Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Innistrad Düstermond Volle Geschichte Sehr Lang
Innistrad Düstermond Volle Geschichte Sehr Lang
Story
Thalia, die Wächterin von Thraben, spielte eine entscheidende
Rolle bei der Verteidigung Thrabens während der Belagerung
durch die Zombies der Nekromagier-Zwillinge Gisa und Geralf.
In der dunkelsten Stunde der Stadt stellte sie sich Liliana Vess
am Höllenkerker im Herzen der Kathedrale von Thraben
entgegen. Und da die Planeswalkerin das Leben eines jeden
einzelnen Soldaten unter ihrem Befehl bedrohte, fügte sich
Thalia schließlich Lilianas schrecklicher Forderung: Sie öffnete
den Höllenkerker und entließ alle Dämonen, die er in sich
barg – und den Erzengel Avacyn.
Mikaeus, der Lunarch der Kirche Avacyns, starb während der
Belagerung Thrabens, und sein Nachfolger wurde in den
frühen Tagen von Avacyns Wahnsinn getötet. Nun ist ein
neuer Lunarchenrat eingesetzt worden, der aus sieben
Bischöfen der Kirche sowie einigen Anführern der Katharer als
Beratern besteht. Ein weiterer wichtiger Befehlshaber bei der
Verteidigung Thrabens, ein Katharer namens Olric, zeigte
erstaunliche Initiative bei der Organisation des Lunarchenrats,
um Avacyns Wahnsinn Herr zu werden. Er verdiente sich
einen Sitz im Rat als Repräsentant der Katharer, hat jedoch
keinerlei Stimmrecht bei Ratsangelegenheiten.
Doch während der Wahnsinn der Engel weiter tobt und sich in
den Lunarchenrat hinein ausbreitet, haben die beiden
Anführer der Katharer Mühe, das Gleichgewicht zwischen der
Loyalität zu Avacyns Kirche und der Hingabe an all das zu
wahren, wofür sie steht.<
Tagelang war sie durch die kalte Luft des Jägermondes von
Ellgau in Nefalen zur Kathedrale von Thraben geritten. Ihre
Finger waren taub, doch Thalias Wangen waren noch immer
heiß vom Feuer und ihr Blut kochte vor Wut. Sie gab die Zügel
einem Stallburschen und warf dem Engel, der wie ein Aasgeier
über ihr kreiste, einen misstrauischen Blick zu, ehe sie in die
hohen Hallen hineinstürmte.
Aus Gewohnheit schlug sie das Zeichen von Avacyns Band auf
der Brust – erst von der einen und dann von der anderen
Schulter zum Herzen –, als sie die offenen Türen zum
Heiligtum passierte. Doch ihr brannten die Augen, als sie an
jenes heilige Symbol dachte, das über den Gräueltaten in
Ellgau aufgeragt war.
Sie war dem Namen nach noch immer die Wächterin von
Thraben , selbst wenn sie nur noch herzlich wenig Zeit in der
Hohen Stadt verbrachte. Daher versperrte ihr auch kein
Katharer den Weg oder fragte nach ihrem Anliegen, als sie die
Treppen hinauf, einen Korridor entlang und in jene Kammer
eilte, die der Rat dem Lunarch-Marschall als Arbeitszimmer zur
Verfügung gestellt hatte. Natürlich war er nicht da.
Thalia warf ihren Reitmantel auf einen Stuhl und streckte
dann den Kopf zurück in den Flur. „Du“, rief sie einem
Katharer zu, der steif in der Nähe Wache stand. „Finde ihn.“
Sie klatschte in die behandschuhten Hände und rieb sie fest
aneinander, um einen Funken Wärme in die erfrorenen Finger
zurückzubringen, während sie in dem kleinen Arbeitszimmer
auf und ab ging.
Als sie sich von der Tür abwandte, war ihr Rahmen noch leer.
Drei Schritte später, als sie sich wieder zur Tür umdrehte, stand
er mit einem Mal da. Sie hielt inne.
„Thalia!“, sagte Odric herzlich und breitete die Arme aus.
Er sah älter aus. Natürlich war sein Haar schon seit Jahren
weiß gewesen – bis auf die einzelne rabenschwarze Strähne
über der Stirn. Doch sein Gesicht hatte immer jung gewirkt.
Doch nun war es von Sorgenfalten zerfurcht.
„Es ist gut, dich zu sehen, alter Freund“, sagte sie, als sie
lächelnd auf ihn zutrat. Anstatt ihn jedoch zu umarmen,
hämmerte sie ihm die Faust gegen seinen silbern verzierten
Brustpanzer. Ihr Lächeln erstarb. „Weißt du, was da draußen
vor sich geht?“
Er seufzte, als seine Arme schlaff herabsanken. „Ich weiß, dass
dies nicht die denkbar beste Zeit ist“, sagte er.
„Kinder“, sagte sie. „Wir verbrennen inzwischen Kinder.
Sündige Kinder. So ein Schw...“
„Ellgau?“, fiel er ihr ins Wort.
„Ja. Das muss aufhören, Odric. Ulmach ist völlig außer
Kontrolle.“>/p>
„Er ist Oberster Inquisitor, Thalia. Was die Kirche in Nefalen
anbelangt, verkörpert er die Kontrolle.“
„Nein.“ Wieder schlug sie ihm gegen den Brustpanzer. „Noch
gebietet der Lunarchenrat über die Kirche, oder? Dein Rat?“
Endlich gelang es Odric, sich an ihr vorbei in sein
Arbeitszimmer zu drängen. „Es ist nicht mein Rat“, sagte er,
„aber die Inquisition handelt nach seinen Anweisungen, ja.“
„Das muss aufhören“, sagte sie erneut.
Thalia, Wächterin von Thraben | Bild von Steve Argyle
„Und dann? Wie hast du vor, den Zorn der Engel zu
besänftigen?“
„Hörst du dir eigentlich zu? Du glaubst, die Engel wären
zornig, weil wir Sünde in unserer Mitte dulden? Odric, die
Engel sollen uns beschützen, nicht unsere Dörfer in Schutt
und Asche legen. Und wir sollen Kinder beschützen und sie
nicht auf dem Scheiterhaufen verbrennen! Glaubst du wirklich,
dass es das ist, was Avacyn von uns verlangt?“
„Avacyn führt diese Säuberung an. Das weißt du auch. Wenn
die Sünde der Menschen ihre Wut anfacht, müssen wir die
Sünde ausmerzen oder in Avacyns Zorn untergehen. Sie hat
uns ein Beispiel gesetzt. Wenn sie ihr Herz gegenüber dem
Flehen der Verderbten verschließen kann, müssen wir es ihr
gleichtun.“
„Den Verderbten? Welche Sünde tragen diese Kinder denn
deiner Meinung nach in sich?“
„Stellst du das Urteil der Inquisition infrage?“
„Natürlich tue ich das! Wie kann sie in die Augen und in das
Herz eines Kindes blicken und dort Böses sehen? Böses, das
einen derart entsetzlichen Tod rechtfertigt?“
„Falls die Inquisition Kinder töten lässt ...“
„Das tut sie. Ich habe es gesehen.“
„Falls sie es tut, dann sicher aus einem guten Grund. Die
Heilige Avacyn schenkt ihrer Kirche die Macht, das Böse
auszulöschen, es zu bestrafen und die Unschuldigen vor seinem
Griff zu beschützen.“
„Aber die Kirche missbraucht diese Macht!“
„Und was soll ich deiner Auffassung nach tun?“
Thalia ergriff seine Hand. Selbst durch ihre Handschuhe
hindurch fühlte sie sich verglichen mit der Kälte in ihren
eigenen Knochen warm an. „Sprich mit dem Rat“, sagte sie.
„Hilf ihm, Vernunft anzunehmen.“
„Du weißt, dass ich kein Stimmrecht im Rat habe.“
„Aber du hast eine Stimme. Du repräsentierst die Katharer. Sie
können dich nicht einfach ignorieren.“
Er wandte ihr den Rücken zu. „Aber ich bin ihrem Willen
unterworfen. Avacyns Willen.“
„Das ist nicht unbedingt das Gleiche, weißt du?“
Er neigte den Kopf und schwieg.
Von einer jähen Ermattung übermannt ließ sich Thalia auf den
Stuhl fallen, auf den sie ihren Mantel geworfen hatte.
„Habe ich das Richtige getan, Odric?“, fragte sie.
Er drehte sich um und schenkte ihr ein sanftes Lächeln. Sie
hatten die gleiche Unterhaltung schon oft zuvor geführt, doch
er wusste, dass sie es von Zeit zu Zeit wieder hören musste. „Du
hast Avacyn befreit“, sagte er. „Und du hast deine Soldaten aus
dem Griff der Nekromagier gerettet.“
„Ja, aber ich habe auch unzählige Dämonen freigelassen. Und
einige davon sind aus der Reichweite der Engel entkommen.“
„Sie verstecken sich.“
„Aber sie werden zurückkommen ... Sie alle werden
zurückkommen. Man kann sie nicht vernichten – deshalb gab
es den Höllenkerker ja. Ich habe zugelassen, dass sie ihn
zerstört.“
Bild von Todd Lockwood
„Du hast Avacyn befreit“, wiederholte er.
„Was, wenn das auch ein Fehler war?“, fragte sie. Die Falten
auf seiner Stirn wurden tiefer, doch sie drang weiter in ihn.
„Was, wenn die Zeit im Höllenkerker sie korrumpiert hat?
Was, wenn sie jetzt selbst nicht besser als ein Dämon ist?“
Sein Miene wurde ernst. „Ich will nichts davon hören“, sagte
er. Er hatte natürlich recht – und nie zuvor hatte sie es gewagt,
diese Gedanken jemand anderem anzuvertrauen. „Ich bin ein
Mitglied des Lunarchenrats ...“
„Du bist ein guter Mann.“
„Ich diene Avacyn und ihrer Kirche. Und – falls es dir
entfallen sein sollte – das tust auch du, Wächterin von
Thraben.“
Thalia sprang wieder auf. „Ich diene den Prinzipien, für die
Avacyn eintritt – für die sie einst stand. Ich diene dem sanften
Licht des Mondes, das die Schrecken der Nacht fernhält. Ich
diene den Banden zwischen uns und vertreibe die Furcht, die
uns auseinanderzureißen versucht. Ich diene der Heiligkeit,
nach der wir alle streben. Wenn sie sich gegen diese Dinge
gewandt hat, dann ist sie nicht besser als ein Dämon und ich
kann nicht länger ihr und ihrer Kirche dienen.“
Odrics zornesrotes Gesicht war dicht an ihrem. „Ich kann nicht
hier stehen und zulassen, dass du die Heilige Avacyn mit jenen
Dämonen vergleichst, gegen die sie jahrhundertelang gekämpft
hat. Da du meine Freundin bist, bitte ich dich, Thraben zu
verlassen und niemanden sonst diese Blasphemie hören zu
lassen, die du da von dir gibst. Grete?“
Ein von rotem Haar umrahmtes Gesicht erschien in der Tür.
Thalia war verblüfft: Sie hatte nicht geahnt, dass Odrics
Auserwählte die ganze Zeit draußen gewartet hatte. Hatte sie
die gesamte Unterhaltung mit angehört?
„Mein Herr?“, sagte Grete.
Odric wandte Thalia erneut den Rücken zu. „Würdest du bitte
Thalia hinter die äußere Mauer begleiten?“
„Natürlich.“
Thalia legte Odric eine Hand auf den Rücken. „Odric ...“
„Lebe wohl, Thalia.“
Sie schluckte schwer. Sie fand keine Worte mehr.
Grete hielt die Zügel von Thalias Pferd, als diese aufstieg. Sie
wich ihrem Blick aus, seit sie Odric verlassen hatten. Als sie ihr
die Zügel hinaufreichte, trafen sich ihre Blicke dann doch
endlich.
„Was wirst du nun tun?“, fragte sie leise.
„Ich werde kämpfen“, antwortete Thalia. „Ich habe
geschworen, die Menschen dieses Landes vor den Ungeheuern
zu beschützen, die sie zu vernichten suchen. Und das werde ich
auch weiterhin. Wenn die Katharer und die Inquisitoren zu
Ungeheuern geworden sind, dann werde ich die Menschen
eben vor ihnen beschützen. Und wenn die Engel selbst zu
Ungeheuern geworden sind ...“
„Du würdest gegen die Engel selbst kämpfen?“, fragte Grete mit
aufgerissenen Augen.
„Wenn es sein muss.“
„Wie kannst du nur so sicher sein, dass du recht hast?“
Waffenstärke | Bild von John Stanko
Thalia hörte so viel in dieser Frage – einschließlich jenes
Zweifels, der ihr seit vielen Wochen den Schlaf raubte. Doch
offenbar sehnte Grete sich nach derselben Gewissheit. Und
Thalia wünschte, sie könnte sie ihr geben.
„Wenn ich mich irre“, sagte sie stattdessen, „nun, ich wäre
lieber eine Ketzerin, als mein Gewissen zu verraten.“
Grete ließ die Zügel los und wandte den Blick ab, während sie
einen Schritt vom Pferd zurücktrat.
„Du könntest mit mir kommen“, sagte Thalia.
„Nein.“ Grete schien ebenso mit sich selbst zu sprechen wie
mit Thalia. „Aber ich hoffe ... Ich wünsche dir das Beste,
Thalia.“
„Ich danke dir.“
„Fast zwei Drittel von ihnen hatte Jerren in der Hand“, sagte
Thalia zu der kleinen Gruppe Katharer, die sie in der winzigen
Kapelle in Heidenau versammelt hatte. „Ich habe das Ausmaß
des Einflusses Ormendals auf den Rat zweifellos unterschätzt.“
Die anderen Katharer schüttelten betrübt die Köpfe.
„Und du weißt nichts darüber?“, fragte sie Odric.
Doch Odric sagte nichts. Er hatte kaum ein Wort gesprochen,
seit sie die äußere Mauer Thrabens hinter sich gelassen hatten.
Sie war sich nicht einmal sicher, ob er seitdem überhaupt auch
nur geblinzelt hatte: Er saß einfach bloß da und starrte vor sich
hin.
Sie seufzte und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ich
glaube ich verstehe, was du durchmachst, alter Freund“,
flüsterte sie ihm ins Ohr. „Ich glaube, wir alle wissen es.“
„Er wird schon werden“, sagte Grete. „Lass ihm Zeit, sich
auszuruhen.“
„Ich weiß“, sagte Thalia. „Er hat alle Zeit, die er braucht.“
„Was kann ich tun?“, fragte Grete.
Thalia lächelte. „Weißt du noch, als ich dich gebeten hatte, mit
mir zu kommen?“
„Ich hätte es tun sollen.“
„Ich bin froh, dass du es nicht getan hast. Ich würde jetzt im
Hof der Kathedrale hängen, wenn du nicht gewesen wärst und
mir bei meiner Flucht geholfen hättest. Und nun bist du ja
hier.“
„Aber was ist ‚hier‘? Was tun wir hier?“
„Willkommen beim Orden von Sankt Traft“, sagte Thalia und
deutete auf die Kapelle um sie herum, als wäre sie ein
prächtiger Palast.
„Sankt Traft?“, fragte Grete. „Du erhebst Anspruch auf eine
edle Herkunft, indem du seinen Namen aussprichst.
Dämonenjäger, Liebling der Engel, Märtyrer des Nadelöhrs:
Du hättest dir kaum einen würdigeren Schutzpatron aussuchen
können.“
„Ich habe ihn mir nicht ausgesucht“, sagte Thalia mit einem
Lächeln. „Er hat mich ausgesucht.“
Ein leuchtender Nebel verdichtete sich in der Luft hinter
Thalia und verwandelte ihr Haar in flüssiges Gold, während ihr
Gesicht von innen heraus zu strahlen begann. Einen
Augenblick später waren da zwei Gesichter, die sich
voneinander lösten, bis ein Mann – leuchtend und substanzlos
– neben ihr stand. Ein heiliger Geist. Sankt Traft selbst.
Thalia legte Grete eine Hand auf die Schulter. „Bist du bereit
zu kämpfen?“
Grete fiel auf die Knie, doch ihr Blick blieb fest auf Thalia
gerichtet. „Wohin auch immer du uns führst.“
Anrufung von Sankt Traft | Bild von Igor Kieryluk
Jace brachte seine Zeit auf Innistrad damit zu, einem Geheimnis
hinterherzujagen: angefangen bei Lilianas Haus über
das Markov-Anwesen zum Unterwassergrab, dann
wieder zurück zu Liliana und von dort schließlich zur
Kathedrale von Thraben. Auf dieser Reise war sein einziger
Orientierungspunkt ein im Markov-Anwesen gefundenes
Tagebuch, bei dem es sich um eine gebundene Sammlung von
Forschungsunterlagen handelte.
Und wie es der Zufall will, ist die Verfasserin jener
Aufzeichnungen – eine Planeswalkerin namens Tamiyo vom
Mondvolk – ihm auf der gleichen Suche mehrere Schritte
voraus ...
Heute
„Im Namen Avacyns, der gefallenen Beschützerin, werde ich
dich zur Strecke bringen!“ Das Heulen eines wahnsinnigen
Engels erklang, gerade als Arlinn den Rand der Schlucht
erklommen hatte. Sie jagte vorwärts, um dann unvermittelt
erneut zum Halten zu kommen. Ihre Krallen gruben sich in
den Waldboden, als sich eine Lichtung vor ihr öffnete. Der
wahnsinnige Engel lag am Boden inmitten eines Rings aus
Bäumen. Arlinn duckte sich ins Unterholz. Es würde ihr einen
Vorteil verschaffen, unentdeckt zu bleiben. Sie spähte durch
die Äste und sog tief die von Engelsblut durchsetzte Luft ein.
Der Engel war mit einem Seil gefesselt. Aus seinem Bauch ragte
ein Pfeil und seine Schwingen waren blutig. Er war von allen
Seiten von Katharern umringt, die ihre Waffen gezogen hatten.
Doch trotz all dem hatte der Engel die Oberhand – ein Wesen
unvorstellbarer Macht, das in seinem Wahn noch mächtiger
war.
Flügel stutzen | Bild von Howard Lyon
„Unrein!“, kreischte der Engel den Katharern entgegen. „Ihr
alle seid das! Unrein!“ Sein Schwert blitze vor feuriger Magie
auf, als er sich gegen die Seile aufbäumte. Er schrie – ein
Geräusch von solch bösartiger Wut, dass sich Arlinns
Nackenhaare aufstellten.
Arlinns Instinkte befahlen ihr, die Katharer zu beschützen. Sie
bleckte die Zähne und schlich durch das Unterholz. Sie würde
nicht lange auf eine Gelegenheit zum Zuschlagen warten.
„Haltet sie fest!“ Eine vertraute Stimme ließ Arlinn innehalten.
Ihre Ohren stellten sich auf. „Lasst diese Seile nicht locker!“
Arlinn wurden die Beine steif. Das konnte nicht sein. Doch
der Erzmagier war unverwechselbar, als er hinter dem Engel
hervorstürmte und den anderen Katharern Befehle zurief.
„Bogenschützen! Anlegen!“ Obwohl Remberts Gesicht vor
Anstrengung gerötet und mit Schmutz verkrustet war,
leuchteten die drei Narben, die sich von seiner Wange bis zum
Kinn zogen, hell im Mondlicht.
