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Friedrichs Finte

Kämmle
Michael

Eine musikalische Novelle um Wilhelmine von Bayreuth & Friedrich II.

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Friedrichs Finte
Eine musikalische Novelle um
W ilhelm ine von Bayr euth
u n d Fr i e d r i c h I I .

Te x t v o n M i c h a e l K ä m m l e
Musik von Wilhelmine von Bayreuth
Friedrich II. und ihren Lehrer n
M i c h a e l K ä m m l e T r a ve r s f l ö t e
Axel Wolf Barocklaute & Theorbe

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© Michael Kämmle 2009
Obere Lindenackerstraße 5
90571 Schwaig b. Nürnberg
Tel 0911/3002446 Fax 3002447
Michael.Kaemmle@t-online.de

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Friedrich II. von Preußen (1712 – 1786)
Solo e-moll
Grave

Wilhelmine, Prinzessin von Preußen und Gattin des


Erbprinzen von Bayreuth an Friedrich, Kronprinz von
Preußen:
Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, liebster Bruder, um Dir alle meine
Gefühle zu schildern. Ich glaube, es wäre leichter, das Perpetuum
mobile und den Stein der Weisen zu finden, als Dir zu sagen, wie
dankbar ich für all Deine Güte bin und wie sehr ich sie zu schätzen
weiß. Darum kann ich mich auch rühmen, mich für gescheiter zu
halten als alle Gelehrten; denn ich habe dies Perpetuum mobile
gefunden. Es besteht in meiner innigen Liebe zu Dir. Jeden
Augenblick des Tages denke ich an Dich, liebster Bruder, und von Dir
zu reden ist mir und dem Erbprinzen der liebste Gesprächstoff.
Allerdings muss ich sagen, dass dies unserer Ehe nachteilig ist; denn
wir streiten uns manchmal ernstlich darüber, wer Dich mehr liebt.

Friedrich an Wilhelmine:
Sehnlich wünsche ich, keines Mittels zwischen mir und Dir zu
bedürfen und die Wiederkehr der glücklichen Tage zu sehen, wo dein
Principe und meine Principessa sich wieder küssen, oder deutlicher
gesprochen, wo ich selbst wieder mit Dir reden und Dich meiner
unvergänglichen Freundschaft versichern darf. Bis dahin legt sich die
Principessa Dir zu Füßen und küsst ihrem Dickbauch die Hände.

Friedrich II. von Preußen


Solo e-moll
Allegro assai

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Auf dem Rücken eines Pferdes eine gute Figur zu machen


gehörte nicht eben zu meinen glänzendsten Eigenschaften.
Als mittelloser Virtuose hatte ich den größten Teil der
Reisen meiner Jugend auf meinen eigenen Füßen
zurückgelegt und jene beeindruckenden und zuweilen
unberechenbaren Tiere allenfalls von der sicheren Warte
eines Kutschbockes aus betrachtet, auf den mich ein
gnädiger Kutscher gebeten haben mochte. Da es aber
inzwischen zu meinen Pflichten als Cammerflötist und
persönlicher Musik-Instruktor des Bayreuther Erbprinzen
gehörte, diesen zuweilen auf seinen Jagden und Partien in
abgelegene Landschlösser zu begleiten, hatte man mir einen
gutmütigen Klepper beigegeben, der im markgräflichen
Marstall sein Gnadenbrot verzehren durfte, und ein
subalterner Rittmeister brachte mich denn auch in einigen in
der Reitbahn verbrachten zähen Stunden immerhin so weit,
dass ich mich mit der Anmutung eines mit jenen neuartigen
überseeischen und als Tartuffeln bezeichneten Feldfrüchten
gefüllten Sackes auf dem Rücken meines Gaules zu halten
vermochte.
All diesen Widrigkeiten zum Trotz verspürte ich an jenem 2.
Juli des Jahres 1734 eine ungewohnte Lust, es den eleganten
Kavalieren Voigt und Seckendorff gleich zu tun, die vor mir
an der Seite des Prinzen auf ihren freudig tänzelnden edlen
Rössern ritten und mit ihrem vorbildlichen Anstand
glänzten. Mehr als sonst freute ich mich, die enge und laute
Stadt und mit ihr das Krakeelen meiner konkurrierenden
Kapellkollegen Hofmann und Pfeiffer für eine Weile hinter
mir zu lassen. Der Juni mit einem beständig wehenden rauen

