines angemessenen Verhältnisses zu kulturellen Ori-
entierungen verschiedener Art, seien diese in einem engen oder wei-
ten Sinn moralisch oder nicht. Es geht Heidegger nicht um die Be-
dingungen der Gültigkeit kultureller Orientierungen im Maß ihrer
internen Rationalität, es geht ihm um die Frage der Verbindlichkeit
der Übernahme solcher Orientierungen. Es ist diese Frage, die bei
Heidegger ins Zentrum der Suche nach der Form richtigen Lebens
rückt. Heideggers Ethik ist somit eine Ethik der Rationalität - eine
normative Theorie des angemessenen Verhältnisses zu den, wie Hei-
degger meint, begrenzten Möglichkeiten rationaler Lebensorientie-
rung. Dabei wird die Möglichkeit einer rationalen Ethik der Rationa-
lität, einer Ethik also, die auch noch die Distanz zu kulturellen Ratio-
nalitätsstandards oder zu Weisen der Geltungsorientierung als Form
rationaler Selbstbestimmung begreifen würde, von Heidegger aus-
drücklich verworfen. Mit dieser Entscheidung, so wird sich zeigen,
schneidet Heidegger alle einsichtigen Verbindungen zwischen der
Ethik zweiter Ordnung und einer Ethik erster Ordnung ab. Heideg-
gers Philosophie erweist sich als eine verfehlte Ethik der Rationalität.
Die Ursache dieses Scheiterns aber liegt nicht im Projekt einer Ethik
zweiter Stufe selbst, sie liegt in den moralischen und politischen Vor-
urteilen, mit denen sein Erfinder es gleichgesetzt hat.
Ich kann meine ethisch inspirierte Heidegger-Lektüre hier nicht
durch ausgeführte Interpretationen belegen. Ich muss mich mit Vor-
schlägen für eine Lesart begnügen, die eine ebenso kritische wie pro-
duktive Aneignung des ethischen Grundmotivs in Heideggers Schrif-
ten erlauben würde. Die Kernpunkte meiner Skizze möchte ich in vier
Thesen vorausschicken:
Erstens: Heideggers Radikalisierung der philosophischen Gel-
tungsreflexion enthält eine Kritik am ethischen Ideal des geltungsori-
entierten Handelns; die Art dieser Kritik jedoch zerstört den positiven
Ertrag des Rückstiegs hinter die philosophische Problematisierung
einzelner Geltungsbereiche.
Zweitens: In der Konsequenz seiner Kritik der ethischen Autono-
mie beantwortet Heidegger die moderne formale Ethik des Richtigen
mit einer nicht weniger modernen und nicht minder formalen Ethik
des Guten.
(zweiter Ordnung) spricht - vor allem - von unserem Verhältnis zur Möglichkeitmo-
ralischer Beurteilung und Orientierung.

170
Drittens: In der Abtrennung der Ethik des Guten vom Problem des
normativ richtigen Handelns führt Heidegger ein Grundmotiv in
Nietzsches Ethik weiter; Heidegger steht damit in Opposition zu äl-
teren und neueren Versuchen einer modernen Wiedervereinigung der
Ethik des guten Lebens mit einer Ethik des richtigen Handelns.
Viertens: Heideggers Kritik der ethischen Autonomie ist nur im
Zuge einer Rehabilitierung des Autonomie-Begriffs zu halten; nur
wenn die Distanz zu Formen der Geltungsorientierung selbst als Gel-
tungsorientierung verstanden werden kann, ist es möglich, die Idee
einer Ethik der Rationalität konsistent zu entfalten.

r. Die Botschaft der Methode

Das Programm von Sein und Zeit ist das einer Überbietung der neu-
zeitlichen Geltungsreflexion unter anderem durch einen Rückstieg
auf die vorthematische und vorproblematische Welt des alltäglichen
Handelns. Das verstehende - »umgängliche und umsichtige« - Sich-
auskennen in dieser Welt ist demnach die Basis von Bewusstseinsleis-
tungen, die sich als eine stellungnehmende Beurteilung der Richtig-
keit von Handlungen und Handlungsnormen, der Gelungenheit von
Artefakten oder ganz allgemein der Gültigkeit von Aussagen vollzie-
hen. Jede solche Beurteilung bedarf der perspektivisch-horizonthaf-
ten Hinsicht im Beurteilen, die selbst einer Beurteilung entzogen ist;
der unhintergehbare Kontext solcher Hinsichten ist die im umgäng-
lichen Handeln erschlossene Lebenswelt des Menschen. Die ur-
sprüngliche Vertrautheit mit der im Modus der »Bewandtnis« be-
deutsam gegliederten Welt, das ist Heideggers These, ist begrifflich
gesehen primär gegenüber jeder distanzierenden und befragend zur
Disposition stellenden Hinwendung zu »innerweltlichen« Phänome-
nen aller Art. Jede solche Hinwendung tritt innerhalb des jeweils weit-
bildenden Sinnzusammenhangs ein Stück weit aus dem ursprüngli-
chen, das heißt ursprünglich »ungestörten« Artikulationszusammen-
hang dieser Welt heraus. Sie lässt es in der vorgängig erschlossenen
Welt zu einer thematisch entdeckenden »Begegnung« mit etwas kom-
men, das hier in der Form einer gleichsam zweiten Artikulation her-
ausgegriffen wird. Deren Medium ist die begriffliche Sprache, deren
Steigerungsform ist die explizite Aussage, deren Extrem ist das wis-
senschaftliche Urteil. Erst im Medium dieser zweiten Artikulation er-
weist sich die Welt als ein Zusammenhang »vorhandener« Gegen-
171
stände oder Probleme, die man so oder anders einschätzen, die man
so oder anders wertschätzen kann.
Für Heidegger ist diese zweite Artikulation nun keineswegs eine
prominente Explikation der ersten, der pragmatisch-bedeutsamen
Artikuliertheit der Welt. Diese verfügt über vielfache eigene Formen
der Ausdrücklichkeit, die allesamt nichts mit einer stellungnehmen-
den Distanzierung von Problembereichen und Handlungsmöglich-
keiten zu tun haben. Die bedeutsame Welterschließung, so stellt es
Heidegger dar, expliziert sich in dem ihr zugehörigen »hermeneuti-
schen Verstehen« selbst. Im reichen Spektrum der alltäglichen Rede,
in der sich die befindliche Verständlichkeit des In-der-Welt-Seins ar-
tikulierend ausspricht, ist die dezidiert behauptende Aussage ein »ex-
tremes Derivat« der Weltauslegung, die von der Arbeit an der Be-
deutsamkeit des primären Lebenszusammenhangs ))abgeschnitten«
ist.2 Auch die Polarität zwischen eigentlichem und uneigentlichem
Selbstverständnis ist von Heidegger als unterschiedliche Bewusstheit
des jeweiligen Welthorizonts gänzlich im welterschließenden Verhal-
ten angesiedelt. Während die Menschen im Zustand der Uneigent-
lichkeit in den Konventionen und Spielräumen ihrer Kultur und in
den Geschäften des Tages befangen sind, also blind den sinnhaften
Gliederungen ihres Daseins folgen, ist der Zustand der Eigendichkeit
dadurch gekennzeichnet, dass sich die Menschen der primären Sinn-
haftigkeit ihrer Lebenswelt im Ganzen bewusst werden; damit wird
ihnen die eigene Form des Lebens als eine unter anderen möglichen
Formen bewusst. Die Menschen werden frei für die distanzierende
Wahrnehmung und behütende Anteilnahme am Artikulationszusam-
menhang der Kultur, die sie - in meist nachträglicher »Wahl«- als die
ihre erkennen. Das heißt, dass sich das authentische Subjekt in der
Dimension der Entschlossenheit zu den Horizonten seines Sein-
könnens verhält, nicht aber zu dem, was innerhalbdieser Horizonte
als besser oder schlechter, gültig oder ungültig erscheint. Jedes »apo-
phantische«, das heißt im spezifischen Sinn wahrheitsbezogene Ver-
stehen, jede ausdrücklich thematisierende Ansprache von Weltzu-
sammenhängen, so will Heidegger zeigen, setzt das Spektrum der
primären Weltartikulation und des benommenen oder besonnenen
Verhaltens zu ihrem Erschließungsgeschehen voraus. In den Prozess
der Welterschließung korrektiv und konstruktiv eingreifen kann die
Sprache der stellungnehmenden Thematisierung bei Heidegger nicht.
Denn dieser Prozess übersteigt alle Instanzen oder Prozeduren ratio-
2 M. Heidegger, Sein und Zeit (künftig: SZ), Tübingen 1979, 160 u. 158.
naler Beurteilung. Die weltbildende Sprache der ersten Artikulation
ist das, worin sich jede solche Beurteilung notwendigerweise hält;
folglich kann die Beurteilung der Geltung handlungsleitender Verste-
henshorizonte nur eine haltlose Beurteilung sein.
Es ist diese im Kern normative Konsequenz, die sich aus Heideg-
gers Revision des Wahrheitsbegriffs in Sein und Zeit unmittelbar er-
gibt. Wenn die Wahrheit theoretischer, praktischer und ästhetischer
Urteile »abkünftig« ist gegenüber der höheren »Wahrheit« der Welt-
horizonte, die den Zugang zu propositionaler Wahrheit allererst eröff-
nen, so ist natürlich auch die stellungnehmende Orientierung an Gel-
tungsfragen zweitrangig gegenüber der Anteilnahme am primären
Artikulationsgeschehen, das selbst keiner gelrungsrelevanten Beurtei-
lung unterliegt. Welche Rolle Normen und Begründungen in einzel-
nen Bereichen des Handelns auch spielen mögen, das eigentliche oder
gute Leben der Menschen ist dadurch bestimmt, dass es sich von ih-
nen nicht insgesamt beherrschen lässt. Die »einzige Autorität«, sagt
Heidegger in Sein und Zeit, vor der ein freies Existieren Ehrfurcht ha-
ben kann, liegt in den »wiederholbaren Möglichkeiten der Existenz«,
das heißt in kulturellen Überlieferungen und politischen Traditionen,
deren »Erbe« das authentische Individuum aus freien Stücken - und
das heißt für Heidegger: ohne weitere Begründung - »übernimmt«. 3
Alle Verbindlichkeit innerweltlicher Orientierungen ergibt sich aus
der Dignität dieser Traditionen, deren Erschließungskraft für Hei-
degger das eigentliche Phänomen der Wahrheit ist. Da »Wahrheit« in
diesem Sinn die Polarität von wahr und falsch, gut und schlecht, gül-
tig und ungültig erst konstituiert, setzt das eigentliche Seinkönnen
mit Notwendigkeit jenseits dieser Polaritäten ein. Was es mit diesem
Jenseits im Genaueren auf sich hat, wird in Sein und Zeit etwas anders
als in den späteren Schriften bestimmt. Trotzdem lässt sich die ethi-
sche Grundmaxime, die aus Heideggers Rückgang hinter die Unter-
scheidung bewusstseins-konstitutiver Geltungsbereiche entspringt,
auf eine Formel bringen, der sich das frühere wie das spätere Denken
gleichermaßen verbunden weiß. »Es kommt nicht darauf an, Beurtei-
ler, es kommt darauf an, Bewahrer der Wahrheit zu sein«: Das ist die
ethische Botschaft in Heideggers ontologischer Methode. 4
Wem diese Botschaft katastrophal oder wenigstens bedenklich er-

3 SZ, 392,vgl. 382ff.


4 Die Ersetzung der Norm der Beurteilung durch die Norm der Bewahrungwird expli-
zit vollzogen in: M. Heidegger, Der Ursprung des Kunsrwerkes,in: ders., Holzwege,
Frankfurt/M. 1980, 52f.

173
scheint, dem stehen zwei Wege offen. Er kann zum einen argumen-
tieren, dass Heidegger Missbrauch mit der eigenen Methode getrie-
ben habe; es käme dann darauf an, Heideggers Grundlegungsversuch
von seinen aufdringlichen ethischen Implikationen zu trennen, oder
ihn mit anderen Implikationen zu versehen. 5 Er kann zum andern die
Ansicht vertreten, dass die Rückführung des geltungsbezogenen auf
das welterfahrene Bewusstsein selbst eine irreführende Methode ist,
die ganz konsequenterweiseauch zu ethisch bedenklichen Resultaten
geführt hat. 6 Ich werde mich im Folgenden unter die Vertreter dieser
zweiten Angriffslinie reihen. Heideggers begrifflich vorgetragene
These der Abkünftigkeit der Geltungsorientierung gegenüber der
Welterschließung enthält nicht nur ein ethisches Programm, sie ist ge-
radezu dieses Programm. Eine Kritik der ethisch-moralischen Impli-
kationen des Heidegger'schen Denkens kann nichts anderes sein als
eine Kritik dieses Denkens selbst.
Gegen Heideggers Methodik gibt es zwei grundsätzliche Einwän-
de, denen jeder Versuch einer Umdeutung ihrer impliziten Ethik
Rechnung tragen muss. Der erste Einwand bündelt Einsichten aus
Tugendhats vor allem am Wahrheitsbegriff orientierter Heidegger-
Kritik.7 Er bestreitet, dass es einen systematischen Primat der »ersten«
vor der »zweiten« Artikulation von Weltzusammenhängen gibt. Er
weist dem gegenüber auf die Interdependenz der beiden Weisen der
Artikuliercheit hin: Als bedeutsam erschlossen kann die Handlungs-
welt des Menschen genau dann erst gelten, wenn ihm dort Umstände
und Gegenstände begegnen, die er im Interesse seines Handelns be-
stimmen und bewerten kann. Sowenig es eine Thematisierung von
Gegenständlichem gibt, die ohne nichtthematischen Aufschluss aus-
kommen könnte, so sehr kann dieser Aufschluss erst als Dimension
der Offenbarkeit zählen, wenn er sich an explizit thematisierenden
Stellungnahmen und ihrer Ausweisung bewähren kann. Nur das apo-
phantische Verstehen, mit anderen Worten, legitimiert die herme-
neutische Umsicht als ein Verstehenin irgendeiner präzisen Bedeu-
tung; nur dieses hermeneutische Verstehen andererseits versorgt das
5 Diese Position vertreten zum Beispiel H. Fahrenbach, Existenzphilosophie und Ethik,
Frankfurt/M. 1970, 99 ff., und C. F Gcthmann, Heideggers Konzeption des Han-
delns in ,Sein und Zeit,, in: A. Gethmann-Siefert/0. Pöggeler (Hg.), Heidegger und
die praktische Philosophie, Frankfurt/M. 1988, 140-176.
6 Repräsentativ für diese Position ist J.Habermas, Der philosophische Diskurs der Mo-
deme. ZwölfVorle.sungen, Frankfurr/M. 1985, Kap. VI.
7 E. Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin 1970, und
ders., Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt!M. 1979, Kap. 8-10.
174
apophantische mit einem vorgebildeten Kontext, in dem überhaupt
Einzelnes thematisierend herausgegriffen werden kann. Dass das her-
meneutische Verstehen Bedingungdes apophancischen ist, diese Hei-
degger'sche Einsicht darf nicht den komplementären Umstand ver-
decken, dass das apophancische Verstehen Kriterium des hermeneuti-
schen ist. Das wahrheitstheoretische Dilemma, in das sich Heidegger
manövriert, rührt aus der einseitigen Beschreibung dieses doppelten
Verhältnisses. So richtig es ist, dass Erschlossenheitsweisen nicht auf
dieselbe Weise »gelten«, wie das in ihnen gegenständlich Erschlossene
gilt, so verfehlt ist es, die »Wahrheit« weltbildender Sichtweisen un-
abhängig von der Gültigkeit des durch sie Eröffneten zu denken.
Denn Verstehenshorizonce oder Erschlossenheitsweisen gelten eben
dadurch, sind insoweit »wahr«, als sie ein möglichst reiches Spektrum
haltbarer Ansichten über den mit ihnen gegebenen Weltbereich eröff-
nen, ohne in ihrer Kraft an die Triftigkeit einzelnerAussagen in die-
sem Bereich gebunden zu sein. Wenn es sich so verhält, erscheine Hei-
deggers ontologische Unterscheidung zwischen unthematischer Welt-
erschließung und dem vermeintlichen Sonderfall aussagenförmig
thematisierender Geltungsorientierung in einem ganz anderen Licht.
Welterschließung, so zeigt sich, ist implizite Geltungsorientierung;
Geltungsorientierung, so zeigt sich, trägt zur Welterschließung bei.
Welterschließung ist nicht ein autonomes, es ist ein in und mit unse-
ren Versuchen der Geltungsorientierung sich ereignendes Geschehen.
Folglich kann der methodische Rückgang »hinter« die Dimension der
Geltungsorientierung nur gelingen als ein neuartiger Durchgang zum
Verständnis dieser Orientierungen selbst.
Der erste Einwand kann freilich auf ganzer Linie nur tragen, wenn
er durch einen zweiten ergänzt wird. Heideggers Überbietung der
Geltungsreflexion kann nämlich zu der beschriebenen Abwertung der
Möglichkeit von Geltungsorientierung nur führen, weil er mit den
Dimensionen der Geltung die Dimensionen der Thematisierungdes
Geltenden unzulässig einebnet. Heidegger assimiliert alle Modi der
Geltung mehr oder weniger an den der theoretischen Aussagengel-
tung und falltdamit selbst noch jener Metaphysik der Vorhandenheit
zum Opfer, um deren Zurückweisung es ihm geht. Nur weil Heideg-
ger die Möglichkeit innerwelt!icher Geltungsorientierung letztlich
mit dem Anspruch wissenschaftlicher Verobjektivierung plus techni-
scher Bemächtigung plus emotivistischer Bewertung identifiziert, ist
er gezwungen, den Abstand vom verdinglichenden Denken im Ab-
stand von aussagenbezogener Wahrheitsorientierung zu suchen. Hei-
175
degger weist das geltungsthematisierende Stellungnehmen pauschal
in die Schranken, anstatt die traditionelle Theoriedieser Stellungnah-
me in ihre Schranken zu weisen. So gewiss die Aussage fast immer ein
Medium der Vergegenständlichung ist, sie ist es nur im weitesten Sinn
des Wortes, der von der empirischen Tatsachenfeststellung bis zur phi-
losophischen Begriffsexplikation reicht. Aber nicht nur sind die »Ge-
genstände« einer Aussage ganz verschiedener Art, ihr Thematisieren
kann auch ganz verschiedene Funktionen erfüllen. So geht nur die
empirische oder begriffliche Aussage mehr oder weniger darin auf,
eine dezidierte Sachverhaltsbestimmung zu geben, für deren Richtig-
keit eine entsprechende Behauptung einsteht. Bei vielen Arten prak-
tischer Aussagen und bei ästhetischen Urteilen dagegen verhält es sich
anders. Moralische Wertaussagen etwa halten nicht allein fest, wie es
sich mit einer bestimmten Situation unter normativem Aspekt ver-
hält, sie stehen überdies in der Funktion, Gründefür ein Handelnzu
geben, das der moralischen Verfassung dieser Situation tatsächlich
Rechnung trägt. In der Bestimmung dieser Ve,fassunggehtdie mora-
lische Wertaussage gerade nicht auf; indem sie solche Bestimmungen
gibt, legt sie eine Weise intersubjektiv verbindlichen Handelm nahe.
Wofür wir im Fällen moralisch-praktischer Urteile einstehen, ist der
Vorzug dieser Möglichkeit des Handelns - es drückt sich darin das ge-
naue Gegenteil einer verdinglichenden und versachlichenden Orien-
tierung in der Welt aus.8 In diesem Punkt ähnlich, aber doch wieder
anders verhält es sich zum Beispiel mit kunstkritischen Wertaussagen.
Mit ihnen werden nicht einzelne Partien des Kunstgegenstands selbst-
genügsam ausgesondert, mit ihnen wird vielmehr eine Konfrontation
mit dem im Kunstwerk artikulierten Weltzusammenhang nahegelegt.
Das positive Kunsturteil bringt ein Kunstwerk als gültige, das heißt
gelungene Darstellung weltbildender Sinnzusammenhänge zur Gel-
tung. Es spricht also bei genauerer Betrachtung nichts für Heideggers
permanente Unterstellung, es sei die geltungsbezogene Thematisie-
rung von Phänomenen im Medium der Aussage prinzipiell an die
verdinglichende Stellung des vorstellenden Subjekts zu den vereinzel-
ten und sinnentzogenen Objekten der Welt gebunden. Schon für die
Aussageform der philosophischen Sprache muss Heidegger hier eine
gehörige Ausnahme machen. Ausnahmen dieser und anderer Art sind

8 So aber stellt es sich für Heidegger dar - moralische Überlegung und Kritik geht für
ihn darin auf, die Vorhandenheit konventioneller Merkmale tugend- oder lasterhaften
Verhaltens zu erkennen. »(Moralischer) Mangel als Nichtvorhandenheit eines Gesoll-
ten ist eine Seinsbescimmung eines Vorhandenen« (SZ, 283).
auch in den Wissenschaften so sehr die Regel, dass Heideggers Modell
der reinen Aussagegeltung wie ein überstrapazierter Grenzfall er-
scheint.
Dass dies tatsächlich so ist, wird deutlich, wenn man die Theorie
der Aussage nicht allein, wie es Heidegger in Übereinstimmung mit
der kritisierten Tradition tut, an ihren in wörtlicher Rede sachver-
haltsbestimmendenLeistungen, sondern überdies an ihren (funktional
gesehen gleich ursprünglichen) perspektivenartikulierendenLeistungen
orientiert, wie sie das aussagende Reden in metaphorischer oder sonst
wie figürlicher Ausprägung übernimmt. Metaphorische Aussagen
sind Aussagen so gut wie buchstäbliche auch - trotzdem stellen sie
ihren Gegenstand nicht in der Festlegung auf bestimmte Kennzeichen
vor. Ihr Sinn ist es vielmehr, die Perspektive, den Verstehenshorizont
zur Geltung zu bringen, aus welchem sie ihren Gegenstand erscheinen
lassen.9 Mit dieser Differenz zwischen buchstäblicher und figürlicher
Rede, die ja keineswegs auf die Aussage beschränkt ist, ist die Interak-
tion erschließungsintensiver und bestimmungsintensiver Ausdrucks-
formen in die Sprache - in alle Sprache - immer schon eingebaut.
Daran zeigt sich erneut, wie sehr die »zweite«Artikulation von Welt-
verhältnissen in die Arbeit an der »ersten« Artikulation bedeutsamer
Sinnzusammenhänge eingeschlossen ist. Gerade an der reinsten Form
gegenstands- und geltungsbezogener Thematisierung, wie das die
Aussage ist, wird jener Doppelcharakter (der Artikulation) des In-der-
Welt-Seins deutlich, von dem Heidegger behauptet, dass ihn die phi-
losophische Orientierung an der Explizitheit der Aussage notwendi-
gerweise verdeckt. Sosehr die Analyse der aussageförmigen Rede in
der Tradition auf Abwege geraten sein mag, sowenig ist die Aussage
ein abkünftiger Modus der Rede. Die richtige Theorie kann aufHei-
deggers falsche Hierarchie verzichten. 10
Wenn diese beiden Einwände gegen Heideggers Methodik stich-
haltig sind, hätte für Heidegger sachlich kein Anlass bestanden, seiner
vorhandenheitskritischen Obsession die Form einer Trivialisierung
und Nivellierung des geltungsorientierten Handelns zu geben. Er hät-
te die Erschlossenheit des In-der-Welt-Seins durchaus als verfehlende
oder gelingende Weise der Geltungsorientierung beschreiben kön-

9 Diese Theorie der Metapher habe ich in Studie 1 entwickelt.


ro Der späte Heidegger verschärft die unplausible Position aus SZ noch einmal, wenn
er die Sprache der Dichtung zum alleinigen Paradigma der ersten Artikulation (uod
somit des Grundbegriffs der Sprache) erhebt. Vgl. M. Heidegger, Die Sprache, in:
ders., Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, 9-33, 31.

177
nen; er hätte erläutern können, dass und wie die verschiedenen For-
men der Geltungsorientierung einander wechselseitig ins Licht
rücken und korrigieren können, ohne dabei auf den Fluchtpunkt ei-
ner einigenden Zentralperspektive ausgerichtet zu sein; es hätte sich
angeboten, die beiden sprachkonstitutiven Artikulationsmodi der
perspektivenartikulierenden und der sachverhaltsbestimmenden
Rede in ihrer wechselseitigen Erhellungskraft vorzustellen, ohne die-
se Zweiseitigkeit gleich zur ontologischen Differenz zu stilisieren; es
wäre möglich gewesen, den transzendentalen Aufweis der welthaften
Horizontgebundenheit allen Handelns und Erkennens zu führen,
ohne daraus die strukturelle Dominanz der Sinnwahrheit von Welt-
erschließungsprozessen gegenüber der Sachwahrheit gegenständli-
cher Bestimmungen zu folgern. Es wäre, mit anderen Worten, mög-
lich gewesen, die Destruktion der klassischen Ethik der Wahrheits-
orientierung mit einer Rekonstruktion dieser Ethik zu verbinden.

2. »Spiel« als ethische Metapher

Freilich hat es nicht allzu viel Sinn, Heidegger im Nachhinein eine


andere als die tatsächlich vollzogene »Kehre« anzuraten. Ich habe das
nur getan, um deutlich werden zu lassen, dass es nicht unbedingt rein
methodische Gründe waren, die Heidegger am Verfahren der rück-
steigenden Überbietung der Geltungsreflexion haben festhalten las-
sen. Für Heidegger war die eigene philosophische Methode untrenn-
bar mit der ethischen Botschaft dieser Methode verknüpft. Die
nochmalige Radikalisierung dieser Methode beim späteren Heidegger
kann geradezu als ein Versuch verstanden werden, das ethische Motiv
reiner hervortreten zu lassen, als die komplexe Konstruktion von Sein
und Zeit es erlaubt. Heideggers Kehre erscheint unter moralphiloso-
phischem Blickwinkel auch als eine Verselbständigung dieses ethi-
schen Grundmotivs aus den Zusammenhängen einer systematisch ar-
gumentierenden philosophischen Handlungstheorie. Mehr und
mehr verzichtet Heidegger darauf, die These vom Primat der Welter-
schließung über die Geltungsorientierung durch eine genaue Be-
trachtung des Verhältnisses beiderArtikulationsweisen zu begründen.
Mehr und mehr wird es zur Moral seiner Schriften, den Abstand zur
Beurteilung des »Richtigen«, innerweltlich Gültigen, und damit eine
Praxis der entschlossenen Enthaltung von aller Art des eingreifenden
Handelns zu empfehlen; als höhere Orientierung und authentisches
178
Dasein erscheint jetzt allein noch die Aufnahmebereitschaft und mit-
vollziehende Empfänglichkeit für die geschichtlichen Umbildungen
der Sinnzusammenhänge, aus denen jede konkrete Stellungnahme
ihre untergeordnete Bestimmtheit gewinnt.
Man kann auch sagen, der doppelte Boden der Sprache Heideggers
wird jetzt deutlicher als zuvor. Einerseits beschreibt sie die Situation
des Menschen, andererseits fordert sie ein bestimmtes Verhalten des
Menschen zur Grundsituation seines Handelns. In dieser Doppel-
stimmigkeit ist Heideggers Seinsdenken zugleich eine philosophische
Ethik, die ihren Charakter nur darum immer wieder verleugnen
muss, weil sie um keinen Preis mit einer ethischen Theorie der Maß-
stäbe richtigen innerweltlichen Handelns identifiziert werden will.
Sosehr die »existierenden Menschen« nach Heidegger in die Unver-
borgenheit des Seins eingelassen sind, sosehr ist ein Sich-Einlassen, ein
Sich-Konfrontieren mit den geschichtlichen Sinnbedingungen des
Daseins etwas, was sie aus ethischer Verantwortung leisten sollen. Die-
se ethische Verantwortung ist bei Heidegger nicht in erster Linie als
moralische Verpflichtung, als Achtung der gleichberechtigten Le-
bensmöglichkeit der Mitmenschen gedacht. Eher gilt sie der ge-
schichtlichen Lebensmöglichkeit des Menschen überhaupt,in ihrer
Achtung und Anerkennung hat sich das bewusste Dasein - und zwar
vor aller Ausrichtung an intersubjektiven Normen - zu bewähren.
Der Mensch ist also nicht nur Angehöriger des Seins, er hat auch eine
Verantwortung gegenüber dem Sein, das heißt gegenüber der Vitalität
der Welthorizonte, in denen das menschliche Leben sich abspielt.
Wenn er dieser Verantwortung gerecht werden will, darf er sich nicht
an den Standards und Kriterien orientieren, die eine bestimmte Tra-
dition entlässt, er muss sich an der kulturellen Tradition orientieren,
der er sich als zugehörig erfährt, welche Kriterien und Standards sie
auch immer entlässt. Wer authentisch leben will, muss Bewahrer und
nicht Beurteiler des Sinngeschehens sein, dem er gehört.
Für diesen Zusammenhang hat der spätere Heidegger eine bevor-
zugte Metapher. Es ist die des Spiels. Das Sein ist ein Spiel, in dem sich
der Mensch als Mitspieler bewähren muss, will er ein authentisches
Leben führen. Zwar gibt es dieses Spiel nicht ohne den Menschen, wie
eben kein Spiel ohne solche zu denken ist, die im Spiel dem Verlauf
des Spiels ausgesetzt sind; aber der Mensch hat die Art und den Gang
dieses Spiels nicht in der Hand. Der Spiel»verlauf« dieses Spiels ist
keineswegs eine Resultante der Einzelhandlungen derer, die an ihm
beteiligt sind; vielmehr sind die Spielhandlungen der Spieler dadurch
179
ermöglicht, dass es ein übergreifendes Spiel-Geschehen gibt. Das
Spiel des Seins ist logisch gesehen primär gegenüber dem Dasein, das
in ihm einen Spielraum hat und erhält, einen Spielraum, der jedoch
stets in Gefahr ist, durch den Verlauf des Spiels verstellt zu werden.
Damit also ein sinnvolles Handeln im Spiel möglich ist, kommt es zu-
vor und allererst darauf an, sich angemessen - antizipierend, das heißt
mit Gespür nicht nur für die gegebenen Situationen, sondern für den
beständigen Wechsel der Situationen - zum Spiel zu stellen. Was den
guten Spieler ausmacht, ist die Fähigkeit, sich vernehmend zum Spiel
zu stellen; ohne diese Fähigkeit nutzt ihm alle Technik und Taktik
nichts, und selbst die Tugenden der Fairness im Spiel bleiben leer,
nämlich ein Zeichen der bloßen Borniertheit gegenüber dem Sinn
und der Dramatik des Spiels, wo diese primäre Fähigkeit fehlt. Die
Moral dieser ludistischen Metaphorik ist klar: Alle Tugenden des
Handelns in der Welt sind sekundär gegenüber der Tugend der Hörig-
keit gegenüber den Weisungen des Seins. Im Gebrauch der Spielme-
tapher zur Charakterisierung der Stellung des Menschen zum Sein
dramatisiert Heidegger die ethischen Konnotationen, die allen seinen
Analysen beigelegt sind. 11
So ist es ein zentrales Argument in Heideggers Kritik des Huma-
nismus, dass dieser den Spielcharakter des In-der-Welt-Seins und
überdies den Charakter dieses Spielcharakters verkennt. Das »Spiel«
der Welt, von dem Heidegger im Anschluss an Kant einmal spricht 12,
spielt sich nicht nach vom Menschen aufgestellten Regeln ab, und es
ist auch nicht durch die Anwendung solcher Regeln zu beurteilen
oder zu korrigieren. Der Mensch kann über seine geschichtliche Si-
tuation so wenig richten, wie er diese Situation selbstrichten kann; erst
ein Verzicht auf dieses Richteramt könnte den Gang der Geschichte
dadurch beeinflussen, dass wir uns ihm ohne die Anmaßung derbe-
herrschenden Ausrichtung überlassen. In diesem Sinn stellt Heideg-
ger dem anmaßenden Humanismus einen geläuterten Humanismus
gegenüber, den er als einen Humanismus »im äußersten Sinn« be-
zeichnet. Es ist das »der Humanismus, der die Menschheit des Men-
schen aus der Nähe zum Sein denkt. Aber es ist zugleich der Huma-
nismus, bei dem nicht der Mensch, sondern das geschichtliche Wesen
n Zur Interpretation der Heidegger'schen Spielbildlichkeit vgl. E. Fink, Spiel als Welt-
symbol, Stuttgart 1960; 1. Heidemann, Der Begriff des Spieles und die ästhetische
Philosophie der Gegenwart, Berlin 1968; indirekt auch H.-G. Gadamer, Wahrheit
und Methode, Tübingen 1975, 97 ff. u. bes. 464 f.
12 Vgl. M. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, in: ders., Wegmarken, Frankfurt/M.
1978, 123-173, hier 152.

180
des Menschen in seiner Herkunft aus der Wahrheit des Seins auf dem
Spiel steht. Aber steht und fällt in diesem Spiel dann nicht die Exi-
stenz des Menschen? So ist es.«13 Den Auftrag dieser Existenz be-
stimmt Heidegger nun als »Wächterschaft, das heißt (als) Sorge für
das Sein«.14 In dem ebenfalls 1946 entstandenen Text »Wozu Dichter«
bestimmt Heidegger die Aufgabe dieser Bewahrung als das »Wagnis«,
dem »Weltspiel des Seins« gegenüber aufgeschlossen zu bleiben. 15 Die
olympischen Assoziationen reißen nicht ab. Gegenüber jeder Kon-
zeption, die das Wesen des Menschen aus der Möglichkeit rationaler
Verfügung über die Umwelt begreift, verlangt Heidegger einen »Weit-
sprung, der das Denken ins Spiel mit dem bringt, worin das Sein als
Sein ruht, also nicht mit solchem, worauf es als seinem Grund beruht.
Das Denken gelangt durch diesen Sprung in die Weite jenes Spiels,
auf das unser Menschenwesen gesetzt ist. Nur insofern der Mensch in
dieses Spiel gebracht und dabei aufs Spiel gesetzt ist, vermag er wahr-
haft zu spielen und im Spiel zu bleiben.« 16
Dieses letzte Zitat stammt aus der 1956 gehaltenen Vorlesung
Der Satz vom Grund, in der sich die intensivste Ausnutzung der
Spielmetaphorik bei Heidegger findet. Die Moral dieser Metaphorik
wird besonders deutlich am Ende der letzten Vorlesung, die Heid-
egger in eine Interpretation des rätselhaften Fragments 52von Hera-
klit einmünden lässt. Heidegger hat dieses Fragment seit seiner Be-
schäftigung mit Nietzsche mehrfach kommentiert; die hier gegebene
Deutung fasst die verstreuten Auslegungen zusammen. 17 »Das Frag-
ment 52 lautet: atwv rcala EITTL rca(~wv,rcrnoEuwv;rcmöo~ ~
ßaOIAT]lTJ. Seinsgeschick, ein Kind ist es, spielend, spielend das Brett-
spiel; eines Kindes ist das Königtum, d.h. die <lQX~das stiftend ver-
waltende Gründen, das Sein dem Seienden. Das Seinsgeschick: ein
Kind, das spielt. Somit gibt es auch große Kinder. Das größte, durch
das Sanfte seines Spiels königliche Kind ist jenes Geheimnis des
Spiels, in das der Mensch und seine Lebenszeit gebracht, auf das sein
Wesen gesetzt wird.« 18
Auch die Bestimmung dieses Gesetztseins ist wiederum deskriptiv

13 M. Heidegger, Brief über den Humanismus, in: ebd., 3n-360, hier 339.
14 Ebd.
15 M. Heidegger, Wozu Dichter, in: ders., Holzwege, a.a.O., 265-316,hier 278.
16 M. Heidegger, Der Satz vom Grund, Pfullingen 1986, 186.
17 M. Heidegger, Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 1961, Bd. 1, 333f. u. Bd. 2, 380 ff.; ders.,
Wozu Dichter, a.a.O., 276.
18 Heidegger, Der Satz vom Grund, a.a.O., 188- Heideggers Übersetzung ist auch hier
exzentrisch, aber darauf kommt es im gegebenen Kontext nicht an. Zur Deutung des

181
und normativ in einem. Das Handeln der Menschen spielt sich nicht
nur innerhalb eines unüberschaubaren Artikulationsgeschehens ab,
ein authentisches, ein »wahrhaft« spielendes Leben bestünde darin,
bewusst an diesem Geschehen teilzuhaben, anstatt ängstlich auf die il-
lusionären Sicherungen einer rationalen Kultur zu setzen. Die in die-
sem Sinn bewusst Lebenden erkennen, dass sie ihre Orientierungen
im Handeln letztlich nicht begründen können, weil diese Begrün-
dungen nur innerhalb von Handlungsspielräumen auftreten und
greifen können, die selbst ohne Grund entstehen und vergehen. ))Das
Spiel ist ohne ,Warum,. Es spielt, dieweil es spielt. (... ) Sein als grün-
dendes hat keinen Grund, spielt alsder Ab-Grund jenes Spiel, das als
Geschick uns Sein und Grund zuspielt.« 19Aus diesem vorletzten Satz
zieht Heidegger mit dem letzten eine unübersehbar ethische Konse-
quenz. Sie ist, wie es dem ))besinnlichen Denken« entspricht, nicht
imperativisch, sondern interrogativisch formuliert: »Die Frage
bleibt«, schreibt Heidegger, »ob wir und wie wir, die Sätze dieses Spiels
hörend, mitspielen und uns in das Spiel fugen.«20Natürlich ist dieser
Interrogativ ein verdeckter Imperativ: Es kommt laut Heidegger dar-
auf an, es ist im Namen des eigentlichen, des »äußersten« Humanis-
mus geboten, das Spiel des Seins mitzuspielen und sich in dieses Spiel
zu fugen. Es kommt darauf an, den Prozess der primären Weltartiku-
lation nicht unter das Diktat sekundärer Begründungserwartungen
zu stellen. ))Sich auf den Sinn einlassen, ist das Wesen der Besin-
nung.«21

3. Eine formale Ethik des Guten

Trotzdem mag es scheinen, als enthielten Heideggers spielmetaphori-


sche Andeutungen alles andere als eine eindeutige Moral. Jedoch ist
dieser Eindruck geradezu der Witz der Heidegger'schen Ethik; es
lohnt sich, ihre scheinbare Inhaltslosigkeit nicht sofort als Kennzei-
chen ihres Mangels, sondern zunächst einmal als Kennzeichen ihrer
Modernität zu lesen. Die moderne Moralphilosophie ist in weiten
Teilen abstrakt, und sie will es sein; sie will nicht einen Katalog von
Fragments vgl. C. S. Kirk, Heraclitus. The Cosmic Fragments, Cambridge 1962, XIII
u. 5; Ch. H. Kahn, The Art and Thought ofHeraclitus, Cambridge 1979, 71 u. 227 f.
19 Ebd.
20 Ebd.
21 M. Heidegger, Wissenschaft und Besinnung, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pful-
lingen 1954, 45-70, hier 68.

182
Normen des gedeihlichen Lebens und Zusammenlebens festlegen, sie
will über den Sinn solcher Normen aufklären und vermöge dieser
Aufklärung begründen, was ein richtiges oder günstiges Verhältnis zur
Notwendigkeit der normativen Regelung des sozialen und des indivi-
duellen Lebens ist. Mit der kantischen Ethik-Tradition etwa ist Hei-
degger der Ansicht, dass die Philosophie der Moral sich auf eine mög-
lichst reine Analyse der ethischen Einstellung beschränken muss,
wenn sie die Freiheit des Handelnden nicht schon im Ansatz illegitim
einschränken will. 22 Freilich versucht Heidegger die Abstraktheit ei-
ner kantischen Ethik noch einmal zu überbieten. Was Heidegger als
ethischen Standpunkt auszeichnet, ist nicht die Beachtung formaler
Kriterienoder Prozeduren zur Beurteilung der Richtigkeit von Hand-
lungen; es ist die Fähigkeit einer bestimmten Haltungallen ethisch re-
levanten Gehalten und Kriterien und Prozeduren gegenüber. Es ist
dies eine Haltung der Distanz. In Sein und Zeit wird das eigentliche
Selbstseinkönnen ausdrücklich aus der Fähigkeit bestimmt, die »Auf-
gaben, Regeln, Maßstäbe« des alltäglichen Lebens »übergehen« zu
können, wobei Heidegger keinen Zweifel daran lässt, dass diese Re-
geln und die ihnen zugehörigen »Ansprüche« mitsamt dem »verhan-
delnden Bereden« dieser Ansprüche allein in den Kontexten alltäg-
lich-pragmatischen Besorgens ihren Ort und ihre Geltung haben. 23
Während das authentische Subjekt in Sein und Zeit die »Illusion des
Man«24 dezisionistisch übersteigt, um fortan im Bewusstsein der eige-
nen Lebensweise zu leben, erreicht das geläuterte Subjekt der Spät-
philosophie die ethische Einstellung der Distanz auf dem Weg zurre-
zeptiven Empfänglichkeit für die Sinnbasis der eigenen Lebensform,
die jeden Sinnentwurf und erst recht jeden moralischen oder Rechts-
anspruch in diesem Leben uneinholbar trägt und bedingt. Mit beiden
Versionen versucht Heidegger den Kantischen Freiheitsbegriff durch
Überbietung zu revidieren. Das wird deutlich, wenn man sich klar-
macht, in welchem Sinn Heideggers implizite Ethik ebenso wie Kants
explizite Ethik ein formales Unternehmen ist. Der Formalismus der
Kantischen Ethik hat einen kriterialen Sinn: Er versucht einen nor-
mativen Begriff des richtigen Handelns zu geben, dem jede bestimm-
te (individuelle oder kollektive) Konzeption des guten Lebens von
vornherein untersteht. Freiheit wird hier verstanden als Konformität