Arlinns Magen krampfte sich bei dem Anblick und der
Erinnerung zusammen. Sie wich mit herabhängendem
Schwanz in die dichteren Bäume zurück. Ihre Hinterpfote traf
auf einen Ast. Hätte sie Remberts Anblick nicht derart aus der
Fassung gebracht, hätten ihre tierischen Instinkte eingesetzt,
um ihren Körper zu führen und ihr Gleichgewicht zu halten,
doch in diesem Augenblick war sie mehr Mensch als Tier und
ihr menschlicher Verstand vor lauter Ablenkung ins Taumeln
geraten und viel zu langsam. Der Zweig knackte. Der Kopf des
Engels fuhr herum. Seine Augen waren geradewegs auf den
Wald gerichtet, in dem sich Arlinn verborgen hielt. Ein
beunruhigendes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des
Engels aus, als er die Hand hob. „Ein Untier!“ Der Engel
deutete auf Arlinn. „Dort zwischen den Bäumen! Ein Untier!“
Eine Handvoll Katharer drehte sich zu ihr um, unter ihnen
Rembert. Er erspähte den Werwolf in den Bäumen vor den
anderen. Er wusste, wonach er Ausschau halten musste. Sein
Blick traf den Arlinns, und er hob die Hand an die Wange, um
die längste der drei Narben dort zu betasten. Ein Zittern fuhr
ihr die Wirbelsäule entlang.
„He! Ein Werwolf!“, rief ein anderer der Katharer und riss
Arlinn aus ihrer Starre der Erinnerungen.
Die heiligen Frauen und Männer wichen instinktiv vor dem
Werwolf zurück und näherten sich so dem Engel – Nein!,
wollte Arlinn rufen, aber es wäre nur ein Knurren zu hören
gewesen, das alles noch schlimmer gemacht hätte. Doch es war
bereits schlimmer. Dieser eine Augenblick der
Unaufmerksamkeit war alles, was der Engel brauchte. In einer
Zuschaustellung wahnwitziger Stärke breitete er die Schwingen
mit solcher Kraft aus, dass die Seile abgeschüttelt wurden.
„Haltet sie auf! Haltet die Seile fest!“, riefen die Katharer, doch
es war zu spät.
Der Engel schwang sich empor. In der Luft schwebend riss er
sich den Pfeil aus dem Bauch und schleuderte ihn auf die
Jüngste unter den Katharern. „Unrein! Ich bringe euch zur
Strecke!“
Arlinn winselte, als die junge Frau leblos zu Boden fiel. Ihre
Wildheit ergriff Besitz von ihr und sie sprang dem Engel
entgegen, das Maul weit aufgerissen – nur, um es um einen
dicken Ast zu schließen, den Rembert wie eine Waffe schwang.
Er riss ihn zurück und holte erneut zum Schlag aus. Arlinn
wich aus, und ihre Hinterbeine verloren den Halt auf dem vom
Blut des Engels schlammigen Boden der Lichtung. Sie rappelte
sich auf und winselte, als Remberts dritter Schlag ihren
Schwanz traf.
„Schnappt sie euch!“, schrie Rembert den anderen Katharern
zu, während er nach Arlinn hieb, die sich hinter einem
Baumstumpf in Sicherheit gebracht hatte. „Ergreift das
Untier!“
Klingen blitzten und Pfeile schwirrten durch die Luft – einige
auf den Engel, andere auf Arlinn zu.
Halt! Sie wollte Rembert sagen, dass er aufhören sollte. Sie
wollte ihm sagen, dass sie nicht mehr das Untier war, das er
einst gekannt hatte. In Wahrheit war sie es nie gewesen.
Heute
Arlinn hatte versucht, sich zurückzuziehen. Sie wollte keinen
Kampf. Doch Rembert ließ ihr diese Möglichkeit nicht. Sie war
umzingelt und an den Rand der Schlucht gedrängt. Zu allen
Seiten waren Katharer und vor ihr Rembert mit seinem hoch
über den Kopf erhobenen, dicken Ast. „Ich habe dich
gewarnt.“ Er schleuderte ihr die Worte entgegen. Jedes war ein
schwerer Hieb. Seine stumpfe Waffe würde folgen. Arlinn
wappnete sich. Sie konnte mehr Treffer aushalten, als er ahnte,
und sie würde nicht zulassen, dass er sie vertrieb, wenn ein
wahnsinniger Engel so nahe war.
Wie gerufen stieß der Engel hinter den Katharern herab.
Arlinn konnte sie nicht schnell genug warnen. Sie konnte
Rembert nicht warnen. Der Engel kreischte, als er die blutigen
Finger um Remberts Arme legte und ihn, der er nach Atem
rang und die Augen aufgerissen hatte, in die Luft hob.
Die anderen Katharer richteten ihre Waffen nun auf den
Engel, und Arlinn erhob sich auf die Hinterläufe, als ihre
Beschützerinstinkte einsetzten.
„Nein! Setzt nach!“, rief Rembert, der trotz der Tatsache, dass
er nun in der Luft baumelte, noch immer den Befehl hatte,
seinen Katharern zu. „Wendet dem Untier nicht den Rücken
zu! Tötet den Werwolf!“
Die Katharer wirkten verwirrt. Einige richteten ihre Waffen
wieder auf Arlinn, andere weiterhin auf den wahnsinnigen
Engel. Dieser keckerte – nicht unähnlich den Teufeln –, und
seine Hände um Remberts Arme begannen, in einem
blutgetönten, heiligen Licht zu leuchten. Der Engel würde
Rembert gleich hier am Himmel töten und seinem Leben
mühelos ein Ende setzen.
Eine der Katharerinnen schoss einen Pfeil auf den Engel ab,
doch dieser flog wirkungslos über dessen Schulter hinweg. Der
Engel zeigte der Frau die Zähne. „Du bist als Nächste dran,
Unreine!“
Genug. Dies ging nun lang genug so. Arlinn lenkte Kraft in
ihre starken Muskeln und stieß sich ab, um über die Köpfe der
umherwankenden Katharer zu springen. Sie bekam den Stiefel
des Engels zu fassen und verbiss sich in das Leder, während sie
ihn nach unten zog und auf die Seite warf. Der Engel prallte
mit einem deutlich vernehmbaren Geräusch am Boden auf.
Rembert stolperte aus der Umklammerung. Arlinn
verschwendete keine Zeit. Sie stürzte sich auf das heilige Wesen
und versenkte ihre Zähne in sein Fleisch. Sie bestand nun nur
noch aus Muskeln und Sehnen, getrieben von der wilden Kraft
der Lykanthropie, jenem Fluch, der ihr ein Segen geworden
war.
Binnen weniger Augenblicke war der wahnsinnige Engel tot.
Arlinn wandte sich hechelnd zu den Katharern um, doch sie
standen nicht unmittelbar hinter hier. Sie hatten sich vielmehr
am Rand der Schlucht versammelt, und einige lagen auf dem
Bauch und griffen nach etwas jenseits der Kante. Rembert war
nirgends zu sehen. Arlinns Herz setzte einen Schlag aus und sie
rannte auf die Schlucht zu, während ihr Verstand bereits
begriffen hatte, was gerade geschehen sein musste.
Sie irrte sich nicht. Sie nahm die Einzelheiten der Szenerie
noch in sich auf, während ihr Körper bereits handelte.
Rembert war verwundet. Er lag auf dem knorrigen Stumpf
eines toten Baumes, der sein Gewicht nicht lange tragen
würde. Er war zu weit unten, um ihn von der Kante aus zu
erreichen, weshalb sie bereits auf einen anderen zersplitterten
Baumstumpf geklettert war. Mit den Klauen in das morsche
Holz gekrallt ließ sie sich nach unten hängen und reichte
Rembert ihre Pfote.
Er schnappte bei ihrem Anblick erschreckt nach Luft und
kauerte sich zusammen, während ihm die Angst ins Gesicht
geschrieben stand.
Sie streckte ihre Pfote weiter aus und flehte ihn stumm an, sie
zu ergreifen.
„Untier.“ Rembert hatte endlich seine Stimme
wiedergefunden. „Ich werde dich töten.“
Ein Grollen regte sich in Arlinns Kehle, doch sie schluckte es
hinunter. Es waren Schmerz und Furcht, die ihn diese Worte
sprechen ließen. So viel Schmerz stand zwischen ihnen. Und
dennoch war da auch eine Verbundenheit. Die der Goldnacht.
Auf ewig. Arlinn schloss die Augen und hieß die Verwandlung
in ihre menschliche Gestalt willkommen. Sie würde den
Erzmagier nicht hier und heute Nacht aus reiner Furcht
umkommen lassen. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie
ihre menschliche Hand vor sich, die sie nach ihm ausstreckte.
„Nimm meine Hand“, sagte sie zu Rembert.
Arlinn Kord | Bild von Winona Nelson
Sein Blick fand den ihren. „Du hast mich belogen.“
Arlinn schluckte. „Das habe ich.“
„Du hast die anderen getötet.“
„Das habe ich.“
„Ich kann nicht ... Ich werde nicht ...“
„Ich bin keine Sklavin des Fluchs mehr“. sagte Arlinn. „Ich bin
nun frei, um eine Beschützerin zu werden, wie es mir bestimmt
war. Bitte. Einst kanntest du mich. Erkenne mich wieder.“
In Remberts Augen funkelten Tränen, als der Stamm unter
seinem Gewicht ächzte.
Arlinn streckte erneut die Hand aus. „Nimm meine Hand.“
Rembert wappnete sich und hob den Arm. „Avacyn, steh mir
bei“, flüsterte er.
„Avacyn ist tot“, sagte Arlinn. „Wir müssen nun ineinander
Stärke finden.“
DIE KLIPPEN VON SEHLHOF
Nahiri hatte Großes vollbracht.
Sie hatte ihren Eid erfüllt – jenen Eid, den sie im Staub Bala
Geds geleistet hatte. Unter ihren Fingernägeln und in den
Falten ihrer Kleidung war noch immer Staub, den sie als
Erinnerung dort belassen hatte. Seit ihrem Aufbruch aus
Zendikar hatte sie sich selbst zu unvermindertem Fleiß
angetrieben – jede Stunde eines jeden Tages und bis spät in die
Nacht hinein, angepeitscht von ihrer Wut. Sie hatte sich alles
abverlangt, um in die Blinden Ewigkeiten hineinzugreifen, mit
Fingern, die vom anschwellenden Äther brannten. Um mit
Stein zu arbeiten und mit Magie, die mächtiger war als jede
andere, die sie je zuvor gewirkt hatte. Und alles war zehnmal
schwerer gewesen, als sie ursprünglich geahnt hatte. Doch
nicht ein einziges Mal hatte sie sich beklagt, gezaudert oder
innegehalten, um sich auszuruhen. Und nun endlich würde sie
dafür belohnt werden. Sie würde sehen, wie sich all ihre
Mühen auszahlten. Und Sorin würde es auch sehen.
Innistrads letzter Schutz war dahin. Nahiri hatte gespürt, wie
das letzte bisschen davon abgefallen war, als hätte man einem
Krieger nach der Schlacht ein schweres Rüstungsteil
abgenommen. Die Welt war nackt und verwundbar. Allerdings
war der Kampf noch nicht vorüber. Er hatte gerade erst
begonnen.
„So wie Zendikar blutete, so wird Innistrad bluten.“
Nahiri hielt den Atem an. Der Boden unter ihren Füßen
bewegte sich. Die Welt begann zu pulsieren und wurde von
Beben erschüttert, wie eine Kette explosiver Reaktionen, die
tief unter der Oberfläche rumorten und durch die Nacht
hallten. Auch Sorin würde sie spüren. Dieser Gedanke erfüllte
Nahiri mit großer Zufriedenheit. „Komm!“, rief sie zum
Himmel empor. „Komm zu mir! Komm nach Innistrad!“
Sie tauchten in die Nacht ein. Der Wind heulte nun, während
gewaltige Wirbel über den Himmel zogen. Ein rötliches,
außerweltliches Leuchten schwebte unter den aufgeblähten
Wolken.
Liliana strich sich das Haar aus dem Gesicht, dessen Strähnen
von einer Seite zur anderen gepeitscht wurden. Sie blickte zu
den fernen Hügeln Gavens, über denen sich gewaltige Schatten
zusammenbrauten. Das ist es, was Jace aufzuhalten versucht,
dachte sie.
Sorin warf kaum einen Blick zurück, als er sich mit den
Vampiren versammelte. Er hob sein Schwert. „Komm, Olivia“,
rief er über den Wind. „Es ist Zeit, dass du deinen Teil der
Abmachung erfüllst.“
Olivia grinste fröhlich und erhob sich hoch in die Luft. Die
Armee aus Vampiren marschierte mit erhobenen Schwertern
und Piken und glühenden Priesterstäben den Hügel hinab –
hinein in den Nebel und auf in die Schlacht gegen Nahiri.
Nicht, um gegen die Schrecken zu kämpfen, die Nahiri über
diese Welt gebracht hatte. Nicht, um dem wahnsinnigen Jace
zu helfen.
Dieser Welt ist es dann wohl bestimmt zu sterben, dachte
Liliana. All ihre Beschützer hatten sie verlassen. Es war Zeit,
Abschied zu nehmen. „Leb wohl, Vess-Anwesen.“
Der Himmel gab ein unergründliches Geräusch von sich, das
Liliana bis ins Mark erschütterte. In der Ferne glitzerte
Thraben wie ein gefallener Stern, der auf dem Horizont ruhte.
„Leb wohl, Junge im Mantel.“
Sie fand sich jedoch dabei wieder, auf einem anderen Weg als
die Vampire den Hügel hinabzugehen. Sie fand sich auf der
Straße wieder. Sie fand sich dabei wieder, wie sie an einem
Schlingengrab vorbeikam, in dem die Verbrecher lagen und
jenen Teil ihres Richtspruchs fristeten, in dem von der
Ewigkeit die Rede war. Sie fand sich dabei wieder, wie sie die
Hand ausstreckte. Leichen krochen aus der Erde. Sie ging
weiter. Die Leichen folgten ihr.
Sie fand sich dabei wieder, wie sie an einem weiteren Friedhof
vorbeikam, und dann an noch einem. Ein kleiner Schrein am
Wegesrand. Ein verfluchtes, Düstergrab, das von einem
Eisenzaun umgeben war. Ein Mausoleum voller Würdenträger
der Katharer. Jedes Mal streckte sie die Hand aus. Jedes Mal
gehorchten ihr die Toten, erwachten zuckend aus ihrer Ruhe
und schlurften ihr nach.
Bild von Joseph Meehan
Als sie sich in Richtung Thraben aufmachte, griff sie nach ihrer
Hüfte. Sie konnte beinahe hören, wie die Scharen spektraler
Essenzen sie verhöhnten und ihr aus dem Schleier
etwas zuraunten – über das Geräusch der Zombies hinweg, die
pflichtbewusst hinter ihr die Straße entlangschlurften.
Sorin und Olivia hatten nicht vor, etwas gegen das Unheil zu
unternehmen, das Nahiri angerichtet hatte. Und der einzige
Mensch, auf den sie zählen konnte, das alles zu verstehen – er
und sein angeschlagenes, enervierendes, unergründliches
Gehirn –, folgte seiner Neugier geradewegs in einen hässlichen,
bizarren und wahrscheinlich auch noch unvermeidlichen Tod.
Es war nicht so, dass sie ihn brauchte. Es war einfach nur so,
dass sie jemanden brauchte, von dem sie gebraucht wurde.
„Nun, Gared“, sagte sie laut in den Wind.
Sie hob die Arme und spürte die Zeichnungen wie brennende
Adern auf ihrer Haut.
„Es sieht so aus, als wäre ich ...“
Ein weiteres Dutzend Zombies erhob sich aus der Erde und
folgte ihr entlang ihrer Schneise nekromagischer Macht.
„... die letzte Hoffnung ...“
Die Leichen schienen nicht verzerrt – zumindest nicht mehr,
als es ihre Knochen im Laufe der Jahre im Boden ohnehin nun
einmal waren. Die rastlosen Toten schienen all diese Effekte
schlichtweg abzuschütteln. Liliana grinste.
„... für diese Welt.“
Sie hatten sie die Vorbotin genannt. Sie hatten nicht falsch
gelegen, diese Fanatiker und Kultisten. Und sie waren ihr
hierher gefolgt. Immer mehr waren es geworden, als sie mit
ihrem Werk auf Innistrad begann. Sie waren ihr treu ergeben
und erinnerten Nahiri daran, dass das Einzige, was sich auf
dieser ganzen verdammten Welt zu retten lohnte, ihre Rache
war.
Der dröhnende Chor Hunderter vor sich hin brabbelnder
Kultisten hallte durch die Gänge, als sie dem Vampir ins
Gesicht starrte. Er war hässlich mit seinen zurückgezogenen
Lippen, die scharfe und gnadenlose Fänge entblößten. Zwei
Augen – Bernsteinsplitter, die in einem tintenfarbenen Teich
schwammen – starrten zurück. Oder vielmehr: an ihr vorbei.
Soweit Nahiri es beurteilen konnte, war dieser Blutsauger
prächtig gekleidet und – wie die Dutzenden von anderen
Vertretern seiner Art um ihn herum – fest in die Wand
eingelassen. Sie alle waren tot. Ihretwegen.
Sie hasste diesen Ort. Das Markov-Anwesen. Wie so vieles auf
dieser Welt stank es nach Sorin. Sie hatte es zerschlagen,
verzerrt und umgeformt, doch all dies hatte dennoch nicht
ausgereicht, seine Spuren aus dem Gebäude zu tilgen. Aber
trotzdem war sie nun hier. Es waren Vorbereitungen getroffen
worden, und jetzt wartete getane Arbeit darauf, begutachtet zu
werden.
Rache war eine diffizile Angelegenheit, aber Nahiri hatte
eintausend Jahre Zeit gehabt, sie zu durchdenken.
Ein. Tausend. Jahre.
Genug Zeit, um ihre Rache aus sämtlichen Blickwinkeln und
in aller Ausführlichkeit zu erörtern. Sie durchzuspielen, um sie
dann anders auszurichten und erneut durchzuspielen, bis alles
haargenau passte – so lange, bis sie sich in einen Plan
verwandelt hatte.
Und nun, da Nahiri durch das blanke Gerippe des Markov-
Anwesens schritt, gestattete sie sich ein leises Lächeln. Alles
war tatsächlich an seinem Platz, genau so, wie es sein sollte –
alles außer Sorin. Und er würde bald hier sein.
Diesmal hatte sie etwas ganz Besonderes mitgebracht. Eine
Sammlung, die von ihr zusammengetragen worden war,
nachdem die Kunde sie erreicht hatte, dass Sorin eine
Streitmacht anführte, um sich ihr zu stellen. Sicher, sie hatte
ihre Kultisten, aber Rache war nichts, wobei man nachlässig
werden durfte.
Der erste Teil von Sorins Streitmacht, der eintraf, waren die
Banner. Uralte Stoffbahnen, die von schwarzen Holzpiken
herabhingen, getragen von Vampirrittern in polierter
Plattenrüstung. Hunderte von Vampiren marschierten hinter
ihnen und schwärmten über den flachen Hügel gegenüber des
Anwesens aus.
Nahiri beobachtete die Prozession von dem gewaltigen
Torbogen am Eingang des Anwesens aus. Als Sorin schließlich
vor seiner versammelten Streitmacht auftauchte, presste Nahiri
die Zähne zusammen. Sorin sagte etwas zu den Vampiren in
seiner Nähe, doch sie konnte nicht ausmachen, was.
Bild von Igor Kieryluk
Es spielte auch keine Rolle. All dies würde nun enden. Mit
dem Schwert in der Hand trat Nahiri in das matte Licht des
Tages, hinaus auf den zerstörten Damm, um Sorin
willkommen zu heißen.
