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Eldritch Moon & Shadows over Innistrad full

Story
Thalia, die Wächterin von Thraben, spielte eine entscheidende
Rolle bei der Verteidigung Thrabens während der Belagerung
durch die Zombies der Nekromagier-Zwillinge Gisa und Geralf.
In der dunkelsten Stunde der Stadt stellte sie sich Liliana Vess
am Höllenkerker im Herzen der Kathedrale von Thraben
entgegen. Und da die Planeswalkerin das Leben eines jeden
einzelnen Soldaten unter ihrem Befehl bedrohte, fügte sich
Thalia schließlich Lilianas schrecklicher Forderung: Sie öffnete
den Höllenkerker und entließ alle Dämonen, die er in sich
barg – und den Erzengel Avacyn.
Mikaeus, der Lunarch der Kirche Avacyns, starb während der
Belagerung Thrabens, und sein Nachfolger wurde in den
frühen Tagen von Avacyns Wahnsinn getötet. Nun ist ein
neuer Lunarchenrat eingesetzt worden, der aus sieben
Bischöfen der Kirche sowie einigen Anführern der Katharer als
Beratern besteht. Ein weiterer wichtiger Befehlshaber bei der
Verteidigung Thrabens, ein Katharer namens Olric, zeigte
erstaunliche Initiative bei der Organisation des Lunarchenrats,
um Avacyns Wahnsinn Herr zu werden. Er verdiente sich
einen Sitz im Rat als Repräsentant der Katharer, hat jedoch
keinerlei Stimmrecht bei Ratsangelegenheiten.
Doch während der Wahnsinn der Engel weiter tobt und sich in
den Lunarchenrat hinein ausbreitet, haben die beiden
Anführer der Katharer Mühe, das Gleichgewicht zwischen der
Loyalität zu Avacyns Kirche und der Hingabe an all das zu
wahren, wofür sie steht.<
Tagelang war sie durch die kalte Luft des Jägermondes von
Ellgau in Nefalen zur Kathedrale von Thraben geritten. Ihre
Finger waren taub, doch Thalias Wangen waren noch immer
heiß vom Feuer und ihr Blut kochte vor Wut. Sie gab die Zügel
einem Stallburschen und warf dem Engel, der wie ein Aasgeier
über ihr kreiste, einen misstrauischen Blick zu, ehe sie in die
hohen Hallen hineinstürmte.
Aus Gewohnheit schlug sie das Zeichen von Avacyns Band auf
der Brust – erst von der einen und dann von der anderen
Schulter zum Herzen –, als sie die offenen Türen zum
Heiligtum passierte. Doch ihr brannten die Augen, als sie an
jenes heilige Symbol dachte, das über den Gräueltaten in
Ellgau aufgeragt war.
Sie war dem Namen nach noch immer die Wächterin von
Thraben , selbst wenn sie nur noch herzlich wenig Zeit in der
Hohen Stadt verbrachte. Daher versperrte ihr auch kein
Katharer den Weg oder fragte nach ihrem Anliegen, als sie die
Treppen hinauf, einen Korridor entlang und in jene Kammer
eilte, die der Rat dem Lunarch-Marschall als Arbeitszimmer zur
Verfügung gestellt hatte. Natürlich war er nicht da.
Thalia warf ihren Reitmantel auf einen Stuhl und streckte
dann den Kopf zurück in den Flur. „Du“, rief sie einem
Katharer zu, der steif in der Nähe Wache stand. „Finde ihn.“
Sie klatschte in die behandschuhten Hände und rieb sie fest
aneinander, um einen Funken Wärme in die erfrorenen Finger
zurückzubringen, während sie in dem kleinen Arbeitszimmer
auf und ab ging.
Als sie sich von der Tür abwandte, war ihr Rahmen noch leer.
Drei Schritte später, als sie sich wieder zur Tür umdrehte, stand
er mit einem Mal da. Sie hielt inne.
„Thalia!“, sagte Odric herzlich und breitete die Arme aus.
Er sah älter aus. Natürlich war sein Haar schon seit Jahren
weiß gewesen – bis auf die einzelne rabenschwarze Strähne
über der Stirn. Doch sein Gesicht hatte immer jung gewirkt.
Doch nun war es von Sorgenfalten zerfurcht.
„Es ist gut, dich zu sehen, alter Freund“, sagte sie, als sie
lächelnd auf ihn zutrat. Anstatt ihn jedoch zu umarmen,
hämmerte sie ihm die Faust gegen seinen silbern verzierten
Brustpanzer. Ihr Lächeln erstarb. „Weißt du, was da draußen
vor sich geht?“
Er seufzte, als seine Arme schlaff herabsanken. „Ich weiß, dass
dies nicht die denkbar beste Zeit ist“, sagte er.
„Kinder“, sagte sie. „Wir verbrennen inzwischen Kinder.
Sündige Kinder. So ein Schw...“
„Ellgau?“, fiel er ihr ins Wort.
„Ja. Das muss aufhören, Odric. Ulmach ist völlig außer
Kontrolle.“>/p>
„Er ist Oberster Inquisitor, Thalia. Was die Kirche in Nefalen
anbelangt, verkörpert er die Kontrolle.“
„Nein.“ Wieder schlug sie ihm gegen den Brustpanzer. „Noch
gebietet der Lunarchenrat über die Kirche, oder? Dein Rat?“
Endlich gelang es Odric, sich an ihr vorbei in sein
Arbeitszimmer zu drängen. „Es ist nicht mein Rat“, sagte er,
„aber die Inquisition handelt nach seinen Anweisungen, ja.“
„Das muss aufhören“, sagte sie erneut.
Thalia, Wächterin von Thraben | Bild von Steve Argyle
„Und dann? Wie hast du vor, den Zorn der Engel zu
besänftigen?“
„Hörst du dir eigentlich zu? Du glaubst, die Engel wären
zornig, weil wir Sünde in unserer Mitte dulden? Odric, die
Engel sollen uns beschützen, nicht unsere Dörfer in Schutt
und Asche legen. Und wir sollen Kinder beschützen und sie
nicht auf dem Scheiterhaufen verbrennen! Glaubst du wirklich,
dass es das ist, was Avacyn von uns verlangt?“
„Avacyn führt diese Säuberung an. Das weißt du auch. Wenn
die Sünde der Menschen ihre Wut anfacht, müssen wir die
Sünde ausmerzen oder in Avacyns Zorn untergehen. Sie hat
uns ein Beispiel gesetzt. Wenn sie ihr Herz gegenüber dem
Flehen der Verderbten verschließen kann, müssen wir es ihr
gleichtun.“
„Den Verderbten? Welche Sünde tragen diese Kinder denn
deiner Meinung nach in sich?“
„Stellst du das Urteil der Inquisition infrage?“
„Natürlich tue ich das! Wie kann sie in die Augen und in das
Herz eines Kindes blicken und dort Böses sehen? Böses, das
einen derart entsetzlichen Tod rechtfertigt?“
„Falls die Inquisition Kinder töten lässt ...“
„Das tut sie. Ich habe es gesehen.“
„Falls sie es tut, dann sicher aus einem guten Grund. Die
Heilige Avacyn schenkt ihrer Kirche die Macht, das Böse
auszulöschen, es zu bestrafen und die Unschuldigen vor seinem
Griff zu beschützen.“
„Aber die Kirche missbraucht diese Macht!“
„Und was soll ich deiner Auffassung nach tun?“
Thalia ergriff seine Hand. Selbst durch ihre Handschuhe
hindurch fühlte sie sich verglichen mit der Kälte in ihren
eigenen Knochen warm an. „Sprich mit dem Rat“, sagte sie.
„Hilf ihm, Vernunft anzunehmen.“
„Du weißt, dass ich kein Stimmrecht im Rat habe.“
„Aber du hast eine Stimme. Du repräsentierst die Katharer. Sie
können dich nicht einfach ignorieren.“
Er wandte ihr den Rücken zu. „Aber ich bin ihrem Willen
unterworfen. Avacyns Willen.“
„Das ist nicht unbedingt das Gleiche, weißt du?“
Er neigte den Kopf und schwieg.
Von einer jähen Ermattung übermannt ließ sich Thalia auf den
Stuhl fallen, auf den sie ihren Mantel geworfen hatte.
„Habe ich das Richtige getan, Odric?“, fragte sie.
Er drehte sich um und schenkte ihr ein sanftes Lächeln. Sie
hatten die gleiche Unterhaltung schon oft zuvor geführt, doch
er wusste, dass sie es von Zeit zu Zeit wieder hören musste. „Du
hast Avacyn befreit“, sagte er. „Und du hast deine Soldaten aus
dem Griff der Nekromagier gerettet.“
„Ja, aber ich habe auch unzählige Dämonen freigelassen. Und
einige davon sind aus der Reichweite der Engel entkommen.“
„Sie verstecken sich.“
„Aber sie werden zurückkommen ... Sie alle werden
zurückkommen. Man kann sie nicht vernichten – deshalb gab
es den Höllenkerker ja. Ich habe zugelassen, dass sie ihn
zerstört.“
Bild von Todd Lockwood
„Du hast Avacyn befreit“, wiederholte er.
„Was, wenn das auch ein Fehler war?“, fragte sie. Die Falten
auf seiner Stirn wurden tiefer, doch sie drang weiter in ihn.
„Was, wenn die Zeit im Höllenkerker sie korrumpiert hat?
Was, wenn sie jetzt selbst nicht besser als ein Dämon ist?“
Sein Miene wurde ernst. „Ich will nichts davon hören“, sagte
er. Er hatte natürlich recht – und nie zuvor hatte sie es gewagt,
diese Gedanken jemand anderem anzuvertrauen. „Ich bin ein
Mitglied des Lunarchenrats ...“
„Du bist ein guter Mann.“
„Ich diene Avacyn und ihrer Kirche. Und – falls es dir
entfallen sein sollte – das tust auch du, Wächterin von
Thraben.“
Thalia sprang wieder auf. „Ich diene den Prinzipien, für die
Avacyn eintritt – für die sie einst stand. Ich diene dem sanften
Licht des Mondes, das die Schrecken der Nacht fernhält. Ich
diene den Banden zwischen uns und vertreibe die Furcht, die
uns auseinanderzureißen versucht. Ich diene der Heiligkeit,
nach der wir alle streben. Wenn sie sich gegen diese Dinge
gewandt hat, dann ist sie nicht besser als ein Dämon und ich
kann nicht länger ihr und ihrer Kirche dienen.“
Odrics zornesrotes Gesicht war dicht an ihrem. „Ich kann nicht
hier stehen und zulassen, dass du die Heilige Avacyn mit jenen
Dämonen vergleichst, gegen die sie jahrhundertelang gekämpft
hat. Da du meine Freundin bist, bitte ich dich, Thraben zu
verlassen und niemanden sonst diese Blasphemie hören zu
lassen, die du da von dir gibst. Grete?“
Ein von rotem Haar umrahmtes Gesicht erschien in der Tür.
Thalia war verblüfft: Sie hatte nicht geahnt, dass Odrics
Auserwählte die ganze Zeit draußen gewartet hatte. Hatte sie
die gesamte Unterhaltung mit angehört?
„Mein Herr?“, sagte Grete.
Odric wandte Thalia erneut den Rücken zu. „Würdest du bitte
Thalia hinter die äußere Mauer begleiten?“
„Natürlich.“
Thalia legte Odric eine Hand auf den Rücken. „Odric ...“
„Lebe wohl, Thalia.“
Sie schluckte schwer. Sie fand keine Worte mehr.

Grete hielt die Zügel von Thalias Pferd, als diese aufstieg. Sie
wich ihrem Blick aus, seit sie Odric verlassen hatten. Als sie ihr
die Zügel hinaufreichte, trafen sich ihre Blicke dann doch
endlich.
„Was wirst du nun tun?“, fragte sie leise.
„Ich werde kämpfen“, antwortete Thalia. „Ich habe
geschworen, die Menschen dieses Landes vor den Ungeheuern
zu beschützen, die sie zu vernichten suchen. Und das werde ich
auch weiterhin. Wenn die Katharer und die Inquisitoren zu
Ungeheuern geworden sind, dann werde ich die Menschen
eben vor ihnen beschützen. Und wenn die Engel selbst zu
Ungeheuern geworden sind ...“
„Du würdest gegen die Engel selbst kämpfen?“, fragte Grete mit
aufgerissenen Augen.
„Wenn es sein muss.“
„Wie kannst du nur so sicher sein, dass du recht hast?“
Waffenstärke | Bild von John Stanko
Thalia hörte so viel in dieser Frage – einschließlich jenes
Zweifels, der ihr seit vielen Wochen den Schlaf raubte. Doch
offenbar sehnte Grete sich nach derselben Gewissheit. Und
Thalia wünschte, sie könnte sie ihr geben.
„Wenn ich mich irre“, sagte sie stattdessen, „nun, ich wäre
lieber eine Ketzerin, als mein Gewissen zu verraten.“
Grete ließ die Zügel los und wandte den Blick ab, während sie
einen Schritt vom Pferd zurücktrat.
„Du könntest mit mir kommen“, sagte Thalia.
„Nein.“ Grete schien ebenso mit sich selbst zu sprechen wie
mit Thalia. „Aber ich hoffe ... Ich wünsche dir das Beste,
Thalia.“
„Ich danke dir.“

Wochen später hörte Odric noch immer Thalias Stimme, als


ein übereifriger Katharer vor dem Lunarchenrat stand und die
neuesten Ergebnisse der Arbeit der Inquisition in Ellgau
vortrug. Jedes Mal, wenn der junge Mann den Begriff „sündig“
in den Mund nahm, hörte er Thalias Stimme, wie sie am
Rande der Vulgarität schwebte, und jede Erwähnung des
Obersten Inquisitors rief ihm ihre Worte ins Gedächtnis
zurück: „Ulmach ist völlig außer Kontrolle.“ Es fiel ihm zu
schwer, den Schilderungen von Befragungen, Folterungen und
Hinrichtungen zu lauschen, weshalb er stattdessen die
Gesichter der Bischöfe des Rates musterte.
Einige von ihnen fühlten sich sichtlich ebenso unwohl wie er
selbst. Andere jedoch beugten sich vor und lauschten mit
hervorstehenden Augen und vor Neugier schier geifernden
Mündern den grässlichen Einzelheiten. Hatte Thalia recht?,
fragte er sich. Sind wir alle zu Ungeheuern geworden?
Wider alle Hoffnung | Bild von David Seguin
Ein Knall riss ihn aus seinen Gedanken, als die Tür des Saales
aufgestoßen wurde. Thalias Stiefel hallten auf dem Steinboden
wider, als sie in den Raum schritt. Der junge Katharer trat –
offenkundig von ihrer Anwesenheit und dem Zorn, der in
ihren Augen brannte, eingeschüchtert – rasch beiseite.
„Thalia, was tust du hier?“, fragte er und durchbrach damit die
entsetzte Stille.
Bischof Jerren stand auf und verschränkte die Arme vor der
Brust. „Die Angelegenheiten des Lunarchenrats sind nicht zu
unterbrechen“, sagte er.
„Ich bin die Wächterin von Thraben“, erwiderte Thalia, „und
ich fordere mein Recht ein, vor dem Rat zu sprechen.“
„Diesen Titel führst du nicht mehr, Thalia“, sagte Odric sanft.
Er sah Jerren lächeln. „Der Rat hat ihn dir aberkannt.“
Thalia blickte ihn an. Sie schien keineswegs überrascht. Die
Wut in ihren Augen war Verachtung gewichen, als wäre er eine
Schlange, die sich vor ihr am Boden wand. Er hatte ihr
Vertrauen missbraucht und den Rat von ihrer Ketzerei
unterrichtet. Sein Magen zog sich zusammen.
Jerren lächelte süffisant. „Wir sind jedoch in großmütiger
Stimmung“, sagte er. „Welche Sache willst du dem Rat
vortragen?“
Thalia richtete ihren vernichtenden Blick auf Jerren. „Ich
komme, um Euch anzuklagen, Bischof“, sagte sie.
Odric lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Es schnürte ihm die
Kehle zu.
Thalia fuhr fort: „Ich bringe Beweise, dass Ihr im Bund mit
dem Dämon Ormendahl, den man auch den Unheiligen
Prinzen nennt, steht, und dass Ihr nun der Anführer der
Skirsdag seid.“
Jerren lachte auf. Er lachte. Andere Mitglieder des Rates
begannen, Protestrufe auszustoßen, doch der nominelle
Vorsitzende des Rates konnte nur lachen, als er bezichtigt
wurde, einem dämonischen Kult vorzustehen.
„Nun, dann zeige uns doch diese so genannten Beweise“, sagte
jemand. Die Rufe verklangen.
Nun war Thalia mit dem Lächeln an der Reihe. Man hatte ihr
Gelegenheit gegeben, ihr Anliegen vorzutragen. Mehr hatte sie
sich auch gar nicht erhofft. Sie wandte sich um, während sie
sprach, um so den gesamten Rat einzubeziehen, wich jedoch
Odrics Blick aus. „Vor drei Tagen“, sagte sie, „führte ich eine
kleine Gruppe Katharer durch den Wald der Gemeinde Wittal
in der Nähe der Ruinen von Eschwald. Wir suchten nach dem
Versteck jener berüchtigten Hexe, die eine Vielzahl von
Bewohnern der Gemeinde mit Flüchen belegt haben soll.
Schließlich stießen wir auf Hufabdrücke in der weichen Erde.“
Thalias Leutnant | Bild von Johannes Voss
„Wir warten noch immer auf deine Beweise“, sagte einer der
Bischöfe.
Odric blickte zu Jerren. Der Bischof hatte sich in seinem Sessel
zurückgelehnt und die Fingerspitzen vor dem Mund wie zu
einem Dachgiebel zusammengeführt, wodurch es ihm auch
beinahe gelungen wäre, jene Andeutung eines Lächelns zu
verbergen, die seine Mundwinkel umspielte.
„Die Spur führte uns zu einer düsteren Höhle, in der sich die
Hexe verborgen hielt. Ein Pferd weidete draußen auf dem
geschwärzten Gras. Es trug das Zaumzeug dieses Rates. Als wir
ins Innere eilten, fanden wir die Hexe vor, wie sie gerade das
zuckende Herz aus der Leiche eines Boten entfernte und sich
daran zu machen schien, ein Stück aus dem rohen Fleisch
herauszubeißen.“
Ein paar der Ratsmitglieder verzogen angeekelt die Gesichter
und wandten den Blick von Thalia ab. Odric jedoch bemerkte,
dass alle, die sie weiterhin anstarrten, denselben geifernden
Ausdruck wie beim Bericht des Inquisitors zeigten.
„Wir versuchten, die Hexe zu überwältigen, doch sie kämpfte
wie eine Furie und gebot über dämonische Kräfte. Wir hatten
keine andere Wahl, als sie zu töten.“
„Und damit bequemerweise die Möglichkeit auszuräumen, dass
sie aussagen könnte“, meinte jemand.
Thalia beachtete die Unterbrechung nicht. „Der tote Reiter
war ein Bote dieser Kathedrale. Diesen Brief hier trug er bei
sich.“ Sie holte einen Bogen Pergament aus ihrem Mantel
hervor. Dunkle Spritzer und Flecken, die nur von Blut
stammen konnten, hatten ihn besudelt. „Lest ihn selbst und
urteilt anschließend darüber, wie berechtigt meine Anklage ist.
Der Brief trägt das Siegel und die Unterschrift von niemand
Geringerem als Bischof Jerren, der dieser Hexe im Namen des
Unheiligen Prinzen Anweisungen erteilt!“
Odrics Füße und Hände fühlten sich taub an. Sein Herz
wummerte. Thalia hatte eine kühne Geschichte gesponnen.
Konnte sie etwa wahr sein?
Thalia schritt zum hinteren Ende des Ratstisches und hielt das
Pergament hoch, um es einem der niederen Bischöfe namens
Quilion zu zeigen. Quilion warf einen verstohlenen Blick zu
Jerren und weigerte sich, ihr den Bogen aus der Hand zu
nehmen. Thalia runzelte die Stirn und hielt dem Bischof
neben ihm das Pergament hin. Drei Bischöfe weigerten sich, es
anzusehen, während der Rat in eisiges Schweigen gehüllt blieb,
bis Bischöfin Carlin es schließlich mit zitternden Händen an
sich nahm. Ihr Gesicht wurde bleich, als sie es las.
„Was hast du dazu zu sagen, Jerren?“, fragte Carlin nach einem
Augenblick.
„Das ist ganz offensichtlich eine Fälschung“, sagte Quilion,
obgleich er das Schriftstück kaum angesehen hatte.
„Die ganze Geschichte ist doch an den Haaren herbeigezogen“,
sagte ein anderer Bischof.
Odric konnte es nicht glauben. Nichts von alledem. Er wusste,
dass Thalia niemals Beweise fälschen würde, so wenig sie auch
mit dem Rat übereinstimmte. Und nachdem er sich nun schon
gestattet hatte, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass es
tatsächlich wahr war, musste er sich eingestehen, dass er Jerren
nicht als den heiligsten aller Männer bezeichnen würde. Aber
Anführer der Skirsdag? Als Vorsitzender des Lunarchenrates?
„Natürlich ist sie an den Haaren herbeigezogen“, sagte Jerren.
„Mir scheint, in diesem Raum gibt es nur eine Person, die sich
der Ketzerei schuldig macht“, sagte Quilion. Er warf Jerren
einen Blick zu, als würde er die Erlaubnis des älteren Mannes
einholen.
Odric starrte entsetzt auf die Mitglieder des Rates, die erneut zu
rufen begonnen hatten und diesmal Thalias Hinrichtung
forderten. Thalias Miene war finster – er hatte gesehen, wie sie
immer bleicher geworden war, als mehr und mehr Bischöfe
Partei für Jerren ergriffen hatten. Sicherlich hatte sie mit
einigem Widerstand gerechnet, doch wahrscheinlich kaum mit
derlei heftigem. Jerrens Einfluss auf den Rat musste größer
sein, als sie es wohl je erahnt hätte. Ihre Hand fuhr an ihr
Schwert.
Katharer kamen und hielten Thalias Arme fest, ehe sie es
ziehen konnte, und blickten auf der Suche nach Anweisungen
zu Jerren. Mit einem winzigen Fingerzeig verhängte er sein
Urteil über sie. Man begann, sie fortzuschleifen.
„Odric!“, rief sie. Ihre Stimme durchstach das Lärmen der
noch immer laut rufenden Bischöfe. „Ich diene dem Licht!“
Das sanfte Licht des Mondes, das die Schrecken der Nacht
fernhält, hatte sie gesagt. Ich diene den Banden zwischen uns
und vertreibe die Furcht, die uns auseinanderzureißen
versucht.
Und hier war er nun, der Lunarchenrat, der sich von Furcht
ergriffen gegen eine seiner treuesten Dienerinnen wandte.
Die Türen schlugen hinter Thalia zu, und mit einem
geheuchelten Lächeln bedeutete Jerren dem jungen Katharer,
seine Schilderung der neuesten Schrecken in Ellgau
fortzusetzen, die im Namen des Lunarchenrats begangen
worden waren.

Odric eilte in den Keller der Kathedrale, wo Thalia, wie er


hoffte, noch immer auf ihre Hinrichtung wartete. Sie würden
sie noch nicht auf den Hof hinausgebracht haben, um sie an
einem Baum aufzuknüpfen. Nicht ohne die zeremoniellen
Bräuche bei der Hinrichtung einer derart bekannten Ketzerin
zu befolgen.
„Ich muss mit der Gefangenen sprechen“, sagte Odric zu der
Soldatin, die die Zellen bewachte. Die junge Frau salutierte
und trat beiseite, um ihn eintreten zu lassen.
„Sag nichts“, flüsterte er in die Luke zu ihrer Zelle. „Wir gehen
hier weg. Gemeinsam.“
„Was?“
„Ich sagte, du sollst nicht sprechen.“ Er drehte sich zu der
Soldatin um. „Wache, öffne diese Zelle.“
Ihre Augen weiteten sich zwar, doch die Katharerin fingerte
dennoch sofort an den Schlüsseln an ihrem Gürtel herum.
Odric nickte bekräftigend. Zumindest kennen einige von uns
noch ihre Pflicht, dachte er.
Die Tür zur Zelle Thalias öffnete sich quietschend, und er half
ihr vom schmutzverkrusteten Boden auf. Er bemerkte eine
frische Prellung, die gerade erst auf ihrem Wangenknochen zu
erblühen begann. Hatte sie sich gewehrt? Oder hatten die
Wachen, die sie hierhergeführt hatten, jene Grausamkeiten
fortgesetzt, die nun selbst hier in Avacyns Kathedrale an der
Tagesordnung waren?
Gemeinsam gingen sie die Stufen hinauf. Grete erwartete sie
oben. Sie trug Thalias schlankes Schwert bei sich.
„Pferde?“, fragte Odric sie, während Thalia ihre Waffe
umschnallte.
„Sollten bereit sein, sobald wir den Stall erreicht haben“, sagte
Grete.
Odrics Kreuzritter | Bild von Michael Komarck
„Gut gemacht.“
„Wohin gehen wir?“, fragte Thalia.
„Sag du es mir“, erwiderte Odric. „Du meintest, du hattest
andere Katharer in der Wittal-Gemeinde bei dir. Sind sie noch
immer dort?“
„Ja.“
„Sollen wir uns ihnen dann anschließen?“
„Ja. Ich habe dir eine Menge zu erzählen.“
Sie waren schon fast an den Stallungen angelangt, beinahe frei
vom Lunarchenrat und Jerren und jener Verderbnis, die hier
schwelte. Doch nun versperrten ihnen fünf Katharer den Weg.
„Bleibt sofort stehen, Lunarch-Marschall“, sagte der eine in der
Mitte. Sein Name war Dougan, erinnerte sich Odric. Vor
Jahren hatte er den jungen Mann ausgebildet. „Befehl von
Bischof Jerren“, fügte er beinahe entschuldigend hinzu.
Odric ging weiter. „Tretet beiseite und lasst uns passieren“,
sagte er. Grete und Thalia schlossen etwas dichter zu ihm auf.
„Das kann ich nicht tun, Herr.“ Das Entschuldigende war aus
seiner Stimme verschwunden und durch Stahl ersetzt worden.
„Der Bischof hat mit diesem Verrat gerechnet und will, dass ihr
alle drei in die Ratsgemächer zurückkehrt.“
Weitere Katharer standen nun hinter ihnen – den Geräuschen
nach waren es drei. Acht gegen drei, falls es denn dazu
kommen sollte.
Odric stand dem jungen Dougan nun genau gegenüber,
während Grete und Thalia die Katharer an seiner Seite
anblickten.
„Dougan, lass uns passieren“, sagte Odric erneut.
„Nein.“
Odric versuchte, sich an ihm vorbei zu drängen, doch das
Geräusch gezogenen Stahls hinter ihm änderte alles.
Acht gegen drei wäre vielleicht brenzlig geworden, wenn es sich
bei den dreien nicht um die erfahrensten Streiter in Avacyns
Kirche gehandelt hätte. Odrics erster Hieb ließ Dougans Klinge
klirrend zu Boden fallen. Während sein ehemaliger Schüler
sich nach seiner Waffe bückte, drehte sich Odric um, um einen
Angriff in seinem Rücken zu parieren – von Marta, einer
weiteren jungen Katharerin, die er ausgebildet hatte. Seine
Riposte ließ ihre Schulter bluten – sie hatte schon in der
Ausbildung stets die linke Schulter ungedeckt gelassen – und
sie stolperte nach hinten.
Dougan stürmte mit hoch erhobenem Schwert auf ihn zu.
Odric schüttelte den Kopf – er hatte den Jungen eigentlich
Besseres gelehrt. Er duckte sich unter dem ungelenken Hieb
weg und stieß nach Dougans Bauch, die Wucht sorgsam so
abgestimmt, dass der arme Kerl nicht gleich an Ort und Stelle
ausgeweidet wurde. Beinahe hatte er vergessen, dass sie nicht
mit Holzschwertern übten.
Womöglich hatte auch Dougan es vergessen, denn seine Augen
weiteten sich und ihm entglitt erneut fast das Schwert,
während seine freie Hand zu dem sich ausbreitenden roten
Fleck unter seinen Rippen fuhr.
Odric, Lunarch-Marschall | Bild von Chase Stone
Ein dritter Katharer, dessen Name ihm entfallen war, sprang
ihm mit einem Ausfallschritt entgegen. Der unglückliche
Wicht spießte sich an Odrics Klinge auf. Marta, die trotz der
Wunde in ihrer Schulter weiterkämpfte, fiel unter Gretes
schwerem Schwert.
Haral, ein älterer Soldat, der mit ihm gemeinsam gegen die
Zombies gekämpft hatte, kam auf ihn zu. Er hatte Dougan viele
Jahre an Erfahrung voraus und wäre er stärkeren Willens
gewesen, hätte er diese Gruppe angeführt. Doch ihm hatte seit
jeher dieser Wille, dieser Antrieb gefehlt. Tränen strömten ihm
übers Gesicht, als er sich Odric zuwandte und den Ausgang
versperrte.
Odrics Schwert schlug dröhnend gegen seinen Helm und ließ
den Katharer rückwärtstaumeln, doch er hielt sich auf den
Beinen und umklammerte seine Klinge fester.
„Du wirst mich töten müssen, Apostat“, knurrte er.
Odric schritt vorwärts und entfesselte einen Sturm aus Stahl,
der Harals erbarmungslosen Angriff zurückschlug. Haral
konnte keinen wirksamen Gegenangriff aufbieten – auch dazu
fehlte ihm der nötige Wille. Die unvermeidliche Lücke tat sich
auf, und Odric nutzte sie instinktiv – er schlitzte dem Mann
die Kehle auf.
Nun waren die Türen der Kathedrale in Sicht. Odric blickte
zurück auf die acht treuen Katharer, die blutend oder sterbend
auf dem polierten Boden der Kathedrale lagen. Heilige
Katharer der Kirche Avacyns. „Mögen die Engel des
Alabasterschwarms euch ...“ Er verschluckte sich an den
Worten. Scherten sich die Engel überhaupt noch um
menschliche Seelen?
„ ... euch zur Heiligen Ruhe führen“, sagte Thalia dicht neben
ihm. Ihre Hand schlug das Zeichen von Avacyns Band auf ihrer
Brust, erst von der einen und dann von der anderen Schulter
zum Herzen. Sie blickte mit tränenhellen Augen zu ihm auf,
wandte sich ab und rannte zur Tür.
Ein Teil von Odric lag tot neben dem Gefallenen auf dem
Boden, doch er ließ ihn dort und rannte mit ihr und Grete zu
den Stallungen. Wie seine Auserwählte versprochen hatte,
standen dort drei Pferde für sie bereit. Sie hielten kaum inne,
als sie aufstiegen und die Pferde zum Galopp anspornten. Und
so ließen sie erst die Kathedrale, dann Thraben und schließlich
ihr gesamtes altes Leben weit hinter sich.

„Fast zwei Drittel von ihnen hatte Jerren in der Hand“, sagte
Thalia zu der kleinen Gruppe Katharer, die sie in der winzigen
Kapelle in Heidenau versammelt hatte. „Ich habe das Ausmaß
des Einflusses Ormendals auf den Rat zweifellos unterschätzt.“
Die anderen Katharer schüttelten betrübt die Köpfe.
„Und du weißt nichts darüber?“, fragte sie Odric.
Doch Odric sagte nichts. Er hatte kaum ein Wort gesprochen,
seit sie die äußere Mauer Thrabens hinter sich gelassen hatten.
Sie war sich nicht einmal sicher, ob er seitdem überhaupt auch
nur geblinzelt hatte: Er saß einfach bloß da und starrte vor sich
hin.
Sie seufzte und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ich
glaube ich verstehe, was du durchmachst, alter Freund“,
flüsterte sie ihm ins Ohr. „Ich glaube, wir alle wissen es.“
„Er wird schon werden“, sagte Grete. „Lass ihm Zeit, sich
auszuruhen.“
„Ich weiß“, sagte Thalia. „Er hat alle Zeit, die er braucht.“
„Was kann ich tun?“, fragte Grete.
Thalia lächelte. „Weißt du noch, als ich dich gebeten hatte, mit
mir zu kommen?“
„Ich hätte es tun sollen.“
„Ich bin froh, dass du es nicht getan hast. Ich würde jetzt im
Hof der Kathedrale hängen, wenn du nicht gewesen wärst und
mir bei meiner Flucht geholfen hättest. Und nun bist du ja
hier.“
„Aber was ist ‚hier‘? Was tun wir hier?“
„Willkommen beim Orden von Sankt Traft“, sagte Thalia und
deutete auf die Kapelle um sie herum, als wäre sie ein
prächtiger Palast.
„Sankt Traft?“, fragte Grete. „Du erhebst Anspruch auf eine
edle Herkunft, indem du seinen Namen aussprichst.
Dämonenjäger, Liebling der Engel, Märtyrer des Nadelöhrs:
Du hättest dir kaum einen würdigeren Schutzpatron aussuchen
können.“
„Ich habe ihn mir nicht ausgesucht“, sagte Thalia mit einem
Lächeln. „Er hat mich ausgesucht.“
Ein leuchtender Nebel verdichtete sich in der Luft hinter
Thalia und verwandelte ihr Haar in flüssiges Gold, während ihr
Gesicht von innen heraus zu strahlen begann. Einen
Augenblick später waren da zwei Gesichter, die sich
voneinander lösten, bis ein Mann – leuchtend und substanzlos
– neben ihr stand. Ein heiliger Geist. Sankt Traft selbst.
Thalia legte Grete eine Hand auf die Schulter. „Bist du bereit
zu kämpfen?“
Grete fiel auf die Knie, doch ihr Blick blieb fest auf Thalia
gerichtet. „Wohin auch immer du uns führst.“
Anrufung von Sankt Traft | Bild von Igor Kieryluk

Jace brachte seine Zeit auf Innistrad damit zu, einem Geheimnis
hinterherzujagen: angefangen bei Lilianas Haus über
das Markov-Anwesen zum Unterwassergrab, dann
wieder zurück zu Liliana und von dort schließlich zur
Kathedrale von Thraben. Auf dieser Reise war sein einziger
Orientierungspunkt ein im Markov-Anwesen gefundenes
Tagebuch, bei dem es sich um eine gebundene Sammlung von
Forschungsunterlagen handelte.
Und wie es der Zufall will, ist die Verfasserin jener
Aufzeichnungen – eine Planeswalkerin namens Tamiyo vom
Mondvolk – ihm auf der gleichen Suche mehrere Schritte
voraus ...

Ungeachtet der Tatsache, dass ihre Füße den Steinboden nie


berührten, dachte Tamiyo dennoch darüber nach, auf
Zehenspitzen zu gehen, als sie die Kantorei der Kathedrale von
Thraben durchquerte. Auf Dutzenden von Welten hatte sie
Hinweise darauf gefunden, wie Zweibeiner – oft in
übertriebener Behutsamkeit oder gar in theatralischer Manier –
auf Zehenspitzen gingen, um ihre Absicht zu verdeutlichen,
sich heimlich fortbewegen zu wollen. Dabei ruhte das Gewicht
eines Wesens auf einer kleineren Fläche, wenn es auf
Zehenspitzen unterwegs war. Auf Dielen – einem Bodenbelag
aus Holz, der auf der Mehrzahl aller Welten, welche sie mit
eigenen Augen erblickt hatte, durchaus üblich zu sein schien
– erhöhte das Gehen auf Zehenspitzen sogar die
Wahrscheinlichkeit, dass eine der Dielen knarzte, was die bei
weitem häufigste Art eines unabsichtlichen Geräuschs
darstellte, das die Anwesenheit eines Schleichers auf
Zehenspitzen offenbarte. In den meisten Fällen beobachtete sie
Ungereimtheiten dieser Art bei Menschen, und es bereitete ihr
durchgängig ein gewisses Vergnügen, sie zu dokumentieren. An
Innistrad jedoch war nichts Vergnügliches. Die Hinweise
deuteten unverhohlen etwas wesentlich tiefer Reichendes und
Gefährlicheres als nur bloße Ungereimtheiten an. Sie war
bereits länger hier, als sie beabsichtigt hatte. Sie war bereits viel
zu viele Risiken eingegangen. Doch diese Welt war vollständig
aus den Fugen geraten, und sie musste einfach wissen, warum.
Zahlreiche logische Spuren hatten sich als Sackgassen erwiesen.
Manche waren zwar vielversprechend gewesen, hatten jedoch
zu keinem eindeutigen Ergebnis geführt. Ihre astronomischen
Untersuchungen ließen eigentlich nur einen einzigen Schluss
zu, doch die Ursache für all das – der allererste Auslöser –
entzog sich ihr noch immer. Dies war ein Buch mit tausend
Siegeln, ein Rätsel aus zehntausend Lügen. Sie hatte noch nie
zuvor etwas derart Verzwicktes zu lösen versucht.
Sie hatte außerdem auch noch nie aufgegeben, ehe ihre Arbeit
nicht getan war.
Tamiyo die Mondweise | Bild von Eric Deschamps
Ihre neuesten Studien hatten sie zur Kathedrale geführt, wo die
Menschen Innistrads die ältesten historischen Aufzeichnungen
über Avacyn aufbewahrten. Die Geschichten, die sie bislang
gefunden hatte, waren jede für sich genommen rätselhaft und
unvollständig, doch sie kannte sich mit den grundlegenden
Melodien von Geschichten aus. Sie wusste, an welchen Enden
sie ziehen und welchen Spuren sie folgen musste, um – einen
schwebenden Schritt nach dem nächsten – der Wahrheit näher
zu kommen. Sie rechnete gar nicht damit, das, wonach sie
suchte, einfach irgendwo ganz offen in einem alten Buch
niedergeschrieben zu entdecken. Sie hatte viele Geschichten
wie diese gehört, doch noch nie selbst eine davon erlebt.
Dennoch gab es in den ältesten Chroniken für gewöhnlich die
wenigsten Verzerrungen, da es in ihnen nur der geringsten Zahl
an Schreibern möglich gewesen war, die Worte nach eigenem
Gutdünken zu verdrehen. Avacyn. Die Welt war aus den Fugen
geraten, und sie war die innerste Stütze Innistrads. Die
Metapher passte gut.
Sie flüsterte ein leises Gebet an die Kami. Sie wusste natürlich,
dass es hier keine Kami gab: Geister nahmen je nach Welt
unterschiedliche Gestalten an, und die Geister Innistrads
hatten keinerlei Ähnlichkeit mit den kleinen Göttern ihrer
Heimat. Keines ihrer Experimente hatte je Anlass zu der
Vermutung gegeben, dass die Kami ihre Gebete über die
Weltengrenzen hinaus hören konnten. Doch die bloße
Tatsache ihrer örtlichen Nicht-Messbarkeit war keine
Entschuldigung dafür, unhöflich zu werden.
Bewaffnete Katharer patrouillierten stoisch und wachsam
durch die Hallen und hielten nach Eindringlingen wie ihr
Ausschau. Sie hatte bereits mehr Umgang mit der
einheimischen Bevölkerung gehabt, als ihr lieb war, und sie
stieß an die Grenzen ihrer natürlichen Stille und
Verstohlenheit. Um in die inneren Bibliotheken vorzudringen,
brauchte sie eine Geschichte – eine, die sie der Welt um sich
herum erzählen konnte.
Eine alte Schriftrolle, eine ihrer ersten und liebsten, entrollte
sich an ihrer Seite. Es war eine Geschichte aus ihrer Heimat –
und genau jene, die sie nun brauchte.
Von dem, der die Sonne das Fürchten lehrt
Dies ist die Geschichte von einer Welt, die im Dunkel versank,
und dem, der die Sonne das Fürchten lehrt. Sein Schatten
brachte all jenen in seinem Weg die Nacht und sein Hunger
war niemals zu stillen. Die Akki wussten sehr wohl, was der
Oni vor aller Augen verbarg: die Ausbeute eines ganzen Lebens
voller Plünderungen und Raubzüge. Doch niemand wagte es,
den Zorn des Oni herauszufordern, außer einer, die keine
Furcht kannte.
Als diese Akki nun einen langen, flachen Stein fand, hielt sie
ihn sich über den Kopf. Von hoch oben, von wo aus der Oni
herabblickte, schien sie nichts weiter zu sein als eben solch ein
Stein. Und derart getarnt ging sie zu seiner Höhle, fest
überzeugt, dass sie vor einer Entdeckung gefeit war.