22 So betont Heidegger in Sein und Zeit (266), dass es ihm nicht darum gehe, dem Da-
sein »ein ,inhaltliches, Existenzideal vorzuhalten und ,von außen, aufzuzwingen«.
23 sz,268, 283, 296.
24 Ebd., 266.
mit dem sittlichen Gesetz des Handelns. Der Formalismus der Ethik
Heideggers hingegen hat einen transkriterialen Sinn: Er versucht eine
Mindestbedingung guten Lebens anzugeben, die nun aber kein Kri-
terium für sozial richtiges Handeln formuliert, die vielmehr die Er-
fahrung der Bedingtheit und Fragilität aller solcher Kriterien zur ethi-
schen Grunderfahrung erklärt. Freiheit erscheint hier als Souveränität
gegenüber allen noch so guten und noch so akzeptablen Normen des
Handelns. In dieser Freiheit liegt es, sich die eigene geschichtliche Si-
tuation »durchsichtig« werden zu lassen und damit des Werts der Tra-
dition inne zu werden, der der Einzelne sich verbunden fühlt, die er
als sein »Schicksal«erfahrt. Erst und einzig durch den ursprünglichen
Akt der Anerkennung einer Lebensform können die Regelungen in
dieser Lebensform echte Verbindlichkeit gewinnen. Das Gut dieser
Lebensform muss anerkannt sein, damit Gutes in ihr erkannt und re-
spektiert werden kann. Da diese Anerkennung sich an nichts in die-
sen Lebensformen halten kann, wird die vollzogene Transzendierung
aller internen Maßstäbe zum alleinigen Zeichen selbstbestimmcen Le-
bens. Die Möglichkeit dieser Transzendierung, sage Heidegger, ist
konstitutiv für ein gutes, das heißt nicht in Illusionen und Ausreden
befangenes Leben. Heidegger stelle der modernen formalen Ethik des
Richtigen eine moderne formale Ethik des Guten entgegen.
Um die Eigenart von Heideggers Version einer solchen Ethik zu
erkennen, ist ein zweiter Blick auf die beiden fraglichen Typen der
Moralphilosophie hilfreich. Für eine »Ethik des Richtigen« sind die
Rechte und Pflichten des sozialen Zusammenlebens der Menschen
begrifflich und sachlich primär gegenüber den Konzeptionen des
guten Lebens, aus denen diese ihr Leben führen. Das erste Thema
dieser Ethik ist das moralisch richtige Handeln, nicht hingegen das
individuell oder kollektiv gute Leben. Für eine Ethik des Richtigen
ist also das Richtige, sprich: sind die intersubjektiv verbindlichen
Handlungsnormen das Kriterium des Guten; gut ist demnach eine
Lebensführung, die das eigene Glück in Konformität mit den mora-
lischen Regeln sucht. - Für eine »Ethik des Guten« andererseits ist
der Kernbestand der Moral, den die Ethik des Richtigen zu isolieren
sucht, allein in Begriffen des guten Lebens zu fassen. Allein im Rah-
men einer allgemeinen Konzeption des guten Lebens, das es zu re-
spektieren gilt, ist demnach die Idee der moralischen Verantwortung
und Verpflichtung zu erläutern. Aus der Siehe der Ethik des Guten ist
das Gute - sprich: die Idee gelungenen Lebens - das Kriterium des
Richtigen; richtig, also moralisch verbindlich,· ist das Handeln, das
184
mit den Formen dieses Guten bzw. mit den Möglichkeiten seiner Er-
langung konform ist. Während die Ethik Kants einer der wichtigsten
Repräsentanten der Ethik des Richtigen ist, war die antike Ethik im
Großen und Ganzen eine Ethik des Guten. 25 Als moderner Autor
setzt sich Heidegger zunächst mit Kant in zwei grundsätzlichen
Punkten vom Projekt der antiken Ethik ab. Heidegger stellt die Mög-
lichkeit einer allgemein verbindlichen inhaltlichen Konzeption des
guten Lebens ebenso in Frage wie die Annahme einer prinzipiellen
Identität des richtigen oder guten mit einem existentiell glücklichen
Leben. Auf dem Boden der Modeme muss auch eine erneuerte Ethik
des Guten nach formalen Bestimmungen suchen, die möglichst we-
nig über die inhaltliche Lebensführung der Individuen präjudizieren.
Es kommt darauf an, den Gesichtspunkt ethischen Lebens herauszu-
arbeiten, und zwar innerhalb einer Ethik des Guten so, dass der ab-
geleitete, der sekundäre, der »fundierte« Charakter moralischer Nor-
men und rechtlicher Regelungen deutlich wird. Diese Ethik des
Guten kann nun aber durchaus so ausgeführt werden, dass sie einen
bestimmten Begriff des moralisch Richtigen auf der Basis einer allge-
meinen Konzeption des Guten zu erläutern oder zu begründen ver-
sucht. Eine solche Theorie des Guten würde eine Theorie des Richti-
gen umfassen. 26 Heideggers implizite Ethik ist jedoch nicht von die-
ser Art. Sein Vorhaben ist das einer reinen Ethik des Guten; ihr
Anliegen ist es, den Angelpunkt eigentlichen Seinkönnens vor aller
und unabhängig von aller Theorie des intersubjektiv verbindlichen
Handelns zu ergründen. Heidegger vertritt eine extreme formale
Ethik des Guten. Er versuche das philosophische Thema des Guten
völlig vom Thema des Richtigen zu trennen. Aus der Erfahrung der
Distanzierbarkeit aller ethischen Normen, die nach Heidegger die
ethische Grunderfahrung ist, soll zunächst einmal nichts zugunsten
einer bestimmten innerweltlichen Moral folgen. Das ist weder selbst-
verständlich noch besonders plausibel.27 Ebendieser Schritt aber ist
für Heideggers Denken höchst charakteristisch, wie umgekehrt für
die extremeren Varianten einer kantianischen Moralphilosophie die
25 Vgl. E. Tugendhat, Antike und moderne Ethik, in: ders., Probleme der Ethik, Stutt-
gart 1984, 33-56.
26 Den Umriss einer solchen Ethik entwirft Ch. Taylor, Die Motive einer Verfah-
rensethik, in: W Kuhlmann (Hg.), Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels
und die Diskursethik, Frankfurt/M. 1986, wr-135.
27 So könnte man die Erfahrung der Distanzierbarkeit aller moralischen Normen auch
als universalistische
Grunderfahrung interpretieren, in der die Unhaltbarkeit jeder ein-
geschränkten Moral zum Bewusstsein kommt.
gleichfalls fragwürdige Annahme bezeichnend ist, es dürfe eine Theo-
rie des moralisch Richtigen nichts über den Gehalt guten Lebens prä-
judizieren. Strukturell betrachtet also stellt Heidegger der reinenfor-
malen Ethik des Richtigen eine reine formale Ethik des Guten ge-
genüber.
Heideggers ethische Intuitionen gewinnen eine schärfere Kontur
durch einen kurzen Rückblick auf die Vorgeschichte der modernen
Ethik des Guten. Die in unserem Zusammenhang wichtigsten Stadi-
en sind dabei Schiller und Nietzsche. Nicht zufällig nämlich formu-
lieren beide Autoren ihre Alternative zur modernen Ethik des Richti-
gen im philosophischen Einsatz der Metaphorik des Spiels. »Spiel«
wird dabei zum Leitwort eines Verständnisses von Autonomie und
Selbstverwirklichung, das nicht länger ausschließlich oder überhaupt
nicht länger aus der Orientierung an unbedingten Prinzipien der
Handlungsbeurteilung gefasst werden kann. Bei Schiller ist das Spiel-
paradigma der Autonomie noch als Ergänzungzum Autonomiebegriff
Kants verstanden. Bei Nietzsche dagegen dominiert das Spielparadig-
ma guten Lebens das Geltungsparadigma der ethischen Autonomie.
Heidegger schließlich löst die spielbegriffliche Explikation des Guten
gänzlich von der Idee gelcungsorientierten Handelns ab.
Verglichen mit Nietzsche ist die moralische Welt bei Schiller noch
durchaus in Ordnung. Zwar ist die Welt moralisch keineswegs in
Ordnung; aber die Lebensformen des Menschen sind mit einem ein-
heitlichen Maßstab versehen, an dem sich der moralische Zustand
der Welt bemisst. Zusammen mit dem Gesetz wissenschaftlicher Er-
kenntnis gibt das Sittengesetz den Spielraum selbstbestimmten Han-
delns eindeutig vor. Allerdings legt Schiller in den Briefen Über die
ästhetischeErziehung des Menschen dar, dass der Begriff des durch
theoretische und praktische Einsicht definierten Spielraums der Au-
tonomie einen gleichwohl unzureichenden Begriff von Möglichkeit
und Sinn menschlicher Selbstverwirklichung gibt. Kants formaler
Begriff der moralischen Autonomie wird für Schiller erst plausibel,
wenn ihm eine Idee individuellen guten Lebens positiv beigegeben
werden kann. Diese Idee versucht Schiller in ebenfalls formalen Be-
griffen zu umreißen. Seine These ist, dass Freiheit im Handeln nur
dann wirklich gegeben ist, wenn die Menschen in der Lage sind, die
ihnen aufgegebenen bzw. die von ihnen gewählten Handlungen
nicht aus Pflicht oder Berechnung, sondern spielend zu vollziehen.
Ein wahrhaft gutes Leben würde sich in solcherart spielenden Hand-
lungsvollzügen ereignen. Deshalb sagt Schiller, der Mensch sei nur da
186
ganz Mensch, wo er spiele.28 Dieses ethische Telos des Spiels hat ei-
nen doppelten Aspekt. Das spielerische Handeln ist erstens ein voll-
zugsorientiertes, also selbstzweckhaftes Handeln. Zweitens ist es ein
Handeln, das wahrnehmend auf die Situation seines Vollzugs hin ori-
entiert ist, also ein ästhetisch selbstbewusstes Handeln. Schillers Ideal
ist das einer Welt, die nicht allein durchdas in ihr stattfindende Han-
deln sinnhaft artikuliert ist, die darüber hinaus for die Handelnden
als das sinnvolle Geschehen ihrer Artikulation erscheint. Die Idee
moralisch-pflichtgemäßen Handelns geht auf in der eines Schau-
spiels der Welt, das sich aus freizügig-moralkonformen Handlungen
vollzieht. Dieses Ideal selbstbezüglich-selbstbestimmten Handelns ist
jedoch bei Schiller durchweg als eine Ergänzungder Kantischen Ex-
plikation des moralisch guten Willens verstanden. Die Metaphorik
des Spiels soll festhalten, dass moralische Orientierung in diesem
Sinn keine ethisch erschöpfendeOrientierung ist. Das ethische Spiel-
paradigma konkurriert bei Schiller nicht mit dem Geltungspara-
digma des Handelns, es steht ihm bereichernd zur Seite. Nietzsche
dagegen lässt das Spielparadigma Vorrang vor dem Geltungspara-
digma gewinnen. Für Nietzsche gibt es keine zeitlos verbindliche
Ordnung der Welt, die den Spielraum der Suche nach dem guten Le-
ben von außen begrenzen könnte. Er lege dar, dass es keine von ge-
schichtlicher Sprache, Praxis und Kultur unabhängigen Maßstäbe des
Wahren, Guten oder Schönen gibt. Demnach gibt es kein von unse-
ren vielfältigen und veränderlichen Orientierungen in der Welt un-
abhängiges Kriterium für unsere moralische Orientierung in der
Welt. Was immer für diese Orientierungen, Sprachspiele oder Le-
bensformen gelten mag - es gilt in ihnen; diese Formen der Praxis
sind selbst grundlos. Diese erkenntnistheoretisch wie ethisch rele-
vante Relativität aller Maßstäbe und damit: aller Formen der Gel-
tungsoriemierung bringt Nietzsches Metaphorik des Spiels und des
Spielens zum Ausdruck. Die Welt im Ganzen erscheint als ein Spiel,
in dem höchst unterschiedliche Spiele entworfen und gespielt werden
können. Bei aller Abneigung gegen Schiller siehe besonders der frühe
Nietzsche diese Spiele-in-der-Welt als Erzeugnisse eines fundamenta-
len ästhetischen »Spielbetriebs« der Menschen an, der freilich - das
ist der krasse Unterschied zu Schillers Konzeption - allen Wahrheits-

28 Fr. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Brie-
fen, in: ders., Werke, 4 llde., Frankfurt/M, 1966, Bd. 4, 193-286,238.-Für eine neue-
re Anknüpfung an Schillers Ethik vgl. H. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft,
Frankfurr/M. 1965, Kapitel IX.
bezug erst konstituiert. 29 Die durch originär-erfindende Artikulation
vielfältig erschlossene Welt ist dabei nach Nietzsche auch im Ganzen
ein »Spiel«, eben ein Spiel von Spielen. Darin ist betont, dass die
sprachspielkonstituierende Weltartikulation ein schlechthin unab-
schließbarer und unbegrenzbarer Vorgang ist, der selbst keiner Beur-
teilung untersteht, sondern bestenfalls der erkennenden oder schaf-
fenden Affirmation zugänglich ist. Dieses globale Spiel als Spiel
wahrzunehmen heißt, die Komingenzen seines Verlaufs zu bejahen.
Auch Nietzsche bezieht sich hier auf das Fragment 52 des Heraklit. Er
gibt ihm folgende Moral: »Es ist ein Spiel, nehmt's nicht zu pathe-
tisch, und vor allem nicht moralisch.« 30
Die Konsequenz dieser spielmetaphorischen Bestimmung des In-
der-Welt-Seins ist zum einen eine Radikalisierung, zum anderen eine
Relativierung der Idee subjektiver Autonomie. Nietzsche radikalisiert
den idealistischen Autonomiebegriff, indem er dem souveränen Sub-
jekt die Macht auch über die eigenen normativen Schöpfungen ver-
leiht; kein Prinzip, das nicht im Geist schaffender Umwertung außer
Kraft gesetzt werden könnte. Denen, die die Illusion gottgegebener
ewiger Werte überwunden haben, gilt das sittlich Gültige eben des-
halb, weil esgemachtist, und es gilt nur so lange, wie es als gut gemacht
erscheint. Diese Theorie enthält aber zugleich eine entscheidende
Schwächung des Autonomiegedankens, insofern nun keine Instanz
mehr angebbar ist, von der her ein Lebens- und Gesellschaftsentwurf
bindende Autorität gegenüber anderen gewinnen könnte. Es ist nicht
länger möglich, sich an der Entdeckungdes wahrhaft Wertvollen zu
orientieren, einfach weil jeder Wert sich letztlich der bloßen Setzung
verdankt. Die souveräne Distanz zu allen Regelungen des Lebens er-
weist sich als eine Distanz auch zur Macht und Herrlichkeit des sou-
veränen Subjekts, das sich selbst in seinen kühnsten Schöpfungen als
Teil eines unverfügbaren Sinngeschehens erfährt. Souveränität heißt
bei Nietzsche nicht allein Distanzierbarkeit des moralischen Willens
zur Wahrheit, sie beinhaltet auch noch eine Distanz zum naiven Glau-
ben an die Gesetzgebungskraft des Willens zur Macht. Daher ist das
authentische Individuum zugleich ekstatisch und tragisch disponiert:

29 F.Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, in: ders., Sämt-
liche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, Berlin-New
York 1980, Bd. 1,799 bis 872, bes. S. 830 ff.- Vgl. die beiden verwandten Texte: Ȇber
das Pathos der Wahrheit«, und »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen
Sinn«, ebd., 755-760 u. 873-890.
30 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, ebd., 832.

188
es weiß um die Hinfälligkeit noch der besten eigenen Setzungen, doch
gerade aus der Bejahung dieser Relativität gewinnt es seine bewusste
Stellung zur Welt. 31
Dieser ambivalente Begriff der Souveränität ist der Kerngedanke
der immoralistischen Ethik Nietzsches. Immoralistisch- nicht jedoch
amoralisch - ist diese Ethik, weil Nietzsche, ebenso wie Heidegger,
der moralischen Rücksicht auf andere nur eine systematisch abgelei-
tete Stellung einräumt. Nicht ein Begriff der intersubjektiven Aner-
kennung und unparteilichen Gleichbehandlung gibt hier den Grund-
begriff der Autonomie und legt den Spielraum des guten Lebens fest;
es verhält sich umgekehrt: ein bestimmter Begriff der authentischen
individuellen Existenz liefert das Kriterium des Verhaltens auch zu
den anderen Individuen. Die intersubjektive Moral unterliegt dem
Kriterium der existentiellen Souveränität, auch dann, wenn diese
Form der Autonomie nicht zur allgemeinen Form des Lebens werden
kann. Die Achtung dieser Autonomie ist nicht länger an das Telos ih-
rer allgemeinen Erlangung geknüpft. Ein elitärer Grundbegriff des
Guten ist bei Nietzsche das Kriterium jedes normativen Begriffs vom
Richtigen.
Heidegger hat Nietzsches Version einer Ethik des Guten um zwei
Drehungen variiert. Erstens nimmt Heidegger die relative Souverä-
nität des über die Relativität der Weltordnungen aufgeklärten weiten-
schaffenden Individuums deutlich zurück. Heideggers Ethik sieht
den souveränen Spieler im Spiele des Seins nicht länger vor; zum Sou-
verän wird das Sprachspiel der Überlieferung, dem der kompetente
Spieler die entscheidenden Weisungen entnimmt. Authentizität
meint nicht länger machtvolle Subjektivität, sondern Gelassenheit ge-
genüber der geschichtlichen Formierung der Welt. Distanz zur Norm
der innerweltlichen Wahrheit ist nicht länger Distanz für den auto-
nomen Entwurf, sondern Distanz für die Wahrnehmung und Bewah-
rung welterschließenden Artikulationsgeschehens. Mit dieser Zu-
rücknahme der kreativen Bedeutung ethischer Distanz nimmt Hei-
degger der eigenen - erst dezisionistischen, dann meditativen - Ethik
des Guten jeden kriterialen Sinn bezüglich einer möglichen inner-
weltlichen Moral. Das ist die zweite Variation. Seine Ethik wird zur
reinen Ethik des Guten. Der Grundbegriff des guten Lebens ist bei
Heidegger nicht länger auf eine entsprechende Konzeption des Rich-
31 Zur gebrochenen Stellung des souveränen Subjekts in Nietzsches immoralistischer
Ethik vgl. H. Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin-New York
1987, bes. 203 ff. u. 388.
tigen gerichtet; er enthält sich ausdrücklich jeder solchen Konse-
quenz. Die Konzeption eigentlicher Existenz ist nicht mehr dazu ge-
dacht, ein bestimmtes normatives Ideal vor anderen auszuzeichnen.
Die Distanzierbarkeit des Normativen wird bei Heidegger zur einzi-
gen positiven Norm, zum Inbegriff der Fähigkeit, ein bewusstes Le-
ben zu führen. 32
Heidegger, mit anderen Worten, löst das ethische Spielparadigma
ganz vom ethischen Geltungsparadigma ab. Das Ideal der vollzugs-
orientierten Bewahrung der welterschließenden »Wahrheit« tritt an
die Stelle des Ideals der Autonomie im Sinn geltungsorientierter Pra-
xis. Freilich wird die spielmetaphorische Explikation durch ihre Ab-
lösung von der geltungsbegrifflichen Erläuterung des Sinns von
Selbstbestimmung bedenklich leer. Das Spielparadigma, das ur-
sprünglich als Korrektivzum Geltungsparadigma aufgekommen war,
verliert im Zuge der Verselbständigung diesen seinen kritischen Sinn.
Nicht dass Heidegger seine implizite Ethik nicht für die regulative
Dimension des Daseins geöffnet hat, ist also das Problem, sondern
dass seine Ethik dafür nicht offen ist. Sie ist nur für das Offene offen. 13
Sie ist offen nur für die Erfahrung, die unsere innerweltlichen Bin-
dungen transzendiert, sie ist nicht offen für den Sinn der Bindungen,
die hierbei eine Transformation erfahren. Schon aus begrifflichen
Gründen ist das keine haltbare Position. Man kann nur (und die Welt
kann nur) für etwasoffen sein. Und dass meine Welt oder meine Ein-
stellung zur Welt eine offeneist, kann sich nur daran erweisen, dass sie
für etwas Bestimmtesoffen ist, wofür andere Versionen der Welt, an-
dere Traditionen nicht offen sind. Daher ist eine Ethik des Offenseins
für das Sinngeschehen der Welt inhaltsleer, solange nicht gesagt wer-
den kann, für welchen internen Sinn, für welche Konzeption des gut-
en-und-richtigen Lebens dieses Offensein sich offenhalten soll. Dass
dieser Schritt bei Heidegger aus systematischen Gründen ausfällt,
heißt nicht, seine Moral des Transzendierens der Moral enthalte kei-
ne Moral. Sie enthält die negative Moral, dass jede prinzipiengeleite-
te und geltungsorientierte Moral und Lebensführung trügerisch ist.
32 So hat Heidegger sein Verhältnis zu Nietzsche verstanden: Erst die Ausschaltung je-
der geradewegs normativen Position bringt den ethischen Gesichtspunkt zum Tra-
gen, der das »besinnliche Denken« leitet: »Erst wenn es gelingt, Nietzsches Denken
unahhängig von der Wertvorstellung zu begreifen, kommen wir auf einen Standort,
von dem aus das Werk des letzten Denkers der Metaphysik eine Aufgabe des Fragens
( ... ) wird.« M. Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: dcrs. Holzwege, a.a.O., 73-
uo, hier roo.
33 Dazu SZ, 307 f.
Indem Heidegger scheinbar nach den Bedingungen dieser ethischen
Praxis fragt, entwickelt er eine normative Position, die es unnötig
macht, diese Bedingungen tatsächlich zu bestimmen. Die wahre ethi-
sche Orientierung, so wird suggeriert, liegt jenseits kritischer Orien-
tierung. Indem sie auf eine Begründung dieses Schrittes verzichtet,
passt sich Heideggers Philosophie ihrer ethischen Botschaft an.
Damit tritt nun auch der eminent politische Sinn dieser Botschaft
hervor. Gerade im Leerlassen der Frage moralischer und politischer
Legitimität formuliert Heidegger eine inhaltliche Position. Denn
nicht nur für die Bestimmung der Grundlagen der Ethik erweist sich
diese Dimension als unwichtig, sie erweist sich als unwichtig auch im
gesellschaftlichen Handeln selbst. Gesellschaftsformen, die sich um
ihre eigene Legitimität sorgen, werden implizit für zu leicht befunden:
sie nehmen ihr Schicksal nicht wichtig genug. Die von Heidegger ver-
bal in Anspruch genommene Neutralität gegenüber allen inhaltlichen
Traditionen ist daher nicht wirklich gegeben. Nicht offen nämlich ist
Heideggers Philosophie, die frühe wie die späte, für jene politisch-
moralischen Traditionen (des Liberalismus und Sozialismus), die sich
als Traditionen der öffentlichen und ega:litären Auseinandersetzung
um das gesellschaftlich Gute-und-Richtige verstehen. Demokratie ist
nicht vorgesehen. Eine Tradition, die ihre normativen Inhalte be-
gründend zur Disposition zu stellen versucht, ist in Heideggers Augen
eine verrottete Tradition. Sie versucht jene Gehalte selbst zu bestim-
men, die nach den Prämissen einer extremen Ethik des Guten allein
gesetztoder übernommenwerden können.

+ Schlussbetrachtung
Die Tradition der modernen Ethik des Spiels führt nicht darum in
eine Sackgasse, weil es an der klassisch-modernen Ethik der Gel-
tungsorientierung nichts auszusetzen gäbe. Eher ist es umgekehrt: das
moralphilosophische Spielparadigma bricht daran zusammen, dass es
zu wenig an den Prämissen des Wahrheitsparadigmas auszusetzen hat.
Denn im Grunde lässt die Ethik des Spiels das Geltungsparadigma in-
takt; es schränkt nur seinen Stellenwert immer mehr ein. In dieser
Einschränkung steckt ein plausibles Motiv, das freilich so lange unab-
gegolten bleibt, als die Revision des Geltungsparadigmas nur im Sinn
einer äußerlichen Ergänzung oder Zurückweisung erfolgt. Dieses
Motiv ist allen Autoren gemeinsam, die das Konzept einer Ethik des
191
Guten im Sog der Spielmetapher gegen die Aufklärungsmoral des
Richtigen wiederzubeleben versuchen - nicht nur Schiller und Nietz-
sche, auch den Fortführern dieser Tradition nach Heidegger, nament-
lich Gadamer und Derrida. 34 Das Motiv besagt, dass die klassisch-
moderne Konzeption der Autonomie darin zu eng ist, dass sie keine
Distanz zu den geltungsbezogenen Orientierungen erlaubt, in denen
autonomes Handeln sich vermeintlich erfüllt. Eben diese Distanz
aber ist für Heidegger die Bedingung eines freien Selbstverhältnisses,
das folglich nicht geradewegs aus der Teilnahme an geltungsbezoge-
nen Sprachspielen und Praktiken verstanden werden kann. Daraus er-
gibt sich die Notwendigkeit, die moralphilosophische Fragestellung
erster Ordnung mit einer philosophischen Ethik zweiter Ordnung zu
verbinden. Es genügt nicht mehr zu fragen, wie wir uns in einer unter
anderen Dimensionen der Geltung zu verhalten haben, es kommt zu-
gleich auf die Erkenntnis an, wie wir uns zu allen diesen Dimensionen
rationaler Orientierung verhalten können und sollen. So verstanden
wäre Heideggers Frage, »ob und wie der Mensch zum Sein des Seien-
den, nicht nur zum Seienden,zu diesem und jenem, sich verhalte«35 ,
letztlich diese Frage: ob wir und wie wir uns zu unseren rationalen
Orientierungen vernünftigverhalten können.
Auf dieser Linie jedenfalls liegt die plausible Intuition in Heideg-
gers impliziter Ethik. Die ethisch auszuzeichnende Orientierung, so
lässt sich ihre Grundeinsicht resümieren, ist eine Orientierungzu den
rationalenOrientierungen.Dieser richtige Grundgedanke aber formu-
liert zugleich auch den Grundirrtum von Heideggers Rationalitäts-
kritik. Denn er nimmt an, das distanzierende Verhältnis zu den
innerweltlich geltungsbezogenen Orientierungen sei als Überschrei-
tung der rationalen Geltungsorientierung zu denken; die Orientie-
rung über den Zustand der internen Rationalität von Praktiken könn-
te sich also nicht selbst im Medium rationaler Orientierung vollzie-
hen. Dieser Schluss jedoch ist falsch. Allein im Medium rationaler
Orientierung kann sich eine kritische Distanzierung rationaler Ori-
entierungen vollziehen. Man muss nur das Verhältnis rationaler Ori-
entierungen untereinanderbedenken, um dieser Möglichkeit ansich-
tig zu werden. Die Formen der Rationalität, das heißt die Praktiken,
in denen sie Ausdruck finden, können einander ins Wort fallen; die
Zugangsweise der einen kann die Zugangsweise der anderen beleuch-
34 Zu Gadamer vgl. Anm. 2; zu Oerrida siehe: ders., Die Schrift und die Differenz,
Frankfurt/M. 1976, 379, 393/f., 416, 422ff.
35 Heidegger, Nietzsche, a.a.0., Bd. 2, 205.
ten. Weil Heidegger der Differenz der unterschiedlichen Geltungsdi-
mensionen keine Beachtung schenkt, kann er auch das ethische Po-
tential ihrer Interdependenz nicht erkennen. Die Formen theoreti-
scher, moralischer und ästhetischer Rationalität, so verschieden ihre
Art der Orientierung und Begründung auch ist, sind gleichwohl
durch wechselseitige inhaltliche Anleihen miteinander verzahnt. Aus
diesem Grund kann die Distanzierung einer der rationalen Betrach-
tungsweisen aus der Warte einer anderen stets als eine Rückbesinnung
auf unerkannte oder bislang unproblematische Bedingungen der er-
steren verstanden werden. Darum ist die rationale Distanzierung gel-
tungsbezogener Sichtweisen jederzeit möglich. Die Offenheit für die-
se Distanz aber ist keine Distanz zur Vernunft, es ist die Offenheit und
Distanz derVernunft, die sich im korrektiven Verhältnis ihrer Spielar-
ten realisiert.36 Es ist wiederum kein Zufall, dass die Sprache der Phi-
losophie auch für dieses Verhältnis eine spielmetaphorische Zuspit-
zung gefunden hat. Das Habermas'sche »Zusammenspiel der Ratio-
nalitätskräfte« kann in unserem Zusammenhang gelesen werden als
ein Versuch der Heimholung der spielparadigmatischen Kritik ins
Programm der geltungsparadigmatischen Analyse.37 Die rationalitäts-
kritische Ausbeutung der Kantischen Metaphorik vom Spiel der Er-
kenntniskräfte führt die Beschreibung der Grundbedingungen des
In-der-Welt-Seins in eine Beschreibung der Grundformen geltungs-
orientierter Praxis zurück. Der formale Begriff des guten Lebens, der
in dieserBeschreibung liegt, mündet in die Rehabilitierung einer Idee
ethischer Autonomie, die sich aus der »Einheit der Vernunft in der
Vielheit ihrer Stimmen« orientiert.-18 Jedoch muss auch diese Rehabi-
litierung als eine Revisiondes Geltungsparadigmas verstanden wer-
den. Das Telos der Selbstbestimmung kann nicht länger statisch oder
approximativ, es kann allein prozessual verstanden werden. Die Mög-
lichkeit von Selbstbestimmung erweist sich nun als Fähigkeit der voll-
zugsorientierten Teilnahme am Geschehen mehrdimensional gel-
tungsbezogener Praxis. Die Idee der Orientierung an den Formen des
schlechthin Gültigen muss auf Grund der spielparadigmatischen Kri-
36 M. Seel, Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität,
Frankfun/M. 198;, Kap. I u. IV.
37 Zur Rolle der Spielmetapher bei Habermas siehe M. Seel, Die zwei Bedeutungen
,kommunikativer, Rationalität. Bemerkungen zu Habermas' Kritik der pluralen Ver-
nunft, in: A. Honneth/H. Joas (Hg.), Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen
Habermas' »Theorie des kommunikativen Handelns«, Frankfurt/M. 1986, 53-72.
38 J. Habermas, Die Einheit der Vernunft in der Vielheit ihrer Stimmen, in: Merkur
42/1988, H4.

193
tik der Idee einer unbeschränkten Teilnahme am kommunalen, kul-
turellen und politischen Prozessder Bestimmungdes in den verschie-
denen Dimensionen Gültigen weichen, einer Bestimmung, die oft ge-
nug das Verhältnis zwischendiesen Dimensionen neu auszulegen hat.
Das Regulativ ethischer Autonomie kann also nicht länger eher das
der Welterschließung oder eher das der Geltungsorientierung sein. Es
muss lauten: Geltungsorientierung alsWelterschließung.
Mit dieser Revision des Geltungsparadigmas ist die Mission der
spielmetaphorischen Protestbewegung beendet. Es braucht den meta-
phorischen Anwalt der modernen Ethik des Guten gegen die Sache
der modernen Ethik des Richtigen nicht länger, weil sich die Alterna-
tive zwischen beiden Paradigmen der Ethik als hinfällig erweist. The-
ma der Ethik des Richtigen ist die Analyse moralisch-praktischer Ver-
nunft, also einer unter den kardinalen Geltungsdimensionen. Hier
geht es um Kriterien (und um den Status von Kriterien) richtigen in-
tersubjektiven Handelns und gerechter sozialer Ordnung. Hier ist in
der Tat das formal gefasste Richtige ein übergreifender Maßstab jeder
inhaltlichen und individuellen Konzeption des Guten. Thema der
modernen und ihrerseits formalen Ethik des Guten aber, so hat sich
gezeigt, ist gar nicht eine bestimmte materiale Konzeption des guten
Lebens, ihr Thema ist ein unbefangenes Verhältnis zu den Möglich-
keiten rationaler Orientierung. Sie fasst die Idee des guten Lebens in
Begriffen diesesVerhältnisses. Die moderne Ethik des Guten ist eine
Ethik der Rationalität. In einem Punkt freilich muss diese Ethik mo-
difiziert werden, wenn sie zu einer Ethik zweiter Ordnung transfor-
miert werden soll. Der formale Begriff des Guten kann hier nicht län-
ger geradewegs ein Kriterium des Richtigen sein. Schließlich gehört
die Moral der unbedingten Orientierung am Richtigen selbst zu jener
korrektiven Vernunft, die die moderne Ethik des Guten als selbst-
zweckhaften Prozess der Entfaltung und Verwirklichung des Guten
beschreibt. Der hierin enthaltene Begriff des Guten muss vielmehr als
ein Kriterium der Auslegungund Beurteilung,ja der Verwirklichungdes
Richtigen verstanden werden. Die Idee des Guten wird zu einem for-
malen Kriterium des vernünftigen Gebrauchs der Rationalität- nicht
nur der moralischen, auch der theoretischen und ästhetischen. Dieses
Metakriterium aber kann wiederum nicht jenseitsrationaler Selbstbe-
stimmung Anwendung finden, es ist wirksam allein im korrektiven
Gebrauchder Formen rationaler Orientierung. Es wird zum Kriteri-
um der Autonomie, ob die Handelnden die Sprache, in der sie die
Wirklichkeit ihres Handelns jeweils beurteilen, kritisch - das heißt:
194
um einer besseren, einer reicheren, einer unbefangeneren Beurteilung
willen - distanzieren können. Die Praxis dieser artikulierten Distan-
zierung - soweit sie sich denn als artikulierte verwirklichen kann - ist
keine bloße Bedingung guten Lebens, sie ist die Form des Guten
selbst.
Auch diese reichlich provisorischen Bemerkungen wollen beitra-
gen zu einer Kritik der, wie Heidegger im Kunstwerk-Aufsatz sagt,
»rational mißdeuteten« Vernunft. 39 Allerdings stellen sie ihr den Ver-
such einer vernünftig gedeuteten Rationalität entgegen. Um seiner-
seits zu einer rationalen Ethik der Rationalität zu gelangen, hätte
Heidegger nur anerkennen müssen, dass nicht nur das Wesen der ho-
rizontbildenden »Wahrheit«, sondern ebenso das der geltungsbezoge-
nen Vernunft als das »Gegeneinander« eines »ursprünglichen Streites«
gefasst werden muss. 40 Diese Auseinandersetzung spielt sich zwischen
den Stimmen der Vernunft nicht weniger ab als zwischen den Men-
schen, die miteinander um verbindliche Kriterien des Handelns und
aussichtsreiche Konzeptionen des Lebens im Streit liegen. Der Prozess
der Welterschließung und somit das durch Verdeckung und Auf-
deckung gekennzeichnete Geschehen der Wahrheit ist kein anderer
als dieser Prozess. Wir können nicht »Bewahrer« der Wahrheit sein,
wenn wir nicht Beurteiler der Wahrheit sein wollen.

39 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, a.a.O., 9.


40 Vgl. ebd., 4of.

195
rn. Wege einer Philosophie des Glücks

Philosophie

Eine Philosophie des Glücks - auf den ersten Blick scheine dies ein
Unding zu sein. Wie sollte sich in allgemeinenWorten über eine Sache
reden lassen, die unausweichlich eine Sache des individuellenErlebens
und Befindens ist? Aber schon der zweite Blick lässt uns zögern. Tun
wir dies nicht immer, wenn wir philosophieren? Versuchen wir nicht
immer, mit allgemeinen Worten ein Verhältnis aufz.uklären, in dem
wir uns als Philosophierende zunächst subjektiv vorfinden? Wenn
philosophisch von »Bewusstsein«, »Einsicht«, »Willensfreiheit«, »Ge-
schmack« usw. die Rede ist: Geht es nicht jedes Mal um den generel-
len Status von Zuständen und Leistungen, die nur als subjektive iden-
tifiziert und zugeschrieben werden können? Nimmt die Philosophie
nicht immer diesen Weg- beim Subjektiven anzufangen und im Sub-
jektiven das Objektive zu finden?
Wenn es sich so verhält, müssten wir sagen: Wenn es keine Philo-
sophie des Glücks geben kann, kann es auch keine Philosophie geben.
Wenn es aber Philosophie geben kann, muss es auch eine Philosophie
des Glücks geben können.
Im Philosophieren können wir jederzeit bei uns selbst beginnen.
Wir dürfen nur nicht bei uns bleiben. Jeder und jede, die sich über-
haupt etwas fragen können, können fragen, wie es nicht nurfür sie ist
und was es nicht nurfür sie bedeutet, in jenen Lagen zu sein, in denen
es (heute oder schon immer) unmöglich ist, nicht zu sein. In der Fra-
ge: »Was bedeutet dies nicht nur für mich (oder sonst jemand Be-
stimmten)?« bleibt das »für mich« als Ausgangspunkt lebendig, auch
wenn jede Beschränkung auf ein »nur für mich« aufgehoben wird. Im
Philosophieren sprechen wir nicht überalle, sondern für alle, die in ei-
ner Lage sind wie wir - seien das nun viele oder alle.
Philosophieren: aus der Position eines bestimmten Jemand die Po-
sition eines Beliebigen denken.
Alle Philosophierenden reflektieren in jeweils ihrer Lage über die
allgemeine Verfassung ihrer Lage.
Ziel dieser Tätigkeit ist eine Anschauung der eigenen Position als
einer, die nicht nur die eigene ist. So sehr es dabei um Erkenntnisse
über diese Position geht, im Gewinnen kognitiver Resultate geht die-
se Tätigkeit nicht auf. Denn Philosophie übt dasaus, was sie unter-
196
sucht. Sie ist Weltbegegnung im Vollzug der Frage, was Weltbegeg-
nung sei.

Nihilismus

Die Eigenart des philosophischen Tuns wird besonders deutlich,


wenn einer eines der Phänomene leugnet, um die es der Philosophie
von Anfang an gegangen ist. Zum Beispiel - dass es so etwas wie
Glück überhaupt gibt. Karl Heinz Bohrer hat kürzlich in einem Bei-
trag über Möglichkeiteneiner nihilistischenEthik diese Auffassung
vemecen. 1 Glück sei prinzipiell unerreichbar. Jeder Moment der
glückhaften Erfüllung sei immer bereits ein vorübergehender Mo-
ment, dem wegen der Zeitlichkeit der menschlichen Existenz keine
wie immer geartete Dauer zukommen könne. Bereits im Moment sei-
ner vermeintlichen Gegenwart gehe er vorüber - ohne die Möglich-
keit einer erinnernden Vergegenwärtigung. Im Anschluss an Baude-
laire, Büchner und andere Dichter heißt es daher: »Es gibt kein Glück,
das nicht sein Ende schon in sich trüge.«2 Das Glück ist immer schon
verloren, so wie der Tod als Vergehen des Gegenwärtigen im mensch-
lichen Leben immer schon anwesend ist. Das Glück und der Tod des
Glücks sind eins. »Alles ist zuende, bevor es begonnen hat.« 3 Es gibt,
sagt Bohrer, keine Glückserfahrung jenseits der Vergänglichkeit des
menschlichen Lebens und daher überhaupt keine Erfahrung bleiben-
den Glücks. Diese Tatsache sei von der Ethik aller Zeiten mit Macht
verdrängt worden und müsse von ihr verdrängt werden, da sie - an-
ders als Literatur und Poesie - unter dem Zwang stehe, sich einen po-
sitiven Reim auf die Abgründe der menschlichen Existenz zu machen.
Aber auch wenn wir diese Diagnose für einen Augenblick akzep-
tieren, haben wir einen allgemeinen Satz akzeptiert. Wir haben eine
sehr weitreichende These über die menschliche Verfassung akzeptiert
- über die fragmentierende Zeitlichkeit unseres Daseins, die uns alles
das entzieht, was wir in unseren sehnlichsten Wünschen erhoffen.
Wir haben die These akzeptiert, dass die Philosophie das Geschäft der
Theologie betreibt, wenn sie über die so verstandene Zeitlichkeit der

I K. H. Bohrer, Möglichkeiten einer nihilistischen Ethik(!), in: Merkur 5r/r997, 1-19;


vgl. auch ders., Poetischer Nihilismus und Philosophie. Möglichkeiten einer nihilisti-
schen Ethik (II), in: Merkur 51/i997, 406-421.
2 Bohrer, Möglichkeiten einer nihilistischen Ethik (1), a.a.0., 2.
3 Ebd., 3.

197
menschlichen Existenz hinwegzugehen versuche. Wir sehen uns auf-
gerufen zu einer Rückbesinnung auf die Situation, in der wir uns
tatsächlichbefinden - einer Besinnung, bei der uns die richtige Lite-
ratur weit mehr helfen kann als alle Philosophie.
»Die Kinder finden im Nichts das Gesamte, die Erwachsenen im
Gesamten Nichts«, zitiert Bohrer aus dem Gedankenbuch des Giaco-
mo Leopardi. Und fährt fort: »Dabei wäre zu ergänzen, daß die Mehr-
heit der Erwachsenen immer im Sinne dieses Systems Kinder geblie-
ben sind. So vor allem aber auch, weil mit beträchclicher Konsequenz,
jene deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts, die der modernen
Verzweiflung noch einmal mit Ganzheiclichkeit kamen. Darin waren
sich Bloch und Heidegger ja einig. ( ... ) Immer soll etwas gerettet wer-
den. Immer soll etwas überwunden werden. Eigentlich, so wäre vor-
stellbar, liegt doch der Gedanke viel näher, daß es nichts zu retten gibt.
Aber dieser Gedanke liegt dem philosophischen Denken, dem deut-
schen zumal, offenbar fern. ( ... ) Leopardi erkennt irgendwann, daß
der Schmerz, den die Kinder empfinden, wenn der Festtag vorüber
war, ein Paradigma ist für den naiven philosophischen Geist. Dieser
will das Verlorene zurückhaben. Der poetische Nihilist weiß a priori,
daß jedwede glückliche Erfahrung ohne Kontinuität ist, daß ihren-
thusiastisches Präsens eine Fälschung ist.«4
Auch die Leugnung des Glücks aber - das Wörtchen »a priori«
zeigt es unmissverständlich an - enthält eine Philosophiedes Glücks.
Aus der Zeitstruktur des menschlichen Erlebens folgert Bohrer, dass
Glück etwas Trügerisches ist. Jeder, der nicht in einer infantilen
Selbstwahrnehmung verharren will, müsste an der eigenen Erfahrung
nachvollziehen können, was für existentielle Erfahrung schlechthin
gilt: dass ihr alle dauernden Freuden und alle Freuden der Dauer ver-
sagt sind. Im Hinweis auf die fragile Zeit menschlichen Glücks liegt
dabei ein plausibler Protest gegen theologische und vor allem kryp-
totheologische Glückslehren, die am Modell einer »Glückseligkeit«
ausgerichtet sind, die im Diesseits nicht erreicht werden kann.
Bohrers Argument ist jedoch aus verschiedenen Gründen nicht zwin-
gend.
Zum einen folgt aus der Diskontinuität der Erfahrung glücklicher
Augenblicke keineswegs, »daß ihr enthusiatisches Präsens eine Fäl-
schungist«. Es folgt lediglich, dass ihre Erfahrung ein strikter Präsens
ist: ein Augenblick, der nicht festgehalten und auf die übrige Zeit des
Lebens ausgedehnt werden kann. Von einer Fälschung kann hingegen
4 Ebd., 8 f.

198
erst die Rede sein, wo dieses kurze Glück als Schein - oder Vorschein
- eines dauernden erfahren oder gedeutet wird. Das ist aber - wie
Bohrers eigene Betrachtung und seine Hinweise auf Montaigne,
Nietzsche oder Same zeigen - auch innerhalb der Philosophie kei-
neswegs notwendigerweise der Fall.
Zum andern verengt Bohrer den Begriff des Glücks. Glück ist ihm
allein das ekstatische Glück des Augenblicks. Von diesem Glück lässt
sich in der Tat sagen, dass in seinen Enthusiasmus das Scheitern schon
eingebaut ist. Es ist ein Zustand, der verweilen soll, aber nicht verwei-
len kann. Genau darin ist es ein ekstatisches, das bisherige Wünschen
und Wollen erschütterndes Glück, das die Kontinuität des Lebens-
vollzugs berauschend durchbricht. Diesem herausragenden episodi-
schen Glück hat die Tradition - oft unter dem Titel des »guten« oder
»gelingenden« Lebens - ein anderes Glück gegenübergestellt, das vie-
le einzelne Lebensvollzüge und Lebenszustände übergreift. Hier ist
»Glück« überhaupt kein Zustand, dessen Dauer man sich wünschen
könnte, sondern ein - von erfreulichen und unerfreulichen Zustän-
den begleiteter - Vollzug,der krisenhaft gelingen oder misslingen
kann. Wer dieses prozessuale Glück außer Acht lässt, kann zu keinem
einleuchtenden Verständnis menschlichen Glücks kommen, schon
deshalb, weil er keine Begriffe hat, um die unausweichliche Spannung
zwischen dem episodisch-ekstatischen Glück des Augenblicks und
den Möglichkeiten eines prozessualen existentiellen Gelingens zu fas-
sen. 5
Eine Ethik aber, die die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens
zu ihrem Ausgangspunkt erhebt (die keine unbegründbaren Annah-
men über ein anderes als das uns bekannte vergängliche Leben
macht), müsste gerade hierzu in der Lage sein. Sie müsste in der Lage
sein, die wie immer fragilen und kontingenten Möglichkeiten zu
kommentieren, in denen ein Leben gelingen kann, und die Span-
nung, in der es in der Orientierung an diesen Möglichkeiten steht.
Wenn sie diese Möglichkeiten nicht verfälscht und schönfärbt, kann
sie durchaus »eudaimonistisch« sein - ein Etikett, das Bohrer von
vornherein unter Ideologieverdacht stellt. Mit guten Gründen zu sa-
gen, dass bestimmte Möglichkeiten nicht bestehen - die eines blei-
benden Glückszustandr,eines objektiven Sinns, an dem teilzuhaben
wäre, einer Erwartung prinzipiell besserer Zeiten u.ä. - mag für die
Destruktion anderer Ethiken genügen, erfüllt aber die Zwecke einer
5 Zum Verhältnisvon episodischemund übergreifendemGlück: M. Seel,Versuchüber
die Form des Glücks, Frankfurt/M. 1995,62 ff., ro9 ff.,121ff.
199
philosophischen Ethik nicht. 6 Sie erfüllt nicht den Zweck der Auf-
klärung über die (wie immer begrenzten) Möglichkeiten eines gelin-
genden Lebens. Dieses traditionelle Ziel verfolgt übrigens auch Boh-
rer, wenn er am Ende seines Texts fragt, wie man als »poetischer Nihi-
list« ohne Selbstdestruktion praktisch in der Lage sein kann, »eine
kleine Weile zu leben, ohne auf die große Weile hoffen zu dürfen«.7

Eudaimonismus

Durch den philosophischen Protest gegen die philosophische Ethik


sind wir längst mitten in der Reflexion über das Glück. Diese verfährt
- wie in den Anfängen bei den Sophisten und Sokrates, in den ersten
Systematisierungen bei Platon und Aristoteles und auch bei den neue-
ren Dissidenten, heißen sie nun Leopardi oder Nietzsche oder Cioran
- im Sinne einer verallgemeinernden Rückfragedanach, was den über-
legenden als Glück bekannt ist.
Diese primäre Bekanntheit entstammt eigener und tradierter
fremder Erfahrung, der künstlerischen Imagination und der jeweils
etablierten Rede über das Glück. Die philosophische Überlegung
fragt, was es eigentlich heißt, wenn wir von eigenem oder fremdem
Glück sprechen. Was heißt es, jemand zu sein, dem es um das eigene
Glück geht? Welches sind die besten Möglichkeiten unseres Lebens -
und in welcher Weise können wir uns sinnvoll zu ihnen verhalten?
Dass die Antworten hierauf ganz unterschiedlich ausfallen können -
z.B., dass Glück eine Illusion ist, die wir zugunsten einer heroischen
Lebensführung überwinden müssen, oder: dass das wahre Glück erst
jenseits der irdischen Existenz beginnt, um nur zwei Extreme zu nen-
nen - tut im Augenblick nichts zur Sache. Es kommt zunächst darauf
an, die Reflexionsbewegung zu verstehen, die die philosophische Rede
über das Glück vollzieht. Sie geht der Frage nach, was es für jedes ein-
zelne Subjekt bedeutet, vor der Frage nach dem eigenen Glück zu ste-
hen.
Wieder ist es hilfreich, sich eine Gegenposition vor Augen zu
führen. In einem Kommentar zur neueren moraltheoretischen Dis-
kussion hat Jürgen Habermas den Autoren, die heute einen philoso-

6 Eine Ethik kann nicht nihilistisch sein. Sie kann es höchstens in einem sehr relativen
Sinn sein - in Bezug auf die Basisihrer Argumente, im Verzicht auf unbegründbare
Annahmen verschiedener Art.
7 Bohrer, Möglichkeiten einer nihilistischen Ethik(!), a.a.O., 18 f.
200
phischen Begriff des Glücks oder guten Lebens zu entwickeln versu-
chen, vorgeworfen, sie maßten sich an, »aus der Beobachterperspekti-
ve« zu entscheiden, was für Beliebige gut oder schlecht sei. Wenn auf
diese Weise von außen dekretiert werde, was für alle gut sei, seien pa-
ternalistische Konsequenzen unvermeidlich. Über die Köpfe der übri-
gen Menschen solle hier festgelegt werden, was die Menschen als ihr
Glück anzusehen hätten. »Die Beteiligten müßten vor jeder morali-
schen Überlegung bereits wissen, was dann das für alle gleichermaßen
Gute ist - wenigstens müßten sie sich von Philosophen einen Begriff
des formalen Guten entleihen. Aber niemand kann aus der Beobach-
terperspektive schlichtfeststellen,was eine beliebige Person für gut hal-
ten soll. In der Bezugnahme auf ,beliebige, Personen steckt eine Ab-
straktion, die auch den Philosophen überfordert.« 8
Dieser Einwand zeigt jedoch, dass Habermas den Sinn der philoso-
phischen Reflexion über das gute Leben, wie sie von Autorinnen und
Autoren wie Martha Nussbaum, Ernst Tugendhat, Ursula Wolf,James
Griffin und anderen in den vergangenen 20 Jahren im Rückgriff auf
antike Motive angestrengt worden ist, nicht zur Kenntnis genommen
hat. Keiner dieser Autoren glaubt, »schlicht feststellen« zu können,
was für alle gut ist; auch betreibt keiner von ihnen eine empirische
Glücksforschung, um dann nach vielfältigen Beobachtungen von
außen festzulegen, was für alle in the long run das Beste wäre. Viel-
mehr fragen sie alle aus der hypothetischenPerspektiveeinesbeliebigen
Einzelnen,was es für sie oder ihn bedeuten kann, nach Wohlergehen
und Glück zu streben und Leid, Not, Unglück (soweit es denn geht)
zu vermeiden. Die Frage, der sie nachgehen, lautet weder: »Was wol-
len die Leute wirklich?«, auch nicht: »Was wäre für alle Menschen das
Beste«, sondern vielmehr, für ein beliebiges »Ich«: »Was kann ich (im
Vollzug meines Lebens) wollen?«, oder einfach: »Wie soll ich leben?«

Existentiell oder theoretisch

Das Sollen, um das es dabei geht, ist noch nicht das moralische Sol-
len, das uns zu einem bestimmten Verhalten untereinander verpflich-
tet, sondern zunächst nur ein präferentielles Sollen, das sich auf die für
die Einzelnen günstigste Art der Existenz bezieht. Worin aber liegt der

8 J. Habermas, Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral, in:
ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M.
1996, II ff., hier 44 (meine Hervorh.).