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und auszehrendem Wind war einem prächtig strahlenden
Juli gewichen, also lockerte ich meine Halsbinde und spürte
voller Behagen die wärmenden Strahlen der Morgensonne
und die wohlgefälligen Blicke so mancher Magd und
Bürgersfrau auf mir ruhen.
Unsere kleine Gesellschaft, in die mich der Prinz einer
Laune folgend an der Stelle seines Kammerherren
aufgenommen hatte, begleitete einen praktischen
geschlossenen Reisewagen, in dem sich die Prinzessin
Wilhelmine nebst ihrer Hofmeisterin befand. Der Zweck
unserer Reise aber war es, sich in das etwa eine und eine
halbe Meile entfernte Fleckchen Berneck zu begeben, allwo
sich die Prinzessin mit ihrem Bruder Friedrich zu treffen
beabsichtigte. Selbiger befand sich auf dem Marsch zu
seinem Regiment, welches am Rhein den Franzosen in
durchaus kriegerischer Absicht gegenüberstand. Dabei hatte
ihm sein nicht allzu gnädiger Vater auf das allerstrengste
verboten, die Residenz Bayreuth, welche doch füglich auf
seinem Weg lag, auch nur zu berühren, da er nicht wünsche,
dass er sich mit seiner renitenten Schwester treffe. Diese
fasste also in ihrer besagten Widersetzlichkeit den
Gedanken, am Nachmittag des 2. Juli im Garten des
Amtmannes von Berneck mit ihrem Bruder eine heimliche
Teestunde zu veranstalten.

Johann Joachim Quantz (1697 - 1773)


Sonata II G-dur
aus: Solos for a German Flute with a Thorough Bass
Andante - Allegro

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Unser Weg nach Berneck schien sich auf das
allerangenehmste zu gestalten: vorbei am Gasthaus zum
Schwanen verließen wir die Vorstadt und bogen auf eine
herrliche Chaussee ein, die bergauf und bergab über die
Hügel auf das in der Ferne schwarz dräuende Gebirge
zuführte. Es begegneten uns eine Menge Bauern mit
Bündeln, Wagen und Ochsen, die beim Anblick unserer
Karawane sogleich ehrerbietig Platz machten und die Köpfe
neigten, und die der Prinz in seiner huldseligen Art
freundlich grüßte.
Die Aussichten, die wir hatten, waren sehr angenehm, und
so gab ich mich schönen Träumereien hin und vernahm
zuweilen in meinem Haupt den leichten Widerhall des einen
oder anderen musikalischen Themas, welches ich demnächst
zu einer großartigen Komposition zu verarbeiten gedachte.
Als aber nach und nach die Hitze unter meiner artig
gepuderten Perücke allzu sehr zunahm, ich auch wegen der
mangelnden Übung und den doch ungewohnten
Beschwernissen des längeren Reitens an einigen delikaten
Stellen einen Schmerz verspürte, den ich nicht länger zu
ignorieren vermochte, litt meine bisher einigermaßen
elegante Haltung doch erheblich, und mein hochgestimmtes
Gemüt wandelte sein Ansehen zu dem eines schwarzen
Melancholicus, die Musik in meinem Geist nahm den
schleppenden Gang eines zu weitschweifigen Lamentos in
einer zweitklassigen Oper an. Willkommen war es mir daher,
als sich unversehens das Geräusch unserer Hufe veränderte
und wir mit einem Male zwischen hohen Bergen in ein enges
Tal hineinritten, in dem das Städtchen Berneck eingeklemmt
lag.
Der Anblick hatte beinahe etwas Schauriges, denn zwar

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schlängelte sich der Weiße Main als ein silbern in der Sonne
glänzendes Band durch den Flecken, aber um ihn herum
duckten sich ängstlich die mit schwarzen Schindeln
gedeckten Häuser, nur überragt von einem ebenso
schwarzen, spitzen Kirchturm. Überhaupt mutete mir alles
schwarz und finster an, aus den Bergen ragten dunkle
Felsenmassen hervor und über allem drohte der kühne
Turm einer alten Burg, die über der Stadt zu schweben
schien und so wirkte, als wolle sie jeden Augenblick in
selbige hinabstürzen. Das Düstere der Szenerie legte sich wie
ein Schleier über die sommerliche Stimmung der
Gesellschaft, das französische Parlieren erstarb allmählich
und selbst das übermütige Tänzeln der Pferde wirkte
gedämpfter.