„Ich höre nur sehr wenig Neuigkeiten“, sagte Grete, „und die
Hälfte davon widerspricht sich.“
Thalia nickte seufzend. „Manchmal kehren unsere
Kundschafter nicht zurück“, sagte sie, „und manchmal sind sie
kaum in der Lage, Bericht zu erstatten.“ Etwas krampfte sich in
ihrem Magen zusammen, als sie an Halmig dachte, der sich
gestern früh dem Marsch angeschlossen hatte und der
vollkommen ...verändert ... gewesen war. Sie hatte sich
gezwungen gesehen, ihn zu töten. Ihn oder wozu auch immer
er geworden war – mehr ein sich windendes Ding als ein
Mensch. Sie konnte nur Vermutungen darüber anstellen, was
ihm auf seiner Kundschaftermission widerfahren und was mit
den Soldaten unter seinem Befehl geschehen war.
„Ist es wahr, dass Hennweier zerstört ist?“, fragte Grete.
„Die Wahrheit ist viel schlimmer.“ Thalia fuhr mit den Fingern
durch das glänzende Fell ihres Reittieres und tat so, als sähe sie
Gretes hochgezogene Augenbraue nicht. Grete ihrerseits hakte
nicht weiter nach.
Schweigend und jede ihren eigenen Gedanken nachhängend
ritten sie eine Weile weiter. Das letzte Mal, als eine Armee
nach Thraben marschiert war, hatte es sich dabei um eine von
den Geschwistern Sesani erschaffene Horde aus Ghulen und
Skaabs gehandelt, wie sich Thalia erinnerte. Nun war sie Teil
einer voranmarschierenden Horde – wenn man so wenige
Soldaten überhaupt als solche bezeichnen konnte. Sie waren
nicht minder abgerissen und heruntergekommen wie Zombies,
denn die Kämpfe der vergangenen Wochen hatten sie
ausgezehrt. Die Welt schien vom Wahnsinn verschlungen
worden zu sein. Doch so lange sie noch atmeten und so lange
sie noch einen Hoffnungsschimmer fanden, an den sie sich
klammern konnten, so lange würden sie weiterkämpfen.
Zumindest die meisten von ihnen. Odric war zurückgeblieben.
Sein Geist war gebrochen, nachdem er sich gegen den Rat der
Lunarchen gewandt und Thalia aus ihrem Kerker befreit hatte.
Thalia trauerte um ihn, doch sie durfte keinen Deut ihres
eigenen Glaubens darauf vergeuden, den seinen wieder zu
stärken.
„Ich habe gehört, Seeta und ihre Inquisitoren setzen ihre
Arbeit fort“, sagte Grete schließlich.
Thalia schnaubte verächtlich. „Sollen sie uns ruhig finden“,
sagte sie. Nachdem Thalia dem Rat der Lunarchen
entgegengetreten und gemeinsam mit Odric und Grete aus
Thraben geflohen war, hatte eine eifrige Inquisitorin namens
Seeta die Jagd auf sie angeführt. Seetas Schlachtruf lautete:
„Reinigt die Unreinen!“, und sie reiste an der Spitze einer
Prozession rollender Fallbeile. Die von Ochsen gezogenen
Hinrichtungsanlagen hatten sie bislang so sehr aufgehalten,
dass sie den Orden von Sankt Traft noch nicht gefunden hatte.
Und nun war dieser groß genug geworden, dass Thalia glaubte,
wenig von dem, was von der Inquisition noch übrig war,
fürchten zu müssen.
Grete schüttelte den Kopf. „Sie nennen sich nun die
Sündenfreien“, sagte sie. „Sie behaupten, die Verwandlung
wäre ein Zeichen dafür, dass die Sünde aus ihren Körpern
getilgt wurde.“
Thalia verzog angeekelt den Mund. „Sie versuchen, das als eine
... Tugend ... auszulegen?“
Grete nickte und starrte auf den steinigen Pfad vor ihnen.
„Wie tief wir doch gesunken sind“, sagte Thalia halb zu sich
selbst.
„Was ist es denn dann?“, fragte Grete. „Angenommen, es ist
keine Tugend, meine ich. Wodurch wird es verursacht?“
„Wenn es eine Antwort darauf gibt, werden wir sie in Thraben
finden.“
Sie fragte sich, was sie tatsächlich dort finden würden – in der
Stadt, in der Kathedrale. Ihr Herz schlug schneller und ihr
Magen krampfte sich bei dem Gedanken an Thraben, das über
so viele Jahre hinweg ihre Heimat gewesen war, noch
schmerzhafter zusammen. Was, wenn es das gleiche Schicksal
wie Hennweier ereilt hatte? Wenn dort Menschen und Dinge
zu einer einzigen Wesenheit verschmolzen waren? Was, wenn
es nichts mehr zu retten gab? Was, wenn Avacyn wirklich ...?
Hennweier, die schlingende Stadt | Bild von Vincent Proce
Ein einsames Pferd stand ein Stück den Pfad hinunter. Thalia
nickte Grete zu, spornte ihr Reittier an und galoppierte
vorwärts. Sie lehnte sich gegen den Kopf ihres Tieres und der
Dommelgreif breitete die Schwingen aus, um sich anmutig in
die Luft zu erheben, an Gretes voranpreschendem Pferd
vorbeizuschweben und sich neben Rem Karolus niederzulassen,
ohne das kleinste Staubkorn am Boden aufzuwirbeln.
Rem war ein weiterer ergebener Diener der Kirche gewesen –
die Klinge der Inquisitoren –, doch der Wahnsinn der Engel
hatte ihn verändert. Er war seit jeher kein Mann vieler Worte
gewesen und hatte seine Pflichten mit grimmiger
Entschlossenheit erfüllt. Doch er hatte seinem Titel schon früh
alle Ehre gemacht und seine berühmte Klinge gegen die wahre
Bedrohung Innistrads geführt. „Engelstöter“ nannte man ihn
nun, auch wenn er selbst diesen Namen nicht für sich
verwendete. Und obgleich sie nie mit ihm darüber gesprochen
hatte, vermutete Thalia, dass Rems Glauben gemeinsam mit
dem ersten Engel, den er niedergestreckt hatte, gestorben war.
Als Grete ihr Pferd neben ihnen zügelte, schnitt Rem zwei
Riemen an der Seite seines Sattels durch und ein langer,
metallener Schaft fiel dumpf zu Boden. Selbst mit zerbrochener
Spitze war Avacyns Speer unverwechselbar.
„Es ist also wahr“, flüsterte Thalia.
„Hast du sie getötet?“, entfuhr es Grete .
Rem machte ein abschätziges Geräusch. „Du überschätzt
mich“, sagte er. „Versteh mich nicht falsch: Ich hätte es getan,
wenn ich gekonnt hätte. Doch es sieht so aus, als sei mir
jemand zuvorgekommen.“
Thalias Herz wurde schwer. Sie glitt vom Rücken des Greifen
und fiel neben dem Speer auf die Knie, als würde die Last auf
ihrer Brust sie nach unten ziehen. Ihr Greif stupste ihr Gesicht
an. Sein eigenes war nass von ... Tränen? Trauerte er ebenso
um Avacyn wie sie selbst?
Sie wankte nach vorn und griff nach dem Speer.
Rem rief noch halb: „Das würde ich nicht ...“
Ein Gleißen heiligen Lichts brach aus dem Schaft, wo ihre
Hand ihn berührte, und Thalia zog die Finger zurück, als ein
Schmerz ihr durch den gesamten Arm fuhr.
„... tun“, endete Rem flach. „Ich hätte mir schier etwas
gebrochen, als ich ihn an der alten Jedda hier festzurrte. Ich
konnte ihn nicht anfassen.“
Thalia schenkte ihm keine Beachtung. Kannst du das?, fragte
sie den Geist in sich.
Ihre Hand begann in einem warmen, weißen Licht zu leuchten,
als die Macht von Sankt Traft ihr den Rücken entlangfuhr. Sie
fühlte sich leichter. Mit oder ohne Avacyn: Die Welt war noch
nicht verloren.
Sie griff erneut nach dem Speer, und diesmal schloss sich ihre
Hand fest um den Schaft. Sie stand auf und hob den Speer
über den Kopf. Seine Spitze leuchtete unter dem bewölkten
Himmel wie die Sonne. Rems Mund stand offen und Thalia
versuchte, ihn nicht anzugrinsen.
„Grete, nimmst du bitte die Standarte aus meinem Sattel?“,
fragte Thalia.
Grete stieg ab und näherte sich dem Greifen – zunächst
zaghaft, doch als sie nahe genug war, um ihn zu berühren, sah
Thalia, wie ihre Angst dahinschwand. Dommelgreifen wirkten
beruhigend.
Dommelgreif der Dämmerung | Bild von Christine Choi
Grete entfernte geschickt den langen Speer, an dem das
Banner von Sankt Traft beim Reiten über Thalias Kopf wehte,
und Thalia platzierte Avacyns Speer an seiner Stelle.
„Wir reiten nun unter diesem Banner“, sagte sie.
Rem war noch immer völlig verblüfft. „Wie hast du ...?“
„Du solltest häufiger mit mir reiten, Rem. Du würdest eine
Menge überraschender Dinge sehen.“
„Und Dinge, die dir Hoffnung geben“, fügte Grete hinzu.
„Nun, wir werden sehen“, sagte Rem. Doch er blickte auf den
Speer, der noch immer im matten Sonnenlicht schimmerte,
und etwas glitzerte in seinen Augen, wenngleich es auch keine
Hoffnung war.
Thalia kletterte zurück in ihren Sattel, wendete den Greifen in
Richtung der sich nähernden Armee und ließ ihn sich wieder
in die Luft schwingen. Sie flog über die gesamte, bunt
zusammengewürfelte Schar hinweg und achtete darauf, dass
jeder Avacyns Speer zu sehen bekam. Verhaltene Rufe
erklangen – die Rufe von Soldaten, die ihrer Anführerin
zujubelten –, doch als die Leute erkannten, was sie da vor sich
sahen und was es bedeutete, wurden ihre Rufe zu Schreien der
Verzweiflung.
Sie lenkte den Greifen in ihre Mitte. Mithilfe des Geistes hob
sie den Speer erneut mit beiden Händen über den Kopf. Er
war zu schwer, als dass sie ihn im Kampf hätte führen können,
doch er war ein mächtiges Symbol.
„Avacyn ist tot!“, rief sie. Verzweifeltes Stöhnen und
ungläubige Rufe erschallten um sie herum. „Ihre Kirche ist
unwiderruflich verderbt. Und namenlose Schrecken kriechen
und winden sich über unser Land.“
Mit schmerzendem Herzen hielt sie einen Augenblick inne. Die
Trauer, die sie in den Gesichtern um sich herum sah, spiegelte
ihre eigene wider. Jeder hier hatte Familie, Freunde und sein
Zuhause verloren – und nun standen sie kurz davor, auch noch
ihre letzte Hoffnung zu verlieren. Das Gewicht des Speeres ließ
die Muskeln in ihren Schultern brennen.
„Doch wir sind noch hier!“, rief sie. „Wir, die wir gegen diese
Schrecken kämpften. Wir, die wir uns dem Bösen und dem
Wahn der Kirche entgegengestellten. Wir, die wir im Angesicht
der Verzweiflung Hoffnung in unserem Glauben fanden – wir
sind noch hier! Und wenn kein Erzengel mehr uns den Weg
durch das Dunkel erhellt, dann müssen wir unser eigenes Licht
sein. Wenn kein Schutzzauber die Schrecken mehr im Zaum
hält, dann müssen unsere Schwerter diese Aufgabe
übernehmen. Wenn wir keinen Glauben mehr in Avacyn
finden, dann müssen wir an jene Ideale glauben, für die
Avacyn vor ihrem Wahnsinn stand.“
Beim Sprechen sah sie, wie Katharer auf die Knie sanken und
ihnen Tränen über die vom Kampf verhärmten Wangen
rannen, während sie den Blick zum Himmel gerichtet oder die
Gesichter dem Staub entgegengewandt hielten. Jeder von
ihnen würde auf seine Weise und zu seiner Zeit mit der Trauer
fertigwerden müssen. Ihr Schmerz setzte ihr zusätzlich zu ihrer
eigenen Trauer zu – eine Bürde, die weitaus schwerer wog als
der Speer, den sie mühsam erhoben hielt.
Sie erinnerte sich an das, was sie Odric vor Monaten gesagt
hatte, und sagte alles, von dem sie wusste, dass es ihnen die
Herzen etwas leichter machen konnte. „Vor all dem hier hielt
das sanfte Licht des Mondes die Schrecken der Nacht zurück.
Vor all dem hier hielten die Bande zwischen uns die Furcht
fern, die uns zu trennen versuchte. Vor all dem hier strebten
wir danach, mehr als nur gewöhnliche Menschen zu sein. Wir
strebten nach Heiligkeit und nach einer Vollkommenheit, wie
wir sie in den Engeln sahen.
Und das werden wir erneut tun. Liebe Freunde, wir sind noch
hier! Und das ist es, wofür wir streiten! Für die Erinnerung an
Avacyn, an das Licht und an die Güte, die aus der Welt
verschwunden sind – dafür streiten wir! Für Innistrad und all
seine Bewohner – für sie marschieren wir!“
Sie jubelten trotz ihrer Tränen. Sie standen auf und erhoben
die Gesichter zum wolkenverhangenen Himmel und reckten
ihm ihre Schwerter und Speere entgegen. Thalia berührte den
Kopf des Greifen, und er stieg auf, um ein weiteres Mal über
den Soldaten ihrer kleinen Armee zu kreisen. Dann landete sie
erneut neben Grete an der Spitze ihrer Streitmacht und sie
marschierten voran: nach Thraben und in ein letztes,
verzweifeltes Gefecht gegen den Albtraum, der Besitz von ihrer
Welt ergriffen hatte.
Sigarda half Thalia auf die Beine, und ihr Schmerz verschwand
und ihr Blick wurde wieder klar. Der gesegnete Engel – der
letzte Erzengel – lächelte sie an.
Sieg. Das Wort huschte durch ihren Geist, und sie erwiderte
das Lächeln.
Dann wurde Sigardas Ausdruck wieder ernst und sie schüttelte
den Kopf, als hätte sie Thalias flüchtigen Gedanken gelesen.
Thalia schaute sich um. Noch immer tobte der Kampf, doch es
schien, als hätte sich das Blatt gewendet: Menschen und
Vampire und Werwölfe trieben dank ihres so
unwahrscheinlich wirkenden Bündnisses die brabbelnden
Horden der Dunkelheit zurück.
Dann hob sich ihr Blick zum Himmel.
Das Ding dort oben in der Luft war unfassbar riesig. Es
erinnerte vage an die verschmolzenen Engel Bruna und Sela.
Sein kuppelförmiger Leib wurde von einer Masse seltsamer
Tentakel getragen, und in seiner Mitte glühte ein rötliches
Leuchten.
Doch nichts an seiner Gestalt erinnerte an natürliches Leben,
geschweige denn an die Majestät und Anmut eines Engels. Sein
Dasein trotzte der natürlichen Ordnung, verstieß gegen alle
ihre Gesetze und spottete der Heiligkeit des Lebens. Seine
schiere Anwesenheit lud jenen Wahnsinn ein, der trotz des
Schutzes des Heiligen wie ein stumpfes Messer gegen Thalias
Verstand drückte.
Als es sich näherte, brandete eine Woge aus verdorbenen
Schrecken vor ihm auf, brach über den Platz herein und
wendete das Blatt in dieser Schlacht erneut – hin zu ihrer aller
völligen Vernichtung.
Jace erschauerte unwillkürlich, als er auf Innistrad die Augen
aufschlug. Die Luft war hier ein ganzes Stück kälter. Sie roch
auch anders und fühlte sich sogar anders an. Der Geruch war
sonderbar – beinahe metallisch –, und als er den letzten Rest
der Luft Zendikars ausatmete und diejenige Innistrads in seine
Lungen sog, spürte er es. Diese Luft hier war irgendwie dicker.
Der erste Atemzug schmerzte, wenn auch nur ein klein wenig.
Der Himmel riss sich selbst in Stücke. Sturmwolken türmten
sich auf, als tobte ein Unwetter in sämtlichen Richtungen, und
kein Sonnenlicht drang über den Horizont. Die ewige
Dämmerung dieser Welt war einem violetten Leuchten
gewichen. Seine Augen wollten sich einfach nicht an die
Dunkelheit gewöhnen, sondern widersetzten sich ihm bei
jedem Schritt. Er blinzelte zum Horizont und zu dem Riss in
der Wirklichkeit und versuchte, sich zu konzentrieren.
Konzentriere dich. Konzentriere dich. Seine Gedanken fühlten
sich träge an, als hätte er statt eines Kopfes nur einen Sack
nassen Reis auf den Schultern sitzen. Ein Sack, dessen Inhalt
fortwährend schwappte, sich aneinander rieb, verrutschte ...
In seinem Bewusstsein erklang ein Glöckchen. Oder der aus
seinem Gedächtnis heraufbeschworene Nachhall eines
Glöckchens. Er diente ihm als Erinnerung an sich selbst, und
sein Blick wurde wieder klar.
Er stand auf einem Hügel und blickte auf die sanften Hügel
und Felder hinab, die Thraben umgaben. Er konnte die Stadt
nun sehen. Sie stand halb in Flammen. Kämpfte tobten in den
Straßen. Fackeln. Rufe. Schreie. Er war sich nicht sicher, ob er
die Schreie aus dieser Entfernung überhaupt hörte oder ob er
sie vielleicht nur spürte. Und über all dem schwebte am
Himmel ... Er konnte sich nicht dazu überwinden, es
anzusehen. Noch nicht.
Ein zweites Geräusch lenkte Jaces Aufmerksamkeit auf ein
deutlicheres und dringlicheres Problem. Knurren. Schnauben.
Grünlich leuchtende Augen in der Dunkelheit.
„Schon wieder Werwölfe“, murmelte Jace. Er griff in die
Dunkelheit hinein und berührte sanft die Bewusstseine, die er
dort fand. Drei waren es, vom Wahnsinn übermannt und in
etwas verwandelt, was er kaum wiederzuerkennen vermochte.
Als sie sich aus dem Schatten lösten, sah er die Werwölfe in
aller Klarheit. Ihr Fell war räudig und ihre Haut von
demselben Flechtwerk überzogen, das er auf allem Lebendigen
auf Innistrad gesehen hatte.
Jace traf eine Entscheidung. Von diesen Bewusstseinen war
nicht genug übrig, um sie zu retten. Sein mentaler Angriff war
wenig subtil: Er packte ihre Sinne und überlud sie mit
gleißendem Licht, ohrenbetäubenden Geräuschen und
Gerüchen, die so stark waren, dass sie daran erstickten. Es war
nicht schön, doch er musste hier einen ersten Stützpunkt
errichten, bevor die anderen eintrafen.
Ausweichplan | Bild von Ryan Yee
Zwei der Werwölfe jaulten auf und fielen zu Boden, wo sie erst
zuckten und sich dann schließlich nicht mehr regten. Der
Letzte der drei ... lachte? Jace spürte, wie das Bewusstsein der
Kreatur sich veränderte, sich anpasste und sich in Reaktion auf
den Angriff aufblähte. Die mentale Verbindung riss ab und er
musste mit ansehen, wie die Haut des Werwolfs sich kräuselte,
seine Gliedmaßen länger wurden, seine Krallen sich weiter
ausfuhren und seine Haut Schleim abzusondern begann. Jace
taumelte zurück. Was auch immer er getan hatte, hatte so etwas
wie eine reflexhafte Mutation ausgelöst. Nun wusste er nicht
einmal mehr, was er da vor sich hatte.