201
Sinn einer allgemeinen Reflexion über diese Frage? Ist sie nicht doch
ohnmächtig, weil sie nach einer allgemeinenAntwort auf eine Frage
sucht, die sich jedem Individuum in seinen besonderenLebensum-
ständen doch immer anders stellt?
Ohnmächtig ist diese Reflexion nur dann, wenn sie mit der Illusi-
on verbunden ist, sie könnte jedem bestimmten Individuum, in sei-
ner spezifischen Lebenssituation, mit einer hilfreichen Antwort die-
nen. Die aus der Perspektive eines bestimmten Individuums gestellte
Frage: »Wie soll ich leben?« kann die Philosophie nicht beantworten.
Sie muss durch jeden selbst beantwortet werden (wobei andere zu-
sätzlich gute Ratschläge geben können). Für die konkrete Lebens-
führung des Einzelnen ergeben sich aus der Philosophie keine präg-
nanten Antworten.
Dennoch kann die Philosophie zur Aufklärung der individuellen
Lebenssituation einen - wenn auch bescheidenen - Beitrag leisten.
Sie kann zum einen die Struktur des Problems aufzuklären versu-
chen, das jeder, der einer selbständigen Lebensführung fähig ist, in der
Ausübung dieser Fähigkeit hat. 9 Sie kann klarmachen, welches Pro-
blem wir mit uns selbst im Streben nach einem guten Leben haben.
Sie kann darüber hinaus Zweifel an zahlreichen inkonsistenten
oder einseitigen Vorstellungen von Glück und gucem Leben säen,
etwa in der Weise, in der Bohrer es in dem genannten Artikel tut. Dies
mag für die Einzelnen unterschiedlich hilfreich sein - je nachdem, wie
groß ihre Affinität zu den kritisierten Vorstellungen ist.
Und sie kann schließlich in der Erfullung ihrer beiden ersten Auf-
gaben gelegentlich einen Hinweis auf wichtige Dimensionen oder
Aspekte eines gelingenden Lebens geben, die von bestimmten Indivi-
duen oder Kulturen möglicherweise missachtet werden. Jedoch ist es
in den meisten Fällen nicht nötig, dass diese Hinweise gerade von der
professionellen Philosophie gegeben werden, denn Originalität und
ausgreifende Analyse sind hier wenig gefragt. Auch im besten Fall
nämlich kann die Philosophie hier nicht mehr tun, als ihre Adressa-
ten an die wichtigen Dinge des Lebens zu erinnern.
Freilich habe ich soweit nur über den existentiellenSinn einer Phi-
losophie des Glücks gesprochen. Dieser ist nicht zuletzt darum be-
grenzt, weil die drei bisher genannten Aufgaben von Gedichten, Ro-
manen, Filmen und intelligenten Talkshows in der Regel besser (und
leichter) erfüllt werden als gerade von der Philosophie.
9 Diese Position vertritt U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben. Platons Frühdia-
loge, Reinbek 1996.
202
Neben ihrem heute relativ bescheidenen existentiellenSinn (der in
der Tradition als vorrangig gesehen wurde) hat die Theorie des Glücks
aber außerdem einen starken theoretischenSinn. Sie hat ihn jedenfalls
dann, wenn es - gegen Habermas und andere konventionelle Kantia-
ner - zutrifft, dass die Reflexion über Glück und gutes Leben einen
Eckpfeiler jeder plausiblen Theorie der Moral darstellt. Jede Erläu-
terung der moralischen Rücksicht muss Annahmen darüber ein-
schließen, was in dieser Rücksicht berücksichtigt werden soll. Wir
können nicht sagen, was moralische Rücksicht heißt, wenn wir nicht
sagen können, worauf sich diese Rücksicht bezieht. Sie beziehe sich
auf die Möglichkeit eines guten Lebens für alle die, die moralisch zu
berücksichtigen sind. Aus diesem Grund ist eine plausible Theorie der
Moral angewiesen auf einen plausiblen Begriff guten menschlichen
{und nicht allein des guten memchlichen)Lebens. Ein Begriff(zumin-
dest) des guten menschlichen Lebens aber schließt eine Erörterung
über das menschenmögliche Glück notwendigerweise mit ein, da die
Spannung zwischen ekstatischem Glück und übergreifendem existen-
tiellen Gelingen in den Zeithorizont des menschlichen Erlebens im-
mer schon eingebaut ist. Aus diesen Gründen sind die individualethi-
schen Themen des Glücks und des guten Lebens ein unverzichtbares
Element aller praktischen Philosophie.
Selbst also, wenn wir auf die Philosophie des Glücks aus existenti-
ellenGründen verzichten wollten, aus theoretischenGründen könnten
wir es nicht. Denn die Philosophie des Glücks ist ein notwendiger Be-
standteil des Philosophierens selbst, wenn wir das Philosophieren im
anfangs skizzierten Sinn als einen Prozess der nach unserem Tun und
Lassen zurückfragenden Selbstaufklärung verstehen.
Für diese hier recht dogmatisch resümierte Position habe ich an-
dernorts ausführlicher argumentiert. 10 Ich kann diese Argumente hier
nicht wiederholen. Ich möchte stattdessen für den Rest meiner Über-
legung einen Weg markieren, auf dem eine Theorie des guten Lebens
ihrem theoretischen Auftrag tatsächlich nachkommen kann. Ich
möchte zeigen, wie es denn gehen kann, einen allgemeinen Begriff des
guten Lebens zu entwerfen, der geeignet ist, die Hinsicht der morali-
schen Rücksicht zu benennen.
10 M. Seel, Versuch über die Form des Glücks, a.a.O. u. ders., Wohlergehen. Überei-
nen Grundbegriff der praktischen Philosophie, in: ders., Ethisch-ästhetische Studi-
en, Frankfurt/M. 1996, 244-259. - Dort versuche ich auch zu 2eigen, dass der Begriff
des individuellenGuten alleine kein ausreichendes Verständnis des moralischGuten
enthält, obwohl dieses auf jenen zurückgreifen muss. Vgl. zu dieser Auffassung auch
E. Tugendhat, Vorlesung über Ethik, Frankfun/M. 1993, bes. 146 u. 316.

203
Sinn

Die Frage nach der Qualität menschlichen Lebens wird oft als Frage
nach dem Sinn dieses Lebens gestellt. Ein sinnvolles Leben wäre dem-
nach auch ein gutes Leben. Die Umkehrung - ein gutes Leben ist ein
sinnvolles Leben - lässt sich freilich nur vertreten, wenn der Ausdruck
»sinnvoll« in einem eindeutig subjektrelativen Sinn verwendet wird.
Denn andernfalls könnte ein Leben von Dritten als sinnvoll angese-
hen werden, das für das Subjekt dieses Lebens alles andere als sinnvoll
ist. Wenn ein Leben für das Subjekt dieses Lebens sinnvoll ist, wird es
von ihm auch als ein gutes Leben bewertet werden können, gleich-
gültig, was andere über den Sinn dieses Lebens denken. Eine solche
subjektrelative Verwendung der Ausdrücke »gut« oder »sinnvoll«
müssen wir von vornherein zugrunde legen, wenn wir versuchen, ei-
nen allgemeinen Begriff guten Lebens zu formulieren. Denn es geht
ja darum, aus der Perspektive eines beliebigen Subjekts zu klären, was
essinnvollerweise als ein für es gutes Leben ansehen kann. 11
Die Frage hingegen, worin der Sinn des Lebens an sich, unabhän-
gig von der Wahrnehmung der verschiedenen Individuen, bestehe, ist
in neueren Zeiten zu Recht eingeklammert worden. In diesem Punkt
scheint philosophisch höchstens eine Enthaltung möglich, wenn man
nicht gleich sagen will, dass es da nichts gibt, was an sich, unabhängig
von unserem Wünschen und Fühlen und Wollen, den Sinn mensch-
lichen und sonstigen Lebens ausmachen könnte. Vielleicht aber - und
das ist die Spur, auf der wir uns befinden - gibt es ein Lebensverhält-
nis, das für alle, die überhaupt ein gutes Leben haben können, inner-
halbdieses ihres Lebens sinnvoll, erstrebenswert, vorzuziehen ist. Nur
auf dem Weg einer Generalisierung subjektrekitiverAnnahmen, um
es noch einmal zu sagen, kann die Ethik des guten Lebens zu subjekt-
irrelativenBestimmungen kommen. Das irrelative Moment, das wir
suchen, wenn wir nach einem einheitlichen Begriff guten Lebens fra-
gen, muss innerhalb subjektrelativer Aussagen über das gute Leben
aufgefunden werden - als Verallgemeinerung eines bestimmten Typs
solcher Aussagen. Es müsste identifizierbar sein als Aussage über eine
Lebensweise, der für beliebigeIndividuen ein Vorzug zukommt.
Zu Aussagen des fraglichen Typs gelangen wir, wenn wir die Qua-

11 Auch das Phänomen des »illusionären Glücks« muss letztlich aus der Innenperspek-
tive derer verstanden werden, die sich in einer nicht empfundenen Täuschung über
ihr Leben befinden; hierauf bin ich eingegangen in: M. Seel, Freie Weltbegegnung,
in: H. Steinfoh (Hg.), Was ist ein gutes Leben?, Frankfurt/M. 1997, 275-296.

204
lität eines Lebens nicht in äußerenMerkmalen, sondern in der Imma-
nenz seinesVollzugsaufsuchen. In einer anspruchslosen Bedeutung gut
ist ein Leben, dessen Lebensvollzug selbst als lohnend empfunden
oder erfahren werden kann.
Drei Sätze lassen sich aufstellen, die diesen Immanenzgesichts-
punkt verdeuclichen.
r. Menschliche Handlungensind (in existentieller Bedeutung) sinn-
voll (für die Handelnden befriedigend, erfüllend, lohnend), soweit sie
selbstzweckhaft - oder im Blick auf selbstzweckhafte Tätigkeiten -
vollzogen werden können. Dass eine Handlung »selbstzweckhaft« ist,
heißt dabei einfach, dass sie vom Subjekt dieser Handlung als solche
präferiert werden kann. »Ich mach' das gerne« kann antworten, wer
erstaunt gefragt wird »Warum machst Du das?«. Manchmal sagen wir
auch: »Das hat sich gelohnt«, und meinen nicht allein, dass wir den
Zweck einer Handlung erreicht haben, sondern dass der Vollzug der
Handlung selbst eine schöne oder bereichernde Erfahrung war. Der
Sinn der Handlung liegt dann nicht (allein) in etwas, das vermöge der
Handlung bewirkt werden soll, sondern in ihr - in ihrer Ausführung
- selbst.
2. Menschliche Situationen sind in existentieller Bedeutung sinn-
voll, soweit sie um ihrer selbst willen aufgesucht oder um ihrer Ge-
genwart willen herbeigeführt werden - oder wenn ihr Durchleben die
Möglichkeit eröffnet, künftig (wieder) in solchen Situationen zu sein.
Der Zusatz nach der Parenthese ist wichtig, da wir (meist im Nach-
hinein) gerade solche Lebenssituationen als sinnvoll bewerten kön-
nen, die wir keineswegs um ihrer selbst willen aufgesucht haben; sie
haben aber, wie wir meinen, auf (wie immer entbehrungsreichem
oder schmerzlichem) Weg zu solchen Situationen geführt. Auch im
Fall der existentiellen Situationsbewertung also ist es immer der Vor-
zug von Situationen alssolchen,den wir im Auge haben, wenn wir ih-
nen einen inneren Sinn zu- oder absprechen. Dieser »innere Sinn« be-
trifft jedoch niemals allein solche Eigenschaften, die sich unabhängig
von unserem (faktischen oder kontrafaktischen) Sichbefinden in die-
sen Situationen feststellen ließen. Denn er betrifft immer den Sinn des
Aufenthalts in einer Situation dieser Art.
3. Menschliches Leben ist sinnvoll, soweit es selbstzweckhaft - oder
jedenfalls: in der Reichweite selbstzweckhafter Situationen - vollzo-
gen werden kann. Die Parenthese macht einen schwächeren Vor-
schlag, der direkt an den Begriff der existentiell sinnvollen Situationen
anknüpft. Sinnvoll ist demnach ein Leben, in dem solche Situationen
205
ohne weiteres - zumindest aber ohne selbstdestrukcive Anstrengun-
gen - erreichbar sind. So sprechen wir in der Bewertung des eigenen
Lebens oft über exemplarische Situationen, die uns in einer Weise lieb
oder verhasst sind, dass sie Einfluss auf den gesamten Lebensvollzug
haben. »Dafür lebe ich (nicht)« mag der Kommentar dann lauten. Ein
Leben kann nur als befriedigend oder sinnvoll erfahren werden, wenn
es sich in der Reichweite von Situationen abspielt, deren Gegenwart
um ihrer selbst willen bejaht werden kann. Darüber hinaus aber - das
ist das starke, über die Abschwächung der Parenthese hinausgehende
Verständnis - kann auch der Prozess des eigenen Lebens durch unter-
schiedliche - erfreuliche und unerfreuliche- Situationen hindurch als
etwas Lohnendes bewertet werden. Dann gewinnt das eigene Leben
selbst - im Unterschied zu bestimmten Situationen des Lebens - den
Charakter eines in sich sinnvollen Vollzugs bzw. Geschehens. Wer es
so sieht, kann sagen, was Wittgenstein auf dem Sterbebett gesagt ha-
ben soll: »Es war wunderbar.« 12
Wenn diese drei Schritte triftig sind, lässt sich sagen: Gut ist ein Le-
ben, das - alles in allem, trotz aller Widrigkeiten, im Ganzen oder in
wesentlichen Abschnitten - um seiner selbst willen gelebt werden
kann.
Jetzt müssen wir allerdings fragen, was es denn heißt, den Prozess
des Lebens um seiner selbst willen bejahen zu können. Da zum Leben
die Auseinandersetzung mit der jeweiligen Umgebung des Lebens
gehört, gehört zur Bejahung des eigenen Lebens die Bejahung nicht
weniger der Situationen, durch die es führt. Diese Situationen aber
können nur bejahtwerden, wenn es möglich ist, sich zu diesen Situa-
tionen - verweilend oder fliehend, suchend oder vermeidend, zu-
stimmend oder ablehnend- zu verhalten. Ein gutes Leben besteht da-
her nicht nur (ja nicht einmal notwendigerweise) in einer Ansamm-
lung positiv bewerteter Lebenssituationen, sondern darüber hinaus in
einem Lebensvollzug, in dem den Subjekten dieses Lebens ein Spiel-
raum der Begegnung mit den Situationen ihrer Lebenswelt gegeben
ist. Nicht die einzelnen Situationen entscheiden alleine über die Qua-
lität eines Lebens, sondern die Möglichkeitender Weltbegegnung durch

I2 Oder ))Esist wunderbar.« Authentische Sätze über das eigene Leben sind keineswegs
an eine retrospektive Anschauung gebunden; sie werden vielmehr aus der jeweiligen
Mitte des Lebens gesprochen, wie sehr diese auch am zeitlichen Ende liegen mag. Im
Übrigen ist die positive Einschätzung des eigenen Lebensvollzugs in der Dauer der
Existenz - sogar in der Dauer eines Tages - normalerweise nicht stabil, sondern
schwankend.

206
diese Situationen hindurch - Möglichkeiten, die es dem Individuum
erlauben, sich auf die eine oder andere Weise zu den Gegebenheiten
seines Lebens zu verhalten.
Nur wo diese Möglichkeit offensteht, können sich Augenblicke ei-
nes ekstatischen Glücks ereignen. Trotz der radikalen Differenz zwi-
schen dem ekstatischen Glück des Augenblicks und dem prozessualen
Glück eines (mehr oder weniger) gelingenden Lebens sind diese bei-
den Grunddimensionen menschlicher Erfüllung intern miteinander
verbunden. Denn nur wo die eine - ein in unbeengrer Weltbegeg-
nung gelingendes Leben - möglich ist, ist auch die andere möglich.
Und nur wo die andere-das Glück des Augenblicks- einmal oder öf-
ter wirklich war, ist das für ein gelingendes Leben wesentliche Ver-
trauen in den Vorzug weltoffener Selbsterfahrung da.
Der prozessuale Begriff des guten menschlichen Lebens, von dem
ich zuletzt vorwiegend gesprochen habe, schließt also den extremen
Zustand des ekstatischen Augenblicks als eine konstitutive Möglich-
keit mit ein. Glück, in allen seinen Dimensionen, eröffnet Situatio-
nen, die um ihrer selbst willen bejaht werden können. Von einem gu-
ten Leben lässt sich darum sagen: Das Subjekt dieses Lebens begegnet
der Welt um dieser Begegnung - oder um des Spielraums dieser Be-
gegnung - willen.

Ein Vorschlag

Obwohl ich mich in diesem Beitrag ausschließlich am guten mensch-


lichen Leben orientiert habe, ist dieser letzte Satz so formuliert, dass
er als Kennzeichnung eines beliebigen guten Lebens brauchbar ist.
Das gute Leben, so lautet mein Vorschlag, ist eines, das sich im Mo-
dus freier Weltbegegnungvollzieht. Gegenüber negativen Charakteri-
sierungen wie etwa, ein gutes Leben sei ein ungezwungenesoder nicht-
instrumentalisiertesLeben, hebt diese Bestimmung den inneren Sinn
eines solchen Lebens deutlicher hervor. Das gilt auch gegenüber der
formalen Charakterisierung des guten als eines vollzugsorientierten Le-
bens. Das gute Leben ist ein für präferierte Situationen und Betäti-
gungen offenes und in dieser Offenheit vollzugsorientiertes Leben. Es
ist frei für die ihm jeweils günstigste Weise der Begegnung mit der je-
weiligen Umwelt dieses Lebens. Es spielt sich in einem Spielraum der
Weltbegegnung ab, der auf vielfache Weise eingeschränkt und ver-
stellt sein kann, wodurch es zu einem weniger guten, schlechten oder
207
elenden Leben wird - wenn es denn je in einer günstigen Lebenslage
war.
Der Spielraum, von dem hier die Rede ist, kann sehr unterschied-
lich genutzt werden. Er kann zum Spielraum eines rational- im Blick
auf das Ganze dieses Lebens - selbstbestimmten,eines sonst wie selbst
gestaltetenoder eines lediglich (wie man bei Tieren sagt) »artgerech-
ten« Lebensvollzugs werden. Für alle empfindungsfähigen Lebewe-
sen, über welche rationalen Kompetenzen sie auch verfügen mögen,
macht es einen qualitativen Unterschied, ob ihnen ein offenes Rea-
gieren auf ihre Umgebung möglich ist oder nicht. Für das Neugebo-
rene macht es einen Unterschied, ob es zügig gewaschen, gewickelt
und abgelegt oder ob ihm in den Armen der Mutter die Ruhe für ein
erstes spürendes Dasein gelassen wird. Für Schwerkranke oder Ster-
bende macht es einen Unterschied, ob sie wie Sachen verwaltet und
gewartet werden oder ob die Pflegenden ihnen den Spielraum von
Zuwendung und Antwort lassen. Für geistig Behinderte macht es ei-
nen Unterschied, ob sie sozial geächtet und verwahrt werden oder ob
ihnen Raum gegeben und gelassen wird, die Zeit ihres Lebens nach
ihren Möglichkeiten und Neigungen zu verbringen. Für körperlich
Behinderte macht es einen Unterschied, ob sie ihre Beeinträchtigun-
gen kompensieren können oder ob sie von den Schauplätzen des so-
zialen und kulturellen Lebens abgeschnitten bleiben. Für alle erwach-
senen Menschen macht es einen Unterschied, ob sie unbedroht ihr
Land verlassen, ihre Meinungen austauschen oder sich versammeln
können oder nicht. Für die vom Menschen gehaltenen Tiere macht es
einen Unterschied, ob ihnen ausreichend Bewegungsraum und
Betätigungsmöglichkeit zur Verfügung stehen oder nicht. Für die frei
lebenden Tiere macht es einen Unterschied, ob sie trotz aller natürli-
chen Bedrohungen ihres Lebens die Möglichkeit haben, einen ihren
Anlagen entsprechenden Schauplatz ihres Lebens zu finden. Für alle
heutigen Lebewesen inklusive des Menschen macht es einen Unter-
schied, in welchem Maß sie eine äußere Natur vorfinden, die ihnen
eine physiologisch bekömmliche Lebensumgebung sein kann. Für
alle Menschen wiederum macht es einen Unterschied, in welchem
Maß sie in politischen Gemeinschaften leben können, in denen sie die
Sicherheit und Freiheit haben, ein Leben nach ihren Möglichkeiten
und Vorstellungen zu führen.
Die Beispiele zeigen: Das Wohl aller empfindungsfähigen Indivi-
duen ist abhängig von Spielräumen der Lebensbewegung,in denen sie
ihren Befähigungen und ihren bevorzugten Betätigungen nachgehen
208
können. Lebewesen, die überhaupt ein für sie gutes Leben haben kön-
nen, haben ein gutes Leben, sofern sie und soweit sie ihr Leben im
Modus freier Weltbegegnung vollziehen können.

Gefahren
Dieser Vorschlag müsste natürlich ausführlicher erörtert werden.
Zum einen müsste genauer nach der (absichtsvoll vagen) Bedeutung
von »frei« und »Welt« in dieser Bestimmung gefragt werden. 13 Zum
anderen müsste - soweit wir vom guten menschlichenLeben sprechen
- genauer ausgeführt werden, was notwendige Bedingungen und
konstitutive Dimensionen eines im Modus freier Weltbegegnung ge-
führten Lebens sind. 14 Auch wenn dies befriedigend zu leisten wäre,
stellt sich jedoch erneut die Frage, welchen Status die philosophischen
Aussagen über die Verfassung eines guten Lebens haben, zu denen
man auf diesem Weg gelangt.
Zur Klärung dieses Aspekts möchte ich noch einmal auf die Ein-
wände zurückkommen, die Habermas gegen das moralphilosophisch
ausgerichtete Projekt einer Ethik des guten Lebens vorgetragen hat.
Sein Einwand lautet, dass die Analyse des guten Lebens nach einer
Allgemeinheit strebt, die nicht erreicht werden kann. Entweder, sagt
Habermas, sie erreicht ihr Ziel, universale Aussagen über das gelin-
gende Leben zu machen - aber dann bleiben ihre Aussagen leer. Oder
aber sie gelangt zu aufschlussreichen Einsichten - dann aber bleiben
diese Einsichten hoffnungslos partikular; sie bleiben insgeheim an
das Selbstverständnis bestimmter Kulturen gebunden. In Habermas'
eigenen Worten: »Jeder globale Entwurf eines allgemeinverbindli-
chen kollektiven Guten, auf das die Solidarität aller Menschen (un-
ter Einschluß künftiger Generationen) gegründet werden könnte, be-
gegnet einem Dilemma. Eine inhaltlich ausgeführte Konzeption, die
hinreichend informativ ist, muß {zumal im Hinblick auf das Glück
künftiger Generationen) zu einem unerträglichen Paternalismus
führen; eine substanzlose, von allen lokalen Kontexten abgehobene
Konzeption muß den Begriff des Guten zerstören.«15 Die theoreti-
schen Bemühungen einer philosophischen Theorie des Glücks wären
demnach entweder nutzlos oder aber moralisch und politisch gefähr-
lich.
13 Dies habe ich in dem in Anm. II genannten Beitrag versucht.
14 Vgl. Seel, Versuch über die Form des Glücks, a.a.O., Kap. 2.5.
15 Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, a.a.O., 42.

209
Scylla und Charybdis einer in moraltheoretischer Absicht ausge-
führten Ethik des guten Lebens sind damit recht genau bezeichnet.
Während aber Habermas meint, dass an diesen Gefahren kein Weg
vorbeiführt, meine ich, dass der hier skizzierte Weg durchaus geeignet
ist, dem doppelten Unheil zu entkommen. Zunächst ist daran zu er-
innern, dass es einer plausiblen Theorie des existentiellen Glücks oder
Gelingens nicht, wie Habermas fälschlich unterstellt, um die Ermitt-
lung eines »allgemeinverbindlichen kollektiven Guten« geht. Es geht
ihr um einen allgemeinen Begriff des individuellenGuten, den es
braucht, um zu erklären, was der Sinn der Verbindlichkeit morali-
scher Regeln ist. 16 Moralische Regeln sind Regeln der unparteilichen
Berücksichtigung von etwas, das allen gleich wichtig ist: der Gewin-
nung und Erhaltung eines Spielraums für ein gutes Leben. Um diese
Bedeutung des moralischen Handelns zu erläutern, bedarf es einer
Philosophie des guten Lebens.
Die von Habermas zu Recht aufgeworfene kritische Frage freilich
ist, ob dies denn tatsächlich erreichtwerden kann: ob wir zu Sätzen
über das gute Leben kommen können, die nicht inhaltsleer sind, ohne
darum nur eine Ausmalung kultureller Vorurteile zu sein. Ich denke,
sie können erreicht werden - obwohl wir nie sicher sein können, dass
wir sie erreicht haben. Zu anderen als falliblen Annahmen über die
Verfassung eines für die einzelnen günstigen Lebens können wir auf
dem Weg einer historisch informierten und historisch situierten phi-
losophischen Reflexion nicht gelangen. Wie es zum philosophischen
Überlegen generell gehört, bei subjektiven Problemlagen anzufangen
und über bloß subjektive Antworten hinauszugelangen, so gehört es
zur Reflexion über das gute Leben, die eigenen, historisch geprägten
Vorstellungen in einem korrektiven Prozess zu transzendieren oder zu
transformieren. Dabei ist die Distanzierung der eigenen Auffassung -
an ethnologischen und historischen Kenntnissen, literarischen Imagi-
nationen oder der heute überall möglichen sozialen Erfahrung der
Verschiedenheit von Lebensvorstellungen bereits im eigenen Kultur-
kreis - ein wichtiger Schritt. Entlang solcher Korrekturen kann ein
hinreichend allgemeines Verständnis ausgebildet werden, das freilich
stets für weitere Korrekturen offenbleiben muss.
Hier einen Abschluss zu erwarten oder zu verlangen wäre ganz un-

16 Dass dieses Individuelle noch nichts mit irgendeiner Spielart des (»bürgerlichen«,
»liberalen« o.ä.) Individualismus zu tun hat, wird sehr deutlich bei V Gerhardt, Das
individuelle Gesetz. Über eine sokratisch-platonische Bedingung der Ethik, in: All-
gemeine Zeitschrift für Philosophie 22/1997, 3 ff., bes. 5.

210
sinnig. Für die moraltheoretische Ambition einer modernen Ethik des
Guten jedenfalls ist ein solcher Abschluss nicht nötig. Im Gegenteil:
Es dürfte zu den Bedingungen einer modernen Moral gehören, dass
die in ihr ausgetragenen Kontroversen bis in ihre Grundlagen hinein-
reichen können. Wenn Habermas dagegen über die Aussagen einer
Ethik des guten Lebens schreibt: »Das sind fallible anthropologische
Grundannahmen und Wertungen, die nicht nur zwischen verschie-
denen Kulturen kontrovers sind, aber hier, aus gutem Grund, kon-
trovers bleiben« 17, so scheint er insgeheim auf eine Moraltheorie zu
hoffen, deren Grundannahmen nicht länger fallibel wären und kein
Gegenstand interkulcureller Kontroversen sein könnten. Die Jagd
nach diesem Phantom wäre nur ein weiterer Irrweg. Ohnehin dürfte
der interkulturelle Diskurs zum Scheitern verurteile sein, wenn die
Menschen aus verschiedenen Kulturen keine Anliegen ausmachen
könnten, die sie wechselseitig als essentiell anerkennen könnten. Ohne
wenigstens die Aussichtauf geteilte basale existentielle Wertungen be-
steht keine Aussicht auf moralische und politische Anerkennung über
die Grenzen von Kulcuren und Parteien hinweg. Ohne die Erkennt-
nis und Anerkenntnis, dass der Andere in seiner Andersheit gleich-
wohl einer ist wie ich, gibt es keine moralische Anerkennung und kei-
ne »Einbeziehung des Anderen«. »Einer oder eine wie ich zu sein« aber
bedeutet hier, eine zu sein, der es, worum es ihr im Vollzug ihres Le-
bens auch gehen mag, doch immer auch um dasselbe geht wie mir
und den anderen: um einen Spielraum für ein eigenes gutes Leben.
Eine ebenso fragile wie bestreitbare, gleichwohl moraltheoretisch not-
wendige Explikation dieses existentiellen Worumwillens versucht die
Ethik des guten Lebens zu geben. Ein sichererer Grund ist nicht zu ha-
ben, vielleicht nicht einmal zu wünschen. Grundstein einer Moral
universaler Rechte ist - mit einem Ausdruck von Rolf Zimmermann
- ein historischerUniversalismusdes Guten, der nicht ein für alle Mal
festgelegt werden kann, vielmehr immer neu befragt, ja: begriffiich
und praktisch immer neu gebildet werden muss. 18

17 Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, a.a.O., 43.


18 Mit Recht freilich weist Habermas darauf hin, dass es irreführend sein kann, den ge-
suchten Begriff des individuellen Guten (wie in meinem ,,Versuch über die Form des
Glücks« geschehen) einen formalen Begriff zu nennen. Denn »formal« bedeutet hier
etwas ganz anderes als etwa bei der Charakterisierung der Kanr'schen Moraltheorie
als »formal«. »Formal« ist der Begriff des Guten allein darin, dass er nicht bestimmte
Lebensziele, sondern Weisen der Lebensbewältigung als günstig auszeichnet. Es
könnte daher -wie Habermas vorschlägt - statt von einem »formalen« auch von ei-
nem »minimalen«Regriff des Guten die Rede sein.

2ll
Wie einseitig oder partikular das hier entworfene Verständnis
tatsächlich ist, mögen die Leser beurteilen. Dass künftigen Genera-
tionen eine Bevormundung angetan wird, wenn man ihnen das Recht
auf freie Weltbegegnung zugesteht, ist jedenfalls nicht ohne weiteres
plausibel. So beschränkt die von bestimmten Theorien des guten Le-
bens entworfenen Verständnisse auch sein mögen, es ist nicht zu se-
hen, warum diese Vorschläge einer strukturellenBeschränkung unter-
liegen sollten. Sie unterliegen lediglich der strukturellen Gefahr,hi-
storisch bedingte Vorurteile zu anthropologischen Konstanten zu
vergrößern. Dieser Gefahr ist jede Reflexion über Glück und gelin-
gendes Leben ausgesetzt. Es ist dies aber eine Gefahr, die gar nicht ver-
mieden werden kann - weder in der Rede vom Glück noch sonst in
der Philosophie. In diese Gefahr nämlich - die Gefahr, im subjektiven
Verständnis steckenzubleiben, wo ein transsubjektives entwickelt
werden sollte - müssen sich alle begeben, die überhaupt philosophie-
ren wollen. Die Hoffnung auflmmunität gegenüber den Infektionen
zeitgebundener Blindheit wäre gleichbedeutend mit dem Verlangen,
vom Virus der Philosophie geheilc zu werden.

212
n. Aporien rationaler Selbstbegrenzung

I.

» Erstlich erreichet dein Schiff die Sirenen; diese bezaubern


Alle sterblichen Menschen, wer ihre Wohnung berühret.
Welcher mit törichtem Herzen hinfährt und der Sirenen
Stimme lauscht, dem wird zu Hause nimmer die Gattin
Und unmündige Kinder mit freudigem Gruße begegnen;
Denn es bezaubert ihn der helle Gesang der Sirenen,
Die auf der Wiese sitzen, von angehäuftem Gebeine
Modernder Menschen umringt und ausgetrockneten Häuten.
Aber du steure vorbei und verklebe die Ohren der Freunde
Mit dem geschmolzenen Wachse der Honigscheiben, daß niemand
Von den andern sie höre. Doch willst du selber sie hören,
Siehe, dann binde man dich an Händen und Füßen im Schiffe,
Aufrecht stehend am Maste, mit festumschlungenen Seilen,
Daß du den holden Gesang der zwo Sirenen vernehmest.
Flehst du die Freunde nun an und befiehlst die Seile zu lösen:
Eilend feßle man dich mir mehreren Banden noch stärker!«

Im XII. Gesang der Odyssee 1 entlässt Kicke den Helden aus ihrem
Bann, nicht ohne ihm Hinweise auf die kommenden Gefahren zu ge-
ben. Die Sache mit dem Wachs und den Fesseln ist also keine weitere
Erfindung des listenreichen Odysseus, sondern der Ratschlag einer
versierten Göttin. Diese gibt den Geliebten nicht nur frei, sie stellt es
ihm auch frei, sich so oder anders zu den vorausgesehenen Gefahren
zu verhalten. »Dochwillstdu selbersie hören«,sagt sie zu Odysseus in
der zutreffenden Übersetzung von Johann Heinrich Voss, »siehe,
dann binde man dich an Händen und Füßen im Schiffe.« Da Odys-
seus den Gesang der Sirenen tatsächlich hören, diese Erfahrung aber
auch überleben will, ergreift er die von Kirke vorgeschlagenen Maß-
nahmen.
Die wichtigste dieser Maßnahmen ist die Selbstbindung. Odysseus
legt sich vor den Augen der anderen darauf fest, der Verlockung der
Sirenen nicht nachzugeben. Diese Festlegung erfolgt hier in Formei-
ner buchstäblichen Fesselung durch andere. Sie macht es ihm un-
möglich, den, wie er im Voraus weiß, unbezwinglichen Wunsch, auf
die todbringende Insel zu gelangen, zu erfüllen. Durch diese Fesse-
1 Homer, Odyssee, übers. v. J. H. Voss, München 1979, 602 f. (XII. 39-54).

213
lung, zusammen mit dem Taubmachen seiner Gefährten und Seeleu-
te2, setzt er sich freiwillig eine Grenze. Grund für diese Einschränkung
der eigenen Handlungsfreiheit sind zwei andere Wünsche, deren Er-
füllung Odysseus den Vorrang gibt - das Lied der mörderischen Halb-
göttinnen zu hören und doch die Heimreise fortsetzen zu können.
Klassischen Rang hat diese Episode unter anderem deshalb, weil
hier auf engstem Raum, in einem einzigen Bild, die drei Grundfakto-
ren einer autonomen Lebensführung in ein Verhältnis gesetzt werden
- Selbstbestimmung, Selbstbindung und Selbstbegrenzung. Selbstbe-
stimmungerscheint als übergreifende Formeines freien Sichzusichver-
haltens. Selbstbindungerweist sich als ein wichtiges Medium dieser
Freiheit, als Schutz vor der Schwäche des menschlichen Willens.
Selbstbegrenzung schließlich tritt als ein basales Elementaller Selbstbe-
stimmung in Erscheinung; nur wer sein Begehren zu begrenzen weiß,
kann eine Erfüllung seiner Begehren erreichen. Inmitten vielfach un-
verfügbarer Gegebenheiten bleibt Odysseus Herr über das eigene
Handeln, weil er den Bereich des eigenen Wollens ebenso wie die
Wege der Realisierung dieses Wollens selbst zu bestimmen vermag.
»Aufrecht stehend am Maste, mit festumschlungenen Seilen« - so
heißt es von Odysseus, als sein Schiff die Insel passiert. Das Bild ent-
wirft eine vieldeutige Metapher des Zusammenhangs von Selbstbe-
stimmung, Selbstbegrenzung und Selbstbindung. In den sehr unter-
schiedlichen Interpretationen, die ihm zuteil geworden sind, wurde es
meist als ein Modell der rationalenEinheit der drei Kornponenten ver-
standen. Die antike Rezeption konnte es als Metapher der richtigen,
durch den nousdominierten Integration der menschlichen Seelentei-
le lesen. Für Nietzsche hätte es als Illustration der Weltstellung des
apollinischen Typus dienen können, dem er den dionysischen als not-
wendigen Kontrast entgegenstellt. 3 Horkheimer und Adorno haben
es in der Dialektik derAufklärung als Inbild der Selbstinstrumentali-
sierung des »bürgerlichen« Menschen traktiert. 4 John Elster konnte in
ihm die Metapher einer »unvollständigen Rationalität« sehen, der es

2 Die somit nicht nur den Sirenenklängen, sondern auch der Befehlsgewalt seiner Stim-
me entzogen sind.
3 Von dem es in der Geburtder 1ragödieheißt: »Das Individuum, mit allen seinen Gren-
zen und Maassen, ging hier in der Selbstvergessenheit der dionysischen Zustände un-
ter und vergaß die apollinischen Satzungen.« F.Nietzsche, Die Geburt der Tragödie,
in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. v. G. Colli und M. Mon-
tinari, München-Berlin-New York 1980, Bd. l, 41.
4 M. Horkheimer/Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1986, Ex-
kurs 1.

214
gelingt, die Schwäche des menschlichen Willens zu kompensieren. 5
Ganz gleich aber, ob das Sprachbild des auf eigene Anordnung gefes-
selten Helden als Zeichen eines integralen oder partiellen, repressiven
oder kompensatorischen Selbstverhältnisses gelesen wird, stets wird es
als ein Bild der geleistetenrationalenOrdnung der drei Komponenten
verstanden. Mochte auch die Rationalität, die zu solcher Ordnung
fähig ist, abzulehnen oder zu relativieren sein, das Bild des Odysseus
am Schiffsmast wurde zu einem klassischen Modell der vernünftigen
Begrenzung, Bindung und Bestimmung des eigenen Strebens.

2.

Ich meine jedoch, dass dies ein irreführendes Modell ist. Das Unter-
drückungsmodell ebenso wie das Integrationsmodell, das Kontrast-
modell ebenso wie das Kompensationsmodell, so möchte ich im Fol-
genden zeigen, enthalten eine verfehlte Konzeption rationaler Selbst-
bestimmung und individueller Autonomie. Die Interpreten stützen
sich dabei auf eine durchaus anfechtbare Deutung des Homerischen
Bildes.
Freilich enthält die mythische Erzählung eine Verführung, der wir
nicht nachgeben dürfen. Der Odysseus des Homerischen Epos ist der,
der er ist, und deshalb wählt er die Wege, die er wählt. (Die von Kir-
ke offengelassene Alternative, auch sich selbst die Ohren zu ver-
schließen, ist für ihn keine reale Option; ohne Frageverlangt es ihn
nach der Wahrnehmung des Schrecklichschönen.) Die Richtungen
seines Begehrens sind festgelegt durch die mythologisch-poetische
Welt, der er angehört und durch die Stellung, die ihm innerhalb die-
ser Welt zukommt. Dieser Held ist kein Hamlet, der sein praktisches
Selbst erst wählen muss, er ist seiner Grundbestimmung sicher und
führt sie in unbeirrter Handlung aus.
Uns Heutigen aber, den Kindeskindern Hamlets, kommt diese
mythische Sicherheit nicht zu (wenn sie denn empirischen Individu-
en jemals zugekommen ist). Wir sind nicht einfach die, die wir sind;
uns ist es nicht bestimmt, wozu unser Verlangen uns bestimmt. Wir
erleben unser Begehren vielfach als kontingent, und dies färbt ab auf
die existentiellen Wahlen, zu denen es uns veranlasse. Diese Wahlen
erscheinen arbiträr. Es könnte alles anders sein als es ist, wir könnten
andere sein als wir sind. Mit Rücksicht auf die Zeit des Lebens muss
5 J.Elster, Subversion der Rationalität, Frankfurt/M. 1987, Kap. 2.

215
es sogar heißen: Es wird anders sein als es ist, wir werdenandere sein
als wir sind.
Damit radikalisiert sich das Problem der individuellen Selbst-
begrenzung. Sie kann nicht mehr ohne weiteres als ein gefügiges
Element rationaler Selbstbestimmung aufgefasst werden. Zwar ist
jedes praktische Sichbestimmen eine Begrenzung des eigenen Han-
delns, wie überhaupt jedes Bestimmen ein Begrenzen ist, sei es nun
theoretisch oder praktisch, begründet oder unbegründet. Die Frage
aber, die sich in unserem Zusammenhang stellt, lautet, ob die basalen
Begrenzungen, aus denen ein Lebensweg seine individuelle Form
gewinnt, tatsächlich als Produkte einer rationalenBestimmung ge-
dacht werden können. Wenn die Fixierungen unseres Wünschens
willkürlich wären, wie könnte dann die autonome - oder vermeint-
lich autonome - Verwirklichung dieser Wünsche anders als willkür-
lich sein?
Warum in aller Welt hat Odysseus den Wunsch, den Gesang der Si-
renen zu hören? Warum gibt er diesem Wunsch nach? Warum stellt er
ihn in der fraglichen Szene gleichrangig neben den anderen, mög-
lichst glimpflich nach Hause zu kommen? In der Welt der Odyssee,
wie gesagt, stellen sich solche Fragen nicht. In unserer Welt aber stel-
len sie sich ohne Ende.
Ohne Ende stellt sich die Frage, welchen Begehren wir nachgeben,
für welche wir empfänglich sein sollen. Dass sie sich »ohne Ende
stellt«, heißt nicht so sehr, dass sie sich andauernd stellen müsste, als
vielmehr, dass sie sich einem jeden ohne einen denkbaren sachlichen
Abschlussstellt. Dieser Abschluss, so scheint es, kann allein durch vo-
litive Bejahung und Verneinung geschehen, also durch Akte, mit de-
nen wir unserem vielstimmigen Verlangen eine bestimmte Richtung
geben, von der wir wollen,dass unser Leben ihr bis auf weiteres folge.
Worauf aber gründen diese Akte, wenn sie auf etwas gründen? War-
um ist es dieser Mann, diese Frau, dieses Buch, diese Wohnlage, die
mich anziehen, warum ist es diese Gruppe, deren Anerkennung ich
begehre, warum dieser Lebensstil, den ich erreichen will? Und wich-
tiger noch: Warum ist es diese und nicht jene Zuneigung oder auch
Abneigung, der ich das Mandat verleihe, mein weiteres Verhalten und
vielleicht - im Fall von zu gewinnenden Frauen und zu schreibenden
Büchern - mein weiteres Leben zu bestimmen? Wenn ich ihnen aber
erlaube, mein Leben zu bestimmen, was für eine Bedeutung hat diese
Erlaubnis? Ist sie das Produkt einer möglichen rationalenFestlegung
(und in der Folge Bindung) des eigenen Handelns, oder ist sie das
216
Produkt einer nicht selbst rationalen Festlegung, die vom rationalen
Handeln lediglich ausgeführt werden kann?
An dieser Stelle ist es nötig, zwischen Selbstbegrenzung expost und
Selbstbegrenzung ex ante zu unterscheiden. Selbstbegrenzung ex post
ist nicht unser Problem; nachdem (oder soweit) das Wünschen und
Wollen eines Individuums festliegt, kann dieses sich gezwungen se-
hen, sein Handeln auf vielfältige Weise zu begrenzen, sei es im Namen
der Wünsche, die die leitenden Motive seines Handelns sind, sei es im
Namen moralischer Rücksichten. 6 So muss sich Odysseus fesseln las-
sen, damit er das Hören des Sirenengesangs überleben kann. So muss
er die Gunst der Kirke gewinnen, wenn er die zu Schweinen verwan-
delten Gefährten nicht im Stich lassen will. Mit der Rationalität die-
ser Begrenzungen gibt es kein Problem. Sie sind gerechtfertigt durch
vorgängige Präferenzen oder Einstellungen, denen in den jeweiligen
Situationen nur durch diverse Einschränkungen des Handelns zu ent-
sprechen ist.
Das Problem, mit dem eine Theorie rationaler Lebensführung zu
Rande kommen muss, ist vielmehr Selbstbegrenzung ex ante - jene
Begrenzung, durch die wir festlegen, welchen unserer Begehrungen
wir die Bedeutung vorrangiger existentieller Direktiven geben wollen.
Diese Selbstbegrenzung zeichnet bestimmte Wünsche vor anderen
aus und legt bestimmte Präferenzen gegenüber anderen fest; auf diese
Weise werden grundlegende Optionen eines Subjekts konstituiert,
die bis auf weiteres den Kern seiner praktischen Identität bilden.
Natürlich ist diese Gewichtung von Wünschen und die daraus resul-
tierende Bildung von Präferenzen häufig keine bewusste Wahl; oft le-
gen nicht wir fest, worauf wir vor allen Dingen aus sind, sondern be-
stimmte Neigungen erhaltenin unserem Tun und Lassen ein Gewicht,
das weite Teile unseres Handelns prägt. So sehr aber auch hier eine Be-
grenzung der Reichweite unserer Aufmerksamkeiten und Absichten
vorliegt, um eine Selbst-Begrenzung handelt es sich gerade nicht.
Selbstbegrenzung liegt vielmehr nur dann vor, wenn es sich aus der
Sicht der Handelnden um dezidierte, bewusste und willentliche, Fest-

6 Das soll nicht heißen, der ganze Sinn moralischer Rilcksicht liege in Limitierungen
der genannten Art; dies wäre unzutreffend, da moralische Rücksicht ein Anerken-
nungsverhältnis impliziert, das auf Selbstbegrenzungen nicht rückführbar ist. Sofern
aber Moral Limitierungen gebietet, wie es ihr wesentlich ist, haben diese die Struktur
einer Limitierung »ex post«. - Im Übrigen lasse ich im Folgenden durchweg offen, in
welchem Maß gelingende Selbstbestimmung moralische Selbstbestimmung enthalten
kann, muss oder soll; vgl. dazu M. Seel, Versuch über die Form des Glücks, Frank-
furt/M. 1995, Kap. 2.7.