Doch der Oni war neugierig.


„Es ist so seltsam, kleiner Stein, wie du dich bewegst! Bist du
hier, meine Reichtümer zu stehlen?“
„Ich, o Großer“, erwiderte der Stein, „habe noch nie von
einem Stein gehört, der Reichtümer stiehlt. Du etwa? Ich
verspreche, ich lasse es dich wissen, falls ich eines Diebs
ansichtig werden sollte.“
Der Oni hörte Wahrheit in den Worten der Akki und sah
keinen Grund zur Sorge. Er legte sich schlafen, und die Akki
schaffte nun so viel aus der Höhle fort, wie sie nur tragen
konnte. Gold, Edelsteine und eine glänzende Platte, auf der ihr
Spiegelbild sie angrinste.
Am nächsten Tag kehrte die Akki zurück und der Oni wandte
sich an den Stein.
„Kleiner Stein, kleiner Stein! Jemand hat meine Schätze
gestohlen! Hast du den Dieb gesehen?“
Die Akki erinnerte sich ihres Versprechens und antwortete:
„Ja! Ich sah die Diebin! Eine listige kleine Akki! Vielleicht
solltest du dich aufmachen, um nach ihr zu suchen, und sie für
ihre Heimtücke bestrafen!“
Der Oni nahm den Vorschlag auf und begab sich auf die
Suche. Und während er fort war, machte sich die Akki erneut
mit noch mehr gestohlenen Schätzen davon.
Hätte sie es doch hier nur gut sein lassen!
Die gierige kleine Akki kam ein drittes Mal mit dem Stein über
den Kopf und Gier im Herzen zur Höhle des Oni. Der Oni war
blind vor Zorn.
„Kleiner Stein! Es ist schon wieder geschehen! Ich konnte die
Diebin nicht finden, doch erneut sind Schätze von mir
verschwunden! Ich weiß nicht, was ich tun soll, außer zum Bau
der Akki im Westen zu eilen und sie alle zu verschlingen, nur
um sicherzugehen, dass ich auch ja die richtige von ihnen
erwische!“
Aus Furcht um ihre Heimat und ihre Freunde erwiderte die
Akki: „O Großer! Akki sind zäh und bitter und ganz und gar
kein Gaumenschmaus! Es ist besser, sie in Frieden zu lassen,
und deine Suche nach der Diebin fortzusetzen!“
Auch wenn der Oni nichts von Steinen verstand, so kannte er
sich doch bestens mit Lügen aus. Er hob die kleine Akki
mitsamt des Steins hoch und verschlang sie mit einem Bissen.
Die Akki erzählen diese Geschichte, um nie zu vergessen, dass
die Wahrheit eine bessere Täuschung ist als jede Lüge, die je
erzählt wurde.
Die Macht der Geschichte war angerufen, ihr Zauber entfaltete
sich und Tamiyo war nicht mehr zu sehen. Jedem, dem sie nun
begegnete, würde sie wie etwas erscheinen, was hierhergehörte
– ein weiterer Katharer oder eine dekorative Vase. Bis zu jenem
Augenblick, in dem sie eine Lüge aussprach oder der
Täuschung nicht mehr bedurfte. Es war eine sehr nützliche
Geschichte, doch wie immer, wenn sie eine Geschichte
einsetzte, bat sie flüsternd um Vergebung dafür, sie auf diese
Weise zu benutzen. Geschichten waren heilig, und es fühlte
sich für Tamiyo jedes Mal wie ein Frevel an, sie als Werkzeuge
zu gebrauchen.
Heute trug sie neunundzwanzig Geschichten bei sich, die drei
in eisernen Einbänden – jene, die nie verwendet werden
durften – nicht mitgerechnet.
Sie ging – ihre Füße berührten nun den Boden, der recht kalt
war – entschlossen an zwei Katharern vorbei, die zackig
salutierten. Sie erwiderte die Geste etwas weniger flüssig und
alle sahen nur, was sie sehen sollten. Die Hauptbibliothek war
gleich vor ihr. Sie begann, im Geiste die Geschichten
durchzugehen, die sie mitgebracht hatte, da sie herausfinden
wollte, wie sie wohl am besten die Schlösser knackte, die mit
Sicherheit ihr nächstes Hindernis darstellen würden, als sie
etwas Eigenartiges bemerkte. Die Tür war bereits einen Spalt
geöffnet und dahinter flackerte Kerzenschein.
Sie vollführte eine Geste und eine leichte Brise stieß die
schwere Tür ein Stückchen weiter auf. Sie nahm eine leicht
geduckte Haltung an, und ihre Füße ruhten nun vollständig
auf dem Stein – obwohl sie aus unerfindlichen Gründen noch
immerdarüber nachdachte, auf Zehenspitzen zu gehen. Sie
schlich auf die Tür zu, bereit, die Beine in die Hand zu
nehmen oder anzugreifen.
Die gut geölten Scharniere glitten weiter auf, als Tamiyo ein
unverwechselbares Geräusch hörte. Einen Wimpernschlag
später erhielten ihre Augen die Bestätigung: Ein schlaffer Leib
sackte zu Boden, als wäre sein Besitzer unvermittelt
eingeschlafen. Ein Bibliothekar. Ältlich, unbewaffnet und
ungerüstet. Und über ihm stand ... ein Planeswalker.
Jace, Enträtsler der Geheimnisse | Bild von Tyler Jacobson
Sie nahm so viele Informationen in sich auf, wie sie nur
konnte, bevor die endgültige Entscheidung anstand, ob sie
kämpfen oder fliehen wollte. Begegnungen mit Planeswalkern
mussten bei ihrer Arbeit vermieden werden, und zwar beinahe
um jeden Preis. Sie waren aufdringlich und unberechenbar
und konnten die Einflüsse einer jeden unbekannten Welt oder
deren Denkweisen in sich tragen. Kurz gesagt: Sie waren eine
Gefahr für jeden Wahrheitssucher. Dieser hier schien ein
Mensch zu sein, jung und männlich, doch der Hauch von
Mana um ihn herum roch nach Täuschung. Er hatte sich die
Kleidung der Einheimischen besorgt, doch diese mit Siegeln
und Zeichen verziert, die eindeutig nicht von Innistrad
stammten – eine merkwürdig einfallslose Verkleidung. Seine
Augen leuchteten. Panisch, wild, womöglich krank – ein
Gedanke, den sie noch gar nicht bedacht hatte: Wenn ein
Planeswalker vom Wahnsinn dieser Welt befallen war, konnte
er ihn dann in andere Welten einschleppen? In seinen Händen
hielt er ... ihre Forschungsaufzeichnungen. Eine weitere
Verwicklung. Sie wartete zwei weitere Wimpernschläge und
beschloss, ihn den ersten Schritt machen zu lassen, obwohl sich
bereits eine Schriftrolle von ihrem Gürtel gelöst hatte und sich
zu entrollen begann.
Sein Blick war verwirrt. Wütend, verängstigt, neugierig – bis
sich schließlich so etwas wie Erleichterung und Verständnis in
ihn hineinschlichen.
„Du! Du bst es! Du hast mich hierhergeführt! Nein, nicht du,
diese ... Diese Aufzeichnungen. Deine Aufzeichnungen! Hast
du mich hergeführt, um mich zu treffen? Nein. Wie solltest du
auch?“ Sein Blick schweifte wieder in die Ferne und dann zum
Boden hinunter, bevor er plötzlich zu ihr zurückhuschte.
Vorwurfsvoll. „Du hast mich beobachtet? Du wusstest es!“
Dann wurde er wieder weich, traurig, flehend. „Hilf mir.
Kannst du das? Ich glaube ... Kannst du mir helfen? Hilf mir.“
Die letzten Worte waren keinesfalls ein Flehen. Ein Befehl –
überwältigend mächtig – zerrte an ihrem Bewusstsein wie der
Wind an den Fensterläden. Doch ihr Bewusstsein zog sich in
eine weit entfernte Feste zurück, wo der Wind sie nicht
erreichen konnte. Vier weitere Wimpernschläge, um
nachzudenken, und dann lächelte sie so friedfertig, wie es ihr
unter diesen Umständen gelingen wollte. Mit einem raschen
Gedanken holte sie den Planeswalker mit in ihren
Verschleierungszauber und beförderte eine andere Schriftrolle
aus ihrer Tasche zutage. Sie schlüpfte in die Bibliothek und
schloss leise die Tür hinter sich. Sie hatte diese Geschichte
noch nie auf diese Weise eingesetzt, doch ein wahnsinniger,
weltenwandernder Telepath war eine Gefahr, die ihr bislang
unvorstellbar erschienen war. Sie hatte diese Geschichte vor
vielen, vielen Jahren auf einer Welt mit fünf Monden
gefunden, auf der überall Metall schimmerte, so weit das Auge
reichte.
Original
Nun da ihr Schöpfer nicht mehr war, waren jene Kreaturen,
die man die Myr nannte, verloren.
Manche folgten jenen Anweisungen, die man ihnen zuletzt
erteilt hatte, und wiederholten ihre Aufgaben ohne Führung
oder Zweck, während andere sich einfach abschalteten, um auf
weitere Befehle zu warten, die niemals kommen sollten. Der
Verlust Memnarchs tötete sie nicht, doch ohne ein echtes
Bewusstsein in ihrer Mitte war ihr weiteres Dasein kaum
wirklich als Leben zu bezeichnen.
Einigen Myr war aufgetragen worden, die Bevölkerung der Myr
zu überwachen und neue Myr zu erschaffen, um jene zu
ersetzen, die beschädigt oder zerstört wurden. Einer von ihnen
hatte viele Monate lang geruht, ehe seine Anweisungen ihm zu
handeln befahlen. Es gab zu wenige Myr seiner Art und er
musste einen neuen erschaffen.
Ohne seinen Schöpfer hatte er jedoch keine klaren
Anweisungen, wie er dabei verfahren sollte. Er tat das, worauf
er sich verstand: Er sammelte die passenden Materialien,
brachte sie in die Werkstatt – einen kleinen, kuppelartigen
Raum – und baute einen Myr zusammen, der ihm vollkommen
glich.
Dies war der Punkt in jenem Vorgang, an dem der Meister dem
neuen Myr Leben und Bewusstsein schenkte. Doch der Meister
war nicht hier. Seine Anweisungen bestanden indes fort. Der
Myr beschloss, sein eigenes Bewusstsein als Vorlage zu
verwenden und einen Abzug seiner selbst in dem neuen Myr zu
verankern. So erschuf er ein Wesen, das ihm in jeder Hinsicht
glich. Nun da er seine Anweisungen ausgeführt hatte, wollte er
die Werkstatt verlassen ... doch sein Ebenbild versperrte ihm
den Weg.
Der Myr versuchte, seinem Ebenbild den Vortritt zu lassen,
doch dieses hatte zur gleichen Zeit den gleichen Gedanken. Sie
warteten eine gleich lange Zeitspanne ab und versuchten es
erneut, nur um ein weiteres Mal zusammenzustoßen. Der Myr
und sein Ebenbild taten alles, um diese schier unmögliche
Symmetrie zu durchbrechen, doch nichts funktionierte.
Schließlich vernichteten sie einander aus Verdruss gegenseitig.
Einige Zeit später traf ein dritter Myr ein. Er war mit
Reparaturen beauftragt und setzte einen der Myr wieder
instand. Dieser hielt den Reparaturmyr auf, ehe er das
Ebenbild zum Laufen bringen und das gesamte Problem von
vorn beginnen lassen konnte. Stattdessen beschloss er, etwas
anderes auszuprobieren. Er schuf einen weiteren Abzug seines
Bewusstseins, ließ ihn dieses Mal jedoch unvollständig.
Der neu erwachte Myr war in der Lage, andere auf die gleiche
Weise zu erschaffen, und diese neuen Myr, die mit teilweise
ungeformten Bewusstseinen erschaffen worden waren, konnten
sich vermehren und Änderungen an sich vornehmen und
unabhängig voneinander handeln, wodurch sie schließlich jene
unzähligen Gestalten annehmen konnten, die sie heute
besitzen.
Die Myr feiern diese Geschichte als ihren Schöpfungsmythos,
doch der Grund, weshalb sie dies tun, lässt Fragen offen. Es
gibt drei Theorien, welcher der Myr in der Geschichte
tatsächlich der erste Myr seiner Art war. War derjenige der
erste Myr, der einen neuen Myr ohne die Anweisungen seines
Schöpfers erschaffen hatte? Hatte der Reparaturmyr in
Wahrheit zuerst den neu erschaffenen Myr instand gesetzt und
war es daher dieser zweite Myr, der den entscheidenden Schritt
hin zur Erschaffung ihres Volkes gemacht hatte? Oder war
jener Myr mit dem unvollständigen Bewusstsein der wahrhaftig
erste ihrer Art? Die Myr sind sich in diesem Punkt uneins, und
sie feiern genau diese Uneinigkeit – die Tatsache, dass sie in
einer solch fundamentalen Frage uneins sein und dennoch in
Einklang miteinander leben können, bildet den Kern dessen,
was es bedeutet, ein Myr zu sein.
Die Augen des jungen Menschen schlossen sich, und er tat
mehrere tiefe, lange Atemzüge. Als sich seine Augen wieder
öffneten, war sein Blick ruhig.
„Ich danke dir. Hui. Ich ... Oh. Herrje. Liliana ...“ Er rieb sich
den Kopf, als wäre er verprügelt worden, und blickte dann
treuherzig zu ihr auf. „Ich bin Jace. Und du bist Tamiyo, nicht
wahr? Deine Aufzeichnungen ...“
Er hielt ihr das Buch mit beiden Händen hin. Sie hob eine
schlanke Hand, eine Geste höflicher Zurückweisung.
„Sie haben mich hierhergeführt. Deine Berechnungen, deine
Studien, der Mond – das alles ergab Sinn ... oder zumindest
fühlte es sich so an. Ich war krank, und du ... Du hast mich
geheilt. Irgendwie. Oh, ich plappere schon wieder sinnlos vor
mich hin. Ich klinge wahrscheinlich genauso wirr wie zuvor.
Ich ... Ich will dir einfach nur danken.“
Tamiyo lächelte gelassen. „Meine Aufzeichnungen. Ich habe sie
jemand Vertrauenswürdigem gegeben, und nun hast du sie.
Hast du Jenrik ein Leid zugefügt, Jace?“
Der Mensch schüttelte den Kopf. „Nein. Doch was auch immer
im Markov-Anwesen geschehen ist: Er hat es nicht überlebt.“
Sie verbrachte einen Augenblick in stiller Erinnerung, zeigte
jedoch keine Trauer auf ihrem Gesicht. „Du musst gehen, Jace.
Dieser Ort ist gefährlich, umso mehr für jemanden wie dich.
Deine telepathischen Kräfte bringen Verantwortung mit sich.
Wenn du dem Wahnsinn verfällst, könntest du
unermesslichen Schaden über die Welten bringen, und es wäre
unverantwortlich von mir, das zuzulassen.“
„Ja, das verstehe ich, aber ...“ Jace hielt plötzlich inne. Er hatte
einen Augenblick gebraucht, um zu begreifen, dass sie ihm
gerade gedroht hatte. Er hob die Hände und machte einen
Schritt zurück.
„Tamiyo, ich möchte nur helfen. Wir können diesen Ort
retten. Ich und meine Freunde, wir können dir helfen,
herauszufinden, was hier vor sich geht, und wir können dir
helfen, etwas dagegen zu tun. Das wäre nicht das erste Mal für
uns ... wenn man so will.“
Tamiyo hob eine weiße Augenbraue und sagte nichts.
„Hör mal, wir beide wissen, dass Avacyn im Mittelpunkt dessen
steht, was hier geschieht. Und sie hat ein Bewusstsein, so wie
jedes andere Wesen auch. Das heißt, ich kann herausfinden,
was sie befallen hat. Ich kann sie aufhalten, falls es nötig ist.
Und dann können wir den nächsten Schritt angehen, diese
Sache in Ordnung zu bringen.“
Teile des Puzzles | Bild von Magali Villeneuve
Tamiyos Lächeln verschwand.
„Du weißt gar nichts, Jace. Du vermutest Dinge. Du hast eine
Theorie. Du hast Hinweise, doch sie sind weit davon entfernt,
schlüssig zu sein. Wie viel weißt du tatsächlich über Avacyn?
Über ihre Aufgabe? Du hast keine Ahnung, was geschieht,
wenn Avacyn vernichtet wird. Sie beschützt diese gesamte Welt
– hast du je von einem an eine Welt gebundenen Wesen
gehört, das auf eine solche Weise mit dem Multiversum in
Wechselwirkung steht? Ich sage es dir geradeheraus, Jace: Du
weißt weniger, als du je begreifen wirst, und ich bin nicht hier,
um die Gefahr, in der diese Welt schwebt, zu beenden. Ich bin
hier, um sie zu verstehen. Um sie aufzuzeichnen. Um die
Wahrheit darüber zu erfahren und diese Wahrheit für alle
Zeiten festzuhalten. Doch diese Welt ist sehr wahrscheinlich
dem Untergang geweiht, und ich habe nicht die Absicht, ihn
aufzuhalten. Es ist gewiss traurig, etwas Schönes zu verlieren,
aber wie die Blüten eines Hains im Frühling ist diese Schönheit
vergänglich. Sie ist nur eine Welt unter zahllosen anderen.
Welten werden stets sterben und neu geboren werden. Deine
grundsätzlichen Annahmen weisen große Fehler auf.“
Jace zuckte zusammen, als hätte er eine Ohrfeige erhalten.
„Aber die Menschen hier – es sind Millionen! Willst du die
einfach ihrem Schicksal überlassen? Dem Wahnsinn und
Schlimmerem? Wir haben die Macht, hier etwas zu bewirken.
Du hast diese Macht. Wirst du mir helfen?“
Tamiyos Miene blieb unverändert, doch ihre Stimme klang
etwas eisiger. „Ich habe dir geholfen, Jace. Ich werde dir einen
Kompromiss anbieten. Ich teile meine Forschungsergebnisse
mit dir und du und deine Freunde können sie dazu
verwenden, ähnliche Katastrophen auf anderen Welten zu
verhindern, wenn ihr es denn so wollt. Doch ich habe schon
zehntausend Geschichten über Helden gesammelt, und ein
Held ist nicht mehr als eine Katastrophe mit einem festen
Standpunkt.“
Der junge Mensch blieb beharrlich. „Ohne schlüssige
Einsichten aus Avacyns Mund wird deine Forschung
unvollständig sein. Ohne klares Ergebnis. Mit meiner Hilfe
kannst du die gesamte Geschichte enträtseln. Und wenn es mir
gelingt, Avacyn im Zuge dessen aufzuhalten, dann würde das
deine Arbeit nicht stören und dabei auch noch unzählige
Leben retten.“
Neugier. Nur ein leiser Anflug. „Ein eindeutiges Verständnis
von Avacyns derzeitigem Zustand wäre zweifellos hilfreich,
doch ich vermute, selbst wenn du imstande wärst, in ein so
fremdartiges Bewusstsein vorzudringen, würdest du ...“
„Ich kann es schaffen.“
Tamiyo fand die Überheblichkeit des Menschen zu gleichen
Teilen ebenso bezaubernd wie irritierend. „Wenn du es
versuchst, wird ihr Wahnsinn dich verzehren, wie er dich
bereits schon einmal verzehrt hat. Aber ... in der Theorie ...
könnte ich dir als Anker dienen. Um dich an deine geistige
Gesundheit zu binden. Falls ich jedoch entscheide, dass wir in
zu großer Gefahr sind, wirst du die Verbindung sofort
abbrechen und wir ziehen uns zurück. Es erfordert zudem, dass
wir unser beider Bewusstseine auf einer sehr fundamentalen
Ebene miteinander verknüpfen. Ich werde dich begreifen und
du wirst mich begreifen. Und falls mir nicht gefällt, was ich da
begreife, werde ich die Bedingungen dieser Übereinkunft
erneut ändern. Du hingegen wirst dann sehr genau erfahren,
wozu ich fähig bin. Ist das für dich akzeptabel?“
„Ich bin einverstanden.“

Jace spürte so etwas wie ein Windspiel in seinem Bewusstsein


erklingen. Ein Geräusch, das klar, friedlich und rein war.
Es war eine Einladung.
Binnen eines Wimpernschlags kannte sie ihn. Doch es war
kein Leichtes, diesen Menschen zu kennen. Sein Geist war
mächtig, aber gebrochen. In tausend Splitter zerschlagen –
jeder von ihnen ein anderer Mann, von denen zahlreiche
versuchten, miteinander auszukommen. Andere hingegen ...
Fakt oder Fiktion | Bild von Matt Cavotta
Er hatte seine eigenen Erinnerungen ausgelöscht. Er hatte
seine eigene Wahrheit zerstört. Er war in das Bewusstsein
Unschuldiger eingedrungen, hatte im Zorn getötet und seine
Macht für nichtige und eigennützige Zwecke eingesetzt.
Und doch ...
Er war zu Opfern, zu Kühnheit und zu Verständnis fähig. Er
war gewillt, Verantwortung zu übernehmen. Vielleicht sogar zu
viel Verantwortung für jemanden, der noch so jung war. Noch
jünger gar, wenn man die Jahre seines Lebens mit einbezog, die
er derart grob ausgelöscht hatte. Sein Streben nach Wahrheit
war aufrichtig, und sein Wunsch, den Menschen dieser Welt
zu helfen, rein.
Und er war sich zu etwa drei Vierteln sicher, dass er zu dem
imstande war, was er ihr zu tun vorgeschlagen hatte.

Binnen eines Wimpernschlags kannte er sie. Doch kennen


hieß nicht verstehen. Jace hatte die Soratima von Kamigawa
stets hoch dafür geachtet, wie streng sie ihren mächtigen
Verstand disziplinierten. Er sah Tamiyos Leben vor sich, und
der Gegensatz zu seinem eigenen bereitete ihm körperliches
Unbehagen. Dort, wo er rastlos war, war sie durch Familie,
Brauchtum und Heimat sicher verankert.
Heimat. Eine endlose Bibliothek hoch oben in den Wolken.
Ein Ort, den sie mehr als alles andere liebte. Das Lächeln und
die süße Vertrautheit ihrer Familie. Kinder. Die Orte, an die
Tamiyo ging, wenn sie diese Kinder verließ, waren ihnen
unbegreiflich, doch ihre Gesichter strahlten so hell, wenn
Tamiyo ihnen Geschichten von dort mitbrachte. Unglaubliche
Erzählungen, in der Stimme der Wahrheit kundgetan – von
Orten, die sie selbst nie zu sehen bekommen würden.
Er sah ihre Last. Die schreckliche Last, zu wissen, und den
Drang, Wahrheiten zu beschützen, die zu gefährlich waren, um
sie auszusprechen, und doch zu wichtig, um in Vergessenheit
geraten zu dürfen. Drei in Eisen gebundene Schriftrollen, jede
von einer solchen Macht, dass ...
Jace.
Ihre Verknüpfung durchlief einen Wandel, und die beiden
Planeswalker richteten ihre Bewusstseine wieder auf die Welt
aus, auf der sie sich gerade befanden.
„Jace, mein Verschleierungszauber wurde durchdrungen. Und
eine mächtige Präsenz ist auf dem Weg hierher.“
Der Mensch nickte, und die beiden Planeswalker eilten einen
Gang hinunter in die große Kapelle der Kathedrale.
„Ich werde versuchen, mit Avacyn Zwiesprache zu halten. Sie
abzulenken. Auf nachdrücklichem Wege, wenn es sein muss.
Du wirst nicht viel Zeit haben, sie aufzuhalten, ehe sie uns
beide tötet.“
Jace öffnete den Mund zu einer Erwiderung, doch dann wurde
die Welt zu einer Sinfonie aus heulendem Wind und
zersplitterndem Glas.
Der Engel schwebte vor ihnen. Die gewaltigen Schwingen
waren von frischem Blut bedeckt, der Speer glühend heiß und
gleißend. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht kündete von
zurückhaltender Belustigung. Tamiyo schwebte zu ihr hinauf,
um ihr in die Augen zu schauen. Die Schwingen des Engels
fachten einen Sturm an; der Aufstieg der Mondfrau vollzog
sich ohne das leiseste Wispern einer sachten Brise.
Avacyns Richtspruch | Bild von Victor Adame Minguez
„Avacyn. Ich bin eine Besucherin in deiner Welt, und ich habe
mich redlich bemüht, ein höflicher Gast zu sein. Ich wünsche
mir nichts weiter als Frieden und Wohlergehen für jene, die du
beschützt. Als Engel erkennst du die Wahrheit in meinen
Worten. Wie lautet deine Antwort?“
Das Gesicht des Engels verzerrte sich zum erbärmlichsten
Spottbild eines Lächelns, das Tamiyo je gesehen hatte, und ein
keckerndes Geräusch drang zwischen den reglosen Lippen
hervor. Avacyns Stimme war ein schmerzhaftes Kratzen, das an
Insekten und Fingernägel erinnerte.
„Wie ... meine Antwort lautet? Ich existiere ... um andere zu
schützen. Vor dir. Eindringling. Invasorin. Fäulnistreiberin.
Unrein! /UNREIN!“
„Ich verstehe“, erwiderte Tamiyo und entrollte eine zuvor
bereit gemachte Schriftrolle. „Das ist bedauerlich.“
Sie musste nicht mehr tun, als einen flüchtigen Blick auf die
Worte auf der Schriftrolle zu werfen. Es war eine Klage, ein
Lied von einer uralten Welt, wo Kälte und Eis ebenso
gefährlich waren wie jede Bestie. Ein Lied von Verlust und
Reue. Sie kannte jede Zeile auswendig.
Das Heulen des Winters
Ein junger Mann trat durch des Berges Tür.
Ein kurzer Weg, nur rasch zu Hof und Zaun.
Des Winters Kälte unter schwerem Schnee
Gefror ihn schnell, nie wieder sollt‘ er tau‘n.

Sein liebes Weib, so jung und schön wie er,


Tat ihr Werk von schlimmer Wahrheit frei:
Das Blut ihres Liebsten gefroren sei.
Da packt sie die Ahnung von Witwenschwarz!
Voller Schrecken schallt nun vom Berg ihr Ruf.
Von der See her steigt nackte Kälte auf.
Von den Hängen hallt der Schrei, den sein Schmerz schuf.
Avacyn stürzte sich mit einem Schlag ihrer gewaltigen
Schwingen vorwärts und Tamiyo glitt durch die Luft, um
gerade noch aus der Reichweite des brennenden Speers des
Engels zu entkommen. Als Avacyn im Dachgestühl der
Kathedrale herumfuhr, entfesselte Tamiyo bestens gezielte,
eisige Böen. Ein paar Federn gefroren und zersprangen, weiß
und rot, und rieselten wie Schnee auf den Steinboden herab.
Der Engel schnellte durch die Luft und holte in einem weiten
Bogen mit dem Speer aus. Tamiyo glitt vorwärts, um den
Angriff zu ködern, und taumelte dann in die entgegengesetzte
Richtung, während weitere Eisstürme sie von der Speerspitze
fortstießen. Sie zielte auf das rechte Handgelenk des Engels
und dann auf das Gelenk der linken Schwinge. Als Tamiyo
erneut hinter Avacyn vorbeiglitt, gab sie einen Windstoß auf
jenen Punkt ab, wo der Flügel aus der Schulter spross. Avacyn
war schnell, und ein einzelner Schlag ihres Speers hätte wohl
Tamiyos Ende bedeutet, doch der Engel kämpfte
wutentbrannt, wohingegen die Soratami sich mit kühler
Berechnung bewegte – Avacyns Gesicht zeigte keine Spur von
Schmerz oder Verbitterung, doch ihre Wendigkeit ließ nach.
Sie wurde langsamer, und die Kathedrale hallte von jenem
unsäglichen Gelächter wider – dem klappernden Rasseln
trockener Knochen und dem Schaben tausender Rattenkrallen.
Tamiyo sandte einen eiligen Gedanken zu Jace, der unten
verborgen war.
Sie passt sich an. Wir haben nicht mehr viel Zeit.
Avacyn hob den Speer, und einen Augenblick lang erkannte
Tamiyo in ihr die Beschützerin aus den Geschichten – jenen
Engel, der den Menschen Innistrads wie ein Leuchtfeuer
gewesen war. Ein gleißendes Licht umgab sie und erhellte
jeden Winkel der Kathedrale. Tamiyo prallte vor seiner Macht
zurück. Das Licht brannte heller, drang wie eine körperliche
Urgewalt auf die beiden Planeswalker ein und zwang Tamiyo
zurück zu Boden und Jace auf die Knie. Gemächlich sank der
Engel herab, den Speer auf Tamiyos Brust gerichtet und all die
Wut mit einem Mal verschwunden – Avacyn war das pure
Ebenbild tödlicher Anmut.
Beinahe hatte sie ihr Ziel erreicht ...
Und dann erstarrte sie. Das Licht erlosch nicht, doch ihre
Bewegungen hatten aufgehört. Sie stand nur wenige Schritte
von Tamiyos steifer Gestalt entfernt, den Speer nach vorn
gestreckt ... und dort blieb sie. Kein Atem, kein Rascheln von
Gefieder. Völlige Reglosigkeit. Doch das lähmende Licht drang
noch immer auf sie ein.
„Es ist getan, Tamiyo. Sie, nun, sie schläft nicht wirklich, doch
das ist das, was dem am nächsten kommt.“
„Jace, vielleicht ist es deiner Aufmerksamkeit entgangen, aber
...“
„Ich arbeite daran. Aber hör mir zu. Sie ist die Quelle des
Wahnsinns der Engel. Sie bringen sich irgendwie in Einklang
mit ihr. Und durch sie gilt das auch für die Kirche. Aber ... sie
ist nicht der eigentliche Ursprung. Sie wird von etwas anderem
beeinflusst, und – du hattest recht! Sie hält noch irgendetwas
anderes zurück. Ich kann es noch nicht sehen, aber ich glaube,
ich kann noch etwas tiefer vordringen ...“
„Jace, das reicht.“
„Warte. Nein. Das ist ...“
Die Luft füllte sich mit dem Geruch von Aas. Avacyns Licht
wurde nicht schwächer, doch die Anmut von Glorie
verschwand daraus: Das Licht war kalt, übelerregend, klebrig
und grausam. Tamiyo schien vergessen. Der Engel wandte sich
zu Jace und ging entschlossen zu seiner zusammengekauerten
Gestalt hinüber.
„Schänder“, flüsterte sie mit einer Stimme wie in lodernden
Flammen zu Asche zerfallender Haut. „Dieb. Eitergeschwür der
Verderbtheit.“ Sie fasste hinunter und legte ihm Hand auf die
Brust. Alles, was sie ihm womöglich sonst noch zuflüsterte,
wurde von seinen Schreien übertönt.
Avacyn die Läuterin | Bild von James Ryman
Tamiyo konzentrierte sich auf das Band zwischen ihnen und
versuchte, ihm Trost zu spenden und seine Schmerzen zu
lindern, bevor das Ende kam. Ganze Schichten seines
Bewusstseins waren bereits abgeschabt und im qualvollen Griff
des Engels zu jämmerlichem Elend zerronnen. Doch sein
Bewusstsein bestand aus vielen Schichten und war gut
geschützt. Der Schmerz hatte seine tiefsten Gedanken noch
nicht erreicht.
Tamiyo. Die Schriftrolle. Die eiserne Schriftrolle. Du hast sie
mir gezeigt. Eine alte Geschichte. Eine mächtige Geschichte.
Die Überlebenden eines Ortes, der verloren war ... Serras
Reich. Der Kataklysmus, die Macht ... Die Geschichte passt.
Das weißt du. Du kannst das hier aufhalten.
Selbst als sie seine Todesqualen spürte, selbst als sie spürte, wie
er zu sterben begann, selbst in dem Wissen, dass sie die
Nächste sein würde, zögerte sie nicht mit ihrer Erwiderung.
Und dann? Sie beschützt noch immer diese Welt, Jace, trotz
ihres Wahnsinns. Hast du je ein Versprechen gegeben, Jace?
Ich gab eines, vor langer Zeit. Und Versprechen sind nicht nur
dazu da, dass man sie hält, wenn es leicht ist. Wir geben
Versprechen für Zeiten wie diese, wenn wir sie am liebsten
unbedingt brechen wollen. Nein, Jace. Die Schriftrolle bleibt
verschlossen.
Ungläubigkeit. Wut.
Es tut mir leid, Jace. Manchmal müssen unsere Geschichten
ein Ende finden.
ace und Tamiyo sind einer Spur aus Hinweisen bis zur
Kathedrale von Thraben gefolgt, dem Sitz des wahnsinnigen
Engels Avacyn. Dort hat Avacyn sie angegriffen, und es ist nun
ein erbitterter Kampf zwischen den dreien entbrannt. Bislang
ist es Jace nicht gelungen, Avacyns göttliche Macht in Schach
zu halten, und Tamiyo ist nicht gewillt, einmal gegebene
Versprechen zu brechen, nur um sein Leben zu retten. Avacyn
setzt dem Paar heftig zu und wird sie bald beide vernichtet
haben.