Mit einer raschen Geste spaltete er sich in ein Dutzend
Abbilder seiner selbst auf. Das Ungeheuer verbrachte ein paar
Augenblicke damit, Witterung aufzunehmen, ehe es sich auf
seinen echten Körper konzentrierte und die Illusionen links
liegen ließ. Jace sah sich nach einem Fluchtweg um und fand
keinen. Handlungsmöglichkeiten rasten durch seinen
Verstand, nur um eine nach der anderen verworfen zu werden.
Jaces halbstoffliche Illusionen bedrängten das Untier und
versuchten, ihm Zeit zu verschaffen, bis ...
... Ein Lichtblitz, der Klang einer peitschenden Klinge und das
Geräusch von zerreißendem Fleisch. Der Schrecken wurde zu
einem entstellten, winselnden Häuflein Elend. Gideon.
„Alles gut, Jace. Ich passe auf dich auf.“
Jace zog seinen Mantel glatt. „Hast du dich unterwegs verirrt?
Oder auf Ravnica schnell noch einen Happen gegessen?“
„Es ist nicht so leicht, dir irgendwohin zu folgen, wo ich vorher
noch nie gewesen bin. Hm.“ Gideon starrte den Hügel hinab
in Richtung Thraben. Wenn er ebenfalls Schwierigkeiten mit
seiner Wahrnehmung hatte, ließ er sich nichts davon
anmerken. „Größer als die anderen beiden. Und es hat eine
ziemliche Streitmacht zwischen sich und uns in Stellung
gebracht. Wie ist der Plan?“
Die Luft flirrte vor Hitze, und eine Frau trat aus dem Flimmern
heraus.
Chandra rieb sich die Hände. „Der gleiche wie letztes Mal,
oder? Feuer? Na ja, das war damals zwar jetzt nicht zwingend
der Plan gewesen, aber es hat Wirkung gezeigt. Das tut es in
der Regel immer.“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und
betrachtete die chaotische Szenerie unter ihnen.
Der Hügel erzitterte leicht – das einzige Zeichen für Nissas
Ankunft. Sie runzelte die Stirn, als sie sich niederkniete und
die Handfläche auf den Boden legte. „Das Mana hier ist
dunkel. Verzerrt. Es ist in der Erde, den Bäumen ... Zum Teil
ist Emrakul dafür verantwortlich, aber ...“
„Du bist das erste Mal auf Innistrad, oder? ‚Dunkel und
verzerrt‘ ist hier an der Tagesordnung.“ Jace fuhr fort: „Wir
haben hier im Grunde eine ähnliche Lage wie beim letzten Mal
– mit ein paar kleinen Abweichungen. Emrakul bewegt sich auf
Thraben zu, und wir müssen vor ihr da sein. Nissa setzt ihre
planare Glyphe ein, um auf das Netzwerk aus Leylinien
zuzugreifen. Gideon macht uns den Weg frei, damit wir dichter
herankommen. Wir leiten die Kraft der Welt durch Chandra,
und sie zieht ihr Ding durch.“
Nissa schüttelte den Kopf. „Das wird nicht klappen. Die
Leylinien sind bereits umgeleitet worden. Dort hinein.“
Jace zwang sich zu einem Grinsen. „Nun, ja. Das Netzwerk aus
Kryptolithen. Es bündelt nun sämtliche Leylinien in Richtung
Thraben. Das – und die Tatsache, dass Thraben die dichteste
Konzentration an Leben auf ganz Innistrad aufweist – bedeutet,
dass Emrakul sehr wahrscheinlich dorthin gezogen wird. Diese
Bündelung sollte die Wirkung der Glyphe verstärken. Ähnlich
wie das Polyedernetzwerk.“
„Falls wir dicht genug herankommen. Doch dann wird
Emrakul uns vernichten.“ Nissas Stimme war leise, aber fest.
„Wenn wir nicht nahe genug herankommen, kann ich von
irgendeinem anderen Punkt aus nur auf eine oder zwei
Leylinien zugreifen. Höchstens drei. Und das ist nicht genug.“
Chandra legte Nissa eine Hand auf die Schulter. „He, eine
Leylinie oder zwanzig – verschaff mir nur den Zugriff und dann
sorgen wir schon dafür, dass es reicht.“
Gideon seufzte. „Nissa, glaubst du, du kannst das schaffen? Wir
werden es nicht mit einem Plan versuchen, mit dem wir nicht
alle einverstanden sind.“
Nissa las eine Handvoll Erde auf und zerrieb sie zwischen den
Fingern. Sie blickte in die Gesichter ihrer Gefährten. Gideon
war besorgt. Jace ungerührt. Chandra aufgeregt. Sie schloss die
Augen und lauschte einige Zeit ihrem Herzschlag, der
kränklichen Erde unter sich und ihren Erinnerungen.
„Ja.“
Jace
Der purpurbeschattete Turm durch regnerisches Glas.
Feuerschwere Adern fallen dunkelschwer. Emrakul keckert
Gedanken in einer Schleife aus kaltem Metall ...
Eine Stimme schnitt durch das wirre Brabbeln – eine vertraute
Stimme, die er zum ersten Mal hörte. Das läuft gar nicht gut.
Ich werde mich davon nicht bezwingen lassen. So schwach bin
ich nicht. Jace atmete langsam und gleichmäßig. Gedanken
ordneten sich. Er versuchte, sich an den Unsinn zu erinnern,
der sein Bewusstsein nur Augenblicke zuvor beherrscht hatte,
doch er war bereits verschwunden – wie Tau, der in der
Morgendämmerung verging. Er befand sich oben auf einer
langen, breiten Wendeltreppe, deren weiße Stufen von Blau
durchsetzt waren. Die Treppe war hell erleuchtet, wenngleich
er keine Lichtquelle auszumachen vermochte, und sie
erstreckte sich tief nach unten – viel weiter, als er sehen
konnte.
Über ihm erhob sich ein hoher, dünner Turm aus Stein. Vom
Boden aus wirkte er wie sein Refugium daheim auf Ravnica.
Große Steintische voller Bücherstapel, Karten und
verschiedenen ... Gerätschaften, die surrten und summten.
Bücherregale, so weit das Auge reichte – er blickte sie
sehnsüchtig an. Es sah nicht nur so aus wie seine Wohnstatt
auf Ravnica, es war seine Wohnstatt ... außer dass sich in deren
Mitte keine prächtige Treppe in die Tiefe wand.
Jaces Refugium | Bild von Adam Paquette
Und auf Ravnica gab es zweifellos auch kein gewaltiges
Ungeheuer, das sein Refugium von oben zu zerstören suchte.
Hunderte Schritt über sich sah Jace gewaltige Steinblöcke des
Turms wegbrechen oder davongeschleudert werden. Das
gesamte Dach des Turms war bereits verschwunden und gab
den Blick auf einen dunklen Himmel frei, der von Wolken in
einem unheilvollen Purpur überzogen war. Als Jace die
fortschreitende Zerstörung weiter beobachtete, erkannte er,
dass es sich gar nicht um Wolken handelte. Es war ein Ding.
Eine Kreatur. Die Kreatur löste sich in einer gigantischen
purpurnen Wolke auf, aus der Hunderte zuckender Tentakel
hervorwuchsen, die von Blitzen und ohrenbetäubendem
Donner begleitet nach dem Turm schlugen und auf ihn
einpeitschten. Die Kreatur hatte einen Namen ...
Emrakul. Der Name klang merkwürdig, als er ihn aussprach. Er
war ein Wort, das er nicht kennen sollte. Ein Wort, das er
nicht kennen konnte. Oder vielleicht war das auch nur das
Wort hinter und unter dem Wort ... Jace hielt inne. Es war
zermürbend, wie leicht es war, den eigenen Gedankengang zu
vergessen. Konzentriere dich. Emrakul. Ein ... Ding. Ein
Eldrazi. Der Eldrazi. Jaces Verstand hatte Mühe, die Natur
dieses Wesens voll zu erfassen. Sein Kopf dröhnte von einem
dumpfen, hämmernden Schmerz, der mit jedem Gedanken an
die Titanin der Eldrazi dort draußen stärker wurde. Dann
denke eben nicht an sie. Wo bin ich? Was ist das für ein Ort?
Weitere Erinnerungen kehrten zurück. Er war nicht in einem
Turm gewesen. Er war in Thraben, das von unermesslichen
Horden von Emrakuls Dienern belagert wurde. Sie alle waren
dort. Gideon. Tamiyo. Nissa. Chandra. Liliana. Sie war
überraschend aufgetaucht – an der Spitze einer Armee aus
Untoten, um sie vor den Kultisten und Kreaturen Emrakuls zu
beschützen. Liliana war zurückgekommen. Sie ...
Ein lauter Donnerschlag grollte draußen, der Boden erbebte
leicht unter seinen Füßen und Jaces Kopf begann erneut zu
dröhnen. Blitze zuckten und erhellten Emrakuls Tentakel, die
weiter riesige Teile aus dem steinernen Bauwerk rissen. Der
Turm war groß und massiv, doch Emrakul nahm ihn Stein für
Stein auseinander.
Ein sanftes, weißes Licht begann weiter unten an der Treppe zu
pulsieren. Es rief ihn zu sich. Unter gewöhnlichen Umständen
war Jace vernünftig genug, um verlockenden weißen Lichtern
an einem fremden Ort zu misstrauen, führten sie doch in aller
Regel nur zu weiteren fremden Orten. Doch unter
gewöhnlichen Umständen wurden solche Orte auch nicht von
allmächtigen Titanen der Eldrazi angegriffen. Das weiße
Leuchten wirkte zunehmend noch verlockender.
Draußen gab es eine gleißende Explosion – eine lange, tiefe
Woge aus Purpur, gefolgt von krachendem Donner. Der
gesamte Turm erzitterte, als ein Blitz darin einschlug. Jace wand
sich vor Schmerz am Boden und hielt sich den Kopf, in dem es
quälend pochte. Was geschieht mit mir? Und dann sprach eine
andere Stimme – seine Stimme, die von irgendwo anders
herkam – voller Befehlsgewalt: Beweg dich. Sofort. Geh nach
unten.
Jace blickte durch die Ruinen des Turms zu dem hungrigen
purpurnen Maul Emrakuls hinauf. Ihre endlosen Tentakel
wanden sich um immer größere Teile des steinernen Bollwerks.
Jace rappelte sich auf und stolperte auf die Treppe zu. Er
beschloss, dass die Stimme – meine Stimme – recht hatte. Es
war Zeit, von hier zu verschwinden. Er stieg in die Tiefen des
Turms hinab.
Liliana
Lilianas Blut stand in Flammen, ihr Verstand lag in
Trümmern. Eine einzige Sache hielt sie noch notdürftig
zusammen: Zorn. Das sind meine Untoten. Sie sind mein! Du
wirst sie nicht bekommen! Ohne einen bewussten Gedanken
in dieser Richtung zu fassen, sog sie die Macht des
Kettenschleiers tief in sich ein und stemmte sich damit
Emrakul entgegen. Sie spürte die verderbte Berührung des
Eldrazi, die nun derart mächtig war, dass ihr sogar die Toten
erlagen. Doch selbst diese unheilvolle Berührung war nichts
gegen Lilianas nekromagische Kraft, die vom Kettenschleier
gespeist wurde. Sie spürte, wie ihre Untoten zu ihr
zurückkehrten.
Die Macht, die ihr durch die Adern strömte, war eine einzige
Labsal. Jedes Mal, wenn sie den Kettenschleier zuvor verwendet
hatte, war da nichts als Qual und ein Reißen in ihr gewesen,
doch irgendwie schützte ihre Wut sie nun vor den schlimmsten
Verletzungen, die ihr der Kettenschleier sonst
zufügte. Vielleicht ist das das Geheimnis, wie man die volle
Macht des Schleiers entfesselt. Ich habe sie nie genug gewollt.
Von den Toten auferstehen | Bild von Kieran Yanner
Stimmen flüsterten ihr noch immer zu, Stimmen von ihren
Untoten und die des Schleiers unmittelbar in ihrem Verstand.
„Gefäß der Vernichtung. Wurzel allen Übels.“ Dies waren
nicht die einzigen Stimmen, die sie hörte. Der Rabenmann fiel
in die lähmende Melodie ein. Wir müssen von hier fort. Das
ist Wahnsinn. Ich dachte, du willst den Tod bezwingen. Das
Wesen, dem du hier gegenüberstehst, ist älter als die Zeit und
mächtiger als du, selbst wenn du tausend Kettenschleier
trügest. Wir müssen von hier fort! Der Rabenmann versuchte,
seinen Worten den Anschein eines Befehls zu geben. Nie zuvor
hatte er so nackt, so verwundbar geklungen.
Liliana gestattete sich einen Blick zu den anderen
Planeswalkern. Chandra, Tamiyo und Gideon lagen bewusstlos
am Boden. Sie tastete kurz mit ihrer Macht nach ihnen, doch
ihre Gestalten reagierten nicht auf die nekromagische
Berührung. Sie waren also allesamt noch am Leben. Nissa war
wie an Ort und Stelle festgewurzelt. Sie schrie, doch die Worte,
die dabei aus ihrem Mund drangen, waren nur
unzusammenhängendes Gestammel. Grüne und purpurne
Energie sammelte sich um sie, prallte aufeinander, ebbte auf
und ab. Jace war der Einzige, der auf den Beinen war und bei
Bewusstsein zu sein schien, auch wenn er ihr keinerlei
Beachtung schenkte. Sie bemerkte einen blauen Schimmer um
ihn herum, einen Halbschatten, der sich auch auf die fünf
anderen Planeswalker gelegt hatte. Auf alle bis auf sie. Ist es
das, was euch am Leben hält?
Der Halbschatten reichte nicht bis zu ihr. Doch sie brauchte
seine Hilfe nicht. Liliana hatte beachtliche Macht gekannt,
vereint mit der Weisheit und der Unbarmherzigkeit, die aus
zweihundert langen Lebensjahren erwachsen war. Doch sie
kannte nichts, was sie vor dem geistigen Ansturm Emrakuls
hätte beschützen können. Ohne die Macht des Kettenschleiers
wäre sie hier untergegangen.
Eine Macht, über die sie nun gebot. Und sie tat dies mit großer
Freude. Sie lachte angesichts des damit verbundenen Kitzels.
Nie war sie ihrer früheren Allmacht so nahe gekommen. Ich
kann alles schaffen. Und dennoch wisperten die Stimmen des
Schleiers noch immer in ihrem Kopf. Gefäß. Gefäß der
Vernichtung. Wir müssen vor dem Weltenbeender fliehen.
Dem Weltenerschaffer. Gefäß! Die Stimme des Rabenmannes
war von Panik erstickt. Höre auf den Schleier, du Närrin!
Flieh! Ihre Untoten. „Wurzel allen Übels. Gefäß der
Vernichtung. Gefäß!“
Liliana lachte ein Lachen, das von Zorn und Macht durchwirkt
war. „ICH. BIN. KEIN. GEFÄSS!“
Sie verdrängte die Stimmen des Schleiers und des
Rabenmannes und brachte sie jäh zum Schweigen. Sie spürte
ihren Zorn und ihre Ungeduld, als sie sich verzweifelt gegen sie
zur Wehr setzten. Alles, was zählt, ist mein Wille. Mein
Verlangen. Nichts kann mir standhalten. Sie griff in den
Schleier hinein und entzog ihm mehr Macht, als sie je zuvor
gewagt hatte.
Ich gehöre nicht dir. Du gehörst mir.
Sie sammelte die Energien des Schleiers und bündelte sie
gemeinsam mit ihrer eigenen bemerkenswerten Macht und
Weisheit. In der Umarmung solcher Kräfte spürte sie Emrakuls
geistigen Angriff nicht einmal mehr.
Sie wandte der Titanin nun ihre volle Aufmerksamkeit zu. Als
würde Emrakul Lilianas wachsende Macht bemerken, bewegte
sie sich langsam in ihre Richtung. Jeder scheint sich vor dir zu
fürchten, Emrakul. Liliana lachte erneut, ein Keckern, während
sie in ihrer Macht badete. Niemand glaubt, dass ich dich
besiegen kann. Finden wir es doch heraus.
Jace
Bei seinem Abstieg blickte Jace gelegentlich nach oben, doch
alles nur wenige Schritte hinter ihm wurde von Schatten
verhüllt. Ich schätze, diese Stufen führen nur nach unten. Er
dachte, er sollte das Gefühl, einen unbekannten Gang
hinunter in die Tiefen eines seltsamen Turmes geleitet zu
werden, irgendwie beunruhigend finden – vor allem auch
deshalb, weil sein Weg von andauerndem Donner von oben
begleitet war – , doch er blieb ganz gelassen. Hier unten ist es
zweifellos sicherer als dort oben.
Die Steinwand neben ihm begann zu schimmern. Während er
dabei zusah, wurde der Stein zu Glas oder zumindest
irgendeinem anderen durchsichtigen Material. Die gesamte
Wand neben ihm wurde vom Boden bis zur Decke zu einer
klaren Fläche. Hinter dem Fenster war eine Szene zu sehen, wie
in einem Schaukasten, den Kinder für die Schule anfertigten,
doch dieses Diorama bewegte sich.
Die Figur in der Mitte war Gideon. Er stritt gegen irgendeine
Art von himmlischem Wesen, das über ihm aufragte – es war
wahrhaftig himmlisch, denn es bestand aus einem
sternenbedeckten Firmament. Es hatte zwei große, schwarze
Hörner, die ein blaues Gesicht einrahmten. Es schwang eine
grotesk große Peitsche, in deren Griff ein menschlicher Schädel
eingearbeitet war. Gideon sah hinreichend nach Gideon aus:
breites Kinn, goldener Sural und glänzende Rüstung. Der
Ausdruck auf seinem Gesicht glich jedoch ganz und gar nicht
jenem Gideon, den Jace kannte. Dieser Gideon wirkte besorgt,
beinahe eingeschüchtert. Seine Miene zeigte Zorn – aber auch
Furcht. Interessant.
Erebos, Gott der Toten | Bild von Peter Mohrbacher
Um Gideon herum standen die anderen Mitglieder der
Wächter. Chandra mit flammendem Kopf und Händen. Nissa.
Selbst ein Jace. Ich bin doch sicher größer? Die himmlische
Gestalt breitete die Arme weit aus, die Peitsche in der Hand.
Sie sprach mit einer tiefen, hallenden Stimme, die aus dem
Boden emporzudringen schien. „Und was ist es, was du,
Kytheon Iora, am meisten begehrst? Was ist es, was du wirklich
willst?“
„Nein!“, rief Gideon mit vor Schmerz und Trotz verzerrtem
Gesicht. „Es gibt nichts, was du mir anbieten könntest, Erebos!