217
legungen von Präferenzen handelt; wenn das Subjekt auf die eine oder
andere Weise Stellung nimmt zum Rauschen seines Verlangens, wenn
es der chaotischen bis diffusen Richtung seines Begehrens die Kontur
eines bestimmten Ausseins auf etwas gibt - diesen Mann, dieses Buch,
diese Steuerklasse, diese Reputation, usw. Dann sind es gewählteWün-
sche,von denen wir uns leiten lassen, verstanden als Resultate eines be-
jahten Begehrens,von dem wir nicht einfach angetrieben werden,son-
dern getrieben werden wollen.
Die Szene solcher Bejahungen ist anders gelagert als jene von Sar-
tre vorgestellte Situation, in der es um die Entscheidung zwischen
zwei rational unentscheidbaren Handlungsalternativen geht (sich der
Resistance anzuschließen oder bei der gebrechlichen Mutter zu blei-
ben). Hier geht es um eine Fixierung existentieller Optionen, die noch
vor solchen Alternativen liegt, wie immer es um ihre Entscheidbarkeit
stehen mag.7 Von einer Selbstbegrenzung »ex ame« spreche ich dabei
nicht, weil dies in einem genetischen oder tiefen psychologischen Sinn
ersteWünsche wären (was immer dies sein sollte), sondern weil es sich
um basaleFixierungen handelt, die in aller weiteren Lenkung des ei-
genen Wünschens und Wollens immer bereits mit inbegriffen sind.
Durch Selbstbegrenzung ex ante werden basale Antriebe der eigenen
Lebensführung bejaht oder geschaffen und in den Stand bewusster
Präferenzen erhoben - derjenigen Präferenzen, die an zentraler Stelle
als Gründe angeführt werden müssen, wenn die Lebensführung eines
Individuums verstanden oder erklärt werden soll. Solche Gründe stel-
len die gewählten Wünsche eines Individuums wohlgemerkt auch
dann dar, wenn das Subjekt dieser Wünsche selbst keine- oder keine
ausreichenden - Gründe hat, seine Energien so und nicht anders ver-
ausgaben zu wollen.
Wenn wir nun annehmen - wie ich es im Folgenden ohne zusätz-
liche Erörterung run werde 8 -, dass Selbstbegrenzung dieser Art

7 J. P.Sartre, Ist der Existentialismus ein Humanismus?, in: ders., Drei Essays, Frank-
furt/M.-Berlin-Wien 1975 und ders., Das Sein und das Nichts, Reinbek 1987, bes.
607 ff. Same freilich zielt mit dem in meiner Wiedergabe vereinfachten Beispiel auf
eine Theorie der »radikalen Wahl«, die nochgrundlegender als das von mir hervorge-
hobene Wählen sein soll.
8 Dies ist keine harmlose Annahme. Denn es wäre eigens zu prüfen, ob den Aporien ra-
tionalerSelbstbegrenzung solche der Selbstbegrenzung als solcheentsprechen. Diese
Klärung muss einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben. Ich beschränke mich
im Folgenden auf eine Diskussion der Möglichkeit rationaler Selbstbegrenzung und
lasse die radikalere Möglichkeit eines Zweifels auch an vorrationaler Selbstbegrenzung
- und damit an jeder Möglichkeit »anfänglicher« Selbstbestimmung- beiseite. - Vgl.

218
tatsächlich möglich ist, dass wir also durch unser im Ganzen diffuses
Begehren nicht allein bestimmt werden, sondern es auch formend be-
stimmen können: Wie verhält sich diese Formung zu der Verfassung
einer selbstbestimmten Lebensführung? Wie verhält sie sich zu der
von der klassischen Deutung der Sirenen-Episode verlangten rationa-
len Einheit von Selbstbestimmung, Selbstbindung und Selbstbegren-
zung? Ist so etwas wie rationaleSelbstbegrenzung möglich? Und wenn
nicht: Ist rationale Selbstbestimmung möglich, wenn rationale
Selbstbegrenzung unmöglichist?

3.

Überlegen wir einen Augenblick lang, was es bedeuten würde, dass ra-
tionale Selbstbegrenzung - im Sinn einer Begrenzung ex ante - nicht
möglich ist. Dies wäre der Tod des klassischen Modells. Es wäre die
Erschütterung der Annahme einer rationalen Einheit des Selbst,
gleich was für eine - humane oder repressive, vollständige oder un-
vollständige - Rationalität dabei in Rechnung gestellt wird. Aus der
Sicht dieses Modells wäre alle rationale Selbstbestimmung mit einem
irreparablen Defekt behaftet: sie erwiese sich lediglich als Ausführung
von letztlich arbiträren Passionen und Präferenzen, die keiner ratio-
nalen Rechtfertigung zugänglich wären. Autonomie wäre Ausführung
grundloser Affirmationen. Am Boden aller rationalen Selbstbestim-
mung läge ein grundloses Sichbestimmen, ein Abgrund der Willkür,
der durch alles nachträgliche Rationieren nur zu überdecken, nicht
aber zu beseitigen wäre.
Dieses Überbrücken der grundsätzlichen Arbitrarität aller basalen
volitionalen Festlegungen bliebe freilich eine sehr wesentliche Akti-
vität einer bewussten Lebensführung. Für die rationale Selbstorgani-
sation des eigenen Lebens bliebe eine Menge zu tun, zum Beispiel -
die Imagination, ob die Erfüllung der gewählten Wünsche wirklich
als Erfüllung erfahrbar wäre (wie es im Epos für Odysseus problemlos
vorausgesetzt wird)
- die Beschaffung von Wissen über die besten Wege der Verwirkli-
chung der gewählten Wünsche (wie sie in der Odyssee von Kirke
übernommen wird)
- das Ordnen und Gewichten der gewählten Wünsche und Ziele, das
hierzu jetzt Studie 16, die unter Bezug auf H. Frankfurt eine Neuformulierung ver-
sucht, welche eine Opposition zwischen vorrationaler und rationaler Wahl vermeidet.

219
nicht selten (wie im Beispiel des Odysseus) auf ihre Modifikation hin-
ausläuft und Strategien der Selbstbindung erforderlich macht
- das Wachhalten des Wissens um die Relativität solcher Ordnungen,
insbesondere das Offenhalten des eigenen Lebenswegs für Erfahrun-
gen, die das eigene Wünschen und Wollen transzendieren könnten 9
(eine Notwendigkeit individuellerLebensführung, die von der Odys-
see exemplarisch verdeutlich wird).
Auch wenn der individuellen Selbstbestimmung alle diese Leistun-
gen - und vielleicht weitere mehr - zugestanden werden können, in
der Sicht des klassischen Modells bliebe sie eine reflexiveModellierung
von gewählten Wünschen und wäre in diesem Sinn gewiss rational;
sie wäre aber keiner begründenden Konstitution eines bejahten Be-
gehrens fähig und bliebe in diesem Sinn an vorrationale Entschei-
dungen gebunden. Sie wäre zwar nicht lediglich, nach Humes Wort,
eine Sklavin, aber noch nichts weiter als eine Anwältin jener Antrie-
be, die wir in Akten der affirmativen Selbstbegrenzung zu unseren
Leidenschaften machen. Alle ihre Gründe könnten erst dann für oder
gegen etwas sprechen, wenn die Stimme der Leidenschaft ihr Wort be-
reits gesprochen hat. Eine unauflösliche Aporie rationaler Selbstbe-
stimmung wäre die Folge. Autonome Lebensführung wäre dazu ver-
dammt, mit Gründen zu bestimmen, was seine Bestimmung ohne
Gründe hat.

4.

Freilich hatte ich für den Augenblick nur angenommen,dass rationale


Selbstbegrenzung unmöglich ist. Ein Ausweg aus der drohenden Apo-
rie läge also darin zu zeigen, dass und wie rationale Selbstbegrenzung
möglich ist. Dann bliebe das aus dem Bild des gebundenen Odysseus
gewonnene Modell autonomer Selbstregierung intakt. Rationale
Selbstbestimmung ließe sich als Fortführung rationaler Selbstbegren-
zung verstehen oder umgekehrt: rationale Selbstbegrenzung als ein
integrales Element der rationalen Selbstbestimmung. Die rationale
Wahl des eigenen Lebenswegs wäre ein begründetes Wählen all the
way through.
Wenn sich zeigen ließe, dass diejenige Selbstbegrenzung (»ex
ante«), die ein basales Element aller weiteren Selbstbestimmung ist,
ihrerseits auf rationale Weise vollzogen werden kann, so könnte ge-
9 Dieses zentrale Erfordernis erläutert Seel, Versuch über die Form des Glücks, a.a.ü.,
Kap. 2.4.
220
folgert werden, dass rationale Selbstbestimmung sehr viel tiefer geht
als es sich soeben dargestellt hat. Sie wäre gefeit gegen die Anschuldi-
gung, nur an der Oberfläche des Begehrens zu operieren; sie wäre re-
habilitiert in ihrem Anspruch, Autorin unserer gewählten Wünsche
zu sein oder wenigstens sein zu können.
Ich meine jedoch, dass sich eben dies nicht zeigen lässt. Wie immer
es um die Aporie rationaler Selbstbestimmungstehen mag, den Apori-
en rationaler Selbstbegrenzungist nicht zu entkommen. Das zeigt sich
am klarsten an den verschiedenen Versuchen, diese Konsequenz zu
vermeiden. Drei solcher Versuche möchte ich kurz kommentieren.
Dabei gehe ich rein thetisch vor. Ich werde mich darauf beschränken,
jedem Vorschlag, wie rationale Selbstbegrenzung möglich sei, eine
Anti-These entgegenzustellen, von der ich meine, dass sie die Positi-
on der These widerlegt. Auf eine Diskussion dieser Thesen aber wer-
de ich mich hier nicht einlassen. Zum einen sind diese Argumente
und die Positionen, für die sie werben, alle wohlbekannt; zum andern
soll meine Übersicht nur dazu dienen, eine Position zu gewinnen, die
uns von der Hoffnung auf rationale Selbstbegrenzung befreit.
Wir könnten erstens einen substantiellenAuswegwählen. Die The-
se würde lauten: Für jedes Individuum (oder für alle10) lässt sich ein
Ziel oder eine Reihe von Zielen finden, deren Erreichung für es (oder
jemanden wie es) einen höchsten Wert bildet und so seiner Bemü-
hung um ein selbstbestimmtes Leben eine kontinuierliche inhaltliche
Perspektive verleiht. Die Anti-These wäre: Ziele dieser Art sind un-
vermeidlicherweise arbiträr. Andere könnten für die Betreffenden
ebenso gut oder sogar besser sein. Keiner weiß das und keiner kann es
wissen. Für existentielle Bewertungen dieser Art gilt: Es gibt immer
eine aussichtsreiche Alternative zu der vermeintlich besten substanti-
ellen Alternative.
Wir könnten zweitens versuchen, die Karte der Authentizität aus-
zuspielen. Die These würde lauten: Selbstbegrenzung kann nur gelin-
gen, wenn sie von den authentischen Wünschen oder Bedürfnissen

10 Dies wäre die perfektionistischeVariante des substantiellen Auswegs. Die These wiir-
de lauten: Für alleIndividuen gibt es einen höchsten substantiellen Wert unabhän-
gig von ihrem faktischen Wünschen und Wollen; Selbstbestimmung ist zu verstehen
als möglichst angemessene Realisierung dieses höchsten Guts. Die Anti-These wäre:
Abgesehen davon, dass man gerne wüsste, welches dieser umfassende Wert sein soll-
te, der das Leben aller zu ihrem Besten regieren könnte, abgesehen davon auch, wie
dies unabhängig von ihrem Belieben begründet werden sollte: Der Gedanke, indivi-
duelle Selbstbestimmung verhalte sich als Mittel zur Realisierung eines höheren
Zwecks, zerstört die Idee dieser Autonomie, anstatt sie zu stärken.

221
des jeweiligen Subjekts geleitet wird, wenn sie seinen genuinen Be-
strebungen Ausdruck und Wirklichkeit verleiht. Die Anti-These wäre
hier: So etwas wie genuine, ihr unlöschbar eingeschriebene, ihr un-
verkennbar zuzuschreibende Wünsche oder Bedürfnisse einer Person
gibt es nicht. Wie etwa Foucault in seiner Histoire de la sexualitede-
monstriert hat, sind subjektive Begehrungen Produkte eines kultivie-
renden Prozesses, an dem das Individuum mehr oder weniger stark
selbst beteiligt sein kann. Dies gilt vor allem von jenen »gewählten
Wünschen«, die ein selbstbestimmtes Leben motivieren. Unsere Lei-
denschaften enthalten Entscheidungen. Die Bejahung, die in aller po-
sitiven Selbstbegrenzung liegt, kann sich nicht auf die eigene innere
Natur berufen, denn sie erzeugt erst jenes unüberhörbare Verlangen,
auf das sich das Subjekt dann auch - sich selbst oder anderen gegen-
über - berufen kann.II
Wir könnten drittens einen formalen Ausweg suchen. Die Suche
nach einer anfänglichen Rechtfertigung unserer gewählten Wünsche,
so könnte die These jetzt lauten, führt in die falsche Richtung. Zur
Aufhebung der Aporie der Selbstbestimmung genügt es völlig, Selbst-
begrenzung als Fähigkeit der bewussten Beschränkung des eigenen
Strebens zu verstehen - welche Ziele und Zwecke auch immer dem
Subjekt dieser Begrenzung kurzfristig oder langfristig attraktiv er-
scheinen mögen. Da diese Fähigkeit einer intentionalen Fokussierung
des eigenen Begehrens ein wesentliches Moment aller Selbstbestim-
mung ist, existiert die vermeintliche Kluft zwischen Begrenzung und
Bestimmung gar nicht. Die »Begründung« praktischer Wahlen ist oh-
nehin allein eine Sache der modellierenden, ausgleichenden und ge-
gebenenfalls korrigierenden Herstellung von Kohärenzen, nicht hin-
gegen eine Sache der Fundierung zentraler subjektiver Optionen. -
Die Anti-These würde diesmal lauten: Das ist nicht die Antwort, nach
der wir gesucht haben. Wir waren auf der Suche nach einer Möglich-
keit der Überwindung oder wenigstens Minderung der Arbitrarität
subjektiv gewählter Wünsche - jener Situationen, von denen wir sa-
gen, dass wir dafürleben. Keine formale Antwort aber kann dies lei-
sten. Was die formale Antwort anbietet, ist lediglich eine mögliche Re-
aktion auf die Kontingenz unseres Begehrens und die Arbitrarität un-
seres Wünschens, aber keine Rettung vor ihr.I2
n Es beruft sich dann auf Akte der Selbscwahl, auf Fakten der eigenen Willensbildung,
die es nicht mehr rückgängig machen will und ohne Verlust der Selbstachtung oft
nicht mehr rückgängig machen kann. Vgl. hierzu v.a. M. Foucault, Der Wille zum
Wissen. Sexualität und Wahrheit, Frankfurt/M. 1977, Bd. I.
formalerAuswegan-
12 Denkbar wäre ein vierter Lösungsversuch, der als radikalisierter

222
5.

Jedoch - es gibt diese Rettung gar nicht. Einen anderen Schluss lässt
das Für und Wider in Sachen rationaler Selbstbegrenzung meines Er-
achtens nicht zu. Es gibt keine Möglichkeit, jene elementaren Wahlen
zu rationalisieren, die in jeder weiteren Form der Selbstbestimmung
mit inbegriffen sind. Rationale Selbstbestimmung basiert auf Akten
der Selbstwahl, die keine rationale Basis haben.
Die Konsequenzen für die Möglichkeit autonomer Lebensführung
sind jedoch, wie ich zum Schluss zeigen möchte, alles andere als de-
saströs. Die Aporien rationaler Selbstbegrenzung haben keine Aporie
der Selbstbestimmung zur Folge. Nur aus der Warte des klassischen
Modells, das eine durchgehende rationale Einheit von Selbstbestim-
mung, Selbstbindung und Selbstbegrenzung fordert, musste es so aus-
sehen. Rationale Selbstbestimmung, richtig verstanden, bedeutet da-
gegen die Anerkennung der Unmöglichkeit einer Rationalisierung der
anfänglichen Selbstbegrenzung.
Sobald wir die Ambition einer durchgehenden Rationalisierung
verabschieden, wird die soeben - als ein Angebot zur Rettung des klas-
sischen Modells - zurückgewiesene formale Antwort wieder interes-
sant. Sie formuliert eine Reaktion auf die Arbitrarität gewählter Wün-
sche, die diese Arbitrarität nicht als einen Gegensatz, sondern als ein
Element von Selbstbestimmung zu verstehen erlaubt. Sie schlägt vor,
die Fixierung der eigenen elementaren Bestrebungen ohne weiteres als
eine Form von Autonomie zu verstehen, die in aller rationalen Selbst-
bestimmung eine Weiterbestimmung erfährt. Diese achtet auf die
Vereinbarkeit und Realisierbarkeit gewählter Wünsche, nimmt in
ihrem Namen Begrenzungen vor, ersinnt Formen der Selbstbindung
usw. Sie modelliert und konturiert das bejahte Begehren. Sie bemüht
sich um ein kohärentes Selbstverhältnis unter Aufnahme der basalen
existentiellen Wahlen.
Es wäre ganz verkehrt, die so verstandene rationale Selbstlenkung
lediglich in der Funktion einer Ausführung irrationaler Impulse zu
geboten werden könnte. Der Vorschlag wäre: Und wenn der Einzelne die Fähigkeit
der Begrenzung und Entgrenzung seines Begehrens wählen würde als zentralen
Haltepunkt seiner Lebensführung? Wäre das nicht eine spezifisch moderne Lösung
der Schwierigkeiten eines selbstbestimmten Lebens? Die Antwort wäre: Nein. Die-
ser Vorschlag sieht nur formal aus, ist aber tatsächlich substantialistisch und sogar
perfektionistisch: er offeriert den riskanten Lebensstil des existentiellen Spielersals
optimale Lebensform, was klarerweise keine allgemeinvorzuziehende Lebensform
ist.

223
sehen. Zum einen ist die Wahl primärer Wünsche, wenn meine Be-
merkungen richtig waren, weder rational noch irrational, sondern le-
diglich a-rational; wo es keine Gründe gibt, kann es auch kein irra-
tionales Vorbeigehen an Gründen geben. Als rational oder irrational
kann lediglich das Sichverhaltenzu diesen primären Wahlen zählen.
Zum andern liegt der Sinn rationaler Lebensführung zwar gewiss
darin, unseren anfänglichen Wahlen Raum zu geben und ihnen
Wege zu bahnen, um ihre Erfüllung wenn nicht möglich, so doch
nicht unmöglich zu machen; Rationalität ist hierbei aber keineswegs
nur ein Mittel zum Zweck. Denn mit dieser Eröffnung und Erhal-
tung aussichtsreicher Situationen wird dem Individuum ein offener
Spielraum von Lebensmöglichkeiten zugänglich, der nicht allein zu
etwas gut ist (zu der Befriedigung einzelner Präferenzen, beispiels-
weise), der vielmehr selbstetwas Gutes ist. Denn in ihm ist die Frei-
heit zu künftigen, das eigene Leben und Erleben verändernden
Wahlen und damit zu einer Form der Weltbegegnung gegeben, die
ihren Sinn nicht allein im Reichtum ihrer Erfallungen,sondern nicht
weniger (und manchmal mehr) in der Intensität ihrer Erfahrungen
hat.
Mehr als dies ist von einem selbstbestimmten Leben auch beim bes-
ten Willen und unter den günstigsten Umständen nicht zu erwarten
- dass es durch die Welt führe ohne blind zu machen für die Welt, dass
es eine Begegnung mit historischer Wirklichkeit ermögliche, die
selbst als lohnend erfahren werden kann, wie viele der gewählten
Wünsche auch erreicht werden mögen. Denn nicht nur an der Erfül-
lung gewählter Wünsche entscheidet sich das Gelingen eines Lebens,
sondern auch am Prozess ihres Erwählens. Es gibt keine Offenheit für
die Welt, ohne eine Offenheit für die Kontingenz des eigenen Begeh-
rens, zusammen mit der Fähigkeit zu immer neuen Selbst-Begrenzun-
gen, denen die Energie für einen bestimmten Austausch mit den
Wirklichkeiten des eigenen Lebens entstammt. Der Sinn eines selbst-
bestimmten Lebens liegt also nicht darin, das eigene Begehren zu ka-
nalisieren, sondern - viel schwieriger - darin, die eigenen Leiden-
schaften am Leben zu erhalten, jenes gerichtete Begehren, das wir ha-
ben (und, wenn es geht, manchmal auch erfüllt haben) wollen. So
gesehen ist Selbst-Bestimmung nichts weiter als der Versuch, mit der
Fixierung unserer Leidenschaften - mit unseren primären Selbst-Be-
grenzungen also - in einer Weise Schritt zu halten, die sie vor dem
Vergehen bewahrt.
Rationale Selbstbestimmung, mit anderen Worten, ist der Versuch,
2.2.4
Autonomie um ihrer selbst willen zu sichern. 13 Die Autonomie aber,
die so gewonnen und erhalten werden soll, ist reicher als jene rationa-
leAutonomie, die es, als Dimension dieser reicheren, zu ihrer Siche-
rung, Entfaltung und Intensivierung brauche. Sie schließe jene unver-
meidlich kontingenten Akte der Selbstbegrenzung, des Sich-selbst-
auf-etwas-Festlegens ein, ohne die alles lebenspraktische Überlegen
vollkommen witzlos wäre.

6.

Erinnern wir uns an Odysseus in der Sirenen-Episode. Da er den Vor-


teil des von Kirke nahegelegten Verfahrens erkennt, beschließt er, sich
an den Mast binden zu lassen, weil dies eine (wenn auch momentan
schmerzliche) Form ist, sein gespaltenes Verlangen - nach baldiger
Heimkehr und nach der Weite der Welt - zu befriedigen. Rationale
Selbstbestimmung folgt hier basalen Optionen, arrangiert ihre Ver-
wirklichung aber in einer Weise (und modifiziert sie dabei), dass sie
einander nicht gegenseitig zerstören können. 14 In diesem exemplari-
schen Vorgehen liegt eine weitere, unausgesprochene Option, die
nicht übersehen werden darf. Es ist eine Option zweiter Ordnung: der
Wunsch, das eigene Begehren im Modus der Selbstbegrenzung und
Selbstbestimmung ausleben zu können. Durch alle Gefahren und An-
fechtungen hindurch will Odysseus einen autonomen Lebensweg bei-
behalten, einen Weg, der- soweit möglich - an gewählten Zielen fest-
hält, ohne sich abzuwenden von der gefährlichen Schönheit der Welt,
ohne sich für die Unwägbarkeit des Wirklichen blind zu machen. Sein
Wille zur Selbsterhaltung, von dem die Sirenen-Episode ja ebenfalls
handelt, gilt nicht dem nackten Leben, er gilt einer ungezwungenen
Wahrnehmung des eigenen Lebens. Indem Odysseus seine basalen
Präferenzen, die sich keiner rationalen Wahl verdanken, rational ver-
folgt, manifestiert und realisiert er das übergreifende Verlangen, ein
Leben in freier Weltbegegnung zu führen. 15
Nachdem das Lied der Sirenen verhallt ist, wird Odysseus von sei-
nen Fesseln entbunden. Erst mit diesem Ereignis gewinnt das Bild des
13 Dass Selbstbestimmung nur selbstzweckhaft gelingen kann, habe ich zu zeigen ver-
sucht in: Seel, Versuch über die Form des Glücks, a.a.O., Kap. 2.4 u. 2.5.
14 Man sieht hier, dass Herstellung von Kohäienz, d.i. praktischer Vereinbarkeit, in exi-
stentiellen Dingen nicht zwangsläufig Herstellung von Harmonie bedeutet.
15 M. Seel, Freie Weltbewegung, in: H. Steinfath (Hg.), Was ist ein gutes Leben? Phi-
losophische Reflexionen, Frankfim/M. 1997, 275-296.

225
Helden, »aufrecht stehend am Maste, mit festumschlungenen Seilen«,
seine volle Bedeutung. Der Sinn aller nicht-rationalen und rationalen
Limitierungen, die wir uns auferlegen, ist Selbst-Entfesselung: ein
Freiwerden für die inneren und äußeren Wirklichkeiten des eigenen
Lebens, das allein durch Bindungen an bestimmte dieser Wirklichkei-
ten zu erreichen ist. Das Verhallen der Sirenenklänge in der Odyssee
ist daher kein Verebben des rational unbeherrschbaren Verlangens,
sondern allein desjenigen Begehrens, das alles andere tötet, weil es
kein anderes neben sich oder nach sich duldet. Den Sirenen ist alles
bekannt, was geschehen ist und geschieht auf der, wie Voss übersetzt,
»lebenschenkenden Erde«. Sie versprechen ihrem Zuhörer eine Weis-
heit von der Art, die nicht länger etwas Fremdes unter der Sonne
kennt. Diese Weisheit aber bedeutet den Tod jedes Verlangens, das
immer auch Verlangen nach Unbekanntem ist, und muss daher im
Bewusstsein der eigenen Endlichkeit ausgeschlagen werden von ei-
nem, der - mit Hilfe wohlgesonnener Götter und treuer Gefährten -
dem eigenen Verlangen auf die eigene Weise folgen will. Von den Fes-
seln befreit zu sein heißt für ihn, für Selbst-Begrenzungen frei zu sein,
die ihm einen ungewissen, von keiner Notwendigkeit vorgeschriebe-
nen Lebensweg öffnen, den niemand ihm abnehmen kann.
Ich möchte daher zum Ende das Ende der Sirenen-Episode zitie-
ren 16:

»Komm, besungener Odysseus, du großer Ruhm der Archaier!


Lenke dein Schiff ans Land und horche unserer Stimme.
Denn hier steurre noch keiner im schwarzen Schiffe vorüber,
Eh er dem süßen Gesang aus unserem Munde gelauschet.
Und dann ging er von hinnen, vergnügt und weiser wie vormals.
Uns ist alles bekannt, was ihr Argeier und Troer
Durch der Götter Verhängnis in Trojas Fluren geduldet:
Alles, was irgend geschieht auf der lebenschenkenden Erde!
Also sangen jene voll Anmut. Heißes Verlangen
Fühlt ich, weiter zu hören, und winkte den Freunden Befehle,
Meine Bande zu lösen; doch hurtiger ruderten diese.
Und es erhuben sich schnell Eurylochos und Perirnedes,
legten noch mehrere Fesseln mir an und banden mich stärker.
Also steuerten wir den Sirenen vorüber; und leiser,
Immer leiser verhallte der Singenden Lied und Stimme.
Eilend nahmen sich nun die teuren Genossen des Schiffes
Von den Ohren das Wachs und lösten mich wieder vorn Mastbaum.«

16 Homer, Odyssee, a.a.ü., 605 f. (XII. 184-200).

226
12. Ein Lob der Willensschwäche

I.

Das Problem der Willensschwäche ist eines der schönsten unter den
klassischen Themen der Philosophie. Es ist überschaubar und hat
doch unübersehbare Konsequenzen; es ist jedem geläufig und doch al-
len unerklärlich. »Obwohl der Mensch häufig vom Schlechten er-
kennt, dass es schlecht ist, führt er es dennoch aus«: so bringt es So-
krates in Platons Dialog Protagorasauf den Punkt. 1 Die Möglichkeit
eines Handelns wider besseresWissen erschüttert die Grundfesten der
menschlichen Orientierung und mit ihnen das Selbstverständnis des
Menschen als eines rationalen Wesens. Wenn es möglich ist, dass un-
sere besten Gründe für uns nicht zählen, welche Verbindlichkeit
kommt dann den Gründen für unser Handeln überhaupt zu? Diese
vor 2500 Jahren zuerst aufgeworfene Frage ist seither nicht ver-
stummt. Obwohl es sonst so ist, dass auf die Einigkeit in den Fragen
über kurz oder lang eine Einigung in den Antworten folgt - hier ist es
nicht der Fall. Bereits Sokrates ist sich mit seinen Opponenten allein
darin einig, worin das Problem besteht, wenn es denn besteht. Er be-
streitet aber, dass es die mit seinen eigenen Worten definierte Sache
überhaupt gibt. Damit schafft er sich mit einem Schlag die Schwie-
rigkeiten vorn Hals, die aus der Anerkennung des Phänomens der
Willensschwäche folgen.
Sokrates wusste noch nicht, dass die philosophische Leugnung ei-
nes Problems die sicherste Methode ist, ihm zur Unsterblichkeit zu
verhelfen. Aber auch seine Nachfahren haben nur das theoretischePro-
blem akzeptieren wollen, das in der Frage nach der Möglichkeit wis-
sentlich nachteiligen Handelns liege. Sie haben es dagegen versäumt,
auch das praktische Problem anzuerkennen, das sich mit der Frage
nach dem Sinn der Instabilität unseres Wollens stelle. Denn diese In-
stabilität stellt nicht nur einen Mangel, sondern auch einen Vorzug
des menschlichen Tuns und Lassens dar.
Seit Sokrates' Tagen versuchen Philosophen aller Couleur zu er-
klären, wie es mit dem Selbstverständnis rationaler Akteure vereinbar
ist, absichtlich die nach eigener Einschätzung schlechtere Wahl zu
treffen. Doch jede Erklärung greift zu kurz, die nicht zugleich ver-

r Prot. 355c.

227
ständlich macht, warum wir unsere Willensschwäche im Grunde
nicht missen mögen. Die meisten Menschen würden mit niemandem
tauschen wollen, der hierzu nicht einmal fähig wäre. Sie tun recht dar-
an. Denn in der Möglichkeit der Willensschwäche liegt ein wichtiges
Stück Freiheit gegenüber uns selbst. Man denke nur an Figuren wie
den Vulkanier Spok oder den Androiden Data aus Star Trek,denen die
menschlichen Schwächen erst mühsam beigebracht werden müssen.
Oder man denke an Ernst Lubitschs Film Sein oderNichtsein(USA
1942), dieser wohl bedeutendsten je erdachten Apologie der Willens-
schwäche. Hier ist es ein runniggag,dass eine hohe Nazi-Charge ge-
genüber einem vermeintlich Gleichgesinnten in jovialer Laune be-
merkt: »Da ist immer etwas faul mit jemandem, der nicht trinkt, der
nicht raucht und keinen Bissen Fleisch ist.« Um die eisige Replik zu
erhalten: »Meinen Sie den Führer?«
Trotzdem ist Willensschwäche zunächst einmal eine Schwäche,die
je nach Lage als ärgerlich, bedenklich oder schändlich empfunden
wird. Aber die Fähigkeit,das eine oder andere Mal schwach zu wer-
den, ist mit der Fähigkeit zu einem ungezwungenen Handeln von Ge-
burt an verschwistert. Eine Theorie des willensschwachen Verhaltens
muss daher klären, warum es ein Skandalon, und doch - warum es
kein Skandalon ist.

2.

Für Sokrates besteht der Skandal dieser Schwäche in dem Anschein,als


könne jemand freiwillig etwas tun, wovon er weiß, dass es nicht zu sei-
nem Besten ist. Dieser Anschein aber, sagt Sokrates, trügt. Nur Un-
wissenheit und Unbelehrbarkeit (amathia)können uns davon abhal-
ten, das zu tun, was gut fur uns ist. Wer wirklich erkannt hat, was fur
ihn gut ist, kann gar nicht anders, als handelnd nach diesem Guten zu
streben. Denn nach Sokrates' Analyse im Protagorasist das Gute
nichts anderes als das, was alles in allem am meisten lustbringend ist.
Wer daher um das für ihn selbst Beste weiß, kann keinerlei Motiv ha-
ben, etwas anderes zu wollen - müsste er doch aus Neigung tun, was
der tiefsten Neigung widerspricht.
Diese überwältigende Macht des Wissens um das wahrhaft Gute
wird von Aristoteles im 7. Buch der NikomachischenEthik bestritten.
Auch der, der weiß, was für ihn das Beste ist, sieht sich Anfechtungen
ausgesetzt, die sich aus der Verlockung des Augenblicks ergeben. Der
228
enkrateswidersteht ihr, weil er weiß, was langfristig für ihn besser ist;
der akrateshingegen erliegt ihr, obwohl er es weiß. Diesen Ausfall des
eigentlich besseren Wissens beschreibt Aristoteles als eine Form irra-
tionalen Verhaltens. In der Situation seiner Schwäche orientiert sich
der Alaates an einem Urteil, von dem er eigentlich weiß, dass es hier
nicht ausschlaggebend ist. Jemand, der es sich zum Grundsatz ge-
macht hat, Süßspeisen zu meiden, weil sie ihm nicht gut tun, greift
dennoch zum Süßen. Er handelt dabei keineswegs grundlos; vielmehr
stützt er sich auf einen anderen generellen Satz, der da besagt, dass al-
les Süße angenehm ist, zusammen mit dem singulären Urteil, dass das
hier eine Süßspeise ist- »und das gibt den Ausschlag«, wie Aristoteles
trocken bemerkt. 2 Diese Wirkung tritt aber nur deshalb ein, weil der
Betreffende eine starke Begierde für alles Süße hat, die ihn vergessen
macht, dass die durchaus richtige Ansicht, alles Süße sei angenehm, in
seinem Fall außer Kraft gesetzt wird durch die Einsicht, dass Süßes
ihm schadet. Die Begierde hakt sich gleichsam an einer zutreffenden
Ansicht fest und reißt sie aus dem Zusammenhang wohlabgewogener
Gründe heraus.
Diese bestechende Analyse deutet Aristoteles so, dass der Akrates
im Augenblick seiner Schwäche kein Bewusstsein seines Wissens um
das wahrhaft Gute hat. Wenn er gleichwohl Gründe für sein Handeln
anführt - und Gründe hat er ja, nur sind es gleichsam außer Propor-
tion geratene Gründe - , so redet er wie ein Betrunkener oder wie ei-
ner, der im Schlaf vor sich hin spricht. Insofern stimmt Aristoteles der
sokratischen Leugnung des Phänomens in einer wichtigen Hinsicht
zu. »Klarsichtige« Willensschwäche, ein Handeln, das sich im vollen
aktuellen Bewusstsein der Nachteiligkeit seines Tuns befindet - das,
so meint auch Aristoteles, kann es nicht geben.
Thomas von Aquin übernimmt in der Summa Theologiaedie
Grundlinien der aristotelischen Betrachtung, jedoch mit einer wich-
tigen Korrektur. Er bestimmt den Defekt, der es zu einer willens-
schwachen Handlung kommen lässt, als eine »Lässigkeit« oder
»Gleichgültigkeit« gegenüber dem eigenen Wissen um das eigentlich
Gute. Die Störung der Orientierung erscheint hier nicht - wie bei Ari-
stoteles - als eine durch das Begehren hervorgerufene Bewusstlosigkeit,
sondern als ein von ihm angeregtes Preisgebender ursprünglichen In-
tention. Wer die Tugend der continentia vermissen lässt, schert sich
nicht um das, was er eigentlich weiß und will. Mit einem auch im
Deutschen naheliegenden Wortspiel sagt Thomas, dass sich die Un-
2 EN Vll.5, n47a33.

229
enthaltsamen nicht daran halten, was ihre Vernunft ihnen vorgibt.
Das bedeutet, dass die Unbeherrschten ihr eigenes besseres Wissen
nicht einfach vergessen, sondern vielmehr ignorieren. Um ihren Be-
gierden nachgeben zu können, überhören sie das Votum der Ver-
nunft. Jedoch bleiben sie durchaus bei Sinnen; hätten sie nämlich
vorübergehend den Verstand verloren, könnte weder von Beherrscht-
heit noch von Unbeherrschtheit die Rede sein. »Denn bei solchen
bleibt kein Vernunfturceil erhalten, das der Beherrschte hochhält und
der Unbeherrschte verlässt.«3
Auch Thomas deutet dieses Verlassen als ein Außerachtlassen der
eigentlich angemessenen Situationseinschätzung. Modem könnte
man sagen: Der Willensschwache verdrängt, wovon er eigentlich
weiß. Insofern bestätigt auch Thomas die Diagnose des Sokrates, dass
ein mit offenen Augen vollzogenes Handeln wider besseres Wissen
unmöglich ist. Die Leugnung dieser Möglichkeit ist aber hier wie
schon bei Aristoteles mit einer entschiedenen Anerkennung des Phä-
nomens der Unbeherrschtheit verbunden - entschiedener noch als bei
Aristoteles, da hier ein wenigstens latentes Bewusstsein der eigenen
Verfehlung angenommen wird. Der Unbeherrschte wendet sich ab
von den Orientierungen, die ihn leiten, solange er keiner Versuchung
erliegt. So kann er absichtlich etwas tun, was seinen wohlüberlegten
Absichten entgegensteht.

3.

In unseren Tagen sind diese klassischen Erörterungen in verschiedene


Richtungen weitergeführt worden. Ähnlich wie Sokrates versucht
Richard Hare den gordischen Knoten des Problems zu durchschla-
gen.4 Bei ihm wird der Willensschwache aus der Verantwortung für
sein Handeln entlassen. Er erscheint als jemand, der aus psychischen
Gründen unfähig ist, zu tun, was er seiner Überzeugung nach tun soll-
te. Hares Beispiel ist die von Ovid dargestellte Leidenschaft der Me-
dea für Jason, gegen die ihr Wille nichts auszurichten vermag. Diese
Analyse hat zur Konsequenz, dass das Verhalten der Willensschwa-
chen nicht länger als eine zurechenbare Handlung verstanden werden
kann; was sie tut, geschieht nicht länger entgegenihrer eigentlichen
3 >)Quianon salvarurin eis judicium rationis, quo<l continens scrvat et inconcinens de-
serit.« Summ. Theo!. II.II, Qu. 156.1.
4 R. Hare, Freedom and Rca.son, Oxford 1963, 77 ff.

230
Absicht, sondern eigentlich ohne Absicht. Dies aber führt zu einer
neuerlichen Leugnung des Phänomens, wie es üblicherweise verstan-
den wird: dass eine vorsätzlich tut, was sie, ihrer eigenen Ansicht nach,
gerade nicht tun sollte.
Diese Situation versucht Donald Davidson mit logischen Mitteln
so zu entwirren, dass sie in ihrem alltäglichen Verständnis durchsich-
tig wird. Abgesehen von John Austin ist er der Einzige in einer langen
Reihe von Denkern, der klarsichtige Akrasia uneingeschränkt für
möglich hält. 5 In einer rhetorischen Opposition zu Aristoteles kehrt
er zum Kern der aristotelischen Analyse zurück. Er verwirft lediglich
die Deutung, die Aristoteles ihr gibt. Aristoteles hatte gesagt, der Wil-
lensschwache wisse nicht, was er tue, wenn er, von der Begierde ge-
trieben, nach den nächstbesten Gründen greift, die er aus dem nor-
mativen Kontext seines eigenen Orientierungswissens reißt. Bei Da-
vidson weiß er es. Er handelt aufgrund einer zwar begründeten, aber
hoffnungslos einseitigen Meinung. Die bei Aristoteles und Thomas
erörterte Differenz zwischen einem »Syllogismus der Vernunft« und
»Syllogismus der Begierde« interpretiert Davidson als Differenz zwi-
schen einem partiellen und einem umfassenden praktischen Urteil.
Der Handelnde tut etwas, das dem widerspricht, was er allesin allem
für das Richtige hält.
Dergleichen, sagt Davidson, ist möglich. Es besteht kein logischer
Widerspruch zwischen einem partiellen Urteil, in dem eine bestimm-
te Handlungsweise als ohne weiteresgut gekennzeichnet wird, und ei-
nem wohlüberlegten umfassenden Urteil, in dem dieselbe Hand-
lungsweise als allesin allem schlechtqualifiziert wird. Dieses umfas-
sende Urteil nämlich ist ein konditionales Urteil, durch das etwas
unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände bewertet wird: »So
wie die Dinge liegen, sollte ich die Finger von Süßspeisen lassen.« Als
solches hat es den Status eines prima facie Urteils, das vorbehaltlich
neuer relevanter Umstände gilt. Die partielle Überzeugung hingegen,
die im Fall der Willensschwäche die Führung übernimmt, basiert auf
einem unkonditionierten Urteil: »Süßspeisen -wie dies hier eine ist -
sind köstlich.« Die Wahrheit des einen Satzes widerspricht der des an-
deren nicht. Also, folgert Davidson, ist es kein Ding der Unmöglich-

5 D. Davidson, Wie ist Willensschwäche möglich, in: ders., Handlung l.!nd Ereignis,
Frankfurt/M. 1985, 71. Davidson beruft sich auf J.Austin, A Plea for Excuses, in: ders.,
Philosophical Papers, Oxford 1979. Eine ausführliche Interpretation bietet T. Spitzley,
Handeln wider besseres Wissen. Eine Diskussion klassischer Positionen, Berlin u.a.
1992.

231
keit, das partielle Urteil zur leitenden Prämisse des eigenen Handelns
zu erheben, auch wenn es eine ganz andere Einschätzung gibt als das
eigene umfassende Urteil. Wir können unser bestes Urteil missachten
und gleichwohl absichtsvoll handeln. Ich habe eigentlichden wohler-
wogenen Vorsatz, das Rauchen zu lassen, jetzt aber, sage ich mir, tut
eine Zigarette einfach gut.
Widersinnig ist das natürlich schon. Wer so handelt, sagt David-
son, verletzt das »Prinzip der Selbstbeherrschung«, das da lautet:
»Vollziehe die Handlung, die auf der Basis aller verfügbaren relevan-
ten Gründe als die beste beurteilt wird.«6 Wer dieses Prinzip rationa-
ler Orientierung missachtet, handelt irrational. Was Sokrates völlig
absurd und lachhaft erschien, erscheint bei Davidson als das Normal-
ste der Welt. Irrationale Handlungen sind absichtsvolle und durch
Gründe motivierte Handlungen wie die anderen auch, nur dass wir
hierbei anderen als unseren bestenGründen folgen. Wer dies tut, han-
delt nicht in Trance, sondern tut etwas, dass er tatsächlich tun will,
auch wenn er es all things considered nicht tun sollte.Auf diese Wei-
se, meint Davidson, verschwindet das sokratische Paradox eines ab-
sichtlichen Tuns, das nicht in bewusster Absicht vollzogen werden
kann.
Ursula Wolf hingegen bekräftigt die Auffassung, die im vorsätzlich
unrichtigen Handeln ein Ding der Unmöglichkeit sieht. Wer gegen
die eigene Überzeugung handelt, kann im Augenblick der Handlung
nicht im vollen Sinn die Überzeugung haben, gegen die er handelt.
Wolf empfiehlt daher, sich an der Analyse des Thomas zu orientieren.
Zwar fasst der Willensschwache das eigentlich für ihn Beste ins Auge,
im Augenblick der Verlockung jedoch ändert er seinen Vorsatz, um
diese Änderung anschließend zu bereuen. Das Versagen entspringt ei-
nem »Fehler im Selbstverständnis«7 des Handelnden. Er lässt es zu ei-
ner okkasionellen Umdeutung seiner eigenen Interessen kommen,
ohne sich zu einer ausdrücklichen Konfrontation mir seinen länger-
fristigen Wünschen entschließen zu können. Wer wider sein eigent-
lich besseres Wissen handelt, unterliegt einer momentanen Selbsttäu-
schung darüber, worin dieses eigentlich bessere Wissen besteht. Letzt-
lich täusche er sich darüber, was er eigentlich will und somit: wer er
eigentlich ist. Der Willensschwache ist nicht einfach irrational, er un-
terliege einer mehr oder weniger hartnäckigen Rationalisierung im
6 Davidson, Wie ist Willensschwäche möglich, a.a.O., 71.
7 U. Wolf, Zum Problem der Willensschwäche, in: S. Gosepath (Hg.), Motive, Grün-
de, Zwecke, Frankfurt/M. 1999, 240.
Freud'schen Sinn. Er will nicht wissen, was er über sich weiß oder
doch wissen könnte.

4.

Wer aber hat nun Recht? Bevor ich mein eigenes Votum abgebe,
möchte ich die Revue der ausgewählten Positionen nutzen, um einige
Gesichtspunkte hervorzuheben, die bei der Entscheidung hilfreich
sind.