Silvius Leopold Weiss (1686 - 1750)


Concert d'un Luth et d'une Flûte traversière
Grave - Allegro

Bald nachdem wir den Grund des Maintales erreicht hatten,


mündete die stattliche Chaussee in eine enge Gasse, die uns
nach etlichen Windungen auf den Platz vor der Kirche
brachte, an dem auch das Haus des Amtmannes lag. Als die
Kutsche der Prinzessin vor der Freitreppe des zwar
stattlichen, aber wegen des schwarzen Schieferdaches eine
überaus düstere Stimmung atmenden Hauses hielt, eilten
sofort dienstfertige Burschen herbei, um den Schlag zu
öffnen, und nach einem gespannten Augenblick entstieg
dem Gefährt die zukünftige Markgräfin, die selbst in ihrem
schlichten Reisekleid und auf dem Tritt eines einfachen
Reisewagens alle Eigenschaften ausstrahlte, die eine große

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Fürstin nur wünschen kann: sie war eine der schönsten
Erscheinungen Deutschlands, groß und vollkommen
wohlgestaltet, und ihr eignete ein Air von Würde, das allen
auf dem Platz auf den ersten Blick anzeigte, was sie ist. Was
sie nun allerdings der hinter ihr erscheinenden Hofdame
zuraunte, war glücklicherweise nur ihrer näheren Umgebung
hörbar.
„Ich vermisse“, sprach sie, sichtlich abschätzige Blicke in die
Umgebung sendend, „in den künftigen Landen meines
Gemahls doch sehr die Klarheit der Brandenburger Marken.
Die Felsen und Schluchten des Fränkischen Kreises
verursachten mir bereits bei meiner ersten Reise von Berlin
nach Bayreuth einen unauslöschlichen Schrecken, der wohl
den Rest meines Lebens vorhalten wird und mir eine tiefe
Abneigung gegen diese doch eigentlich pittoresken
Landschaften beigebracht hat.“
In diesem Moment trat ihr der Amtmann entgegen, dem sie
nun doch ein huldvolles Lächeln widmete, obwohl dieser
Angehörige des hierzulande weit verbreiteten Geschlechtes
derer von Reitzenstein aussah wie der Knecht Rupprecht
und mit einem Galakleid behangen war, bei dem es sich
offensichtlich um ein Erbstück seiner Urahnen handelte und
das auch auf deren stattlicheres Maß zugeschnitten war, so
dass es an dem gegenwärtigen Reitzenstein schlotterte wie
ein leerer Sack und ihm ein unaussprechlich lächerliches
Ansehen gab. Nichts desto trotz schien dieser sich in seinen
antiken Lumpen mit ihren verblichenen Goldlitzen für zum
Mindesten ebenso imposant zu halten, wie der Kaiser in der
Tracht Karls des Großen verfügte aber dabei über die
groben Manieren eines Bauernlümmels.
Nachdem nun auch der Prinz von seinem Pferd abgestiegen

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war, bat der Amtmann das durchlauchtige Paar mit
übertriebenen Kratzfüßen vor das Portal seines Amtssitzes,
wo er plötzlich einen gellenden Pfiff ausstieß und damit
eines der drolligsten Schauspiele auslöste, die ich bisher
erleben durfte. Unversehens erklang nämlich eine eher wenig
zarte Musik von quäkenden Dudelsäcken und
Hirtenschalmeien, zu der einige dumpfe Trommeln sowie
durchaus anmutige Schellen den Takt gaben. Gleichzeitig
entströmten den umgebenden Gassen und Häusern
zahlreiche junge Bauernmädchen und -burschen, die sich auf
dem Platz zu einer skurrilen Gavotte formierten und, festlich
geputzt mit ihren großen runden Filzhüten, sich mit eifrigem
Knicksen und absurd verdrehten Armen und Händen
mühten, es den Damen und Kavalieren der Hofgesellschaft
gleichzutun, dabei diesen doch nur einen übergroßen
Vexierspiegel vorhaltend.

Silvius Leopold Weiss


aus: Suite pour une Luth et une Flûte traversière
Gavotte

Sichtlich befriedigt von der Darbietung seiner Bevölkerung


führte anschließend Reitzenstein unsere Gesellschaft in
einen hinter seinem Haus unerwartet reizvoll zum Fluss hin
gelegenen Garten, wo in einer netten und schattigen Laube
von einigen Bedienten Wilhelmines bereits alles für den
Empfang des preußischen Prinzen bereitet war. Dort schien
der Amtmann seinen Gästen eine weiter Überraschung
bereiten zu wollen, denn seine Gattin, eine zufriedene
Matrone, die in einem prachtvollen neuen Kleid nach der
vorletzten Mode vor einem üppig blühenden Rosenstrauch

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saß, der bereits etliche seiner flaumweichen Blütenblätter
äußerst dekorativ über das dralle Dekollete der Dame
verstreut hatte, begann mit einem betont feinsinnigen
Lächeln auf einer nur mäßig gestimmten Laute zu
präludieren, worauf alsbald eine in der Manier eines Faunes
in einer nahe gelegenen Nische platzierte Flöte leicht
astmathisch gurgelnd mit einer durchaus anmutigen Melodie
einfiel und schließlich hinter einem betörend riechenden
Hollerbusch vier nett herausgeputzte Kinder hervorbrachen
und auf dem Rasen ein kunstvolles Menuett produzierten,
das in einer komplizierten Figur endete, an derem Ziel das
ältere Mädchen der Prinzessin ein besticktes Kissen
präsentierte, auf dem sich ein kleiner glänzender Gegenstand
zu befinden schien.