Avacyns Richtspruch | Bild von Victor Adame Minguez


Die beiden Teufel kauern vor mir, ein Schandfleck am Boden
der Kathedrale. Sie schlagen die Augen nieder, denn sie sind
meines Anblicks nicht würdig.
Ich weiß, dass sie nicht von dieser Welt sind, doch ich weiß,
dass sie bluten. Ich spüre den Herzschlag unter ihren Kehlen,
unmittelbar vor der Doppelspitze meines Speers. Nur noch ein
sanfter Stoß, und ich demaskiere diese dämonischen
Geschöpfe, um sie in ihren verdienten Untergang zu schicken
und die Welt von ihrem Übel zu erlösen.
Ich bin Avacyn. Ich existiere, um andere zu schützen.
Der eine der beiden – die Kreatur im blauen Mantel – wendet
sich flehend an mich. Wenn er spricht, sehe ich Würmer aus
seinem Mund quellen. „Avacyn, du bist nicht du selbst“,
keucht er, während er sich mit einer Klaue den Kopf hält. „Du
musst das nicht tun.“ Die Worte kriechen in die Schatten
davon wie Tausendfüßler.
Mehr noch als mein Speer ist mein Blick meine stärkste Waffe.
Meine Augen sehen mehr, als die Menschen je begreifen
könnten – mehr noch sogar als die anderen Engel. Ich sehe die
himmlischen Boten in den Buntglasfenstern und wie sie sich
ehrfürchtig vor mir verneigen. Ich sehe das Mondlicht, das
mich auf all meinen Reisen begleitet – selbst hier, im Inneren
der Kathedrale – , und die weiß gefiederten Tauben, die von
überall dort aufstieben, wo meine Füße den Boden berühren.
Doch noch vor allem anderen sehe ich den zuckenden,
gallertartigen Schleim hinter den Gesichtern um mich herum.
Ich sehe die ungeheuerlichen, verborgenen Lügen, die sich in
menschliche Gestalt gehüllt haben.
Es gibt nur mich, der sie ins Licht der Gerechtigkeit zerren
könnte.
„Du bist krank oder einem Irrtum aufgesessen“, sagt der andere
Teufel, die langen Ohren straff hinter den Kopf gezogen. Seine
Augen sind nur leere Höhlen, und dahinter sehe ich nichts als
borstiges, schwarzes Haar, das sich träge windet. „Du bist dazu
bestimmt, die Leute zu beschützen, und nicht ... hierzu.“
Ich strecke die Hand nach ihr aus und mein Licht stößt die
Dämonin zurück. Sie wird gegen eine Wand geschleudert,
hustet und die Geräusche, die ihr entfahren, verwandeln sich
in strohige, schwarze Borsten.
„Ich bin das Bollwerk gegen fremde Teufel“, sage ich und
richte meinen Speer auf sie. Seine Spitze verformt sich zu
einem anklagenden Finger. „Ich vernichte sämtliche
Verderbtheit, ungeachtet ihrer Herkunft oder Gestalt. Ich habe
dich gesehen, wie du durch meine Provinzen geschlichen und
in meine Kirche gekrochen bist. Doch nun erst sehe ich dich.
Und nun hast du dich mir gegenüber zu verantworten.“
Ich rufe das Licht und es gehorcht. Ein kaltes Flackern formt
sich in meiner Hand, und die Schatten meiner Finger fallen
auf die erzitternden Dämonen. „Endlich“, sage ich, „werdet ihr
nicht länger eure Verderbnis über Innistrad bringen.“
Etwas regt sich auf dem Dach. Ich schaue nach oben und sehe,
wie das Oberlicht zersplittert und ein Mann mit den Füßen
voran durch es hindurchbricht. Farbige Splitter regnen in die
Kathedrale hinab. Das Glas prallt von meiner Haut ab,
während die Dämonen ihre Köpfe schützen.
Bild von Wesley Burt
Der Mann landet mit einem Schwert in der Hand auf den
Füßen. Er richtet sich auf. Unter seinen Stiefeln knirschen
Glassplitter. Er ist unversehrt, sein weißes Haar kaum zerzaust.
Hinweis-Spielstein | Bild von Franz Vohwinkel
Er ist einer der Blutsauger. Einer der alten seiner Art. Ich
erkenne ihn. Sein Name liegt mir auf der Zunge.
„Tritt beiseite, Vampir“, sage ich. „Um dich kümmere ich mich
als Nächstes.“
Sein Leib versperrt mir jedoch den Weg. Er hat seine Waffen
bereits gezückt: ein langes Schwert in der einen und einen
Zauber in der anderen Hand.
„Etwas stimmt nicht mit dir, Avacyn“, sagt der Vampir. Sein
Mund gleicht einem Egel, die Worte winden sich um einen
blutigen Kreis aus Fangzähnen. „Ich bin hier, um dir zu
helfen.“
„Versuche nicht, dich zwischen mich und meinen Speer zu
stellen, Blutsauger, oder du wirst ihn selbst zu spüren
bekommen.“
Mir mag sein Titel nicht mehr einfallen wollen, doch
ich sehe ihn. Sein Gesicht wimmelt von Egeln, die unter seiner
Haut umherkriechen. Er stinkt nach Blut.
„Avacyn“, sagt er. „Ich möchte, dass du mich hinunter in den
Keller begleitest. Du wirst sehen, was ich tun muss, wenn du
dich nur einen Augenblick geduldest.“
„Meine Aufgabe duldet keinen Aufschub“, antworte ich. Ich
werfe ihm die heilige Magie entgegen und sie trifft ihn mitten
in die Brust.
Der Vampir zeigt sich völlig unbeeindruckt.
„Avacyn“, sagt er. „Der Keller. Wir haben etwas zu erledigen.“
„Sorin“, sagt eine der Kreaturen hinter ihm. Ihre leeren Augen
sind auf den Vampir gerichtet. „Du kannst ihr helfen, oder?“
„Schweig!“, herrscht er sie an und die Dämonen zucken vor der
Macht in seiner Stimme zusammen. Er wendet sich wieder an
mich. „Hör mir zu. Wenn du einen Groll gegen diese beiden
hier hegst, kannst du sie gerne töten, ehe wir anfangen.“
Die beiden Teufel blicken einander an.
„Doch ich werde dir nicht gestatten, diesen Ort zu verlassen,
bevor unsere Aufgabe nicht erfüllt ist.“
Im Gebälk hoch über uns rascheln gefiederte Schwingen. Die
Augen etwa eines Dutzends meiner gesegneten Engel sind auf
uns gerichtet, blitzend und schön wie die Sterne zur
Mitternacht.
Ich stelle fest, dass ich mich etwas frage. Ein Engel ist aus Güte
geschaffen – doch schaffen die Taten eines Engels Güte? Ich
weiß nicht, warum sich mir diese Frage gerade in diesem
Augenblick aufdrängt.
„Ich warne dich, Vampir“, sage ich. „Diese Eindringlinge
stellen die schlimmste Bedrohung auf ganz Innistrad dar, aber
du bist im Begriff, ihnen in meinen Augen den Rang
abzulaufen. Hinfort mit dir, oder ich und die meinen strecken
dich nieder.“
Immer wachsam | Bild von Chase Stone
Ungehorsam tritt er auf mich zu. Ich überschütte ihn mit
heiligem Licht, doch erneut scheint der Zauber ihm nichts
anhaben zu können. Er neigt den Kopf. Sein Blick wirkt
beinahe besorgt, aber sein egelgleiches Maul zieht sich
zusammen, wie um mich zu verspotten. Ich höre Gelächter.
Der Hauch eines Zweifels schleicht sich in meinen Geist –
nicht, dass ich ihm unterliegen könnte, sondern vielmehr, dass
ich im Augenblick des Zauberns gezögert haben könnte.
Womöglich hielt ich mich selbst davon ab, ihn
niederzustrecken. Ich weiß allerdings nicht, warum dem so
gewesen sein sollte.
Ich höre die Schwingen der Engel, die sich im Dachgebälk über
mir niedergelassen haben, und ich spüre den Blick aus ihren
sternenhellen Augen auf mir. Ich stähle mich in ihrem Licht.
Als ich meine Speerspitze auf den Vampir richte, krümmt sie
sich zu einer Klinge der Gerechtigkeit.
Der Vampir macht einen weiteren Schritt, sodass seine Brust
die Spitze berührt. „Avacyn“, sagt er mit seinem blutigen
Mund. „Du kannst mir nichts anhaben.“ Er streckt eine Hand
nach mir aus. „Und dafür gibt es einen Grund.“
Die nächsten Worte, die er sagt, hinterlassen Spuren in mir. Es
sind nur Geräusche, nur Schwingungen in der Luft. Doch ich
spüre sie wie ein Schnitzmesser. Wie das Brandzeichen eines
Inquisitors.
„Ich bin dein Schöpfer“. sagt er.
Die Worte fühlen sich alt an, als wären sie irgendwie in mein
Innerstes gemeißelt worden und als hätte sich inzwischen
Staub in den Rillen angesammelt. Doch nun weht der Staub
fort und ich sehe ihn.
Er ist Sorin aus der Blutlinie der Markovs. Ich sehe ihn. Sein
Mund ist nicht rund wie der eines Egels – ich weiß nicht,
warum ich ihn zuvor so wahrgenommen habe. Seine
weißschwarzen Augen und hohen Wangenknochen ähneln
den meinen.
Er ist mein Schöpfer. Diese Wahrheit ist mir nun vollkommen
klar. Wenn ich ihn sehe, sehe ich mich selbst.
Er ist der Grund, aus dem ich bin. Er war da, als ich erschaffen
wurde – der Mann, der sich in jenem Augenblick, in dem mein
Dasein begann, über mich beugte. Er war es, der mir meine
Aufgabe gab. Meine Erschaffung geschah hier, in den Tiefen
ebendieser Kathedrale. Ich weiß nun, dass er mich – Innistrads
Gottheit – zu einem bestimmten Zweck gemacht hat.
Ich bin Avacyn. Ich existiere, um andere zu schützen.
Um Bedrohungen für Innistrad auszumerzen. Um die Gebete
der Unschuldigen zu erhören und um jene zur Strecke zu
bringen, die ihnen ein Leid zufügen wollen. Um jene zu
schützen, die sonst von den Schatten dieser Welt verschlungen
werden würden.
„Du bist mein Schöpfer“, sage ich.
„Ja.“
„Dann musst du gütig sein“, sage ich.
Das Lächeln meines Schöpfers ist sanft und zeigt nur die
leiseste Andeutung eines Fangs.
„Du bist der Ursprung“, sage ich. „Mein Ursprung. Und daher
auch der der Güte.“
„Das ist wahr, Avacyn. Und um das höchste Ziel deines
Daseins zu erreichen, musst du dich mir anschließen. Komm.“
Er streckt die Hand nach mir aus, doch etwas lässt mich
zögern.
Ich blicke auf die beiden Menschen, gegen die ich gerade
gekämpft habe. Sie stehen mit dem Rücken zur Wand des
Mittelschiffs. Sie sehen noch immer wie Teufel aus, doch
zugleich auch wie eine Frau und ein Mann. Magier. Sterbliche.
Ihr Blut ist in meiner Kathedrale vergossen worden. Ich rieche
den scharfen Geruch wie von Kupfer auf meiner Klinge. Doch
dies ist nur möglich, wenn sie verderbt sind. Was außer
Ungeheuern sollten sie denn schon auch sein, wenn ich sie
niedergestreckt habe? Ein Engel ist aus Güte geschaffen –
schaffen die Taten eines Engels Güte?
Mein Schöpfer schaut mich prüfend an. Seine Augen sind kalt,
als sie mein Gesicht mustern. Ich sehe seinen Pulsschlag unter
der bleichen Haut seines Halses, die Ader, in der das warme
Blut eines anderen fließt.
Ich bin Avacyn. Ich existiere, um andere zu schützen.
Aber
Bilder wirbeln um mich herum.
ich
Brennende Dörfer.
habe
Erschlagene Unschuldige.
niemanden
Eine Mutter, die um ihr Kind weint.
beschützt.
Ich habe diese Brände gelegt. Ich habe diese Unschuldigen
getötet. Ich wurde als Verteidigerin, als Beschützerin erschaffen
– und habe doch nichts als Zerstörung gebracht. Und ich war
nicht nur eine Beschützerin, sondern gleichzeitig auch ein
Symbol. Eine ganze Kirche bildete sich um mich herum – doch
diese Kirche schürte einen brennenden Hass und meine Macht
hat diese Flammen angefacht.
Was bedeutet es, gütig zu sein? Schaffen die Taten eines Engels
Güte?
Ich blicke auf meinen Schöpfer und neige den Kopf.
Ich wurde erschaffen, doch ich bin mit einem Makel behaftet.
Mein Blick ist getrübt. Ich bin keine Beschützerin, sondern nur
eine Gefahr, eine Waffe für all jene, die sie führen wollen, um
dieser Welt zu schaden.
„Du“, sage ich.
Ich richte mich vor meinem Schöpfer zu voller Größe auf und
breite einmal kurz die Schwingen aus. Mondlicht fällt auf
meinen Leib. Meine Haut leuchtet, und ich sehe Tauben, die
mich in der Kathedrale umkreisen. Ich weiß nun, was ich zu
tun habe.
„Avacyn“, sagt Markov mit tiefer, raubtierhafter Stimme.
„Abkömmling Markovs“, sage ich und hebe den Speer. Die
Spitze biegt und windet sich, als wollte sie sich ihm unbedingt
in die Brust senken. „Du hast zugelassen, dass dies geschieht.“
„Du solltest vorsichtig sein, wie du mit mir sprichst, mein
Kind“, sagt Markov.
„Ich bin nicht dein Kind“, sage ich. „Ich bin deine Schöpfung.
Du bist für all das verantwortlich, wozu ich fähig bin. Meine
Erschaffung diente nur einem deiner Zwecke, und dieser Zweck
war unrein. Sorin Markov, ich verdamme dich als das größte
Übel dieser Welt.“
„Du vergisst dich“, presst Markov zwischen
zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Warte, Sorin“, warnt einer der Teufel. „Tu es nicht. Die
Folgen für diese Welt –“
„Wie kannst du das zulassen?“, frage ich. „Warum hast du
mich auf diese Weise erschaffen?“ Ich drücke ihm den Speer
gegen die Brust und kratze seine Rüstung an.
Markov schnaubt verächtlich. Die Klinge in seiner Hand blitzt
im Licht aus dem Dachgebälk. „Avacyn, komm hinunter in den
Keller“, sagt er. „Sprechen wir über deine Erschaffung.“
„Du hast mich erschaffen, um sicherzustellen, dass sämtliche
Verderbtheit ein Ende findet“, sage ich. „Bereite dich nun auf
deines vor.“
Ich stoße mit all meiner göttlichen Macht mit dem Speer zu.
Irgendwie jedoch verfehlt die Klinge seine Brust und ich stürze
an ihm vorbei. Er schleudert mir schwächende Magie nach,
doch ich kann mich rechtzeitig umdrehen, um sie abzuwehren.
Ich schlage nach ihm und leite Licht in den Hieb. Mein Angriff
trifft, schlägt jedoch nur Funken auf seiner Rüstung.
Er holt nach mir aus und erwischt mich mit der flachen Seite
seiner Klinge. Der Schlag ist dennoch kräftig genug, um mir
die Rippen zu prellen.
Ich hebe den Speer mit beiden Händen und richte die tödliche
Spitze nach oben. Ich lenke meinen Zorn in die Waffe, die vor
göttlicher Macht zu surren beginnt.
„Du wurdest erschaffen, um mir zu gehorchen“, sagt Markov.
„Du kannst mir nichts anhaben.“
„So scheint es“, sage ich. „Doch sie können es.“
Er blickt hinauf und sieht die Engel, die ich herbeigerufen
habe. Sie stoßen aus dem Dachgebälk herab. Ihm bleibt gerade
noch die Zeit, sein Gesicht zu schützen, ehe sie sich auch schon
auf ihn stürzen. Ihre schlanken Hände reißen wie Krallen an
ihm.
Er wehrt sich, und seine Hiebe sind entsetzlich. Er spießt einen
Engel mit seinem Schwert auf und durchtrennt die Schwinge
eines anderen. Er schleudert einen Engel so heftig zu Boden,
dass der Marmor birst, und einen weiteren durch eine Säule,
die dabei zu Staub zerfällt. Einen dritten Engel, der ihm
Gesicht und Schulter mit wütenden Klauenattacken überzieht,
nimmt er am Hals. Ich leihe dem Engel meine Stärke, doch ich
sehe, wie seine Essenz in den Vampir übergeht – als dunkle
Flüssigkeit, die in Fäden aus Augen und Mund in ihn
hineinströmt. Der Engel krümmt sich krampfartig zusammen
und wirkt wie eine in Todesqual erstarrte Krähe.
Der Vampir wendet sich zu mir. Sein Leder ist zerfetzt und sein
Brustpanzer zerschrammt. Meine Engel haben ihn geschwächt,
aber er ist noch längst nicht besiegt. Er tippt mit der Spitze
seines Schwerts auf den Marmor. „Das ändert nicht das
Geringste, Avacyn“, sagt er.
Einen nach dem anderen vernichtet er meine Engel. Er stürmt
auf einen zu und rammt ihn durch Reihe um Reihe aus
steinernen Kirchenbänken. Als der nächste auf ihn
herniederfährt, wirbelt er sein Schwert über dem Kopf, bis sich
die Klinge dem Engel in die Brust senkt und ihn aufspießt.
Mein Geschwister sackt in sich zusammen. Er packt den letzten
Angreifer an den Schultern, blickt ihm in die Augen und wirft
ihn dann durch ein deckenhohes Buntglasfenster. Die Wand
zerspringt in tausend Splitter. Der Engel wirbelt von der Klippe
hinab in die Tiefe.
Markov wendet sich erneut mir zu und entblößt knurrend
einen seiner Fänge. Ich lege ihm die Klinge meines Speers an
den Hals, doch ich spüre, wie sie sich weigert, ihn zu verletzen.
Ich drücke stärker, doch sie will ihm nicht in die Haut
schneiden.
Ich blicke ihm unverwandt ins Gesicht. Ich rufe mir in
Erinnerung, dass er kein vampirischer Adliger, sondern nur ein
Schrecken ist. Er ist ein Ungeheuer, ein Blutdämon, ein Egel.
Und ich sehe ihn wiederum neu. Seine Augen werden zu
Mündern, umrahmt von Zähnen. Sein Gesicht ist eine
durchscheinende Maske. Er ist mein Schöpfer und die
Verkörperung des Bösen.
„Avacyn“, setzt er durch seinen Egelschlund an, und ich
schlitze ihm mit meinem Speer den Hals auf, tief genug, um
auf Knochen zu treffen.
Er brüllt auf, springt zurück und fasst sich an die Kehle.
Fauliger Schleim quillt ihm zwischen den Fingern hervor, der
sich auf den Steinplatten in einen kränklich grünen Pilz
verwandelt.
Er springt auf mich zu, das Schwert auf mein Herz gerichtet.
Die Klinge sprüht Funken, als ich sie mit meinem Speer
pariere. Ich wirble herum, um nach ihm zu schlagen, doch ich
muss seiner Klaue ausweichen und sein Hieb durchtrennt
mehrere Sehnen in meiner Schwinge. Als ich aushole, um
Licht durch ihn hindurch zu zwingen, trifft es auf einen Schub
von Blutmagie, der meinen Zauber zerfasern lässt. Ich kreische
und stürze mich auf ihn, durchbreche eine Säule mit seinem
Leib und ramme ihn durch Glas und zersplittertes Holz, bis er
gegen die Wand der Kathedrale prallt.
Das Ungeheuer neigt den Kopf zur Seite und ich höre
Knocken knacken. Seine Halswunde hat bereits zu vernarben
begonnen.
Aus den Mündern in seinen Augenhöhlen triefen Worte.
„Avacyn. Ich muss das tun.“
„Und ich dies“, sage ich und treibe meinen Speer in den Riss
im Brustpanzer des Ungeheuers, so tief, dass die Klinge auf den
Granit der Mauer der Kathedrale auf der anderen Seite trifft.
Er brüllt auf, und ich werde nach hinten geworfen. Schlitternd
komme ich zum Stehen. Markov umklammert den Griff des
Speers und reißt die Klinge heraus. Einen Augenblick lang sehe
ich jenes schleimige Tier, das ihm wohl als Herz dient. Sich
umeinander windende Neunaugen quellen aus der Wunde. Er
lässt den Speer und sein eigenes Schwert fallen, sie prallen
krachend gegeneinander. Er greift mit einer Klaue nach seiner
Wunde.
„Du bist verloren“, stößt er hervor. „Du kannst mich jetzt nur
als Ungeheuer sehen, und nur deshalb kannst du mich
verletzen.“
„Du befleckst diese Welt“, sage ich. „Erst jetzt bin ich
imstande, das klar zu erkennen.“
Sein Angriff kommt plötzlich, fast schneller als der Klang
seiner Worte.
Wir ringen und umklammern unsere Schultern mit den
Händen. Wir rammen uns wechselseitig durch Kirchenbänke.
Wir tragen einander hinauf ins Dachgebälk, zertrümmern die
Träger dort und unser Kampf findet seine Fortsetzung in
Wolken aus Staub und Federn. Ich kratze nach seinem
geifernden Gesicht. Die Wunder verheilen nicht sofort. Meine
Finger finden Fleisch und reißen es in Fetzen. Beißender
Rauch sickert aus den Wunden, während große
Trümmerstücke der Kathedrale von Thraben tief unter uns auf
dem Boden zerschellen.
Er verzieht das Gesicht und krallt sich plötzlich in meine
Oberarme. Er hält mich fest, während ich mit den Schwingen
schlage, um uns in der Luft zu halten. Seine Muskeln sind
stählern, und er biegt mir die Arme hinter den Rücken, wobei
er mir eine Schulter ausrenkt. Ich erkenne, dass er sich bislang
zurückgehalten hat. Nun zeigt er seine wahre Stärke.
Er beißt mir in den Nacken, und der Schmerz gleicht den
Schreien Tausender Unschuldiger, Tausender Hilferufe,
Tausender Gebete, die ich nie erhören können werde. Ich
spüre, wie mein Blut durch meine Kehle rauscht und aus mir
herausgesaugt wird.
Nicht die Schwerkraft oder die Schwäche meiner Schwingen
lässt uns fallen. Wir fallen, weil er uns hinabzieht. Seine Kraft
zwingt uns mit Wucht vom Dach der Kathedrale zu Boden.
Durch den Boden hindurch.
Als wir aufprallen, liegen wir im Keller der Kathedrale von
Thraben, ein gezacktes Loch aus Marmor über uns. Markovs
Schwert tanzt am Rand des Lochs und fällt dann zu uns
herunter. Es landet mit der Spitze im Stein.
Ich berühre den kalten Boden und taste nach meinem Speer.
Ich kann ihn nicht finden. Er muss noch oben sein.
Stattdessen berühre ich eine dunkle Form, eine Brandnarbe im
Boden. Die Überreste eines mächtigen Zaubers. Sie haben die
Form von Flügeln. Engelsflügeln.
Gruft des Erzengels | Bild von John Avon
Über uns rufen die Teufel Warnungen. Ihr Flehen hallt durch
die Kathedrale. Für mich klingt es wie nicht erhörte Gebete.
„Du solltest diesen Ort kennen“, sagt Markov. Er klettert von
mir herunter und wischt sich sein Maul voller Fangzähne ab.
„Dies ist der Ort, an dem du erschaffen wurdest.“
Ich stehe auf. Die Wunde an meinem Hals blutet, doch ich
lasse sie bluten. Irgendwie fühlt sich das an diesem Ort wie
eine Heilung an. „Wo du mich zu dem gemacht hast, was ich
bin“, sage ich.
„Lass mich dir helfen, mein Kind“, sagt das Ungeheuer. „Ich
könnte ... deinen Geist reinigen. Dich erneut zu einem
Werkzeug der Tugendhaftigkeit machen. Dich erneuern.“
Niemals. „Wenn ich nicht die Tochter bin, die du willst ...“,
sage ich.
Er zuckt zusammen.
„... dann müssen wir einander erneut bekämpfen, wieder und
wieder. Auf ewig. Denn ich werde niemals nachgeben. Ich bin
nicht das Werkzeug eines Ungeheuers. Von jemandem wie dir
lasse ich mich nicht verändern.“
Ich spüre, wie meine Kräfte zurückkehren, hier an diesem
heiligen Ort. Man kann mich nicht erschöpfen. In einem
Augenblick werde ich bereit sein, ihn ein weiteres Mal
niederzustrecken.
„Nein“, sagt Markov. „Dies endet hier. Sofort.“
„Ich weiß, was du tun wirst“, sage ich. „Nur zu. Erschaffe einen
weiteren silbernen Kerker. Sperre mich ein. Das ist die einzige
Möglichkeit, mich davon abzuhalten, alles in meiner Macht
Stehende zu tun, dich zu vernichten.“
„Der Kerker ist nicht mehr“, sagt er. „Ich kann keinen neuen
Höllenkerker erschaffen, ebenso wenig, wie ich dich erneut
erschaffen könnte.“
Ich sammle meine Kräfte. „Du bist mein Schöpfer. Du musst
das Wesen dieser Welt kennen. Was nicht vernichtet werden
kann, muss gebunden werden.“
Markov zieht sein Schwert aus dem Steinboden. Seine Worte
sind leise. „Aber Avacyn ... Du kannst vernichtet werden.“
Schmerzerfüllte Auslöschung (Game Day Promo) | Bild
von Viktor Titov
Ich kann sein Gesicht nicht sehen, denn er hat sich von mir
abgewandt. Ich kann nicht sehen, ob er Ungeheuer oder
Mensch ist. Ich sehe nur die Spitze dieses Schwertes. Ich höre
nur uralte Worte – Worte eines rückwärts durchgeführten
Rituals, Worte von einer entzogenen Gabe. Ich spüre nur, wie
meine Knie auf den unbarmherzigen Boden der Kathedrale
aufschlagen. Ich rieche nur die Asche von etwas, was in der
Nähe schwelt. Ich kann nur den Schatten unter mir am Boden
berühren, jene Form, die den allerersten Augenblick meines
Daseins kennzeichnet.
Ich kann dir nun, in meinem letzten Gebet an diese Welt, nur
sagen, dass ich stets die Unschuldigen vor Schaden bewahren
wollte.
Ich bin Avacyn. Ich existiere, um andere zu schützen.

Heilige Justiziarin | Bild von David Rapoza


Selbstloser Katharer | Bild von Slawomir Maniak
Mondlichtmystiker | Bild von Wesley Burt
Geist von Sankt Traft | Bild von Daarken
Emporgereckte Banner | Bild von Mike Bierek
Zunehmende Hingabe | Bild von Daniel Ljunggren

„Was hast du getan?“, wollte Jace wissen.


Rauch stieg von der verbrannten Stelle am Boden auf und
kräuselte sich in den hellen Lichtstreifen aus einem der
Oberlichter der Kathedrale. Avacyn war nicht mehr. Aus
irgendeinem Grund fühlte die Kathedrale sich nun viel zu groß
an. Es gab zu viel Raum im Dachgebälk. Alles war zu leer.
Jaces Blick pendelte zwischen dem Ort, an dem eben noch
Avacyn existiert hatte, und Sorins Gesicht hin und her. Der
Vampir zitterte leicht. Er hatte die Fäuste um sein Schwert
geklammert, als versuchte er, ein Erdbeben in seiner Brust
zurückzuhalten.
„Ich musste es tun“, flüsterte Sorin.
Jace gestikulierte ungläubig, denn er war völlig unfähig, zu
einer Entscheidung darüber zu gelangen, welches der elf Dinge,
die an dieser Aussage falsch waren, er zuerst ansprechen wollte.
Schließlich wandte er sich zu Tamiyo. „Musste er?“
Tamiyo runzelte nur die Stirn. Sie raffte ihre Roben und ging
in die Hocke, um eine behandschuhte Hand nach den
Überresten aus Asche auszustrecken. Sie erhob sich wieder und
zerrieb die Asche zwischen ihren Fingern. Sie legte die Hand
auf ein kleines Fernglas an ihrem Gürtel, wie ein Krieger, der
nach einer vertrauten Waffe greift, und hielt den Blick auf Jace
gerichtet. „Dies wird ... Folgen haben“, sagte sie.
Jace nickte. „Die Bewohner dieser Welt haben eine
Beschützerin verloren.“
Ein lang gezogenes, kehliges Grollen donnerte über den
Himmel, tief und dröhnend. Das Geräusch traf Jace wie ein
Schlag gegen die Brust und ließ Staub von der Decke rieseln.
Tamiyo blickte ernst. „Die Welt hat ihre Beschützerin
verloren“, sagte sie.
Die Welt grollte erneut, dieses Mal unter Jaces Sohlen. Der
Boden bäumte sich auf. Die Stöße wurden von Wimpernschlag
zu Wimpernschlag stärker. Bodenplatten bebten in ihrem
uralten Mörtel. Splitter aus buntem Glas erzitterten und fielen
taumelnd aus ihren bleiernen Rahmen, die Avacyns Gesicht
zeigten, und der klirrende Klang hallte durch die leeren
Gewölbe.
Das Beben wurde schwächer. Der Nachhall verstummte.
Jace sah zu, wie Sorin sein Schwert in die Scheide steckte und
sich mit hochgestelltem Kragen und hängenden Schultern
abwandte. Der Vampir glitt eine Treppe hinauf. Seine
Fingernägel kratzten Rillen in das marmorne Geländer.
Die Stufen waren in der Mitte eingesunken und abgetreten,
wie Jace bemerkte. Abnutzung durch Jahrhunderte voller
Schritte. Jahrhunderte voller Jünger. Jahrhunderte voll von
jenen, die nach Avacyn gesucht hatten.
„Was hast du getan?“, rief Jace ihm nach.
Die Welt Innistrad verfällt nun schon seit geraumer Zeit dem
Wahnsinn. Von Kultist bis Katharer ist kein Verstand vor ihm
sicher. Selbst Engel sind ihm schon zum Opfer gefallen. Avacyn
selbst wurde wahnsinnig und verwandelte sich von einer
Beschützerin in ein Ungeheuer, das sogar unter ihren treuesten
Anhängern unfassbar grausam wütete. Dann wurde sie
vernichtet. Und nun, da seine Beschützerin tot ist, ist Innistrad
einer erdrückenden Übermacht der Dunkelheit und des Bösen
hilflos ausgeliefert, und die wenigen, die noch bei klarem
Verstand sind, fragen sich, ob dies das Ende ist. Während die
Welt zusehends aus dem Gleichgewicht gerät und ihrem Ende
entgegenblickt, beten die Menschen, dass etwas oder jemand
mächtig und gut genug sein möge, um Avacyns Platz
einzunehmen und sie vor der Dunkelheit zu beschützen, die sie
in den Wahnsinn treibt.
Heute
Der Geruch von Engelsblut. Im gesamten Multiversum gab es
nichts Vergleichbares: ein beißender Duft, süß und modrig,
mit einem Hauch von Würze und scharf vor Macht. Das
Aroma drang in Arlinns Wolfsschnauze, als sie den steilen
Abhang einer Schlucht auf die belagerte Stadt Lammholt zu
hinaufrannte. Fluchend knurrte sie ob dieses Geruchs. Sie war
nicht schnell genug gewesen. Sie hätte diejenige sein sollen, die
die Wunde schlug, den Engel niederstreckte und sich seinen
Zorn verdiente. Sie war die Beschützerin des Ulvenwalds.
Schneller.
Aus der Ferne war sie Zeugin gewesen, wie der wahnsinnige
Engel Lammholt angegriffen hatte und das göttliche Wesen
zwischen den Dächern und Kirchtürmen herabgestoßen war.
Darauf waren Entsetzensschreie und Lichtblitze gefolgt.
Augenblicke später war der Engel mit blutigen Schwingen und
brennendem Schwert wieder emporgestiegen, nur um sich ein
weiteres Mal auf die Menschen herabzustürzen.
Flammenklingen-Engel | Bild von Cynthia Sheppard
Obwohl Arlinn nicht hatte sehen können, was sich unterhalb
der Dächer abgespielt hatte, konnte sie es sich lebhaft
vorstellen. Wahnsinnige Engel taten im Grunde stets das
Gleiche. Sie waren gebrochen, untröstlich und schrien
weinend Avacyns Tod in die Welt hinaus, während sie über
den Himmel torkelten. Es schien undenkbar, dass Avacyn
tatsächlich tot war, doch der Riss im Gefüge Innistrads ließ
sich unmöglich leugnen. Ein Riss, der sich rasch mit dem
Wehklagen der Unschuldigen, dem Brausen von Flammen und
dem gehässigen Gelächter verderbter Wesenheiten füllte.
Der verzweifelte Klang eines Katharerhorns – eines der
Goldnacht, wie sie dem Klang entnehmen konnte – spornte
Arlinn an. Sie zog Kraft aus dem Wald, lenkte sie in die
dicken, unablässig arbeitenden Muskeln an ihren Beinen und
trieb sich zu größerer Eile auf ihrem Weg den Abhang hinauf
an. Schneller. Doch sie fürchtete, dass sie bereits zu spät sein
würde. Blut war vergossen worden, und nicht nur das von
Engeln. Auch Menschenblut. Die Katharer. Arlinn sah sie vor
sich, die heiligen Waffen erhoben und magische
Beschwörungsformeln auf den Lippen. Doch die Macht, um
die sie beteten, würde ihnen nicht gewährt werden. Avacyn war
nicht mehr da, um ihre Gebete zu erhören.