Nichts! Alles, was du anzubieten hast, ist Gift.“
Das Wesen – Erebos – hob die Peitsche. „Das ist kein Angebot,
Sterblicher. Sage mir wahrheitsgemäß, was du am meisten
begehrst, oder ich werde deine Freunde einen nach dem
anderen töten.“
Gideons Schultern senkten sich, und sein Sural fuhr in die
Scheide zurück. Er blickte mit einer Mischung aus Zorn und
Verzweiflung zu Erebos auf. „Am meisten begehre ich ...“ Er
hielt inne und holte tief Atem. „Andere zu beschützen, sie zu
retten ...“
„Du lügst.“ Erebos schlug mit der Peitsche zu, und als sie den
Jace neben Gideon traf, löste dessen Fleisch sich auf und er
verschwand. Ich mag es wirklich nicht, mich selbst sterben zu
sehen. Gideon schrie auf und holte mit blitzendem Sural aus,
doch Erebos zeigte keine Regung. Er hob die Hand und
Gideon wurde zurückgeschleudert.
„Du kannst mich nicht besiegen, Sterblicher. Das konntest du
nie. Und das wirst du nie. Sage mir die Wahrheit. Dann lasse
ich den Rest deiner Freunde am Leben.“
Draußen grollte laut der Donner – Emrakul, das ist Emrakul –,
und Jace konnte Gideons Antwort nicht hören. Doch wie auch
immer sie gelautet hatte: Erebos war damit nicht zufrieden. Ein
weiteres Mal schnellte die Peitsche vor und Nissa verschwand
durch ihre Berührung. Gideon zuckte zusammen, als Nissa
erschlagen wurde, griff jedoch diesmal nicht an. Chandra stand
nur mit leerem Blick da. Ihre flammenden Hände hingen
reglos an ihrer Seite. Dieses Schauspiel ist zweifellos nicht die
Wirklichkeit. Findet es in Gideons Kopf statt?
Gideons Stimme brach vor Zorn. „Ich will dich besiegen, dich
in Stücke reißen, damit du nicht länger ...“
„Nein. Noch immer sprichst du Lügen.“ Erebos Stimme
hingegen war ruhig wie ein Friedhof. Ein weiterer
Peitschenhieb, und Chandra verschwand. „Musst du erst alles
verlieren, bevor du dir die Wahrheit eingestehst, Sterblicher?
Wozu ist all dieser Starrsinn gut? Du bist sehr darauf aus, den
größten Schmerz zu spüren.“ Erebos Peitsche tanzte unter der
Führung ihres Meisters. „Was willst du?“
Gideon hob den Kopf gen Himmel und schrie: „Ich will ...“,
doch noch ehe er seinen Satz beendet hatte, wurde das Fenster
dunkel.
Jace rührte sich nicht, gelähmt von all dem, was er gerade
gesehen hatte. Wer ist Erebos? Welchen Schmerz durchlebt
Gideon? Jace hatte nicht geahnt, dass sein Freund so sehr
litt. Und meine Unwissenheit über Gideon wird nur noch von
meiner Unwissenheit darüber übertroffen, was hier vor sich
geht. Sind das Träume? Bin ich in Gideons Verstand? Emrakul
über mir wirkt zumindest sehr, sehr echt.
Die Schatten drängten dichter an Jace heran. Er musste in
Bewegung bleiben. Die Antworten waren weiter unten zu
finden. Er war nur ein paar Schritte gegangen, als eine weitere
Wand durchscheinend wurde. Diesmal befand sich Tamiyo in
der Mitte der Szene.
Tamiyo, Feldforscherin | Bild von Tianhua X
Sie saß zusammengekauert an einem kleinen Pult und brütete
über einer großen Schriftrolle, die auf einem staubigen Tisch
ausgebreitet war. Die Szene war nur von einer Kerze erhellt, die
jedoch im Verhältnis zu ihrer Größe viel zu viel Licht spendete.
Hinter Tamiyo befanden sich Regale voller Bücher und neben
ihnen weitere Stapel. Jace verspürte etwas Wehmut. Immer nur
von Büchern umgeben zu sein und alle Zeit zu haben, sie zu
lesen. Das war schon seit einer Weile nicht mehr sein Leben
gewesen und würde es auch so schnell nicht wieder werden.
Aus einem von Tamiyos Augen rann Blut. Es begann mit
einem leisen Tröpfeln. Jeder Tropfen traf mit einem
leisen Pling auf den Tisch. Während sie weiter in der
Schriftrolle las, begann auch aus dem anderen Auge Blut zu
rinnen. Jeder zweite Tropfen stammte nun aus ihm. Pling,
pling. Pling, pling. Pling, pling.
Jace sah entsetzt zu, wie fleischiges Flechtwerk über Tamiyos
Augen wucherte und sie vollkommen bedeckte. Das Mal
Emrakuls. Jace hatte in den letzten Tagen so viel von Emrakuls
Zeichen gesehen. Das Blut tropfte weiter durch das
Flechtwerk. Pling, pling. Pling, pling. Pling, pling.
Das Flechtwerk erblühte anderswo. Fleischige Auswüchse
brachen aus Tamiyos Fingern hervor und bedeckten ihre
Hände mit an ein Netz gemahnenden Mustern. Die Auswüchse
breiteten sich auf den Tisch darunter aus und machten
Tamiyos Hände daran fest. Nun war sie blind und konnte ihre
Finger nicht mehr rühren. Das Blut tropfte noch immer aus
ihren Augen. Pling, pling. Pling, pling. Pling, pling.
Während sie den Gebrauch ihrer Augen und Hände verloren
hatte, hatte Tamiyo unablässig vor sich hin geflüstert, auch
wenn für Jace kein Geräusch zu hören gewesen war. Die
fleischigen Auswüchse überwucherten nun auch ihren Mund
und versiegelten ihre Lippen mit Emrakuls Netz. Und selbst
nachdem ihr Mund verschlossen worden war, wuchs das
Geflecht wimmelnd und würmelnd weiter. Die Ranken
sprossen aus ihrem geschlossenen Mund heraus, und wenn
nun das Blut aus Tamiyos Augen tröpfelte, dann schnappten
die Ranken danach, um sich zu winden und zu zucken,
während der Lebenssaft in ihrer öligen Haut versickerte. Pling,
zuck. Pling, zuck. Pling, zuck.
Tamiyo war vollkommen reglos. Ihr Mund, ihre Augen und
ihre Hände waren völlig erstarrt. Jace hatte Tamiyos
Bewusstsein berührt. Er kannte ihre Essenz besser als die
meisten anderen. Ihre Fähigkeit zu sehen, zu sprechen, zu
schreiben – das war der wichtigste Bestandteil ihrer Magie,
ihres Verständigungsvermögens. Das war es, was sie ausmachte.
Sie wird ausradiert. Jace schrie und hämmerte gegen das
Fenster, doch weder Tamiyo noch irgendetwas anderes in dem
Raum reagierte darauf. Das Fenster wurde wieder zu
undurchsichtigem Stein.
Jace sackte in sich zusammen. Was ist das für ein Ort? Das
können nicht die Bewusstseine meiner Freunde sein. Oder?
Über ihm hingen die Schatten. Er war müde. So unendlich
müde. Langsam rappelte er sich auf und setzte seinen Abstieg
fort.
Liliana
Diese Macht. Sie war eine Offenbarung. Alles, was nötig
gewesen war, war ihr Wille. Ihr Verlangen. So lange Zeit hatte
sie sich selbst als vollkommen pragmatisch und nur von ihrem
Ziel angetrieben betrachtet. Nicht zu sterben. Ihre
dämonischen Folterer zu töten. Doch nun wusste sie, dass sie
nicht willens gewesen war, diesen endgültigen Schritt zu gehen.
Die allerletzte Grenze zu überschreiten. Ich zeigte
Zurückhaltung. Wie töricht.
Vor ihr ragte Emrakul auf. Eine Titanin der Eldrazi. Ein
Wesen älter als die Zeit, falls die Stimme in ihrem Kopf die
Wahrheit gesagt hatte. Ich glaube, du bist ein Ding. Ein
mächtiges Ding, doch eines, das lebt. Und wenn du lebst, dann
kannst du sterben. Und wenn du stirbst – ein weiteres Lächeln
–, dann gehörst du mir.
Die Energien des Schleiers zuckten und bäumten sich unter
ihrer Kontrolle auf. Sie wollten verwendet werden, um zu
verdorren und zu töten. Macht ist dazu da, benutzt zu
werden. Sie sammelte sie, formte sie und schleuderte einen
gleißenden Strahl nekromagischer Energie nach dem anderen
auf die gewaltige Gestalt Emrakuls, um die Titanin mit ihrer
Macht zurückzutreiben.
Da war ein Lied in Lilianas Bewusstsein – eines, das alles
andere übertönte. Es war ein Lied der Macht, und es erklang
mit einer ach so süßen Melodie. Das ist es, wofür ich geboren
wurde. Dies ist mein Schicksal. Jeder Strahl, der Emrakul traf,
hinterließ klaffende Krater vernarbten, toten Materials und
turmhohe Tentakel, die verschrumpelten und verdorrten.
Manches davon regenerierte sich, doch nicht genug, ehe
Liliana auch schon ihren nächsten Treffer landen konnte. Das
erste Mal seit ihrem Erblühen wurde Emrakul kleiner. Sie
wurde zurückgeworfen. Liliana gewann.
Liliana, die letzte Hoffnung | Bild von Anna Steinbauer
Die Stimme des Rabenmannes schnitt durch ihre Verzückung
wie ein Spritzer eiskalten Abwassers. Du weißt nicht, was du da
tust. Was du da wagst. Du kannst nicht ernsthaft hoffen, diese
Macht noch länger beherrschen zu können.
Lilianas Zorn umhüllte jedes einzelne Wort ihrer gedachten
Erwiderung. Versuche nicht, mich mit deinen beschränkten
Erwartungen zurückhalten zu wollen, kleiner Mann. Heute ist
der Tag, an dem ich eine Titanin der Eldrazi vernichte. Und
warum? Weil ich es wage.
Sie wünschte, die Wächter wären bei Bewusstsein, um ihren
Sieg mitzuerleben. So sieht wahre Macht aus, ihr erbärmlichen
Ausreden für echte Planeswalker. Sie schoss Emrakul weitere
Strahlen entgegen und forcierte ihren Angriff.
Jace
Jace war nicht überrascht, wenig später auf ein neues Fenster zu
stoßen. Diesmal war es Chandra. Oder zumindest nahm er das
an. Sie war ein kleines Mädchen, doch das rote Haar und ihr
Gesicht verrieten schon etwas von jener Frau, zu der sie einst
werden sollte. Chandra war von einer bedrohlichen Menge an
Wachen umzingelt, deren Uniformen reich verziert und
farbenfroh waren. Jace erkannte den Ort nicht, zu dem sie
gehörten. Ihre Heimat. Die Wachen hoben ihre Piken und
Chandra schluchzte. Ströme von Tränen rangen mit einem
tiefen, keuchenden Schnappen nach Luft um die Herrschaft
über ihre Züge.
Chandra, Feuer von Kaladesh | Bild von Eric Deschamps
Eine der Wachen, groß und dürr, trat vor. Auf dem Gesicht
des Mannes lag ein breites Lächeln, das im Widerspruch zu
seinen harten Worten stand. „Wir haben deinen Vater getötet,
Rebellin. Und deine Mutter. Und nun werden wir dich töten.“
Jace nahm an, dass diese Szene nicht der Wirklichkeit
entsprang, sondern nur ein Albtraum in Chandras Kopf war,
aber er ballte dennoch die Fäuste. Niemand sollte einen
solchen Schmerz erdulden müssen. Die Wachen rückten mit
ihren Piken vor, während ihr Anführer höhnisch fortfuhr:
„Und das Beste daran ist, dass du nichts dagegen tun kannst.“
Chandra hörte auf zu weinen und starrte ihre Gegner an. Eine
winzige Flamme gleißte in ihrem Auge auf. „Du irrst dich“,
sagte sie. Ihre Stimme klang keineswegs wie die eines Kindes.
„Es gibt etwas, was ich tun kann.“ Ihr Körper veränderte sich,
wuchs und entwickelte sich vor seinen Augen zu der Chandra,
die er kannte. „Ich kann immer etwas tun. Ich kann etwas
verbrennen.“ Feuer loderte ihr aus Kopf und Händen.
Sie lächelte. Die Wachen wichen verunsichert zurück. Sie trat
einen Schritt vor. „Ich kann euch verbrennen.“ Der Anführer
ging in Flammen auf. Er schrie vor Schmerz. „Ich kann euch
alle verbrennen.“ Nun standen auch die anderen Wachen in
Flammen. Ihre Haut knisterte und platzte auf, und ihre
gellenden Schreie hallten zum Himmel hinauf. „Ich kann die
ganze Welt verbrennen.“ Hitze und Licht und Feuer brachen
hervor, eine weißglühende Energie, die alles einhüllte und
verbrannte. Auch Chandra. Chandra schrie. Ob aber nun vor
Vergnügen oder Schmerz vermochte Jace nicht zu sagen.
Chandra die Lodernde | Bild von Steve Argyle
Das Fenster wurde wieder zu Stein, doch Jace konnte die Hitze
noch immer spüren. Das war eines der wichtigsten Prinzipien
von Illusionen. Nur weil es bloß in deinem Kopf ist, heißt das
nicht, dass es dich nicht töten kann.
Gideon, Tamiyo, Chandra ... aber noch keine Liliana. Er
hastete weiter nach unten und schaute begierig nach dem
nächsten sich öffnenden Fenster. Er ließ die Mundwinkel
hängen, als er die Gestalt hinter der Wand sah. Oh, Nissa. Er
versuchte, nicht enttäuscht zu sein, doch er fand es schwierig,
die elfische Planeswalkerin zu verstehen.
Der Hintergrund hinter Nissa sah genau aus wie die Welt
draußen – der dunkle, purpurne Himmel, die seltsamen
Lichtblitze, der drohende Schatten Emrakuls, Liliana und ihre
Untoten. Nissa stand schmerzerfüllt in der Mitte. Sie schrie.
Sie wand sich. Sie wurde verzerrt, sie wurde verdreht, sie
zitterte – doch dies waren nicht die einzigen Verletzungen, die
ihr zugefügt wurden. Etwas ... kroch ... ihr zuckend über die
Hände.
Groteske Mutation | Bild von Dan Scott
Als Jace genauer hinsah, bemerkte er, dass aus Nissas Fingern
winzige Finger wuchsen, zehn aus jedem. Und dann sah er, wie
weitere Finger aus diesen winzigen Fingern wuchsen, kaum
dicker als ein Haar. Er erschauderte, doch als er ihre Augen
sah, schrie er unwillkürlich auf. Aus jeder von Nissas
Augenhöhlen standen mehrere winzige Augäpfel vor und aus
jedem von diesen noch weitere. Grüne Energie blitzte aus ihren
Händen und Augen, doch in diesem Grün lauerte ein dunkles,
grausames Purpur.
Emrakul ist Emrakul ist Emrakul auf ewig.
Jace wusste nicht, woher der Gedanke gekommen war, doch
selbst in seiner Unverständlichkeit erschien er ihm richtig. Auf
ewig und ewig und ...
„Negglish pthoniki ab‘ahor!“ Unzusammenhängende Silben
sprudelten aus Nissa heraus – oder zumindest waren sie in
einer Sprache, die Jace noch nie zuvor gehört hatte. Beim
Sprechen zuckte ihr Kopf wie wild, und zwischen den Worten
rutschte ihr schlaff die Zunge aus dem Mund. Was ist das da
auf ihrer Zunge? O nein. Nein, nein, nein, nein. Die Menge an
Einzelheiten, die ich ertragen kann, ist fast überschritten. Nein,
eigentlich ist sie das schon längst.
Fieberhafte Visionen | Bild von Steve Belledin
Während Unsinn und Geifer aus ihrem Mund sprudelten,
mischten sich verständliche Worte in das Gebrabbel. „Shigg
epsi-alles chut‘ghb endet! Gilma-alles chts-stirbt!“ Die
Zuckungen ließen nach, ihre Stimme gewann an Kraft und
Sicherheit. Nun war sämtliche Energie, die von ihr ausging,
purpurn – ein tiefes Purpur ohne jede Spur von Grün. Sie hob
Kopf und Arme gen Himmel und rief:
„Wachstum! Wachstum ist die Antwort! Die einzige Antwort!
Die Entropie kann nicht verlieren. Aber darf sie gewinnen?
Natürlich sind Opfer zu bringen! Warum kämpfen sie dagegen
an? Eine Ewigkeit ohne Opfer bietet nur die schreiende Starre!
Blut muss aufgewühlt und dick gestampft werden wie Butter.
Warum fürchten sie das Leben? Warum fürchten sie
die Wahrheit?“
Dass Nissa nun erkennbare Worte hervorstieß, machte kaum
einen Unterschied für Jaces Vermögen, sie zu verstehen.
Obwohl er wusste, dass es vergeblich war, griff er nach ihrem
Bewusstsein. Nissa, hilf mir. Hilf mir zu verstehen. Wovon
sprichst du?
Nissa veränderte ihre Haltung, um Jace geradewegs durch das
Fenster anzusehen. Sie sieht mich. Jace zitterte und war wie
erstarrt. Er konnte sich nicht bewegen oder auch nur
wegsehen. Ihre Augen leuchteten in einem dunklen Purpur.
Sie sprach zu ihm. „Ich kann alles tun, was ich will. Alles.
Denke daran. Das Einzige, was dich rettet, ist ...“ Das purpurne
Licht erlosch und der Nimbus um sie herum verflog. „.Dass ich
nichts will.“
Einen langen Augenblick starrte sie ihn an, das Gesicht grotesk
verzerrt, während ihre zusätzlichen Augen ruhelos hin und her
zuckten. Das Fenster wurde gnädigerweise zu Stein.
Jace stand noch immer wie festgefroren vor der Wand. Er
zitterte, und Schweiß rann ihm über das Gesicht und den
Nacken hinunter. Die Schatten von oben trieben ihn
weiter. Wie lange bin ich schon auf dieser Treppe? Was
geschieht mit meinen Freunden? Die Tiefe lockte noch immer
mit ihrem hellen Leuchten. Doch er wollte sich nicht rühren.
Er wollte gar nichts tun. Schlafen. Ich könnte schlafen. Ich
wache dann vielleicht nicht mehr auf, aber wäre das so
schlimm? Seine Augen wurden schwer, und eine angenehme
Verschwommenheit legte sich über seine Wahrnehmung. Er
setzte sich auf die Stufen. Ich bin so müde.
Als er in den Schlaf dämmerte, dachte er an Liliana. Er wusste
nicht, wo sie war oder was mit ihr geschah. Sie ist nicht hier.
Sie ist nicht an diesem Ort. Doch wenn er ehrlich war, hatte sie
ihn ohnehin nie gebraucht. „Traurig. Für eine Weile. Und
dann käme ich darüber hinweg.“ Das hatte sie damals in ihrem
Schloss gesagt, als sie seinen Tod mit dem eines Hündchens
verglichen hatte. Ein Hündchen. Würde mein Tod sie wirklich
nicht mehr berühren als der eines Hündchens? Das kann nicht
wahr sein. Ein Hündchen. Der Gedanke nagte an ihm.
Schlaf. Wie kann ich denn jetzt nur an Schlaf denken? Was
geschieht mit mir? Er wusste nicht, ob es nur an der
Erschöpfung lag oder ob ein bösartigerer Effekt am Werk
war. Ist das wichtig? Die Lösung ist die gleiche. Er stand
auf. Gehe weiter nach unten. Löse das Rätsel. Stirb nicht.
Besiege Emrakul. Als er weiter hinabging, dachte er an Liliana.
Liliana
Das erste Anzeichen von Schwierigkeiten war ein Nachlassen
ihrer Geschwindigkeit. Liliana hatte nie zuvor so viel Energie
kontrolliert, und mit jedem Atemzug hatte sie Strahl um Strahl
auf Emrakul abgefeuert. Atmen, feuern, atmen, feuern.