I. Jede Theorie der Willensschwäche basiert auf einer Unterscheidung


zwischen freiwilligem und erzwungenem Handeln. Wer unter Zwang
handelt, ist nicht fähig, willensschwach zu sein; er vermag nicht dem
eigenen Vorsatz zu folgen. Manche Theorien jedoch - wie diejenige
von Hare - schließen allein den äußeren Zwang aus; das nicht wil-
lentlich gesteuerte »Handeln« erfolgt hier aus einem innerem Zwang,
der die Möglichkeit freien Handelns suspendiert. Damit aber wird
das Phänomen einer intentionalen Missachtung der eigenen Wert-
überzeugung erneut geleugnet. Wollen wir dieses Phänomen ernst
nehmen, so müssen wir sagen: Wider sein besseres Wissen handelt
nur, wer sein besseres Wissen freiwillig außer Acht lässt. Willens-
schwäche besteht nicht in einem Ausfall, sondern in einer nachteili-
gen Ausrichtung des freien Willens.

II. Nach Aristoteles und Thomas von Aquin ist Willensschwäche


(akrasia, incontinentia) nicht dasselbe wie Maßlosigkeit (akolasia,
intemperantia). Der Maßlose will seine Begierden nicht beschränken,
der Willensschwache hingegen will es, aber es gelingt ihm nicht. Frei-
lich: Wer die Maßlosigkeit zugunsten von temperantia vollständig
überwunden hätte, hätte auch die incontinentia überwunden: er käme
gar nicht mehr in die Versuchung, abseitigen Leidenschaften zu fol-
gen (deswegen, meint Thomas, ist temperantia die höherstehende Tu-
gend). Im Unterschied zu dem Unmäßigen, heißt es bei Aristoteles,
ist der Unenthaltsame »jederzeit zur Reue fähig«.8 Willensschwach ist
ein Handeln, das für den Handelnden im Rückblick nicht akzeptabel
ist.

2 33
III. Aristoteles unterscheidet zwei Formen der Unbeherrschtheit.
»Akrasia ist entweder Voreiligkeit oder Schwäche. Die einen überle-
gen zwar, bleiben aber aus Leidenschaft nicht bei ihrem Entschluss,
die anderen werden mangels vorheriger Überlegung von der Leiden-
schaft mitgerissen.« 9 Das für Aristoteles wie für die nachfolgenden
Theorien zentrale Problem ist das der volitiven Schwächedes Men-
schen. Wer noch gar keine Meinung über das jeweils Bessere hat, wird
von seiner Leidenschaft einfach mitgenommen oder überrumpele,
um erst hinterherfestzustellen, dass dies nachteilig war. Vorherhatte er
mangels Überlegung gar keine Wahl. Das Paradox einer absichtlichen
Verfehlung tritt hier nicht auf. - Sokrates freilich, der das Phänomen
insgesamt leugnet, muss auch diese Differenz bestreiten, da das Tun
des Schlechteren für ihn mit Unberatenheit gleichbedeutend ist.

IV. Das Problem der Willensschwäche ist nur aus der Perspektive der
ersten Person zu verstehen. Das Bessere, das der Handelnde sein lässt,
um das Schlechtere zu tun, ist dasjenige, was er selbstfür das Bessere
hält. Um eine misslingende Orientierung am objektiv Guten, was im-
mer das wäre, geht es hier nicht; es geht um eine Missachtung des ei-
genen Urteils über das eigentlich Gute.

V. Das Problem der Willensschwäche ist kein vorwiegend moralisches


Problem; hier sind Austin und Davidson gegen die christliche Tradi-
tion im Recht. Es stellt sich überall, wo der eigene wohlerwogene Vor-
satz außer Acht gelassen wird - was für ein Vorsatz das auch immer
sein mag. An der vom Diätplan geächteten Süßspeise lässt sich die
Struktur des Problems genauso gut klären wie am zehnten biblischen
Gebot. Sei die betreffende Handlung eine Sünde oder nicht, sie ist im-
mer eine Sünde gegenüber dem wohlerwogenen Vorsatz des Han-
delnden.

VI. Eine überzeugende Analyse der Willensschwäche muss von vorn-


herein drei Situationen im Auge haben. Erstens die Situation, bevores
zur willensschwachen Handlung kommt, zweitens die Situation der
10
willensschwachen Handlungund drittens die Situation danach. Wil-
lensschwäche liegt nur vor, wo eine Handlung von den Handelnden
ex ante und ex post anders beurteile wird als in situ. Ex ante und ex

9 EN 1150b19-22.
10 Die Beziehung dieser drei zeitlichen Positionen hebt schon Platon hervor: Prot.
356a-e.
2 34
post wird die Handlungsweise (vom Handelnden!) verworfen, in situ
hingegen wird sie ausgeführt. Dies kann als formale Definition einer
willensschwachen Handlung gelten.

VII. Diese Definition hat den Vorteil, den Widerstreit deutlich zu ma-
chen, in dem alles willensschwache Handeln steht. Zu Recht betont
Wolf, dass es dieser Konflikt innerhalb der subjektiven Orientierung
ist, den die Analyse ernst nehmen muss. Das praktische Problem der
Willensschwäche darf von der Theorie nicht aus der Welt geschafft
werden.

5.

Welcher Theorie aber gebührt der Zuschlag? Welche vermag den so-
eben aufgestellten Kriterien am ehesten zu entsprechen? Da das zu er-
klärende Phänomen bewahrt werden soll, scheiden die beiden Extre-
misten Sokrates und Hare klarerweise aus. Also bleiben vier Kandida-
ten übrig: Aristoteles, Thomas, Davidson und Wolf. Jedoch vertreten
sie bei genauer Betrachtung nicht vier verschiedene, sondern lediglich
zwei Positionen, die historisch beide aus der aristotelischen hervorge-
wachsen sind. Wolf bezieht sich ausdrücklich aufThomas, der seiner-
seits einen modifizierten aristotelischen Kurs vertritt. Davidson pole-
misiert zwar gegen Aristoteles, übernimmt jedoch den harten Kern
seiner Analyse und löst diese aus der von Sokrates beeinflussten Leug-
nung der klarsichtigen Akrasia heraus. Diese Vorgeschichte im Blick,
können wir uns für den Showdown auf die Differenz zwischen Da-
vidson und Wolf konzentrieren. Wer hat Recht? Wer gewinnt den
Wettstreit um eine plausible Erklärung des trotz bester Vorsätze erfol-
genden Griffs zur nächsten Zigarette?
Keiner. Denn Recht haben sie beide. Beide Theorien - die ich im
Folgenden als repräsentative Typenvon Theorien verstehe - sind ein-
seitige Ausdeutungen eines Phänomens, das mehr als eine Seite hat.
Gegen alle seine Vorgänger hält Davidson daran fest, dass es so et-
was wie klarsichtige Akrasia gibt, »nach der der Handelnde in Anbe-
tracht aller Alternativen absichtlich die schlechtere wählt«. 11 Er
schließt einen Bund mit dem alltäglichen Verstand, der hieran oh-
nehin keine Zweifel hat. Es gehört zum Begriff des Handelns, wirksa-
me Gründe zu haben, dieses und nicht jenes zu tun. Jemand tut ab-

n D. Davidson, Paradoxien der Irrationalität, in: Gosepath a.a.O., 217.

235
sichclich dieses, weil er glaubt, dass es auf die eine oder andere Weise
angesagt ist. Der Willensschwache hat solche Gründe. Er greift zur Zi-
garette, weil das ihm, wie er glaubt, jetzt gut tun wird. Freilich hat er
daneben andere Gründe. Er sollte nicht zur Zigarette greifen, weil es
ihm, wie er ebenfalls glaubt, auf Dauer nicht bekommen und er es
darum morgen bereuen wird. Er weiß auch, dass diese anderen Grün-
de die besseren Gründe sind. »Sei'sdrum« -oder chrisclich: »Hol's der
Teufel« - sagt er und zündet die Zigarette an.
Das gibt es. Die Philosophie kann es zugeben, wenn sie sich klar-
macht, dass jede wohlüberlegte praktische Überzeugung- »Rauchen
tut mir nicht gut; ich sollte es unterlassen« - das Ergebnis einer mehr
oder weniger komplexen Abwägung ist, zu der einzelne Wertungen -
»Eine Zigarette wäre jetzt schön« - nicht in einem direkten Wider-
spruch stehen. Man kann ohne weiteres beiden Urteilen zustimmen.
Die Frage bleibt aber, welchem seiner Gründe der Handelnde den
Ausschlag gibt, welchen Vorsatz er auf ihrer Basis bildet. Der Un-
beherrschte hätte gute Gründe, etwas anderes zu tun als das, was er
tut. Er lässt nicht sein umfassendes, sondern ein einseitiges Urteil aus-
schlaggebend werden. Jedoch ändert er seinen generellen Vorsatz
nicht; er kommt ihm nur nicht nach. Das alles weiß er. Er tut es trotz-
dem. Er tut es ohne Illusion und Verblendung. Aber warum? Nun,
»weil die Leidenschaft ihn überwältigt«, wie Sokrates spöttisch sagt.
Davidson wehrt sich nur deshalb gegen diese Antwort, weil er hierin
eine falsche Opposition zwischen Vernunft und Leidenschaft wittert.
Dazu aber besteht wenig Grund, hat doch bereits Aristoteles gezeigt,
wie Leidenschaft und Vernunft gerade im Akt der Unbeherrschtheit
kooperieren. Die Begierde stützt sich auf ein dekonrextualisiertes
Wissen. Gegen die besseren Gründe werden gute Gründe ins Feld
geführt. Mit Trunkenheit oder Schlafwandlerei hat das nichts zu
tun; »häufig erliegen wir der Versuchung in Ruhe und sogar mit Fi-
nesse«.12
»Im Standardfall von Willensschwäche«, so resümiert Davidson,
»weiß der Handelnde, was er tut und warum er es tut und daß es nicht
zu seinem Besten ist und warum. Er gibt seine eigene Irrationalität
zu.«13 Ich möchte jedoch behaupten, dass dies nur ein Standardfall der
Willensschwäche ist; das Phänomen rückt erst dann voll in den Blick,
wenn auch der andereStandardfall in Betracht genommen wird. Der
klarsichtigenAktasia, wie sie sich im unbeherrschtenHandeln zeigt,
I2 Austin, A Plea for Excuses, a.a.O., 198.
13 Davidson, Paradoxien der Irrationalität, a.a.O„ 230.

236
steht eine prozessualegegenüber, in der ein unbeständigesWollen wirk-
sam ist.
Diesem zweiten Fall wird die Theorie von Wolf am besten gerecht.
Der Konflikt, der zur willensschwachen Handlung führt, besteht hier
nicht zwischen dem, was ich eigentlich und dem, was ich jetzt will,
sondern dazwischen, wie ich mich innerhalb und außerhalb der Si-
tuation des Abfalls vom ursprünglichen Vorsatz verstehe. Er besteht
zwischen einander widerstreitenden Verständnissenmeiner selbst.
Hier weicht nicht eine partielle Bewertung von einer umfassenden ab,
hier stehen zwei umfassendeBewertungen einander in direktem Wi-
derspruch gegenüber. Bei Tag verstehe ich mich als jemand, für den es
das Wichtigste ist, am Schreibtisch einen klaren Kopf zu haben. Wenn
ich jedoch abends unterwegs bin, rede ich mir ein, dass die wahre
Klarheit allein aus der Asche leiblicher Erschütterung hervorgehen
kann - und greife zur Zigarette. Für diese Art der Willensschwäche ist
es bezeichnend, dass es nicht zu einem offenen Konflikt im Selbsrver-
ständnis der Handelnden kommt. Was hier geschieht, ist vielmehr
eine Umdeutung des eigenen Selbsrverständnisses; die Abwägung der
relevanten Güter verschiebt sich; stillschweigend wird sie der augen-
blicklichen Neigung angepasst. Ich erliege keiner Versuchung, ich las-
se mich verführen. Die Situation verleitet mich zu einer Verkennung
dessen, was ich eigentlich will. Der ursprüngliche Handlungsvorsarz
- alles zu tun, damit ich morgens einen klaren Kopf habe - wird nicht
einfach aufgegeben, er wird ad hoc durch einen anderen Vorsatz er-
setzt - nichts zu unterlassen, wodurch eine geniale Erleuchtung auf-
glimmen könnte.
Äußerlich ist zwischen den beiden Fällen der Willensschwäche
kein Unterschied zu bemerken. Wir haben beide Mal jemanden, der
den wohlüberlegten Vorsatz hat, nicht mehr zu rauchen, und der
trotzdem zur Zigarette greift, um es tags darauf zu bereuen. Dennoch
handelt es sich um sehr unterschiedliche Arten von Schwäche. Im er-
sten Fall missachte ich bewusst den eigenen Vorsatz: ich will jetzt das
nicht, was ich eigentlich sollte. In diesem Fall weiß ich, dass ich einer
Schwäche nachgebe, die ich nachher bereuen werde. Um des Augen-
blicks willen aber bin ich bereit, diesen Preis zu zahlen; ich verhalte
mich offen inkonsistent. Im anderen Fall hingegen wird mir erst hin-
terher klar, dass ich wieder einmal schwach geworden bin; meine Ori-
entierung erweist sich als instabil. Ich will jetzt nicht länger wissen,
was mein genereller Vorsatz genaugenommen bedeutet; ich lege mir
ein anderes Verständnis meiner Lage zurecht. In diesem zweiten Fall
237
ist die Willensschwäche mit einer Selbsttäuschung verbunden,
während sie sich im ersten ohne Illusion, als offener Verrat an der ei-
genen Linie ereignet.
Das von Wolf präparierte Modell betrifft nicht die klarsichtige,son-
dern eine prozessualeAkrasia. Das eigene Selbstverständnis wird vor-
übergehend umgepolt, ohne jedoch ernsthaft revidiert zu werden.
Denn willensschwach ist der Griff zur Zigarette natürlich nur, solan-
ge es nicht zu einer echten Revision meines normativen Selbstver-
ständnisses kommt. Sobald ich eindeutig zu der Auffassung gelange,
dass ich mit Zigarette nun einmal besser schreiben kann, werde ich
meinen Vorsatz ändern und glauben, dass das Rauchen eben der Preis
meiner Berufung ist. Entscheidend ist die Situation ex post. Hier
muss es sich zeigen, ob es bei einer peripheren und vorübergehenden
Umdeutung meiner Absichten bleibt, oder ob es zu einer ernsthaften
und weitergehenden Neubewertung meiner Lage kommt.
Das aber ist grundsätzlich offen. Denn es könnte immerhin sein,
dass ich mich mit meinem Kampf gegen das Rauchen meiner Pro-
duktivität beraube. Es könnte so sein, wie die sentimentale Moral des
Films Chocolat(USA 2000, Regie: Lasse Hallström) es will, dass wir
in der vermeintlichen Sünde - hier des Genusses von Schokolade zur
Fastenzeit - ein freieres Verhältnis zu uns und den unseren gewinnen.
Es könnte sein, dass mein Begriff der Ehre mich privat oder politisch
in ein Verderben führt, vor dem mich nur ein Preisgeben meiner Stan-
dards bewahren würde. Und so in allen Fällen. Es könnte sein, dass
unsere bisher besten Absichten trügerisch sind. Es könnte sein, dass
sich gerade im Abfall von unseren besten Vorsätzen ein Durchbruch
zu existentieller und ethischer Wahrheit meldet. Grundsätzlich könn-
te es so sein - auch wenn es meistens nicht so ist. Es ist zumal bei An-
wandlungen des zweiten Typs nie vollkommen sicher, was Stärke und
was Schwäche ist. Die Schwäche könnte Stärke und die Stärke könn-
te Schwäche sein. Die Unsicherheit und Anfechtbarkeit unseres Wol-
lens, die sich in der Willensschwäche der zweiten Art meldet, ist das
Anzeichen einer Unwägbarkeit menschlicher Lebenslagen, von der
sich nur befreien könnte, wem es gelänge, jenseits aller Unsicherheit
im eigenen Bestreben, und das bedeutet: ohne eigenen Willen zu le-
ben.

238
6.

Der Weg einer Apologie der Willensschwäche zeichnet sich hier ab.
Doch Vorsicht. Dass wir die Unsicherheit unseres Wollens nicht
grundsätzlich überwinden können, bedeutet keineswegs, dass wir sie
nicht überwinden könnten. Das volle Bild der möglichen Schwäche
des Willens ergibt sich erst zusammen mit einer Betrachtung seiner
möglichen Stärke. Denn eben diese Polaritätmacht den freien Willen
aus. Es ist kennzeichnend für das menschliche Wollen, seinen Vorsät-
zen treu oderuntreu, in seinen Absichten fest oderschwankend sein zu
können. Daher wird die Verfassung des inkonsistenten wie des insta-
bilen Wollens nur im Kontrast zu der eines konsistenten und stabilen
Wollens deutlich.
Diesem hat Harry Frankfurt eindringliche Studien gewidmet. 14 Er
trifft eine dreifache Unterscheidung zwischen dem bloßen,dem über-
legten und dem entschiedenenWollen. Das, was wir bloß irgendwie
wollen (etwa eine Zigarene rauchen), ist nichts, was wir darum auch
tun sollten; es kann viele andere Bestrebungen geben, die uns wichti-
ger erscheinen. Das hingegen, was wir aus bester Überlegung wollen,
ist etwas, das wir auch tun sollten (etwa das Rauchen sein lassen).
Daraus folgt aber nicht, dass wir es auch tun werden, da uns allerhand
Nebenabsichten in die Quere kommen können. Vor diesen Anwand-
lungen sind wir erst - und nur solange - sicher, als wir uns mit dieser
unserer begründeten Bestrebung, wie Frankfurt sagt, »identifizieren«.
Es kommt dann für uns nicht länger in Frage, nach einer Zigarette zu
greifen. Nur in diesem Fall handelt es sich um etwas, das wir ohne
Vorbehalt wollen. Wenn wir auf diese Weise mit uns einig sind, sind
wir, in diesem Punkt, auf der sicheren Seite.
Es gibt ehemalige Raucher, für die Zigaretten »kein Thema mehr«
sind. Sie sind darüber hinweg, auch wenn das Gelüst vielleicht noch
nicht ganz erstorben ist. 15 Eine solche Entschiedenheit des Wollens
lässt sich in allen Lebensbereichen finden. In einem Interview aus den
siebziger Jahren erzählte der Filmregisseur Arthur Penn von einem
konventionell ausgebildeten Kameramann, der sich nicht dazu brin-
gen konnte, sein Objektiv in die Sonne zu halten. Lichtreflexe auf der

14 H. Frankfurt, The lmporcance ofWhac We Cace Abouc, Cambridge 1988.


15 »Eine Zigarette wäre jetzt schön.« - »Willst Du eine?« - »Nein, kommt nicht in Fra-
ge.« Soweit nicht alle gegenläufigen Antriebe erloschen sind, ist es Teil des eigenen
vorbehaltlosen Anliegens, »to care about caring about it« (Frankfurt, The lmportance
ofWhat We Care Abouc, a.a.O., 87).

239
Linse gingen ihm handwerklich derart gegen den Strich, dass er sich
Penns Anweisung nicht fügen konnte - weil er es um keinen Preis
wollte. Da steht »die Person dahinter«, sagt man in solchen Fällen. So
ist es oft. Ich werde nie willensschwach, wenn es darum geht, meinem
Kind gute Nacht zu sagen, auch wenn gerade ein Spiel der Champi-
ons League in der entscheidenden Phase ist. Ich werde nie schwach,
wenn es um das Überarbeiten meiner Texte geht, obwohl es mich ei-
nige Kopfschmerzen kostet. Ich werde nie willensschwach, wenn es
Zeit ist, meinen Rasen zu mähen, obwohl ich mir lieber einen Mit-
tagsschlaf genehmigen würde. Das sind, so wie ich es sehe, einfach
Dinge, die sein müssen. (Dafür werde ich jedes Mal schwach, wenn es
darum geht, meinen Verwandten zu schreiben, obwohl auch das et-
was ist, das sein müsste.)Ich glaube nicht allein gute Gründe zu haben,
so zu handeln; mir liegt an dem, wofür diese Gründe sprechen. Dar-
um gibt es hier keinen Spielraum für eine momentane Suspension
oder Revision meiner leitenden Wertungen. Ich will dies auf eine Wei-
se, dass alle Alternativen verblassen. Wer so will, steht »mit ganzem
Herzen« hinter dem, worum es ihm hierbei geht. Wenn - und solan-
ge - sich ein solches Wollen gebildet hat, wird es nicht zur Willens-
schwäche kommen.
Echte Willensstärke liegt darin freilich nur, wo Selbstbeherrschung
weiterhin nötig ist, wo es also aufseiten der Handelnden weiterhin
Bestrebungen und sogar Bewertungen gibt, die in eine andere Rich-
tung weisen. Doch wo wäre das nicht der Fall. Es kommt nur darauf
an, welches Gewicht diesen divergenten Kräften beigemessen wird.
Willensstärke besteht dort, wo die Stimme abweichender Intentionen
in der konkreten Situation mehr oder weniger deutlich zurücktritt.
Man muss jedoch nicht verlangen, dass sie verstummt. 16 Frei zu han-
deln bedeutet, auf schwieriger Strecke, gegen äußere wie innere Wi-
derstände, den Kurs der eigenen Absichten halten zu können, einen
Kurs allerdings, der auf dieser Strecke selbst immer wieder neu be-
stimmt werden muss. Dies vermag nur, wer oft genug - wenn auch
nicht immer - den Kurs der eigenen bestenAbsichten zu halten ver-
mag. Etwas Übermenschliches liegt darin nicht. Im Gegenteil: Der je-
derzeit dem Scheitern ausgesetzte Versuch, einen nach eigener Über-
zeugung aussichtsreichen Kurs zu halten - dieser Versuch ist das
Menschliche.

16 Diese allzu starke Forderung stellt John McDowell in seiner Aristoteles-Lektüre auf,
in: ders., Mind, Virtue and Reality, Cambridge/Mass. 1998, 53 ff.
7.
An dieser Stelle könnte Sokrates die Gelegenheit zu einem Comeback
wittern. Wer etwas wirklichwill, so könnte er festhalten, dem steht die
Verirrung der Willensschwäche nicht offen. Warum sollten wir die
menschliche Handlungsfähigkeit also nicht von dieser besten ihrer
Möglichkeiten her verstehen und folglich sagen: Der paradigmatische
Fall des Handelns ist das willensstarke Handeln?
Wenn meine Überlegungen zutreffend waren, ist dies ein Angebot,
dem die Analyse des Handelns nicht erliegen sollte. Zum einen ist der
mit Frankfurt umrissene Begriff der Willensstärke mit dem sokrati-
schen Verständnis unvereinbar. Bei Sokrates beruht das unerschütter-
bare Handeln auf wahrhaftem Wissen, bei Frankfurt hingegen auf
wahrhaftem Wollen. Zum andern ist der im Anschluss an Frankfurt
entwickelte Begriff der Willensstärke ein durch und durch kompara-
tiver und konditionaler Begriff. Denn nur sofern und solangewir etwas
mit ganzem Herzen wollen, ist die Möglichkeit eines absichtlichen
Zuwiderhandelns ausgeschlossen. Diese Stabilität des Wollens aber ist
für den Begriff der Freiheit des Willens, aus dem ja das Problem der
Willensschwäche entspringt, alles andere als konstitutiv. Konstitutiv
ist vielmehr die Fähigkeit, so oder anders zu wollen. Wir können die
Willensschwäche nur von der Willensstärke, aber umgekehrt auch die
Willensstärke nur von der Willensschwäche her verstehen. Sokrates
entwirft ein höchst verzerrendes Modell eines seiner selbst sicheren
Handelns. Trotz der beständigen Kritik an Sokrates hat sich die phi-
losophische Diskussion bis heure noch nicht weit genug von diesem
Modell gelöst. Denn alle sind darin einig, dass die Schwäche des Wil-
lens, wenn auch eine nur allzu menschliche Angelegenheit, so doch in
jedem Fall eine Untugend ist.
Warum das falsch ist, sieht man wiederum am klarsten im Blick auf
die Stärke des Willens. Diese ist zwar eine unverzichtbare Fähigkeit
des Menschen, aber sie ist kein sinnvolles praktisches Ideal. Denn jede
der starken Festlegungen, denen wir vorbehaltlos folgen, könnte
gleichwohl schwach sein oder sich als schwach erweisen: sie könnte,
entgegen unserer gegenwärtigen Meinung, nicht darauf zielen, was
für uns das Beste ist. Schließlich steht auch das, was wir zu einer Zeit
vorbehaltlos wollen, unter dem Vorbehalt, dass das hierbei Erstrebte
für uns auch weiterhin unbedingt lohnend ist. Könnte sich dies nicht
ändern, wären wir Gefangene unseres Wollens; könnten wir zu dieser
Änderung nicht vorsätzlich beitragen, wäre es kein freies Wollen,
durch das wir uns jetzt gebunden wissen. Die grundsätzliche Instabi-
lität unserer praktischen Selbstverständnisse und Selbstverhältnisse ist
nicht nur ein Mangel unserer Orientierungen; sie ist auch eine Of-
fenheit für Orientierungen, die wir noch nicht gewonnen haben; sie
ist darüber hinaus eine Freiheit der Orientierung, die sich nicht im
Haben bestimmter Orientierungen erfüllt. Kein Zweifel, Willens-
schwäche ist aus der Perspektive der Handelnden zunächst einmal in
jedem Fall eine Schwäche. Aber sie ist nicht nur das; sie ist manchmal
auch ein erster Schritt in eine über kurz oder lang als richtig erkannte
Richtung. Außerdem ist sie ein genereller Indikator der Freiheit, die
wir auch gegenüber unseren vermeintlich oder tatsächlich besten Ab-
sichten haben.

8.

Um genau zu verstehen, warum jedes Vorkommnis von Akrasia


»zunächst einmal« eine Schwäche, aber doch nicht jede dieser
Schwächen auflängere Sicht ein Versagen ist, müssen wir die zeitliche
Stufung ihres Auftretens um ein weiteres Stadium ergänzen. Die oben
gegebene formale Definition der Willensschwäche hatte gelautet: »Ex
ante und ex post wird die Handlungsweise (vom Handelnden!) ver-
worfen, in situ hingegen wird sie ausgeführt.« Diese Bestimmung
bleibt korrekt, aber wir können sie jetzt differenzieren. Der Zeitpunkt
»ex post« kann sich auf eine Situation direkt nach dem Abfall vom ei-
gentlich Gewollten beziehen, oder aber auf eine spätere Situation, in
der die Handelnden aus einer gewissen Distanz auf die Abfolge der Si-
tuationen blicken, in denen sich das Drama der Willensschwäche ab-
gespielt hat. Unmittelbarnach der Situation des Versagens -wann das
ist, hängt ganz von der Art der Handlung ab; bei unserem Raucher ist
es der nächste Morgen - wird der Akrates seine Tat bedauern, bereu-
en und oft genug verfluchen. Mittelbarnach dieser Situation - also in
Situationen mehr oder weniger weit nach der Situation danach- wird
er dies in vielen Fällen nicht anders halten (nur das Fluchen wird lei-
ser werden). Aber nicht in allen Fällen. Denn der Handelnde kann zu
der Einsicht kommen, dass er eben dort, wo er zunächst glaubte, nach
seinen eigenen Standards schändlich gehandelt zu haben, das Richti-
ge oder doch wenigstens etwas Erlaubtes getan zu haben. In der Si-
tuation nach der Situation danach kann es sich für den Handelnden
so darstellen, dass seine Reue falsche Reue war. Dann - aber auch nur
dann - war der vermeintliche Akt der Willensschwäche für ihn der
Beginn einer neuen Stärke des Willens. Gewiss, auch für ihn wird es
Situationen nach der Situation nach der Situation danach geben, in
der auch diese Bewertung wieder revidiert werden könnte; aber das
gilt für uns alle. Wir müssen unseren jetzigen Einschätzungen unserer
selbst und der Welt vertrauen - und wir wissen doch, dass wir ihnen
niemals vollständig vertrauen können. Darum neigen wir zu
Schwächen, die sich manchmal sogar als Stärken erweisen.
Stellen wir uns nur für einen Augenblick einen Menschen - oder
schlimmer noch: eine Menschheit-vor, die diese Schwäche nicht hät-
te. Jedoch - wenn wir es damit auch nur ein bisschen genau nehmen,
wie man das gerade beim Imaginieren tun sollte, bemerken wir so-
gleich: das geht gar nicht. Es gleicht dem Versuch, sich ein rationales
Wesen vorzustellen, das nicht in der Lage wäre, auch einmal irrational
zu sein - das für gute Gründe nicht manchmal taub und für beste
Möglichkeiten nicht gelegentlich blind sein, das sich nur von etwas
überzeugen, nicht aber in etwas irren könnte. Es wüsste überhaupt
nichts von dem Wert einer wahren Überzeugung im Unterschied zum
bloßen Glauben. Es wüsste nichts von dem Wert einer guten Hand-
lung im Unterschied zum bloßen Machen. Es wüsste überhaupt
nichts. Es wäre ohne Orientierung. Die ganze Bedeutung der für un-
sere Selbstbeschreibung als handelnde Wesen nötigen Begriffe geht
verloren, wenn man die Ambivalenz der von ihnen charakterisierten
Fähigkeiten übersieht. Die besonderen Fähigkeiten des Menschen
schließen besondere Unfähigkeiten mit ein.

9.

Als Prüfstein für diese Behauptung dienen mir nochmals die beiden
Modelle, die ich im Anschluss an Davidson und Wolf entwickelt
habe. Können sie - jedes für sich und beide zusammen - plausibel ma-
chen, dass die Fähigkeit zur Akrasia ein Laster ist, das wir bei keinem
Tugendhaften missen wollen?
Vor allem das zweite Modell legt diesen Schluss nahe. Prozessuale
Willensschwäche ist Ausdruck eines unbewältigten Konflikts meiner
Orientierung. Ich bin mit mir selbst nicht einig, auch wenn ich bereits
auf ein leitendes Selbstverständnis festgelegt bin. Die willensschwache
Handlung ist hier das Zeichen einer Unsicherheit des Wollens und
Wertens, die jedoch, auf längere Dauer gesehen, nicht in jedem Fall
243
fatale Konsequenzen hat. Die stillschweigende Umdeutung, die der
Handelnde in seinem Selbstverständnis geschehen lässt, könnte auch
einmal der Anfang einer bewussten und bejahten Neudeutung sein.
Wer nie auch nur in die Nähe prozessualer Willensschwäche geraten
ist, lässt eine Offenheit im Umgang mit sich selbst vermissen, die zu
den Merkmalen eines lebendigen menschlichen Charakters gehört.
Denn diese Offenheit ist für die Möglichkeit autonomen Handelns
zentral. Autonom ist nur, wer es auch gegenüber seinen eigenen bis-
herigen Fesclegungen sein kann. Diese Autonomie zeigt sich in den
Episoden der Willensschwäche in einem oftmals bedauerlichen oder
desaströsen Gewand, aber sie zeigt sich auch hier.
Die klarsichtige Akrasia hingegen scheine eine schlichte Einbuße
an Konsequenz und Charakter zu sein. Wer absichclich tut, was er
selbst für die eindeutig schlechtere Wahl erachtet, zeigt einen Mangel
an Rückgrat, der sich schwerlich als prinzipielle Offenheit für anderes
und Besseres deuten lässt. Das, so scheint es, ist Untugend pur, wenn
auch nicht immer in moralischer Bedeutung, so doch zumindest als
Verrat am eigenen Besten. Und doch - wer nicht einmal Fünfe gera-
de sein lassen kann, hat nicht die Freiheit, die wir uns von einem frei-
en Menschen wünschen. Natürlich gibt es viele Situationen, in denen
Lässigkeiten dieser Art unverzeihlich sind, sei es bei der Erfüllung ei-
nes schwerwiegenden Versprechens, bei einem operativen Eingriff
oder einer musikalischen Performance. Aber ebenso gibt es Situatio-
nen, in denen offene praktische Irrationalität - darum handelt es sich
ja - durchaus verzeihlich ist. In ihr manifestiert sich eine irreguläre
Spontaneität des Handelns, die ein spiegelverkehrtes Zeichen der re-
gulären ist. Richtiges tun kann nun einmal nur, wer auch Unrichtiges
zu tun vermag. Klarsichtige Willensschwäche ist ein Beweis dafür,
dass wir in der Lage sind, uns nicht automatenhaft, sondern aus eige-
ner Motivation und Meinung heraus zu orientieren - um den Preis
freilich, nicht immer unserem besten Wissen den Ausschlag zu geben.
Wer dann und wann sehenden Auges die schlechtere Wahl trifft, zeigt
den anderen und sich selbst, dass er so frei ist, andere Absichten zu ha-
ben als die, die er die meiste Zeit hat.
Philosophischen Ohren mag das sophistisch klingen, aber es trifft
sich mit dem, wovon wir in der Begegnung mit anderen überzeugt
sind. Wir schätzen Leute, die nicht immer nur das ihrer eigenen Mei-
nung nach Richtige tun, oder von denen wir dergleichen wenigstens
erwarten können. Was wir hier schätzen, sind Menschen, die ihrer
selbst - und damit auch vor sich selbst - nicht ganz sicher sind. Aber
2 44
wer wollte das schon? Wer wollte vollständig über sich verfügen? Und
wer sollte es wollen, da doch niemals ganz sicher ist, ob sich das nach
bestem Wissen und Gewissen Bessere nicht schon übermorgen als das
alles in allem Schlechtere erweist?

245
13. Über das Böse in der Moral

Im Kino wie im Leben machen wir häufig die Erfahrung, dass die
Guten und die Bösen so verschieden nicht sind. Zumindest im Kino
machen wir außerdem die Erfahrung, dass die Guten, die eine Affi-
nität zum Bösen haben, uns oft als besser erscheinen als die, die ein-
fach nur gut sind - und dies nicht allein in einem ästhetischen, son-
dern in einem durchaus uneingeschränkten Sinn von »besser«. Der
good guy mit dem zynischen Image und Habitus des bad guy ist nicht
nur interessanterals der einfachhin und klarerweise Gute, er kann uns
in der Verkörperung etwa durch Humphrey Bogart auch als mensch-
lich oder charakterlich bessererscheinen als die ostentativ Guten. Ist es
möglich, sich den guten Menschen als den interessanteren Menschen
vorzustellen: interessanter als den einfachhin guten, interessanter
auch als den eindeutig bösen? - Das ist die Versuchsanordnung, auf
die sich Bogart mit seinen Darbietungen in Filmen wie Casablanca,To
Have and Have not, The Big Sleepoder KeyLargoeingelassen hat.
Eine Kritik der moralischen Ideale kann hieraus Lehren ziehen. Sie
kann sich angeregt fühlen zu einem Versuch, die guten Menschen in
etwas größere Nachbarschaft zu den interessanten Menschen zu brin-
gen.

Das Bogart-Theorem

Nennen wir die moralpsychologische Einsicht der erwähnten Filme


der Einfachheit halber das Bogart-Theorem. Der Name stehe als Ab-
kürzung für die durch einige klassische Filme mit Humphrey Bogart
geleistete Apologie des zweideutigen guten Menschen, unter großzü-
giger Ausblendung zahlreicher anderer Filme, Dramen und Romane,
von denen dies ebenfalls gesagt werden könnte. In seiner allgemein-
sten Formulierung besagt das Theorem, dass der gute menschliche
Charakter, der deutliche Züge eines bösen menschlichen Charakters
enthält, besser ist als derjenige gute menschliche Charakter, der diese
Züge nicht enthält. Kurz: Der gute Mensch ist nicht ganz so gut wie
der nur gute Mensch.
Es könnte also auch von einem Bogart-Paradox die Rede sein. Al-
lerdings entsteht das Paradox erst durch die Zuspitzung der Einsicht,
die der längere Satz ausspricht. Das Bogart-Theorem wird nur dann
246
zum Paradox, wenn man es auf der Basis ebenso verbreiteter wie
falscher Prämissen des moralphilosophischen Denkens formuliert.
Das Paradox verschwindet und verwandelt sich in ein echtes Theo-
rem, sobald einige hartnäckige Vorurteile über den guten Menschen
einer Revision unterzogen werden.
Damit dies geschehen kann, sind einige Lesarten des Bogart-Theo-
rems zu unterscheiden. Denn nur in seiner stärksten Lesart ist es theo-
retisch brisant, und nur in dieser Fassung ist es wahr.
Das Ausgangstheorem kann auf eine doppelte Weise stark und
schwach gelesen werden.
In einer ersten schwachenLesart besagt es nur, dass tugendhafte
Charaktere, die irgendwie auch vom Bösen affiziert oder infiziert
sind, menschlich interessanter sind als jene, die es nicht sind. Das ist
gewiss richtig, aber es wird von keinem vernünftigen Menschen be-
stritten. Schließlich sind die fraglichen Leute komplexer und führen
uns die Komplexität menschlichen Daseins auch besser vor Augen.
Zu einer interessanten - zur erstenstarken - Lesart gelangen wir erst,
wenn wir sagen, die auf unreine Weise rugendhafren Menschen seien
nicht nur allgemein menschlich, sondern auch und gerade moralisch
besser als ihre reinen Verwandten. Trivial ist diese Auffassung sicher-
lich nicht. Auch sie aber trifft zu.
In einer zweiten schwachenLesart besagt das Bogart-Theorem, in
der Welt, wie sie nun einmal ist, sei es besser, wenn auch die eigent-
lich guten Menschen einige der Verhaltensweisen und Charakterzüge
aufzuweisen hätten, die eigentlich die Spezialität ihrer Widersacher
seien. Nur so seien die Kräfte und Mächte des Bösen unter Kontrolle
zu halten oder dereinst zu besiegen. Auch diese Lesart ist keineswegs
falsch. Wer die Tricks und Strategien des Bösen nicht bis zu einem ge-
wissen Grad selbst beherrscht, wird die Position des Guten kaum lan-
ge halten können. Dabei ist allgemein bekannt, wie schwierig es ist,
den Grad zu bestimmen, bis zu dem man die Strategien des Bösen
übernehmen und doch aufseiten des Guten bleiben kann (ein »An-
wendungsdiskurs«, den Literatur und Film ebenfalls seit langem
schon führen). Auch hier aber führt erst die zweite starke Lesart auf
wirklich kontroversen Boden. Sie besagt, dass es in jeder denkbaren
Welt besser ist, wenn die gleichwohl Guten einige der Charakterzüge
und Verhaltensweisen der eigentlich Bösen aufzuweisen haben. Selbst
in der besten aller denkbaren Welten wäre es schlechter, wenn die rei-
nen Guten das Sagen hätten. Unter allen Umständen wäre es besser,
würden die Guten ihre Verwandtschaft mit den Bösen bewahren.
247
Die beiden starken Lesarten zusammengenommen lautet die The-
se: Diejenigen Guten, die in Verwandtschaft mit dem Bösen leben,
sind grundsätzlich - in moralischer, allgemein menschlicher, erst
recht in ästhetischer Hinsicht - besser als die, die das Böse ganz aus
sich herausgewaschen haben.

Gut oder interessant?

Es ist ein in Neuzeit und Aufklärung, bei Montaigne und Diderot,


Hume und Kant, Jean Paul und Hegel, in der Moraltheorie nicht we-
niger als in der Poetik (aber auch schon im Neuen Testament, in der
Episode mit Maria und Martha) viel diskutierter Topos, ob der gute
Mensch auch ein interessanter Mensch sein könne und erst recht, ob
er so interessant sein könne und dürfe, wie der nicht so gute - mora-
lisch dubiose bis verwerfliche - Charakter es auf der Bühne und im
Leben häufig ist. Dabei wurde es nicht selten - wie in der zweiten
schwachen Lesart unseres Satzes - als Zeichen einer gefallenen oder
verkommenen Welt gedeutet, dass Charakteren, die ihr Leuchtendes
auch aus ihren dunklen Seiten beziehen, mehr Bewunderung zuteil
wird als jenen reinen Herzen, die doch allen Erfolg und alle Bewun-
derung so viel mehr verdient hätten. In einer guten, wohlgeordneten
Welt, so wurde gefolgert, würde dies oder müsste dies anders sein.
Hier würde das Beispiel der wahrhaft Guten auch ohne dunkle Hin-
tergründe leuchten.
Die starke Lesart des Bogart-Theorems weist in eine andere Rich-
tung. Es könnte zur Konstitution einer unverlogenen Moral und ei-
ner unverdorbenen Lebensführung gehören, gegenüber dem Bösen
eine Haltung nicht der Ausmerzung, sondern der Anverwandlung zu
kultivieren. Elemente dessen, was außerhalbder Moral als böse zu
klassifizieren wäre, könnten innerhalbder Moral ein tragendes Mo-
ment ihrer Rücksichten sein. »Außerhalb der Moral« bedeutet hier:
Verhaltensweisen und Einstellungen, in denen die Rücksicht auf an-
dere kein großes Gewicht hat; »innerhalb der Moral« hingegen: Ver-
haltensweisen und Einstellungen, deren Spielräume von vornherein
durch solche Rücksichten begrenzt sind. Es handelt sich also um zwei
grundverschiedene Haltungen. Jedoch gibt es viele Bestandteile -
Motive, Handlungen, Reflexe, Redeweisen -, die auf der einen wie
auf der anderen Seite ihren Platz haben können. Wird nach der Be-
deutung von Verhaltensmustern gefragt, die auf den ersten Blick eher
248
zum Repertoire des bösen als.des guten Menschen gehören, so lässt
sich beobachten, wie verschieden und doch verwandt Moral und Un-
moral tatsächlich sind.
Das Bogart-Theorem sagt also keineswegs, im Grunde bestehe
nicht wirklich ein Unterschied zwischen beiden. Es schlägt nur vor,
die Unterscheidung anders zu treffen. Es geht ihm nicht um das Böse
an der Moral, sondern allein um das Böse in ihr. Es thematisiert ein
Verhalten, das, sofern es im moralischen Verhalten seinen Platz findet,
nicht im eigentlichen Sinn böse ist, obwohl es, sobald es nicht hier sei-
nen Platz findet, im eigentlichen Sinn böse ist.

Moral und Geschmack

»Welche geschichtlichen Gestalten verachten Sie am meisten«? - »Ich


ziehe es vor, nicht zu verachten.«
Diese Reaktion auf eine der Fragen in Prousts Katalog könnte die
maliziöse Antwort eines Zynikers sein, der sich dem Moralspiel ver-
weigert, oder aber die lakonische Antwort eines Moralisten, der die
Sprache der Moral auf eine ausgezeichnete Weise spricht. Im ersten
Fall wird die Sache der Moral durch den subjektiven Geschmack er-
setzt - was zählt, sind die eigenen Interessen und Innervationen; für
moralische Empörung bleibt da kein Platz. Im zweiten Fall dagegen
wird lediglich die Spracheder Moral durch diejenige der subjektiven
Präferenz ersetzt - was moralisch zählt, wird ausgedrückt, als sei es
Angelegenheit des Einzelnen allein; es wird eine Haltung entworfen,
die sich der reflexhaften Empörung verweigert. Der moralischen Sa-
che wird unter Verzicht auf eine ausdrücklich moralische Sprache ge-
dient.
Figuren wie die von Bogart - in seinen zwielichtig moralischen
Rollen - gespielten machen deutlich, dass der Sache der moralischen
Rücksicht hierdurch bessergedient sein kann. Wer seine Interessen auf
eine Weise vertritt, die mit moralischen Verhaltensweisen kompatibel
ist, muss sich nicht lange aufplustern. Er gestikuliert nicht mit
Grundsätzen, sondern hat sie, und zeigt dies im Notfall, wenn die an-
deren längst Zuflucht im Scharren des Üblichen suchen. Im Jargon
des subjektiven Vorzugs, in dem der Typus Bogart solange wie mög-
lich verweilt, spricht sich außerdem die Wahrheit aus, dass jeder Ein-
zelne selbst für sein Verhalten zu den anderen einstehen muss. Wer
nicht subjektiv, als Person, hinter seinen moralischen Stellungnah-
249
men stehen kann, folgt nur den Automatismen konventionsgebunde-
nen Handelns und ist als moralische Person gerade nicht ernst zu neh-
men. Wer die Moral nicht verbinden kann mit dem, was er individu-
ell bevorzugt und verabscheut, heißt das, wird zu echter moralischer
Motivation nicht gelangen. Echte moralische Motivation, so zeigt
sich hier, ist etwas ganz anderes als reine moralische Motivation: Wer
den Geboten der Moral nur um dieser Gebote willen gehorcht, ge-
horcht der Moral nur, anstatt freies Subjekt seines moralischen Han-
delns zu sein.
Schon Kant, der an der Idee einer reinen moralischen Motivation
- aus »Achtung vor dem Gesetz« - strikt festgehalten hat, wurde den-
noch nicht müde zu betonen, es sei unmöglich, zu wissen, ob und
wann wir tatsächlich aus reiner moralischer Motivation handeln. Da
ist es freilich besser, gar nicht erst so zu tun, als sei es reine moralische
Motivation, die einen antreibt, als vielmehr, im Einklang mit der mo-
ralischen, die eigene Sache zu betreiben. Rücksicht und Rhetorik der
Rücksicht sind schließlich zweierlei. Wer seine moralische Haltung in
die einfache Sprache des Vorzugs kleidet, hat sich den Rückzug in eine
bloße Rhetorik der Rücksicht versperrt. Die unmoralische Sprache
der Präferenz wird hier zur eigentlich moralischen Sprache.
Sie wird es aber nur aus dem Mund dessen, der moralisch ist. Nur
unter Voraussetzung einer moralischen Einstellung ist die Sprache des
Vorzugs die glaubhaftere moralische Sprache. Entfällt diese Voraus-
setzung, so hören wir die Stimme des Amoralisten, der nur auf die
Stimme seiner Neigungen hört und die anderen nur solange achtet,
als sie die Erfüllung seiner Begierden nicht behindern. Er mag - wie
in unserem Beispiel - genauso reden wie der unreine Moralist, den-
noch bedeuten seine Sätze etwas ganz anderes. Sie bedeuten - a la
Nietzsche -, dass zwischen moralischem und geschmacklichem Sinn
eigentlich kein Unterschied besteht. Moralische Normen erscheinen
als nichts weiter als verfestigte geschmackliche Voten, auch wenn die
Dummen und Ängstlichen nur zu gerne vergessen, dass das so ist. Wer
dieses angebliche Vergessen verweigert und dem sozialen Druck zur
moralischen Konformität widersteht, erteilt dem eigenen subjektiven
Belieben das erste und das letzte Wort.
Auch der Bogart-Typus widersteht der moralischen Konvention,
und auch er weigert sich, die Verbindung zwischen der Moral und
dem Belieben zu vergessen. Auch bei ihm hat es das erste Wort. Nur
nicht das letzte. Selbst wenn er es (wie in unserem Beispiel) vorzieht,
auch dieses letzte Wort in die Sprache des Beliebens zu kleiden, so tut
er dies doch nicht im Namen nur seines Beliebens, sondern auch im
Namen des Beliebens der anderen. Sein Belieben ist so verfasst, dass er
es nicht ausstehen kann, wenn anderen mit Gewalt die Freiheit ihres
Beliebens genommen wird. Deswegen rafft er sich, wenn es sein muss,
zur riskanten moralischen Handlung auf. Aus Gründen der Selbst-
achtung bleibt ihm nichts anderes übrig. Die Orientierung am bloßen
Geschmack, ansonsten das genaue Gegenteil moralischen Verhaltens
- ich missachte die Leute, die mir missfallen -, wird hier zu ihrem
Wahrzeichen: ich achte die Leute, auch wenn sie mir missfallen, weil
ich es vorziehe, als Freier unter Freien zu leben. Der wahre Moralist ist
ein ironischer Amoralist. Er spricht die Sprache der subjektiven Will-
kür als Anwalt einer allgemeinen Rücksicht auf sie.