Viele Jahre zuvor


„Arlinn Kord, indem du heute hier erschienen bist, bist du
dem Ruf der heiligen Beschützerin Avacyn gefolgt. Es gibt
keinen größeren Segen als den, den du nun empfangen wirst.
Bitte tritt vor.“
Erzmagier Reeves stand auf dem Altar der Goldnacht und
bedeutete Arlinn, sich ihm und Erzmagier Rembert zu nähern.
Die Erzmagier konnten nicht erahnen, wie viel Arlinn dieser
Augenblick bedeutete. Und das würden sie auch nie ... Sie
konnte es ihnen nicht sagen. Er war so viel mehr, als nur das
Sakrament des Erzengels zu empfangen, so außergewöhnlich
dies auch sein mochte. Für sie bedeutete er Freiheit. Hätte sie
dies jedoch den heiligen Männern vor ihr erklärt, so wäre es
damit aus und vorbei gewesen.
Arlinn erhob sich aus ihrer gebeugten Haltung einer
Bittstellerin und stieg die Stufen zu den beiden Erzmagiern
hinauf. Reeves würdigte sie keines Blickes, doch Rembert sah
sie mit einem Lächeln auf den schmalen Lippen an. Arlinn
erwiderte das Lächeln, so gut sie konnte. Ihre Lippen bebten.
Sie richtete den Blick fest auf all das Vertraute um sich herum,
um die Furcht und die gespannte Erwartung zu zügeln, die
abwechselnd in ihr aufwallten. Die Kapelle in Ellgau war klein,
aber alles andere als schlicht. Der Altar leuchtete vor goldenem
Zierrat mit dem Zeichen Avacyns. Dichter, weißer Stoff hing an
allen Seiten von der Decke und erzeugte das Gefühl eines
geschützten Alkovens, der vom Duft von Rauchwerk erfüllt
war. Friedlich und doch von Macht durchdrungen.
„Im Namen Avacyns und mit der Kraft, die mir von ihrer
heiligen Kirche verliehen wurde, gewähre ich dir diesen
Segen“, deklamierte Erzmagier Reeves. Arlinn kannte die
Worte gut. Unzählige Male hatte sie als einzige Katharerin, die
bei jeder einzelnen Segnungszeremonie eines jeden Erzmagiers
zugegen gewesen war, dieses Gebet in den vergangenen Jahren
gehört. Sie hatte jene, die vor ihr auf ebendiesem Altar
gestanden und das höchste Sakrament empfangen hatten, gut
beobachtet. Jedes Mal hatte sie sich gefragt, ob sie jemals dort
stehen würde. Jedes Mal hatte sie auf ihrem Platz auf der
Kirchenbank, die dem Altar am nächsten war, an sich
gezweifelt. Und jedes Mal hatte sie sich dazu ermahnt, an die
Macht Avacyns zu glauben. Und nun war sie hier.
Erzmagier Reeves hielt die dicke, goldene Kette mit dem
glänzenden Medaillon hoch – den Kranz der Goldnacht.
„Arlinn Kord, ich überreiche dir diesen Kranz, das Zeichen
Avacyns unendlicher Liebe und rückhaltlosen Schutzes.“
Im vorgesehenen Augenblick neigte Arlinn den Kopf und
Reese legte ihr die Kette um den Hals. Das Medaillon war
schwerer, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie spürte sein
Gewicht auf ihrer Brust und seine heilige Macht. Diese Macht
war es, die sie brauchte. Die Macht, die sie hier zu finden
gehofft hatte. Licht. Güte. Wahrheit.
Sie wusste, dass sie still stehen und sich für die Dauer der
Zeremonie nicht bewegen sollte, doch sie konnte nicht anders,
als das Medaillon zu berühren, es in ihrer Handfläche ruhen zu
lassen und mit den Fingern darüber zu streichen. Es war
wunderschön und rein. Und nun gehörte es ihr.
Die Hand von Erzmagier Rembert griff nach ihrer Schulter.
„Du weißt sicher, wie stolz ich bin“, flüsterte er, während
Reeves das Gebet fortsetzte.
Eine Flut von Gefühlen staute sich in Arlinns Kehle und
hinderte sie an einer Antwort, doch sie schaute Rembert in die
Augen, um ihm die Dankbarkeit in ihrem Blick zu zeigen. All
die Jahre über war er für sie da gewesen, ein Mentor, der sie
vorangetrieben, Geduld mit ihr gezeigt und ihr geholfen hatte,
ihre Stärken noch weiter zu festigen. Er kannte sie besser als
jeder andere, und selbst er kannte nicht die Wahrheit.
Jäh wandte Arlinn den Blick ab. Wie viele Male hatte sie es
ihm schon sagen wollen? Doch sie konnte es nicht. Wüsste er
die Wahrheit über sie – wüsste er, was sie war –, wäre er
gezwungen, gewaltsam gegen sie vorzugehen. Der Kloß in ihrer
Kehle löste sich und rutschte ihr in die Brust, wo er sich in
eiskalte Schuld verwandelte. Arlinn schreckte davor zurück. Sie
hatte sich selbst versprochen, diese Schuld nicht mehr zu
empfinden, nicht nach der heutigen Nacht, doch sie war nicht
so leicht abzuschütteln, wie sie es sich gewünscht hätte. Bilder
ihrer Talismane – Hunderte, die sie gegen den Fluch der
Lykanthropie angefertigt hatte – blitzten vor ihrem inneren
Auge auf. Das Gefühl des Mondlichts auf ihrer Haut. Das
Heulen, das sie spät in der Nacht hörte. Diese ganze Zeit über
hatte sie ihr Geheimnis gehütet. Vor ihnen allen. Sie konnte
gar nicht anders. Ein Lykanthrop konnte kein Erzmagier der
Goldnacht sein, doch Arlinn musste eine ihrer Erzmagierinnen
werden. Denn dieser Segen würde es sein, der sie von ihrem
Fluch befreite.
Der Segen Avacyns war stärker als das Böse in ihr. Er würde die
Wildheit unterdrücken. All diese Jahre hatte sie darauf
hingearbeitet. Und nach der heutigen Nacht würde sie sich
selbst wieder trauen können. Endgültig und vollkommen.
Sie atmete aus, und ihr schien es fast, als hätte sie zuvor
jahrelang die Luft angehalten. Sie schaute zurück zu Rembert
und hielt seinem Blick stand, während Reeves seine
Deklamation beendete.
„Und nun lasset uns gemeinsam beten.“ Reeves nickte Arlinn
zu, die in das abschließende Gebet einfiel. „Avacyn, unser aller
Beschützerin, o Heilige, die uns unsere Macht gewährt, wir ...“
„Ein Angriff!“ Der Ruf schnitt durch die
weihrauchgeschwängerte Luft, und die dichten, weißen
Vorhänge bauschten sich auf, um einer Bö kalten Windes den
Weg zum Altar freizugeben. „Teufel in Pfuhlhaven! Horden
von ihnen!“ Katharer Leighton war es, der dort schrie und mit
erhobenem Schwert auf den Altar zurannte. „Der
Goldnachtschwarm schickt nach euch.“ Er stolperte die Stufen
zu Reeves herauf. „Er ersucht die Hilfe der Erzmagier.“
„Dann reiten wir los!“ Reeves warf die Zeremonienrobe von
sich, während er auch schon Leighton den Gang
hinunterfolgte.
Rembert eilte ihnen nach. „Erzmagierin Kord, deine Klinge!“
Arlinn fuhr zusammen. Das war sie. Er rief nach ihr. Einer
Erzmagierin. „Aber das Gebet. Wir haben es nicht beendet.“
Sie wusste, dass es töricht war, das in einem solchen
Augenblick zu sagen, doch ihre Gedanken rasten und ihre
Nerven lagen blank. So lange hatte sie diesen Augenblick
herbeigesehnt, und nun war es, als hinge er in der Luft wie ein
Faden an einem Reitmantel, der ebenso leicht abreißen
konnte, wie er es vermochte, den gesamten Stoff aufzudröseln.
Sie musste wissen, ob es getan war. Ob sie endlich und
wahrhaftig eine Erzmagierin war.
Rembert öffnete den Mund, als wollte er sie schelten, doch
dann wurde sein Blick sanfter. An der Tür hielt er inne. „Vor
der heutigen Nacht hast du mich gefragt, ob ich glaube, dass du
bereit bist, zu einer Erzmagierin der Goldnacht zu werden.“
Arlinn nickte. „Das habe ich.“
„Und meine Antwort ist noch immer die Gleiche. Für mich
warst du schon immer eine Erzmagierin, seit du hier
angekommen bist. Ich habe nie eine klügere oder
vielversprechendere Schülerin als dich erlebt. Und nun trägst
du das als Titel, was du in deinem Herzen schon immer warst.
Du gehörst zur Goldnacht, Arlinn Kord, und du bist gebunden
an jenes Sakrament, das uns vereint. Gebunden an den Engel
und einander. Auf ewig. Ob die Zeremonie nun beendet wurde
oder nicht, ist einerlei. Es ist getan.“
Arlinn versuchte zu lächeln. „Nun gut.“ Es war getan. Damit
konnte sie leben. Sie wünschte sich jedoch, es stärker spüren zu
können. Sie hatte sich immer vorgestellt, wie sie in diesem
Augenblick von einem gewaltigen Gefühl der Macht und der
Freiheit durchströmt werden würde.
„Und nun wurde die Goldnacht gerufen, auszureiten.“
Rembert öffnete die Tür. „Wir müssen los.“
„Ja, das müssen wir.“ Arlinn hastete die Gasse zwischen den
Kirchenbänken entlang.
Rembert räusperte sich, während sie eilig durch die Tür traten.
„Natürlich wäre es unverzeihlich, wenn ich der Pflicht der
Kirche nicht Genüge täte und sicherstellte, dass das
abschließende Gebet vollständig gesprochen ist.“
„Oh?“ Arlinn blickte den Erzmagier an.
„Sprich es im Gehen mit mir. Avacyn, unser aller
Beschützerin“, begann Rembert.
Gemeinsam beendeten sie das abschließende Gebet an Avacyn.
Sie stießen die Worte zwischen keuchenden Atemzügen
beißend kalter Luft hervor, während sie durch die Feste von
Ellgau auf die Stallungen zuliefen. Als sie auf ihr Pferd stieg,
war Arlinn bereits Erzmagierin. Sie spürte es in ihrer Seele.
Die Stadt Pfuhlhaven stand in Flammen. Wie Leighton sie
gewarnt hatte, hingen Teufel von jedem Ast herunter,
schwangen sich von Gebälk zu Gebälk und tanzten in den
Straßen. Eine Gruppe aus einem guten Dutzend von ihnen
tollte über die höchsten Dächer der Stadt und schleuderte
Feuerbälle auf alles, was noch nicht brannte, und viele weitere,
nur um die Flammen noch heftiger anzufachen. Einer ließ sich
auf dem Kopf eines alten Mannes nieder und grapschte mit
den nadelartigen Fingern nach dessen Gesicht, während zwei
weitere sich an die Hände des Greises klammerten, um ihn
davon abzuhalten, den Quälgeist zu verscheuchen. Ein anderer
der Teufel trieb sein Unwesen mit einem jungen Mann, der
kaum bei Bewusstsein war. Er ritzte ihm mit den
schmutzverkrusteten Nägeln irrsinnige Muster in die Haut, die
gerade so sehr bluteten, dass der Arme am Leben blieb und
dabei gerade genug Schmerzen erleiden musste, dass er sich
wünschte, es wäre anders. Ihr Gelächter hallte über das
Knistern der Flammen. Der erstickende Rauch, der so viele
Stadtbewohner auf die Knie gezwungen hatte, konnte ihnen
nichts anhaben. Arlinn hasste sie augenblicklich.
Bild von Filip Burburan
Die Goldnachtschar war kurz vor der Kavallerie eingetroffen,
und nun schlossen sich die Erzmagier und Katharer dem
Kampf an, der von den Engeln begonnen worden war. Ihre
erste Aufgabe war es, eine Zuflucht zu errichten. Ein Engel –
Freydalia mit Namen – segnete eine kleine Kirche und wirkte
einen Schutzzauber auf sie. Unter Remberts Befehl begannen
Arlinn und die anderen, die überlebenden Opfer des Angriffs
nach und nach in Sicherheit zu bringen. Erst mussten sie sich
um die Unschuldigen kümmern, ehe sie den Kampf mit den
Teufeln aufnehmen konnten.
Arlinn kroch neben die brennenden Überreste einer
umgestürzten Kutsche und griff unter der Hitze hindurch nach
der zögerlichen Hand eines kleinen Jungen. Ein weiterer Engel,
den Arlinn als Olaylie erkannte, schwebte über ihnen und hielt
eine Gruppe Teufel in Schach, die von einem nahen Dach
herunterzuspringen drohten.
„Ich kann sie nicht mehr länger aufhalten“, rief Olaylie Arlinn
zu. Der Engel spießte zwar einen der Teufel mit dem Speer auf,
doch gleichzeitig sprangen vier andere hoch, um Olaylies Waffe
zu packen, und ein mörderisches Tauziehen begann.
Arlinn streckte die Finger weiter nach dem Jungen aus. Sie
musste sich beeilen. „Gib mir deine Hand“, flehte sie.
Das Kind schüttelte den Kopf. Die Kutsche über ihnen knarzte.
„Die Teufel ... Sie erwischen mich mit ihrem Feuer, wenn ich
da rausgehe.“
Arlinn wollte ihm nicht sagen, dass er ohnehin im Feuer
sterben würde, wenn er dort unten nicht herauskam. Sie wollte
ihm nicht noch mehr Angst machen. „Ich weiß, dass du Angst
hast“, sagte sie, „aber das musst du nicht. Ich werde dich
beschützen und der Engel dort oben auch.“ Sie griff erneut
nach seiner Hand, doch der Junge kauerte sich noch immer
zusammen.
„Aber ihr seid nur zu zweit und die Teufel sind ganz viele.“ Er
spähte durch einen Spalt im Holz nach oben, als ein
brennendes Brett von der Kutsche wegbrach und neben Arlinn
auf den Boden krachte.
Ihnen lief die Zeit davon und Arlinn konnte den Jungen nicht
dazu bringen, ihr zu vertrauen. Daher besann sie sich nun ihres
Glaubens. „Kennst du Avacyn?“, fragte sie.
Er nickte.
„Dann weißt du, dass sie größer ist, als ich es jemals sein
könnte. Größer noch, als jeder andere Engel es je sein könnte.
Avacyn wird dir helfen, wenn wir es nicht können.“
Der Junge dachte über Arlinns Worte nach. Sie vermochte
nicht zu sagen, was hinter seinen geweiteten braunen Augen
vorging. Sie konnte nur hoffen, dass sie ihn überzeugt hatte.
„Sprich das Gebet mit mir“, drängte sie ihn. „Wir werden
Avacyn gemeinsam um Hilfe bitten.“ Sie wählte das am
weitesten verbreitete aller Gebete aus, das ihr in den Sinn kam,
und hoffte, dass auch er es kannte. „Avacyn, wir beten zu dir in
dieser Stunde unserer Not. Wir bitten dich ...“
„Woher weißt du das?“, unterbrach der Junge das Gebet.
„Woher weißt du, dass sie uns helfen wird?“, bohrte er nach.
„Ich will eine ernsthafte Antwort. Nicht nur eine, mit der du
mich dazu bringen willst, da rauszukommen. Ich weiß, wie die
Großen sind, und ich komme nicht da raus, wo die ganzen
Teufel sind, nur weil du es sagst.“
Nun war es an Arlinn, das Kind zu mustern. Sie hörte Olaylies
Schwingen heftig über ihnen schlagen und spürte die Hitze der
Flammen der Teufel. Doch das Starren des Kindes versetzte sie
in noch weitaus größeres Unbehagen. „Ich werde dir die
ernsthafteste Antwort geben, die ich kenne“, sagte sie. „Ich
weiß, dass Avacyn dir helfen wird, wenn du betest, weil sie mir
auch geholfen hat. Mir ist einmal etwas sehr Schlimmes
zugestoßen, und ich hatte Angst, allein zu sein. Aber dann
erfuhr ich, dass ich es nicht war. Avacyn hat mich gerettet.“
Die Kutsche über ihnen neigte sich leicht zur Seite. „Schnell,
Erzmagierin Kord!“, rief Olaylie von oben.
„Gib mir deine Hand. Bitte.“ Arlinn streckte die Hand so weit
aus, wie sie konnte. Ihre Fingerspitzen reichten gerade bis kurz
vor den Ellenbogen des Jungen.
„Du bist eine Erzmagierin?“ Der Gesichtsausdruck des Jungen
wechselte von Zweifel zu Staunen.
„Das stimmt.“ Arlinn nickte zu dem Medaillon hinunter, das
um ihren Hals hing, während sie ihren Rücken vor dem heißen
und immer weiter in sich zusammensackenden Holz zu
schützen versuchte.
„Das ist schon mal was“, sagte der Junge. „Na schön.“ Er
bewegte sich vorsichtig und qualvoll langsam. Arlinn hielt den
Atem an, als seine kleine Hand nach der ihren griff.
Die Kutsche über ihr ächzte wie ein Tier. Arlinn begann mit
ihrem eigenen Gebet. Avacyn, verleihe mir die Kraft, dieses
unschuldige Kind zu retten.. Sie spürte den Kranz der
Erzmagierin auf ihrer Brust zum Leben erwachen. Tief in ihr
regte sich der Segen Avacyns. Laut betete sie für den Jungen:
„Beschützerin unserer Welt, bitte geleite uns sicher in unsere
Zuflucht.“ Das sanfte Regen wurde zu einem überwältigenden
Strom göttlicher Macht. Als die Hand des Jungen die ihre
berührte, riss Arlinn ihn mit einer derartigen Kraft unter der
Kutsche hervor, dass sie beide über den Boden davonrollten,
gerade als das Gefährt über ihnen zusammenbrach.
Der Engel Olaylie stieß herab, um Arlinn und den Jungen vor
den glimmenden Holzsplittern und den Angriffen der Teufel
zu schützen. Der Junge heulte auf.
„Wir sind in Sicherheit.“ Arlinn vergrub ihr Gesicht im
schweißgetränkten Haar des Jungen und atmete den Duft
seines Lebens ein. „Du bist in Sicherheit.“ Sie wiegte ihn und
strich ihm übers Gesicht. „Ich bringe dich jetzt in die Kirche.“
Sie löste ihre Hand von seinem Kopf, und ihr stockte der
Atem. Ihre Finger waren blutbefleckt. Auch ihr Herz setzte
einen Schlag aus, als würde es sich weigern, sie am Leben zu
halten, solange sie nicht wusste, dass der Junge es schaffen
würde. Sie suchte auf seinem Kopf, seinen Schultern und
seinem Hals nach der Herkunft des Blutes. Nichts. Aber da war
noch mehr Blut. Und dann noch mehr. Ein Tropfen Rot fiel
auf Arlinns eigene Hand. Sie blickte auf.
Olaylie schlingerte mit einem Teufel auf dem Rücken durch
die Luft. Seine nadelartigen Finger zerrten an ihrem Haar. Ein
zweiter Teufel sprang an ihr Bein, ein dritter auf ihre Schulter.
Und sie alle gruben ihre widerlichen Finger in ihr Fleisch. Der
Engel schrie.
Arlinn hatte noch nie einen Engel bluten sehen. Es war, als
wäre ihr das Gesicht zerkratzt worden und als wäre es ihr
Schmerzensschrei, der durch die Stadt hallte.
Ein Tropfen Blut fiel auf Arlinns Wange. Sie konnte ihn
riechen. Das Blut des Engels roch nach den Bäumen im Wald,
der Luft des Himmels und dem Wasser der Meere. Es war ein
berauschender Duft voll heiliger Macht. Er gehörte in den Leib
des Engels und nirgendwo sonst hin. Sie wollte der geflügelten
Kriegerin beistehen und rief verzweifelt den Namen des Engels:
„Olaylie!“ Doch dann erinnerte sie sich an den Jungen, der sich
in ihre Armbeuge geschmiegt hatte. Sie blickte zu ihm herab.
Engelsblut war auf seinem Gesicht verschmiert.
„Rette zuerst das Kind, Erzmagierin Kord!“, donnerte Olaylies
Stimme über ihr. Es war ein Befehl, der jedoch von einer
sanfteren Bitte gefolgt wurde. „Arlinn, bitte. Rette zuerst das
Kind.“
Alles, was Arlinn tun konnte, war, ihren Blick davon
abzuwenden, wie die Teufel sich in das Fleisch des Engels
gruben. Hätte sie auch nur einen Wimpernschlag länger
hingesehen, wäre es ihr unmöglich geworden, Olaylies Befehl
Folge zu leisten. Sie hielt dem Jungen erneut die Hand hin.
„Komm mit mir.“
Dieses Mal zögerte der Junge nicht. Er ließ sich von ihr durch
die Stadtmitte Pfuhlhavens führen. Während sie auf die
Zuflucht zueilten, erklang sein dünnes Stimmchen. „Avacyn,
bitte hilf diesem Engel. Mach, dass die Teufel aufhören, ihn
bluten zu lassen. Sie tun ihm weh.“

Heute
„Im Namen Avacyns, der gefallenen Beschützerin, werde ich
dich zur Strecke bringen!“ Das Heulen eines wahnsinnigen
Engels erklang, gerade als Arlinn den Rand der Schlucht
erklommen hatte. Sie jagte vorwärts, um dann unvermittelt
erneut zum Halten zu kommen. Ihre Krallen gruben sich in
den Waldboden, als sich eine Lichtung vor ihr öffnete. Der
wahnsinnige Engel lag am Boden inmitten eines Rings aus
Bäumen. Arlinn duckte sich ins Unterholz. Es würde ihr einen
Vorteil verschaffen, unentdeckt zu bleiben. Sie spähte durch
die Äste und sog tief die von Engelsblut durchsetzte Luft ein.
Der Engel war mit einem Seil gefesselt. Aus seinem Bauch ragte
ein Pfeil und seine Schwingen waren blutig. Er war von allen
Seiten von Katharern umringt, die ihre Waffen gezogen hatten.
Doch trotz all dem hatte der Engel die Oberhand – ein Wesen
unvorstellbarer Macht, das in seinem Wahn noch mächtiger
war.
Flügel stutzen | Bild von Howard Lyon
„Unrein!“, kreischte der Engel den Katharern entgegen. „Ihr
alle seid das! Unrein!“ Sein Schwert blitze vor feuriger Magie
auf, als er sich gegen die Seile aufbäumte. Er schrie – ein
Geräusch von solch bösartiger Wut, dass sich Arlinns
Nackenhaare aufstellten.
Arlinns Instinkte befahlen ihr, die Katharer zu beschützen. Sie
bleckte die Zähne und schlich durch das Unterholz. Sie würde
nicht lange auf eine Gelegenheit zum Zuschlagen warten.
„Haltet sie fest!“ Eine vertraute Stimme ließ Arlinn innehalten.
Ihre Ohren stellten sich auf. „Lasst diese Seile nicht locker!“
Arlinn wurden die Beine steif. Das konnte nicht sein. Doch
der Erzmagier war unverwechselbar, als er hinter dem Engel
hervorstürmte und den anderen Katharern Befehle zurief.
„Bogenschützen! Anlegen!“ Obwohl Remberts Gesicht vor
Anstrengung gerötet und mit Schmutz verkrustet war,
leuchteten die drei Narben, die sich von seiner Wange bis zum
Kinn zogen, hell im Mondlicht.
Arlinns Magen krampfte sich bei dem Anblick und der
Erinnerung zusammen. Sie wich mit herabhängendem
Schwanz in die dichteren Bäume zurück. Ihre Hinterpfote traf
auf einen Ast. Hätte sie Remberts Anblick nicht derart aus der
Fassung gebracht, hätten ihre tierischen Instinkte eingesetzt,
um ihren Körper zu führen und ihr Gleichgewicht zu halten,
doch in diesem Augenblick war sie mehr Mensch als Tier und
ihr menschlicher Verstand vor lauter Ablenkung ins Taumeln
geraten und viel zu langsam. Der Zweig knackte. Der Kopf des
Engels fuhr herum. Seine Augen waren geradewegs auf den
Wald gerichtet, in dem sich Arlinn verborgen hielt. Ein
beunruhigendes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des
Engels aus, als er die Hand hob. „Ein Untier!“ Der Engel
deutete auf Arlinn. „Dort zwischen den Bäumen! Ein Untier!“
Eine Handvoll Katharer drehte sich zu ihr um, unter ihnen
Rembert. Er erspähte den Werwolf in den Bäumen vor den
anderen. Er wusste, wonach er Ausschau halten musste. Sein
Blick traf den Arlinns, und er hob die Hand an die Wange, um
die längste der drei Narben dort zu betasten. Ein Zittern fuhr
ihr die Wirbelsäule entlang.
„He! Ein Werwolf!“, rief ein anderer der Katharer und riss
Arlinn aus ihrer Starre der Erinnerungen.
Die heiligen Frauen und Männer wichen instinktiv vor dem
Werwolf zurück und näherten sich so dem Engel – Nein!,
wollte Arlinn rufen, aber es wäre nur ein Knurren zu hören
gewesen, das alles noch schlimmer gemacht hätte. Doch es war
bereits schlimmer. Dieser eine Augenblick der
Unaufmerksamkeit war alles, was der Engel brauchte. In einer
Zuschaustellung wahnwitziger Stärke breitete er die Schwingen
mit solcher Kraft aus, dass die Seile abgeschüttelt wurden.
„Haltet sie auf! Haltet die Seile fest!“, riefen die Katharer, doch
es war zu spät.
Der Engel schwang sich empor. In der Luft schwebend riss er
sich den Pfeil aus dem Bauch und schleuderte ihn auf die
Jüngste unter den Katharern. „Unrein! Ich bringe euch zur
Strecke!“
Arlinn winselte, als die junge Frau leblos zu Boden fiel. Ihre
Wildheit ergriff Besitz von ihr und sie sprang dem Engel
entgegen, das Maul weit aufgerissen – nur, um es um einen
dicken Ast zu schließen, den Rembert wie eine Waffe schwang.
Er riss ihn zurück und holte erneut zum Schlag aus. Arlinn
wich aus, und ihre Hinterbeine verloren den Halt auf dem vom
Blut des Engels schlammigen Boden der Lichtung. Sie rappelte
sich auf und winselte, als Remberts dritter Schlag ihren
Schwanz traf.
„Schnappt sie euch!“, schrie Rembert den anderen Katharern
zu, während er nach Arlinn hieb, die sich hinter einem
Baumstumpf in Sicherheit gebracht hatte. „Ergreift das
Untier!“
Klingen blitzten und Pfeile schwirrten durch die Luft – einige
auf den Engel, andere auf Arlinn zu.
Halt! Sie wollte Rembert sagen, dass er aufhören sollte. Sie
wollte ihm sagen, dass sie nicht mehr das Untier war, das er
einst gekannt hatte. In Wahrheit war sie es nie gewesen.

Viele Jahre zuvor


„Nimm ihn! Nimm den Jungen!“ Erzmagierin Arlinn Kord
warf das Kind förmlich in Remberts ausgestreckte Arme. Sie
wartete nicht, bis sie sich in die Sicherheit der Zuflucht
zurückgezogen hatten, bevor sie mit gezogener Klinge die
Stufen auch schon wieder hinuntereilte.
Ihr Blick war vom Rauch der Feuer der Teufel getrübt, doch
nicht so sehr, dass sie das Grauen vor sich nicht hätte
erkennen können. Mindestens ein Dutzend Teufel hatten sich
an Olaylie festgekrallt, zogen ihr am Haar, rupften ihr Federn
aus und zerkratzten ihr die Haut.
„Nein!“, rief Arlinn. „Verschwindet!“
Die Teufel keckerten und warfen Feuerzauber auf Arlinn. Sie
wehrte sie mit ihrer Klinge ab und stürmte voran. „Euch wird
das Lachen schon noch vergehen!“
Als wären ihre Worte die Pointe eines grausigen Witzes,
verfielen die Teufel in bösartiges Geheul, bei dem sie vor
Vergnügen mit den knochigen Beinen strampelten. Derjenige
auf Olaylies Kopf deutete auf Arlinn und kreischte auf – ein
Geräusch, das die anderen als Befehl aufzufassen schienen.
Gemeinsam beugten sie sich zurück, zerrten an den Schwingen
des Engels und ließen Olaylie zu Boden taumeln. Sie gerieten
vor heiterer Begeisterung schier außer sich, als der Engel am
Boden aufprallte und durch den Dreck rollte, unfähig, sich
erneut in die Luft zu schwingen.
Arlinn stürmte auf sie zu und ließ sämtliche göttliche Macht,
die sie aufbieten konnte, in ihre Klinge fließen. Dabei betete
sie. „Avacyn, leite mich. Gewähre mir deine heilige Stärke. Nie
gab es eine Zeit, in der ich dich mehr gebraucht habe.“ Sie
stürmte durch die Flammen, die die Teufel ihr entgegenspien,
und fürchtete sich nicht vor dem Feuer. Sie durchbohrte einen
von ihnen mit dem Schwert mitten durch die Brust. Sie zog es
wieder heraus und hieb nach einem anderen. Und noch
einem. Ehe sie jedoch erneut zuschlagen konnte, ließ sich ein
Dutzend Teufel von den Dächern aus auf sie herabfallen.
Arlinn blieb kaum die Zeit für ein stummes Gebet. Avacyn, es
sind zu viele. Bitte steh mir bei. Finger wie Nadeln griffen von
hinten nach ihr und durchbohrten ihren Mantel. Sie wirbelte
herum und stach nach dem Teufel, doch dieser hatte sich auf
ihrem Rücken festgekrallt. Sie spürte das Gewicht eines
zweiten, der sich dazugesellte, und dann das eines dritten.
Sengend heiße Schwänze schlangen sich ihr um den Hals.
Fingernägel gruben sich ihr in Schultern und Rücken und
zerrten sie nach unten. Spitzes Gelächter klang ihr in den
Ohren, als sie zu Boden gezogen wurde. Avacyn, bitte.
Keine Antwort.
Der Schmerz war übermächtig, doch der Anblick des Engels
vor ihr, der sich gegen die ihn erstickende Horde zur Wehr zu
setzen versuchte, war noch schlimmer. Wegen all des Blut und
all der Teufel war dort, wo zuvor Olaylies reines Weiß zu sehen
gewesen war, nur noch Rot.
„Nein!“ Arlinn versuchte, sich hochzukämpfen, doch auch sie
war unter den Teufeln begraben. Tränen oder Blut – Arlinn
wusste es nicht – strömte ihr die Wangen hinunter. Das durfte
nicht sein. So sollte das alles nicht geschehen. Sie war eine
Erzmagierin Avacyns. Avacyn! Arlinn griff durch das Kratzen
und Beißen hindurch nach dem Medaillon um ihren Hals.
Ihre Finger suchten den Kranz der Erzmagier der
Goldnacht. Avacyn, bitte! Hilf mir! Sie wartete und öffnete sich
der Macht der Beschützerin. Sie brauchte Macht, um den
Engel zu retten. Aber da war ... nichts.
Gleich außerhalb Arlinns Reichweite schrie Olaylie auf. Nun
endlich brach ein Geräusch aus ihr heraus, nachdem sie dem
Schmerz so lange widerstanden hatte. Der Schrei des Engels
war voll solcher Qual, dass er die Nacht entzweiriss.
Arlinn spürte die Macht in diesem Schrei, und genau wie die
Nacht zerriss auch sie.
Der Werwolf warf sich auf die Teufel. Kiefer schnappten zu.
Schlossen sich um die Kehle des Teufels, der ihm am nächsten
war. Rissen ihm den Kopf vom Leib. Schleuderten ihn quer
über den Platz.
Mehr.
Klauen hieben durch Bäuche. Rissen Schwänze ab. Stießen
Leiber fort.
Mehr.
Brachen Knochen.
Griffen nach Fleisch.
Durchtrennten Rückgrate.
Leichen flogen.
Mehr.
Federn.
Das Maul des Werwolfs schloss sich um Federn.
Der Geschmack von Engelsblut. Berauschend. Warmer Nektar.
Makellos.
Entsetzen spiegelte sich im Blick des Engels. Er rappelte sich
auf und wollte davonfliegen, aber nicht schnell genug. Die
Klauen des Werwolfs hieben nach der Haut am Bein des
Engels, kratzen die Wade entlang und hakten sich ein. Das
Vergnügen, diese makellose Haut zu verschandeln, war
unvergleichlich. Der Werwolf zerrte den Engel zurück zu
Boden und schlug die Zähne in sein Fleisch.
„Verschwinde!“
Das Geräusch der Stimme ließ den Werwolf herumfahren.
Dort war ein Mensch. Ein Mann, der sein Schwert erhoben
hatte. Der Werwolf schlitzte ihm den Bauch auf. Blut und
Eingeweide quollen heraus.
Mehr.
Der Werwolf wandte sich wieder dem Engel zu, doch weitere
Menschen näherten sich. Der Werwolf hieb nach der Klinge
eines Schwertes und schlug sie aus der Luft, um dann auf den
Arm einzuhacken, der sie geschwungen hatte, und ihm seinem
Besitzer auszureißen. Der Mensch fiel. Der Werwolf trat auf die
abgetrennte Gliedmaße und brach den Knochen, nur um zu
spüren, wie er zersplitterte. Der Werwolf zerlegte den Rest des
Körpers.
Ein weiterer Mensch warf sich dem Werwolf entgegen. Sein
Schwert und Schild gleißten mit blendendem Licht. Ein Satz –
und der Werwolf war hinter ihm. Ein Ausholen, ein
Klauenhieb – und der Mensch lag zerschunden zu seinen
Füßen.
Mehr.
Einer nach dem anderen. Sie alle erlagen dem Werwolf.
Arlinn, Verbündete des Mondes | Bild von Winona Nelson
Plötzlich traf ein Bolzen von oben den Werwolf und entlockte
ihm ein bösartiges Knurren. Ein weiterer Bolzen – diesmal traf
er den Werwolf in den Rücken. Der Engel hatte sich genug
erholt, um sich in die Luft zu erheben. Der Werwolf grollte.
Der Engel schwebte über ihm, golden leuchtend durch den
Staub und das Blut auf seiner Haut. Er legte mit einem Bolzen
aus heiligem Licht auf ihn an.
Der Werwolf machte einen Satz nach oben, um wild nach dem
leuchtenden Engel zu schlagen. Die Klauen des Werwolfs
trafen zuerst, danach seine Zähne. Ein Schnappen, und die
Spitze einer Schwinge war losgerissen. Ein Maul voll Federn,
Knorpel und Engelsblut.
Der Engel verlor an Höhe. Der Werwolf sprang erneut, diesmal
an die andere Schwinge. Er riss sie ganz vom Körper des Engels
ab. Das heilige Geschöpf fiel vom Himmel.
Als der Werwolf auf den gefallenen Engel zuhuschte, rappelte
dieser sich auf, taumelte zurück, wollte wegrennen, wollte
wegfliegen – und versagte. Der Werwolf sprang ihn an und
warf ihn zu Boden. Zähne gruben sich in weiches Fleisch. Der
Schrei des Engels vermischte sich auf höchst betörende Weise
mit dem Geschmack seines Blutes.
Der Werwolf würde nie genug davon bekommen können.
„Erzmagierin Kord?“ Der Ruf erregte die Aufmerksamkeit des
Werwolfs. Hungrig drehte er sich herum. Ein in Rüstung und
Roben gekleideter Mensch richtete zitternd ein Schwert auf
den Werwolf. „Arlinn?“
Der Werwolf legte den Kopf schräg. Der Name, den der Mann
gesprochen hatte, fühlte sich falsch an. Er stach wie ein Dolch.
Der Mann hob die Hand und deutete auf die Brust des
Werwolfs. „Bei allem, was heilig ist ... Du bist es.“
Der Werwolf knurrte, doch sein Blick wurde nach unten
gezogen. Zu dem Anhänger, der ihm an einer Kette um den
Hals hing. Etwas zupfte an seinen Gedanken. Avacyn. Sie
klappte das Maul zu und wandte den Blick ab. Zu Boden. Zu
den Leichen. Überall um sie herum waren Leichen. Gefallene
Katharer. Zu viele. Sie kannte sie alle. Leighton. Reeves.
Ihre Gedanken rasten.
Nein.
Nein.
„Oh, Arlinn, was hast du getan?“
Der Werwolf wandte sich zu Rembert. Seine Wut brodelte auf.
Warum war er zu ihr gekommen? Warum hatte er gesprochen?
Dies war seine Schuld. Ihre Nackenhaare richteten sich auf
und sie knurrte. Er machte einen Schritt zurück, doch sie war
schneller. Sprang ihn an. Teilte einen Hieb aus. Ihre Klauen
gruben Risse in seine Wange. Er schrie auf, schwang sein
Schwert in ihre Richtung und wich zurück.
Das Blut erblühte rot auf seinem Gesicht. „Du Untier!“
Der Werwolf heulte gequält auf, als die Wahrheit in ihren
Geist stolperte und außer Kontrolle geriet, bis die Wirklichkeit
jeden Winkel ihres Bewusstseins ausfüllte und aus ihrem
Schädel hervorzuplatzen drohte.
Rembert hob sein Schwert. „Möge Avacyn dir vergeben.“
Der Werwolf wich nicht zurück. Die Klinge wäre eine Gnade.
Sollte sie ruhig treffen. Sie konnte nicht mehr ertragen.
Der Stahl blitzte auf, und der Verstand des Werwolfs spaltete
sich in zwei Hälften.

Viele Jahre später


Eine lange Zeit danach hatte Arlinn Rembert geglaubt. Sie
hatte ihm geglaubt, dass sie ein Untier war. Etwas so
Entsetzliches und Furchterregendes, dass selbst Avacyn sie
nicht retten konnte. Und danach war sie anschließend lange
Zeit wütend auf den Engel gewesen. Avacyns Segen hätte
stärker als der Fluch sein sollen, doch schlussendlich hatte es
keine Rolle gespielt, dass sie eine Erzmagierin war. Avacyn
hatte versagt. Ihre Talismane hatten versagt. Die Lykanthropie
hatte gesiegt.
Sie hatte viel Zeit gehabt, über diese Dinge nachzudenken. An
jenem Tag vor so langer Zeit, als ihr Verstand sich aufgespalten
hatte, hatte sie diese Welt verlassen. Remberts Schwert hatte sie
nie getroffen. Stattdessen war sie aus der Welt geschleudert
worden. Fort von den Schrecken, die sie angerichtet hatte. Fort
von der Leiche von Erzmagier Reese zu ihren Füßen. Fort von
dem geschundenen, leblosen und blutbefleckten Engel Olaylie.
Fort von dem Funkeln in Remberts Augen. Sie war in einem
Wald auf einer anderen Welt gelandet.
Es war unmöglich zu sagen gewesen, wie viel Zeit verstrichen
war, und das hatte sie auch nicht geschert. Es hätte keine Zeit
für sie verstreichen sollen. Ihr Leben hätte enden müssen. Und
in gewisser Weise war es auch so. Diese andere Welt war wie
ein Fegefeuer. Kein einziges Mal nahm sie dort ihre
menschliche Gestalt an. Äußerlich blieb sie ein Untier, doch
gleichwohl konnte sie ihrem menschlichen Bewusstsein und
den Erinnerungen an ihre Taten nicht entfliehen. Diese beiden
Teile bekämpften einander und ihre Seele geriet dabei ins
Kreuzfeuer.
Letztendlich jedoch war Arlinn dankbar dafür, denn dieser
Zustand zweier Leben hatte sie gezwungen, die Wahrheit zu
erkennen.
Sie hatte sich geirrt. Ihr Aufstieg zur Erzmagierin hatte nicht
geändert, wer sie war. Was sie war. Seit dem allerersten
Augenblick, an dem das Heulen des Mondrennerrudels sie
verflucht hatte, war ihr Blick immer nur nach außen gerichtet
gewesen. Auf Talismane. Auf Gebete. Auf Avacyn. Sie hatte
sich so sehr eingeredet, dass der Engel und die heilige Macht
der Kirche sie würden heilen können. Was sie jedoch nicht
erkannt hatte, war, dass sie gar nicht krank war. Nicht so, wie
sie es geglaubt hatte. Sie war, was sie war, und das würde sie
auch immer sein. Sie war wild und ungestüm – ein Raubtier –,
aber auch gütig und treu – eine Beschützerin. Sie konnte nicht
einen Teil von sich einfach verschwinden lassen oder vor der
Hälfte ihres Wesens davonlaufen. Sie musste beides sein. Sie
musste auf sich vertrauen, um heil zu bleiben. Ihre Erlösung
war nie etwas gewesen, worum sie den Engel Avacyn hätte
bitten sollen. Ihre Erlösung lag allein an ihr selbst.
Es dauerte viele Jahre, doch schließlich kehrte Arlinn nach
Innistrad zurück. Sie vertraute nun so weit auf sich, dass sie
wieder einen Fuß auf jene Welt setzen wollte, die sie
zurückgelassen hatte. Und dies war der Augenblick gewesen, in
dem sie wahrlich die Macht über ihre Kraft und sich selbst
gewonnen hatte. Ihre Verwandlungen fielen ihr nun leichter
und sie konnte sie beherrschen. Ihr Verstand gehörte
inzwischen durchgängig ihr, doch er gewann durch die wilde
Kraft ihrer körperlichen Gestalt an Stärke. Sie war nicht länger
nur eine Hülle, die sich verstellte und verbarg. Sie war alles,
was sie sein sollte.
Arlinn trottete über die nasse Erde. Ihre Nase, die selbst in
menschlicher Gestalt ungewöhnlich fein war, nahm die
vertrauten Gerüche auf, die mit Erinnerungen verbunden
waren. Zu viele, um sie zu zählen, doch sie alle drohten, ihr die
Tränen in die Augen zu treiben angesichts des Schmerzes, der
sich dank ihnen in ihren Eingeweiden breitmachte. Es war das
erste Mal seit vielen Jahren, dass sie einen Fuß nach Ellgau
setzte. Sie hatte erwartet, dass der erste Schritt der schwerste
sein würde, doch es waren die nächsten hundert – die, die sie
zu Erzmagier Remberts Tür führen sollten –, die sich als
beinahe unmöglich erwiesen.
Sie hatte geglaubt, dass sie bereit war. Sie hatte sich all den
anderen gestellt und ihre Grabstätten besucht: Reeves,
Leighton, alle von ihnen. Sie hatte in ganz Nefalen in Avacyns
Kirchen gebetet und Litaneien voller Beichten und Abbitten an
die himmlischen Kräfte entsandt. Sie hatte zu den Engeln
gesprochen, ihnen in die Augen geblickt, ihre Taten gestanden
und in ihrem Schatten auf ihren Richtspruch gewartet.
Schnitterin der Mondsilberschar | Bild von Magali Villeneuve
Rembert war als Einziger noch übrig. Sie hob die Hand, um an
die Tür seiner Kammer zu klopfen, doch das musste sie nicht.
Sein Geruch stieg ihr einen Wimpernschlag, bevor er ihr seine
schwere Hand auf die Schulter legte, in die Nase. Sie fuhr
herum, um den alternden Erzmagier anzusehen.
„Wie kannst du es wagen?“ Rembert hielt einen leuchtenden
Talisman hoch. Er hatte Vorkehrungen gegen sie getroffen.
Arlinns Herz krampfte sich qualvoll zusammen. Dies war
derselbe Mann, der einst so bedingungslos an sie und an die
Güte ihrer Seele geglaubt hatte. Nun wäre sie nicht überrascht
zu erfahren, dass er nicht einmal glaubte, dass sie überhaupt
eine Seele hatte. „Wie kannst du es wagen, einen Fuß an
diesen heiligen Ort zu setzen?“
„Bitte, Erzmagier Rembert, ich ...“
„Du Untier! Du mörderische Bestie!“ Er warf ihr den Talisman
gegen die Brust und spuckte ihr vor die Füße.
Arlinn wich zurück. „Bitte“, versuchte sie es erneut. „Ich weiß,
was du empfinden musst. Ich weiß, was ich getan habe. Ich
kann die Vergangenheit nicht ändern. Aber ich bin nicht mehr
das, was ich einst war. Ich kann meine Kräfte nun zum Guten
einsetzen. Und ich möchte dieses Gute hier einsetzen. Bei der
Goldnacht. Ich möchte helfen. Ich habe die Beherrschung über
mich.“
„Ha!“ Rembert zog sein heiliges Schwert. „Diese Beherrschung
ist eine Lüge, die du dir selbst einredest, damit du in dieser
Gestalt in den Spiegel blicken kannst.“ Er zeichnete mit der
Schwertspitze ihre Umrisse nach. „Doch selbst jetzt, da du in
diesem falschen Fleisch vor mir stehst, bist du ein Untier. Und
das wirst du immer sein.“
„Ich mag ein Werwolf sein, aber ich bin kein Untier.“ Arlinn
blieb stehen, obwohl seine Klinge, die nun leuchtete, näher
kam. „Ich gehöre zur Goldnacht. Und das werde ich auch
immer tun. Du selbst hast es gesagt.“
Rembert trat forsch auf sie zu. Seine Handfläche traf sie flach
gegen die Schulter und drückte sie mit dem Rücken an die
Tür. Er legte ihr die flache Seite seiner Klinge an den Hals.
Arlinn wehrte sich nicht – sie würde nicht zulassen, dass er ihre
Wildheit herausforderte. „Was auch immer ich dir gesagt habe,
bevor ich wusste, wer du bist, und als du die Wahrheit noch
vor mir verborgen hieltst, kannst du jetzt wohl kaum gegen
mich einsetzen. Du gehörst nicht zur Goldnacht, Arlinn Kord.
Das hast du nie.“
Arlinn hielt Remberts Blick stand. Sie konnte nichts sagen:
Der Kloß an Gefühlen, der ihre Worte vor so vielen Jahren
erstickt hatte, war zurückgekehrt. Doch dieses Mal hatte er
Kanten so scharf wie die Krallen der Teufel. Sie stachen sie von
innen in die Kehle und von hinten in die Augäpfel.
Unvermittelt beendete Rembert die Begegnung ihrer beider
Blicke. Er stieß einen tiefen Seufzer aus und trat zurück. „Raus
hier.“ Er deutete den Gang hinunter und wich ihrem Blick aus,
indem er auf den Boden starrte. „Verlasse diesen Ort und
kehre nie wieder zurück. Wenn ich dich noch einmal hier sehe,
werde ich dich zur Strecke bringen.“
Arlinn holte Luft, um zu sprechen, doch Remberts Stimme,
angefüllt von heiliger Macht, schnitten ihr die Worte ab, noch
ehe sie auch nur eines gesprochen hatte. „Verschwinde!“