Silvius Leopold Weiss


aus: Suite pour une Luth et une Flûte traversière
Prälude & Entrée pour Luth seule
Menuet

„Ihro allergnädigsten fürstlichen und königlichen


Durchlauchten“, ergriff nun der Herr von Reitzenstein mit
überaus bedeutender Miene das Wort, „seien unserer
alleruntertänigsten Wertschätzung aufs Ewigste versichert.
Bei allem höchstnötigen Respekt möchte ich aber an dieser
Stelle vermelden, wie die lieblichen Gestade des Weißen
Maines ein Produkt hervorzubringen in der Lage sind,
welches in den Wüsteneien um Berlin nur schwerlich zu
finden sein wird. Bereits in der dritten Generation hat daher
meine Familie die Ehre, eine Aufgabe zu erfüllen, welche mit
der Amtmannschaft zu Berneck auf das Engste verbunden

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ist und Euer Durchlauchten wohl vorkommen mag wie aus
einem japanischen Märchen entsprungen: nämlich dasjenige
eines markgräflichen Perleninspektors. Und mit nicht
geringem Stolz darf ich weiter vermelden, dass die in
unserem Gewässer gefischten Perlen von Kennern für den
aus dem fernen Orient eingeführten Exemplaren bei weitem
überlegen geachtet werden. Eine besondere Fügung brachte
es nun mit sich, dass unlängst ein ungewöhnlich prachtvolles
Exemplar gefunden wurde, welches ich, in einen künstlichen
Ring gefasst, Euer Durchlaucht zu überreichen für eine
besondere Ehre betrachte.“
Eine sonderbar drückende Stille hatte sich mittlerweile um
uns breit gemacht, und ein kurzer Blick in den Himmel wie
auf die Stirne der Prinzessin zeigte mir deren
Übereinstimmung, denn beide hatten sich während der
barocken Ansprache des Amtmannes fein überflort und
zeigten nicht mehr das reine und strahlende Antlitz des
zurückliegenden Morgens, beide trugen noch undeutlich,
aber doch mit Gewissheit die frühen Zeichen eines
unvermeidlichen Unwetters. So erstaunte es mich nicht zu
sehen, wie die Prinzessin mit kaum unterdrücktem Unwillen
das Haupt leicht neigte, das dargebotene Schmuckstück mit
schwer erzwungener Huld entgegennahm und sich
anschließend mit den eigenwilligen Worten: „Da haben wir
ja einen gar artigen Herrn Dickbauch“ die Laute erbat, um
sich mit ihrer und ihres Gatten Hilfe die verbleibende
Wartezeit in der Laube zu vertreiben.

Silvius Leopold Weiss


aus: Suite pour une Luth et une Flûte traversière
Chaconne

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Christian Friedrich Döbbert (gestorben um 1770)
Sonata IVta e-moll
aus: Six Sonates pour la Flute Traversiere seule avec la
Basse chiffree
Adagio – Andante – Adagio

Der Tag war verstrichen, ohne dass auch nur das kleinste
Zeichen Friedrichs am Horizont erschienen wäre. Die
Prinzessin hatte mit stetig zunehmendem Unwillen die Laute
der Reitzenstein traktiert, zunächst sanft und kunstvoll
präludierend, dann, während von Kulmbach her düster
drohende Wolken über den schwarzen Felsen und der
altväterlichen Burg aufzogen, mit immer drängenderer
Geste, bis zuletzt ihrer Ungeduld die höchste Saite des
unschuldigen Instrumentes zum Opfer fiel und die für den
Moment unbrauchbar gewordene Laute achtlos beiseite
geworfen wurde. Ängstlich zogen wir uns mehr und mehr an
den Rand des Gartens zurück und beobachteten die immer
deutlicheren Zeichen des nahenden Ausbruches. Die
Prinzessin verlor sichtlich ihre angeborene und durch Zucht
verstärkte Contenance. Sie begann, unruhig vor der Laube
auf und ab zu schreiten, bis sich sogar ihr Gatte von ihr weg
und hin zu unserer ratlosen Gruppe begab, wo er eine
geflüsterte Unterredung mit dem Herrn von Seckendorff
begann. Nach einer Weile winkte die Prinzessin diese beiden
wieder zu sich her und sprach heftig gestikulierend auf sie
ein, sie müssten dringend Boten in alle Richtungen
aussenden, die nach ihrem Bruder fahnden sollten, dem
unweigerlich in den wüsten und öden Umgebungen des