Und obwohl die Macht sie nicht im Stich ließ, so doch ihr
Körper. Sie zögerte einen Augenblick, um tief Luft zu holen,
und dies nutzte Emrakul, um aufzuwallen und ihren Leib und
ihre Tentakel schneller zu regenerieren, als Liliana es je für
möglich gehalten hatte. Eine Reihe dicker Tentakel hieb nach
ihr, nur um bei der Berührung durch ihre Magie zu verdorren
und sich aufzulösen. Weitere folgten jedoch rasch. Während
zuvor jeder Treffer Lilianas Emrakul zurückgetrieben hatte,
hatte sie nun Mühe, nicht selbst zurückweichen zu müssen.
Du bist sterblich. Du hast Grenzen. Das da nicht. Die Stimme
des Rabenmannes stach mit kaltem Flüstern in ihr
Hirn. Schaue dir dieses Gras und den Staub an, du Närrin. Sie
werden dein Friedhof sein.
Sie schrie vor Zorn, während sie weitere Strahlen abfeuerte.
Der Ausbruch hielt die Titanin vorerst auf Abstand.
Augenblicke später ebbte die Energie jedoch erneut ab. Liliana
schnappte nach Luft, und Emrakul kam wieder näher.
Ich werde nicht heute sterben, knurrte sie den Rabenmann,
den Schleier und jeden an, der ihr sonst noch lauschen
mochte. Und sich selbst. Emrakul und ihre Tentakel setzten
ihren gnadenlosen Vormarsch fort. Ich werde nicht heute
sterben.
Wenn du Glück hast, Liliana, ist dein Tod das Beste, was dir
heute widerfahren könnte. Du hast uns beide zum Untergang
verdammt. Der Rabenmann sprach ohne Verachtung, Hass
oder Furcht. Er klang ... resigniert. Das erste Mal, seit sie die
Wächter gerettet hatte, fürchtete sich Liliana.
Jace
Jace rechnete damit, dass eine weitere Wand durchsichtig
wurde, um ihm eine Szene aus Lilianas Verstand zu zeigen.
Womit er nicht gerechnet hatte, war, dass die Stufen an einer
Tür endeten.
Es war eine schwere Eichentür mit eisernen Beschlägen, aber
ohne Klinke oder Schlüsselloch. Nur Holz und Eisen, von dem
gleichen dicken Stein eingefasst wie der Rest der Treppe. Er
legte seine Hand an die Tür. Eine Stimme schrie – nein nein
nein nein nein –, und blanker Schrecken ergriff von seinem
Verstand Besitz. Doch die Stimme verklang und der Schrecken
wich. Jace schaute die Stufen hinauf. Die Schatten kamen
weder näher noch teilten sie sich, um den Weg zurück
freizugeben. Wenn er weitergehen wollte, dann durch diese
Tür. Er schob die Tür auf und trat über die Schwelle.
Der Raum besaß weder Form noch Farbe. Schwindel überkam
ihn, da sein Verstand Mühe hatte, seine Umgebung auch nur
ansatzweise zu begreifen. Jace spürte den heftigen Sog der
Ewigkeit, eine endlose Schleife, die sich zu dem Schrecken
auswuchs, niemals den Frieden der Auslöschung zu kennen,
um nur um nur um nur ... bis die Wirklichkeit zurückkehrte.
Das ihn umgebende Nichts wurde zu einem weiten, weißen
Feld.
Vor ihm befand sich ein Engel.
Er näherte sich ihm, und Jace bemerkte, dass der Raum um sie
beide herum langsam Gestalt annahm. Sie befanden sich an
einem echten Ort. Einem Raum. Einer Nachahmung jenes
Refugiums, in dem diese bizarre Reise begonnen hatte. Sein
Refugium. Der Engel war groß – größer als jeder Engel, den er
zuvor gesehen hatte. Selbst größer als Avacyn. Und seine
Schwingen waren gewaltig, mit dicken Muskelsträngen
versehen und dicht gefiedert. Sie falteten sich hinter ihm
beinahe in Form einer Pilzwolke ...
Jaces rasendes Herz ließ ihn in kalten Schweiß
ausbrechen. Nein o nein o nein ...
Das Gesicht des Engels war von einer Kapuze verborgen, doch
die beiden Schwerter, die er trug – eins in jeder Hand –, waren
deutlich zu erkennen. Der Saum seines Wamses wurde zu
langen Bändern – zehn, nein hundert –, und es schienen
immer mehr zu werden. Sie zuckten und wanden sich. Als
würden sie Jace bemerken, tasteten sie die Luft vor ihm ab wie
lebendige Geschöpfe. Wenn ich zu schreien anfange, weiß ich
nicht, ob ich je wieder aufhören kann. Also schreie ich besser
nicht. Ob Weinen hilft? Ich weine gern, wenn es hilft.
Schrein der vergessenen Götter | Bild von Daniel Ljunggren
Jace lachte vor Vergnügen und Furcht zugleich. Ich bin so froh,
dass ich mich witzig finde. Das Lachen durchbrach seine
Lähmung und setzte seinen Verstand wieder in Gang. Ich
kenne diesen Engel. Ich habe ihn schon einmal gesehen. Oder
zumindest Statuen von ihm – damals auf Zendikar. „Emeria?“,
keuchte er. Das Wort klang auf seinen Lippen fremd.
Sie blickte ihn an, doch er konnte ihr Gesicht unter der
Kapuze nicht erkennen. Jace betrachtete aufmerksam die
Bänder und die Schwerter, doch nichts davon schien ihn
angreifen zu wollen. Seine Zuversicht wuchs.
„Bist du ... Bist du Emeria? Bist du ... Emrakul?“
„Darf ich mich setzen?“ Es war eine weibliche Stimme. Leicht,
beinahe heiter. Jace hätte unter anderen Umständen vielleicht
sogar gesagt, dass dieses Wesen trällerte. Doch nicht jetzt. Jace
konnte keine Lippen unter der Kapuze sehen, die diese Laute
erzeugt hatten, doch die Stimme klang völlig
gewöhnlich. Zumindest irgendwie.
Jace war so damit beschäftigt, die Stimme auszudeuten, dass er
einen Augenblick brauchte, um zu begreifen, was sie eigentlich
gesagt hatte. „Du fragst mich?“ Von allen Überraschungen
dieses Tages wäre der Erhalt einer höflichen Nachfrage
eigentlich kaum als die bemerkenswerteste zu sehen
gewesen. Aber ehrlich gesagt stand sie auf dieser Liste
womöglich sogar an allererster Stelle.
„Dies ist schließlich dein Zuhause.“ Eine Pause. „Jace. Jace
Beleren.“ Als sie „Beleren“ sagte, tat sie es langsam, Silbe für
Silbe.
Ich habe jetzt sehr große Angst. Und ich bin auch sehr
neugierig. Was für ein sonderbarer Gegensatz.
„Ich bin hier nur eine Besucherin. Also: Darf ich?“ Sie wartete.
Um wie vieles unwirklicher wird dieser Tag denn noch? Er war
sicher, darauf nicht wirklich eine Antwort zu wollen. Denke
daran, was wichtig ist: Stirb nicht. Löse das Rätsel. Besiege
Emrakul. Sein Mantra. Er fügte einen weiteren Satz
hinzu. Lade Emrakul auf eine Tasse Tee ein. Er lächelte, und
das Lächeln erreichte sein Gesicht. „Bitte. Aber selbstredend.
Bitte setz dich.“ Jace winkte in Richtung des großen steinernen
Tisches, und Emeria – nein, ich weiß nicht, was das ist. Hör
auf so zu tun, als wüsstest du es – der Engel setzte sich.
Er steckte seine beiden Schwerter in Scheiden am Rücken. Als
seine Hände wieder auf dem Tisch lagen, hielten sie etwas
anderes: eine große Schriftrolle mit eisernen Beschlägen. So
eine Schriftrolle habe ich schon einmal gesehen. Wo? „Es
macht dir doch nichts aus, dass ich arbeite, während wir reden,
oder?“ Ihre trällernde Stimme klang, als käme sie von einem
Gildenmagier der Azorius, der um Rat zu einer Protokollfrage
bat.
Gib dich dieser Unwirklichkeit einfach hin. Kämpfe nicht
länger dagegen an. Schau, wohin das führt. „Natürlich nicht.
Nur zu. Ich möchte dich keineswegs von der Arbeit abhalten.“
Sie nickte und rollte die Schriftrolle auf. Eine unheimliche
Empfindung nagte an Jaces Hinterkopf. Wo habe ich diese
Schriftrolle gesehen? Doch es wollte ihm nicht einfallen. Von
irgendwoher erschien ein langer Griffel und sie begann, auf die
Schriftrolle zu schreiben.
Jace räusperte sich. „Nun, da wir ja, ähm ... reden wollen. Wer
genau bist du? Was ist das für ein Ort? Was geht hier vor?“ Jace
konnte nicht wählerisch sein, woher er Antworten bekam. Er
konnte seinem üblichen Instinkt, einfach Gedanken zu lesen,
nicht widerstehen – Unwissenheit ist so viel schlimmer als
Wahnsinn –, doch da war ... nichts. Nichts, woran er sich
orientieren konnte. Geheimnisse machen keinen Spaß, wenn
sie geheim bleiben. Er musste das also auf die ganz
gewöhnliche Art tun, auf die auch jeder andere zurückzugreifen
hatte. Durch Worte. Worte für eine Titanin der Eldrazi.
„Alles endet. Alles stirbt. Ganzheit liegt immer hinter uns. Die
Zeit weist nur in eine Richtung.“ Dies waren Echos von jenen
irren Äußerungen, die Nissa zuvor getätigt hatte, doch Jace
verstand sie ebenso wenig, als sie nun von dem Engel kamen.
Er blickte nicht auf, als er schrieb. Die Kapuze verdeckte,
womit auch immer diese absonderlichen Worte ausgesprochen
wurden.
„Bist du Emrakul?“ Jace wusste nicht, was er da genau riskierte,
und es begann auch, ihn zunehmend weniger zu
kümmern. Vorsicht ist etwas für Leute mit einem Ass im
Ärmel. „Was willst du?“
Sie hielt einen Augenblick inne und betrachtete die
Schriftrolle. „Das ist alles falsch. Ich bin unvollständig,
unerfüllt, unfertig. Da sollten Blüten sein, keine öde
Abweisung. Der Acker war nicht bereitet. Es ist nicht meine
Zeit. Noch nicht.“ Die Art, wie sie noch sagte, jagte Jace einen
Schauer über den Rücken. Sie nahm das Schreiben wieder auf
und strich einen langen Absatz getrockneter Tinte aus.
„Es reicht!“, rief Jace. „Du bist aus einem Grund hier! Du
könntest mich auf unzählige andere Weisen töten – mit deinen
Schwertern oder deinen Tentakeln –, aber du tust es nicht. Du
sitzt hier und redest Unsinn ... Warum? Ich verstehe nicht, was
du sagst, und ich verstehe nicht, was du willst. Hilf mir. Bitte.“
Als Jace sprach, verrauchte sein Zorn und wurde durch etwas
noch Nützlicheres ersetzt. Konzentration. Er spürte, wie sich
ein Schleier lüftete, der nur durch sein Weichen enthüllte, wie
viel er verborgen gehalten hatte.
„Spielst du Schach?“, fuhr die Stimme fort, als hätte Jace
ebenso viel Unsinn erzählt wie sie selbst. Jace war erneut
versucht, laut aufzuschreien, glaubte aber nicht, dass es viel
nützen würde. Und außerdem spielte er Schach. Und er war
ziemlich gut darin.
„Ja, das tue ich.“
„Würdest du eine Partie mit mir spielen?“ Sie stellte das
Schreiben ein und rollte die Schriftrolle zusammen.
„Ich bin nicht sicher, ob ich Zeit zum Spielen habe ...“
„Wenn du gewinnst, hört all dies auf. Ich werde dir alle
Antworten geben, die du verlangst.“ Sie legte die Rolle hinter
sich.
Jace witterte zwar eine Falle, doch er war wirklich gut im
Schach. „Und was, wenn du gewinnst?“
„Ich gewinne bereits, Jace Beleren. Lass uns eine Partie
spielen.“
„Oh, es gibt da ein Problem.“ Jace blickte sich um. In seiner
echten Wohnstatt auf Ravnica gab es ein Schachbrett – ein
sehr schönes, das ihm die Boros geschenkt hatten –, doch in
diesem seltsamen Scheinbild konnte er keines sehen. „Ich, äh,
habe gar kein ...“
Der Engel machte eine Geste und ein Schachspiel erschien vor
ihnen dort auf dem Tisch, wo gerade noch die Schriftrolle
gelegen hatte. Das Brett und die Figuren waren aus schwerem
Stein und voller feiner Details. Jace hob eine Augenbraue,
doch falls der Engel dies bemerkte, ließ er sich nichts davon
anmerken. Ich schätze, solange sie nur Schachbretter erschafft,
ist alles gut. „Sollen wir spielen?“ Sie deutete auf das Brett. Jace
war weiß und machte den ersten Zug. Großzügig von ihr.
„Du wirst schneller ziehen müssen, Jace. Die Zeit
läuft.“ Schneller? Er zog beinahe sofort. Sie schien keine
besonders geübte Spielerin zu sein, und Jace begann, ein
mögliches Schachmatt in sechs oder sieben Zügen zu erkennen.
„Die Verständigung zwischen uns ist schwierig. Ich kann nicht
mit dir sprechen. Ich weiß nicht einmal, ob es dich wirklich
gibt. Doch du – dein Hirn – ist sehr ... anpassungsfähig.“ Dort
– ein Fehler. Noch fünf Züge. Siegessicher hielt er inne. Sie
sagte etwas, was er tatsächlich verstehen konnte.
„So, was ist das alles hier denn nun?“ Er deutete auf ihre
Umgebung. „Was bist du? Wie lässt
mein anpassungsfähiges Hirn das hier geschehen?“
„Diese Antwort kennst du besser als ich.“ Sie legte die Hand
auf eine Figur und zögerte. „Oder zumindest ein Teil von dir.
Was macht dein Kopfschmerz?“
Woher weiß sie davon? In Wahrheit war nur ein leichtes,
dumpfes Pochen geblieben – sehr wohl noch zu spüren, aber
nicht störend. „Es ... Es geht schon. Du bist also nicht Emeria?
Bist du überhaupt real?“
„Ich wurde vor langer Zeit personifiziert. Kräften kann man
nicht mit Vernunft beikommen. In sich ausbreitenden Wellen
existiert keine Handlungsfähigkeit. Wenn man den leichten
Weg wählen will, um mit dem zu ringen, was man nicht
wahrnimmt oder auch nur begreift, wer bin dann ich, mich
dem entgegenzustellen? Niemand. Du. Vielleicht.“
Sein Kopfschmerz wurde stärker. Jace und der ... was auch
immer dieses Geschöpf war tauschten einige weitere Züge aus.
Das Schachmatt war nur noch einen Zug entfernt. Je mehr Jace
darüber nachdachte, desto mehr schien all dies auf bizarre
Weise Sinn zu ergeben. Das hier war nicht Emeria. Das hier
war nicht Emrakul. Das hier war der Versuch seines Verstands,
dem Drängen und den Emanationen Emrakuls Sinn zu
verleihen, die er in sich verspürte. Er musste sie personifizieren,
um überhaupt die Chance dazu zu haben, sich irgendeinen
Reim auf sie zu machen. An diese Personifizierung zu glauben,
hieß allerdings, den Tod zu riskieren. Oder Schlimmeres. Ein
Schwindel erfasste ihn. Auf ewig und ewig und ewig und
emrak...
Genug. Er nahm seine Dame und bewegte sie in Position.
„Schachmatt.“ Er lächelte. Er war nicht sicher, was es
bedeutete, die Partie gewonnen zu haben, doch es fühlte sich
gut an, zu gewinnen ... wenigstens etwas. Sie hielt inne und
betrachtete das Brett.
„So ist es.“ Sie griff nach ihrer Kapuze und schob sie zurück.
Instinktiv zuckte Jace zusammen, da er plötzlich sicher war,
dass er nicht wissen wollte, wie sie aussah, aber ... sie sah völlig
gewöhnlich aus. Wie ein Engel. Wie die Statue, die er auf
Zendikar gesehen hatte. Er tat einen langen, tiefen Atemzug.
Einer der Bauern neben seiner Dame begann zu zucken und zu
zerfließen. Hände und ein kleines Steinschwert erschienen an
der Figur, die sich umdrehte, um nach der Dame zu stechen.
Diese kreischte auf. Blut strömte aus ihrer Seite. Sie fiel zu
Boden, blutend und zitternd. Sterbend. Auf dem Rest des
Brettes brach Tumult aus, als sich weitere von Jaces Figuren
verwandelten. Mutierten. Sie griffen einander gnadenlos an
und töteten einander, bis die wenigen verbleibenden Figuren
sich der anderen Seite des Brettes zuwandten. Sie trugen nun
alle Waffen, von denen das Blut tropfte, und sie begannen,
gemächlich auf Jaces König zuzumarschieren, der nun Jace
selbst ähnlich sah.
Jace starrte das Chaos mit offenem Mund an. „Wa... ab ... da ...
Das ist nicht fair! Du hast gemogelt! Das kannst du nicht tun!
Das sind meine Figuren!“
Evakuierung | Bild von Franz Vohwinkel
Das Gesicht des Engels begann zu schmelzen. Fleisch fiel von
ihm ab, als der Rest von ihm – Schwingen, Schwerter, Bänder,
alles – sich nach und nach in purpurnen Rauch verwandelte.
Die Stimme blieb jedoch.
„Es sind alles meine Figuren, Jace Beleren. Das waren sie schon
immer. Ich habe nur keine Lust mehr, mit ihnen zu spielen.“
Draußen gab es eine gewaltige, krachende Explosion, die von
einem lauten Knirschen begleitet wurde. Die Decke wurde
fortgerissen und enthüllte den nun vertrauten Anblick
Emrakuls – jener gewaltigen Pilzwolke mit ihren Hunderten
von Tentakeln und zuckenden Blitzen, die den Raum Stück für
Stück zerschlugen.
Die Stimme fuhr fort, leicht und luftig wie eine Brise. „Es
kommt, Jace. Ich komme. Bleibe in Bewegung. Finde deine
Antworten. Aber tu es schnell. Die Zeit weist nur in eine
Richtung, und das tut sie voller Hunger.“
Am Ende des Raumes erschien eine Tür und dahinter ein
helles blaues Leuchten. Jace warf einen weiteren Blick auf
Emrakul über sich und floh.
Liliana
Liliana tat alles, um am Leben zu bleiben.
Sie hatte einen Teil ihrer Macht dazu verwendet, die
Auswirkungen des Kettenschleiers zu dämpfen. Sie hielt ihre
Haut vom Zerreißen und ihre Adern vom Bluten ab. Als sie
den Kettenschleier vollständig übernommen hatte, hatte sie
geglaubt, sein Geheimnis gelüftet zu haben.
Sie hatte sich geirrt.
Doch so schmerzhaft das Aufreißen ihrer Haut und ihrer
Adern auch war, so war es doch besser als die Vernichtung
durch Emrakul. Sie nutzte noch immer ungeheure Kräfte, doch
diese dienten nun alle nur noch einem einzigen Zweck: nur
noch einen Augenblick mehr am Leben zu bleiben.