Heute
Arlinn hatte versucht, sich zurückzuziehen. Sie wollte keinen
Kampf. Doch Rembert ließ ihr diese Möglichkeit nicht. Sie war
umzingelt und an den Rand der Schlucht gedrängt. Zu allen
Seiten waren Katharer und vor ihr Rembert mit seinem hoch
über den Kopf erhobenen, dicken Ast. „Ich habe dich
gewarnt.“ Er schleuderte ihr die Worte entgegen. Jedes war ein
schwerer Hieb. Seine stumpfe Waffe würde folgen. Arlinn
wappnete sich. Sie konnte mehr Treffer aushalten, als er ahnte,
und sie würde nicht zulassen, dass er sie vertrieb, wenn ein
wahnsinniger Engel so nahe war.
Wie gerufen stieß der Engel hinter den Katharern herab.
Arlinn konnte sie nicht schnell genug warnen. Sie konnte
Rembert nicht warnen. Der Engel kreischte, als er die blutigen
Finger um Remberts Arme legte und ihn, der er nach Atem
rang und die Augen aufgerissen hatte, in die Luft hob.
Die anderen Katharer richteten ihre Waffen nun auf den
Engel, und Arlinn erhob sich auf die Hinterläufe, als ihre
Beschützerinstinkte einsetzten.
„Nein! Setzt nach!“, rief Rembert, der trotz der Tatsache, dass
er nun in der Luft baumelte, noch immer den Befehl hatte,
seinen Katharern zu. „Wendet dem Untier nicht den Rücken
zu! Tötet den Werwolf!“
Die Katharer wirkten verwirrt. Einige richteten ihre Waffen
wieder auf Arlinn, andere weiterhin auf den wahnsinnigen
Engel. Dieser keckerte – nicht unähnlich den Teufeln –, und
seine Hände um Remberts Arme begannen, in einem
blutgetönten, heiligen Licht zu leuchten. Der Engel würde
Rembert gleich hier am Himmel töten und seinem Leben
mühelos ein Ende setzen.
Eine der Katharerinnen schoss einen Pfeil auf den Engel ab,
doch dieser flog wirkungslos über dessen Schulter hinweg. Der
Engel zeigte der Frau die Zähne. „Du bist als Nächste dran,
Unreine!“
Genug. Dies ging nun lang genug so. Arlinn lenkte Kraft in
ihre starken Muskeln und stieß sich ab, um über die Köpfe der
umherwankenden Katharer zu springen. Sie bekam den Stiefel
des Engels zu fassen und verbiss sich in das Leder, während sie
ihn nach unten zog und auf die Seite warf. Der Engel prallte
mit einem deutlich vernehmbaren Geräusch am Boden auf.
Rembert stolperte aus der Umklammerung. Arlinn
verschwendete keine Zeit. Sie stürzte sich auf das heilige Wesen
und versenkte ihre Zähne in sein Fleisch. Sie bestand nun nur
noch aus Muskeln und Sehnen, getrieben von der wilden Kraft
der Lykanthropie, jenem Fluch, der ihr ein Segen geworden
war.
Binnen weniger Augenblicke war der wahnsinnige Engel tot.
Arlinn wandte sich hechelnd zu den Katharern um, doch sie
standen nicht unmittelbar hinter hier. Sie hatten sich vielmehr
am Rand der Schlucht versammelt, und einige lagen auf dem
Bauch und griffen nach etwas jenseits der Kante. Rembert war
nirgends zu sehen. Arlinns Herz setzte einen Schlag aus und sie
rannte auf die Schlucht zu, während ihr Verstand bereits
begriffen hatte, was gerade geschehen sein musste.
Sie irrte sich nicht. Sie nahm die Einzelheiten der Szenerie
noch in sich auf, während ihr Körper bereits handelte.
Rembert war verwundet. Er lag auf dem knorrigen Stumpf
eines toten Baumes, der sein Gewicht nicht lange tragen
würde. Er war zu weit unten, um ihn von der Kante aus zu
erreichen, weshalb sie bereits auf einen anderen zersplitterten
Baumstumpf geklettert war. Mit den Klauen in das morsche
Holz gekrallt ließ sie sich nach unten hängen und reichte
Rembert ihre Pfote.
Er schnappte bei ihrem Anblick erschreckt nach Luft und
kauerte sich zusammen, während ihm die Angst ins Gesicht
geschrieben stand.
Sie streckte ihre Pfote weiter aus und flehte ihn stumm an, sie
zu ergreifen.
„Untier.“ Rembert hatte endlich seine Stimme
wiedergefunden. „Ich werde dich töten.“
Ein Grollen regte sich in Arlinns Kehle, doch sie schluckte es
hinunter. Es waren Schmerz und Furcht, die ihn diese Worte
sprechen ließen. So viel Schmerz stand zwischen ihnen. Und
dennoch war da auch eine Verbundenheit. Die der Goldnacht.
Auf ewig. Arlinn schloss die Augen und hieß die Verwandlung
in ihre menschliche Gestalt willkommen. Sie würde den
Erzmagier nicht hier und heute Nacht aus reiner Furcht
umkommen lassen. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie
ihre menschliche Hand vor sich, die sie nach ihm ausstreckte.
„Nimm meine Hand“, sagte sie zu Rembert.
Arlinn Kord | Bild von Winona Nelson
Sein Blick fand den ihren. „Du hast mich belogen.“
Arlinn schluckte. „Das habe ich.“
„Du hast die anderen getötet.“
„Das habe ich.“
„Ich kann nicht ... Ich werde nicht ...“
„Ich bin keine Sklavin des Fluchs mehr“. sagte Arlinn. „Ich bin
nun frei, um eine Beschützerin zu werden, wie es mir bestimmt
war. Bitte. Einst kanntest du mich. Erkenne mich wieder.“
In Remberts Augen funkelten Tränen, als der Stamm unter
seinem Gewicht ächzte.
Arlinn streckte erneut die Hand aus. „Nimm meine Hand.“
Rembert wappnete sich und hob den Arm. „Avacyn, steh mir
bei“, flüsterte er.
„Avacyn ist tot“, sagte Arlinn. „Wir müssen nun ineinander
Stärke finden.“
DIE KLIPPEN VON SEHLHOF
Nahiri hatte Großes vollbracht.
Sie hatte ihren Eid erfüllt – jenen Eid, den sie im Staub Bala
Geds geleistet hatte. Unter ihren Fingernägeln und in den
Falten ihrer Kleidung war noch immer Staub, den sie als
Erinnerung dort belassen hatte. Seit ihrem Aufbruch aus
Zendikar hatte sie sich selbst zu unvermindertem Fleiß
angetrieben – jede Stunde eines jeden Tages und bis spät in die
Nacht hinein, angepeitscht von ihrer Wut. Sie hatte sich alles
abverlangt, um in die Blinden Ewigkeiten hineinzugreifen, mit
Fingern, die vom anschwellenden Äther brannten. Um mit
Stein zu arbeiten und mit Magie, die mächtiger war als jede
andere, die sie je zuvor gewirkt hatte. Und alles war zehnmal
schwerer gewesen, als sie ursprünglich geahnt hatte. Doch
nicht ein einziges Mal hatte sie sich beklagt, gezaudert oder
innegehalten, um sich auszuruhen. Und nun endlich würde sie
dafür belohnt werden. Sie würde sehen, wie sich all ihre
Mühen auszahlten. Und Sorin würde es auch sehen.
Innistrads letzter Schutz war dahin. Nahiri hatte gespürt, wie
das letzte bisschen davon abgefallen war, als hätte man einem
Krieger nach der Schlacht ein schweres Rüstungsteil
abgenommen. Die Welt war nackt und verwundbar. Allerdings
war der Kampf noch nicht vorüber. Er hatte gerade erst
begonnen.
„So wie Zendikar blutete, so wird Innistrad bluten.“
Nahiri hielt den Atem an. Der Boden unter ihren Füßen
bewegte sich. Die Welt begann zu pulsieren und wurde von
Beben erschüttert, wie eine Kette explosiver Reaktionen, die
tief unter der Oberfläche rumorten und durch die Nacht
hallten. Auch Sorin würde sie spüren. Dieser Gedanke erfüllte
Nahiri mit großer Zufriedenheit. „Komm!“, rief sie zum
Himmel empor. „Komm zu mir! Komm nach Innistrad!“

Verzerrte Landschaft | Bild von Cliff Childs


Dann spürte sie es: eine Präsenz.
Die Luft wurde heiß und stickig. Nahiri sog sie tief in sich
ein. Ja. Diesen Geruch kannte sie nur allzu gut. Eine
Aufregung erfasste sie, wie sie sie seit Jahrhunderten nicht
mehr verspürt hatte. Sie rannte zum Rand der Klippe. Ihre
Beine bewegten sich beinahe wie von selbst, und ihre
Gedanken konnten mit dem Hämmern ihres Herzens und dem
Trommeln ihrer Füße kaum Schritt halten.
Sie blickte zum Wasser. Zu jenem Tempel, den sie für den Gott
errichtet hatte. Er war nicht mehr leer. Tränen sammelten sich
in Nahiris Augenwinkeln, doch sie wischte sie fort. Dies war
nicht die Zeit für Tränen.
„So wie ich weinte, wird Sorin weinen.“
Wellen türmten sich auf. Die Gestalt unter der
Wasseroberfläche wurde größer und größer und drohte,
vollständig aus den Tiefen emporzubrechen. Endlich. Es war
Zeit.
DIE SÜMPFE GAVENS
Es war Zeit. Zeit zum Beten.
Erzengel Avacyn. Mutter meinte, ich soll beten, wenn ich Angst
bekomme. Ich habe gerade Angst.
Bild von Dan Scott
Obwohl er von Katharern mit schimmernden Klingen und
schwerer Stahlrüstung umgeben war, kauerte Maeli sich
zusammen. Er fühlte sich allein.
Er fühlte sich allein, seit er sich an jenem Tag, an dem die
entsetzlichen Engel mit ihrem Flammenregen gekommen
waren, aus dem Dorf geflüchtet hatte. Er war in den Wald
gelaufen, wie seine Mutter es ihm gesagt hatte, und er war
nicht ins Dorf zurückgekehrt. Hundert Mal hatte er es gewollt.
Doch sie hatte ihm gesagt, er könne auf keinen Fall
zurückkehren, und ihr Blick war dabei ernster gewesen als je
zuvor. Daher hatte er ihr lieber gehorcht. Nun wünschte er, er
hätte es nicht getan. Nun wünschte er, er wäre daheim.
Er umklammerte das ausgestopfte Häschen, das ihm die alte
Frau mit dem grauen Haar gegeben hatte. Die, die ihn im
Wald gefunden und in ihr Haus mitgenommen hatte, das nach
Süßigkeiten und trockenem Brot roch. Sie hatte ihm gesagt, er
solle sie Fräulein Sadie nennen und dass ihr Haus sein Haus
sein konnte, so lange er wollte. Doch das hatte er ja nie gewollt.
Erzengel Avacyn. Ich möchte nach Hause. Bitte. Darf ich nach
Hause gehen?
Keine Antwort. Stattdessen griffen dicke, sich windende Arme
nach ihm, die durch die Lücken zwischen den Katharern
hindurchschossen. Es waren dieselben Arme, die in ebenjener
Nacht aus Fräulein Sadies Brust hervorgebrochen waren,
gerade als sie gemeinsam beim Abendessen gesessen hatten. Es
war nicht lange nachdem geschehen, wie Maeli seinen Stuhl
erbeben gespürt hatte, und kurz nach einer Windbö, die durch
die offenen Fensterläden gefahren war und einen Duft wie von
zu süßem Nektar mit sich gebracht hatte. Als Fräulein Sadies
Brust sich aufgetan hatte, hatte er den Löffel im Mund gehabt,
weil er just in jenem Augenblick im Begriff gewesen war, einen
Mund voll dünnem Eintopf herunterzuschlucken. Das meiste
davon war ihm aus der Nase gesprudelt und hatte ihn
verbrannt – in seinem Kopf, hinter den Augen. Das hatte ihn
zum Weinen gebracht. Tränen waren ihm die Wangen
hinuntergeströmt, als Fräulein Sadie ihm mit ihren viel zu
vielen Armen nachgejagt war.
„Bleib zurück!“ Die Katharer bewegten sich durch das hohe
Gras und hackten einen Arm nach dem anderen ab. Einer
landete zu Maelis Füßen. Als er zu ihm hinunterschaute,
verkrampften sich Maeli die Eingeweide. Dies war zweifellos
einer ihrer echten Arme. Da war ein Fetzen jener gelben Bluse,
die sie getragen hatte, und ein Stückchen weiter starrte ihm ihr
großes, haariges, braunes Muttermal entgegen.
Maeli vergrub das Gesicht in dem ausgestopften Häschen, und
eine Träne rollte ihm die Wange hinab. Bitte, Avacyn. Der
Engel war schon einmal zu ihm gekommen. Avacyn hatte ihm
geholfen, als er sich verirrt hatte und von Furcht ergriffen
gewesen war. Seine Mutter hatte ihm gesagt, dass Avacyn
gekommen war, weil sie für seine Rettung gebetet hatte – so
inständig, dass Avacyn sie ihr nicht hatte verwehren können.
Maeli wusste nicht, wie ein Gebet inständiger sein konnte als
ein anderes, und er wusste auch nicht, wie er sein Gebet so
inständig machen konnte, dass Avacyn zum Erscheinen
gezwungen war, doch er wusste, dass er es versuchen musste. Er
schrie sein Gebet in das feuchte, verfilzte Fell des ausgestopften
Häschens hinein, so laut er nur konnte. „BITTE, AVACYN!
HILF MIR!“
„Avacyn ist tot!“ Die Stimme durchbohrte die kalte Leere in
Maelis Magen, und eine eisige Furcht sickerte daraus hervor,
die ihm die Wirbelsäule bis zum Nacken hinaufkroch. Wie
kalte Finger fuhr sie ihm unter den Schädel, packte seinen
Kopf und wandte seine Augen zum Himmel.
Ein Engel.
Engelhafte Säuberung | Bild von Zezhou Chen
Einen flüchtigen Augenblick lang keimte Hoffnung in Maelis
Herz. Hoffnung, dass dies nur eine Lüge sein mochte, doch
noch während er sie verspürte, begriff er, dass der Engel, der
dort droben schwebte, nicht Avacyn war.
„Sie ist jetzt hier“, sagte der Engel und blickte Maeli
unverwandt in die Augen. „Sie erhebt sich! Sie erhebt sich!“
Der Engel warf den Kopf zurück und stieß ein kreischendes
Lachen aus, das über den gesamten Himmel hallte. Dann
brach das Gelächter jäh ab, und der Engel blieb einen
Wimpernschlag lang vollkommen reglos, als wäre er am
Firmament eingefroren. „Ich – bin‘mrakul!“ Er stieß herab und
seine Klinge schnitt durch die Luft vor ihm. Maeli kniff fest die
Augen zusammen. Bitte.
DIE KÜSTE NEFALENS
Bitte. Bitte erwähle mich. Edith klammerte sich mit den Zehen
an den glatten, nassen Felsen und versuchte, Tritt zu fassen. Sie
war so dicht, wie sie zur Zeit herankam. So dicht, wie es vor der
Auferstehung und dem Werden möglich war. Und dennoch
wollte sie noch dichter heran.
Bitte erwähle mich. Sie hatte bewiesen, wie fromm sie war.
Mehr als fromm. „Mehr als fromm.“
Erwähle mich. Sie warf flüchtige Blicke unter ihrer Kapuze
hervor, erst zur einen, dann zur anderen Seite. Ja. Auf den
Felsen in der Nähe befanden sich tatsächlich keine anderen
Kultisten. Sie richtete sich auf. Stolz. Niemand war hier, wo sie
war. Niemand war so dicht heran. Sie war Ihr am nächsten.
„Am nächsten.“ Sie wollte Ihr noch näher sein.
„Erwähle mich! Mich! Mi‘mrakul!“ Sie reckte die Arme gen
Himmel und öffnete sich der, deren Ankunft bevorstand.
Die Wellen schlugen über ihr zusammen. Sie spürte es. Es war
Zeit.
Bild von Joseph Meehan
„Emrakul!“ Der Name, die Macht, die Vollkommenheit
breiteten sich in ihr aus, während das Wasser um sie herum
toste. „Emrakul!“ Die Ganzheit hüllte sie ein, verflocht sich mit
ihr, wurde eins mit ihr. Das Meer schwoll an, weiter und weiter
dem Himmel entgegen. „Erwähle mich, Emrakul! Nimm mich!
Emrakul.“
Andere Stimmen erklangen hinter ihr, um gemeinsam mit ihr
im Takt des purpurnen Leuchtens, das unter der
Wasseroberfläche pulsierte, zu singen. „Erwähle mi‘mrakul!
Nimm mi‘mrakul. Bin‘mrakul.“
Das Leuchten wurde heller, stärker, mächtiger und schließlich
zu einem beständigen Licht. Edith kroch auf ihrem Felsen
weiter nach vorn, während ihre Zehen nach Halt suchten. Sie
war die Vorderste. Am nächsten. Noch näher. Und noch
näher.
Um sie herum schlugen die hohen, verkrümmten Steinsäulen
Funken in die Nacht. Violette Blitze der Macht lösten sich aus
den spitzen Kanten und sprangen von einer zur anderen und
dann zur nächsten. Ihre Macht. Es war Ihre Macht. Alles war
Sie. Näher. Näher.
Bild von Jaime Jones
Das anschwellende Wasser ließ die Wellen tosen und brodeln.
Land und Meer waren nun kaum noch zu unterscheiden. Edith
bewegte sich dichter heran. Noch niemals zuvor war sie bei
irgendetwas die Erste gewesen. Die Beste. Noch niemals zuvor.
Aber es hatte auch noch niemals zuvor irgendetwas gezählt.
Nun jedoch zählte es, und nun war sie es. Die Erste. Am
nächsten. Die Beste. „Bin‘mrakul!“
Das Meer spie einen Teil seiner selbst in den Himmel hinein.
Das Wasser ragte wie eine dicke Steinsäule auf, brach in sich
zusammen und wuchs zugleich wieder aufs Neue an ...
Wütendes Chaos. Und dann erstarrte es, als wäre die Zeit
angehalten worden. Es hing wie eine felsige Klippe am
Himmel. Von unten erklang ein Grollen.
Und dann erhob sich Emrakul.
Bild von Tyler Jacobson
Edith konnte das Heulen, das ihr aus der Brust aufstieg, nicht
unterdrücken. Der Klang ihrer Stimme schwoll mit den Wogen
Ihrer Macht an und verschmolz mit der Resonanz Ihrer
Umarmung. Vollkommen.
Emrakul sah Edith vor sich. Sie blickte mit einem riesigen,
leuchtenden purpurnen Auge auf sie herab.
Und Edith sah Emrakul. Sie starrte wie gebannt in das
Leuchten und versank tiefer und tiefer in der Intensität Ihres
Seins. Es gab so vieles zu sehen, so vieles zu werden. Sie war
erwählt worden. „Bin‘mrakul.“
Sie lehnte sich noch dichter heran.
DIE TIEFEN DES ULVENWALDES
Sie lehnte sich noch dichter heran und drückte ihren Rücken
gegen den Alenas. Sie waren umzingelt. Hal spürte den Drang,
sich zu ergeben und sich einfach zu Boden sacken zu lassen.
Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Wärme, die von
Alenas Armen ausging, und auf das Gefühl, wie sie sich gegen
ihr eigenes klammes Fleisch drückten, und handelte so, als
stünde die Welt nicht am Rande des Zusammenbruchs. „Wo
willst du anfangen?“ Wie beiläufig warf sie die Frage über ihre
Schulter.
Schritt für Schritt drehten sie sich auf der Stelle um eine
gemeinsame Achse und schätzten dabei die Schwere der vor
ihnen liegenden Aufgabe ab. Sie befanden sich in einem Hain
im Ulvenwald, doch der Ulvenwald war nicht mehr so, wie sie
ihn einst gekannt hatten. Alles war verzerrt und grässlich
geworden: Die Bäume hatten Arme mit langen, schlanken
Fingern, die nach Hals Haar griffen; die Brombeerhecken
hatten Münder, die schwatzten und kreischten; das Moos hatte
Beine, auf denen es wie Ratten umherhuschte; und selbst die
Städter, die nicht hierher in den Wald gehörten, hatten der
drängenden Macht nachgegeben und waren zu Geschöpfen
geworden, die viel schlimmer waren als jedes Ungeheuer, das
Hal je gesehen hatte.
„Wir sollten mit den Städtern anfangen“, sagte Alena.
Hal nickte.
Es waren drei. Sie waren derart mutiert, dass ihre menschliche
Gestalt kaum noch zu erkennen war.
„Kom‘mrakul. Sei‘mrakul“, riefen sie.
Hal spürte den Sog in ihren Worten. Sie waren der
Versuchung gefolgt, die auch Hal so bedrängt hatte. Sie hatten
ihm nachgegeben und mussten ihm nun nicht mehr
widerstehen.
„Sind‘mrakul. Wir‘mrakul.“
Hals Ohren dröhnten, und in ihren Eingeweiden rumorte es.
Es könnte so leicht sein. Sie könnte ... Nein! Alenas
gleichmäßiger Herzschlag sagte Nein.
„Ich fange mit dem Schreckhaften an und du mit dem
Dicken.“ Alenas Stimme bebte nicht. Kein einziges Mal.
Hal zwang sich, ihrer zugeschnürten Kehle und dem Druck in
ihrem Schädel keine Beachtung zu schenken. „Klingt wie ein
Plan.“ Sie würde es versuchen. Sie würde kämpfen. Sie griff
nach ihrer Klinge und verschloss ihr Bewusstsein vor dem
verworrenen Singsang. Der Dicke. Sie konzentrierte sich auf
den Dicken ... und keuchte dann erschrocken.
„Alena. Alena, ist das ...“ Hal konnte den Satz nicht beenden.
Alena spähte herüber. „Der Älteste Kolman. Möge der Engel
ihm gnädig sein.“
Bild von Dan Scott
Ein Schwindel packte Hal und ihr Blick verschwamm.
Unmöglich.
„Sind‘mrakul.“ Die Abscheulichkeit, die einst der Älteste
gewesen war, schlurfte vorwärts. Alles, was Hal tun konnte,
war, ihr Schwert zu ziehen und seinen dicken, ausladenden
Arm abzuwehren.
„Kom‘mrakul. Sei‘mrakul.“ Kolmans Worte taumelten durch
Hals angegriffenes Bewusstsein. Wie konnte dieses Ungeheuer
ein Mann sein, den sie einst gekannt hatte?
Er holte mit einem Arm, der eher einem Baumstamm ähnelte,
nach ihr aus. Hal stolperte zurück. Ihre Gedanken rasten.
„Sind‘mrakul. Sei‘mrakul.“ Die Worte legten sich um sie und
hüllten sie ein. Sie sagten ihr, sie bräuchte nicht
nachzudenken, bräuchte sich nicht zu sorgen ... Nur
nachgeben. Sei‘mrakul. Bin‘mrakul.
„Hal?“ Alenas Stimme. „Hal! Sein Arm! Schau nach rechts!“
Hal hörte die Worte, verstand sie jedoch nicht. Urplötzlich
fuhr ein silberner Blitz durch den dicken Arm des Ältesten.
Alenas Klinge. Hal wusste, dass sie ebenfalls ihr Schwert
schwingen sollte. Doch es war so schwer. Es wollte nicht
geschwungen werden.
Sei‘mrakul. Ein‘mrakul. Sie fühlte sich, als würde sie schweben.
„Hal!“ Alena klang verärgert. Doch sie war weit weg. So weit
weg.
Sei‘mrakul.
„Bleib bei mir, Hal.“
Sind‘mrakul.
„Ich brauche dich.“
Bin‘mraku...
„Bitte!“
Es war Alenas Berührung – ihre schweißnassen Finger, die
nach Hals Handgelenk griffen –, die sie von der erdrückenden
Umarmung wegrissen. Sie blickte zu der Frau auf, die sie liebte.
„Hal? O bitte, Hal.“
Sie wollte nicht, dass Alena verärgert war. Sie wollte nicht, dass
Alena so weit weg war. Und sie wollte nicht, dass Alena allein
war.
Sie musste kämpfen. Es war schwer. Schwerer als alles, was sie
je zuvor getan hatte. Doch sie musste es tun. Sie drängte das
Dröhnen aus ihrem Schädel und fand die nötige Kraft, die
Klinge zu heben. „Es geht mir gut, Alena“, sagte sie. „Es wird
alles gut.“
„Natürlich wird es das.“ Hal spürte, wie die Anspannung aus
Alenas Körper wich, als sie ihr auf die Beine half.
„Sei‘mrakul.“ Die Wangen des Ältesten blähten sich auf.
Hal funkelte ihn an – Nein!Dieses Ding war nicht er. Das war
nicht der Älteste Kolman. Das war ein Ungeheuer. Eines, das
drohte, Hal von der unerschrockenen Frau an ihrer Seite
fortzureißen. Das würde sie nicht zulassen.
„Ich finde, wir sollten ihn uns gemeinsam vornehmen.“ Alena
nickte in Richtung des Ungeheuers.
„Ja, ich glaube, das wäre wohl das Beste.“
Sie standen Seite an Seite und drückten ihre Schultern eng
gegeneinander. Alena atmete ein. „Auf mein Zeichen.“
Hal brauchte Alenas Zeichen nicht, um zu wissen, wann sie
handeln musste. Sie spürte, wie sich Alenas Muskeln bewegten,
und die ihren reagierten instinktiv. Gemeinsam waren sie wie
eine Doppelaxt, nach beiden Seiten zuschlagend, aber in der
Mitte stets verbunden. Alena hieb durch die linke Schulter des
Ungeheuers, während Hals Klinge auf die rechte eindrosch.
Die sich windenden Gliedmaßen landeten zu ihren Füßen,
doch die Abscheulichkeit schien dies kaum zu bemerken. Sie
stürzte sich ihnen entgegen. „Wir‘mrakul!“
Hal schwang erneut ihre Klinge und enthauptete den einst
heiligen Mann, der immer noch unbeirrt weitersang:
„Bin‘mrakul, Sind‘mrakul, Emrakul!“
Hal ertrug die Worte nicht mehr. „Sei still!“ Sie hob die Klinge
und schlug mit solcher Kraft zu, dass sie den Kopf des Ältesten
in zwei Teile spaltete. Ein Gewirr verflochtener Wurzeln quoll
aus ihm heraus, als wären sie die ganze Zeit viel zu eng darin
hineingestopft gewesen.
Der Singsang endete. Es war getan.
Hal streckte die Hand aus und fand die Alenas. So
unvermittelt, wie sich ihre Finger miteinander verschränkten,
wusste Hal, dass Alena immer da sein würde. Stumm versprach
sie, es ihr gleichzutun.
„Wir‘mrakul.“ Hinter ihnen erklang die Stimme eines anderen
Städters. „Sei‘mrakul.“
Hal wollte schreien. Und dann sah sie es. Eine Öffnung
jenseits der Leiche des gefallenen Ältesten, die aus dem Hain
des Schreckens hinausführte. „Komm!“ Sie zog an Alenas
Hand. „Hier entlang!“
Alena folgte Hal durch die tastenden Gliedmaßen und sich
windenden Massen hinaus. Hinaus in den Wald. Hinaus, wo
die Luft nicht nach verwesendem Fleisch roch. Hinaus, wo die
Brombeerhecken verwurzelt blieben und das Moos nicht in
kranken Mustern über den Boden huschte.
Sie rannten, bis sie den Singsang nicht mehr hören konnten,
bis sie das Dröhnen in ihrem Schädel nicht mehr spürten. Und
dann rannten sie weiter, bis ihre Muskeln brannten und ihre
Lungen schrien. Am Rand einer Klippe hielten sie an, sanken
ineinander, Stirn an Stirn. Hände griffen nach Schultern,
Atem verband sich in dem kleiner werdenden Raum zwischen
ihren Lippen.
„Hal.“
„Alena.“
Sie würden dies niemals aufgeben; sie würden niemals
loslassen.
DER HIMMEL ÜBER INNISTRAD
Sie würden niemals loslassen. Niemals. Sie hatten das Licht
gesehen und die Macht gespürt. Die Wahrheit hatte sie
umfangen. Sie hatte sie erschaffen.
Bruna war fort.
Sela war vollendet.
Stattdessen waren sie entstanden. Sie. Eins. Ein‘mrakul.
Emrakuls Engel breitete vier Schwingen aus, reckte zwei Arme
in die Höhe und rief mit einer Stimme, die aus zwei Mündern
erklang: „Wir sind Emrakul!“
Bild von Clint Cearley
Sie waren Ihr Abbild, das Abbild Ihrer ewigwährenden
Wahrheit, und ihre Stimme war die Ihre. „Wir sind Emrakul!“
Der Ruf zog andere an. „Wir sind‘mrakul!“ Stimmen erhoben
sich von der Welt unter ihnen und verschmolzen in einem
Klang, einer Wahrheit. „Ein‘mrakul, Sein‘mrakul, wir‘mrakul!“
Es war unbeschreiblich. Es war alles. Es war Sie.
Emrakuls Engel führte sie alle hinab, um Ihrer strahlenden
Gestalt zu folgen. Was einst dunkel war, war nun ihr Ihr Licht
getaucht. Wahres Licht, das sich weiter und weiter ausbreitete,
ein strahlender Sonnenaufgang, der bald jeden Winkel der
Welt berühren sollte. „Alles ist Emrakul! Wir sind Emrakul!“
DIE GEWUNDENE STRASSE NACH THRABE
Wir sind Emrakul. Alles ist Emrak... „Gah! Nein.“ Jace wischte
die wirbelnden Worte entschlossen aus seinem Bewusstsein.
„Und bleibt mir ja weg.“
Tamiyo hatte ihn gelehrt, sich gegen Emrakuls wahnsinnig
machende Berührung zur Wehr zu setzen, doch es war
schwieriger, das geistige Bollwerk aufrechtzuerhalten, als die
Mondfrau es aussehen ließ. Das war ein Hindernis. Ein großes
Hindernis für seinen Plan.
Jedes Mal, wenn er sich zu lange auf etwas anderes als die
Eldrazititanin konzentrierte, kroch Ihr verderbtes Geflecht
zurück in seinen Kopf, nagte an seiner Verteidigung und grub
sich in die tiefsten Rückzugsorte seines Geistes.
Dieses Mal war es der Anblick des pervertierten Engels am
Himmel über ihm gewesen, der ihn abgelenkt hatte. Er hatte
sich gut geschlagen, als er seinen Blick auf Tamiyos Rücken
geheftet und sich auf ihre Reise über die Felsen konzentriert
hatte. Er folgte ihr zu etwas, was sie den Nexuspunkt nannte.
Doch die Anwesenheit des Engels war unmöglich zu ignorieren
gewesen. Seine Gestalt war so unfassbar fremdartig, dass Jaces
Neugier die Oberhand gewonnen hatte. Er hatte hinaufgespäht
und war sofort von dem Anblick gefangen gewesen, während er
sich noch mühte, ansatzweise zu verstehen, was er da eigentlich
sah. Zunächst hatte er es für einen Dämon gehalten, doch es
war viel schlimmer als das. Als er endlich die zahlreichen
Schwingen, das rankenhafte Bindegewebe zwischen den beiden
Köpfen und die widerhallende Stimme verarbeitet hatte, hatte
er sich schon verloren gehabt. Das war nicht hinnehmbar. Für
das, was er zu tun beabsichtigte, musste er in der Lage sein, auf
seinen Verstand zu vertrauen. Doch hatte er das eigentlich
wirklich vor? Konnte er es tatsächlich irgendwie rechtfertigen,
die anderen hierherzubringen? Sie diesem Wahnsinn
auszusetzen?
Die Frage lag ihm schwer im Magen und schwoll zu einer
Woge der Übelkeit an. Er hatte gedacht, es wäre das Richtige.
Oder etwa nicht? Ja, das erschien wie die einzige Lösung. Er
war sich sicher. Sogar so gut wie vollkommen sicher. Ganz
dicht an vollkommen sicher dran. „Gah!“ Jace warf die Arme
in die Luft.
„Pst!“ Tamiyo warf einen tadelnden Blick über die Schulter.
„Entschuldige.“ Jace hob beschwichtigend die Hände.
Tamiyo schaute finster drein, wandte sich dann aber erneut
dem Pfad, ihrer magischen Laterne und ihren sanften Schritten
zu. Er sollte es ihr sagen. Er sollte ihr sagen, dass sie hier
warten sollte und er Hilfe holen würde. Das hier war größer als
alles, was sie zu zweit bewältigen konnten. In Wahrheit war es
das schon immer gewesen, selbst als Jace noch dachte, dass es
nur um den wahnsinnigen Engel Avacyn ging. Wäre Sorin
nicht in der Kathedrale gewesen ... Sorin. Jace verfluchte den
uralten Vampir, der Innistrad an den Rand der Vernichtung
geführt hatte, um dann einfach davonzuschweben und Jace die
Beseitigung dieses Chaos zu hinterlassen.
Ein Titan der Eldrazi war jedoch nichts, was Jace hätte allein
beseitigen können. Das war nichts, was er jemals hätte allein
vollbringen sollen. Gideon selbst hatte Jace aufgetragen, nach
Zendikar zurückzukehren, falls er Neuigkeiten über den
Verbleib des Titanen erfuhr. Nun, Jace hatte sogar mehr als das
getan. Er hatte Sie gefunden. Gideon würde gewiss sehr
zufrieden sein.
Vor ihm hielt Tamiyo am Ufer inne und hob die Laterne. Jace
folgte den Strahlen aus magisch verstärktem Licht und hob den
Blick zum Himmel. Umgehend wünschte er, er hätte es nicht
getan.
Es war das erste Mal, dass er Sie tatsächlich sah. Die Titanin.
Emrakul.
Bild von Jason A. Engle
Jace war wie gebannt.
Er hätte schwören können, dass Emrakul größer war als die
anderen beiden. Und auf ihre Weise viel, viel mächtiger. Sie
war erst eine kurze Zeit auf dieser Welt und doch schien ihr
bereits so vieles davon zu gehören. Ganz Innistrad hatte sich
aufgemacht, ihr zu folgen. Kultisten, in Ihrem Abbild
pervertiert, schleppten sich über die Felsen und ließen alles
hinter sich, was sie in ihrem früheren Leben gewesen waren.
Tiere und Ungeheuer gleichermaßen scharten sich zu Lande,
zu Wasser und in der Luft hinter ihr, während sie sich immer
weiter voranbewegte. Die Bäume, das Moos und das Unterholz
... Selbst die Algen krochen aus dem Wasser, um ihr nahe zu
sein.
Auch Jace verspürte den Drang, zu ihr zu gehen. Bin‘mrakul.
Nein.
Er wollte sich selbst schütteln. Er musste seine Gedanken
ordnen. Er musste nachdenken. Er durfte Sie nicht bekommen
lassen, was Sie wollte. Erneut ahmte er das nach, was Tamiyo
ihn gelehrt hatte, und ballte vor Anstrengung die Hände zu
Fäusten. Der Vorgang, sich zu vergewissern, dass kein
Quäntchen Delirium in seinem Bewusstsein verblieben war,
ähnelte dem, Spinnweben im Inneren des eigenen Schädels
fortzuwischen. Dicke, verflochtene Spinnweben, die von einer
hoch aufragenden Ungeheuerlichkeit der Eldrazi gewoben
wurden, welche im Begriff war, den Verstand eines jeden
Lebewesens auf dieser Welt zu verzehren. Jace erschauderte.
Das war es, was er für sie tun musste. Für Gideon und
Chandra und Nissa. Er musste nicht nur seine, sondern auch
ihre Gedanken schützen. Er durfte sie nicht hierherbringen,
nur damit sie von Ihr verschlungen wurden. Das würde er auch
nie tun. Die Frage lautete nun also: Konnte er das schaffen? Er
hatte sich das bestimmt schon Hunderte von Malen gefragt,
doch er hatte noch immer keine Antwort.
„Du sagst, man nennt Sie Emrakul?“ Tamiyos neugierige
Stimme riss Jace aus seinen Gedanken. Er warf ihr einen Blick
zu. Ihr Gesicht war ein wahres Sinnbild innerer Ruhe, ganz so,
als fiele ihr das Schützen ihres Bewusstseins vor dem
Wahnsinn nicht schwieriger als das Atmen.
„Ja“, sagte Jace. „Das ist einer der Namen, den man Ihr
gegeben hat.“
„Faszinierend, dass ein derartiges Ding einen Namen hat.“
Tamiyo nahm ihr Teleskop vom Gürtel und hielt es sich vor
ein Auge. „Ich frage mich, wie Sie sich wohl selbst nennen
mag.“
Jace hatte darüber noch nie nachgedacht. Er wäre nie darauf
gekommen, dass das von irgendeiner Bedeutung sein könnte.
Die Mondfrau blickte so viel anders als er auf diese Dinge. Er
starrte auf Emrakuls massige Gestalt und versuchte, Sie mit
Tamiyos Augen zu sehen. Er blickte in Ihr gewaltiges,
purpurnes Auge. Es sah warm und einladend aus. Er fragte
sich, was es dahinter zu finden gab. Kurz vor dem Steilhang
hielt er sich zurück. Wie heißt du?, fragte er. Wie nennst du
dich?
Eine Flut an Worten hallte aus allen Winkeln seines
Bewusstseins wider:
Die ewige Unendlichkeit ... Diese Welt gehört mir.
Das Absolute ... Ich werde alles haben.
Der Anfang ... Ich werde alles sein.
Das Sein ... Alle sind‘mrakul.
Das Ende.
Das Ende.
Das Ende.
Jace zog sich zurück und schnappte nach Luft. Dies war nicht
das Ende. Dies würde nicht das Ende sein. Nicht für ihn und
nicht für Innistrad. Er musste zu zweifeln aufhören und es
nicht länger aufschieben. Er musste seinem Verstand
vertrauen. Erneut blickte er zu der seelenruhigen Tamiyo.
Wenn sie das schaffte, dann konnte er das auch. Für sie. Ja. Es
war Zeit, die Wächter nach Innistrad zu holen. Er räusperte
sich. „Tamiyo, ich muss fort.“
„Was?“ Tamiyo drehte sich um. Ihre lavendelfarbenen Augen
waren weit aufgerissen.
„Es gibt noch drei andere. Planeswalker. Sie sind mächtig, sie
sind die Besten, die es gibt, und sie können helfen. Ich muss
sie holen. Auf einer anderen Welt haben wir zwei andere
Kreaturen dieser Art getötet.“ Er nickte in Emrakuls Richtung,
ohne Sie anzusehen.
Tamiyo schien ihm nicht recht zu glauben. „Zwei?“
„Es hat uns alles abverlangt, aber ja.“
Tamiyo legte den Kopf schräg und schaute ihm in die Augen.
Jace hatte den Drang, wegzusehen. Er fühlte sich schuldig unter
ihrem prüfenden Blick, obwohl er sich nicht sicher war,
warum. Und dann lächelte sie plötzlich. „Das habt ihr. Das
habt ihr wirklich und wahrhaftig getan. Diese Geschichte
würde ich zu gern hören.“ Sie seufzte. „Ein anderes Mal. Wenn
die Geschichte dieser Welt auf ein anderes Ende als
Dunkelheit hoffen soll, dann müssen wir alle unseren Beitrag
leisten.“
„Wirst du mich begleiten?“
„Nein, Jace. Das ist nicht mein Weg.“
„Wirst du hier sein, wenn wir zurückkommen?“
„Wir alle werden dort sein, wo wir sein müssen.“
Jace öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch dann
spürte er eine beruhigende Berührung in seinem Bewusstsein.
Tamiyo. Er musste sich nicht mehr anstrengen, um dem
Wahnsinn standzuhalten. Ihm war nicht einmal aufgefallen,
dass er sich so sehr abgemüht hatte. Es war wie ein grässlicher
Kopfschmerz, der endlich abflaute. Erleichterung. Er
entspannte sich.
„Ich werde deinen Geist schützen, damit du diese Welt
verlassen kannst“, sagte Tamiyo. „Geh.“
In diesem Augenblick wollte Jace nichts sehnlicher, als zu tun,
was sie sagte. Er wollte fortgehen, diese Welt und die Titanin
hinter sich lassen. Auf jene Welt zurückkehren, die sie bereits
gerettet hatten. Zendikar. Seetor. Zum Meervolk, den Kor und
den Vampiren, die nun geeint waren. Nissa würde da sein, mit
ihren leuchtenden grünen Augen. Und Gideon mit seinen
breiten Schultern und seinem offenen Lächeln. Und ...
„Nun sieh mal an, wer sich entschlossen hat, doch noch
aufzutauchen. He, Gideon, hier drüben!“
... Chandra.
„Das wird aber auch Zeit!“ Das Geräusch von Stiefeln
manifestierte sich in Jaces Ohren und das Nachbild Emrakuls,
wie Sie über ihm aufragte, würde durch das lächelnde Gesichts
eines Freundes abgelöst.
Dünne Drähte aus Metall hingen von den Enden des
Kettenschleiers. Liliana Vess konnte in den Verbindungen aus
Spektralglas, an denen die Drähte befestigt waren, beinahe ihr
Spiegelbild sehen, genau wie in dem Gitternetz der
Hexenbann-Kugel auf dem Fenstersims und auch in den
leitenden Röhren, die aus dem Fenster hinaus aufs Dach
führten. Die Zeichnungen auf ihrem Gesicht waren durch den
Schleier gerade eben noch sichtbar. Die Linien auf ihrer Haut
passten zum bedrohlichen Licht der Sturmwolken. Blitze
zuckten in angemessener Weise.
Zwei Dämonen mussten noch sterben. Liliana musste jedoch
gewährleisten, dass sie nicht selbst den Tod fand, sobald es ihr
gelang, ihnen gegenüberzutreten. Der Kettenschleier war eine
mächtige Waffe, die für ihren Träger allerdings nicht minder
tödlich sein konnte. Falls all das hier Erfolg zeigte, würde sie
den Schleier gefahrlos einsetzen können. Dann wäre sie nicht
auf die Hilfe irgendeines dahergelaufenen Gedankenmagiers
angewiesen, der es vorzog, quer durch die Provinzen
irgendeinem Geheimnis nachzujagen. Und sie würde das
Multiversum ein für alle Mal von jenen Kreaturen befreien
können, in deren Schuld sie stand.
„Sind wir bereit?“, fragte Liliana.
Der Kettenschleier | Bild von Volkan Baga
Die anderen, die sich mit ihr im Turm aufhielten, waren nicht
einmal ansatzweise so schlau wie der Junge im Mantel, doch sie
würden genügen müssen. Der Geistermagier Dierk ging mit
einem kaum hörbaren Murmeln eine nur in seinem Kopf
aufgeführte Liste von Gegenständen durch, während er eine
Reihe von Düsen und Klammern an der Kugel ausrichtete.
Dierks Gehilfe Gared stand am Fenster. Der Blick aus seinem
großen Auge huschte zwischen der Ausrüstung und dem
Gewitter draußen hin und her. Gared hatte die Hand auf
einen Hebel gelegt, dessen schiere Größe den Ausmaßen ihres
Unterfangens durchaus gerecht wurde.
„Die Kollektoren sind ausgerichtet, gnädige Frau“, sagte der
Geistermagier. „Und der Sturm erreicht seinen Höhepunkt.
Doch ich fühle mich zu der Anmerkung verpflichtet, dass wir
eine gewaltige Menge spektraler Energie in das Artefakt ...“
„Du brauchst mich nicht zu warnen“, sagte Liliana.
„... leiten werden, indem wir uns der Urgewalt eines Gewitters
bedienen.“
„Richtig.“
„Während Sie es tragen."
„Ich weiß.“
„In Ihrem Gesicht.“
Liliana verdrehte die Augen. „Der Fluss der Geisterenergie
durch die Kugel wird daher als eine Art Spektralempfänger
fungieren und die Gegenkraft des Objekts vom Subjekt
wegleiten, was den Rückschlag in harmlose statische Energie
umwandelt, um so sämtliche Nebenwirkungen zu eliminieren
und damit die gefahrlose Handhabung des Artefakts
sicherzustellen.“
Dierk warf Gared einen Blick zu und tippte sich mit
behandschuhten Fingerspitzen gegen den Mund. „Zumindest
der Theorie nach.“
„Hör mal, Dierk“, sagte Liliana. „Meine Freundin hat dich
empfohlen, weil sie meinte, du würdest etwas von Geistern und
Besessenheit verstehen. Ist das nun der Fall oder nicht?“
„Natürlich, gnädige Frau“, sagte Dierk beschwichtigend.
„Also?“
„Also fahren wir fort.“ Dierk rückte sich die Schutzbrille
zurecht. „Ich sollte vielleicht hinzufügen, dass dieser Vorgang ...
schmerzhaft ... sein wird.“
„Schmerz vergeht“, sagte Liliana und lehnte sich in ihrem
Sessel zurück. Die Drähte baumelten von den herabhängenden
Enden des Kettenschleiers. „Außerdem würden wir nicht das
Geringste erfahren, wenn wir Gared einem Testlauf
unterzögen.“
Gared grinste. Sein größeres Auge schloss sich kurz wie das
eines Reptils. Dierk nickte ihm zu. Gared legte ruckartig den
großen Hebel um.
Bild von Adam Paquette
Die Hexenbann-Kugel summte und Zeiger schlugen aus.
Liliana spürte, wie die Glieder des Schleiers die Umrisse ihres
Gesichts berührten.
„Er ist aktiviert“, sagte Dierk. „Alles, worauf wir nun noch
warten müssen, ist ein ausreichend naher –“
Blitz.
Liliana biss unwillkürlich die Zähne zusammen, als der Schub
kam. Sich windende Schlingen aus Energie bildeten sich an
den Drähten, die von den Kollektoren auf dem Dach
hinunterführten, und die Geister der Toten folgten ihnen
unmittelbar nach. Sie fuhren durch die Röhren und füllten die
Kugel und das verstärkte Glas mit elektrospektralen Schreien.
Ein Funkenregen stob von den Apparaturen auf, doch der
Aufbau hielt.
Eine Welle heulender Energie wogte durch den Schleier.
Liliana spürte, wie sich sein Gewicht leicht von ihren Wangen
hob und seine Glieder sich gegen die Schwerkraft zur Wehr
setzten.
Sie warf einen raschen Blick zu den anderen. Dierk hatte es
aufgegeben, die Klemmen und Schalter noch feiner justieren zu
wollen. Stattdessen drückte er sich mit schützend vors Gesicht
gehobenen Armen mit dem Rücken gegen die Wand. Gared
streckte einen Finger nach einem umherpeitschenden Bündel
Energie aus und schreckte zurück, als er es berührte. Zwischen
den beiden sah Liliana, wie sich ihre Zeichnungen leuchtend in
der Ausrüstung spiegelten und das eingeritzte Diagramm ihres
Dämonenpakts einen schimmernden Widerschein um sie
herum bildete.
Diese Augenblicke waren es, in denen Liliana sich am
schönsten fühlte: wenn sie kurz davorstand, Gebrauch von
einer Macht zu machen, vor der andere sich fürchteten.
Sie klammerte sich an die Sessellehnen und rief die Macht des
Schleiers an.
Der Rückschlag trat unmittelbar und mit absoluter Heftigkeit
ein. Die Tausenden von Seelen im Schleier erfüllten sie mit
Macht, doch mit der Macht kam der Schmerz, und dieser war
Gift, das einen blendete. Der Schmerz war untrennbar mit
jener Macht verwoben, die der Schleier gewährte. Der
Spektralkreislauf hatte nichts vom Rückschlag irgendwohin
abgeleitet.
Glaskolben zerplatzten und die Kollektoren brannten aus.
„Ich beende das jetzt!“, sagte Dierk und griff nach dem Hebel.
„Nein“, sagte Liliana mit messerscharfer Stimme. Dierk zog die
Hand zurück.
Der Raum erbebte. Liliana klammerte sich an den Sessel. Sie
versuchte, das Beben einzudämmen. Sie versuchte, den Schrei
zu unterdrücken, der sich so verzweifelt Bahn brechen wollte.
Sie versuchte, irgendetwas anderes als nur den Schmerz zu
sehen. Schmerz vergeht.
Als sie es nicht mehr aushielt, schrie sie auf. Sicherungen
brannten durch und der Turm wurde in Dunkelheit getaucht.
Das spektrale Heulen verklang und Liliana hörte nur noch
ihren erschöpften Atem.
Gared riss ein Streichholz an und entzündete eine Laterne. Das
Laboratorium war verwüstet, die Ausrüstung zerstört. Regen
trommelte auf den Fenstersims.
Liliana löste den Kettenschleier und streifte ihn ab. Blut rann
aus ihren Zeichnungen.
„Ich habe auf die Risiken hingewiesen, gnädige Frau“, sagte
Dierk.
Sie funkelte ihn an und stellte sich vor, wie die Haut des
Geistermagiers verdorrte und seine Knochen ein grausiges „Es
tut mir leid“ formten. Ungeachtet dessen nickte sie in
Richtung der Tür. „Du findest sicher selbst hinaus. Bringe die
Kugel ihrer Besitzerin zurück.“ Dumpfes Donnergrollen
unterstrich ihre Worte.
Dierk stopfte in aller Eile die verbrauchte Hexenbann-Kugel
und ein paar andere Gegenstände in seine Tasche und verließ
den Raum. Das Echo seiner Schritte verklang auf der
Wendeltreppe. Gared stieß vorsichtig einen Haufen
Glassplitter mit den Füßen weg, rührte sich jedoch nicht von
der Stelle.
Liliana verstaute den Kettenschleier in einer Rocktasche. Die
Klügsten der Klügsten Innistrads waren ihr keine Hilfe
gewesen. Bücher und Grimoires mit spektralen Heilmitteln
hatten sie kein Stück vorangebracht. Nicht einmal Olivias
bevorzugtem Geisterexperten war es gelungen, den
Kettenschleier zu zähmen.
Liliana betrachtete durch das Fenster den Sturm, der über
Stenzen tobte, während sie die Worte auf ihrer Haut mit einem
Taschentuch abtupfte. In der Düsternis leuchtete Thraben in
der Ferne wie eine Kerze.
Sie verabscheute es, auf andere angewiesen zu sein.
Doch es war ja nicht so, dass sie den Jungen im Mantel
brauchte, sagte sie sich. Es war vielmehr so, dass sie jemanden
brauchte, von dem sie gebrauchtwurde, damit sie den einen
oder anderen warmen Körper hatte, der zwischen ihr und ein
paar selbstgefälligen Dämonenfürsten stand.
Wäre er ihr doch nur irgendwie etwas schuldig gewesen.
Der Schrei eines Mannes erklang von unten. Ein knurrendes
Handgemenge und ein Krachen folgten.
Liliana warf ihr blutbeflecktes Taschentuch beiseite und hastete
die Stufen hinunter.
Sie hörte und roch sie, noch ehe sie sie sah: ihr kehliges
Knurren und ihr geiferndes, hungriges Heulen. Der Gestank
feuchten Fells über dem Gestank von Blut.
Bild von Joseph Meehan
Werwölfe. Lilianas gesamter Thronsaal war von ihnen
überrannt.
Und sie wirkten ... nun, nicht wirklich krank, sondern eher
verzerrt, als wären ihr Fleisch und ihre Knochen in die Fänge
einer unnatürlichen, alles mutierenden Macht geraten. Ihre
Gliedmaßen standen in seltsamen Winkeln ab und bogen und
knautschten sich wie Seetang.
Doch es waren noch immer Werwölfe und sie hatten noch
immer Klauen. Dierk lag mit aufgerissener Brust am Boden.
Der Inhalt seiner Tasche ebenso wie der seines Brustkorbs war
über den Boden verteilt. Sein Gesicht war bleich und in einem
überraschten Ausdruck erstarrt. Er sog seinen letzten Atemzug
ein wie ein erschlaffender Ballon.
Die Werwölfe wandten sich schnüffelnd Liliana zu. Einer von
ihnen brüllte. Er hatte Augen dort, wo seine Zunge hätte sein
sollen.
Eine Salve tödlicher Zauber, einen für jeden der Werwölfe vor
ihr: Das schien hier angemessen. Gerade genug Kraft, um mit
jedem von ihnen fertigzuwerden, gerade genug, um den Weg
zur Tür des Anwesens frei zu machen.
„Gared!“, rief Liliana über die Schulter. „Hol deinen Mantel.“
Der Kettenschleier in ihrer Tasche rührte sich nicht.