Tugend ohne Tugend-Schein

In seinem Reden und Handeln macht der unreine Moralist deutlich,


dass Moral entgegen anders lautenden Gerüchten eben kein Selbst-
zweck ist. Sie ist dazu da, möglichst alle so leben zu lassen, wie es ihr
oder ihm beliebt. Das ist alles. Deswegen meidet er die fettgedruckte
moralische Rede, die leicht vergessen lässt, dass nicht die Pflicht, son-
dern die Präferenz das eigentliche Telos moralischen Verhaltens ist.
Sein ganzer Sinn liegt in der Ermöglichung einer freizügigen Befrie-
digung subjektiver und intersubjektiver Präferenzen, was freilich eine
manchmal empfindliche Limitierung dieser Präferenzen notwendig
macht. Für diesen Ermöglichungssinn der Moral hat weder der Amo-
ralist noch der reine Moralist einen Sinn; sie beide glauben, Moral ste-
he und falle mit dem - scheinbar oder tatsächlich - selbstzweckhaf-
ten, um seiner selbst willen auszuübenden Sinn von Moral. Diesem
Glauben gegenüber verhält sich der Bogart-Typus durch und durch
zynisch. Dieser Zynismus aber ist Treue zu einem verkannten morali-
schen Ideal. Indem er »zynisch« agiert, verleiht er dem moralischen
Verhalten einen anderen Sinn, als es die lautstarken - in seinen Augen
bigotten - Moralisten in heimlicher Übereinstimmung mit den Amo-
ralisten tun.
Für ein modernes Verständnis moralischer »Tugend« ist dies eine
exemplarische Situation - ein prima facie lasterhaftes Verhalten tritt
alfTugend in Erscheinung. Wir werden Zeuge von Untugenden, die
im Rahmen einer moralischen Einstellung eine gesteigerte Tugend zur
Folge haben. Bewirkt wird diese Steigerung durch eine Verringerung
des Tugend-Scheins. Dieser stellt sich nicht in erster Linie als Illusion
oder Täuschung dar, er besteht vorwiegend in einem Verhalten, das
darauf bedacht ist, die eigene Tugend erscheinen und strahlen zu las-
sen. Freilich lebt solche Ostention stets in der Gefahr, sich doch in ei-
nen bloßen Schein der Tugend zu verwandeln; es wird weiter tugend-
haft getan, obwohl die Tugend längst nichts weiter als ein Anschein
ist.
Der wirklich Tugendhafte hingegen strahltseine Tugend nicht aus,
er behält sie für sich. Moralisch zu sein, ohne moralisch auftreten zu
müssen-das ist das Ideal des unreinen Guten. Er verhält sich ironisch
nicht nur zur Konsequenz des Amoralisten, sondern ebenso zur Kon-
sequenz des pflichtversessenen Moralisten. Der ironische Böse ist
ebenso ein ironischer Guter. Sein Verhalten steht jenseits von Gut und
Böse, jedoch nur in einer bestimmten Definition von »gut« und von
»böse«,in der die praktische Ironie einer subjektiven Verteidigung all-
gemeiner subjektiver Freiheiten aus dem Blick geraten ist.

FalscheHeilige

Eine Theorie der Tugend, die sich an dem aktuellen Tugend-Kitsch


nicht beteiligen will, kann sich an dieses Ideal halten. Sie erhebt nicht
die schöne Seele zum Vorbild, die es zu einer Entzweiung von Pflicht
und Neigung gar nicht gebracht hat, sondern den unwilligen Guten,
der sich zur auffällig moralischen Handlung erst überwinden muss -
der die moralische Tat nicht mit einem Lied, sondern mit einem Fluch
auf den Lippen übernimmt. Sie verwechselt das Menschlich-Sein
nicht mit dem Moralisch-Sein, wie sehr dieses auch zu jenem gehört.
Sie verliert die notwendige Spannung zwischen beidem nicht aus den
Augen. Sie macht nicht den Heiligen zu ihrem Helden.
»Die völlige Angemessenheit des Willens aber zum moralischen
Gesetz ist Heiligkeit,eine Vollkommenheit, deren kein vernünftiges
Wesen der Sinnenwelt, in keinem Zeitpunkte seines Daseins, fähig ist.
Da sie indessen gleichwohl als praktisch notwendig gefordert wird, so
kann sie nur in einem ins Unendliche fortgehenden Progressus zu je-
ner völligen Angemessenheit angetroffen werden, und es ist, nach
Prinzipien der reinen Vernunft, notwendig, eine solche praktische
Fortsetzung als das reale Objekt unseres Willens anzunehmen.«
In der Kritik derpraktischenVernunftlässt sich Kant zur Buchsta-
bierung einer reinen Moral verleiten, die den offen zugestandenen
252
Nachteil hat, dass kein Sterblicher ihr zu entsprechen vermag. Reich-
lich verzweifelt ist die Lage eines jeden, der Vorgaben erfüllen soll, die
er per definitionem nicht erfüllen kann. Diese Überforderung des
moralischen Akteurs ist ein durchaus beherrschender Zug der Moral-
philosophie von Platons Zeiten an (selbst der exzeptionelle Humanis-
mus eines Aristoteles oder Hume ist von einer Überstilisierung des
guten Menschen nicht frei). Wohl dürfen moralische (und sonstige)
Ideale einen unwahrscheinlichenZustand auszeichnen, aber einen un-
möglichen- das nicht. Nicht allein in der Theorie, erst recht in der
Praxis ist das Ideal des Heiligen selbstdestruktiv. Wenn uns die Chan-
ce seiner - wie immer riskanten - Erfüllung von vornherein genom-
men ist, wird es, um das Mindeste zu sagen, außerordentlich schwer,
ein Motiv auszubilden, der Norm dieses Ideals zu folgen.
Das Ideal des Heiligen aber überfordert die moralischen Subjekte
nicht nur, es unterfordert sie auch. Es erspart ihnen, den Konflikt mit
sich und den anderen als den eigentlichen Schauplatz moralischer
Praxis anzuerkennen. Es erspart ihnen die Freuden und Leiden einer
auf diesem Schauplatz erworbenen und erhaltenen Selbstachtung, die
das, was sie wirklich wollen, in eine Balance mit der Wirklichkeit des
Wollens der anderen zu bringen versucht. Es erspart ihnen die volle
Wahrnehmung der Wirklichkeit menschlichen Wollens. Es erspart
ihnen die volle Wahrnehmung der Menschlichkeit dieses Wollens
mitsamt der kulturellen, sozialen und politischen Welt, in der es sich
äußert. Außerdem stünde der Heilige, dieser reine Gute, gäbe es ihn,
psychologisch gesehen in einer seltsamen Nähe zum reinen Bösen,
verstanden als jener, der einfachhin tut, was ihm beliebt. Denn beide
sind auf eine Weise mit sich einig, die sie scharf von den Entzweiun-
gen einer moralischen Lebensführung trennt. Sie tun nichts weiter als
das, was ihnen beliebt, nur dass das Belieben des einen durch ein psy-
chologisches Wunder stets mit dem moralischen Gesetz konvergiert.
Sie sind in ihrer Lebensweise nicht irritierbar, weder durch die ande-
ren, noch durch sich selbst. Nicht nur dem reinen Bösen, auch dem
reinen Guten ginge der mora!seme ab.

Zwei Modelle
Humphrey Bogart in den erwähnten Rollen ist zwar - letztlich, und
auf exponierte Weise - gut, aber ein Heiliger ist er nicht. Sein Wider-
willen gegen die Moral ist nicht nur einer gegen falsche Moralisten, er
253
ist auch einer gegen die Konsequenzen der moralischen Forderungen,
denen er selbst sich stelle. Er kann sich der Pflicht zum Widerstand ge-
gen die jeweiligen Mächte des Bösen nicht entziehen, auch wenn er
viel lieber nur seinen Privatinteressen nachgehen würde. Er kann es
mit sich nicht vereinbaren, einfach das zu tun, was ihm viel näher liegt
als die moralische Aktion. Er ist mit sich im Konflikt, und er löse ihn
so, dass er sich auch für die anderen einsetze (oder gegen alle beteilig-
ten anderen ein paar Grundsätze minimaler Humanität verteidigt). Er
tut dies aber nicht auf dem Weg einer Konversion des Saulus zum Pau-
lus, sondern um auch künftig mit sich im Reinen sein zu können, als
jemand, der wesentlich seinen Privatinteressen folgt. Er macht kei-
nerlei Anstalcen, das individuelle und das allgemeine Interesse inein-
ander aufgehen zu lassen. Daran glaubt er gerade nicht. Nicht dafür
begibt er sich in Gefahr. (Weit eher sind es seine Kontrahenten, die
diese Differenz aufheben wollen.) Er kämpft für seinen Handlungs-
spielraum, den er zwar (vorläufig wenigstens) auch durch ein Sich-
heraushalten retten könnte, von dem er aber sieht, dass die anderen
ihn ebenfalls brauchen. Auf diese Weise transzendiert er sein Eigenin-
teresse zugunsten von Maßnahmen, die die zugelassene Differenz der
Eigeninteressen sichern helfen sollen. Die moralische Handlung ist
ihm nicht die eigentlich menschliche Handlung. Sie bleibt Medium
der Sicherung oder Wiederherstellung eines Spektrums ungezwunge-
ner menschlicher Handlung.
Es ist daher ganz unmöglich, aus dem Bogart-Typus so etwas wie
eine runderneuerte Version des reinen Guten zu gewinnen. Gewiss,
auch er möchte »mit sich im Reinen« sein. Das heißt aber nur, dass er
nach seinen Standards entscheiden möchte, was zu tun und was zu
unterlassen ist. Im Falle Bogarts sind dies auch moralische Standards,
denen er nicht zuwiderhandeln kann, wenn er sich für die Wirklich-
keit der anderen nicht blind machen will. Zu diesen Standards aber
gehören gleichermaßen die höherstufigen eigenen Präferenzen, die
ihn nicht weniger zu dem machen, der er ist und sein will. Diesen Prä-
ferenzen hält er in der Krise durch seinen Unmut über das moralisch
Erforderliche die Treue. So kann er in der gefährlichen Handlung der-
jenige bleiben, der er ist, ohne den Heiligenschein eines Tugendbolds
aktivieren zu müssen. So kann er - im Kino - der Held sein, der nicht
den Helden markiert. Auch im Leben aber gilt: Wer kein falscher Hei-
liger sein will, muss deswegen noch lange kein Heiliger sein.
Bogarts Maxime lautet: Verhalte dich so weit wie möglich egoi-
stisch. Dies ist eine durchaus moralische Maxime, denn das »so weit
254
wie möglich« bedeutet hier »solange wie moralischmöglich«. Die Ma-
xime des Heiligen dagegen lautet: überwinde den Egoismus deines
Willens. Dieser Gute hat alles der moralischen Rücksicht Widerstre-
bende überwunden. Er ist vor dem Bösen sicher- damit aber auch vor
aller Unsicherheit der menschlichen Situation, in der ja keineswegs
ein für alle Mal festliegt, was gutes und schlechtes Verhalten ist. Der
reine Gute wird darum in seinem Charakter unfreiwillig zu einem
Komplizen des Bösen, der sich um die veränderliche Wirklichkeit des
menschlichen Wollens und Wünschens nicht schert. Der wirklich
Gute hingegen, wie gesagt, ist der, der einige der Talente des Bösen als
Tugenden hat. Er ist in der Lage, seinen Neigungen, Obsessionen,
Sympathien und Antipathien, Privatinteressen usw. zu folgen, und
behält deshalbeinen Blick für die Wirklichkeit der anderen, die wie er
mit sonderbaren Interessen in einer besonderen Lage sind.
Wie in der reinen Moral die exorzierte Untugend erscheint hier die
integrierte Untugend als Optimierung der Tugend. Im ersten Modell
sind die Guten die, die alle Untugend aus sich ausgetrieben haben. Im
zweiten Modell sind es die, die die Energien des Lasters in eine mora-
lische Lebensweise zu integrieren vermögen. Diese guten Menschen
sind aber nicht nur die komplexeren und deshalb interessanteren, sie
sind auch, wie das Bogart-Theorem lehrt, die besseren Menschen. So
wäre das Gute wesentlich eine Kultivierung des Bösen. Die Verbrei-
tung desjenigen Guten, das alle Energien des Bösen in sich stillgelegt
hätte, wäre ihm gegenüber der Vorstoß in eine neue Barbarei, nicht
unähnlich jener, in die nicht zurückzufallen die Partei der unreinen
Guten sich seit jeher mit schwankendem Erfolg bemüht.

Die Macht und das Herz

»Bin ich Jesus«?- Diese in den achtziger Jahren aufgekommene Flos-


kel dient sich überlastet fühlenden Akteuren zur Entpflichtung von
moralischen Ansprüchen, deren Berechtigung sie mit Gründen nicht
zu bestreiten vermögen. Die Wirksamkeit der Formel verdankt sich
einer doppelten Operation. Mit ihrem Gebrauch wird ein extremes
moralisches Ideal unterschrieben, dessen Geltungsbereich man sich
im selben Augenblick entzieht. Die Phrase funktioniert wie ein
falscher Eid. Sie lässt den Sprecher auf eine Sache schwören, an die er
nicht zu glauben gedenkt. Wer sie benutzt, unterwirfr sich dem Ideal
des Heiligen, um bedauernd zu versichern, vom Menschen wie Du
2 55
und Ich sei es nun einmal nicht zu erfüllen. - Eine Moraltheorie, die
sich in unerreichbaren Idealen gefallt, muss eine ähnliche Rhetorik
bemühen. Sie kann ihre Position nur besetzen, indem sie stillschwei-
gend Wege weist, die es erlauben, diese Position mit gutem Gewissen
zu räumen.
Wer dem moralischen Denken auf diesen Wegen nicht folgen will,
darf die Moral nicht einfach in den guten Herzen und die Unmoral
nicht einfach bei den bösen Mächten lokalisieren. Die reinen Guten
vertrauen auf die Macht ihres Herzens - zumeist vergeblich. Die mehr
oder minder Bösen dagegen vertrauen auf die Macht ihrer Mittel -
mit guten Aussichten auf Erfolg. Die unreinen Guten dagegen - und
die Gemeinschaften, zu denen sie sich zusammenschließen - setzen
ihr Vertrauen in die Macht von Rechten: von Rechten, die sie einan-
der zugestehen, mit der Möglichkeit, sie gegen diejenigen durchzu-
setzen, die einen in freier Vereinbarung zum Recht gewordenen An-
spruch verletzen. Dieser Partei, die Gerechtigkeit durch Rechte si-
chern will, geht es nicht darum, das Regime der Macht durch das des
Herzens zu ersetzen, es geht ihr nicht um eine Austreibung der Kräf-
te, die gegen ein rücksichtsvolles Zusammenleben wirken. Es geht ihr
vielmehr darum, diese Kräfte durch die Macht des Rechts zu binden
und zu verwandeln, eines Rechts, das allen die Macht und die Mög-
lichkeit lässt, aus ihrem Herzen keine Mördergrube zu machen.
Die Idee eines gesatzten und prozedural gesicherten Rechts könn-
te von einer Moral der reinen Herzen nur als ein Provisorium begrif-
fen werden. Dieses hätte als Platzhalter eines wirklich moralischen
Zustands herzuhalten, solange - nun, solange sich das soziale Leben
unter den historisch bekannten Bedingungen des Miteinanderaus-
kommenmüssens endlicher Wesen vollzieht, die Subjekte ihres verän-
derlichen Wünschens und Wollens sind. Solange es diese Subjekte
und ihre notorisch unsicheren Lebenslagen aber gibt, solange wird
dieser Zustand auch dauern. Eine revidierte Theorie - wie sie gerade
in der Kantischen Rechtstheorie vorliegt- versteht die Institution des
Rechts daher nicht als ein Provisorium, sondern im Gegenteil als tra-
gendes Medium sozialer und staatlicher Regelung, dem es wesentlich
ist, immer wieder durch die, deren gesellschaftliches Verhältnis es re-
gelt, überprüft zu werden. Auch die modernen Demokratien, heißt
das, sind Versuche nicht einer Überwindung, sondern einer Anver-
wandlung des Egoismus ihrer Mitglieder, krass gesagt: einer Kultivie-
rung des Bürgerkriegs (über die Hobbes'sche Bändigung hinaus), so
dass dieser im Innern der Gesellschaft, aus kontroversen Positionen,
aber mit friedlichen Mitteln, in Anerkennung der streitenden Partei-
en, unter Umwandlung der Energien eines exzessiven Eigennutzens
stattfinden kann. Eine Moral ohne falsche Ideale ist keine Angelegen-
heit der Moral allein.

257
14. Drei Regeln für Utopisten

Von Utopien sollte nur sprechen, wer bereit ist, sie ernst zu nehmen.
Die Abschaffung des Mountainbikings oder die Einführung eines
Dosenpfands wären natürlich eine schöne Sache, aber dergleichen ist
machbar; Utopien sind es nicht. Utopien sind in Raum und Zeit un-
erreichbare Zustände, deren Erreichbarkeit dennoch gedacht werden
kann und gedacht werden soll. Sie soll gedacht werden, um innerhalb
des Wirklichen den Sinn für das Mögliche zu schärfen. Das ist eine
natürliche Bestrebung von Wesen, die über ihre Situation hinausden-
ken können. Die Frage ist nur, wie gut sie das können - und wie gut
sie es tun.
Mit dem Hinausdenken über die gegenwärtige Lage ist es allein
nicht getan. Denn das geschieht allezeit: wir erinnern uns, wir planen,
wir phantasieren. Auch dass wir uns dann und wann unwahrscheinli-
che Ziele setzen, ist noch keine utopische Handlung. Zu dieser
kommt es erst, wo Zustände normativ ausgezeichnet werden, die die
Reichweite des historisch und biographisch Absehbaren eindeutig
überschreiten. Gemessen an der jeweiligen Wirklichkeit sind Utopien
außerwirkliche Zustände, deren Imagination der Gegenwart auf die
Sprünge helfen soll.
Das utopische Denken macht sich dabei den Umstand zunutze,
dass die von ihm überbotene Wirklichkeit selber ein Ineinander von
Möglichkeit und Unmöglichkeit ist. Die Realität des menschlichen
Lebens besteht aus einer unübersehbaren Fülle von Möglichkeiten,
die dem Handeln teils offenstehen, teils verschlossen sind. Ich kann
meinen Körper nicht verlassen, ich kann nicht älter als mein älterer
Bruder sein, ich kann nicht Weltmeister im Schwergewicht werden,
ich kann in einer Stunde den Zug nach Berlin nehmen, ich kann im
Foyer des Theaters Purzelbäume schlagen, ich kann in die FDP ein-
treten. Alle diese Möglichkeiten und Unmöglichkeiten begegnen uns
im Kontext von - nicht selten konkurrierenden - Gewichtungen,
durch die ihnen ein bestimmter Wert beigemessen wird. Entspre-
chend gilt ihre Zugänglichkeit als Vorteil oder Nachteil sowie ihre
Realisierung als lohnend oder schädlich, anständig oder unanständig,
als Zeitvertreib oder als Pflicht. In der Folge erscheinen im gesell-
schaftlichen wie im privaten Umkreis lediglich bestimmte Möglich-
keiten als eine ernst zu nehmende Option, während andere überhaupt
nicht als Möglichkeiten zu Bewusstsein kommen. Hier setzt die Ope-
258
ration des utopischen Denkens an. Es verzerrt und verzeichnet den
Spielraum, der dem pragmatischen Handeln in der jeweiligen Gegen-
wart gegeben ist. Es zeichnet ihm Möglichkeiten ein, mit denen dort
nicht gerechnet werden kann. Es rechnet Möglichkeiten hoch, die
sich dem realistischen Kalkül entziehen. Es versuche, absehbar zu ma-
chen, was nicht absehbar ist. Utopien sind unmögliche Möglichkei-
ten, die mögliche Möglichkeiten sichtbar werden lassen.
Diese Definition umfasst positive wie negative, vorwärtsgewandte
wie rückwärtsgewandte, politische wie private Utopien gleicher-
maßen. Sie alle entwerfen Zustände, die noch nie dagewesen oder
längst vergangen sind. Indem sie das tun, rufen sie Möglichkeiten ins
Bewusstsein, die künftig ergriffen oder vermieden werden sollen. Sie
betreffen die Situation einzelner oder weniger Individuen oder einen
allgemeinen gesellschafi:lichen Zustand. Stets aber ist dies ein Zu-
stand, der in der geschichtlichen Welt keinen Ort hat und der ihren
Angehörigen gerade deswegen Orientierung verleiht.
Jedenfalls ist das der Anspruchvon Utopien. Dieser hat es in sich.
Wie sehr, das sollen drei Regeln deutlich machen, die von den Utopi-
sten der älteren und jüngeren Vergangenheit in der Regel verletzt wor-
den sind.

Erste Regel: Denkbarkeit

Das utopische Denken muss einfachen Anforderungen der Logik


genügen: was es entwirft, darf nicht nur vorstellbar, es muss, auf der
Basis des verfügbaren Wissens, tatsächlich denkbar sein. Entgegen an-
ders lautender Gerüchte ist die Utopie kein Zweig der phantastischen
Literatur. Diese vermag sich, intelligentes Kalkül und zwingende An-
schauung vorausgesetzt, über die Logik nach Belieben hinwegzuset-
zen - sie kann Fahrten jenseits der Lichtgeschwindigkeit oder andere
Zeitreisen veranstalten, von denen wir beim besten Willen nicht wis-
sen, wie das gehen sollte. Utopien hingegen müssen in einem ele-
mentaren Sinn »gehen«; der von ihnen ausgezeichnete Zustand muss
konsistent denkbar sein. Dass keiner mehr hungern muss, dass es kei-
ne Kriege mehr gibt - dergleichen ist denkbar, auch wenn es alles an-
dere als erwartbar ist.
Ein anderes Beispiel sind rückwärtsgewandte Utopien. In seinem
Nachruf auf Hans Mayer hob Gustav Seibt in der Zeit vom 23.5.2001
den Abstand des Verstorbenen zu verwandten Geistern wie Ernst
2 59
Bloch oder Herbert Marcuse hervor. Mayers am Ende seines Buchs
über die Außenseiter offenbarte Utopie sei die höfische Gesellschaft
des 18. Jahrhunderts. »Damals konnten Frauen wie Katharina II. oder
Maria Theresia als Kaiserinnen regieren; Homosexuelle wie Friedrich
der Große von Literaten wie Voltaire verspottet werden, ohne dass es
ihnen schadete. Im Gewühl der Höfe stiegen Juden zu führenden Po-
sitionen auf. Die Literatur war kühn, frei und verantwortungslos, die
Gesellschaft ein einziges brillantes Gespräch. Eine Welt der Ungleich-
heit, der Eleganz, der starken Individualitäten.« Für die utopische Er-
findung ist es dabei unwichtig, in wie geringem Maß es diese stilisier-
te Welt tatsächlich gegeben hat; es muss sie nur gegeben haben kön-
nen. Auf dieser Basis zeichnet der Autor ein Bild des Umgangs mit
menschlicher Ungleichheit, das Möglichkeiten aufscheinen lässt, die
in der Gegenwart nicht länger wahrgenommen werden.

Zweite Regel:Erfüllbarkeit

Die Regel der Denkbarkeit aber ist nur die Grundregel für die Her-
stellung von Utopien. Die Hauptregel ist eine andere. Sie besagt: Der
unabsehbare utopische Zustand muss dennoch ein erfüllbarer Zu-
stand sein. Wir müssen nicht nur wünschen, sondern wollen können,
in dem utopischen Zustand zu sein.
Wünschen kann man allerlei. Noch einmal 17 zu sein, den Frieden
grasender Kühe zu genießen, nie mehr enttäuscht zu werden, einmal
endgültig ausgesorgt zu haben, das ultimative Buch zu schreiben, ein
Chalet auf dem Mars zu besitzen - und was dergleichen Träumereien
sein mögen. Utopien aber sind keine Wünsche, erst recht keine, die
aus ihrer Irrationalität einen besonderen Reiz beziehen. Denn sie sind
mit dem normativen Anspruch verbunden, dass der von ihnen ent-
worfene Zustand objektiv besser als die gegenwärtige Lage ist - und
dass es darum gut wäre, die historische Gegenwart im Blick auf die
entworfene Zukunft zu betrachten und zu bewerten.
Dies aber muss eine Zukunft sein, in der man auch wirklich sein
möchte. Die Konstrukteure von Utopien sollten nie vergessen, dass
ihr Szenario nicht nur ein Entwurf for die Gegenwart, sondern immer
zugleich der Entwurf einer Gegenwart ist. Die Erkenntnisfunktion
utopischen Denkens ist an die Imagination einer anderen Gegenwart
gebunden. Diese steht inmitten von Zukunft und Vergangenheit wie
jede der bekannten historischen Zeiten auch; sie ist im Ganzen un-
260
übersehbar und unkontrollierbar wie jeder überhaupt denkbare
Schauplatz menschlicher Affären. Und hierbei stellt sich die entschei-
dende Frage: ob wir nicht allein wünschen, sondern im klaren Be-
wusstsein unseres Wissens und unserer Wünsche wollen können, in
einer solchen veränderten Gegenwart zu leben. Es genügt nicht, dass
ein utopisch ausgezeichneter Zustand von weitemverlockend aussiehe,
er muss als solcher und somit von innen verlockend sein. Wir müssen
uns fragen, ob es und wie sehr es erfüllend wäre, in dieser unwirkli-
chen Lage zu sein.
Im privaten wie im politischen Leben ist es verhängnisvoll, wenn-
gleich gang und gäbe, nach Zuständen zu streben, deren Erreichen der
sichere Ruin des eigentlich Erstrebten wäre. So ist es bei allen Utopi-
en, in denen die Zeitlichkeit des Lebens vergessen wird; ihren Erfin-
dern ergeht es wie jenem sprichwörtlichen Bauern, dem der Herrgott
die Regie über das Wetter überließ und der es vergaß, den Wind sein
manchmal störendes Werk tun zu lassen. So ist es bei allen Utopien,
die das Spiel des Zufalls und der Improvisation aus den menschlichen
Verhältnissen austreiben wollen. So ist es bei allen Utopien, die eine
Erfüllung aller Wünsche imaginieren und darüber vergessen, dass es
den Menschen nach Erfüllung und Begehrenverlangt. »Erfüllte Leben
geradewegs seine Bestimmung, so würde es sie verfehlen«, bemerkt
Adorno in den Minima Moralialapidar. 1
Aber nicht nur das Erreichen, erst recht das Nichterreichen des
idealen Zustands muss sinnvoll möglich sein. Schließlich sind Utopi-
en keine Verheißungen, wie es eines Tages kommen werde, sondern
Vorschläge, wie über den Tag hinaus gehandelt werden soll. Das muss
sich hier und jetzt lohnen. Es muss sich lohnen, darauf seine Energie
zu verwenden, gegebenenfalls sogar: dafür seine Existenz oder sein Le-
ben aufs Spiel zu setzen. Dies aber kann nur lohnend sein, wenn der
unerreichbare Zustand ein erfüllbarer Zustand ist. Die Annäherung
an eine Illusion wäre selber Illusion.

Wider die Schlamperei

Keine Gedankenfigur hat dieser Illusion stärkeren Vorschub geleistet


als die Idee einer »regulativen Idee«. Kant hatte dieses Mittel in der
Kritik der reinen Vernunfteingeführt, um der Kluft zwischen uner-
reichbarem Ziel und erreichbarer Annäherung an dieses Ziel eine po-
1 Th. W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurr/M. 1973, 101.

261
sitive Deutung zu geben. Dabei ging es zunächst nur um Probleme
der theoretischen Philosophie. Wir müssen die Welt, sagt Kant, als
einheitlich und vollständig erkennbar denken, auch wenn wir nicht
wissen können, ob es so ist. Wir müssen so handeln, als ob die Welt
unserem Erkennen im Ganzen offenstehe. Die »transzendentalen
Ideen«, die eine Ordnung der Welt zum Zweck ihrer Erkenntnis lei-
sten, sind daher keine konstitutiven, sondern lediglich regulativePrin-
zipien. Sie haben »einen vortrefflichen und unentbehrlichnorwendi-
gen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen
Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller sei-
ner Regeln in einen Punkt zusammenlaufen«. (KdrV B 672)
Schon im theoretischen Zusammenhang ist diese Denkfigur alles
andere als zwingend. Denn es lässt sich durchaus bestreiten, dass das
Ideal einer vollständigen Welterkenntnis sinnvoll ist. Erst recht ist es
im praktischen Kontext bedenklich, sich regulativ an Zuständen aus-
zurichten, an deren Erfüllbarkeit Zweifel erlaubt sind. Kant beispiels-
weise lässt die moralische Lebensführung an einem summum bonum
ausgerichtet sein, das er als eine jederzeit mit dem moralischen Gesetz
abgestimmte, »proportionierte Glückseligkeit« versteht. Auf Erden
freilich kann kein menschliches Wesen in die Lage dieser heiligen
Harmonie gelangen. Daher, heißt es in der Kritik der reinen Vernunft,
ist »dieses System der sich selbst lohnenden Moralität (... ) nur eine
Idee, deren Ausführung auf der Bedingung beruht, daß jedermann
tue, was er soll.« (KdrV B838) Die Vorstellung eines höchsten Guts
soll die Menschen in ihrem moralischen Handeln motivieren; sie sol-
len so handeln, als ob sie sich durch die Erfüllung ihrer Pflichten ei-
nem auch in Glücksdingen optimalen Lebenszustand annähern
könnten. So ist die praktische Anwendung regulativer Ideen gedacht:
als annähernde Ausrichtung an einem Zustand, der nicht annähernd
erreicht werden kann.
Das Dumme ist nur, dass der von Kant zum Ideal erhobene Zu-
stand alles andere als wünschenswert ist. »Das Leben ist zu Ende, wo
das ,Reich Gottes, anfängt«, hat Nietzsche hierzu nüchtern notiert.
Ein Glück, das in einer prästabilierten Proportion zu unseren edelsten
Bestrebungen stünde, das nicht als eine Veränderung und manchmal
Sprengung der Proportionen unseres Lebens erfahren werden könnte
- das wäre kein menschliches Glück. Es hätte nichts mit der Dynamik
und Dramatik der endlichen Lebenszeit der Menschen zu tun. War-
um aber sollten wir uns an einem solchen Ideal ausrichten, von dem
wir schon nach kurzem Nachdenken wissen können, dass es nichts für
uns wäre? Utopien, die uns auf die Annäherung an einen Zustand ver-
pflichten, von dem wir wachen Sinnes nicht wollen können, das er er-
reicht würde - solche Utopien sind das Ergebnis einer regulativen
Schlamperei.
Es war Kant selbst, der sich an einer anderen Stelle der Kritik der
reinenVernunftzur Raison gerufen hat: »Das wäre ein Prinzip der fau-
len Vernunft (ignava ratio), alle Ursachen, deren objektive Realität,
wenigstens der Möglichkeit nach, man noch durch fortgesetzte Er-
fahrung kann kennen lernen, auf einmal vorbeizugehen, um in einer
bloßen Idee, die der Vernunft sehr bequem ist, zu ruhen.« (KdrV B
801) Zugegeben, wenn von Utopien die Rede ist, geht es um Zustän-
de, deren Realität alle erreichbare Erfahrung übersteigt; dennoch soll-
te kein utopischer Entwurf an dem, was man durch fortgesetzte Er-
fahrung lernen könnte, »auf einmal vorbeigehen«. Denn es ist ein zen-
trales Kriterium der Angemessenheit solcher Entwürfe, dass sie die
beiden Bedingungen einer wenigstens denkbaren Erfahrbarkeit und
einer wenigstens denkbaren positiven Gegenwärtigkeit der fingierten
Umstände erfüllen. Gegen regulative Prinzipien, die diese Bedingun-
gen respektieren, ist überhaupt nichts einzuwenden. Sie erzeugen eine
kreative Spannung zwischen einem erreichten Jetzt und einem uner-
reichten Nie, von dem man dennoch wollen kann, dass es zu einem
historisch erreichbaren Jetzt würde. Ideen, die das leisten, sind ein
wirksames Gegengift gegen ein ebenso gedanken- wie phantasieloses
Utopisieren, das sich um die Erfüllbarkeit seiner Imaginationen nicht
schert.
Ebendieses aber feiere im Zuge der computer- und gentechnischen
Revolutionen wieder einmal fröhliche Urständ. Pioniere wie Hans
Moravec träumen davon, ihren Geist auf eine Festplatte zu kopieren,
um sich eines Tages in eine andere Galaxie zu beamen, um dort vor
dem Tod der Sonne sicher zu sein. Hier soll das Selbst seine Hardware
verlassen, trotzdem aber weiter wünschen und wollen können, wie es
nun einmal nur körperlich lebende Wesen tun. Andere sehen ein gol-
denes Zeitalter der Selbstverfügung heranbrechen, wenn im Kühl-
schrank eines jeden begüterten Erdenbürgers die Stammzellen zur
Nachzüchtung seiner jeweils defekten Organe bereitliegen (wobei
freilich am wenigsten an das Gehirn gedacht wird). Es werden Utopi-
en der Fitness entworfen, was schon in sich widersinnig ist, denn leib-
liche Gesundheit ist keine Utopie, sondern ein grundsätzlich labiler
Zustand, in dem Menschen vorwiegend unmerklich über ihre natür-
lichen Kräfte verfügen. Gewiss, solche Phantasien werden primär zum
263
Eintreiben von Forschungsmitteln gemalt, aber nicht wenige der Pro-
pagandisten beginnen an ihre Prophezeiungen zu glauben. Ray Kurz-
weil lässt wissen, dass er gerne 200 Jahre alt würde, was man ihm als
private Utopie durchgehen lassen könnte, hätte man nicht den Ein-
druck, er habe nie einen Gedanken darauf verschwendet, wie es wäre,
in einer Welt zu sterben, die ganze acht Generationen von der Zeit der
eigenen Geburt entfernt wäre. Doch vielleicht will er nur nicht allzu
bald sterben. Zur Verdeutlichung dieses höchst verständlichen Wun-
sches aber hätte es kaum der hochgerechneten Technik des 21. Jahr-
hunderts bedurft.

Dritte Regel: Erreichbarkeit

Um billiger Sterndeuterei vorzubeugen, haben manche Philosophen


die Konsequenz gezogen, dass ein leuchtkräftiger utopischer Zustand
nicht allein denkbar und erfüllbar, sondern darüber hinaus erreichbar
sein sollte. Diese Erreichbarkeit hat nichts mit dem hier und heute
Machbaren zu tun, dessen Grenzen das utopische Denken stets über-
schreitet. Einen höchst unwahrscheinlichen und darin alles andere als
machbaren Zustand markiert auch ein vergleichsweise realistisches
Szenario. Aber es ist nicht länger unerreichbar in dem Sinn, dass es
unter keinen heute erwartbaren Umständen eintreten kann. Alles in
allem könnte es schließlich doch so kommen, auch wenn damit kei-
nesfalls zu rechnen ist.
Ein gutes Beispiel für dieses verhalten utopische Denken ist John
Rawls' Abhandlung The Law of Peoples,die einem umfassenden Völ-
kerrecht gewidmet ist.2 Auf den Spuren des Rechtsphilosophen Kant,
dessen Entwürfe zum inneren und äußeren Frieden - anders als die
Postulate des Erkenntnistheoretikers und Moralphilosophen - in ih-
rer Weitsicht von ingeniöser Umsicht sind, untersucht Rawls, »wie
vernünftige Menschen und Völker in einer gerechten Welt friedlich
zusammenleben könnten«. 3 Die Prinzipien eines solchen Weltfrie-
dens versteht Rawls ausdrücklich als eine »realistische Utopie.« Reali-
stisch ist sie darin, dass sie - wie er mit den einleitenden Worten von
Rousseaus ContratSocialsagt - »die Menschen so nimmt, wie sie sind
und die Gesetze, wie sie sein können«. Utopisch ist sie, weil sie die
Grenzen des normalerweise politisch für möglich Gehaltenen erheb-
2 J. Rawls,Thc Law of Peoples,Cambridge/Mass. London 1999.
3 Ebd., r3.

264
lieh erweitert. Dennoch stellt das von Rawls entworfene Szenario weit
mehr als eine bloße Möglichkeit dar; es ist in realen Tendenzen der so-
zialen und politischen Entwicklung verankert. Falsche Zuversicht ist
trotzdem fehl am Platz. Die Idee einer realistischen Utopie, schreibt
Rawls am Ende seiner Überlegungen, macht deutlich, dass solch eine
Welt irgendwo und irgendwann existieren kann, nicht hingegen, dass
sie existieren muss oder existieren wird. Unabhängig davon aber, wie
es tatsächlich kommen wird, gibt eine durchdachte politische Utopie
Anlass zu einer »rationalen Hoffnung« auf eine globale Verbesserung
der menschlichen Lebensverhältnisse.
Wer Zweifel hat, ob utopisches Denken mit der für Rawls typi-
schen Bedächtigkeit überhaupt vereinbar ist, lese eine Aussage wie
diese: »Mit seinen Ideen einer realistischen Utopie und einer öffentli-
chen Vernunft verneint der politische Liberalismus, was das politische
Leben in so vielen seiner Züge nahe legt - dass Stabilität unter Völ-
kern niemals mehr als ein modusvivendi sein kann.« 4 Das ist immer
noch eine außerordentlich starke Annahme. Eingehend erörtert
Rawls auch die Möglichkeit einer Abschaffung des Krieges. Auch
hierbei geht er von der realistischen Prämisse aus, dass sich Kriege
nicht in jeder Situation vermeiden lassen; gegen aggressive despoti-
sche Regimes hilft unter Umständen nur der Einsatz kriegerischer
Mittel. Andererseits beruft er sich auf das Faktum, dass demokratisch
regierte Völker bisher nie gegeneinander in den Krieg gezogen sind;
sie konnten ihre Konflikte stets auf andere Weise regeln. Wenn es nun
möglich ist, eine Welt zu denken, in der die Formen despotischer
Herrschaft verschwunden wären, ohne darum durchweg von libera-
len Gesellschaften westlicher Prägung beherrscht zu sein, dann lässt
sich auch eine politische Welt denken, in der der Kampf um Recht
und Gerechtigkeit allein mit friedlichen Mitteln ausgetragen wird,
mehr noch: in der ein faires internationales Rechtsverhältnis etabliert
werden könnte.
Das von Rawls entwickelte Format einer realistischen Utopie
nötigt zu einem Überdenken unserer anfänglichen Definition. Denn
diese Utopie ist ihrem Anspruch nach keine unmögliche,sondern le-
diglich eine weithin für unmöglich gehalteneMöglichkeit, die eine
tatsächlich möglicheMöglichkeit erkennbar werden lässt. Auf diese
Weise gibt sie dem Denken und Handeln erweiterte und erneuerte
Perspektiven frei. Wie sehr oder wie wenig aber eine utopische Mög-
lichkeit als erreichbar eingeschätzt wird, immer ist es ihre Funktion,
4 Ebd., 19.
je gegenwärtige Möglichkeiten absehbar zu machen, die bis dahin
nicht gegenwärtig waren. In diesem elementaren Sinn erweisen sich
alle überhaupt ernst zu nehmenden Utopien als realistisch: sie lassen
hier und heute etwas theoretisch und praktisch wahrnehmbar wer-
den, was es bis dahin nicht war. Alle Utopien lassen ferne Möglich-
keiten absehbar werden, um hier und jetzt ergreifbareMöglichkeiten
sichtbar werden zu lassen.
Utopien allerdings, die lediglich denkbare und erfüllbare Zustände
entwerfen, sind nicht deshalb schon im Rawls'schen Sinn realisierbar.
Sie stehen nicht in der Kontinuität einer denkbaren historischen Ent-
wid<lung. Nur in dieser Kontinuität aber hat die Idee einer sukzessi-
ven, im Ausgang offenen Annäherung überhaupt Sinn. Denn ohne
eine Kontinuität, wie sie von einer realistischen Utopie gesichert wird,
kann der Versuch einer Annäherung tödlich enden. Avishai Margalit
schließt sein Buch über die Verfassung einer Decent Societymit einer
Erörterung der Art von Idealen, denen eine politische Philosophie
vernünftigerweise anhängen sollte. Es genügt nicht, dass es sich um
echte Ideale handelt, also um Zustände, die sich ohne Selbstdestruk-
tion erfüllen lassen; sie müssen auch so beschaffen sein, dass sie ohne
Selbstdestruktion nach und nach erreichbar sind. Der Autor gibt ein
an den Theorien der Ökonomen geschultes Beispiel dafür, dass hier
manchmal das Zweitbeste das Bessere ist. »Stellen Sie sich vor, Sie sind
Amateurpilot und Ihr angestrebtes Ideal sind einige Urlaubstage auf
Hawaii. Auf dem Weg dorthin stellen Sie fest, daß nicht genügend
Benzin im Tank ist, um Hawaii zu erreichen. In diesem Fall wäre der
Versuch, sich dem Ziel, soweit es eben geht, zu nähern, nicht sonder-
lich empfehlenswert, da Sie irgendwo im Pazifischen Ozean landen
würden. Sie wären zwar Hawaii so nahe wie möglich gekommen, aber
weit davon entfernt, sich an einem idealen Urlaubsort zu befinden.
Die Alternative wäre, die Flugroute entsprechend den Benzinvorräten
zu ändern. Das bringe Sie vielleicht nach Miami Beach.«5

Wider den Verrat

Die Regel der Erreichbarkeit ist eine zusätzliche, in den ersten beiden
Regeln alleine nicht enthaltene Richtschnur eines illusionslosen uto-
pischen Denkens. Sie ist notwendig, um die Seriosität politischer
Utopien zu sichern. Je weniger eine Utopie politisch intendiert ist, de-
5 A. Margalit, Politik der Würde, Frankfurt/M. 1999, 323 f.