Doch ihr gingen die Augenblicke aus. Als Emrakul ob ihrer
magischen Attacken in alle Richtungen um sich schlug, wies sie
ihre Untoten an, anzugreifen. Sie bissen, griffen, hieben nach
Emrakul – wie Fliegen nach einem Sturm und mit dem
gleichen Ergebnis. Unter Emrakuls Angriff wurden Hunderte
von Untoten vernichtet und Hunderte weitere lösten sich auf,
als Liliana instinktiv Macht von ihren Wiederbelebungen
abzog, um noch einen Augenblick mehr zu überleben.
Lilianas Elite | Bild von Deruchenko Alexander
Wenn es einen Trost in ihrer drohenden Niederlage gab, dann
den, dass in ihrem Kopf Stille herrschte. Keine Stimme des
Rabenmannes, kein Flüstern des Kettenschleiers. Selbst wenn
ihre Wirklichkeit derzeit aus nichts als Blut und Schmerz und
einem verzweifelten Überlebenskampf bestand, gehörte ihr
Verstand doch ihr und nur ihr allein. Das war ein Trost, wenn
sie ihn denn als solchen begreifen wollte.
Ein großes Tentakel so dick wie ihr Oberkörper brach durch
ihre Abwehr und schlang sich um ihre Hüfte. Sie schrie
wutentbrannt auf und durchtrennte es. Das verdorrte Fleisch
fiel einfach von ihr ab. Sie hustete Blut und taumelte, als
weitere Tentakel sich ihr näherten.
Sie würde hier sterben.
Sie blickte zu den anderen Planeswalkern, deren Körper noch
immer auf der freien Fläche lagen, die ihre Zombies zu ihrem
Schutz geschaffen hatten. Nissa schrie nicht mehr. Sie war
bewusstlos wie die anderen. Nur Jace stand noch, und der
blaue Schimmer beschützte ihn vor ... etwas. Doch weder
bewegte er sich noch sprach er.
„Jace!“ Ihr Schrei rief keinerlei Reaktion hervor. Keinerlei
Zeichen des Erkennens.
„Jace, du Bastard! Ich hoffe, du machst etwas Nützliches!“ Das
war alles, wozu sie Zeit hatte, bevor Emrakul wieder
herandrängte. Jeder Augenblick zählte. Das wurde zu ihrem
Mantra. Nur noch einen Augenblick mehr. Nur noch einen
Augenblick mehr. Nur noch ...
Jace
Jace warf sich durch das offene Portal und suchte Zuflucht vor
Emrakuls Angriff.
Er befand sich in einem kleinen, dunklen Raum, einer Kopie
einem seiner persönlichsten Rückzugsorte auf Ravnica. Und
dort vor ihm stand er selbst.
Jace, Enträtsler der Geheimnisse | Bild von Tyler Jacobson
Nach all dem anderen Wahnsinn, den Jace seit seinem
Erwachen im Turm erlebt hatte, war es eindeutig eine der
gutartigeren Verwirrungen, nun sich selbst gegenüberzustehen.
„Oh, das wird sicher spannend.“
Das Ebenbild zeigte keinerlei Regung. Nicht einmal ein
Lächeln. „Du bist hierhergelangt. Das wurde auch Zeit. Aber
ich weiß nicht, ob du ich bist.“ Er zog kurz eine nachdenkliche
Miene. „Löse dieses Rätsel.“
„Was? Ich bin fertig mit Rätseln. Ich brauche Antworten. Was
–“
„Erst ein Rätsel“, sagte das Ebenbild.
„Du machst Witze. Ich werde hier nicht herumstehen und
Rätsel lösen, die mir irgendeine tyrannische Form meiner
Selbst aufgibt. Oder schlimmer noch: ein bösartiger
Hochstapler, der nur meine Zeit verschwenden will.“ Jace
beendete seine Tirade mit einem wütenden Schrei.
Das Ebenbild stand mit einem selbstzufriedenen Lächeln und
einer hochgezogenen Augenbraue da. Bin ich wirklich so
nervenaufreibend? Das bin ich wohl. Daran sollte ich arbeiten.
„Es ist nur nervenaufreibend, wenn du weißt, dass ich recht
habe. Ich muss wissen, dass du ich bist.“ Jace fragte sich, ob es
bleibende Schäden hinterließ, wenn man sich selbst ins
Gesicht boxte. Wahrscheinlich.
„Woher weiß ich, dass du ich bist?“ Das war nicht die klügste
Erwiderung, doch mehr fiel ihm im Augenblick nicht ein. Sein
Hirn hatte gerade eine Menge zu verarbeiten.
„Weil ich derjenige mit den Antworten bin. Du verschwendest
Zeit, die wir nicht haben.“ Das Ebenbild wippte auf eine Weise
mit dem Fuß, die Jace nur zu gut wiedererkannte. Ich glaube
nicht, dass ich jemals wieder mit einem anderen Menschen zu
tun haben kann. Ich bin zu nervig, um sich mit mir abzugeben.
Er ließ die Schultern sinken und winkte ab. „Na schön, stell
dein Rätsel.“
„Nicht größer als ein Kiesel, aber mein Lid bedeckt die ganze
Welt. Was bin ich?“
„Das? Das ist dein Rätsel? Damit willst du sichergehen, dass ich
ich bin? Du musst ein Hochstapler sein, denn ich weigere mich
zu glauben, dass ich so dumm bin.“
„Du hast die Frage noch nicht beantwortet. Diese
Unterhaltung wird schnell zu Ende sein, wenn du es nicht
tust.“ Die Augen des Ebenbildes leuchteten blau. Jace war auf
perverse Weise froh, dass es bedrohlich wirkte. Es ist schön,
wenn man weiß, dass man ab und an einen bedrohlichen
Eindruck machen kann.
„Pah. Ich würde meinen, mir hätte etwas echt Schwieriges
einfallen sollen. Augen. Die Antwort lautet Augen.“ Jace starrte
sein Ebenbild an und blinzelte dann mehrere Male auffällig,
um seinen Punkt zu verdeutlichen. „Ich sehe die ganze Welt.
Und jetzt nicht. Ich sehe was. Ich sehe nichts. Wie kann dir
dieses Rätsel irgendetwas genutzt haben?“ Das Ebenbild
entspannte sich und ließ den Zauber fallen, den es offenkundig
vorbereitet hatte.
Und dann verstand Jace. Der Sinn des Rätsels bestand nicht
darin, zu überprüfen, ob er es lösen könnte. Vielmehr ging es
darum, wie abschätzig und ungläubig er sich angesichts eines
derart einfachen Rätsels zeigen würde. Er nickte. Also schön,
das bin also ich. Er wusste, dass das Ebenbild das Gleiche
dachte.
„Fein. Ich bin ich. Ich meine, ich bin ... Ja, wir sind wir.
Wahrscheinlich. Du hast mir Antworten versprochen.“ Jace
versuchte, die Gedanken seines Ebenbildes zu lesen, doch
nichts geschah.
„So funktioniert das hier nicht. Hier unterhalten wir uns.“ Ein
freches Lächeln.
„Na gut.“ Jace hatte Mühe, nicht mit den Zähnen zu knirschen.
„Unterhalten wir uns. Jetzt sofort.“
Das Ebenbild grübelte kurz nach. „Ich weiß noch immer nicht
alles, was du nicht weißt. Frag mich etwas.“
„Wo sind wir?“ Jace war sich nicht sicher, ob das die
dringlichste Frage war, aber er war die letzte Stunde in diesem
verfluchten Turm herumgelaufen und wollte wirklich wissen,
wo er sich befand.
„Im Ernst? Das ist der Teil, den du dir noch nicht
zusammengereimt hast?“ Du überheblicher ... Jaces Zorn wurde
nicht dadurch gemildert, dass die Überheblichkeit von ihm
selbst kam. Und in diesem Aufwallen von Ärger kam die
Erkenntnis. Jace erinnerte sich.
Daran, wie Emrakul sich erhob, knospte, erblühte. Liliana
hatte ihnen durch ihre Untoten eine kurzzeitige Pause von
Emrakuls Dienern verschafft, doch keiner von ihnen war
darauf vorbereitet gewesen, dass sich Emrakul selbst erhob. Die
körperlichen Anzeichen waren offensichtlich, doch die echte
Gefahr lag in dem geistigen Angriff. Ein Druck – ein Schmerz
wie keiner, den er je zuvor gespürt hatte. Tamiyos Windspiel
hatte sich augenblicklich aufgelöst. Es war keine Zeit für einen
Plan oder auch nur einen Gedanken gewesen.
Der Zauber, den er gewirkt hatte, war reflexartig erfolgt. Er
hatte ihn schon vor sehr langer Zeit vorbereitet, um seinen
Verstand vor einer drohenden Auflösung zu schützen.
Ich bin nicht in einem Turm. Ich bin der Turm. Alles wurde
ihm plötzlich völlig klar. Die Szenen mit seinen Freunden, die
Unterhaltung mit Emeria, selbst dieses Gespräch hier fanden
in seinem Kopf statt und erhielten Form und Gestalt durch
seinen Zauber. Willkommen im Anwesen von Jace. Ich hoffe,
ihr habt euren Aufenthalt genossen. Den Szenen nach zu
urteilen, die er in den Gedanken seiner Freunde gesehen hatte,
war er jedoch recht überzeugt davon, dass nicht einer von
ihnen Gefallen daran gefunden hatte. Doch die Alternative war
der Untergang oder Schlimmeres. Auf ewig und ewig und ewig
und emra...
Er schüttelte hastig den Kopf, um den Singsang loszuwerden,
und er bemerkte, dass sein Ebenbild es ihm gleichtat. Der
Druck durch Emrakul verstärkte sich. Jace blickte auf und sah
die Decke des Raumes beben. Es greift an. Es kommt.
„Und du? Ich?“
„Innistrad war ein seltsamer Ort. Ein gefährlicher Ort. Schon
gleich nach meiner Ankunft wusste ich, dass etwas hier nicht
stimmte. Ich habe einige ... Sicherheitsvorkehrungen getroffen,
falls irgendeine Katastrophe eintritt. Rätsel in Rätseln, Schatten
in Schatten. Emrakul ist das Furchteinflößendste, was ich
– wir – jemals gesehen haben. Also habe ich einen
Ausweichplan erstellt, um mich von mir abzuspalten. Um
herauszufinden, was wirklich vor sich geht und es aufhalten zu
können. Um alles wieder instand zu setzen. Du weißt schon.“
Und nun wusste er es.
Teile des Puzzles | Bild von Magali Villeneuve
Er war so gut darin, sich selbst abzuwandeln. Er schauderte
und fragte sich, welches Ich der echte Jace war.
Der bessere Jace. Unsinn. Das bin natürlich ich.
„He!“, protestierte das Ebenbild. „Nicht so voreilig! Du bist nur
der Zweitklügste in diesem Raum.“
„Genug.“ Jaces Gedanken begannen, auf eine vertraute und
tröstliche Art und Weise zu rasen. „Der Plan. Ich habe dich
hoffentlich nicht nur dazu erschaffen, mir ein blödes Rätsel zu
stellen. Wir wissen nicht, wie wir Emrakul besiegen können.“
„Sprich mit Tamiyo. Sie war gerade dabei, uns etwas
Interessantes zu sagen, als Emrakul angriff.“
„Das ist dein nützlicher Hinweis? Sprich mit Tamiyo?“
„Nein, mein nützlicher Hinweis ist, endlich herauszufinden,
wie wir alle weiter durch die Gegend laufen, miteinander
sprechen und klar denken können, während das geistige
Gegenstück einer Rakdos-Golgari-Mörderbande uns ohne
jeden Unterlass attackiert. Das ist tatsächlich ziemlich knifflig.“
„Oh. Na ja, danke, Ich. Gut gemacht.“
„Alle sind in ziemlich schlechtem Zustand. Aber zumindest
können wir zusammenhängend denken. Es ... Es sieht nicht gut
aus da draußen. Und es gibt noch ein Problem.“
„Was ...“ Noch während er die Frage stellte, kannte er bereits
die Antwort. Die beiden Teile von Jace verschmolzen und
wurden zu einem. Es gab Worte, doch die Worte wurden von
ihnen beiden gleichzeitig ausgesprochen.
„Liliana stirbt gleich.“ Jace hob den Zauber auf. Der Turm
verblasste, um der Wirklichkeit Platz zu machen.
Jace
Er kehrte ins Chaos zurück. Liliana lag vor ihm am Boden,
bewusstlos und aus zahlreichen Wunden blutend. Über ihnen
schwebte Emrakul in ihrer vollen Größe. Um die Mitte ihres
Körpers leuchtete hell ein lavendelfarbener Ring – das Auge
ihres Sturms. Ihre Tentakel, breit und dick, verwüsteten das,
was von Thraben noch übrig war.
Emrakul, das prophezeite Ende | Bild von Jaime Jones
Von Lilianas Untoten war nur noch ein Bruchteil übrig. Die
Menschen und Bestien, die von Emrakuls Wahnsinn infiziert
waren, hatten sich wieder zusammengerottet und drohten,
durch die Reihen der Untotenarmee zu brechen. Es würde
nicht viel nützen, Emrakuls geistigen Ansturm
zurückzuschlagen, wenn sie anschließend von ihren Dienern in
Stücke gerissen wurden.
Die anderen Planeswalker, die einen Wimpernschlag nach Jace
das Bewusstsein wiedererlangt hatten, taumelten
orientierungslos umher. Jace lenkte etwas von seiner
Konzentration auf seine Freunde und wischte damit die
Spinnenweben von Emrakuls Angriff fort. Chandra, Gideon –
Lilianas Untote brauchen eure Hilfe. Wir können Emrakuls
Diener nicht durchlassen. Gideon bewegte sich als Erster, mit
der entschlossenen Zügigkeit eines erfahrenen Kriegers. Das
Bild von Erebos‘ Peitsche blitzte in Jaces Bewusstsein auf, doch
er schüttelte es ab.
Chandra blieb noch stehen. Ich kann ... Ich kann noch immer
versuchen, sie zu verbrennen. Ich schaffe das schon. Ihr Zögern
verschwand und wurde durch jene natürliche Zuversicht
ersetzt, die Jace gleichermaßen anziehend und verblüffend
fand. Sie spielt ihre Zuversicht nicht. Die Zuversicht kommt
einfach zu ihr. Merkwürdig, dachte er bei sich. Jace zögerte. Es
schien nicht richtig, Emrakul zu verbrennen. Nicht einmal
möglich. Doch wie konnte er sicher sein, dass dies alles nicht
nur ein weiteres Spiel war, das Emrakul mit ihm – mit ihnen
allen – spielte? Emrakul war in seinem Verstand gewesen. Er
hatte ihre Macht gespürt.
Er teilte seine Gedanken mit der gesamten Gruppe. Sein
Schutzzauber hielt ihre Bewusstseine miteinander
verknüpft. Nein, Chandra. Emrakul ist zu groß. Zu mächtig.
Wir können sie nicht auf diese Weise besiegen. Ich bin mir
nicht einmal sicher, ob sie überhaupt vernichtet werden kann.
Jace hat recht. Der Versuch, Emrakul zu verbrennen, ist, als
würde man eine Fackel in den Ozean werfen. Das wird nicht
klappen. Selbst wenn alle Leylinien verfügbar wären. Sie ist zu
... unermesslich groß. Nissas Stimme klang seltsam und weit
entfernt. Sie verflocht Ranken, Knospen und Blätter mit
Verbänden, die sie auf Lilianas Wunden legte, um sie am
Leben zu halten. Emrakul war da, als ich erwachte. Im
Augenblick meines Funkens. Vielleicht ist es nur passend, dass
sie auch dem Ende beiwohnt.
Oh, schön. Du wirst sicher nicht auf viele Feiern
eingeladen. Chandras schelmische Stimme strafte ihre Worte
Lügen. Genug der düsteren Worte. Sprechen wir lieber
darüber, wie wir das hier gewinnen können. Ich werde ein paar
Sachen verbrennen. Chandra rannte zum äußeren Ring aus
Zombies, wo ihre Flammen wahnsinnige Kultisten
zurückschlugen.
Jace. Denke daran, was Avacyn gesagt hat. Tamiyos Stimme,
eine leichte Brise an einem sonnenbeschienenen Ufer.
Ein Echo erklang in seinem Kopf – ein wahnsinniger Engel,
der seine letzten Worte an seinen Schöpfer richtete. Was nicht
vernichtet werden kann, muss gebannt werden.
Jace, das ist die Antwort. Das ist es, was wir tun müssen. Wir
können Emrakul nicht vernichten. Wir müssen sie
bannen. Tamiyos Stimme war drängend und klar. Die Wächter
hatten auf Zendikar vor dem gleichen Dilemma gestanden und
sich für die Vernichtung entschieden. Doch hier auf Innistrad
war das undenkbar. Emrakul war mächtiger als sie. Die einzige
Vernichtung, die hier überhaupt infrage kam, war ihre eigene –
zusammen mit allen anderen Bewohnern Innistrads.
Wie? Sie zu bannen, ist vielleicht ebenso wenig möglich, wie sie
zu vernichten. Welcher Kerker könnte sie schon halten?
Der gleiche Kerker, dem alle Schrecken Innistrads für
Hunderte von Jahren nicht entfliehen konnten.
Der Höllenkerker? Jace war verwirrt. Wurde der nicht zerstört?
Nicht der Höllenkerker, erwiderte Tamiyo. Das, woher der
Höllenkerker stammt. Der Mond. Ein silberner Mond. Ich
habe einen Bannzauber. Einen mächtigen. Ich kann ihn auf
den Mond einstimmen. Doch er muss auch mit Emrakul
verbunden sein ...
Jaces Gedanken überschlugen sich schier. Das konnten sie
schaffen. Jace war zuversichtlich, dass er Tamiyos Zauber an
Emrakul binden konnte. Doch sie würden Macht brauchen,
die den Zauber speiste. Nissa ...
Nissa hatte geschwiegen und weiterhin ihr Mana in ihre
Wundumschläge für Liliana geleitet. Liliana atmete
gleichmäßig, war aber noch bewusstlos. Jace spürte eine warme
Welle der Dankbarkeit für Nissa, doch nun musste er noch
mehr von ihr verlangen. Weitaus mehr ... Kannst du den
Zauber mit Macht speisen?
Nissas Stimme war kühl und ruhig. Nein. Hier gibt es nur
wenige Leylinien, die ich berühren kann. So wenige, die ich
berühren will. Jace zögerte. Er war unschlüssig, was er als
Nächstes sagen oder wie er ihr helfen konnte. Doch ich
schulde dir etwas, Jace Beleren. Ich werde es versuchen.
Du schuldest mir etwas?
Mein Verstand gehörte nicht mir. Ich war in einer Dunkelheit
gefangen, die durch ihren Aufstieg erschaffen wurde. Ich wurde
viel zu leicht von ihr verschlungen. Das war nicht ... angenehm.
Du hast mich von diesem Schrecken befreit. Du hast die Gabe,
schwierige Dinge sehr einfach aussehen zu lassen. Ich werde
tun, was ich kann.
Jace geriet ins Stammeln. Oh, also ... Danke. Das war nicht
wirklich ich. Ich meine, ich habe den Zauber gewirkt, aber ich
habe damals gar nicht richtig nachgedacht und habe es
vermutlich sogar ein bisschen schlimmer gemacht, weil ich
nicht ...
Ein einfaches Danke reicht schon, Jace. Du hast außerdem
auch die Gabe, sehr einfache Dinge sehr schwierig aussehen zu
lassen. Ich bin bereit.
Jace wusste keine Antwort, also schwieg er. Tamiyo, bist du
bereit?