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unseligen Fleckens ein Unfall zugestoßen sein müsse. Das
sonst so reizende, nunmehr aber von schier panischem
Schrecken gezeichnete Antlitz der Prinzessin überzeugte uns
alle davon, ihre überspannte Vorstellungskraft gaukle ihr
bereits lebhaft den preußischen Thronfolger vor ihr inneres
Auge, wie er mit gebrochenem Hals und zerschmetterten
Gliedern blutüberströmt in einer der schaurigen Klüfte des
Fränkischen Kreises liege, über seinem erloschenen Auge
Krähen kreisend ...
In jedem Fall taten die Kavaliere schleunigst alles Nötige,
um ihren Wünschen nachzukommen, und schon wenige
Minuten später stoben schnelle Reiter auf den verschiedenen
Pfaden aus, um im besten Fall eine rasche Nachricht von
Friedrichs Nahen beizubringen oder andernfalls wenigstens
einen Bescheid über seinen Verbleib einzuholen. Als aber
auch dieses Mittel fehlschlug und keiner der Boten
zurückkehrte, die Dienerschaft hingegen angesichts des
offenbar unvermeidlichen Ausbruchs der Elemente begann,
das doch so nett in der Laube präsentierte hauchfeine
japanische Teegeschirr wieder in das dafür vorgesehene
Reisebehältnis zu verbringen, zeigte sich die Prinzessin
endlich auf das Entschiedenste davon überzeugt, sie müsse
ihre Kutsche besteigen, um ihrem Bruder auf der Straße
nach Kulmbach entgegenzueilen. Sämtliche Ratschläge ihres
Gemahls wie des Herrn von Seckendorff, doch das
Unwetter im Hause Reitzensteins zu verwarten und es
überhaupt zu meiden, auf der erbärmlichen Straße sich den
Naturgewalten und der hereinbrechenden Nacht
auszusetzen, waren buchstäblich in den immer mehr
aufkommenden Wind gesprochen.

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Christian Friedrich Döbbert
Sonata IVta e-moll
Allegro

Der Wind heulte wie das wildgewordene Fagott meines


Vaters, wurde zwischen den widerwärtigen Felsen des engen
Tales hin und her geworfen, bis der vielfache Widerhall uns
vorgaukelte, es blase um uns eine ganze Capelle von
bocksgesichtigen Fagottisten, Contrafagottisten und
Serpentisten, accompagniere mit ihrem absurden Orgeln den
sardonischen Gesang eines baumbärtigen Riesen, der uns
unablässig mit Ästen und Steinen bewarf. Als nahe bei uns
ein plötzlicher Blitz in den hundertjährigen Stamm einer
Eiche fuhr und ihn so mühelos spaltete wie das Beil eines
kräftigen Holzknechtes einen gut getrockneten Fichtenklotz
schien das Konzert seinen Höhepunkt zu erreichen und
jedes mir noch erträgliche Maß zu überschreiten: in diesem
Moment hatte wohl ein gnädiger Titan sein Einsehen mit
uns und brachte das teuflische Gelächter des Orchesters
zum Schweigen, indem er nicht eimer- sondern gar fassweise
Regen über uns ausgoss, und schließlich einen letzten
Versuch, das Konzert wieder zu beleben, unterdrückte,
indem er mit Hagelschloßen gegen uns warf.
Der Kutscher mühte sich verzweifelt, den Wagen aus dem
Grund des Tales zu manövrieren, wo der Bach in kurzer
Zeit derart angeschwollen war, dass wir glaubten, ertrinken
zu müssen, und die Pferde ihn nurmehr schwimmend zu
passieren vermochten. Wohl führte eine Fahrspur den Hang
empor, als jedoch das Gefährt der Prinzessin gerade
versuchte, an einen abschüssigen Schrund vorbei die
Hochfläche zu gewinnen, löste sich unversehens der