266
sto weniger muss sie einer Bedingung der Realisierbarkeit gehorchen.
Je privater ein utopischer Gedanke ist, desto eher darf er alle Grenzen
der Realisierbarkeit überschreiten. Denn dies sind Utopien, bei denen
es gar nicht um eine Annäherung geht. In der Imagination eines an-
deren Zustands stellen sie das individuelle Leben nicht in eine aus-
sichtsreiche Kontinuität mit künfcigen Zeiten, sondern vielmehr in
eine heilsame Diskontinuität zur gegenwärtigen Praxis. Hier soll
überhaupt kein Zielpunkt erreicht werden; vielmehr handelt es sich
um Entwürfe, die gerade in ihrer strikten Unerreichbarkeit den Kreis
der Möglichkeiten der Existenz bereichern.
Unter dem Stichwort Galanteriewarenfindet sich in Walter Benja-
mins Einbahmtraße der Eintrag: »Wenn der Zigarettenrauch in der
Spitze und die Tinte im Füllhalter gleich leichten Zug hätten, dann
wäre ich im Arkadien meiner Schriftstellerei.«6 Es sei hier darauf ver-
zichtet, diesen leichtfüßigen Satz mit Anleihen bei Freud, Panofsky
und den Gesundheitsministern der EU einer dekonstruktiven Lektü-
re zu unterziehen. Nehmen wir ihn so, wie er einem beim ersten Le-
sen entgegenkommt: als Skizze eines Traums, der für den Schreiben-
den ein konstitutives Ideal darstellt, obwohl - Konditional und Kon-
junktiv lassen hieran keinen Zweifel - keine Chance zu seiner
Verwirklichung besteht. Der von Benjamin imaginierte Zustand ist
denkbar und er wäre erfüllbar, aber realisierbar ist er nicht. Der krea-
tive Akt des Schreibens vollzieht sich auf Dauer nicht mit der Leich-
tigkeit, mit der die somatische Erschütterung vonstatten geht, die den
unsicheren Boden für das Finden noch ungehobener Sätze bereitet.
Trotzdem gibt diese kleine Utopie der Arbeit des Schriftstellers einen
wichtigen Impuls. Sie stellt etwas faktisch Unerreichbares in die
Reichweite seiner Vorstellung, und von dieser Vorstellung kann er
zehren: er kann die wenigen Momente, in denen es im Schreiben
tatsächlich einmal wie von selber geht, so ausleben, als sei jenes Arka-
dien für einen Augenblick da.
So schafft auch hier das Unmögliche Möglichkeiten, die es anders
nicht gäbe. Die Vorstellung, dass das eigene Leben anders sein könn-
te, als es ist, ist eine wesentliche Bedingung der Bewusstheit dieses fak-
tischen Lebens. Denn dieses Leben spielt sich in einem Umkreis ver-
hüllter Möglichkeiten ab, denen der positive oder negative Ausgriff
auf andere Zustände Kontur zu geben vermag. Dieses Hinausgehen
richtet sich nicht nur auf die Zukunft, sondern oft zugleich auf die

6 W. Benjamin, Einbahnstraße, Frankfurt/M. 1972, 59.


Vergangenheit. Denn eine der hauptsächlichen Antriebskräfte exi-
stentieller Entwürfe ist die Erinnerung. Als Reminiszenz an vergange-
ne und vergessene Erwartungen ruft sie Hoffnungen wach, die die
Menschen sich haben ausreden lassen oder die sie verlorengegeben ha-
ben. Zumal die Erinnerung an die Adoleszenz ist eine nie ganz versie-
gende Quelle utopischer Phantasie. So kindisch es ist, den Idealen der
Jugend geradewegs die Treue zu halten, so beengend ist es, jedes Ver-
trauen in die Kraft persönlicher Ideale preiszugeben. Denn es liegt
darin ein Verrat des Individuums an dem, was es sein kann; da es aber
als denkendes und handelndes Individuum wesentlich aus seinen
Möglichkeiten lebt, ist das zugleich ein Verrat an dem, was es ist.
Im Unterschied zu den privaten sind politische Utopien gut bera-
ten, nicht allein denkbare und erfüllbare, sondern darüber hinaus er-
reichbare Zustände zu entwerfen. Eine solche Utopie entwirft auch
Margalit, wenn er das Ideal einer Gesellschaft aufstellt, deren Institu-
tionen die Menschen nicht demütigen. »Das Bild, das ich zeichne«,
sagt er, »ist eine Utopie, mit deren Hilfe die Realität kritisiert wird.,/
Auch diese Utopie aber ist realistisch, da eine Gesellschaft, deren In-
stitutionen alle ihre Mitglieder mit Respekt behandelt, historisch
zwar unwahrscheinlich, aber doch möglich ist. Anders verhält es sich,
wo Margalit einen Zustand nicht allein gesellschaftlicher Institutio-
nen, sondern vielmehr eines gesellschaftlichen Lebens entwirft, in de-
nen kein Mensch mehr gedemütigt würde (wofür er den Begriff einer
»zivilen Gesellschaft« reserviert). Der Entwurf einer Gesellschaft
nämlich, in der die Menschen einander nie das Vertrauen entziehen,
einander nie hintergehen oder nie ihre Liebe verraten würden, wäre
nicht länger ein Entwurf, der die Menschen so lässt, »wie sie sind«.
Wären sämtliche Fälle von Demütigung aus der menschlichen Welt
verschwunden, spräche alles dafür, dass die Menschen jene Selbstach-
tung verloren hätten, in der sie gedemütigt werden können. Denn nur
dort kann Demütigung ausgeschlossen sein, wo den Menschen die
Freiheit ausgetrieben wäre, in deren Ausübung sie missachtet werden
können. Im Unterschied zu der Verfassung einer Gesellschaft, die al-
len ihren Mitgliedern institutionell Respekt rollen würde, wäre eine
Welt ohne Demütigung eine negative Utopie.
Dieses Beispiel ist geeignet, nochmals anschaulich zu machen, wie
unverzichtbar die utopische Reflexion für das politische Denken ist.
Sie ist es nicht in erster Linie, weil sie uns mit einer »rationalen Hoff-
nung« aufbessere Zeiten versorgt, denn das ist in Anbetracht der ne-
7 Ebd., 331.

268
gativen Utopien keineswegs immer der Fall. Sie ist vielmehr eine un-
verzichtbare Probe darauf, wie belastbar die Urteile und Ziele, die das
politische Handeln leiten, tatsächlich sind. Ihr primärer Zweck ist
eine Steigerung der Präzision, mit der normative Ansprüche an die
Adresse von Staat und Politik gestellt werden. Darüber hinaus hilft sie
zu klären, was wir als Mitglieder lokaler und globaler Gemeinschaften
sinnvollerweise voneinander verlangen können. Weil das so ist, wäre
eine Preisgabe dieser Möglichkeit wiederum - aber diesmal im kol-
lektiven Maßstab - ein Verrat an uns selbst.
15. Kleine Phänomenologie des Lassens

»Indem wir thun, lassen wir«, lautet eine Schlagzeile in Nietzsches Die
fröhliche Wissenschaft.Das ist eine weitreichende Beobachtung, aber
nicht einmal Nietzsche ist es aufgefallen, wie weitreichend sie ist. Sie
trifft nicht allein dort zu, wo unsere Handlungen auch Unterlassun-
gen sind, wo wir uns in Gelassenheit üben oder die Freuden der Pas-
sivität genießen. Vielmehr sind Tun und Lassen überall miteinander
verzahnt, wo wir uns im Handeln eine Richtung geben. Das Lassen ist
kein besonderer Fall, es ist eine elementare Qualität des menschlichen
Tuns. Gerade seine besten Möglichkeiten werden verkannt, wenn
ihm das Lassen bloß gegenübergestellt wird. Es kann darum nichts
schaden, einmal nicht das Lassen vom Tun, sondern das Tun vom Las-
sen her zu denken. Ich verabreiche diese Kur in der Dosis einer klei-
nen, nach vielen Seiten hin erweiterbaren Phänomenologie jenes
Handelns, das dem Anschein nach ein Nichthandeln ist.

Auslassen

In einem trivialen Sinn ist alles Tun darum ein Lassen, weil es ein Aus-
lassen ist. Wer erwas Bestimmtes tun will, kann nun einmal nicht al-
les mögliche andere tun. Jedes Handeln setzt eine Beschränkung auf
ein Ziel oder eine Gruppe von Zielen voraus und damit einen Verzicht
auf Optionen, die ebenfalls ergriffen werden könnten. Die Fähigkeit,
Alternativen bewusst auszuschlagen oder stillschweigend außen vor
zu lassen, ist eine wesentliche Bedingung der Freiheit des Handelns.
Alles, was wir aus freien Stücken tun, könnten wir auch bleiben lassen
- aber wir lassen alles andere bleiben, weil wir gerade diesen Kurs ein-
schlagen wollen. Der Freie lässt viele seiner Möglichkeiten absichtlich
aus. Auf der Landkarte unserer Handlungen sind zahlreiche Linien
sichtbar, die wir im Handeln nicht gezogen haben.

Unterlassen

Nur der geringste Teildavon sind Wege, die zu gehen wir unterlassen
haben. Zu Unterlassungen kommt es nur, wenn die ausgeschlagene
Handlung eine ist, die aus irgendeinem Grund angebracht oder er-
wartbar gewesen wäre. Der Handelnde tut etwas nicht, das es - auch,
vor allem oder allein - wert gewesen wäre, getan zu werden. Er führt
nicht das aus, was sich angeboten hätte. Er kommt dem Ertrinkenden
nicht zur Hilfe; er widersteht der Verlockung, den offenen Safe zu
plündern. Er begeht eine Unterlassungssünde oder beweist eine Un-
terlassungstugend. Weit häufiger als um moralische oder rechtliche
Meriten allerdings geht es dabei um Pendelschläge der Lebensklug-
heit. Ich gehe wieder nicht Joggen; ich greife wieder nicht zur Ziga-
rette. Um welche Art von Situation es sich aber auch handeln mag: So
sehr alles Tun ein Auslassen ist, nicht alles Tun ist zugleich ein Unter-
lassen. Ich komme dem Ertrinkenden zu Hilfe; ich greife nach den
Schätzen im Safe: Wenn wir die Situation nicht künstlich verkompli-
zieren, wird hierbei rein gar nichts unterlassen. Es stellt sich vielmehr
umgekehrt die Frage, ob das Unterlassen, das im Nicht-Ergreifen ei-
ner gebotenen oder verlockenden Handlungsmöglichkeit besteht,
überhaupt als ein Handelnzu verstehen ist, mithin: ob denn alles Un-
terlassen als ein Tun verrechnet werden darf.
Da das Unterlassen nicht im Auslassen irgendwelcher, sondern aus
gewichtigen Motiven oder Gründen naheliegenderHandlungen be-
steht, ist die Antwort grundsätzlich positiv. Unterlassungen sind
Handlungen, die uns - in Lob und Tadel, durch Belohnung oder Stra-
fe - zugerechnetwerden können. (Wie das Tun muss das Unterlassen
nicht absichtlich sein, um zugerechnet werden zu können, aber es
muss in der Reichweiteder Absichten des Handelnden stehen. Darum
sagen wir oft, wenn jemand etwas getan hat, das sie besser unterlassen
oder etwas unterlassen hat, was sie besser getan hätte: »Sie hätte daran
denken können«, oder stärker: »Siehätte daran denken müssen!«) Un-
terlassungen stellen eine charakteristische Modifikation des Handelns
dar, die im Deutschen ihren Ausdruck in der Unterscheidung von Tun
und Unterlassen findet. Beides sind Verhaltensweisen, die in der Dis-
position der jeweiligen Akteure stehen. »Tun« in diesem Sinn ist das
Ergreifen von Verhaltensmöglichkeiten durch den Vollzug äußerer
oder innerer Handlungen. »Unterlassen« ist entsprechend der Ver-
zicht auf das Ergreifen einer Verhaltensmöglichkeit, die hätte ergrif-
fen werden können und deren Ergreifen sich aus dem einen oder an-
deren Grund angeboten hätte. Auch wenn wir geneigt sind, das Er-
greifen als ein aktives und das Auslassen als passives Verhalten zu
verbuchen - auch der, der etwas unterlässt, ergreifteine Möglichkeit,
etwa die, dem Ertrinkenden zuzuschauen. Passiv verhält er sich allein
relativ zu der als vordringlich bewerteten und zudem aufwendigeren
271
Handlung, dem anderen zu Hilfe zu kommen. Wenn ihn die Stimme
des Mitgefühls erreicht, könnte er sein Unterlassen - unterlassen.

Vita Passiva

An dieser Relativität der Opposition von Tun und Unterlassen wird


nochmals deuclich, dass sie einen wichtigen Kontrast innerhalbder
Sphäre des menschlichen Handelns darstellt. Nicht anders steht es
mit den Freuden der Passivität, mit denen wir uns von den Wonnen
einer aktiveren Verausgabung erholen. Man denke an Zustände wie
das Dösen, Phantasieren, Sichausschlafen, Faulenzen oder sonstiges
Sichtreihenlassen - wofür u.a. Betten, Romane, Fernseher, Bars,
Bahnfahrten, Promenaden, Strände und Kinos eine gute Gelegenheit
bieten. Das Erreichen und Erhalten dieser Zustände freilich verlangt
seinerseits bestimmte und manchmal durchaus komplexe Tätigkei-
ten. Aber sie vollziehen sich in Handlungen, die von den Beteiligten
nicht im engeren Sinn als Aktivität empfunden werden: nicht als et-
was, wozu sie sich bringen, antreiben, aufraffen müssen. Die Segnun-
gen der Passivität entspringen einem Tun, das den Ausführenden wie
von selber, also ohne Willensanstrengung gelingt, wie viel physische
Anstrengung damit auch verbunden sein mag. Es ist ein Tun, bei dem
sie sich gehen lassen können. Wie bei der Differenz von Tun und Un-
terlassen kann es ein und dieselbe Tätigkeit sein, die je nach Situation
mal auf der einen, mal auf der anderen Seite steht. Ist für den einen
das Joggen Inbegriff eines aktiven, ist es für den anderen Wahrzeichen
eines passiven Seins.
Doch das sind leere Seiten im Buch der Philosophie, die der Vita
Activa immer wieder nur die Vita Contemplativa zur Seite gestellt hat.
Nur die denkende Betrachtung der Dinge des Lebens schien ihrer
tätigen Regelung ebenbürtig zu sein. Einen Philosophen freilich gibt
es, der die Vita Contemplativa nach dem Bild einer Vita Passiva ge-
formt und in ihr den Fluchtpunkt aller aktiven Betätigung gesehen
hat. Sur l'eauheißt der 100. Aphorismus in Adornos Minima Moralia,
der sich in das berühmte, mit einem aberwitzigen Zitat aus Hegels Lo-
gik garnierte Bild eines vollkommen befreiten Lebens hineinsteigert.
»Rien faire comme une bete, auf dem Wasser liegen und friedlich in
den Himmel schauen, ,sein, sonst nichts, ohne weitere Bestimmung
und Erfüllung<, könnte an die Stelle von Prozeß, Tun, Erfüllen treten
und so wahrhaft das Versprechen der dialektischen Logik einlösen, in
272
ihren Ursprung zu münden.« Wo jedoch das passive Treiben zum Ide-
al alles aktiven Ausseins wird, gerät es selbst außer Tritt. Denn sich wie
ein Tier dem Nichtstun zu überlassen ist nur nach dem Geschmack
von Wesen, die ansonsten von ihren eigenen Sorgen umgetrieben wer-
den.

Sein lassen

Bevor Adorno sein extremes Bild der individuellen Glückseligkeit


malt, entwirft er einen Zustand kollektiven Lassens. »Vielleicht wird
die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und lässt aus Frei-
heit Möglichkeiten ungenutzt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde
Sterne einzustürmen.« Möglichkeiten, die man hätte, bleiben zu las-
sen, ist aber auch eine individuelle Verhaltensweise, die in einem frei-
en Selbstverhältnis nicht fehlen darf. Ob man deswegen aller Entfal-
tung überdrüssig werden muss, mag dahingestellt bleiben; für Indivi-
duen wie Gesellschaften jedoch dürfte es keine Entfaltung geben,
wenn sie sich nicht auch der Enthaltung als fähig erweisen.
Diese Enthaltung ist mehr als das unvermeidliche Auslassen und
weniger als das vermeidbare Unterlassen. Während das Unterlassen
immer eine Handlung betrifft, die- im Namen der Moral oder des ei-
genen Nutzens - eigentlich geboten wäre, nimmt das Seinlassen von
Unternehmungen Abstand, die sich aus der Sicht der Handelnden
überhaupt nicht oder nicht länger lohnen. Sie machen nicht mehr
mit, sie lassen davon ab - sie lassen es bleiben.
Dies kann mit unterschiedlicher Radikalität geschehen. Auf einer
ersten Stufe bezieht sich die Enthaltung lediglich auf Verhaltenswei-
sen, die im Kontrast zu anderen als wertlos erscheinen. Ich verzichte
auf das Streben nach idealer Fitness, auf die Kontrolle über das Leben
meiner Geliebten, auf den Kampf gegen die Mühlen der Bürokratie,
auf meine Reputation als politisch korrekter Bürger, auf das Stillhal-
ten gegenüber einer repressiven Macht. Dieser Verzicht ist mit dem
Ergreifen von Möglichkeiten verbunden, die ich bisher nicht entfal-
ten konnte. Das Aufgeben bisheriger Vorhaben und Verhaltensmuster
bewirkt so eine Öffnung der eigenen Beteiligung an den Dingen des
Lebens.
Auf einer zweiten Stufe betrifft das Seinlassen nicht länger Hand-
lungen, sondern Haltungen. Es rückt ab von aller Fixierung auf die
Verwirklichung selbstgesetzter Ziele. Damit setzt es sich selbst als die
2 73
maßgebliche Einstellung zu den menschlichen Angelegenheiten. Das
Seinlassen läuft hier auf ein Abstandhalten zum Getriebe der Welt
hinaus, das in der Geschichte so unterschiedliche Propheten wie Epi-
kur und die Stoa, Montaigne und Schopenhauer, Heidegger und
Adorno gefunden hat. Wie aber das Leben dieser Denker zeigt, ist
auch diese Haltung mit einer Vita Activa durchaus vereinbar. Auch
denen, die sich lossagen von den Verführungen des Willens oder der
Warenwelt, bleibt noch viel zu tun und vor allem - zu sagen.
Das ändert sich erst auf der dritten Stufe, in der das Bleibenlassen
zu einer finalen Leidenschaft wird. Die frühen Romane von Paul Aus-
ter sind mit Figuren bevölkert, die sich aus den Gepflogenheiten der
Selbsterhaltung weit heraustreiben lassen, in einigen Fällen so weit,
dass sie ihr Leben mit halluzinatorischer Intensität als einen Tod auf
Raten erleben. Diese Figuren geben jede Sorge um sich auf; sie sind
nur noch für den Augenblick da. Sie unterlassen es, ihr Leben zu
fahren. Aber auch wer den Sirenengesängen des Let it be unterliegt,
verliert sich nicht in reiner Untätigkeit. Auch jener Bartleby aus Her-
man Melvilles gleichnamiger Erzählung, der nach und nach alles das
lässt und unterlässt, was von ihm als Angestelltem und Mitmenschen
erwartet werden kann, stellt sich handelndgegen die Normalität eines
zielgerichteten Lebens. Wenn er auf alle Vorhaltungen mit seinem ste-
reotypen »I would prefer not to« antwortet, hält er mit ungeheurem
Starrsinn an seinem Abstand zum Aufwand jedes Erfolgsstrebens fest.

Sich einlassen

Wer sich so verhält, »hält sich aus allem heraus«. Auch das aber ist nur
eine komparative Bestimmung. Denn wer überhaupt handelt, kann
nicht alles hinter sich lassen. Figuren wie Bart!eby machen sich gleich-
gültig gegenüber der weiteren Zeit ihres Lebens, indem sie ihr Sinnen
und Trachten rein auf das Hier und Jetzt beschränken. Darin liegt ein
Sichgehenlassen, das sich nur noch das Dringlichste - einen Bissen
Brot, eine Ecke zum Schlafen - angehen lässt. Diese Verweigerung
aber ist selber eine Form des Sicheinlassens, und eine radikale dazu.
Wer sich »auf nichts mehr einlässt«, lässt sich exklusiv auf das Nächst-
liegende ein. Die meisten freilich, die handelnd aus ihrem Leben et-
was machen wollen, haben weiterreichende Ambitionen als der blei-
che Bartleby. Doch wenn sie überhaupt etwas tun - etwas aus eigener
Kraft steuern oder vollbringen - wollen, sitzen sie mit ihm und den
2 74
vielen anderen outcasts und oudaws der Literatur (bis hin zu Beckens
Namenlosem) in einem Boot. Sie müssen sich in grundsätzlich unbe-
stimmter Lage eine Richtung geben. Sie haben keine Wahl, ob sie die
Wahl haben wollen. Sie stehen vor der Wahl, sich diesen oder jenen
Möglichkeiten zu überlassen. Darum kommt niemand herum, der
überhaupt handeln will. Denn Handeln ist eben das: sich aus eigener
Bestimmung bestimmen zu lassen.
Die Grundbedeutung des Lassens, das alle Vollzüge meines Tuns
muss begleiten können, ist daher die eines Sicheinlassens-auf Wer
sich auf etwas einlässt, lässt etwas zu; er lässt zu, nicht mit Bestimmt-
heit zu wissen, was ihm im Verlauf seines Handelns geschehen wird.
Darüber kann man sich täuschen, nicht aber erheben. Jedes Sichein-
lassen enthält eine Affirmation des Unbestimmbaren in der Be-
stimmtheit des Denkens und Handelns. Sich wachen Sinnes auf etwas
einzulassen verlangt entsprechend die Fähigkeit, sich in noch unbe-
stimmter Absicht und Erwartung in eine noch unbestimmte Situati-
on zu begeben. Es bedeutet, sich in einer offenen Situation aufzuhal-
ten, ohne die Offenheit dieser Situation ausräumen zu wollen, ob dies
nun die zu gewinnenden Einsichten, die zu verfolgenden Ziele oder
die zu erfüllenden Wünsche betrifft. Es bedeutet, sich unter den Ein-
fluss von Möglichkeiten zu stellen, die einen unwillkürlich bestim-
men können. Es bedeutet, sich im eigenen Wünschen und Wollen
weiterhin bestimmbar zu halten. Darin liegt kein Abstand zum Tun,
sondern vielmehr eine Bedingung jedes nicht zwanghaften, sei es in-
strumentellen oder intellektuellen, künstlerischen oder politischen,
öffentlichen oder privaten Tätigseins.
In diesem durchaus normativen Sinn ist die Logik des Lassens eine
Logik des Sicheinlassens. Sie schließt den Zwang zum Auslassen und
damit das Problem der Unterlassung jederzeit ein. Die Möglichkeiten
der Vita Passiva und des Seinlassens hingegen sind wegen ihrer ver-
gleichsweisen Passivität bemerkenswerte Formen des Sicheinlassens,
denen andere, aktivere Weisen der handelnden Verausgabung ge-
genüberstehen. Immer aber ist das Lassen ein Element des jeweiligen
Tuns, und zugleich das Tun, wie sehr es eher aktiv oder passiv erschei-
nen mag, ein Aufenthalt in unabsehbaren Möglichkeiten und damit
ein Lassen.

275
Holzwege

In seinen späten Reflexionen über Gelassenheit (in dem gleichnami-


gen, bei Neske in Pfullingen erschienenen Bändchen) ist Heidegger
zu einem anderen Ergebnis gelangt. Er stellt das Lassen in eine
grundsätzliche Opposition zum Tun. Es erscheint als eine Sonder-
fähigkeit, die den Ehrentitel eines »höheren Tuns« erhält, das aber, wie
Heidegger eilends hinzufügt, »gleichwohl keine Aktivität ist«, da es in
einer Opposition zu allem Wollen stehe. Gelassenheit, so Heidegger,
liegt »außerhalb der Unterscheidung von Aktivität und Passivität, weil
die Gelassenheit nicht in den Bereich des Willens gehört«. In scho-
penhauerianischer Intonation heißt es, es komme darauf an, »daß wir
uns des Willens entwöhnen«.
Das ist auch dann irreführend, wenn man das eingeschränkte Mo-
dell des Wollens akzeptiert, das Heidegger hier zugrunde legt. Er
denkt an ein Wollen, wie es im instrumentellen Handeln leitend ist,
bei dem es um die Herbeiführung im Voraus festgelegter Zwecke geht.
Auch dieses Handeln aber kann seine Absichten nur realisieren, wenn
es nicht in der Fixierung auf seine Pläne erstarrt. Denn auch beim
Herstellen - und keineswegs allein dem künstlerischen - muss sich die
Verfolgung einer Absicht von der Beschaffenheit des Materials, von
Werkstoffen und Werkzeugen leiten lassen. Gerade das instrumentel-
le Handeln kann seine Ziele nur vollbringen, wenn es um die Gren-
zen einer vorwegnehmenden Bestimmbarkeit seiner Ziele weiß.
Erst recht erweist sich Heideggers Opposition von Lassen und
Wollen als verfehle, wenn man sich daran erinnert, dass auch alles
»höhere« Tun als solches nur zählen kann, wenn es ein absichtsvolles
und damit willentliches Handeln ist. Eine Theorie des Lassens muss
also gerade eine Theorie der Verfassung des menschlichen Wollens
sein. In normativer Wendung handele sie von den Aussichten eines
Strebens, das sich nicht in seine hier und jetzt vorfindlichen und ab-
sehbaren Möglichkeiten verrennt. Ihr Gegenstand ist die Bedingtheit
und Freiheit des Wollens - seine Freiheit in seiner Bedingtheit, seine
Bedingtheit in seiner Freiheit. Sie erkundet den inneren Zusammen-
hang von Spielraum und Widerstand, Klarheit und Vagheit, Offen-
heit und Verstelltheit, in dem sich ein freies Denken und Handeln al-
lein ausbilden kann. Die Untersuchung des Lassens erweist sich so ge-
sehen als eine Apologie der Autonomie: als ein Versuch, einen von
Simplifikation und Gewaltsamkeit freien Begriff der menschlichen
Freiheit zu gewinnen.
276
Anders als Adorno, dessen Reflexionen über die Passivität des Er-
kennens und Handelns diese Spur verfolgen, dichtet Heidegger die
Motivik des Lassens, von der seine Spätphilosophie beherrscht ist,
entschlossen gegen den Gedanken der Selbstbestimmung ab. Sein
Feldweggespräch über das Denken führt absichtsvoll in »eine rätselhaf-
te Gegend, wo es nichts zu verantworten gibt«. Das Verlangen nach
Autonomie erscheint aus dieser Warte als Starrsinn eines niederen,
noch nicht zur Gelassenheit ausgereiften Strebens. Wer jedoch das
Lassen von Urteil und Absicht trennt, muss das Handeln in seiner
ganzen Breite - und mit ihm das Denken in seinerAbhängigkeit und
Freiheit - verfehlen. Mit der Einheit von Tun und Lassen gibt Hei-
degger jede Politik der Freiheit auf. Man sollte ihm das Lassen nicht
überlassen.

Gelassenheit

Heidegger denkt das Lassen von der Gelassenheit anstatt diese von je-
nem her. Erst im Blick auf das Lassen aber wird deutlich, was für eine
Tugend die Gelassenheit ist. Sie ist ein Bewusstsein des Lassens - sei-
ner Unvermeidlichkeit wie seiner Produktivität.
Schon am bloßen Auslassen lässt sich dieses Bewusstsein gewinnen.
Es stellt sich ein, wo wir uns nicht irre machen lassen durch den Um-
stand, und dass wir ein anderes - und sogar viele andere - Leben
außen vor lassen müssen, um dieses eine in Freiheit führen zu können.
Erweitert wird es durch die Erfahrung, dass wir mit unserem Tun not-
wendigerweise in der Spannung löblicher oder sträflicher Unterlas-
sungen stehen, dass wir nur vergleichsweise passiver oder aktiver leben
können, dass wir die Bedingungen unseres Handelns nicht annähernd
vollständig fixieren können. Ein grundsätzlicher Abstand zum eige-
nen Überlegen und Wollen jedoch liegt hierin nicht; der Abstand, der
sich in der Gelassenheit herstellt, betrifft lediglich den Glauben an die
Beherrschbarkeit der Situationen, zu denen wir uns mit der uns eige-
nen Bestimmtheit verhalten. Wer Gelassenheit hat, verzichtet, so weit
er sie hat, auf eine Verfügung über das, worüber nicht zu verfügen ist
- aber damit, wenn er konsequent ist, auch auf eine zeiclose Beant-
wortung der Frage, was denn in seiner Verfügung steht.
Das Wort »Verziehe«jedoch hat hier einen falschen Klang. Denn
der »Verzicht« der Gelassenheit enthält die Bejahung des Seinlassens
und Sicheinlassens, das zu aller aktiven Beteiligung an den Dingen des
277
eigenen Lebens gehört. Darin liegt eine Affirmation des Umstands,
überhaupt in einer Gegenwart des Lebens zu sein, die sich, eben weil
sie Gegenwart ist, in unübersehbare und unwägbare Möglichkeiten
erstreckt, in denen keiner sich überall zurechtfinden kann. Mit unse-
ren ersten Schritten in gleichwelchem Feld gehen wir soviel Risiko im-
mer schon ein. Wer davon ein Bewusstsein und also Gelassenheit hat,
gewinnt eine vergleichsweise unerschütterliche Position aus der Ein-
sicht, dass es eine sichere Position für Handelnde weder gibt noch ge-
ben kann.
16. Sich bestimmen lassen.
Ein revidierter Begriff der Selbstbestimmung

I.

Die Philosophie spricht viel über das Tun, aber wenig über das Lassen.
Natürlich spielt die Polarität von Tun und Unterlassen sowie die Tu-
gend der Gelassenheit in ihrer Geschichte eine wichtige Rolle. Den-
noch wurde die Eigenart des Menschen vorwiegend aus seiner Be-
fähigung zur tätigen Erkundung und Gestaltung seiner Lebensver-
hältnisse verstanden - einer aktiven Steuerung, die im Gegensatz zu
einem instinktiven oder affektiven Getriebensein steht. Darüber ist
häufig das Element der Passivität in Vergessenheit geraten, das aller
unserer Aktivität innewohnt. Zu wenig wird jenes Bestimmtsein be-
dacht, das sich im Herzen des menschlichen Bestimmendseins voll-
zieht. Die Einheit von Tun und Lassen wird häufig gerade dort über-
sehen, wo es - in der Theorie nicht weniger als in der Praxis - am mei-
sten auf sie ankommt: dort nämlich, wo es um menschliche
Selbstbestimmunggeht.
Die Befreiung des Menschen von fremder Bestimmtheit ist eines
der älcesten Motive der Philosophie. In grundsätzlich unwägbaren
Umständen sein Leben gleichwohl aus eigener Kraft und eigener Ori-
entierung zu führen - darin ist seit jeher der Kern eines gelingenden
Lebens gesehen worden. Darüber aber, wie diese Autonomie unter
Bedingungen weitreichender Heteronomie zu bewerkstelligen ist, ge-
hen die Ansichten heute wie gestern auseinander. Wie ist es möglich,
sich auf der Strecke des eigenen Lebens aus eigener Kraft zu orientie-
ren, wo doch innen und außen überall unbeherrschte und vielleicht
unbeherrschbare, unbestimmte und vielleicht unbestimmbare Kräfte
am Werk sind? Wie kann Selbstbestimmung unter diesen Bedingun-
gen mehr sein als ein unerreichbares Ideal? Mit etwas Unerreichbarem
aber darf sich die Philosophie in dieser Sache nicht zufriedengeben.
Denn wir können Selbstbestimmung - in persönlichen, moralischen
oder politischen Kontexten - nur einklagen oder verteidigen, wenn
wir ihr eine grundsätzlich erreichbareRealität beimessen können. Es
kommt also viel darauf an, die Möglichkeit von Selbstbestimmung so
zu denken, dass sie als eine möglicheWirklichkeitunseres Lebens ver-
ständlich wird.
Das Vertrauen auf diese Möglichkeit enthält nicht den Glauben,

279
Selbstbestimmung könnte jemals sicher erreicht werden. Denn sie
gehört zu jenen Lebensvollzügen, die stets von neuem gelingen müs-
sen und daher stets von neuem scheitern können, mehr noch: die
auch dann, wenn sie zeitweilig gelingen, stets in der Gefahr des Schei-
terns stehen, und außerdem: die nur aus der Erfahrung, man möchte
sagen: nur aus der Übung des Scheiterns die Kraft eines möglichen
Gelingens beziehen. Auf diese so sehr gefährdete Möglichkeit aber
muss die Philosophie setzen, wenn sie dem Anspruch einer prakti-
schen Philosophie gerecht werden will.

3.

Schon die Kontrahenten des Sokrates hatten starke Zweifel daran, ob


der Weg eines guten Lebens, den er vor ihnen entwarf, für wirkliche
Menschen tatsächlich gangbar sei - wenngleich die aufdringliche Exi-
stenz des Sokrates ein handfester Beleg für die Passierbarkeit dieses
Weges zu sein schien. Die Zweifel an der Macht und Herrlichkeit ei-
nes vernunfrgeleiteten Lebens sind jedoch nie verstummt. So hat Da-
vid Hume die platonisch-christliche Vorstellung von Selbstlenkung
vom Sockel gestoßen, als er bemerkte, die Vernunft - und gerade die
rechte Vernunft - sei nicht die Beherrscherin, sondern die Sklavin der
Leidenschaften. Auch diese Inthronisierung der passionsals erster und
letzter Antriebskräfte des Handelns aber versteht Hume als einen Akt
der Befreiung - einer Befreiung vor allem von herkömmlichen Deu-
tungen der Bestimmung des Menschen. Wir müssen uns, sagt Hume,
auf das besinnen, was unser Handeln tatsächlich leitet. Das sind Im-
pulse, denen wir wesensmäßig passiv unterliegen. Wir müssen erken-
nen, dass wir in allen unseren praktischen Bestimmungen immer
schon bestimmt sind - und zwar durch uns selbst. Diesem Bestimmt-
sein können wir klug oder unklug folgen, das ist alles. Indem wir uns
bestimmen, so hätte Hume sagen können, lassen wir uns durch die
Art unserer affektiven und apperitiven Reaktionen bestimmt sein.
Mir dieser Herabstufung der Vernunft zu einem ausführenden Or-
gan (dessen Zuständigkeit sich auf die Aufdeckung sachlicher Irrtü-
mer und die Auswahl günstiger Mittel beschränkt) gibt Hume einen
starken Begriff von Selbstbestimmung absichtlich preis. Dieser er-
scheint ihm illusionär. Denn mit Selbstbestimmung in einem starken
Sinn müsste die Fähigkeit verbunden sein, die Richtungen des eige-
nen Tuns und Lassens - und damit den Kurs des eigenen Lebens - aus
280
eigener Überlegung festlegen zu können. Wo die Grundrichtungen
jedoch affektiv immer bereits vorgegeben sind, können wir uns nicht
länger anmaßen, uns eine Richtung zu geben. Unsere basalen prakti-
schen Stellungnahmen, wie umsichtig sie auch sein mögen, erweisen
sich als eine Folge der Stellung, die wir im Kraftfeld unserer Leiden-
schaften haben. Bestimmtsein und Bestimmendsein geraten bei
Hume außer Balance.

4.

Man könnte meinen, dass Kant dies wieder zurechtgerückt hat, aber
so einfach liegen die Dinge nicht. Denn soweit das Glücksstreben der
Menschen betroffen ist, folgt Kant Humes Auffassung einer patholo-
gischen Bedingtheit der praktischen Vernunft. Wenn wir festlegen
wollen, was uns im Leben wichtig ist, können wir auch nach Kant gar
nicht anders, als uns von einigen unserer faktischen Neigungen die
Richtung vorgeben zu lassen. Hier gilt: »Der Wille gibt sich nicht
selbst, sondern ein fremder Antrieb gibt ihm( ... ) das Gesetz.«1 Diese
Umdeutung des je eigenenAntriebs zu einem fremden Antrieb freilich
stelle klar, dass Kant hierin im Unterschied zu Hume ein Verhältnis
der Heteronomie sieht. »Ich soll etwas tun darum, weil ich etwas an-
deres will«2 : In diesem Kreislauf der Willkür bleibt alles begründete
Wollen an ein faktisches Bestreben gebunden. Autonom ist der
Mensch nach Kant nur, wenn er sich ein Gesetz gibt, das sein Verhal-
ten aus Gründen der Vernunft, und der Vernunft allein, zu leiten ver-
mag. Selbstbestimmung im eigentlichen Sinn ist damit erst erreicht,
wenn es nicht die eigenen sinnlichen Antriebe, sondern strikt allge-
meine Gründesind, die den Rahmen der individuellen Orientierung
bilden. Erst die aus Vernunft geborene Moral verleiht dem Willen Au-
tonomie. Nur dann, sagt Kant, handelt der Mensch selbstbestimmt,
wenn er nicht seine letztlich kontingenten Ziele, wohl aber die über-
greifende Form seines Handelns selbst bestimmt.Auf der Basis eines
unvermeidlichen heteronomen Bestimmtseins können wir auf diese
Weise autonom leben.
Diese Kombination von Heteronomie und Autonomie prägt die
gesamte praktische Philosophie Kants (wenn man von den vieldeuti-
1 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: ders., Werke, hg. v. W. Weische-
del, Frankfurc/M. 1968,Bd. VII, BA 94.
2 Ebd., BA 88.
281
gen Vermittlungsversuchen der Kritik der Urteilskrafteinmal absieht).
Während Kant in seiner theoretischen Philosophie - in der Verbin-
dung von Rezeptivität und Spontaneität - eine Einheit von Be-
stimmtsein und Bestimmendsein vorsieht, schließt seine praktische
Philosophie eine solche Integration mit Emphase aus. Wie Hume,
wenn auch ganz anders als Hume, gibt damit Kant einen Begriff ori-
ginärer, das heißt: in der menschlichen Lebensführung durchgreifend
wirksamer Selbstbestimmung preis.

5.

Diese Aufspaltung der praktischen Vernunft in einen heteronomen


und einen autonomen Teil- oder, wie es vielleicht angemessener wäre
zu sagen, in einen relativen und einen absoluten Begriff von Selbstbe-
stimmung - ist vielfach kritisiert worden, unter anderem von Fichte,
Schiller und natürlich von Hegel. Eine Korrektur der Verzerrungen,
die sich aus Kants doppelter Buchführung ergeben, ist eines der zen-
tralen Anliegen der praktischen Philosophie Hegels. Sein Ansatz-
punkt ist eine Balance von Bestimmendsein und Bestimmtsein, wie
sie zwischenSubjekten besteht, insbesondere dort, wo sie einander un-
ter Bedingungen wechselseitiger Anerkennung begegnen. Wie bei
Fichte ereignet sich hier eine »Wechselbestimmung« nicht allein zwi-
schen Ich und Welt, sondern zwischen Subjekten, die in der Begeg-
nung miteinander eine ungezwungene Position in der Welt zu finden
vermögen. Bei der Explikation dieser interaktiven Autonomie hat He-
gel auch in der Rechtsphilosophie auf das Modell der Liebe zurückge-
griffen.3 Hier, so notiert der Zusatz zum§ 7, »ist man nicht einseitig
in sich, sondern man beschränkt sich gern in Beziehung auf ein An-
deres, weiß sich aber in dieser Beschränkung als sich selbst«. Aus die-
ser Beobachtung gewinnt Hegel eine weitreichende Maxime. Sie for-
muliert die Bedingung, unter der die Polarität von Bestimmen und
Bestimmtwerden im Kontext eines gelingenden Lebens bewältigt
werden kann: »In der Bestimmtheitsollsichder Menschnicht bestimmt
fühlen.« Man könnte auch sagen: In seinen Festlegungen gegenüber
anderen soll er sich nicht als äußerlich festgelegt erfahren.
Diese Deutung der individuellen Freiheit als eines freiwilligen und
freizügigen Sichbestimmenlassens verbindet Hegel jedoch mit der
3 Vgl. zum FolgendenA. Honneth, Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisicrung
der Hegelschen Rechtsphilosophie, Stuttgart 2001, bes. 17 ff.

282
sehr viel stärkeren These einer Aufhebung aller Einseitigkeit, Anders-
heit und Beschränktheit, die das interaktive Selbstsein kennzeichnen
soll. Es kommt dabei zu einer Leugnung der Elemente der Passivität
und des Gebundenseins, wie sie nicht allein für die Verhältnisse der
Freundschaft und Liebe, sondern wohl für alle Weltverhältnisse des
Menschen charakteristisch sind. Über den freien Willen, der sich
selbst zum Gegenstand der Ausübung seiner Freiheit macht, heißt es
entsprechend im§ 23 der Rechtsphilosophie: »Nur in dieser Freiheit ist
der Wille schlechthin bei sich,weil er sich auf nichts als auf sich selbst
bezieht, so wie damit alles Verhältnis der Abhängigkeitvon etwas an-
derem hinwegfällt.« In dem selben Augenblick, in dem Hegel die
menschliche Autonomie als einen internen und gleichgewichtigen
Zusammenhang von Bestimmtsein und Bestimmendsein charakteri-
siert, in dem selben Augenblick, in dem er das Bestimmtsein durch
sich selbst und durch andere als ein konstitutives Element von Selbst-
bestimmung anerkennt, verschenkt er diese Einsicht. Er stellt diese
Freiheit in eine - man möchte sagen: abstrakte - Opposition zur Ab-
hängigkeitvon etwas anderem. Bei sich zu sein, also so zu leben, wie
man es selber will, ist aber gar nicht möglich, ohne sich auf anderes
einzulassen, und das heißt: so zu leben, wie es keinem Begriff von sich
selbst entspringt und entspricht.

6.

Die Kant'sche Aufspaltung der praktischen Vernunft ist auch einer der
entscheidenden Angriffspunkte Nietzsches. Nietzsche möchte einen
ungebrochenen Begriff des praktischen Selbstseins zurückgewinnen.
Dabei greift er einerseits auf antike Motive zurück, verleiht jedoch an-
dererseits der Möglichkeit von Selbstbestimmung eine außerordent-
lich konstruktive Bedeutung. Die künstlerischen, zu starken kulturel-
len Setzungen fähigen Menschen erzeugendie Werte, von denen sie
sich in ihrem Leben bestimmen lassen. Weit radikaler als bei Kant er-
hält hier das Bestimmen einen Vorrang vor dem Bestimmtsein, auch
wenn dieses ein letztlich willkürlichesund damit doch auch wieder
eingeschränktesBestimmen ist. Es ist wesentlich durch leibliche Im-
pulse bestimmt, durch den Appetit aufLebensmöglichkeiten und den
Geschmack an ihnen: aber es folgt diesen Ausrichtungen in einer frei-
en Wahl, die sich in der erfindenden Ausgestaltung der eigenen An-
triebe beweist.
Wenn Nietzsche daher in der Überschrift des Aphorismus 304 der
FröhlichenWissemchaftsagt, »indem wir thun, lassen wir«, so meint er
vor allem die Entschiedenheit, mit der einer seinen Präferenzen folgt,
ohne sie sich von einem allgemeinen Standpunkt ausreden zu lassen.
»Unser Thun soll bestimmen, was wir lassen; indem wir thun, lassen
wir - so gefällt es mir, so lautet mein placitum.« Auch hier ist also kei-
ne Balance, keine Integration von Tun und Lassen anvisiert, sondern
eine Determination des Lassens durch das Tun. Der Mensch soll das
unterlassen, was nicht auf dem Weg seiner persönlichen Selbster-
schaffung liegt. Nicht das Lassen gebietet über das Tun (wie es für
Nietzsche in Kants Autonomieverständnis geschieht), das Tun gebie-
tet über das Lassen. Mit veränderten Vorzeichen stellt Nietzsche die
fragwürdige Hierarchie der passiven und aktiven Komponenten des
Handelns wieder her.

7.

Hier kommt Heidegger ins Spiel. Denn er ist es, der die Einseitigkeit
von Nietzsches Hyperaktivismus in den handlungstheoretischen Ana-
lysen von Sein und Zeit mit Nachdruck zu korrigieren versucht. Auf
den ersten Blick sieht es so aus, als sei mit der von Kierkegaard inspi-
rierten Polarität von »Geworfenheit und Entwurf« endlich eine echte
Balance zwischen den Vektoren der Selbstbestimmung erreicht. Das
ist jedoch, wie ich meine, wiederum nicht der Fall.
In der Geworfenheit enthüllt sich, so sagt Heidegger im § 44 von
Sein und Zeit, »daß Dasein je schon als meines und dieses in einer be-
stimmten Welt und bei einem bestimmten Umkreis von bestimmtem
innerweldichen Seienden ist«.4 Wir finden uns in konkreten Lebens-
verhältnissen vor, die uns stets schon bestimmt haben und weiterhin
bestimmen. Als ein solcherart geworfenes, so führt Heidegger weiter
aus, ist das Dasein »in die Seinsart des Entwerfens geworfen«.5 Dieses
Entwerfen ist ein Sichverstehen aus kulturell und sozial vorgeformten
Möglichkeiten des Handelns, die von einem weiten Horizont unbe-
stimmter Möglichkeiten umgeben sind. In dieser historisch erschlos-
senen Welt sind die Menschen auf die maßgeblichen Hinsichten ih-
rer Praxis eingestimmt,lange bevor sie zwischen bestimmten Vorhaben
wählen oder bestimmte Projekte aus eigener Imagination und Über-
4 M. Hcidcggcr, Sein und Zeit, Tübingen 1979, 221.
5 Ebd., 145.

284
legung entwerfen können. Was Heidegger »Entwurf« nennt, ist also
gerade nicht etwas, das als Leistung einer freien Bestimmung verstan-
den werden könnte. Es ist vielmehr ein vom Autor als »Seinlassen«6
charakterisiertes Sicheinlassenauf Lebensmöglichkeiten. Von diesen
Möglichkeiten sind die Menschen ergriffen,längst bevor sie eigene
Möglichkeiten ergreifenkönnen.
Auch im Modus des »eigentlichen« Existierens ändert sich an die-
ser Dominanz des Bestimmtseins gegenüber dem Bestimmen bei Hei-
degger nichts. Auch hier bleibt der Mensch vorwiegend rezeptiv: er
hält sich »frei und offen( ... ) für die jeweilige faktische Möglichkeit«. 7
Dieses, wie es an derselben Stelle heißt, »Sichfreihalten« für noch un-
bestimmte Möglichkeiten der eigenen Existenz liegt für Heidegger
vor jeder begründenden oder abwägenden Festlegung auf eine be-
stimmte Art des Wollens. Es liegt vor jeder Bestimmungunserer selbst.
Das eigentliche Seinkönnen, das Heidegger an die Stelle der Selbstbe-
stimmung setzt, ist ein unwillkürlichesSichbestimmenlassen.

8.