Stunden später hatte der Sturm nachgelassen, aber die Gegend


um Stenzen herum war zu einem makabren Zoo geworden.
Liliana bemerkte, dass jeder Passant irgendwie verformt wirkte.
Die Körper umherstreifender Vampire hatten die falschen
Konturen und oft zu viel oder zu wenig von etwas. Anatomisch
verquere Reisende verkündeten zeternd Prophezeiungen vom
Fels und vom Meer, während sie im Zickzack umherstolperten.
Endlich erreichten Liliana, Gared und – etwas staksiger zwar –
auch Dierk das gewaltige Tor.
Die Festung Lurenstein thronte über ihnen auf einer steilen
Klippe mit einer Zitadelle, die direkt aus dem Fels gehauen
war. Weiter oben wurde die zweckmäßige Architektur weicher
und ging in opulent verzierte Fenster über, jedes mit seinem
eigenen schwebenden Kronleuchter voller flackernder Kerzen.
Aus vielen der Fenster spähten Vampire in glänzender, alter
Rüstung zu ihnen herab.
Liliana bedeutete Gared, er solle klopfen.
Gared glotzte die schiere Höhe der Tür an. „Sie kennen die
Dame des Hauses wirklich?“, fragte er.
Dierk machte seinerseits ein gurgelndes Geräusch. Der Hals
des Mannes war gebrochen, weshalb ihm der Kopf in einem
schrägen Winkel auf den Schulten saß und seine Kehle
angeschwollen wirkte. Doch zumindest hatten seine Beine ihn
bis hierher gebracht und zumindest waren seine Arme in der
Lage gewesen, die verbrauchte Hexenbann-Kugel zu tragen.
Gareds langer Mantel war eng um Dierks Körpermitte geknotet
und tat sein Bestes, die restlichen Eingeweide des Mannes in
ihm zu halten. Liliana hob die Hand ein winziges Stückchen,
und Dierk richtete sich gerader auf – auch wenn sein Kopf
noch immer zu einer Seite hin wegbaumelte. Die trockene
Zunge wollte nicht in seinem Mund bleiben und trug ihren
Teil zu dem Gurgeln bei. Liliana zuckte die Schultern.
„Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, all diejenigen zu
kennen, die Macht besitzen“, sagte Liliana. „Und das tut sie.“
Gared hämmerte an die Tür und trat zurück.
Die Tür öffnete sich und eine imposante Frau in einem
verzierten Kleid – oder vielleicht auch eine verzierte Frau in
einem imposanten Kleid – zeigte sich dahinter. Sie hielt Liliana
einen Priesterstab ins Gesicht, der wie heiße Glut leuchtete.
„Sie empfängt keine menschlichen Besucher“, sagte die Frau
mit blitzenden Fangzähnen. Ihre Augen waren wie schwarze
Gruben, in denen ein schwaches Feuer zu glimmen schien.
Bluthallenpriesterin | Bild von Mark Winters
„Ich bringe ihr etwas zurück, was ihr gehört“, sagte Liliana.
Die Frau hielt inne und musterte Dierk und die Hexenbann-
Kugel in seinen Händen. „Lass das hier. Und dann schaff dich
von diesem Anwesen, bevor ich einen Zauber auf dich
niederfahren lasse.“
Gared machte eine Bewegung, als wollte er sich mit der
Vampirpriesterin anlegen, doch Liliana hielt ihn mit einer
Bewegung zurück. In einer Zitadelle voller Vampire kämpfte
man nicht, solange es noch Gelegenheit gab, die eigenen
Überredungskünste gewinnbringend einzusetzen. „Ich möchte
bitte mit Olivia persönlich sprechen. Richte ihr aus, Liliana
Vess wünscht sie zu sehen.“
„Ich sagte dir bereits, dass sie keine Sterblichen empfängt.“
„Sterbliche!“ Liliana lachte. „Gesegnet sei dein blutleeres
Herz.“
Die Vampirpriesterin hob ihren Stab. Das gezackte Symbol an
seiner Spitze begann, die Luft durch seine Hitze flimmern zu
lassen.
„Oh, Liliana, meine Liebe!“ Olivia Voldaren tauchte
urplötzlich in der Tür auf und verscheuchte die Priesterin mit
einem bösartigen Fauchen. Die Priesterin trat beiseite und
senkte den Kopf. Sie folgte Liliana jedoch mit Blicken.
Olivia wirkte in ihrem schwarzen Schienenpanzer äußerst
glanzvoll. Wie immer berührten ihre Füße nicht den Boden.
„Bist du hier, um die guten Neuigkeiten zu feiern?“, fragte sie,
während sie ihre Gäste hereinbat. „Komm, komm!“
„Ich bringe dir nur deine Kugel zurück“, sagte Liliana. „Und
deinen Geistermagier. Ich habe zudem gehofft, dass du den
Aufenthaltsort eines meiner Bekannten kennst.“ Sie warf der
Priesterin im Vorbeigehen ein süßes Lächeln zu. „Was genau
gibt es denn zu feiern?“
Olivia ergriff Lilianas Arm, während sie neben ihr schwebte
und sie tiefer in die Zitadelle geleitete. „Nun, das lange Warten
hat ein Ende! Hast du es nicht gehört?“
Sie betraten eine breite Galerie, auf der elegante Vampire auf
jeder Treppenstufe und jedem Absatz standen oder schwebten.
Hunderte von Augen betrachteten Liliana und ihre Begleiter,
als Olivia sie durch die unteren Hallen der Festung führte.
Jeder Vampir, der je den Namen Voldaren geführt hatte,
schien sich hier aufzuhalten und finster dreinzublicken.
Schwelgender Aristokrat | Bild von Anna Steinbauer
Liliana machte eine verstohlene Handbewegung. Die Leiche
Dierks des Geistermagiers schleppte sich zu einem antiken
vergoldeten Sessel hinüber, ließ sich hineinfallen und
erschlaffte mit der Kugel in ihrem Schoß. Der Mantel um
Dierks Körpermitte spannte sich und hielt ihn nach besten
Kräften zusammen.
Olivia beugte sich herüber und drückte verschwörerisch
Lilianas Arm. „Es ist der Erzengel! Puff!“ Sie kicherte. „Ein
Fleck am Boden der Kathedrale von Thraben. Oh, das ist
einfach zu köstlich.“
„Avacyn ist tot?“ Leise schlich sich ein Gedanke an Jace in
ihren Kopf, wie eine Motte, die auf ihrem Haar landete. Als sie
das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte, war er Avacyn auf der
Spur gewesen.
Olivia breitete weit ausladend die Arme aus. „Wir Kreaturen
der Nacht können frohlocken, denn die Welt gehört wieder
uns! Ich war schon recht ungehalten, als ich erfuhr, dass sie aus
ihrer kleinen Falle entkommen ist.“
Liliana hob kaum merklich die Augenbrauen.
„Aber Sorin ist zu Verstand gekommen und hat dieses Ding zur
Strecke gebracht. Und nun muss ich zugeben, dass sich alles
doch recht gut gefügt hat, nicht wahr?“ Olivia lachte. Sie führte
Liliana weiter, Galerie um Galerie entlang. Gared verschwand
in dem Labyrinth.
Liliana hielt mit Olivia Schritt. „Und jetzt hebst du eine Armee
aus.“
Ruf der Blutlinie | Bild von Lake Hurwitz
„Nun, meine Liebe, es scheint ganz so, dass wer auch immer
den Höllenkerker geöffnet hat ...“
Lilianas Gesichtsausdruck blieb unvermindert höflich.
„... mehr als nur den Erzengel freiließ“, fuhr Olivia fot. „Und
nicht nur das. Deine dämonischen Freunde. Sie haben auch
die andere herausgelassen. Darf es ein Schluck zu trinken
sein?“ Sie winkte einen Vampir heran. „Du da, bring unserem
Gast etwas zu trinken.“
Ein Vampir drückte Liliana einen Kelch Wein – echten Wein
– in die Hand und schepperte in seiner antiken Rüstung
davon.
Es war natürlich Liliana selbst gewesen, die den Höllenkerker
aufgebrochen und zugelassen hatte, dass sich sein Inhalt über
ganz Innistrad verteilte. Sie hatte den Dämon Griselbrand
getötet und alle anderen Folgen ihres Handelns hatten sie
nicht weiter gekümmert. Sie hatte keinen Grund gesehen,
ihren vampirischen Bekannten davon zu erzählen.
„Und nun, da sie frei ist, scheint sie recht verschnupft zu sein“,
fuhr Olivia fort. „Ich kann nicht sagen, dass ich ihr das verüble.
Wie bereits erwähnt: Ich war zuvor etwas ungehalten, doch
nun wüsste ich nur allzu gern, wer sie alle freigelassen hat,
damit ich meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen kann!“
Liliana wusste nicht, wer sonst noch aus dem Höllenkerker
entkommen sein könnte, der so wichtig für Olivia war. Sie
hatte jedoch das Gefühl, dass es irgendwie mit den
Veränderungen in Verbindung stand, die sie in ganz Innistrad
gesehen hatte. Die verzerrten Werwölfe in ihrem Anwesen. Die
entstellten Vampire und zeternden Untergangsverkünder.
Dies war genau die Art von Angelegenheit, die den Jungen im
Mantel faszinieren würde. Liliana wollte nur, dass ein paar
Dämonen starben. Vielleicht ließ sich beides jedoch
miteinander verbinden.
Sie stiegen in ein großzügiges, mit dicken Teppichen
ausgelegtes Gesellschaftszimmer hinauf. Ein großer,
weißhaariger Vampir in einem langen Mantel stand mit dem
Rücken zu ihnen und blickte aus den hohen Fenstern in die
Nacht hinaus.
Liliana spürte, wie sich Krallen in ihren Arm gruben. „Wir
wissen, dass du es warst“, fauchte Olivia, die plötzlich dicht
neben ihrem Ohr schwebte. „Wir wissen, dass du sie befreit
hast.“ Vergnügt fügte sie hinzu: „Ist es nicht so, Sorin?“
Sorin Markov drehte sich zu ihnen um. Er trug seinen Hass wie
einen eleganten Anzug.
Sorins Durst | Bild von Karl Kopinski
„Du“, sagte er.
„Sieh nur, wer uns einen Besuch abstattet!“, sagte Olivia mit
nun wieder vollendeter Höflichkeit. „Sorin, ich glaube, du
kennst Liliana Vess?“
„Du hast das getan“, sagte Sorin. „Du hast die Lithomagierin
befreit und uns das alles eingebrockt.“
Liliana entwand ihren Arm aus Olivias Griff und sammelte
sich. Sie ging auf Sorin zu und musterte ihn von oben bis
unten. Schließlich kicherte sie und entfernte mit spitzen
Fingern ein Staubkorn von Sorins Mantel. „Ich hatte mich um
etwas zu kümmern“, sagte sie. „Es ist kaum meine Schuld,
wenn dein Keller voller Leichen ist.“
„Dazu hattest du nicht das Recht“, sagte Sorin. Jedes Wort
klang wie ein Messer auf einem Wetzstein.
"Sorin, wir beide haben uns um eine andere Angelegenheit zu
kümmern“, sagte Olivia und schwebte um sie herum. „Doch es
wäre unverzeihlich, wenn ich euch beiden nicht die
Gelegenheit gäbe, euch zu unterhalten, nicht wahr?“
Sorin beugte sein Gesicht dicht an Lilianas heran. „All dies ist
deinetwegen geschehen. Die Lithomagierin ist frei, und nun
müssen wir uns ihr stellen."
„Du hast eine recht ansehnliche Armee aus Vampiren
zusammengetrommelt“, sagte Liliana. Sie grinste ihn an. „Oder
... Lass mich raten ... Dient diese Streitmacht eher
der Verteidigung? Du hast sie herausgefordert, nicht wahr?“
Sorins Fänge blitzten auf. „Ich habe es dir bereits gesagt, als du
als Welpe hierherkamst. Innistrad gehört mir. Wer sich in
meine Angelegenheiten einmischt, der stirbt.“
Liliana blickte ihm in die Augen. Ihre Finger tasteten nach den
Gliedern des Kettenschleiers an ihrer Hüfte. Die Zeichen auf
ihrer Haut begannen zu glühen und ihr Haar wehte sacht.
„Innistrad mag dein Reich sein, Sorin“, flüsterte sie. Sie
tätschelte ihm den Arm. „Doch meines ist der Tod.“
Sorin schnaubte, zog den Arm weg und drückte seine Stirn
gegen ihre. Sein Blick huschte kurz zu ihrem Hals.
„Nun, meine Freunde!“ Olivia lachte hell und schob sich
zwischen sie. „So amüsant ich es auch finde, dabei zuzusehen,
wie ihr beide euch in meinem Gesellschaftszimmer in Stücke
reißt ... Sorin, es scheint, als wäre es an der Zeit. Komm mit
nach draußen. Nahiri wartet.“ Sie deutete durch die hohen
Fenster in die Nacht.
Liliana stockte bei dem Anblick durch das Glas der Atem. Das,
was die Überreste des Gewitters gewesen waren, war nun ein
aufgedunsener Wolkenhaufen, der über der Küste Nefalens
brodelte. Tentakel aus Nebel griffen in alle Richtungen. Es
waren nicht nur ein paar Werwölfe oder Vampire, die nun eine
Verzerrung erfuhren. Welche Macht auch immer Einzug
gehalten haben mochte – sie drohte, ganz Innistrad
auseinanderzureißen.
Olivia zog ein Schwert aus der Scheide. „Liliana, meine Liebe,
ich fürchte, du hast meinen Vorrat an Geisterexperten und
spektralen Spielzeugen erschöpft. Vielleicht möchtest du dich
uns anschließen? Schließlich warst du es, die Nahiri
freigelassen hat. Vielleicht möchte sie dir sogar danken.“
Liliana betrachtete die Wolken. Dies war tiefe, uralte Magie,
weltenverändernd und voller Rache. „Sie hat all dies
verursacht?“
„Die erbärmliche Tat einer erbärmlichen Magierin“, murmelte
Sorin. „Mit einen verdrehten Sinn für Gerechtigkeit.“
„Also hast du dies alles verursacht“, sagte Liliana. „Du hast ihr
etwas angetan!“
„Und jetzt machen wir uns auf, um ihr erneut etwas anzutun“,
sagte Olivia mit einem Grinsen, bei dem sie freimütig die
Fänge zeigte.
Vom Fenster der Festung eingerahmt bewegte sich die
Wettermasse langsam von ihrem Ursprungsort über der Küste
Nefalens fort in Richtung Gaven und der hell erleuchteten
Stadt Thraben. Der Himmel schien faltig und zerrissen, dachte
Liliana. Wie diese Werwölfe. Es war, als wäre diese gesamte
Welt – Sorins Heimatwelt – mit Absicht befleckt und von
Horizont zu Horizont verkrümmt worden, einfach nur, weil sie
Sorin etwas bedeutete. Nahiri, wer auch immer sie sein
mochte, machte keine halben Sachen, wie Liliana zugeben
musste.
„Sorgst du dich denn kein bisschen darum, was ihre Rache
Innistrad antut?“, fragte Liliana. „Jace ist ...“ Sie straffte die
Schultern. „Da draußen befinden sich Tausende von
Menschen.“
„Diese Welt ist verloren“, sagte Sorin. „Dafür hat sie gesorgt.
Und dein Jace wird in Thraben umkommen wie alle anderen.“
„Was Sorin meint“, sagte Olivia beschwingt, „ist, dass wenn
Nahiri aufgehalten wird, sicherlich auch die
Unannehmlichkeiten aufhören werden, die sie uns beschert
hat. Wir befinden uns auf einer Mission für echte Helden!“
Liliana spähte erst nach draußen und sah dann zurück zu
Olivia, nun jedoch mit einer grässlichen Sanftheit im Blick.
„Oh, du süßes Kind.“
Sorin zog langsam, wie beiläufig, sein Schwert aus der Scheide.
„Gehen wir. Olivia.“ Er wandte sich um und trat aus dem
Gesellschaftszimmer und dann aus dem Anwesen, ohne ein
weiteres Wort zu verlieren.
Olivia schwebte ihm hinterher, und ganze Reihen von
Vampiren der Voldaren folgten ihr nach. Das Klappern ihrer
Rüstungen hallte durch die Hallen.
Liliana folgte ihnen nach draußen. Als sie Gared begegnete,
sagte sie: „Gared, hol deinen Mantel.“
Gared blickte traurig auf seinen Mantel und begann damit, ihn
von Dierk zu lösen.

Sie tauchten in die Nacht ein. Der Wind heulte nun, während
gewaltige Wirbel über den Himmel zogen. Ein rötliches,
außerweltliches Leuchten schwebte unter den aufgeblähten
Wolken.
Liliana strich sich das Haar aus dem Gesicht, dessen Strähnen
von einer Seite zur anderen gepeitscht wurden. Sie blickte zu
den fernen Hügeln Gavens, über denen sich gewaltige Schatten
zusammenbrauten. Das ist es, was Jace aufzuhalten versucht,
dachte sie.
Sorin warf kaum einen Blick zurück, als er sich mit den
Vampiren versammelte. Er hob sein Schwert. „Komm, Olivia“,
rief er über den Wind. „Es ist Zeit, dass du deinen Teil der
Abmachung erfüllst.“
Olivia grinste fröhlich und erhob sich hoch in die Luft. Die
Armee aus Vampiren marschierte mit erhobenen Schwertern
und Piken und glühenden Priesterstäben den Hügel hinab –
hinein in den Nebel und auf in die Schlacht gegen Nahiri.
Nicht, um gegen die Schrecken zu kämpfen, die Nahiri über
diese Welt gebracht hatte. Nicht, um dem wahnsinnigen Jace
zu helfen.
Dieser Welt ist es dann wohl bestimmt zu sterben, dachte
Liliana. All ihre Beschützer hatten sie verlassen. Es war Zeit,
Abschied zu nehmen. „Leb wohl, Vess-Anwesen.“
Der Himmel gab ein unergründliches Geräusch von sich, das
Liliana bis ins Mark erschütterte. In der Ferne glitzerte
Thraben wie ein gefallener Stern, der auf dem Horizont ruhte.
„Leb wohl, Junge im Mantel.“
Sie fand sich jedoch dabei wieder, auf einem anderen Weg als
die Vampire den Hügel hinabzugehen. Sie fand sich auf der
Straße wieder. Sie fand sich dabei wieder, wie sie an einem
Schlingengrab vorbeikam, in dem die Verbrecher lagen und
jenen Teil ihres Richtspruchs fristeten, in dem von der
Ewigkeit die Rede war. Sie fand sich dabei wieder, wie sie die
Hand ausstreckte. Leichen krochen aus der Erde. Sie ging
weiter. Die Leichen folgten ihr.
Sie fand sich dabei wieder, wie sie an einem weiteren Friedhof
vorbeikam, und dann an noch einem. Ein kleiner Schrein am
Wegesrand. Ein verfluchtes, Düstergrab, das von einem
Eisenzaun umgeben war. Ein Mausoleum voller Würdenträger
der Katharer. Jedes Mal streckte sie die Hand aus. Jedes Mal
gehorchten ihr die Toten, erwachten zuckend aus ihrer Ruhe
und schlurften ihr nach.
Bild von Joseph Meehan
Als sie sich in Richtung Thraben aufmachte, griff sie nach ihrer
Hüfte. Sie konnte beinahe hören, wie die Scharen spektraler
Essenzen sie verhöhnten und ihr aus dem Schleier
etwas zuraunten – über das Geräusch der Zombies hinweg, die
pflichtbewusst hinter ihr die Straße entlangschlurften.
Sorin und Olivia hatten nicht vor, etwas gegen das Unheil zu
unternehmen, das Nahiri angerichtet hatte. Und der einzige
Mensch, auf den sie zählen konnte, das alles zu verstehen – er
und sein angeschlagenes, enervierendes, unergründliches
Gehirn –, folgte seiner Neugier geradewegs in einen hässlichen,
bizarren und wahrscheinlich auch noch unvermeidlichen Tod.
Es war nicht so, dass sie ihn brauchte. Es war einfach nur so,
dass sie jemanden brauchte, von dem sie gebraucht wurde.
„Nun, Gared“, sagte sie laut in den Wind.
Sie hob die Arme und spürte die Zeichnungen wie brennende
Adern auf ihrer Haut.
„Es sieht so aus, als wäre ich ...“
Ein weiteres Dutzend Zombies erhob sich aus der Erde und
folgte ihr entlang ihrer Schneise nekromagischer Macht.
„... die letzte Hoffnung ...“
Die Leichen schienen nicht verzerrt – zumindest nicht mehr,
als es ihre Knochen im Laufe der Jahre im Boden ohnehin nun
einmal waren. Die rastlosen Toten schienen all diese Effekte
schlichtweg abzuschütteln. Liliana grinste.
„... für diese Welt.“
Sie hatten sie die Vorbotin genannt. Sie hatten nicht falsch
gelegen, diese Fanatiker und Kultisten. Und sie waren ihr
hierher gefolgt. Immer mehr waren es geworden, als sie mit
ihrem Werk auf Innistrad begann. Sie waren ihr treu ergeben
und erinnerten Nahiri daran, dass das Einzige, was sich auf
dieser ganzen verdammten Welt zu retten lohnte, ihre Rache
war.
Der dröhnende Chor Hunderter vor sich hin brabbelnder
Kultisten hallte durch die Gänge, als sie dem Vampir ins
Gesicht starrte. Er war hässlich mit seinen zurückgezogenen
Lippen, die scharfe und gnadenlose Fänge entblößten. Zwei
Augen – Bernsteinsplitter, die in einem tintenfarbenen Teich
schwammen – starrten zurück. Oder vielmehr: an ihr vorbei.
Soweit Nahiri es beurteilen konnte, war dieser Blutsauger
prächtig gekleidet und – wie die Dutzenden von anderen
Vertretern seiner Art um ihn herum – fest in die Wand
eingelassen. Sie alle waren tot. Ihretwegen.
Sie hasste diesen Ort. Das Markov-Anwesen. Wie so vieles auf
dieser Welt stank es nach Sorin. Sie hatte es zerschlagen,
verzerrt und umgeformt, doch all dies hatte dennoch nicht
ausgereicht, seine Spuren aus dem Gebäude zu tilgen. Aber
trotzdem war sie nun hier. Es waren Vorbereitungen getroffen
worden, und jetzt wartete getane Arbeit darauf, begutachtet zu
werden.
Rache war eine diffizile Angelegenheit, aber Nahiri hatte
eintausend Jahre Zeit gehabt, sie zu durchdenken.
Ein. Tausend. Jahre.
Genug Zeit, um ihre Rache aus sämtlichen Blickwinkeln und
in aller Ausführlichkeit zu erörtern. Sie durchzuspielen, um sie
dann anders auszurichten und erneut durchzuspielen, bis alles
haargenau passte – so lange, bis sie sich in einen Plan
verwandelt hatte.
Und nun, da Nahiri durch das blanke Gerippe des Markov-
Anwesens schritt, gestattete sie sich ein leises Lächeln. Alles
war tatsächlich an seinem Platz, genau so, wie es sein sollte –
alles außer Sorin. Und er würde bald hier sein.
Diesmal hatte sie etwas ganz Besonderes mitgebracht. Eine
Sammlung, die von ihr zusammengetragen worden war,
nachdem die Kunde sie erreicht hatte, dass Sorin eine
Streitmacht anführte, um sich ihr zu stellen. Sicher, sie hatte
ihre Kultisten, aber Rache war nichts, wobei man nachlässig
werden durfte.
Der erste Teil von Sorins Streitmacht, der eintraf, waren die
Banner. Uralte Stoffbahnen, die von schwarzen Holzpiken
herabhingen, getragen von Vampirrittern in polierter
Plattenrüstung. Hunderte von Vampiren marschierten hinter
ihnen und schwärmten über den flachen Hügel gegenüber des
Anwesens aus.
Nahiri beobachtete die Prozession von dem gewaltigen
Torbogen am Eingang des Anwesens aus. Als Sorin schließlich
vor seiner versammelten Streitmacht auftauchte, presste Nahiri
die Zähne zusammen. Sorin sagte etwas zu den Vampiren in
seiner Nähe, doch sie konnte nicht ausmachen, was.
Bild von Igor Kieryluk
Es spielte auch keine Rolle. All dies würde nun enden. Mit
dem Schwert in der Hand trat Nahiri in das matte Licht des
Tages, hinaus auf den zerstörten Damm, um Sorin
willkommen zu heißen.