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aufgeweichte Boden unter dem linken Hinterrad, die
Kutsche neigte sich zunächst langsam wie ein alter
Geheimrat bei seinen steifgewordenen Kratzfüßen, verharrte
dann für einen unglaublichen Moment der Stille über dem
Abgrund und stürzte schließlich, sich beinahe anmutig
überschlagend, dann aber noch durch ein dichtes
Schlehengestrüpp in ihrem Fall gebremst, mit einem ekelhaft
quatschenden Geräusch seitlich in den Morast: als sich nun
aber in dem halbversunkenen Kutschkasten auch noch ein
Schuss löste verlor der Prinz endgültig seine Fassung und
beruhigte sich erst wieder, als sich die Tür des verunglückten
Wagens mit einem unerträglichen Knarren langsam hob und
der Kopf der Prinzessin erschien. Diese wirkte, wiewohl
totenbleich, einigermaßen unversehrt, und während hinter
ihr das Fräulein von Sonsfeld in hysterischem Tonfall
fortwährend die Worte „Herr Jesus, erbarme dich unser“
ausstieß, sprach Wilhelmine gefasst: „Selbst wenn es in
diesen wilden Wäldern zuweilen noch Räuberbanden geben
mag, wünsche ich künftig nicht mehr, dass man mir Pistolen
in mein Gefährt mit einpacke; denn nachdem ich zunächst
nur knapp der Gefahr entronnen bin, von einem der
Porzellanfutterale erschlagen zu werden, löste sich gleich
darauf ein fataler Schuss aus einer der herumfallenden und
offenbar geladenen Mordwaffen und verfehlte meine liebe
Sonsfeld nur um Haaresbreite.“
Inzwischen hatte der Herr von Voigt entdeckt, dass sich
nahebei eine kleine Ansiedlung befand, in dessen einfaches
Pfarrhaus wir die Prinzessin verbrachten, um sie an einem
dienstfertig angezündeten kapitalen Kachelofen zu trocknen.
Das Unwetter hatte sich verzogen, um auch in anderen
Landstrichen seine Spur der Verwüstung zu hinterlassen,

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und nach einer Weile verließ Wilhelmine die allzu stickige
niedrige Stube und trat neben mich in die nun doch
erstaunlich milde Nacht.
„Ach Liebeskind“, wandte sie sich in einer jener
Anwandlungen von Leutseligkeit, die sie uns Virtuosen
gegenüber zuweilen überkam, mir zu, „hätte ich nur die
Laute der Reitzenstein mitgenommen, ich könnte auf ihr in
dieser nach dem schweren Unwetter endlich schweigenden
Nacht die Bangigkeit meiner Seele, mein klagendes
Herzgefühl in stillen Seufzern aushauchen.“

Silvius Leopold Weiss


Tombeau sur la mort de M. Comte de Logy

In diesem Augenblick hörten wir eiliges Hufgetrappel und


sahen kurz darauf, wie sich ein atemloser Bote in der
schlammverkrusteten Uniform eines preußischen Offiziers
uns näherte, unter Bücklingen hervorstoßend: „Endlich, oh
endlich habe ich Euer königliche Gnaden gefunden“, worauf
er der Prinzessin ein gesiegeltes Billett überreichte. Ich
bemerkte, wie sich deren Gesichtsfarbe beim Lesen
desselbigen um einige weitere Grade der Bleichsucht näherte
und wollte schon nach der Kammerfrau und dem Riechsalz
rufen, als sie mir wortlos das Briefchen reichte, auf dem in
einer nur schwer lesbaren Schrift stand:

Liebste Schwester! Ich muss hier auf unsere Generale warten; denn
ohne sie darf ich nicht reisen, und da sie in Gera einen Radbruch
hatten und ich weiter nichts von ihnen gehört habe, bleibt mir nichts
anderes übrig, als sie hier zu erwarten. Du kannst Dir vorstellen, wie
mich das grämt, aber man soll mich nicht mit Dingen quälen, für die

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ich nichts kann. Finde Dich aber nur unverzagt morgen beim ehesten
Sonnenaufgang am Brandenburger Weiher ein, so wollen wir dort
unseren Bund erneuern und uns aufs Innigste in die Arme schließen:
der Überbringer dieses Briefes, Kapitän von Knobelsdorff, kann Dich
über alle Einzelheiten unterrichten. Ich glaube, ich sterbe vor Freude,
wenn ich mich Dir zu Füßen werfen kann, Friedrich.

Friedrich II. von Preußen


Solo e-moll
Presto

All diese Aufregungen schienen in der Prinzessin


ungewohnte Kräfte hervorzurufen, und so ließ sich
Wilhelmine, die doch sonst so sehr unter ihrer angegriffenen
Konstitution litt, ein Pferd geben und trieb das Tier zu der
äußersten auf den durchweichten Straßen noch möglichen
Gangart an. Nachdem ich also für den Rest der Nacht die
Schnauze meines Gaules sozusagen an den Schweif des
Rosses des Herrn von Seckendorff geheftet hatte,
vermochte ich es, unter Zuhilfenahme meiner sämtlichen
spärlichen Fähigkeiten auf dem Gebiet der Reitkunst, gerade
noch, in der beginnenden Morgendämmerung das
Eintreffen unserer kleinen Gesellschaft in St. Georgen am
See mitzuerleben.
Dieser so genannte See, im allgemeinen als Brandenburger
Weiher bezeichnet, war ursprünglich als Fischteich
ausgehoben worden, bevor ihn der Vorläufer des
regierenden Markgrafen als einen besonderen Lustort direkt
vor den Toren seiner Residenz Bayreuth vergrößern und
anlegen ließ. Eine superbe Attraktion, die den alten Herren
anderen Duodezfürsten des Binnenlandes mit ihren netten