Tamiyo hatte eine Schriftrolle hervorgezogen. Eine weitere
Erinnerung blitzte in Jaces Verstand auf. Der Engel holte eine
lange Schriftrolle hervor. Eine Schriftrolle mit eisernen
Beschlägen. Dort hatte er Tamiyos Schriftrolle gesehen – in
seiner geistigen Unterhaltung mit Emeria. Doch die
Schriftrolle, die Tamiyo in der Hand hielt, hatte keine eisernen
Beschläge.
Jace hatte keine Zeit mehr, über dieses Rätsel nachzudenken.
Die freie Fläche um sie herum wurde immer kleiner. Gideon
und Chandra hielten Emrakuls Diener auf, doch sie konnten
nicht überall gleichzeitig sein, und die Untoten waren kurz
davor, überrannt zu werden. Es war Zeit.
Ich bin bereit, bestätigte Tamiyo. Sie begann, ihre Schriftrolle
zu lesen. Jace konnte sich nicht auf die Worte konzentrieren.
Er war zu sehr damit beschäftigt, Tamiyos Zauber mit Hilfe des
Wissens, das er Ugin und seinen eigenen Veränderungen am
Polyedernetzwerk auf Zendikar verdankte, an Emrakul zu
binden. Eine Glyphe blitzte auf dem Mond auf – helle, scharfe
Linien auf dem silbrigen Spiegel. Er musste diese Glyphe auf
Emrakul – auf Emrakuls Präsenz – anbringen.
Gefangen im Mond | Bild von Ryan Alexander Lee
Doch der Zauber verlangte nach Macht. Nach wahren
Strömen, Fluten von Macht. Nissa stemmte sich mit grün
leuchtenden Augen gegen die Erde, während sie jene
verderbten Manafragmente, die auf Innistrad noch übrig
waren, zu etwas verwob, was Jace verwenden konnte. Jace
spürte, wie sie die Leylinien leer saugte, um nach jedem letzten
Rest an Energie zu suchen. Es war nicht genug. Es würde nicht
genug sein. Nissa fiel zu Boden, die Arme weit von sich
gestreckt.
Sie würden den Zauber verlieren.
Während Jace sich mühte, den Zauber aufrechtzuerhalten,
brach seine geistige Verbindung zu Tamiyo ab. Wo sie in
seinem Kopf gewesen war, war nun nur noch eine Wolke – ein
dunkler, grauer Nebel, den er nicht durchdringen konnte.
Tamiyo zog eine weitere Schriftrolle hervor – eine lange
Schriftrolle mit eisernen Beschlägen – und begann, einen
zweiten Zauber zu lesen.
Kraft floss in Jace hinein. Er befand sich in einem breiten
Strom aus Mana – mehr Magie, mehr Kraft, als er jemals zuvor
gespürt hatte. Es war wundervoll. Er nahm die Magie, um sie
zu formen, und jeder Punkt der Glyphe verband sich mit
einem Knoten der Macht an Emrakul, die Jace aus dem
Stegreif erschuf. Jace entfesselte die volle Wirkung des Zaubers.
Licht brach aus dem Mond heraus.
Ein kalter, silberner Strahl traf Emrakul von oben.
Er hüllte die Kreatur ein ... und die Kreatur streckte sich. Hin
zum Licht und zum Mond.
Die Verzerrung war körperlich unmöglich. Vor Jaces Augen
wand sich Emrakuls Gestalt durch das Licht zum Mond hin.
Sie streckte sich, streckte sich weiter, um dann ...
... zu reißen.
Emrakul fiel in sich zusammen. Sie zerbröckelte wie ein dünnes
Pergament, auf dem feine Glassplitter verstreut waren, und
verdichtete sich zugleich zu einem Nichts, wie es für eine
Kreatur von ihrer Größe völlig unmöglich erschien. Doch sie
tat es.
Das Licht verlosch. Emrakul war fort. Sie hatten gesiegt.
Auf dem silbernen Antlitz des Mondes leuchteten die
dreieckigen Formen der Glyphe. Verbrannt. Vernarbt.
Versiegelt.
Einen Augenblick lang war das einzige Geräusch das Rascheln
trockenen Laubs im Wind. Neben ihm fiel Tamiyo auf die
Knie und übergab sich.
Liliana
Sie war noch am Leben.
Sie fühlte sich überglücklich. Sie hatte schon viele Male zuvor
echte Freude erfahren. An jenem Tag, als sie ihre Jugend
zurückerhalten hatte. Als sie die Dämonenfürsten Kothoped
und Griselbrand getötet und ihren verzweifelten Schreien
gelauscht hatte. Jeder dieser Augenblicke hatte sich wie ein
Betrug angefühlt – die beste Art von Betrug, bei der man
ungeschoren davonkam und am Ende auch noch den Sieg für
sich verbuchte.
Doch dieser Moment war noch süßer. Vielleicht deshalb, weil
sie wahrhaft gewusst hatte, dass sie sterben würde. Vielleicht
deshalb, weil sie sich aus ihrem Stolz und ihrer Gier nach
Kontrolle heraus Emrakul derart übereilt entgegengestellt hatte
und doch niemand von ihnen jetzt noch am Leben wäre, hätte
sie es nicht getan. Vielleicht deshalb, weil es keine Emrakul
mehr gab. Ihr Makel – ihr Geschmack – war von Innistrad
verschwunden, und alles war besser durch ihre Abwesenheit.
Der bloße Gedanke an Emrakul ließ Liliana erschaudern. Sie
war dem Tod so nahe gewesen. Oder Schlimmerem. Sie starrte
den Mond an. Mögest du für immer darin verfaulen. Das hast
du davon, dich Liliana Vess in den Weg zu stellen.
Die Planeswalker hatten sich am Ende eines sehr langen Tages
wieder zusammengefunden. Nachdem der Kampf gegen
Emrakul gewonnen war, mussten noch immer Feuer gelöscht,
Augen geschlossen, Trost gespendet und Wunden geheilt
werden ... oder auch nicht, wenn der angerichtete Schaden zu
groß war. Liliana kümmerte das wenig. Jedes Mal, wenn sie die
Grenzen des Kettenschleiers auslotete, fühlte sie sich danach
leer, als würde ein Teil von ihr fehlen. Es war nun schon so
viele Male geschehen, dass sie sich nicht mehr sicher war,
überhaupt noch erkennen zu können, was da fehlte.
Es spielte auch gar keine Rolle. Sie hatte ihr Soll an guten
Taten nun für eine ganze Weile erfüllt. Niemand von euch
wäre noch am Leben, wäre ich nicht gewesen. Ihr habt Glück,
dass ich keine Entlohnung dafür verlange, diese Welt gerettet
zu haben. Nun, sie würde eine Entlohnung dafür einfordern,
doch nicht jetzt und nicht von irgendjemandem auf Innistrad.
Es war erstaunlich, wozu vermeintliche Verpflichtungen und
eingebildete Treue die Menschen bringen konnten. Man
brauchte nur die Wächter als Beispiel zu nehmen. Sie
schuldeten einander nichts. Buchstäblich nichts. Und dennoch
standen sie hier, kämpften füreinander und waren willens,
füreinander zu sterben. Liliana war an die Auswirkungen
solcher Beziehungen gewöhnt und sogar von ihnen abhängig –
solange es dabei um ihre Untoten ging. Das war ein sehr
verlässliches Machtgefüge. Doch Innistrad hatte ihr die
Grenzen dieses Ansatzes aufgezeigt. Untote gaben gute Diener
ab, doch es gab Aufgaben, die sie nicht erfüllen konnten. Und
es war wirklich ganz wunderbar, auf eigene Faust zu kämpfen ...
Zumindest solange, bis es das nicht mehr war. Wenn man
nicht auf das Unwahrscheinliche vorbereitet war und niemand
da war, der einen vor seinem vorzeitigen Ende retten konnte.
Vor einiger Zeit hatte sie darüber nachgedacht, sich jene
Gefühle zunutze zu machen, die Jace für sie hegte. Oder gehegt
hatte, wie sie zugeben musste. Er ist nur ein Junge. Ein Junge,
und ich sollte es besser wissen. Jace hatte sich ungeachtet seines
jüngsten Erfolges als sehr zuverlässig in seiner Unzuverlässigkeit
erwiesen. Was hast du mit deinem Zauber gemacht, während
ich dich am Leben hielt? Hast du versucht, Emrakul zu Tode zu
denken? Obwohl sie zugeben musste, dass das, was er getan
hatte, tatsächlich geklappt hatte, verbesserte es dennoch nicht
unbedingt ihre Meinung über ihn. Ein Junge. Ich sollte mir dir
fertig sein.
Doch hier ergab sich nun eine Gelegenheit, die weit über Jace
und seine Beschränkungen hinausging. Hier war eine
ganze Gruppe. Eine Gruppe von Freunden. Heute hatte sie
etwas erkannt: die Macht der Freundschaft. Richtig eingesetzt
waren Freunde wie bessere Zombies. Sie halfen und retteten
einem das Leben, weil sie es wollten, und nicht, weil sie es
mussten.
Wie viel mehr konnte sie mit solch mächtigen Freunden
erreichen? Wie viel mehr konnte sie erobern? Wie viel mehr
konnte sie an sich reißen? Der Gedanke brachte sie zum
Lächeln. Sie würden zwar ihren Befehlen nicht gehorchen, aber
spielte das eine Rolle? Jace war im Vergleich zu ihr nicht das
einzige Kind. Sie alle waren Kinder. Niemand unter ihnen
hatte ihre jahrhundertelange Erfahrung, niemand unter ihnen
hatte von jener Macht gekostet, von der sie gekostet hatte –
weder zuvor irgendwann noch jetzt –, und niemand unter
ihnen war so zielstrebig und ruchlos wie sie.
Sie wusste nicht, wo der Rabenmann war. Weder in ihrem
Kopf noch außerhalb davon gab es irgendein Zeichen von ihm.
Der Kettenschleier war bezwungen. Heute hatte sie auf sehr
schmerzhafte Weise erfahren müssen, wie unzuverlässig er als
Waffe war. Doch wenn ich meine eigenen Wächter habe, die
mich nach jeder Verwendung heilen ... Ein Gedanke für später.
Aber ihr gefiel die Idee. Meine eigenen Wächter nur für mich.
Gideon hatte unablässig auf Tamiyo eingeredet. Die Mondfrau
sah aus, als wäre ihr übel, und Liliana konnte ihr kaum einen
Vorwurf daraus machen. Gideon war sicher hübsch anzusehen,
doch sie kannte Untote, die klüger waren. Gideon brabbelte
irgendetwas über die Wächter und wie sie gerade erst damit
anfingen, Gutes zu tun. Und wollte Tamiyo nicht auch
unbedingt nur Gutes tun? Tamiyo schüttelte den Kopf und
ging mit vor Furcht geweiteten Augen davon. Es passte, dass
eine Gedankenmagierin sich als zu anfällig und verletzlich
herausstellte. Sie war wie Jace: nutzlos.
Jace sah zu ihr herüber, und er hatte noch immer diesen
treudoofen Ausdruck dabei in den Augen. Entscheide dich
doch mal, Kind! Sie rang ihre Gereiztheit nieder. Sie brauchte
ihn und seine Anhänglichkeit jetzt.
„Gideon.“ Jaces Stimme war zögernd und dünn. Sie sprachen
leise miteinander, und Liliana achtete darauf, kein Anzeichen
jenes Lächelns zu zeigen, das sich auf ihr Gesicht zu stehlen
versuchte. Ja, Kapuzenjunge, nutze nur deine zögerliche Art,
um dein ehrliches Verlangen zu stillen, mir unbedingt helfen
zu wollen. Es war jedoch klar ersichtlich, dass Gideon nicht
glücklich damit war. Liliana wusste allerdings auch nicht, ob
Gideon jemals mit irgendetwas glücklich war. Du solltest
zumindest Freude an deiner Jugend und deinem guten
Aussehen zu haben, solange du beides noch hast. Warum sind
Kinder nur so dumm?
Irgendwann trat die Augenweide an sie heran. Es folgten
weitere Worte darüber, Gutes zu tun, aber Liliana war zu sehr
auf den Eid konzentriert, um aufmerksam zuzuhören. Sie hatte
ausgiebig darüber nachgedacht, wie sie ihn wohl angehen
sollte. War er zu aufrichtig und zu geschwollen, würde man nur
Verdacht schöpfen – einen Verdacht, der ihre nächsten
Schritte schwerer machen würde. War er jedoch zu zynisch und
zu offenherzig, dann würde genau dieser Verdacht ohne
weiteres Zutun bestätigt werden. Sie brauchte einen schmalen
Mittelweg mit einem Hauch von Zynismus, aber mit dem
Herzen dennoch deutlich am rechten Fleck.
Als Gideon um ihren Eid bat, war sie bereit.
Lilianas Eid | Bild von Wesley Burt
„Ich erkenne, dass wir gemeinsam stärker sind als allein. Wenn
das bedeutet, dass ich das, was getan werden muss, ohne die
Hilfe des Kettenschleiers tun kann, dann werde ich Wache
halten. Zufrieden?“
Sie sagte es mit dem Hauch eines Lächelns. Nur einem Hauch.
Und außerdem war ihre Freude aufrichtig. Der besten
Täuschung lag ohnehin immer ein Körnchen Wahrheit
zugrunde.
Sie war nun ein Mitglied der Wächter. Eine Zukunft voller
Verheißungen und ehrgeiziger Ziele breitete sich in ihrer
Vorstellung vor ihr aus.
Jace
Jace war erschöpft. Es war der längste Tag seines Lebens
gewesen, und er wollte nur noch schlafen – einen Schlaf ohne
jede Träume oder Gedanken.
Doch zunächst musste er mit jemandem sprechen.
Er fand sie in den Vororten Thrabens, wo sie in der Ruine
einer kleinen Kirche saß. Nur wenige Gebäude in Thraben
standen noch, und diese Kirche war nicht verschont geblieben.
Verlassenes Heiligtum | Bild von Vincent Proce
Sie saß einfach nur mit übereinander geschlagenen Beinen und
geschlossenen Augen da. Jace fühlte sich unbehaglich, einen so
intimen Augenblick zu unterbrechen. Doch er brauchte
Gewissheit.
„Tamiyo ... ? Bist du ... Kann ich ... ?“ Jace wusste nicht, wie er
seine Fragen stellen sollte. Tamiyo öffnete die Augen. Ihr
Gesicht zeigte noch immer das gleiche Unwohlsein und das
gleiche Grauen wie seit dem Ende des Zaubers.
„Was ist da draußen geschehen, Tamiyo? Du warst da. Unsere
Bewusstseine waren miteinander verbunden. Und dann ...
nicht mehr. Du bist verschwunden. Was ist mit dir
geschehen?“
Tamiyo saß nur da und brach in Tränen aus. Eine nach der
anderen fielen sie – pling, pling – auf den Schutt unter ihr.
Ihre Worte klangen unsicher, zögerlich. „Nissa war zu Boden
gegangen. Der Zauber drohte zusammenzubrechen. Ich wusste
nicht, was ich tun sollte. Wie ich helfen konnte.“
Jace war überrascht. „Also hat Nissa diese Macht allein erzeugt?
Ich bin beeindruckt. Ich dachte, das warst du mit deiner
zweiten Schriftrolle.“
Tamiyo blickte ihn voller Trauer und Zorn zugleich an. „Nein.
Du verstehst nicht. Das war ich. Mit der zweiten Schriftrolle.
Die Energie stammte von ihr.“
„Aber das ist doch wundervoll! Du hast uns gerettet! Du hast
Innistrad gerettet ... Alles! Ist es, weil es eine der eisernen
Schriftrollen war? Eine von denen, die du nicht öffnen
wollest?“
„Sei jetzt still, Jace! Hör zu. Hör einfach nur zu. Ich war das
nicht. Es ... Sie ... hat mich übernommen. Verstehst du? Das
war nicht ich! Ich war da, in meinem eigenen Körper. Hilflos,
als sie mich übernommen hat. Meine Augen, meine Hände,
meine Stimme ... Sie übernahm sie alle. Sie gehörten nicht
mehr mir.“ Ihr Weinen wurde zu einem Schluchzen.
Er erinnerte sich an eine Stimme – eine Stimme, als er dabei
zusah, wie seine Schachfiguren einander töteten. Es sind alles
meine Figuren, Jace Beleren. Das waren sie schon immer. Ich
habe nur keine Lust mehr, mit ihnen zu spielen.
„Es ... Es tut mir leid, Tamiyo. Ich weiß nicht ...“
„Doch das war nicht das Schlimmste. Die Schriftrolle, die ich
geöffnet habe. Die zweite. Du hattest recht. Das hätte ich nicht
tun sollen. Ich habe vor langer Zeit ein Versprechen gegeben,
und eines Tages werde ich mich dafür verantworten müssen.
Aber der Zauber, den sie gelesen hat ... Das war nicht der
ursprüngliche Zauber. Sie hat einen ... anderen Zauber
gewirkt.“
Emeria. Von irgendwoher erschien ein langer Griffel und sie
begann, auf die Schriftrolle zu schreiben. Jace begann zu
zittern.
„Er wurde verändert. Wie hat sie das gemacht? Wie konnte sie
das tun?“ Ihr Stimme nach zu urteilen, war Tamiyo nackter
Panik nah. „Als dieses Ungeheuer meinen Körper übernahm
und eine Schriftrolle las – eine Schriftrolle, die alles auf dieser
Welt hätte vernichten können –, da speiste es stattdessen einen
Zauber, der es selbst hier gefangen halten würde ... Wie konnte
das geschehen, Jace? Warum ist es geschehen? Was haben wir
nur getan?“
„Ich ... Ich weiß es nicht.“ Jace hatte keine Worte mehr für sie.
Und keine für sich selbst.
Tamiyo holte tief Luft. „Ich habe es dir schon einmal gesagt,
Jace. Manchmal müssen unsere Geschichten enden. Und
dennoch sind wir hier, und jeder versucht, seine Geschichte zu
verlängern, ganz gleich, um welchen Preis. Was aber, wenn alle
Geschichten nur ihre Geschichte sind? Im Dienst eines
entsetzlichen Schicksals, das sich erst noch zeigen wird?“
Tamiyo blickte zum Mond auf.
„Haben wir wirklich gewonnen?“ Tamiyos Stimme klang nicht
mehr furchtsam, sondern schwermütig. Jace wusste keine
Antwort. Irgendwann stand sie auf und entschwebte in den
dunklen Nachthimmel. Es gab keine Abschiedsworte.
Jace saß lange Zeit nur da. Erneut blickte er zum Mond und
dessen silbernem Schein hinauf. Zu der Glyphe, die noch
immer hell auf seiner Oberfläche leuchtete – als Zeugnis
dessen, was die Wächter erreicht hatten. In den Tiefen dieses
Mondes ruhte die mächtigste und zerstörerischste Kraft, die
jeder von ihnen je gesehen hatte. Die Worte des Engels stachen
in seinen Kopf wie Dolche eines unerfüllten Schicksals. Das ist
alles falsch. Ich bin unvollständig, unerfüllt, unfertig. Da
sollten Blüten sein, keine öde Abweisung. Das Feld war noch
nicht bereitet.. Es ist nicht meine Zeit. Noch nicht.
Ein eiskalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Es ist
nicht meine Zeit. Noch nicht. Er löste seinen Blick vom Mond
und machte sich auf die Suche nach einem sicheren Bett, um
für eine kurze Weile völliges Vergessen zu finden.