Ein metallisches Kreischen durchdrang das Kampfgetöse, als


Nahiri die Klinge ihres Schwertes aus der reich verzierten
Brustpanzerung eines toten Vampirs zog. Die Leiche war eine
unter vielen, die in einem kruden Halbkreis um sie herum
lagen. Keuchend setzte sie über den leblosen Haufen hinweg,
um sich einer Gruppe neuer Angreifer entgegenzuwerfen.
Es waren so viele.
Doch sie brauchte nur den einen.
Eine Axt wurde in ihr Blickfeld geschwungen. Die schwarze
Klinge zog eine feine Spur aus dunkelrotem Nebel hinter sich
her. Nahiri duckte sich außer Reichweite und stieß die Spitze
ihres Schwertes in den Hals eines weiteren Angreifers, der von
rechts auf sie eindrang. Mit einem Stoß ihrer freien Hand nach
unten sackte der Boden vor ihr urplötzlich ab, sodass der zweite
Schlag der Axt in den Rand der neu geschaffenen Vertiefung
fuhr. Steinsplitter wurden durch den Aufprall aufgewirbelt und
Nahiri fing sie mit ihrer Magie auf, um sie in das ungeschützte
Gesicht des Axtträgers zu schleudern.
Andere drangen weiter auf sie ein. Einer von ihnen – eine Frau
in einer weißen Plattenrüstung – trat aus ihrer Mitte hervor.
Sie hielt ihr Schwert tief, und Nahiri bemerkte, dass die Waffe
aus einem Paar Klingen bestand, die sich wie zwei Spiralen
umeinanderschlangen, um schließlich gemeinsam eine garstige
Spitze zu bilden. Die Vampirin sprach, ohne die Augen von
Nahiri zu lassen: „Du kannst nicht entkommen.“
Nahiri neigte den Kopf und hob eine Augenbraue.
„Entkommen?“
„Wenn dies vorbei ist“, fuhr die Vampirin in Weiß fort,
„werde ich dein Blut trinken und –“ Sie verstummte jäh, als ihr
ein marmorner Kragstein ins Gesicht prallte und ihr die
grotesken Zähne zermalmte. Nahiri hatte das Bauteil aus dem
Schutt gepflückt, der erstarrt über ihnen schwebte. Sie hatte
genug gehört. Als die Vampirin in Weiß zu Boden sackte,
sandte Nahiri den schweren behauenen Stein wieder und
wieder gegen die Handvoll Blutsauger, die ihr am nächsten
waren, bis deren Schädel und Rümpfe von den Schlägen
vollkommen zerschmettert waren. Als die Leiber sich nicht
mehr bewegten, wirbelte die blutige Steinmetzarbeit so schnell
auf der Stelle in der Luft, dass zu allen Seiten rote Tröpfchen
davonspritzten.
Nahiri wischte sich einen von ihnen von der Wange. Falls
Sorins Plan war, sie müde zu machen, ehe sie auf ihn traf, dann
war er ein Narr. Tausend Jahre im Höllenkerker waren genug
Erholung für mehrere Leben. Und wenn das bedeutete, dass
sie jedem anderen Blutsauger hier ein Ende bereiten musste,
dann war sie bereits auf einem guten Weg.
Er war hier irgendwo. Das wusste sie. Um sie herum
entbrannten Nahkämpfe in dem, was einst die große Halle
gewesen war, wenn ihre Erinnerung sie nicht trog. Der Raum
war nun voller Kultisten und Vampire, die dem grausigen
Handwerk nachgingen, einander wechselseitig abzuschlachten.
Ihr Blick huschte über das Chaos, und sie hoffte, wehendes
weißes Haar auszumachen oder ...
Diese grausamen gelben Augen. Und einen Wimpernschlag
lang starrten sie zu ihr zurück, ehe sie vom Tumult
verschlungen wurden.
Nahiris Kehle war mit einem Mal staubtrocken. Ihr hämmerte
das Herz in der Brust, und der geballte Zorn der letzten
tausend Jahre staute sich in ihr an, bis alles, was sie noch tun
konnte, darin bestand, seinen Namen hervorzupressen:
„Sorin!“
Nahiri stieß ihren Willen mit aller Wucht in den geneigten
Steinboden hinein und griff nach jeder der gewaltigen
Bodenplatten, um daran zu reißen. Ihre Hände fuhren nach
oben, und links und rechts von ihr wuchsen zwei Wände
parallel zueinander einige Schritt hoch aus dem Boden. Stein
scharrte auf Stein, und als das Scharren endete, nahmen die
Wände die Länge der gesamten Halle ein und bildeten eine Art
Gang, der vom größten Kampfgetümmel abgetrennt war. Sie
befand sich am einen Ende, Sorin am anderen.
Zwischen ihnen tobte ein schmaler Ausschnitt der Schlacht:
Vielleicht zwanzig Vampire und mindestens doppelt so viele
Kultisten rangen noch immer miteinander. Einer der Vampire
holte nach Nahiri aus, doch sie stand zu dicht vor der
Vollendung ihrer Rache für derlei Ablenkungen. Ein Zucken
ihres Fingers und eine Lanze aus Stein fuhr aus dem Boden.
Sie erwischte den gepanzerten Blutsauger unterhalb der
Brustplatte am Bauch und durchstieß dann mit einem schrillen
Kreischen den polierten roten Stahl an der Schulter. Der
Vampir erschlaffte, und Nahiri trat an ihm vorbei, während er
langsam der Länge nach die Steinspitze herunterrutschte.
„Sorin“, rief sie erneut, mit einer Stimme, die so fest und kalt
war wie der Stein, über den sie gebot. Und dann schritt sie
geradewegs vorwärts, während weitere Spitzen vor ihr aus dem
Boden fuhren, um Vampire und Kultisten gleichermaßen
aufzuspießen.
Nun waren nur noch sie beide übrig.
Das letzte Mal, als Nahiri Sorin gesehen hatte, war er das
Letzte, was sie auf dieser Welt erblickt hatte, ehe sie von der
Einsamkeit des Höllenkerkers umfangen worden war. Als sie
ihn nun ansah, wie er ein Dutzend Schritte von ihr entfernt
stand, schien er sich kaum verändert zu haben – bis auf die
fehlende Verletzlichkeit, die er bei ihrer vorherigen Begegnung
gezeigt hatte. Er trug die gleiche Rüstung, doch sie war voller
Blut, was dem roten Stein, der die Brustplatte verzierte, einen
noch grausameren Glanz verlieh. Sein Schwert zeugte ebenfalls
von dem Gemetzel, das er angerichtet hatte. Sein Gesicht, das
wie geschaffen dafür schien, jenes süffisante Grinsen zur Schau
zu tragen, das sie so gut kannte, war nun von scharfen Falten
durchzogen, wie sie sie an ihm zuvor noch nie gesehen hatte.
Es freute sie, ihn mit so finsterer Miene zu sehen.
„Du hast so viele Freunde mitgebracht“, sagte Nahiri und trat
zwischen zwei ihrer grässlichen Sporne hervor. „Aber nicht alle
haben es geschafft.“ Sie wusste, dass die Erwähnung Avacyns
ihn schmerzen würde, doch es kam keine höhnische
Erwiderung. Sorin hob lediglich eine bleiche Hand, aus der
schwarze, rauchige Energie strömte. Tod lauerte in diesem
Nebel aus Schatten – Tod, der für Nahiri bestimmt war. Es
schien, als wünschte er sich nichts von all den Verstellungen
eines echten Duells oder gar der Poesie und der Dramatik, die
einem solchen innewohnten. Ihr Ende wäre ihm schon genug,
und sie betrachtete Sorin reglos, während die finsteren
Schattenfinger nach ihr griffen.
Doch sie berührten sie nicht. Plötzlich zerstoben sie und flogen
in verschiedene Richtungen davon, um Mustern in der Luft zu
folgen, die ansonsten völlig unsichtbar waren. Sorin entfesselte
eine zweite Welle Todesmagie, gerade als die ersten
Nebelschwaden ihren mörderischen Pfad zurück zu ihrem
Ursprung beendet hatten und fauchend auf den Vampir
prallten. Sorin fiel auf ein Knie und biss sich vor Schmerz auf
die Lippe. Zwischen den Teilen seiner Rüstung stieg dunkler
Nebel aus Wunden auf, die für den Betrachter nicht zu sehen
waren.
„Du musst sehr wenig von mir halten, wenn du tatsächlich
geglaubt hast, dass das Wirkung zeigen würde“, sagte Nahiri,
während die zweite Zusammenballung aus Magie ebenso
zurückgeschlagen wurde wie die erste. „Magie fließt durch
Leylinien. Leylinien durchdringen Stein. Und, nun, wir beide
wissen, was ich damit anzustellen vermag. Also nur zu, Sorin:
Versuche diese billige List gerne noch ein weiteres Mal.“ Sie
umkreiste ihn nun. „Ich habe Emrakul an deine Schwelle
geführt, und du glaubst noch immer, ich sei ein Kind.“
Einen Augenblick lang sprach keiner von beiden. Über
sechstausend Jahre Geschichte hatten sie an diesen Ort
gebracht. Während sie in Sorins Augen starrte, fragte sich
Nahiri, ob er das Gleiche dachte. Einst hatte sie geglaubt, dass
sie Freunde waren. Und nun ... Nun würde sie ihre Rache
bekommen. Schließlich sagte Nahiri: „Eintausend Jahre, Sorin.
Eintausend Jahre lang hast du mich eingesperrt.“
„Und trotzdem bist du immer noch hier.“ Sorin hustete, was
eine schwarze Rauchwolke in die Luft aufsteigen ließ. „Du
hättest fortgehen sollen.“
„Das bin ich doch. Ich kehrte nach Zendikar zurück, nur um zu
sehen, wie es von den Eldrazi verwüstet wurde. Du hast das
geschehen lassen.“ Sie hob ihr Schwert in Richtung von Sorins
Kehle. „Du hast mich und meine Welt dem Untergang
geweiht.“
„Du wusstest um die Gefahren, als du zugestimmt hast, die
Eldrazi auf Zendikar einzukerkern. Du wusstest um die
Möglichkeit, dass sie entkommen.“
„Ich wusste auch, dass wir eine Abmachung hatten.“ Nahiri
spürte, wie ihre Haut zu brennen begann. „Im Fall ihres
Ausbruchs hätten du und Ugin zurückkehren sollen. Und als
es geschah, wart ihr nirgends zu finden. So wie ich es sehe,
waren wir alle drei gemeinsam an dieser Sache beteiligt. Doch
nur ich habe am Ende dafür eingestanden. All diese Zeit über
war nur ich da.“
„Also hast du dich entschlossen, nun diese Welt dem
Untergang zu weihen.“
„Ich bin es leid, die Wächterin zu geben, und Zendikar wird
nie wieder ein Gefängnis sein. Emrakul musste irgendwo
anders hin. Du hast mir die Entscheidung lediglich
erleichtert.“
„Sorin, ich bin geneigt, mir anzusehen, wie das hier ausgeht“,
erklang eine melodische und gleichermaßen beißende Stimme
über ihnen. Nahiri hob den Kopf und erblickte eine Vampirin,
die in einen eleganten, schwarzen Plattenpanzer gekleidet war.
Sie schwebte an der Spitze von etwa einem Dutzend ähnlich
prunkvoll gerüsteter Vampire über ihnen. Sie trug keinen
Helm, und ihr bleiches Gesicht und ihr leuchtend roter
Haarschopf hoben sich deutlich von dem dunklen Metall ab.
Eine Aura der Anmut schien von ihr auszugehen, und Nahiri
erkannte eine Macht, die der Sorins ähnelte. Diese Frau war
eine uralte Blutsaugerin.
„Zweifelsohne, Olivia“, erwiderte Sorin, noch immer auf ein
Knie gestützt.
Olivia winkte mit einem Schwert aus filigranem schwarzem
Stahl in Nahiris Richtung. „Das ist sie, nehme ich an?“ Ohne
die Antwort abzuwarten, wandte sie sich an Nahiri. „Was auch
immer Sorin getan haben mag, sich deinen Zorn zuzuziehen,
ich bin sicher, dass er ihn verdient hat. Doch ebenso sehr hat
er sich meine Unterstützung verdient. Ich kann dir deine
Rache folglich nicht gewähren.“
„Noch ein Schutzengel, Sorin? Dieser hier ist wohl etwas in
Eile entstanden“, sagte Nahiri. Sie winkte ausladend mit einer
Hand und die Steinplatten vor ihr wurden glühend heiß.
Olivia lächelte. „Ich muss sagen, Sorin, sie gefällt mir. Aber
nichtsdestominder ...“ Auf ihr Zeichen hin bewegten sich ihre
Vampire auf Nahiri zu.
Die Platten vor der Lithomagierin glühten nun vor Hitze, und
bevor die Blutsauger sie erreichen konnten, zog sie etwas aus
dem geschmolzenen Stein – vier Klingen, gleich der, die sie
selbst trug. Jede pulsierte mit der Energie ihrer steinernen Esse.
Sie griff nach einer, sodass sie nun in jeder Hand eine Klinge
trug. Die anderen fächerten sich hinter ihr auf wie das feurige
Rad eines Phönix.
Bild von Chris Rahn
„Es ist nicht an dir, mir meine Rache zu gewähren. Sie steht
mir zu. Sorin gehört mir.“
„Du solltest nie vergessen“, fauchte Sorin, „dass ich dich
verschont habe. Der Höllenkerker war ein Geschenk.“
„Ein Geschenk“, wiederholte Nahiri. Ihre Finger zuckten. Sie
hätte ihn in Stücke reißen können. „Die Schrecken, mit denen
du mich so lange eingesperrt hast – sie sind zu meiner Welt
geworden.“
Bei ihrem letzten Wort stieß Nahiri die Spitzen ihrer Schwerter
in eine der Steinfliesen. Sie ballte die Fäuste, und die Waffen
begannen zu vibrieren. Die Schwingungen pflanzten sich durch
den Boden fort und wurden stärker, je weiter sie sich
ausbreiteten. Was als leichtes Summen begann, schwoll zu
einem Grollen an, das die umgebenden Mauern zum Beben
brachte. Helle Ströme aus Energie stiegen in schnellen
Impulsen von ihren Händen auf und wanden sich durch die
Klingen, um sich über das Mauerwerk auszubreiten und sich
über jeden einzelnen Stein im gesamten Anwesen zu legen.
Eine Handvoll Leysteine spross um sie herum aus dem Boden.
Jeder zeigte in eine andere Richtung, sodass sie eine Art Stern
bildeten.
Dann ging ein gewaltiger Ruck durch das Anwesen. Die
Mauern, die sie geschaffen hatte, um sich und Sorin
abzuschirmen, brachen in sich zusammen und die gesamte
Halle begann, sich unabhängig vom Rest des Bauwerks zu
drehen. Die Fundamente knarrten wie die Gelenke eines alten
Gottes, der sich zum ersten Mal seit vielen Äonen erhob. Das
Geräusch war ohrenbetäubend und am äußersten Rand der
Erträglichkeit.
Bald schlich sich ein anderer Klang in ihr Gehör. Mit jedem
Stück, das sich die Halle weiterdrehte, wurde es lauter. Es war
ein rauer, kratzender Laut und dem Chor der Kultisten nicht
unähnlich, doch dies war kein Geräusch, das von Menschen
ausging oder gar für sie bestimmt gewesen wäre.
Der Eingangsbogen der Halle bewegte sich mit der gewaltigen
Kammer und führte nun nicht mehr zu dem zerstörten Damm
jenseits des Haupttores. Als die Drehung endlich endete, lag
hinter dem Eingang nur eine konturlose Steinmauer. Der
fremde Klang schwoll an. Ohne das Knirschen von Stein auf
Stein ertönte er ungedämpft, und sie spürte ihn bis ins Mark.
Doch es war an der Zeit. Nahiri griff mit ihrer Magie nach den
Steinen. Die Schichten der Mauer, auf die sie nun blickte,
glitten in verschiedene Richtungen fort.
Noch bevor sie die letzte Schichte beiseite geschoben hatte,
zersprang diese in einem Hagel aus Geröll. Sie kamen: Scharen
von Ungeheuern, knollig und verkrümmt, und nur wenig an
ihnen zeugte noch von den Menschen und Tieren, die sie einst
gewesen waren. Sie gehörten nun Emrakul. Die Eldrazitanin
hatte sie berührt, sodass ihr Fleisch sich wie ein sehniges,
verzweigtes Geflecht über ihre mutierten Gestalten spannte.
Bild von Darek Zabrocki
Nahiri hatte sie seit Emrakuls Ankunft hier versammelt und sie
als Geschenk für ihren Freund in ihrem eigenen Kerker
eingesperrt.
Nahiri sah zu, wie sie aus ihrem dunklen Verlies in die Halle
ausschwärmten und auf sie zukamen. Sie zuckte nicht einmal
zusammen. Albträume waren nichts Neues für sie. Sie kamen
näher, und gerade als die entsetzliche Horde auf sie zu prallen
drohte, teilte sie sich. In ihrem Kreis aus Leysteinen konnten
die Ungeheuer sie nicht sehen. Kryptolithen nannten die
Kultisten diese Steine, aber sie waren alles andere als kryptisch.
Eldrazi folgten den Leylinien, jenem Netzwerk aus Mana, das es
auf allen Welten gab. Genau wie sie es vor sechstausend Jahren
auf Zendikar getan hatte, hatte Nahiri diese Steine so geformt,
dass sich Innistrads Leylinien ihrem Willen beugten. Für diese
Schrecken nahm sie einen blinden Fleck in der Wirklichkeit
ein. Sie existierte nicht.
Auf die Vampire traf dies nicht zu. Die Eldrazi rasten ihnen
entgegen, und die rothaarige Vampirin verschwendete
gemeinsam mit ihren Lakaien keine Zeit, sich mit allem Zorn
ihrer Art in die Menge zu stürzen.
Bild von Karl Kopinski
Nahiri wich vor dem Chaos zurück, und Mauerwerk schob sich
bei jedem Schritt an den passenden Platz, um eine Treppe zu
bilden, die sich in die Höhen des Anwesens wand. Ihr Aufstieg
trug sie über die Klingen der Vampire und die Hiebe von mit
Flechtwerk bedeckten Gliedmaßen hinweg. Sorin hatte gehofft,
sie mithilfe seiner Verbündeten zu besiegen. Vergebens, denn
sie war darauf vorbereitet. Sorin hatte zudem versucht, sie mit
Todesmagie zur Strecke zu bringen, doch auch darauf war sie
vorbereitet gewesen.
Aber war er umgekehrt auch auf sie vorbereitet?
Sie spürte seinen Blick auf sich, und als sie ihn in dem
Getümmel entdeckte, starrte er zu ihr hinauf. Blut rann ihm
das Kinn hinunter, und ein Kultist hing leblos in seinen
Händen. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihn bluten sah,
doch er hatte nie so ungeheuerlich ausgesehen wie in diesem
Augenblick. Und das war es, was er war: ein Ungeheuer.
Sorins Blick wich nie von ihr, selbst dann nicht, als der Vampir
seinen Aufstieg begann. Er bewegte sich wie ein Blitz. Der
schlaffe Kultist in seiner Hand zuckte heftig, während Sorin die
zerklüfteten Wände hinauf und über die wie festgefroren in der
Luft hängenden Steine huschte. Er war wie eine Katze auf der
Jagd, flink und leichtfüßig. Bis Nahiri bei den losen,
zerbrochenen Überresten des Dachs des Anwesens eintraf, war
er ihr schon dicht auf den Fersen.
Nahiri war und blieb jedoch eine Kor von Zendikar. Von
einem gefährlichen Ort zum nächsten zu springen war ihre
zweite Natur. Außerdem war sie die Lithomagierin, und hier –
auf einem Feld aus verstreuten Pfeilern, spitzen Türmchen und
ganzer Flügel des Anwesens, die in unzählige Teile zersprungen
waren – war sie voll in ihrem Element. Sie hockte auf dem
Sims eines hohen, schmalen Fensters, das in einen Teil einer
Wand eingelassen war, die der Schwerkraft trotzend in der Luft
schwebte. Ihre Schwerter kreisten über ihrem Kopf, eine Krone
aus Klingen, die dies als ihr Reich kennzeichneten. Es war an
der Zeit, endlich zu sehen, ob Sorin mit ihr mithalten konnte.
„Nun können wir beenden, was wir angefangen haben. Ohne
Unterbrechungen“, rief sie zu Sorin herunter, der sich nach
einer anmutigen Landung auf einem Absatz aufrichtete, an
dem noch immer ein Teil einer breiten Treppe hing. Ein langer
roter Läufer klammerte sich an die verbleibenden Stufen,
während er wie die Zunge irgendeines toten Tieres in die Tiefe
in die Tiefe hinunterlappte.
„Bist du so begierig darauf, zu sterben?“, fragte Sorin. „Als wir
uns das letzte Mal begegnet sind, war meine Kraft stark
beeinträchtigt. Dieses Mal hast du nicht so viel Glück, fürchte
ich.“ Er warf die Leiche des Kultisten auf Nahiri, als wäre sie
ein feuchter Lappen. Sie hörte etwas im Inneren des Körpers
knacken, als er auf den Stein neben ihr prallte. „Und ich habe
durchaus vor, dich zu töten.“
„Glaubst du, du machst mir Angst?“
„Das werde ich auf jeden Fall bald tun.“ Seine Augen waren
schierste, uralte Grausamkeit.
„Ich gehe nicht, bevor das hier nicht erledigt ist, Sorin.“
„Da sind wir uns einig, Kleines.“
Kleines. Ohne ein weiteres Wort ließ Nahiri ihre Schwerter
fliegen – alle bis auf eines, das sie in der Hand behielt. Sorin
sprang aus dem Weg, als sich ein Schwert nach dem anderen
tief in den Stein unter ihm bohrte, und noch ehe er wieder
einen sicheren Stand gefunden hatte, griff Nahiri nach dem
Treppenabsatz und stellte ihn auf den Kopf.
Einen Augenblick lang dachte sie, es würde ihm gelingen, sich
festzuhalten, doch seine Finger fanden keinen Halt. Er fiel.
Das frei baumelnde Ende des schweren roten Läufers folgte
beim Umdrehen des Absatzes jedoch der Bewegung, und
Nahiri musste dabei zusehen, wie Sorins Finger sich um den
Stoff schlossen und er sich mit einem Mal nach oben schwang,
anstatt abzustürzen.
Nahiri riss an den Platten des Absatzes, um die gesamte
Konstruktion zu zerlegen. Als sie auseinanderbrach, ließ Sorin
den Läufer los und der Schwung beförderte ihn auf einen
verirrten Balken. Von dort aus sprang er an eine brüchige
Wand und dann auf einen weiteren Balken, der schräg in der
Luft hing. All das schien kaum einen Wimpernschlag lang zu
dauern und Nahiri hatte größte Mühe, Sorin weiter zu
beobachten.
Und dann scheiterte sie daran. Er war zu schnell, und bis sie in
ihrem Fenster eine leicht veränderte Position eingenommen
hatte, um seinen Bewegungen unter ihr zu folgen, hatte sie ihn
aus dem Sichtfeld verloren.
Mehrere Herzschläge lang huschte ihr Blick wild umher und
suchte nach irgendeinem Anzeichen einer Bewegung. Dann
war da das Aufblitzen von Silber, und alles, was sie noch tun
konnte, war, in die Wand selbst hineinzugleiten, von der
Sorins Klinge danach mit einem ohrenbetäubenden Schlag
abprallte, der lange durch den Stein hallte.
Von Mauerwerk umgeben hörte Nahiri Sorins Worte
gedämpft, doch sie verloren nichts von ihrem Gift. „Nahiri,
Nahiri ... All dieser Aufruhr nur um einen kleinen Aufenthalt
im Höllenkerker. Und dabei scheinst du dich im Stein so wohl
zu fühlen.“
Es gab ein lautes Knacken. Schmerz fuhr wie ein heißes
Schüreisen durch ihre Seite. Der Stein war gebrochen. Sie
spürte es, und sie spürte den Stahl in ihrem Fleisch. Mit einem
Kratzen zog sich die Klinge zurück, und ehe sie erneut
zuschlagen konnte, ließ sich Nahiri aus der Umklammerung
der Wand fallen. Plötzlich taumelte sie durch die Luft. Ihre
Hand fuhr zu dem Brennen an ihrer Seite. Sie fühlte Nässe.
Ein Teil einer Balustrade kam auf sie zu. Sie versuchte, es zu
greifen, doch ihre Hand, klebrig vom Blut, rutschte ab, und so
fiel Nahiri daran vorbei. Ihre Augenlider flatterten und die
Welt drehte sich, bis dies jäh endete, als sie hart gegen die
Oberfläche einer gewaltigen Säule prallte, die quer über die
gesamte Länge des offenen Dachs gefallen war.
Als sie genug Kraft dafür gefunden hatte, rappelte Nahiri sich
langsam auf. Sie lehnte gegen irgendeine steinerne Verzierung,
die sich aus der Oberfläche der Säule erhob. Sie war außer
Atem und ihr Mund trotz des Geschmacks von Blut trocken.
Beim Geräusch von Stiefelschritten vor ihr auf der Säule hörte,
hob sie den Blick und sah Sorin, der von seinem
Treppenabsatz herabgeklettert war. Er trat nach vorn, sodass er
nun mit drohend erhobenem Schwert über ihr stand, genau
wie vor tausend Jahren, als er sie in den Höllenkerker verbannt
hatte. Doch diesmal gab es keinen Höllenkerker.
„Du hattest die Gelegenheit, mich zu töten, Kleines. Du hättest
sie ergreifen sollen.“ Da war keine Prahlerei in Sorins Worten.
Er war wie ein Mentor, der sich an seinen Schützling wendete,
um ihm eine letzte Lektion mit auf den Weg zu geben.
„Vielleicht“, sagte Nahiri wie zu sich selbst. Ihr Schwert hing so
kraftlos in ihrer Hand, dass die Spitze auf dem Boden ruhte.
Schmerz strahlte von der klaffenden Wunde an ihrer Seite aus.
Sie hatte sie mit ihrer freien Hand umschlossen gehalten, und
als sie jetzt sich einen Augenblick Zeit nahm, um sie kurz zu
betrachten, zitterten ihr die Finger.
So viel Blut.
Was schadete da schon noch etwas mehr. Sie holte tief Luft
und sprach: „Was auch immer hier geschieht, ob ich es
überlebe oder nicht, Sorin: Ich habe gewonnen. Sieh dich nur
um.“ Nahiri wies vage mit der Hand auf das Anwesen. „Schau
genau hin, was ich all dem, das du als deins bezeichnest,
angetan habe.“ Sie deutete nach links. Dort in der Ferne, über
der Stadt Thraben, thronte Emrakul. „Keiner deiner Engel
wird dir dieses Mal zu Hilfe eilen.“
Sorins Klinge zuckte und schlug Nahiris fort. Ihr Schwert
stürzte taumelnd in die Tiefe. „Was du mir mit Avacyn
genommen hast, werde ich mir durch dein Blut zurückholen.“
Bevor sie auch nur einen Muskel rühren konnte, spürte sie
Sorins Zähne in ihrem Hals. Sämtliches Blut in ihrem Körper
änderte die Richtung, in die es strömte. Sorin rief es zu sich,
und es brannte ihr in den Adern. Er trank gierig, und Nahiri
fand ihren Augenblick.
Sie lehnte sich gegen die Wand hinter sich, die sich auf ihr
Drängen hin für sie öffnete. Jeder Herzschlag war eine Qual,
doch sie zwang sich zu flüstern: „Ich kann zurückbeißen, Sorin,
und ich habe größere Zähne als du.“
Die Wand schlug um sie herum zusammen wie eine Woge,
und Reihe um Reihe steinerner Hauer gruben sich in Sorins
Beine und Rippen. Sein Schwert fiel ihm aus der Hand, und
ein Schmerzensschrei brach sich Bahn. Nahiri stieß ihn von
sich weg und durchquerte mühelos den festen Stein, um Sorin
allein darin zurückzulassen. Der Stein schloss sich um ihn, bis
er fest von ihm umklammert war. Als Nahiri ihr Werk
vollendet hatte, baumelte Sorin im Griff ihrer Magie in der
Luft. Er würde diese Welt nicht verlassen können. Die
steinernen Zähne, die ihn festhielten, nagten an seinem
Inneren und hielten einen Schmerz aufrecht, durch den es ihm
unmöglich sein würde, sich darauf zu konzentrieren, diesen
Ort je wieder verlassen zu können.
Dann wirbelte Nahiri Sorin und seinen Stein herum, sodass er
auf die Ebenen unterhalb des Markov-Anwesens hinabblickte.
Sorin wollte sprechen, doch es erklang nur ein
unverständliches Gurgeln, während Nahiri auf den Kokon
kletterte, den sie erschaffen hatte. Was auch immer er zu sagen
hatte, spielte keine Rolle. Sie wollte, dass er ihre Worte hörte.
Sie klammerte sich mit einer Hand an die Spitze des Steins und
ließ sich zu ihm herab, um sie ihm ins Ohr zu flüstern. „Ich
habe dich verschont“, sagte sie. „Betrachte es als vergoltenes
Geschenk.“
Bild von Cynthia Sheppard
In der Ferne unter einem Dach aus Wolkentürmen: Emrakul.
Und im nächsten Augenblick verließ Nahiri Innistrad und
überließ Sorin dem Schicksal seiner Welt.

Der Horizont war Emrakul. Es gab nichts, was Sorin tun


konnte, außer dabei zuzusehen, wie Innistrads Ende langsam
durch Gaven auf Thraben zukam. Die Menschen dort unten
kümmerten ihn nicht, aber Innistrad war sein, und Thraben
war es, wo er Avacyn erschaffen hatte, um es zu beschützen. Es
nun am Rande der Vernichtung zu sehen, schmerzte ihn mehr
als die steinernen Zähne der Lithomagierin, die sich durch sein
Innerstes mahlten.
Sorin spürte es einen Augenblick, bevor er es hörte – Metall
auf Stein, ein langsames, langes Kratzen, das sich von der Spitze
bis zum Boden seines Sarkophags bewegte.
„Ich glaube, das hier gefällt mir besser“, sagte eine spöttische
Stimme. Und dann kam Olivia in sein Blickfeld und versperrte
ihm die Sicht auf das Chaos unter ihm. Sie hielt sein Schwert
in der Hand.
„Olivia“, presste Sorin hervor. „Befreie mich.“
„Selbst wenn ich es könnte, warum sollte ich? Avacyn ist tot.
Nahiri wurde vertrieben. Unser Handel ist erfüllt.“ Sie kicherte
grausam. „Ich nenne das einen Sieg. Versuche doch bitte, ihn
zu genießen. Immerhin ist das Markov-Anwesen dein. Und was
mich angeht ...“ Sie hielt Sorins Schwert in die Höhe, um die
Klinge zu begutachten. „Mir gefällt der Klang von ‚Olivia,
Herrin von Innistrad‘.“
Der letzte Rest Geduld, der ihm noch geblieben war, wurde
von einer Welle der Verzweiflung hinweggespült. Diese Welt
war verloren. Olivia war sein einziger Ausweg. „Schau hin!“,
sagte er und stemmte sich gegen den unnachgiebigen Stein.
Olivia warf einen raschen Blick über die Schulter, sagte aber
nichts. „Siehst du es?“, fuhr er fort. „Das ist es, was kommen
wird. Du hast gesehen, was sie tut. Wozu sie fähig ist.“ Er
sprach nun schneller. Seine Stimme brach. „Du wirst meine
Hilfe brauchen, wenn du damit fertigwerden willst!“
Sorin gefiel nicht, wie Olivia ihn ansah. Sie war eine Spinne
und er eine Fliege. „Hör mir zu!“, versuchte er es erneut. „Was
nützt dir all das, wenn es morgen fort ist?“
„Avacyn ist tot. Und du“, sagte sie und drückte ihm die Spitze
seines eigenen Schwertes gegen die Wange, „bist es ebenso. Ich
finde das ziemlich gut.“ Und alles, was Sorin tun konnte, war
mit anzusehen, wie Olivia davonschwebte, sodass Emrakul und
das Ende, das sie verhieß, nun wieder klar zu sehen waren.