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Taschenresidenzen deutlich überlegen machte, war dabei der
auf einer künstlich inmitten des Gewässers errichteten Insel
gelegene so genannte Kriegshafen, in dem einige veritable
dreimastige und mit je zwölf Geschützen bestückte
Kriegsschiffe ankerten, die von einigen Dutzend
niederländischer Matrosen gesegelt und anlässlich
bedeutender Feste auch gerne zu heftigen vorgeblichen
Seegefechten gegeneinander gelenkt wurden.
Die ungewohnten Anstrengungen der scheidenden Nacht
machten mir alle Glieder schmerzen, und die kalte und
feuchte Luft fuhr mir wie Schauer durchs Gebein, als wir in
der grauen Stunde vor Sonnenaufgang am Ufer des Weihers
standen. Niemand schien zu wissen, was am Ziel dieser
verrückten Reise geschehen solle, und so blickten wir
einigermaßen verloren über die düsteren Wasser, in unserem
Rücken die symmetrische Anlage des kleinen französischen
Gartens und das prächtig anzusehende, doch wenig
komfortable Schloss, als unversehens eine im Innersten der
Insel gelegene Fontaine aufstieg, während beinahe im
gleichen Moment die Sonne majestätisch hinter den östlich
gelegenen Hügeln erschien. Ihre ersten vorsichtigen Strahlen
küssten wohl zunächst nur zärtlich die sich durch den
Morgentau ziehenden Wasserschleier, aber nur einen
Gedankenschlag darauf sahen wir mit einem Erstaunen, das
unsere Herzen bis in ihr Innerstes erschütterte, wie die
immer höher auffliegenden Tropfen des Wasserspieles
erfunkelten, als seien es abertausende geschliffener
Edelsteine, die einer der sagenumwobenen Despoten des
Morgenlandes aus seinem Füllhorn in den jungen Morgen
ergießen ließ: die gleichen Sonnenstrahlen aber, denen dieser
Zauber zu danken war, legten auch ein glänzend rötliches

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Band über das ruhige Wasser des Sees, auf dem nun eine
weiß gestrichene Gondel heranglitt, in deren Heck der Erbe
des preußischen Thrones stand, angetan wie Apoll und auf
einer elfenbeinernen Flöte ein Stück blasend, das klang wie
das bizarre Rezitativ eines exaltierten Opernhelden,
untermischt mit einigen ariosen Partien und accompagniert
von den weit wogenden Arpeggios einer im Bug des Kahnes
platzierten Laute. Deren hoch aufgerichteter Hals jedoch im
Verein mit der Farbe der Gondel bewirkte, dass es mir im
Gegenlicht der immer höher steigenden Sonne so vorkam,
als erscheine Friedrich nicht auf dem goldenen Wagen des
Musengottes, sondern reite auf einem übergroßen Schwan
mit geknicktem Hals.

Friedrich II. von Preußen


Recitativo ed Arioso

Mit dem letzten Ton seiner Komposition betrat Friedrich


das Ufer, beugte feierlich das Knie vor seiner Schwester, und
sprach salbungsvoll, ihr seine prächtige Flöte darbietend:
„Es ist mir eine sternengleiche Freude, der über alles
geliebten Prinzessin meine Principessa endlich wieder zu
Füßen legen zu dürfen.“
In diesem Moment erst schien er, der bis dahin in der
überwältigenden Pracht seiner Inszenierung gefangen war,
den derangierten und abgerissenen sowie übernächtigten
Zustand der Prinzessin und überhaupt der ganzen
Gesellschaft wahrzunehmen, wie sie in völlig verdorbenen
Reisekleidern und arg zerzausten Perücken vor ihm stand.
Auf seinen plötzlich fragenden Blick hin antwortete
Wilhelmine:

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„Du musst wissen, das wir dich doch eigentlich bereits am
gestrigen Nachmittag in Berneck erwarteten, allwo auch alles
für deinen angenehmen Empfang bereitet war. Als du dort
jedoch nicht erschienst und wir uns bereits zu sorgen
begannen, machten wir uns erneut auf den Weg, gerieten
aber in ein so schreckliches Ungewitter, dass ich mit dem
Wagen eine doppelte Volte geschlagen habe, besser als der
geschickteste Seiltänzer. Die Schwierigkeit bestand darin,
herauszukommen, und das gelang nur mit größter Mühe.
Die Sonsfeld und ich lagen zu unterst. Kurz, durch vieles
Ziehen und Zerren brachte man mich heraus, und ich
patschte durch den knietiefen Schmutz bis zu einem
benachbarten Hause. Der erste, der mir dort zu Gesicht
kam, war ein ehrwürdiger Geistlicher, dem ich versicherte,
dass ich noch am Leben sei und keiner Vorbereitung auf den
Tod bedürfte; denn ich hätte noch gar keine große Lust zum
Sterben. Als ich mich setzen wollte, sah ich zu meiner
großen Überraschung, dass ich meine Schuhe im Schmutz
verloren hatte. Mir fiel das Märchen vom Aschenbrödel ein.
Doch weil meine Füße nicht so schön und infolgedessen
meine Schuhe auch nicht so zierlich sind, um die Blicke
darauf lenken zu können, fing ich an, mich über deren
Verlust zu trösten, man wärmte mich an einem Monstrum
von Ofen, dessen Qualm mich zu ersticken drohte, worauf
ich mich wieder in die Nacht begab, wo mich schließlich
dein Bote erreichte, der uns aller verständlichen
Erschöpfung zum Trotz dazu veranlasste, die restliche
Nacht im schärfsten Galopp zu durchreiten, um zur rechten
Zeit am von dir genannten Ort zu sein.“
„Aber das Treffen in Berneck“, erwiderte Friedrich so
erstaunt wie unbefangen, „war doch nie dazu gedacht

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gewesen, als eine reelle Begegnung in die Welt zu kommen:
sondern nur als eine Finte für meine Herren Generale, die
alle Begebenheiten ohne Zögern unserem griesgrämigen
Vater vermelden. Dieser sollte glauben gemacht werden, ich
besuche einen alten Haudegen in dem fränkischen Weiler,
während ich doch von Anbeginn an nichts anderes
beabsichtigte, als meine geliebte Schwester an ihrem
heutigen Geburtstage hier am Brandenburger Weiher in die
Arme zu schließen.“
Fassungslosigkeit und tiefstes Unverständnis spiegelte sich
bei dieser Rede des Thronfolgers verstohlen in unser aller
Augen, allein die Prinzessin in ihrer blinden Liebe hatte
ihrem leichtfertigen und eigensüchtigen Bruder offenbar nur
allzu rasch vergeben, und so wandelten die Geschwister
alsbald in vertrauten Gesprächen die blühenden und von der
Morgensonne nunmehr auf das allerangenehmste
durchwärmten Gänge des Parkes auf und ab. Nach einer
Weile aber winkte Wilhelmine mich huldvoll herbei und
sprach:
„Liebster Bruder, überlasse nun getrost deine mir so ergeben
dargebotene Prinzessin Flöte meinem Liebeskind, und dein
Lautenspieler mag seinen Prinz Dickbauch guten Mutes in
meine zarten Hände legen: so wollen wir dir als Gegengabe
für deinen so überaus prachtvollen Empfang die Überreste
unseres für Gestern geplanten bescheidenen ländlichen
Divertissements widmen, nämlich ein kleines Flötensolo, das
ich gemeinsam mit meinem Lehrer ausgearbeitet habe um es
dir darzubieten. Mag es mir, wo nicht einen Platz unter den
Musen selbst, die dich als den unumstrittenen Gott der
Tonkunst stets umschwärmen, zumindest die Anwartschaft
auf die nächste frei werdende Vakanz unter deren geringsten

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Dienern verschaffen.“

Wilhelmine von Bayreuth (1709 - 1758) / Döbbert


Sonata a Traverso Solo
Affettuoso (Wilhelmine)
Allegro assai (Döbbert)

Friedrich an Wilhelmine:
Nürnberg, 3. Juli 1734
Liebste Schwester! Unmöglich kann ich von hier abreisen, ohne Dir
von Herzen für alle Zeichen meiner Huld zu danken, die Du mir im
Weiherhaus erwiesen hast. Die größte war, dass ich Dir aufwarten
durfte. Tausendmal bitte ich um Vergebung für alle
Unbequemlichkeiten, die ich Dir bereitete. Aber wie sollte ich es in
meiner traurigen Lage anders anstellen? Schreibe mir bitte oft, wie es
Dir geht, und frage die Ärzte, ob Du nicht etwa an Würmern leidest.
Wenn nicht, tut Dir vielleicht Ziegenmilch sehr gut. Lebe Wohl!

Wilhelmine von Bayreuth


Gavotte
(nach dem Schlusssatz aus Wilhelmines
Konzert für Cembalo und Orchester)

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