Nun lautet allerdings mein eigener Titel und folglich meine eigene
Botschaft gerade so: Selbstbestimmung, recht verstanden, ist das Ver-
mögen, sich bestimmenzu lassen.Es kommt aber darauf an, mit wel-
cher Betonung diese Formel gelesen wird. Heidegger liest sie - in sei-
nen späteren Jahren immer deutlicher - mit einer Betonung auf dem
»lassen«. Kant und seine Nachfolger8 lesen sie- mit unterschiedlicher
Radikalität - mit einer Betonung auf dem »sich«. Ich möchte hinge-
gen versuchen, diese Wendung mit einer gleichmäßigen Betonung
des »sich« und des »lassen« zu lesen. Damit wird die Balance herge-
stellt, von der ich meine, dass sie in der Tradition oft verfehlt worden
ist. Das ist natürlich erst einmal nur eine prosodische Balance. Ich
möchte aber zeigen, dass ihr eine sachliche entspricht - und dass uns

6 Ebd., 155.
7 Ebd., 308. - »Im Warten lassen wir da.,, worauf wir warten, offen«, heißt es in den spä-
teren Reflexionen über die Gelassenheit (M. Heidegger, Gelassenheit, Stuttgart 1999,
42).
8 Ich denke hier z.B. an E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung,
Frankfun/M. 1979 u. J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt/M.
1991. Einen extremen Autonomismus vertritt V. Gerhard, Selbstbestimmung, Stutt-
gart 1999; vgl. hierzu meine Kritik: M. Seel, Aktive und passive Selbstbestimmung, in:
Merkur 54/2000, 626-631.
diese sachliche Balance zu einem ebenso starken wie realistischen Ver-
ständnis von Selbstbestimmung führt.
Den Begriff der Selbstbestimmung gebrauche ich dabei durchweg
in einem sehr elementaren Sinn. Ich spreche nicht von moralischer
Selbstbestimmungim Unterschied zu individueller Selbstverwirkli-
chung, nicht von subjektiver Selbstbegrenzungim Unterschied zu in-
tersubjektiver Selbstbindung,auch nicht von ästhetischer Selbstgestal-
tung im Unterschied zu ethischer Selbstverpflichtung.In methodischer
Analogie zu Heidegger versuche ich vielmehr ein Selbstverhältnis zu
charakterisieren, das allen diesen unterschiedlichen Ausprägungen
zugrunde liege. Bevor »Selbstbestimmung« ein spezielles Thema der
Ethik oder der politischen Philosophie ist, ist sie eines der philoso-
phischen Anthropologie. {Erst am Schluss werde ich einige moral-
theoretische Andeutungen machen.)

9.

Als Ausgangspunkt kann die Überlegung dienen, was es denn heißt,


sich selbst zum Subjekt und Objekt der eigenen Bestimmung zu ma-
chen. Eine Person, die das eigene Bestimmenkönnen auf sich selber
wendet, wendet es in praktischer Absicht auf ein Spektrum - günsti-
ger bis ungünstiger, aussichtsreicher bis aussichtsloser - Lebensmög-
lichkeiten an, die ihr offenstehen. Sie legt für sich fest, welche ihrer
Möglichkeiten sie vor allem ergreifen will. Sie legt damit zugleich fest,
wie sie sich in der Kontinuität ihrer Handlungen verstehen, und da-
mit: wer sie eigentlich sein will.
Dies ist natürlich nicht die einzige, sondern eine besondere und be-
sonders komplexe Form, sich oder etwas zu bestimmen. Häufig ist es
nur eine Meinung oder eine Absicht, bezüglich derer wir Bestimmt-
heit erlangen. Aber auch zu solchen einzelnen Stellungnahmen gelan-
gen wir nicht allein. Jede von ihnen ist immer schon mit anderen An-
sichten und Absichten verbunden. Jede von ihnen enthält eine Festle-
gung gegenüber Anderen, die ihrerseits zu diesen oder anderen
Schlüssen und Entschlüssen kommen mögen. Generell verstehe ich
unter »Bestimmen« die Fähigkeit der erkennendenFestlegungdarauf,
wie etwas ist oder wie etwas sein soll. Der Ausdruck »Festlegung«
meint dabei eine Handlung, in der eine Position gewonnen wird, die
ihre Kontur gegenüber möglichen anderen Positionen erhält: gegen-
über anderen inhaltlichenFestlegungen wie gegenüber den zustim-
286
menden oder abweichenden Meinungen der anderen.Nur in diesem
doppelten Spielraum ist eine eigeneFestlegung und damit überhaupt
eine Festlegungmöglich. Diese ist »erkennend«, insofern sie auf einer
unterscheidenden Sondierung von Möglichkeiten beruht. Der Aus-
druck »erkennend« ist dabei zu verstehen im Sinn einer Bemühung um
Erkenntnis, sei diese erfolgreich oder nicht. Wer sich »erkennend« auf
etwas - einen Satz oder einen Vorsatz, eine Theorie oder eine Art zu
leben - festlegt, hat Gründe oder glaubt Gründe zu haben, sich in die-
ser Weise zu binden. Er spricht sich - und wir sprechen ihm oder ihr
- die Fähigkeit der rationalenOrientierung in den unterschiedlichen
Angelegenheiten seines Lebens zu. Die umfassendste dieser Angele-
genheiten aber ist das eigene Leben selber - und es ist zunächst durch-
aus offen, ob und in welchem Sinn hier eine rationale Bestimmung
überhaupt möglich ist.
Offen ist dies deshalb, weil hier so etwas wie letzte Gründe gerade
nicht zur Verfügung stehen. Wie Heidegger und Wittgenstein mit
Recht betonen, kann das, was eine tragende praktische Bestimmung
trägt, nicht immer noch eine weitere Bestimmung sein. Das ist aber
nicht das Ende einer rationalen Lebensführung. Vielmehr kann man
sich klarmachen, dass sich praktische Überlegungen und Festlegun-
gen notwendigerweise inmitten einer historisch entfalteten und sozial
geteilten Welt vollziehen. Sie vollziehen sich unter Aufnahme von Ge-
gebenheiten und Gelegenheiten, die nicht alle auf einmal zur Dispo-
sition des eigenen Bestimmens stehen. Sie vollziehen sich unter Be-
dingungen eines rezeptiven und responsiven Verhaltens, das der spon-
tanen Ausrichtung des Handelns zugleich Rückhalt und Perspektive
verleiht. Jede Bestimmung unserer selbst vollzieht sich als ein Sichein-
lassen auf einen Spielraum von Möglichkeiten, in dem sich die Mög-
lichkeit einer eigenen Festlegung eröffnet.
Wer überhaupt etwas bestimmen will, sei es in theoretischer oder
praktischer Absicht, muss sich in mehrfacher Hinsicht bestimmen las-
sen: durch die Materie, durch das Medium und durch das Motiv sei-
ner Bestimmung. Jede erkennende Festlegung muss auf das eingehen,
was jeweils Gegenstandihrer Erkundung ist. Dabei ist sie an den Zu-
gang intersubjektiver Medien gebunden, die auch demjenigen Hin-
sichten der Artikulation seiner selbst und der Welt vorgeben, der da-
bei ist, eine eigene Sicht der Dinge zu entwickeln. Und schließlich ist
jede theoretische oder praktische Bemühung um Erkenntnis von Mo-
tiven geleitet, durch die geklärt oder wenigstens vorgeklärt ist, was im
jeweiligen Bereich überhaupt als ein relevantesWissen und Wollen
287
zähle. In jeder dieser Dimensionen müssen wir uns auch und gerade
dann leiten lassen,wenn wir uns aus eigener Kraft leiten wollen.Indem
wir bestimmen, lassen wir uns bestimmen.

IO.

Die passiven Komponenten des Bestimmens sind Legion; daher ist es


wichtig, die für eine Theorie der Selbstbestimmung entscheidenden
Aspekte zu markieren. Es lassen sich drei Dimensionen unterschei-
den, in denen alles Bestimmendsein zugleich ein Bestimmtsein ent-
hält.
Erstens ein Bestimmtsein ex ante: Durch vergangene Ereignisse
sind wir immer schon bestimmt, unter anderem durch uns selbst. Das
ist eine weitgehend triviale Bedeutung der Bedingtheit unseres akti-
ven Daseins. Von der genetischen Ausstattung über die historische
und kulturelle Zeit, die familiäre und soziale Herkunft und die jeweils
herrschende ökonomische und politische Lage sowie durch ihre ver-
gangenen Erlebnisse und Taten finden sich handelnde Individuen in
einer vielfach - und vielfach unabänderlich - bedingten Situation vor.
Allein in einer solchen Situation aber kann die Freiheit zur eigenen
Bestimmung bestehen. 9 Wer nicht in vieler Hinsicht bestimmt wäre,
könnte selbst nichts bestimmen; es wäre nichts da, dem gegenüber
eine eigeneBestimmung ein Gewicht haben könnte. Bestimmt zu sein
ist ein konstitutiver Rückhaltvon Selbstbestimmung.
Zweitens ein Bestimmtwerden ex post: Praktische Festlegungen
haben immer auch die Bedeutung einer Festlegung darauf, wovon wir
bestimmt sein - und damit: uns weiterhin oder künftig bestimmen
lassen- wollen. Das ist nun alles andere als trivial, denn es geht hier
nicht lediglich um die Konsequenzen,sondern ebenso um den Gehalt
eigener Entscheidungen. Oft wollen wir das Ziel unseres Handelns
gerade so bestimmen, dass wir an diesem Ziel in wesentlichen Hin-
sichten bestimmbar bleiben. Diese Bestimmbarkeit betrifft nicht al-
lein die Ausgangssituation existentieller Festlegungen, sondern zu-
gleich das, woraufwir uns festlegen, wenn wir bestimmen, was wir in
unserem Leben wollen. Wo immer wir dies tun, nehmen wir Einfluss
darauf, wie wir uns weiterhin bestimmenlassenwollen. Man denke nur
an den Entschluss, sich diesen Film anzusehen oder diese Zeitung zu
9 Das hat zuletzt P. Bieri, Vom Handwerk der Freiheit, München 2001 deutlich ge-
macht.
288
abonnieren; hierbei nehmen wir in Kauf, unter Einflüssen zu stehen,
die für uns nicht absehbar sind. Weitreichender ist die Wahl eines Be-
rufs, eines Wohnorts, eines sexuellen oder sonstigen Parmers, oder,
zugegebenermaßen extreme Beispiele, der Entschluss, ein Kind in die
Welt zu setzen oder ein Buch zu schreiben. Wie wir uns dabei auch be-
stimmen, immer lassen wir uns dabei auf Situationen ein oder orien-
tieren uns auf Situationen hin, in denen wir auf eine noch unüber-
schaubare Weise bestimmt werden- und von denen wir, soweit wir se-
hen können, auch bestimmt werden wollen. Zur selbstbestimmten
Lebensführung gehört das Geschick (und manchmal das Glück), sich
in Situationen zu finden, von denen man bestimmt sein möchte. Sich
bestimmen zu lassen ist ein konstitutives Telosvon Selbstbestimmung.
Schon dieser zweite Aspekt ist in der Handlungstheorie oft ver-
nachlässigt worden, ganz zu schweigen von dem dritten: einem Be-
stimmtwerden in actu. Denn bestimmt zu sein und bestimmt zu wer-
den ist nicht nur eine unumgängliche Voraussetzung und nicht nur ein
inneres Anliegenvon Selbstbestimmung, es ist darüber hinaus ein in-
tegrales Kennzeichen ihres Vollzugs.Kein Akt der Selbstbestimmung
und erst Recht keine selbstbestimmte Praxis kann ohne entwickelte
Fähigkeiten der Rezeptivität gelingen. Sich bestimmen zu lassen ist
nicht nur ein Rückhalt und Zielpunkt, sondern darüber hinaus ein
konstitutives Verfahrenvon Selbstbestimmung.
Es ist vor allem diese prozessualeBedeutung des Bestimmtwerdens,
um die es mir im Folgenden geht. Ich möchte versuchen, den Prozess
eines selbstbestimmten Lebens unter angemessener Berücksichtigung
ihrer passiven Leistungen zu charakterisieren.

II.

Ob wir vorwiegend uns oder vorwiegend etwasbestimmen, jedes Mal


kann das Erkennen nur gelingen, wenn es gelingt, sich darauf einzu-
lassen, worin und worüber Orientierung gewonnen werden soll.
Schon die einfachste theoretische Bestimmung kann dies verdeutli-
chen. Man muss eben hinschauen, wenn man wissen will, wie viele
Sitzplätze sich in einem Raum befinden. Dieses materialeBestimmt-
sein unseres Erkennens aber ist nicht ohne das Komplement eines me-
dialen Bestimmtseins zu denken. 10 Denn zur Bestimmtheitvon etwas
gelangen wir nur im Medium von Begriffen, mit denen es alsetwasbe-
10 Vgl. Studie 8 in diesem Band.
stimmt werden kann. Durch uns bestimmt werdenkann etwas nur,
weil wir selbst durch die Medien und Materien unserer Bestimmung
längst vielfach bestimmt sind. Das Vokabular einer Sprache, um das
naheliegendste Beispiel zu nennen, stellt eine Fülle von Möglichkei-
ten der gedanklichen und sachlichen Verbindung bereit, in der wir
uns immer bereits aufhalten (in die wir immer schon »geworfen«
sind), wenn wir nur eine Bestimmung geben. Wir sind festgelegt auf
eine unbestimmte Reihe von Unterscheidungen, wenn wir nur eine
Unterscheidung gebrauchen. Wir sind festgelegt auf eine unbe-
stimmte Menge von Meinungen, wenn wir nur eine Meinung bilden.
Aber dieses Festgelegtsein kann als ein normatives - und also: als ein
grundsätzlich revidierbares - Festgelegtsein nur zusammen mit der
Möglichkeit der aktiven Festlegungverstanden werden. In unserem
theoretischen Bestimmen sind wir immer bereits durch die Medien
und Materien unseres Bestimmens bestimmt; im Spielraum unserer
Festlegungen bestimmtsind wir jedoch nur, weil wir aus eigener Son-
dierung und eigener Überlegung bestimmend sein können. Nur so
nämlich ist der Spielraumunseres Bestimmens zu denken: als ein Feld
unübersehbarer und im Ganzen unverfügbarer Möglichkeiten, die
eben darin Möglichkeiten sind, dass wir sie ergreifen oder verwerfen
können.
Wenn aber das theoretische Erkennen ein Tun ist - eine »Hand-
lung«, wie es bei Kant heißt -, so muss auch das Woraufhin dieses
Handelns berücksichtigt werden. Das theoretische Verhalten ist nicht
einfach auf eine Sammlung von Konstatierungen aus, sondern auf ein
orientierendes Wissen. Es geht ihm um die Bildung von relevanten
und wahren Meinungen. Es hat seinen Sinn darin, Aufichlussüber die
Welt zu geben. Darin steht die Bildung unseres Wissens immer in ei-
·nem Verhältnis dazu, was wir in Erfahrung bringen, was wir wissen
wollen. Deswegen sind wir im theoretischen Verhalten nicht allein
durch die Materie und das Medium, sondern auch durch die Motive
unseres Erkennens bestimmt. Dies geschieht häufig auf eine unthe-
matische Weise, einfach durch das Interesse, das die Hinwendung zu
den Gegenständen unseres Erkennens bestimmt. (Was ein »Sitzplatz«
ist, hängt beispielsweise sehr von der Art der Gelegenheit ab, für die
Plätze zum Sitzen gesucht werden.) Wären wir nicht auf die eine oder
andere Weise motiviert, also vom Geschehen der Welt bewegt, käme
die Bewegung des Erkennens gar nicht in Gang. Ohne einen solchen
Antrieb käme das Wissenwollen nicht zustande, das nach einer Be-
stimmung des Unbestimmten verlangt. In und mit dem materialen
und medialen Bestimmtsein lassen wir uns durch unsere positive und
negative Affinität für die Zustände der Welt bestimmen.

12.

In praktischen Überlegungen wird diese Affinität eigens zum Gegen-


stand der Besinnung. In ihnen versuchen wir festzulegen, wie wir un-
ser Handeln ausrichten wollen. Wir versuchen zu fixieren, woran wir
Interesse haben und woran wir Anteil nehmen wollen. Dabei versu-
chen wir nicht allein Gründe für dieses oder jenes, sondern Beweg-
gründe zu finden, die uns selbstin unserem Tun und Lassen zu leiten
vermögen. Dies geht nicht, ohne zu eruieren, woran wir Interesse und
Anteil haben. Es geht nicht ohne einen erinnernden und imaginie-
renden Blick auf Situationen unseres Lebens. Nur so können wir er-
kennen, welche Möglichkeiten wir haben und welche davon wir ha-
ben wollen. Diese lassen sich nicht geradewegs erfinden, sie müssen in
der wachen Begegnung mit der Welt aufgefunden werden. Sich an-
sprechen zu lassen von Möglichkeiten der je historischen Welt ist da-
bei nicht nur eine Voraussetzung und eine Konsequenz des prakti-
schen Bestimmens; und es ist mehr als nur eine Prozedur; es ist fast
sein ganzer Sinn. Denn in praktischen Überlegungen von einiger
exientieller Tragweite versuchen wir zu bestimmen, wovonwir bewegt
sein wollen.
Wie aber sieht diese in praktischer Hinsicht basale Bestimmung
aus? Es ist nicht so wie bei Hume, dass bestimmte Motive letztend-
lich die Oberhand gewinnen. Es ist nicht so wie in der Moraltheorie
Kants, dass externe Gründe maßgebend werden. Es ist nicht so wie
bei Hegel, dass alle Abhängigkeit des Willens wegfällt, sobald er nur
frei zu sich selber findet. Es ist nicht so wie bei Nietzsche, dass wir
uns in einem freien Akt der Willkür selbst erfinden. Es ist auch nicht
so wie bei Heidegger, dass wir uns vorwiegend freihalten für Ereig-
nisse, die für uns zu unserem Schicksal werden. Es ist jedenfalls nicht
ganz so, wie diese Autoren es beschreiben. Ein hilfreiches Korrektiv
der einseitigen Betonungen, die auch in der heutigen Diskussion
weiter wirksam sind, sehe ich in den Studien, die Harry Frankfurt
dem praktischen Selbstverhältnis gewidmet hat. In unseren basalen
praktischen Stellungnahmen, so Frankfurt, legen wir uns freiwillig
auf ein Bestreben fest, in dem wir uns als festgelegt erfahren.Wir be-
jahen etwas, wovon wir bemerken, dass uns leidenschaftlich daran
liegt; wir bejahen etwas, woran wir affektiv und volitiv gebunden
sind.
In diesem Junktim des Unwillkürlichen und des Freiwilligen liegt
Frankfurts zentrale Einsicht. Wir treffen unsere tragenden existentiel-
len Festlegungen nicht in der Weise, dass wir ersteine bewusste und
begründete Wahl dieser oder jener uns wertvoll erscheinenden Ziel-
setzung vornehmen, um uns dann auf den Weg ihrer Verwirklichung
zu machen. Vielmehr konstituiertdie Leidenschaft für eine Sache den
Wert, den sie für uns hat oder gewinnt - wie es Frankfurt am Beispiel
der Liebe plastisch erläutert. 11 Nicht selten zu unserer Überraschung
erfahren wir uns als Personen, denen vor allen Dingen an diesenDin-
gen liegt. Eine solche Erfahrung alleine aber macht noch keine bin-
dende Orientierung aus. Sie ergibt sich vielmehr erst aus der Affirma-
tion der Affinität, die wir für eine Person oder Situation, Tätigkeit
oder Zielsetzung empfinden. So steht es um die zentralen Direktiven
eines selbstbestimmten Lebens. Wir verfügen nicht über sie, auch
wenn wir ihnen aus freien Stücken folgen. Wer sich selbstbestimmen
will, muss sich nicht zuletzt von sichbestimmen lassen.

13.

Zu lassenbedeutet hier, eine bestimmte Art des Strebens zuzulassen.


Keine Selbstbestimmung kann sich über die faktischen Antriebe und
Affinitäten des eigenen Gestimmtseins erheben. Nur wenn sie sich
von Motiven tragen lässt, die sie tatsächlich hat, kann eine Person fest-
legen, welches Leben sie wollen kann und - sehr viel beschränkter -
welches sie tatsächlich will. Dies aber vermag nur, wer auf seine eige-
nen Antriebe und Affinitäten zu hören und zu achten, wer sie zu mo-
derieren und zu modifizieren vermag. Nicht jede Möglichkeit näm-
lich, auf die einer sich als fixiert erfährt, ist eine, die er darum auch be-
jahen muss. Sonst wäre ja die Freiheit der voluntativen Affirmation
oderNegation der eigenen Antriebe nicht gegeben. Aber diese Freiheit
ist primär eine Freiheit der Affirmation von Richtungen des eigenen
Begehrens. Denn nur auf der Basis solcher Affirmationen kann eine
Negationoder Modifikation eigener Antriebe wirksam gelingen. Nur
indem wir uns dazu bestimmen, uns von bestimmtenunserer Motive
bestimmen zu lassen, können wir Grundrichtungen unseres Daseins
11 Es ist, so Frankfurt, gerade dieses weitreichende unwillkürliche Festgdegtsein, das
der Lebensführung eines Individuums den Kontrast sinnvoller willkürlicher Festle-
gungen eröffnet: ders., The lmportance ofWhat We Care About, Cambridge 1988.
selbst bestimmen. Die leitenden Direktiven unseres Lebens ergeben
sich als etwas, das - im doppelten Sinn der Wendung - mit unserem
Willen geschieht.
Das aber geschieht nicht in einem leeren Raum. Es geschieht- wie
schon gesagt - inmitten einer historisch und kulturell erschlossenen
Welt, in der alle biographische Erfahrung immer in einem Kontext so-
zialer Erfahrung steht. Es geschieht in Zusammenhängen teilbarer
oder zumindest mitteilbarer Überzeugungen darüber, was in der eige-
nen Situation wert und wichtig ist. Auch wenn sich das existentiell
grundlegende Wollen keiner Begründung verdankt, so steht es doch
nicht außerhalb des intersubjektiven »Raums der Gründe«, in dem es
verbindliche Orientierungen überhaupt nur gibt. 12 Rückhalt einer au-
tonomen Lebensführung ist ein zwar nicht aus Überlegung entstande-
nes, aber doch der Überlegung standhaltendesWollen. Die Entschei-
dung für diesen oder jenen Kurs des Lebens bleibt durch Gründe je-
der.reit anfechtbar. Diese Kritik kann unerwünschte Konsequenzen
eines Handlungswegs ebenso betreffen wie seine Unvereinbarkeit mit
anderen subjektiv wesentlichen Zielen; sie kann überdies die
Wünschbarkeit oder das Lohnenswerte der erstrebten Situationen in
Zweifel ziehen. Diese Kritik kann somit Anlass für eine Revision des
basalen subjektiven Wollens sein. Und mit einer solchen Veränderung
verändern sich wiederum die Gesichtspunkte, von denen aus wir eine
Bewertung unserer Lebenslagen vornehmen.
Eine Analogie zur Wahrnehmung ist hier hilfreich. Auch die Über-
zeugungen, die wir auf dem Weg der Wahrnehmung gewinnen, wer-
den nicht durch Schlussfolgerungen gewonnen. Aber aus ihnen lassen
sich Folgerungen ziehen und sie können ihrerseits mit Gründen in
Zweifel gezogen werden. Entsprechend haben die Stellungnahmen ei-
ner Person, die dem gelten, was ihr eigentlich wichtig ist, eine nicht-
neutrale Stellung zu ihren übrigen Urteilen über das, was für sie selbst
oder überhaupt gut ist. Wenn wir mit starken subjektiven Wertungen
Stellung beziehen, nehmen wir Stellung nicht allein zu den Möglich-
keiten unseres Lebens und Handelns, sondern zugleich zu vielen der
evaluativen Überzeugungen, denen wir bis dahin verpflichtet waren.
Wir modifizieren nicht allein die Ökonomie unseres Strebens, son-
dern zugleich den Haushalt unserer Ansichten über die Welt.

12 Im Anschluss an Wilfrid Seilars haben dies zuletzt John McDowdl und Robert B.
Brandom hervorgehoben. In diesem Punkt zeigt sich die Einseitigkeit von Heideg-
gers Analyse besonders deutlich: Er siedelt die Entschlossenheit des eigentlichen Da-
seins außerhalb dieses Raumes an.

2 93
Wegen dieser Einbettung habe ich nicht allein das theoretische, son-
dern auch das praktische Bestimmen als eine erkennendeFestlegungbe-
zeichnet. Die Richtung gebenden praktischen Festlegungen, die wir
vollziehen, haben in mehrfacher Hinsicht einen kognitiven Charak-
ter, auch wenn hier, anders als im theoretischen Fall, die Festlegung
nicht in erster Linie eine Meinung, einen Satz, sondern ein Wollen,
einen Vorsatz betrifft. Erstens: Ich erkenne und erkenne an, dass ich
dies oder das will. Ich entdeckevon mir, ich erfahre mich als jemanden,
dem dies oder das wirklich wichtig ist. Überdies akzeptiere ich, dass es
so ist. Zweitens: Die Bejahung, dieser für ein freies Wollen entschei-
dende Akt des Willens, ist aber nur möglich, wenn das von mir un-
terschriebene Bestreben in meinen Augen tatsächlich sinnvoll ist:
wenn ich also sehe (oder zu sehen meine), dass ich es sinnvollerweise
wollen kann. Dies aber vermag ich nur, wenn es eine wie immer ge-
ringe Aussicht aufVerwirklichung meines Bestrebens gibt (und liege
sie auch nur darin, »das Unmögliche zu versuchen«, also schon den
Versuch als Realisierung zu sehen). Außerdem darf das, woran mir so
liegt, nicht in einem diametralen Gegensatz zu anderen meiner ele-
mentaren Optionen stehen (wie spannungsreich es sich zu diesen
auch verhalten mag; diese Spannung kann ich wollen). Damit ist drit-
tens verbunden, dass ich im Licht meines nunmehr revidierten oder
auch nur bekräftigten Wollens den Situationen meines Lebens auf
eine neue Weise begegne: im eigenen Erleben und Erkennen nehme
ich mich und meine Welt auf eine neue Weise wahr.
Auch wenn sie sich keiner Begründung verdanken, vollziehen sich
die basalen praktischen Festlegungen doch in einem holistischen Zu-
sammenhang von Gründen. Dieser ist kein überschaubares Ganzes,
sondern stellt eine Fülle von Verweisungen dar, von denen unbe-
stimmt viele die Situation und das Verständnis betreffen, aus denen
heraus die Willensbildung erfolgt. 13 Die Affirmation wertbildender
Leidenschaften stellt somit keine letzte, alle Bewertung erst ermögli-
chende Entscheidung dar. Sie spielt sich vielmehr stets von neuem in-
mitten eines Kraftfelds von Gründen ab, dessen Linien durch eine re-
vidierte Festlegung lediglich neu geordnet werden. Die starken prak-
tischen Stellungnahmen, die den Rahmen eines selbstbestimmten
Lebens binden, dürfen also nicht in Isolation von der übrigen Leben-
spraxis gesehen werden. Denn selbstbestimmt lebt nur, wer in der
13 Zum näheren Verständnis dieses »Ganzen« s. Studie 5.

294
Lage ist, sich durch die eigenen Entscheidungen tatsächlich binden zu
lassen, wer also Verstand und Phantasie genug hat, sich aus ihrer Per-
spektive durch wahrscheinliche und unwahrscheinliche Situationen
seines Lebens hindurch zu bewegen. Zugleich kann selbstbestimmt
nur eine Lebensführung heißen, die von solchen Stellungnahmen
nicht allein getragen,sondern weiterhin für sie offen ist - die also wil-
lens und fähig ist, auf die Veränderungen zu reagieren, denen die ei-
gene Affinität für die Dinge des Lebens unterliegt.

Auf diesen unabschließbaren Prozess der Selbstlenkung muss sich ein-


lassen, wer nicht allein Spielball, sondern Spieler im Geschehen seines
Lebens sein möchte. 14 In den eigenen Festlegungen Spiel zu haben
und Spielraum zu gewinnen, dürfte die beste Weise sein, am eigenen
Leben Anteil zu nehmen. Wer diesen Spielraum hat und ihn sich er-
hält, bleibt ansprechbar - und damit: irritierbar - durch die Welt, die
anderen und durch sich selbst. Eben darin liegt die Freiheit eines
selbstbestimmten Lebens: im Unbestimmten eine vorläufige Bestim-
mung und in der eigenen Bestimmung ein Gespür für das Unbe-
stimmte zu haben.
Das Zusammenbestehen von Bestimmtheit und Unbestimmtheit,
von Bestimmtsein und Bestimmendsein ist für einen nicht-illu-
sionären Begriffebenso zentral wie für ein nicht-illusionäres Verhältnis
von Selbstbestimmung. Nur weil wir an die Welt, gegenüber den an-
deren und durch uns selbst gebunden sind, ist es uns möglich, uns
selbst zu binden:Das ist die Moral, die schon die Sirenenepisode der
Odyssee der Philosophie mitgegeben hat. In gelingender Selbstbe-
stimmung kann nur leben, wer offen für die Wahrnehmung äußerer
und innerer Möglichkeiten ist, die nicht von ihm bestimmt worden
sind und vielfach nicht für ihn bestimmt erscheinen. Zugleich kön-
nen nur die für die Unwägbarkeiten ihrer eigenen Lebenssituation
aufgeschlossen bleiben, die die Fähigkeit haben, eine eigeneAntwort
auf die ihnen begegnenden Verhältnisse zu finden. Eine eigene Ant-
wort auf die ihnen begegnenden Verhältnisse aber werden sie nur fin-

14 Um dies richtig zu verstehen, müssen wiederum einseitig aktivistische und passivi-


stische Deutungen - diesmal des Spiels und der Spiel-Metapher - zurückgewiesen
werden, wie sie einander bei Schiller und Nietzsche einerseits, bei Hcidegger und
Gadamer andererseirs gegenüberstehen; vgl. Studie 9.

2 95
den, wenn sie eine eigene Antwort auf die ihr Denken, Fühlen und
Handeln bewegendenKräfte geben. Sich bestimmen zu lassen und
doch zugleich sich bestimmenzu lassen - in ihrer Lage ist das die gün-
stigste Lage. Wir können also von gelingender Selbstbestimmung nur
reden, wenn wir den Subjekten dieser Bestimmung das Vermögen zu-
sprechen, sich in ihrer Weise einzulassen auf Verhältnisse, in die sie
eingelassen sind.
Darin aber liegt, wie man nun erneut sehen kann, eine umfassen-
de Fähigkeit, wie sie auch im theoretischen Bestimmen aufgerufen ist.
Denn es liegt hierin ein integrales Kennzeichen von Rationalität, sei
sie nun theoretischer oder praktischer oder sonst einer Provenienz.
Rational kann sich nur verhalten, wer sich durch Gründe bestimmen
lässt. Durch Gründe aber kann sich nur bestimmen lassen, wer in der
Lage ist, sich bestimmen zu lassen: durch das, worauf die Gründe ba-
sieren oder worauf sie verweisen. Sich so bestimmen lassenaber kann
nur, wer zugleich in der Lage ist, eine Bestimmung zu geben:im Ge-
brauch von Medien, im Austausch mit einem Gegenüber, in der Be-
handlung von Gegenständen und im Rückgriff auf Motive, die einen
auch dort bestimmen, wo wir uns oder etwas selbstbestimmen.

16.

Wer aber ist das, der sich so verliert und so zu sich findet? Es ist einer
oder eine unter Anderen. Es ist jemand Bestimmtes, der sich gegen-
über Anderen als jemand erfährt, der anders als die Anderen ist. Alle,
die einander Andere sind, können ihre vorübergehende Bestimmung
nur in Antwort auf die Anderen finden. Sie können nicht alleine ste-
hen, ohne auf die eine oder andere Art zueinander zu stehen. Dieses
Zueinander hat viele Seiten. Es zeigt sich dort, wo Gründe formuliert
werden und ebenso dort, wo mit- und gegeneinander gehandelt wird.
Niemand kann sich bestimmen lassen, ohne sich von den Anderen be-
stimmen zu lassen. Diese Möglichkeit gehört der Fähigkeit zur Selbst-
bestimmung von Anfang an zu.
Das bedeutet jedoch nicht, dass Selbstbestimmung immer zugleich
ein moralischesSichleitenlassen wäre. Vielmehr ergibt sich mit der
Fähigkeit zur Selbstbestimmung erst die Möglichkeit, sich mehr oder
weniger moralisch gut zu verhalten. Die konstitutive lntersubjekti-
vität von Selbstbestimmung schafft Raum für Moral und Unmoral.
Sie eröffnet die Möglichkeit, sich so oderso von Anderen bestimmen
296
zu lassen und folglich: sich ihnen gegenüber soodersozu geben. Wenn
praktisch, nach Kants Wort, a!les das ist, »was durch Freiheit möglich
ist«15 , gehört gerade das moralisch fragwürdige Verhalten zu den Mög-
lichkeiten, die durch Selbstbestimmung freigegeben werden. Da dies
aber grundsätzlich ein Sichverhalten unter und gegenüber Anderen
ist, so gibt es andererseits keine Selbstbestimmung außerhalb der
Reichweite von Moral. Wer die Fähigkeit zur Selbstlenkung hat, be-
sitzt auch die Fähigkeit, einen moralischen Gebrauch dieser Freiheit
zu machen. Ob und wann es zu diesem Gebrauch kommt und worin
er jeweils besteht - das muss sich zeigen. Die moralische Einstellung
ist eine wichtige Modifikation von Selbstbestimmung, nicht aber ihr
Inbegriff.

Wir sind gewohnt, diese Modifikation als eine Begrenzung des Han-
delns zu verstehen. Wir sollen ein Verhalten unterlassen, durch das
andere gedemütigt oder missachtet werden, wie bequem oder profita-
bel es auch sein mag. Insofern bedeutet Moral eine Einschränkung des
Kreises erlaubter Handlungen. Aber die Basis dieser Begrenzung ist
selbst keine Beschränkung, sondern gerade eine Entschränkung des
Verhaltens gegenüber den Anderen. Wie am deutlichsten Emmanuel
Levinas gesehen hat, steht am Anfang der Moral nicht eine Restrikti-
on, sondern die Aufhebung einer Restriktion: die Bereitschaft näm-
lich, sich durch das Wohl und Wehe des Anderen bestimmen zu las-
sen. Einen Sinn für Moral hat nur, wer durch andere ansprechbar und
damit von ihnen bestimmbar ist.
Diese Offenheit für Andere ist nicht die Folge einer Pflicht. Viel-
mehr sind moralische Regeln und Pflichten die Folge einer Offenheit
für Andere. Die Quelle der Moral ist ein freiwilliges und wechselseiti-
ges Sicheinlassen auf die Situation eines jeweils Anderen. Dieser Zu-
wendung entspringen die besonderen Bindungen, die ihm gegenüber
bestehen. Sie ergeben sich daraus, dass ich mich mit dem Anderen in
einer Situation finde, durch den sich uns, mir und dem Anderen, ein
Spielraum ergibt, in dem wir füreinander ein beredtes Gegenüber sein
oder aber einander einfach sein lassen können. Wir erkennen einan-
der als welche, die in Leidenschaft oder Gleichgültigkeit - oder Lei-
15 1. Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werke, hg. v. W. Weischedel, Frank-
furt/M. 1968, Bd.IV, B 828, A 800.

297
denschaft und Gleichgültigkeit - zueinander gehören. Aus dieser in-
timen Anerkennung ejnigerfolgen die Gründe für eine Anerkennung
beliebigerAnderer. Sie folgen, sobald sich die Erfahrung hinzugesellt,
dass diesen entfernteren Anderen der Spielraum einer freien Weltbe-
gegnung ebenso wichtig ist wie mir selbst.
Der Weg zu dieser erweiterten Erkenntnis ist in der intimen Aner-
kennung vorgezeichnet. Denn das Anerkennen eines Einzelnen ist
immer schon mehr als das Anerkennen von jemand Bestimmtem, ge-
nauso wie es von seiner Seite immer schon mehr als das Anerkannt-
werden durch einen Bestimmten ist. Gerade im Verhältnis der Aner-
kennung bleibt die Rolle der Beteiligten wesentlich unbestimmt.
Denn niemand ist seiner Position, seiner Fähigkeiten, seines Gesichts
sicher. Jeder ist jemand Anderer oder kann es für Andere werden. Der
Dritte, heißt das, ist im Anderen schon enthalten. Die Anerkennung
eines bestimmten Anderen enthält schon das Moment der Anerken-
nung eines beliebigen Anderen. Moral ist daher letztlich eine Kome-
quenz der Anerkennung, wie sie in Kontexten gelingender Selbstbe-
stimmung wenigstens partiell erfahren und gewährt wird. Ob es und
wie es zu dieser Konsequenz kommt, hängt davon ab, wie wir uns in
unserem Verhalten durch den Anspruch der Anderen bestimmen las-
sen.
Jedoch wird der Gedanke der ethischen Bestimmbarkeit ver-
schenkt, wenn an dieser Stelle - wie es bei Levinas und seinen kon-
trakcualistischen Widersachern geschieht - erneut Barrieren zwischen
aktiver und passiver, symmetrischer und asymmetrischer Bindung er-
richtet werden. Moralische Anerkennung ist stetszugleich aktiv und
passiv, symmetrisch und asymmetrisch. 16 Sie ist ein Sichbestimmen-
lassen, das zu einer rücksichtsvollen Bestimmtheit im Umgang mit
den Anderen führt. Sie ist ein Wahrnehmen elementarer Gleichheit
unter ihren Adressaten, im Bewusstsein ihrer weitreichenden Ver-
schiedenheit. Sie will nicht über die Anderen bestimmen, sondern -
so weit es geht - mit ihnen. Auch dieses Sichabstimmen aber erfüllt
seinen Zweck nur, wenn es allen Gelegenheit gibt, den Anderen ge-
genüber das Bestimmen zu lassen;

16 Dies habe ich ausgeführt in: Moralischer Adressat und moralisches Gegenüber, in:
M. Seel, Versuch über die Form des Glücks, Frankfurr/M. 1995.
Nachweise

r. Am BeispielderMetapher.Zum Verhältnisvon buchstäblicherundfigürlicher


Rede- zuerst erschienen in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.),
Intentionalität und Verstehen, Frankfurr/M. 1990, 239-273.
2. Über Richtigkeit und Wahrheit. Erläuterungenzum Begriff der Welter-
schließung- zuerst erschienen in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie
41/i993, 509-524.
3. Sprachebei Benjamin und Heidegger- in gekürzter Form zuerst erschienen
in: Merkur 46/i992, 333-340.
4- Die ErfollungeinesunerfolltenVersprechens. RobertB. Brandomspragmati-
scheSprachphilosophie-in gekürzter Form zuerst erschienen in: Neue Zür-
cher Zeitung Nr. 253 v. 3uo./r.rr.1998, 67f
5. Für einenHolismusohneGanzes- wird auch erscheinen in: G. W Bertram/
J.Liptow (Hg.), Holismus in der Philosophie. Beiträge zu einem zentralen
Motiv der Gegenwartsphilosophie, Weilerswist 2002.
6. Der Konstruktivismusund sein Schatten - unter dem Titel Kapriolendes
Konstruktivismusist die erste Hälfte dieses Texts zuerst erschienen in: Mer-
kur 55/2001, 51-57.
7. Medien der Realität- Realitätder Medien- zuerst erschienen in: S. Krämer
(Hg.), Medien - Computer - Realität, Frankfurt/M. 1998, 244-268.
8. Bestimmenund Bestimmenlassen. Anfange einer medialenErkenntnistheorie
- zuerst erschienen in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 46/r998, 351-
365.
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sophie Bad Homburg (Hg.), Heidegger: Innen- und Außenansichten,
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10. Wegeeiner Philosophiedes Glücks- zuerst erschienen in: J. Schummer
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n. Aporien rationalerSelbstbegrenzung-zuerst erschienen in: Ch. Hubig / H.
Poser (Hg.), Cognitio Humana - Dynamik des Wissens und der Werte,
Berlin 1997, 57-68.
12. Ein Lob der Willensschwäche-instark gekürzter Form zuerst erschienen in:
Merkur 55hoor, 614-619.
13. ÜberdasBösein derMoral- zuerst erschienen in: Merkur 50/r996, S. 772-
780.
14. Drei Regelnfar Utopisten- zuerst erschienen in: Merkur 55hoor, 747-755.
15.KleinePhänomenologie desLassens- zuerst erschienen in: Merkur 56/2002,
149-154-
16. Sich bestimmenlassen.Ein revidierterBegriffder Selbstbestimmung- Ori-
ginalbeitrag.

2 99
Personenregister

Abel, G. III-II5, II? Elgin, C. Z. 46, 56 f.


Adorno, Th. W 214, 261, 272-274, Elster, J. 214f.
2 77 Epikur 274
Apel, K.-0. 62, 70 Esfeld, M. 97
Aristoteles 23, 86, 200, 228-231, 233-
236, 240, 253 Fahrenbach, H. 174
Auster, P. 274 Feyerabend, P. 65
Austin, J. 85, 231, 234, 236 Fichte, J. G. 282
Fink, E. 180
Bateson, G. 124, 153 Fodor, J. 92f.
Baudelaire, Ch. 197 Forget, Ph. 13
Baumgarten, A. G. 33, 35 Foucault, M. 46, 222
Beckett, S. 275 Frankfurt, H. 219, 239, 241, 291f.
Benjamin, W 68-77, 79, 267 Ftege, G. 68, 148
Berger, P. 102 Freud, S. 233, 267
Bieri, P. 288
Black, M. 19, 24, 33 Gadamer, H. G. 70, 159, 180, 192,
Bloch, E. 198, 259 295
Blumenberg, H. 30 f., 33 Gamm, G. 149
Bogarr, H. 246-251, 253-255 Gerhardt, V. 210, 285
Bohrer, K. H. 197-200, 202 Gethmann, C. F. 45, 174
Brandom, R. B. 81-88, 90, 93, 95, Goodman, N. 45-47, 49, 54, 56f. 59,
96 f., 99, n9, 147, 152, 293 65, 74, II8
Bricmom, J. 103 Grice, H. P. II, 14, 16, 39, 40, 42f.,
Büchner, G. 197 84
Griffin, J. 201
Carnap, R. 68f., 81
Chladenius, J. M. 33f. Habermas, J. n-14, 16, 39, 40, 45,
Cioran, E. M. 200 61-63, 66, 74, 79, 85 f., 152, 174,
193, 2oof., 203, 209, 210f., 285
Damo, A. C. 16 Hacking, I. 102-104, 106, m, II? f.
Davidson, D. 14, 19, 23, 29, 38, 40, Hallströrn, L. 238
62, 70, 79, 81, 88, n7-II9, 148, Hamann, J. G. 99
150, 152, 159, 162, 231f., 234, 235, Hare, R. 230, 233, 235
236, 243 Haverkamp, A. 13
Derrida, J. 13, 14, 30, 38, 40, 46, 74, Hegel, G. W F. 27, 81f., 84, 99,123,
78f., 192 148, 185, 248, 272, 282f., 291
Dettmann, U. 109 f. Heidegger, M. 45-50, 54, 55-57, 59 f.,
Dummen, M. 92 64, 66-79, 82, 85-87, 99, 148, 156,
160, 166, 169-195, 198, 274, 276f.,
Edwards, J. C. 77-79 284-287, 291, 293, 295

300
Heidemann, I. 180 164, 240, 293
Heider, F. 125 Melville, H. 274
Heraklit 181, 188 Menke, B. 73-75
Herder, J. G. 99, 153 Menninghaus, W. 73 f.
Hobbes, Th. 256 Monraigne, M. de 199, 248, 274
Homer 2.13,2.26 Moravec, H. 263
Honneth, A. 2.82
Horkheimer, M. 214 Nagel, Th. 48 f., u9-121
Humboldt, W. v. 69, 78, 97-99, 148, Nietzsche, F. 7, n2, 148, 171, 181,
152. 186-190, 192, 199, 200, 214, 250,
Hume, D. 2.2.0,248, 253, 280-282, 262, 270, 283 f., 291, 295
291 Nussbaum, M. 201
Husserl, E. 45, 121, 174
Ottmann, H. 189
Jean Paul ror, 248
Johnson, M. 13, 15, 31, 33 Panofsky, E. 267
Penn, A. 239f.
Kahn, Ch. H. 182 Pickering, A. ro4
Kam, I. 7, 31, 90, 97, ro6-ro8, 1u, Platon III, 200, 202, 227, 234, 253
117, u9, 121-123,129, 148, 165, 180, Proust, M. 249
183, 185f., 193, 2IJ, 248, 250, 252, Putnam, H. 53f., 61f., 70, 74, 85,
256, 261-264, 281-285, 29of., 297 107, u8, 147, 164
Keppler, A. 137
Kierkegaard, S. 284 Quine, W. 0. V. 69 f., 79, 81, 159
Kirk, C. S. 182
Knorr-Cetina, K. ro4 Rawls, J. 264 f.
Kompridis, N. 66 Rentsch, Th. 31
Künne, W. 34, 62, 150 Ric~ur, P. 16, 30, 33
Kurzweil, R. 264 Riede!, M. 70
Rorty, R. 15, 46, 49, 54, 61 f., 65, 70,
Lakoff, G. 15, 31, 33 74, 79, 81, 85f., n7f., 151
Latour, B. ro4 Roth, G. ro8-m, II5f.
Leopardi, G. 198, 200 Rousseau, J.-J. 264
Lepore, E. 92.f. Rusch, G. 108
Lubitsch, E. 2.28
Luckmann, Th. !02, 133 Sacks, S. 13
Luhmann, N. 12.5[, 154 Same, J. P. 199, 218
Schiller, F. 186 f., 192, 282, 295
Man, P. de 75 Schmidt, S. J. 108
Marcuse, H. 187, 260 Scholem, G. 68
Margalit, A. 266, 268 Schopenhauer, A. 110, 274
Macurana, H. R. ro8 Searle, J. R. 13-15,28 f., 43, 102, 104-
May, K. 128 106, n3, n5, n8, 120
Mayer, H. 259 f. Seiht, G. 259
McDowell, J. 81, 85, 119, 12.9f., 147, Seilars, W. 81, 83, 90, 293

30!
Sokal, A. 103 Weinberg, St. 103
Sokrates 200, 227f., 230, 232, 234- Wellmer, A. 61-63, 159
236, 241, 280 Williams, B. n8, 164
Spitzley, T. 231 Wittgenstein, L. 48, 68, 77, 79, 82,
Strawson, P. F. 107, 157 84f., 87, 96, 130, 148, 152, 159,
Szondi, P. 34 206,287
Wolf, U. 201f., 232,235, 237f., 243
Taylor, Ch. 15, 46, 99, 185 Wright, C. 130, 147, 150, 164
Thomas von Aquin 229-233, 235
Tugendhat, E. 45, 70, 77, 174, 185, Zimmermann, R. 2n
201, 203, 285

Varela, F. J. 108

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