„Ich höre nur sehr wenig Neuigkeiten“, sagte Grete, „und die
Hälfte davon widerspricht sich.“
Thalia nickte seufzend. „Manchmal kehren unsere
Kundschafter nicht zurück“, sagte sie, „und manchmal sind sie
kaum in der Lage, Bericht zu erstatten.“ Etwas krampfte sich in
ihrem Magen zusammen, als sie an Halmig dachte, der sich
gestern früh dem Marsch angeschlossen hatte und der
vollkommen ...verändert ... gewesen war. Sie hatte sich
gezwungen gesehen, ihn zu töten. Ihn oder wozu auch immer
er geworden war – mehr ein sich windendes Ding als ein
Mensch. Sie konnte nur Vermutungen darüber anstellen, was
ihm auf seiner Kundschaftermission widerfahren und was mit
den Soldaten unter seinem Befehl geschehen war.
„Ist es wahr, dass Hennweier zerstört ist?“, fragte Grete.
„Die Wahrheit ist viel schlimmer.“ Thalia fuhr mit den Fingern
durch das glänzende Fell ihres Reittieres und tat so, als sähe sie
Gretes hochgezogene Augenbraue nicht. Grete ihrerseits hakte
nicht weiter nach.
Schweigend und jede ihren eigenen Gedanken nachhängend
ritten sie eine Weile weiter. Das letzte Mal, als eine Armee
nach Thraben marschiert war, hatte es sich dabei um eine von
den Geschwistern Sesani erschaffene Horde aus Ghulen und
Skaabs gehandelt, wie sich Thalia erinnerte. Nun war sie Teil
einer voranmarschierenden Horde – wenn man so wenige
Soldaten überhaupt als solche bezeichnen konnte. Sie waren
nicht minder abgerissen und heruntergekommen wie Zombies,
denn die Kämpfe der vergangenen Wochen hatten sie
ausgezehrt. Die Welt schien vom Wahnsinn verschlungen
worden zu sein. Doch so lange sie noch atmeten und so lange
sie noch einen Hoffnungsschimmer fanden, an den sie sich
klammern konnten, so lange würden sie weiterkämpfen.
Zumindest die meisten von ihnen. Odric war zurückgeblieben.
Sein Geist war gebrochen, nachdem er sich gegen den Rat der
Lunarchen gewandt und Thalia aus ihrem Kerker befreit hatte.
Thalia trauerte um ihn, doch sie durfte keinen Deut ihres
eigenen Glaubens darauf vergeuden, den seinen wieder zu
stärken.
„Ich habe gehört, Seeta und ihre Inquisitoren setzen ihre
Arbeit fort“, sagte Grete schließlich.
Thalia schnaubte verächtlich. „Sollen sie uns ruhig finden“,
sagte sie. Nachdem Thalia dem Rat der Lunarchen
entgegengetreten und gemeinsam mit Odric und Grete aus
Thraben geflohen war, hatte eine eifrige Inquisitorin namens
Seeta die Jagd auf sie angeführt. Seetas Schlachtruf lautete:
„Reinigt die Unreinen!“, und sie reiste an der Spitze einer
Prozession rollender Fallbeile. Die von Ochsen gezogenen
Hinrichtungsanlagen hatten sie bislang so sehr aufgehalten,
dass sie den Orden von Sankt Traft noch nicht gefunden hatte.
Und nun war dieser groß genug geworden, dass Thalia glaubte,
wenig von dem, was von der Inquisition noch übrig war,
fürchten zu müssen.
Grete schüttelte den Kopf. „Sie nennen sich nun die
Sündenfreien“, sagte sie. „Sie behaupten, die Verwandlung
wäre ein Zeichen dafür, dass die Sünde aus ihren Körpern
getilgt wurde.“
Thalia verzog angeekelt den Mund. „Sie versuchen, das als eine
... Tugend ... auszulegen?“
Grete nickte und starrte auf den steinigen Pfad vor ihnen.
„Wie tief wir doch gesunken sind“, sagte Thalia halb zu sich
selbst.
„Was ist es denn dann?“, fragte Grete. „Angenommen, es ist
keine Tugend, meine ich. Wodurch wird es verursacht?“
„Wenn es eine Antwort darauf gibt, werden wir sie in Thraben
finden.“
Sie fragte sich, was sie tatsächlich dort finden würden – in der
Stadt, in der Kathedrale. Ihr Herz schlug schneller und ihr
Magen krampfte sich bei dem Gedanken an Thraben, das über
so viele Jahre hinweg ihre Heimat gewesen war, noch
schmerzhafter zusammen. Was, wenn es das gleiche Schicksal
wie Hennweier ereilt hatte? Wenn dort Menschen und Dinge
zu einer einzigen Wesenheit verschmolzen waren? Was, wenn
es nichts mehr zu retten gab? Was, wenn Avacyn wirklich ...?
Hennweier, die schlingende Stadt | Bild von Vincent Proce
Ein einsames Pferd stand ein Stück den Pfad hinunter. Thalia
nickte Grete zu, spornte ihr Reittier an und galoppierte
vorwärts. Sie lehnte sich gegen den Kopf ihres Tieres und der
Dommelgreif breitete die Schwingen aus, um sich anmutig in
die Luft zu erheben, an Gretes voranpreschendem Pferd
vorbeizuschweben und sich neben Rem Karolus niederzulassen,
ohne das kleinste Staubkorn am Boden aufzuwirbeln.
Rem war ein weiterer ergebener Diener der Kirche gewesen –
die Klinge der Inquisitoren –, doch der Wahnsinn der Engel
hatte ihn verändert. Er war seit jeher kein Mann vieler Worte
gewesen und hatte seine Pflichten mit grimmiger
Entschlossenheit erfüllt. Doch er hatte seinem Titel schon früh
alle Ehre gemacht und seine berühmte Klinge gegen die wahre
Bedrohung Innistrads geführt. „Engelstöter“ nannte man ihn
nun, auch wenn er selbst diesen Namen nicht für sich
verwendete. Und obgleich sie nie mit ihm darüber gesprochen
hatte, vermutete Thalia, dass Rems Glauben gemeinsam mit
dem ersten Engel, den er niedergestreckt hatte, gestorben war.
Als Grete ihr Pferd neben ihnen zügelte, schnitt Rem zwei
Riemen an der Seite seines Sattels durch und ein langer,
metallener Schaft fiel dumpf zu Boden. Selbst mit zerbrochener
Spitze war Avacyns Speer unverwechselbar.
„Es ist also wahr“, flüsterte Thalia.
„Hast du sie getötet?“, entfuhr es Grete .
Rem machte ein abschätziges Geräusch. „Du überschätzt
mich“, sagte er. „Versteh mich nicht falsch: Ich hätte es getan,
wenn ich gekonnt hätte. Doch es sieht so aus, als sei mir
jemand zuvorgekommen.“
Thalias Herz wurde schwer. Sie glitt vom Rücken des Greifen
und fiel neben dem Speer auf die Knie, als würde die Last auf
ihrer Brust sie nach unten ziehen. Ihr Greif stupste ihr Gesicht
an. Sein eigenes war nass von ... Tränen? Trauerte er ebenso
um Avacyn wie sie selbst?
Sie wankte nach vorn und griff nach dem Speer.
Rem rief noch halb: „Das würde ich nicht ...“
Ein Gleißen heiligen Lichts brach aus dem Schaft, wo ihre
Hand ihn berührte, und Thalia zog die Finger zurück, als ein
Schmerz ihr durch den gesamten Arm fuhr.
„... tun“, endete Rem flach. „Ich hätte mir schier etwas
gebrochen, als ich ihn an der alten Jedda hier festzurrte. Ich
konnte ihn nicht anfassen.“
Thalia schenkte ihm keine Beachtung. Kannst du das?, fragte
sie den Geist in sich.
Ihre Hand begann in einem warmen, weißen Licht zu leuchten,
als die Macht von Sankt Traft ihr den Rücken entlangfuhr. Sie
fühlte sich leichter. Mit oder ohne Avacyn: Die Welt war noch
nicht verloren.
Sie griff erneut nach dem Speer, und diesmal schloss sich ihre
Hand fest um den Schaft. Sie stand auf und hob den Speer
über den Kopf. Seine Spitze leuchtete unter dem bewölkten
Himmel wie die Sonne. Rems Mund stand offen und Thalia
versuchte, ihn nicht anzugrinsen.
„Grete, nimmst du bitte die Standarte aus meinem Sattel?“,
fragte Thalia.
Grete stieg ab und näherte sich dem Greifen – zunächst
zaghaft, doch als sie nahe genug war, um ihn zu berühren, sah
Thalia, wie ihre Angst dahinschwand. Dommelgreifen wirkten
beruhigend.
Dommelgreif der Dämmerung | Bild von Christine Choi
Grete entfernte geschickt den langen Speer, an dem das
Banner von Sankt Traft beim Reiten über Thalias Kopf wehte,
und Thalia platzierte Avacyns Speer an seiner Stelle.
„Wir reiten nun unter diesem Banner“, sagte sie.
Rem war noch immer völlig verblüfft. „Wie hast du ...?“
„Du solltest häufiger mit mir reiten, Rem. Du würdest eine
Menge überraschender Dinge sehen.“
„Und Dinge, die dir Hoffnung geben“, fügte Grete hinzu.
„Nun, wir werden sehen“, sagte Rem. Doch er blickte auf den
Speer, der noch immer im matten Sonnenlicht schimmerte,
und etwas glitzerte in seinen Augen, wenngleich es auch keine
Hoffnung war.
Thalia kletterte zurück in ihren Sattel, wendete den Greifen in
Richtung der sich nähernden Armee und ließ ihn sich wieder
in die Luft schwingen. Sie flog über die gesamte, bunt
zusammengewürfelte Schar hinweg und achtete darauf, dass
jeder Avacyns Speer zu sehen bekam. Verhaltene Rufe
erklangen – die Rufe von Soldaten, die ihrer Anführerin
zujubelten –, doch als die Leute erkannten, was sie da vor sich
sahen und was es bedeutete, wurden ihre Rufe zu Schreien der
Verzweiflung.
Sie lenkte den Greifen in ihre Mitte. Mithilfe des Geistes hob
sie den Speer erneut mit beiden Händen über den Kopf. Er
war zu schwer, als dass sie ihn im Kampf hätte führen können,
doch er war ein mächtiges Symbol.
„Avacyn ist tot!“, rief sie. Verzweifeltes Stöhnen und
ungläubige Rufe erschallten um sie herum. „Ihre Kirche ist
unwiderruflich verderbt. Und namenlose Schrecken kriechen
und winden sich über unser Land.“
Mit schmerzendem Herzen hielt sie einen Augenblick inne. Die
Trauer, die sie in den Gesichtern um sich herum sah, spiegelte
ihre eigene wider. Jeder hier hatte Familie, Freunde und sein
Zuhause verloren – und nun standen sie kurz davor, auch noch
ihre letzte Hoffnung zu verlieren. Das Gewicht des Speeres ließ
die Muskeln in ihren Schultern brennen.
„Doch wir sind noch hier!“, rief sie. „Wir, die wir gegen diese
Schrecken kämpften. Wir, die wir uns dem Bösen und dem
Wahn der Kirche entgegengestellten. Wir, die wir im Angesicht
der Verzweiflung Hoffnung in unserem Glauben fanden – wir
sind noch hier! Und wenn kein Erzengel mehr uns den Weg
durch das Dunkel erhellt, dann müssen wir unser eigenes Licht
sein. Wenn kein Schutzzauber die Schrecken mehr im Zaum
hält, dann müssen unsere Schwerter diese Aufgabe
übernehmen. Wenn wir keinen Glauben mehr in Avacyn
finden, dann müssen wir an jene Ideale glauben, für die
Avacyn vor ihrem Wahnsinn stand.“
Beim Sprechen sah sie, wie Katharer auf die Knie sanken und
ihnen Tränen über die vom Kampf verhärmten Wangen
rannen, während sie den Blick zum Himmel gerichtet oder die
Gesichter dem Staub entgegengewandt hielten. Jeder von
ihnen würde auf seine Weise und zu seiner Zeit mit der Trauer
fertigwerden müssen. Ihr Schmerz setzte ihr zusätzlich zu ihrer
eigenen Trauer zu – eine Bürde, die weitaus schwerer wog als
der Speer, den sie mühsam erhoben hielt.
Sie erinnerte sich an das, was sie Odric vor Monaten gesagt
hatte, und sagte alles, von dem sie wusste, dass es ihnen die
Herzen etwas leichter machen konnte. „Vor all dem hier hielt
das sanfte Licht des Mondes die Schrecken der Nacht zurück.
Vor all dem hier hielten die Bande zwischen uns die Furcht
fern, die uns zu trennen versuchte. Vor all dem hier strebten
wir danach, mehr als nur gewöhnliche Menschen zu sein. Wir
strebten nach Heiligkeit und nach einer Vollkommenheit, wie
wir sie in den Engeln sahen.
Und das werden wir erneut tun. Liebe Freunde, wir sind noch
hier! Und das ist es, wofür wir streiten! Für die Erinnerung an
Avacyn, an das Licht und an die Güte, die aus der Welt
verschwunden sind – dafür streiten wir! Für Innistrad und all
seine Bewohner – für sie marschieren wir!“
Sie jubelten trotz ihrer Tränen. Sie standen auf und erhoben
die Gesichter zum wolkenverhangenen Himmel und reckten
ihm ihre Schwerter und Speere entgegen. Thalia berührte den
Kopf des Greifen, und er stieg auf, um ein weiteres Mal über
den Soldaten ihrer kleinen Armee zu kreisen. Dann landete sie
erneut neben Grete an der Spitze ihrer Streitmacht und sie
marschierten voran: nach Thraben und in ein letztes,
verzweifeltes Gefecht gegen den Albtraum, der Besitz von ihrer
Welt ergriffen hatte.

Die Türme und Wehrgänge Thrabens ragten dort hoch über


der Mündung des Flusses Kirch auf, wo sich seine Wasser über
zerklüftete Klippen ins Meer ergossen. Die sich sanft
dahinerstreckende Heide, aus der ein Großteil Gavens bestand,
sorgte dafür, dass die Helle Stadt bei klarem Himmel aus vielen
Meilen Entfernung zu sehen war. Thalia konnte sich jedoch
nicht erinnern, wann sie das letzte Mal einen wolkenlosen
Himmel gesehen hatte. Als sich die Schleier aus Regen und
Nebel nun schließlich lüfteten und den Blick auf die Stadt
freigaben, waren sie nur noch eine Stunde Fußmarsch von ihr
entfernt.
Der Weg vor ihnen war allerdings von Schrecken übersät. Es
würde kein leichter Marsch werden. Es waren Massen aus mit
Geflecht überzogenem Fleisch und pockigen Tentakeln,
verzerrten Zügen und missgestalteten Leibern – Dinge, die einst
Vieh, wilde Bestien oder wesentlich gewöhnlichere Ungeheuer
gewesen waren. Einige waren nicht einmal mehr als von der
Natur geschaffene Lebewesen zu erkennen. Und viele – viel zu
viele – waren einmal Menschen gewesen, und nun zeigten ihre
grässlichen Züge nur noch in sehr unterschiedlichem Maße
hier und da etwas, was man als menschlich hätte beschreiben
können.
Im Vergleich dazu kamen einem die entsetzlichen Skaabs, die
Geralf Sesani nach Thraben geschickt hatte – Flickwerke aus
menschlichen und tierischen Körperteilen, die er den
Eingebungen seiner wahnwitzigen Vorstellungskraft folgend
zusammengesetzt hatte –, nicht weiter bemerkenswert und
geistig gesund vor. Zumindest hatte eine klar als solche
erkennbare Intelligenz sie geschaffen – ein menschlicher
Verstand mit einem abscheulichen Geschmack und frei von
jeder Art von Moral, aber immerhin ein menschlicher
Verstand. Diese Dinge konnten nur der Vorstellung eines
vollkommen fremdartigen Bewusstseins entsprungen sein –
dem irgendeines wahnsinnigen Gottes, der im rastlosen Schlaf
der Ewigkeiten träumte.
Auch sie fanden sich in Thraben zusammen. Sie schlurften auf
knochenleeren Beinen oder krochen auf sich windenden
Tentakeln oder zogen sich auf dem, was einst Hände gewesen
sein mochten, über den Boden voran. Manche flatterten
taumelnd auf membrandünnen Flügeln durch die Luft,
während andere einfach auf dem Wind dahinglitten, ganz so,
als sei die Schwerkraft nur ein weiteres Gesetz der Natur, dem
sie keinerlei Bedeutung beizumessen brauchten.
Zunächst schienen sich die Schrecken mehr dafür zu
interessieren, den Weg nach Thraben zurückzulegen, als Thalia
und ihre Katharer aufzuhalten. Sie befahl den Soldaten, ihre
Kräfte zu schonen und nur dann zu kämpfen, wenn sie
angegriffen wurden. So übel ihr auch dabei war, die
zappelnden Ungeheuer am Leben zu lassen, so sicher war sie
sich, dass ihre Soldaten all ihre Kräfte brauchen würden,
sobald sie die Stadt erreichten.
Doch dann kam sie einem dahinschlurfenden Ding von den
Ausmaßen eines großen Pferdes zu nahe, und es wirbelte zu ihr
herum. Sie schätzte, dass es tatsächlich früher einmal ein Pferd
gewesen war – nein, ein Pferd samt Reiter, die nun zu einer
einzigen entsetzlichen Masse aus Fleisch verschmolzen waren.
So etwas wie sechs Beine trugen das Ding, und miteinander
verwobene Stränge violetten Fleisches bedeckten seine Flanken
und hielten Pferd und Reiter zusammen. Gezackte Zähne
stachen aus verschiedenen kieferartigen Gebilden unter einer
räudigen Mähne hervor, und ein rotgelbes Leuchten unter
einen Dreispitz musste wohl früher das Antlitz des Reiters
gewesen sein. In dem Gewirr aus Tentakeln war halb eine
Hellebarde versunken.
Eins, das reitet | Bild von Daarken
Ehe sie ihr Reittier wenden konnte, um sich der Kreatur zu
stellen, als befänden sie sich in einer Art irrsinnigen Tjoste,
erhob sich das Geschöpf auf drei Hinterbeine und rammte ihr
einen Huf in die Schulter. Thalia wurde aus dem Sattel
geschleudert. Mit einem Rascheln seines zerzausten Gefieders
erhob ihr Greif sich in die Luft. Thalia machte sich die
kurzzeitige Ablenkung der Kreatur zunutze, um sich
aufzurappeln und eine Kampfhaltung einzunehmen.
Als es näher kam, zuckte ihre Klinge und schlug zwei Wunden
in das, was der Hals des Pferdes gewesen sein musste. Ein
bräunliches Etwas tropfte aus den Schnitten – kein Blut, denn
es wand sich und zappelte wie Würmer, von denen es unter
einem umgedrehten Stein wimmelte. Die Kreatur schien es
nicht zu bemerken.
Ein Huf am Ende von etwas, was kein Bein war, schlug nach
ihr aus. Sie stieß ihn beiseite und schnitt in das Fleisch genau
darüber. Diesmal sickerte gelblicher Eiter hervor. Als sie jedoch
nach einer Seite parierte, hieb ein Tentakel – vermutlich einer
der Arme des Reiters – von der anderen Seite nach ihr. Ihr
Gesicht schmerzte ... und dann nicht mehr. Wo die fleischige
Masse sie erwischt hatte, wurde ihre Haut taub und kalt.
Sie stolperte zwei Schritte vorwärts und nahm ihr Schwert in
die andere Hand, als sich die Taubheit auf Hals und Schultern
ausbreitete. Das Ding folgte ihr und bäumte sich auf, um
erneut zuzuschlagen, doch dann fuhr Thalias Greif herab und
trieb seinen Schnabel mitten in die fleischige Masse des Dings.
Ein Heulen fuhr aus einer Vielzahl von Mündern, die am Leib
des Monstrums klafften.
Thalia versenkte ihre Klinge tief in das Ding – gleich über
einem Fuß, der noch immer in einem Steigbügel steckte, wie
sie mit einem Anflug von Abscheu bemerkte –, und das
Geheul wurde lauter. Eine Reihe anderer Katharer waren ihr
zu Hilfe geeilt und schwangen schwerere Schwerter und Äxte,
bis der Schrecken zuckend zu ihren Füßen lag.
Und Dennias, der vor einem Jahr noch ein gutmütiger Schüler
in Ellgau gewesen war, kniete am Boden und hielt sich den
Kopf, als wollte er etwas in seinem Schädel daran hindern, aus
ihm herauszubrechen. Sein Mund stand in einem stummen
Schrei offen, und seine geweiteten Augen starrten ins Nichts.
Sein Freund Mathan fiel neben ihm auf ein Knie, legte ihm
einen Arm um die Schultern und murmelte leere, tröstende
Worte. Thalia wandte sich ab.
Dann schrie Mathan.
Thalia wirbelte herum und sah, wie Mathan zurücktaumelte.
Sein Gesicht war weiß wie das eines Greifen. Dennias hatte
sich nicht bewegt, doch lange Tentakel schlängelten sich wie
violette Bänder aus seinen Fingern. Und aus seinem Ohr.
Sein Gesicht wurde fahl, und er wirkte, als würde er sich
übergeben. Thalia schüttelte traurig den Kopf und machte
einen Schritt auf ihn zu. Sie wusste, was nun kommen würde.
Er beugte sich vornüber, als wollte er seinen Mageninhalt
entleeren, doch stattdessen kamen weitere Tentakel aus seinem
Mund. Etwas Großes zuckte unter seiner Rüstung.
Er war verloren.
Ihre Klinge beendete sein Leben schnell – viel schneller, als
Ross und Reiter gefallen waren, und zweifellos auch rascher als
die Verderbnis, die langsam das Leben aus ihm herausgesaugt
hätte. Sie nahm die Bürde seines Todes auf sich, damit
niemand anders sie schultern musste, doch sie überließ einem
anderen die noch edlere Aufgabe, seinem Freund Trost zu
spenden.
Dommelgreifen wirkten beruhigend. Als sie zurück in den
Sattel kletterte, wurde ihr Herzschlag ruhiger und sie nahm
einen tiefen, schaudernden Atemzug. Sie konnte den Speer
nicht ansehen.

Thraben zog sie nun alle an.


Thalias Gedanken waren klar und ihr Blick unbeirrt auf die
Türme der Hohen Stadt gerichtet, doch sie spürte dennoch
den Sog. Die Soldaten, die neben und hinter ihr marschierten,
hatten den Blick auf Avacyns Speer geheftet, der von ihrem
Sattel aus zum Himmel zeigte, doch auch sie spürten ihn. Das
wusste sie. Mit Spitzhacken und Mistgabeln bewaffnete
Menschen aus der Stadt schlossen sich ihnen an, ganz so, als
wüssten sie, dass dies die letzte Gelegenheit war, für das
Schicksal ihrer Welt zu kämpfen.
Und die wankenden, zappelnden, erzitternden Dinge um sie
herum kannten nur den Sog. Einige waren noch immer
weitestgehend menschlich – Städter und Dörfler, die in die
Roben der Küstenkulte gehüllt waren und Krabbenscheren
oder pockige Tentakel oder froschartige Mäuler hatten. Einige
waren offenkundig einmal menschlich oder tierisch gewesen,
wenn auch nun nicht mehr. Einige waren derart entstellt, dass
Thalia sie nicht einmal ansatzweise zu beschreiben vermochte.
Doch Thraben zog sie alle an.
Nein. Nicht alle. Ein Trupp Ritter auf gepanzerten Pferden ritt
über die Heide auf Thalia und ihre Armee und nicht auf die
Stadt zu. Eine Kompanie Soldaten marschierte hinter ihnen.
„Grete, Rem“, sagte sie und riss die beiden aus ihrem
entrückten Zustand. Sie deutete zu den anrückenden
Einheiten. Rem nickte grimmig, während Grete die Stirn
runzelte.
„Weitere Feinde?“, fragte Grete.
„Vielleicht die Sündenreinen“, sagte Rem.
„Nenn sie nicht so“, herrschte Thalia ihn an. „Aber ich glaube
nicht, dass das Seetas Leute sind.“
„Wer sind sie dann?“, fragte Grete.
„Ich werde es herausfinden.“ Thalia hatte nicht einmal Zeit,
ihrem Reittier die Sporen zu geben, bevor es sich auch schon in
die Luft erhob, als erahnte es ihre Gedanken.
Als sie sich den Rittern näherte, schwang sich eine Gestalt an
ihrer Spitze ebenfalls in die Luft – nur eine menschliche
Gestalt ohne irgendein Reittier, das sie trug.
Als ihr Greif sich der Gestalt annäherte, erkannte Thalia eine
Mähne aus feuerrotem Haar, eine schwarze Rüstung – und ein
langes schwarzes Kleid, das gänzlich ungeeignet für den Kampf
schien. Die Gestalt hatte bleiche, beinahe weiße Haut und trug
eine absurd lange Klinge, die dadurch leichter gemacht worden
war, dass man sie so weit ausgehöhlt hatte, dass nun der graue
Himmel durch sie hindurchschimmerte.
Das war also kein Mensch. Ein Blutsauger.
Die Vampirin hob beide Hände als Zeichen, dass sie sprechen
wollte, obwohl sie noch immer offen ihre Klinge trug – was
kein großes Wunder war, denn Thalia wollte sich kaum
ausmalen, wie eine Scheide für dieses Ungetüm aussehen
mochte. Thalia erwiderte die Geste. Ihre eigene schmale Klinge
hing an ihrer Seite. Langsam schwebten sie aufeinander zu, bis
sie nahe genug für einen Wortwechsel waren.
In gewisser Weise wirkte das alles geradezu lachhaft, doch es
war tödlicher Ernst. Thalia saß auf einem Dommelgreifen,
dessen Schwingen gerade so sehr schlugen, um sie in der Luft
zu halten – von Angesicht zu Angesicht mit einer Vampirin,
die dank ihrer eigenen Magie vom Erdboden abgehoben hatte.
Und sie würden sich unterhalten.
„Wir haben ein gemeinsames Ziel, Mensch“, rief die Vampirin.
„Ich bin Olivia Voldaren, Herrin von Ludenstein und
Begründerin der Linie der Voldaren.“
Olivia die Kriegsgerüstete | Bild von Eric Deschamps
Thalia verschlug es einen Augenblick lang völlig die Sprache.
Kaum einen Steinwurf entfernt schwebte eine der mächtigsten
Vampirinnen Innistrads. Gerüchten zufolge war sie eine
exzentrische Einzelgängerin und dafür bekannt,
ausschweifende Feste auszurichten, auf denen sie sich selbst
allerdings nur selten zeigte. Und sie war vollständig für den
Kampf gerüstet – ein wahres Sinnbild eleganter Aristokratie in
Kriegszeiten.
Mit einem tiefen Atemzug fand Thalia ihre Stimme wieder.
„Ich grüße Sie, verehrte Frau Voldaren. Ich bin Thalia, die
Erbin von Sankt Traft.“
„Wirklich? Ich traf ihn einst, müssen Sie wissen. Ich muss
zugeben, Sie machen ihm alle Ehre, wie Sie da auf Ihrem
Greifen sitzen mit Avacyns Speer an Ihrer Seite.“
Olivias Erinnerung daran, dass sie deutlich älter war, als Thalia
zu begreifen vermochte, war subtil. Eine sanfte Warnung,
vermischt mit einem Hauch von etwas, was beinahe Achtung
hätte sein können.
„Was geht hier vor sich, Vampirin? Ich werde nicht tatenlos
zusehen, wie meine Soldaten zu einem weiteren der
berüchtigten Festmahle der Voldaren werden.“
„Entspannen Sie sich, Liebes.“ Sie lachte. Ein melodisches
Geräusch, das die Lage noch absurder zu machen schien. „Wie
ich bereits sagte haben wir ein gemeinsames Ziel. Ich glaube,
wir sind alle aus dem gleichen Grund hier: um die Welt zu
retten. Immerhin scheint Ihr kostbarer Engel ja kaum in der
Lage dazu.“
Thalia unterdrückte eine unfreundliche Erwiderung. Wenn die
Vampire hier waren, um zu helfen, würde sie sie nicht
abweisen. Ja, wenn einige ihrer eigenen Truppen den Marsch
nach Thraben überlebten, würden sich die Vampire zweifellos
anschließend hungrig von der Schlacht auf sie stürzen. Doch
dies war verglichen mit der finsteren Wirklichkeit der
Ungeheuer, die sich auf die Hohe Stadt zuwälzten, während sie
hier sprachen, nur graue Theorie.
„Na gut“, sagte sie. „Wir werden die Welt gemeinsam retten.
Sie mit Ihrer Armee, ich mit der meinen. Ich kann nicht von
meinen Soldaten verlangen, Seite an Seite mit Vampiren zu
kämpfen, aber wir ziehen gegen denselben Feind ins Feld.“
Im Verlauf ihrer Unterhaltung war Olivia näher gekommen –
nahe genug, um eine Hand auszustrecken. Zu Thalias Rechten,
mit dem Greifen zwischen ihr und Avacyns Speer.
„Kein Biss und keine Klinge eines Vampirs wird menschliches
Blut kosten, solange dieser Kampf nicht beendet ist, Erbin von
Sankt Traft. Haben wir eine Vereinbarung?“
Thalia konnte es nicht ganz fassen, dass sie tatsächlich eine
Hand ausstreckte und die der Vampirin schüttelte.
„Keine menschliche Klinge wird Ihresgleichen ein Leid
zufügen. Wir sind da einer Meinung.“
Olivia neigte sich in der Luft nach vorn, um ihr Gesicht dicht
an ihrer beider Hände zu bringen, die sich noch immer
berührten. Sie sog tief Luft durch die Nase ein – war das ein
Schnuppern? – und blickte Thalia dann in die Augen. Ihre
Fänge blitzten bei ihrem Lächeln deutlich sichtbar auf.
„Vorzüglich“, sagte sie. Eine letzte Warnung, dann drehte sie
sich um und schwebte hinunter zu ihrer Streitmacht aus
Vampiren.
Thalia erschauderte und kehrte zu ihren Soldaten zurück. Sie
wusste noch nicht recht, was sie ihnen sagen sollte.

Thalia ritt eine Weile mit geschlossenen Augen und vertraute


ihrem Greifen, den Weg zu finden und sie vor Gefahren zu
warnen. Sie zog sich in sich selbst zurück, nahm Verbindung
mit dem Geist auf, mit dem sie sich einen Körper teilte, und
erinnerte sich:
Es war, nachdem sie Odric in der Kathedrale zur Rede gestellt
hatte, als sie ihm zum ersten Mal begegnet war. Sie hatte nicht
gewusst, wohin. Also war sie abseits der Wege in die Heide
hinausgeritten, bis sie auf einen überwucherten Pfad gestoßen
war. Etwas zog sie seinen verschlungenen Weg entlang, bis sie
auf eine alte Kapelle in der Nähe jener Hügel stieß, die sich bis
zur Geierweite Stenzens erstreckten.
Ein Gemälde im Inneren zog ihren Blick auf sich. Es zeigte
Traft, wie sie inzwischen wusste, oder vielmehr seinen Geist,
wie er hinter einer rothaarigen Frau stand, die ein Schwert in
ihrer vierfingrigen Hand hielt. Seine Hand ruhte auf ihrer
Schulter.
Anrufung von Sankt Traft | Bild von Igor Kieryluk
Diese Frau, die als junges Mädchen von einem dämonischen
Kult gefangen genommen worden war, um Traft in sein
Verderben zu führen, war die erste Erbin von Sankt Traft
gewesen. Die Kultisten hatten ihren Finger abgetrennt und ihn
Traft geschickt, um sich seiner Zusammenarbeit zu versichern.
Nach seinem Tod hatte er eigens über sie gewacht, während sie
zu einer großen Kriegerin und Dämonenjägerin heranwuchs.
Und da die Engel Traft zugetan waren, hatten sie auch auf sie
herabgelächelt und an ihrer Seite gekämpft.
Als Thalia das Gemälde in jener abgelegenen Kapelle
betrachtete, schien sich der Geist auf dem Gemälde zu
bewegen. Sein ruhiges Gesicht wandte sich ihr zu, sein Blick
traf den ihren und dann streckte er die Hand nach ihr aus.
Ohne Zögern hatte sie sie ergriffen, und sie fühlte sich so fest
wie Fleisch und Knochen an – kalt jedoch ... So kalt ... Furcht
ergriff von ihr Besitz, sie sank auf die Knie und wandte den
Blick von diesen leeren Augen ab, doch er hielt weiter ihre
Hand fest und trat näher, als würde er aus dem Gemälde
heraussteigen. Er kniete sich auf den Boden vor ihr, und seine
andere Hand hob sanft ihr Kinn an.
„Wirst du mich aufnehmen?“, flüsterte er.
Sie nickte, er lächelte und ihre Angst war verflogen. Sie holte
tief Luft und er füllte ihre Nase, ihren Mund und ihre Lungen
aus. Kaltes Feuer brannte in ihrem Inneren, und sie warf den
Kopf zurück, als er durch ihre Adern strömte und ihr ganzer
Körper in Flammen stand.
Dieses kalte Feuer war in den Monaten, die seitdem vergangen
waren, nie erloschen. Die meiste Zeit über war es wie ein
Knoten in ihrem Hinterkopf, der bisweilen Schauer ihren
Rücken hinauf und in ihren Kopf hinein jagte, wenn der Geist
sie an seine Anwesenheit erinnerte – oft als Warnung oder aus
Ärger heraus. Manchmal – wie als sie Avacyns Speer ergriffen
hatte – fuhr sein Feuer erneut durch sie hindurch und es war
nicht mehr sie, die sich bewegte, sondern der Geist, der sie
führte.
Er hatte sie bis hierher getragen. Das wusste sie. Er hatte an
ihrer Seite gestanden, als sie Jerren und dem Rat der
Lunarchen entgegengetreten war. Er hatte ihr geholfen, all
diese Katharer – vermeintliche Ketzer – um sich zu scharen, um
jenes Übel zu bekämpfen, das der Kirche von innen wie von
außen zusetzte. Er würde sie nicht verlassen, wenn sie ihre
Truppen nach Thraben führte. Irgendwie hatte er ihr
zumindest dies versichert. Doch sie konnte sogar von ihm ein
leises Zaudern spüren.
Würde seine Hilfe ausreichen? Das konnte er ihr nicht
versprechen. Doch es war alle Hoffnung, die sie hatte.
Der Greif erbebte unter ihr und sie schlug die Augen auf, um
sich nach dem umzusehen, was ihn gestört hatte. Die Mauern
Thrabens waren nun nicht mehr fern. Die Streitmacht aus
Vampiren, die langsam weiter vorgerückt war, während Thalia
und ihre Leute sich der Hohen Stadt genähert hatten, befand
sich nun dicht an ihrer linken Flanke. Es war nicht mehr
möglich, den schlurfenden Schrecken aus dem Weg zu gehen:
Sie alle strömten auf die Stadt zu und Kämpfe entbrannten an
den vordersten Reihen ihrer Soldaten.
Doch ihre Leute wussten um die Bedeutsamkeit ihrer Aufgabe.
Thalia konnte die Wildheit in ihrem Blick sehen, die
Verzweiflung, die aus der stärker werdenden Überzeugung
geboren wurde, dass die Welt enden würde und sie in eine
letzte apokalyptische Schlacht zogen.
Unholdfesslerin | Bild von David Gaillet
Sie ließ ihren Greifen aufsteigen, um über der Front zu kreisen
und den Verzweifelten und Verzweifelnden aufmunternde
Worte zuzurufen. Doch dies war mehr als Verzweiflung, wie sie
bald erkannte. So entsetzlich es auch sein mochte, diese
pervertierten Ungeheuer zu bekämpfen, die einst ganz
gewöhnliche Lebewesen und manche von ihnen sogar
Menschen gewesen waren – es war nicht das Einzige, was ihre
Leute in die Hoffnungslosigkeit trieb. Da war noch etwas
anderes – etwas, was sie als eine Art Druck in ihrem
Bewusstsein wahrnahm. Er zwang ihren Verstand, sonderbare
Gedanken, Triebe und Wahrnehmungen auszubilden. Am
Rand ihres Blickfelds sahen Menschen und Soldaten wie
Ungeheuer aus. Der Himmel schien von blauen und
purpurnen Tentakeln zu wimmeln, die die Wolken
aufwühlten. Der Boden bäumte sich unter ihr auf, das Innere
ihres Greifen wurde nach außen gekehrt, Avacyns Speer
krümmte sich, um auf ihre Brust zu deuten –
Nein.
Es hallte wie eine Glocke in ihrem Geist wider: ein Wort der
Macht, gesprochen vom Geist eines Heiligen, der schon lange
tot war. Ihre Gedanken und ihre Wahrnehmung klarten
wieder auf. Klarheit.
Doch die Soldaten unter ihr konnten nicht auf Trafts Schutz
zurückgreifen, und sie sah, wie der Wahnsinn Besitz von ihnen
ergriff, als sie sich voller Furcht umblickten.
Sie sind nicht bereit, flüsterte Traft in ihrem Geist.
„Das spielt keine Rolle“, sagte sie laut. „Wir müssen es jetzt
tun.“
Es wird ihnen wehtun.
„Dieser Wahnsinn wird sie töten oder sie werden sich
gegenseitig töten. Es ist Zeit.“
Dann tu es.
Sein Feuer durchströmte sie erneut, und sie packte Avacyns
Speer, während sie ein weiteres Mal über den Frontlinien
kreiste.
„Katharer von Sankt Traft!“, rief sie. „Der Wahnsinn, der von
unserer Welt Besitz ergriffen hat, dringt auf uns ein. Ich weiß,
ihr könnt ihn spüren. Ihr stellt eure Gedanken infrage und
traut euren Augen und Ohren nicht. Hört mir zu!“
Ihr wurde klar, dass es für einige von ihnen zu spät war. Sie sah
Katharer, die am Boden zuckten und sich den Kopf hielten
oder sich zu einem Ball zusammengerollt hatten. Verdammt!
Sie hatte zu lange gewartet. Doch es gab noch Katharer, die sie
retten konnte.
„Ihr wisst, dass mir der Geist von Sankt Traft innewohnt“, rief
sie und als sie es ausgesprochen hatte, ließ der Geist blauweißes
Licht um sie herum aufleuchten. „Einst war er der Liebling der
Engel, und die Gesegneten schützten ihn, wie Avacyns Kirche
uns einst beschützt hat. Doch Avacyn ist nicht mehr, ihre
Engel sind dem Wahnsinn verfallen und nur die Toten sind
noch übrig.“
Es war Traft, der sie gerufen hatte, und sie waren seinem Ruf
gefolgt. Vom Boden, vom brodelnden Himmel und aus der
Hohen Stadt kamen sie herbei: Hunderte von leuchtend
weißen Gestalten. Aus den Mausoleen und aus den
Gesegneten Gräbern, die nicht länger durch die heiligen
Schutzzauber verschlossen lagen, deren Magie durch Avacyns
Tod verflogen war, kamen die Geister der Toten den Lebenden
zu Hilfe. Einige ritten auf Geisterstuten, einige trugen
Geisterspeere und Geisterschwerter, einige waren alt und
kampferprobt und einige waren kleine Kinder.
Drogskol-Kavallerie | Bild von Igor Kieryluk
„Seht die Geister der Gläubigen, die vor uns getreten sind“, rief
Thalia. Oder vielleicht war es Traft, der mit ihrer Stimme rief.
„Heißt sie willkommen. Ehrt die Opfer, die sie erbracht haben,
um heute mit uns gemeinsam zu kämpfen. Öffnet euch ihnen
und erlaubt ihnen, euch zu schützen!“
Und sie sah, wie ihre Soldaten – die verzweifelten,
abgerissenen, gesegneten Katharer des Ordens von Sankt Traft
– vom Feuer ergriffen wurden. Einige von ihnen, die es sofort
verstanden hatten, breiteten die Arme aus und umfingen die
Geister, die auf sie zuschwebten und sie ausfüllten. Thalia sah,
wie die heilige Ekstase über sie kam und die anderen es ihnen
rasch gleichtaten. Es gab genug Geister für ihre gesamte
abgekämpfte Arme, und selbst dann blieb noch eine ganze
weitere Streitmacht übrig, um an der Seite der Lebenden zu
marschieren.
Als das Feuer in ihnen loderte, stürzten sie sich erneut in den
Kampf, und klägliche Schreie erklangen von den Frontlinien,
während sie sich ihren Weg durch die ungeheuerlichen
Schrecken bahnten.
Manche von ihnen können die Geister nicht einladen, sagte
Traft und richtete ihren Blick auf die Soldaten, die sich noch
immer den Kopf hielten oder sich zusammengekauert hatten.
Sie konnte sie retten. Sie konnte die Geister anweisen, gegen
ihren Willen Besitz von ihnen zu ergreifen, den Wahnsinn zu
vertreiben und den Nebel um ihren Verstand zu lichten. Ihr
Magen zog sich vor Mitgefühl und Trauer zusammen.
„Nein“, sagte sie. „Ich kann diese Entscheidung nicht für sie
treffen. Die anderen werden ihnen so gut helfen, wie sie
können.“
Sie lenkte ihren Greifen erneut zu Boden, wo sie zwischen
Grete und Rem Karolus aufsetzte. Sie sah das weiße Feuer in
Gretes Augen, aber Rems Gesicht war wie versteinert und
grimmig.
„Kein Geist für dich, Rem?“
Der alternde Soldat schüttelte den Kopf. „Das ist so, als würde
man sich einen Blutegel in den Nacken legen, um die Vampire
fernzuhalten“, sagte er.
Beunruhigt darüber, was ihm widerfahren mochte, wenn er
mitten im Kampf die Beherrschung über seine Sinne verlor –
ihm und den Soldaten um ihn herum –, setzte sie zu einer
Erwiderung an. Doch auch diesmal konnte sie ihn zu nichts
zwingen. Und wenn ein Soldat hier inmitten dieses Wahnsinns
allein durch puren Starrsinn bei Verstand bleiben konnte,
dann war es Rem Karolus, den man die Klinge der Inquisitoren
und den Engelstöter nannte.

Ihr Marsch wurde zu einer schier endlosen Schlacht. Jeder


Schritt vorwärts wurde von einem der Schrecken infrage
gestellt. Die pervertierten Abscheulichkeiten – selbst
diejenigen, die noch weitestgehend menschlich aussahen –
kämpften wie die Dämmerwaldschweine. Sie knurrten und
schlugen trotz Dutzender Wunden um sich, ehe sie schließlich
irgendwann zu Boden fielen und ihr entsetzliches Zucken ein
Ende fand. Doch die heiligen Geister ließen Thalias Soldaten
beinahe ebenso wild werden, und sie sah schwer verwundete
Soldaten sich in aller Ruhe aufrappeln, während die Geister in
ihnen ihre Wunden schlossen und ihre Stärke
wiederherstellten.
Sie bemerkte kaum, wie sie die äußere Mauer hinter sich ließen
und das eigentliche Thraben betraten. Nur ein flüchtiger
Gedanke – Das Ende ist nah – strich durch ihr Bewusstsein,
ehe sie eine Kreatur erstach, die einst ein Werwolf gewesen
war, um dann herumzuwirbeln und einen seltsam
verkrümmten Tentakel zu durchtrennen, der unbeholfen nach
ihr griff.
Sie kämpften nun Schulter an Schulter mit Vampiren und
bahnten sich ihren Weg durch die Straßen der Stadt. Die
Vampire gaben furchteinflößende Verbündete ab: Sie töteten
mit der gleichen Entschlossenheit und Freude verformte und
verderbte Menschen, als sie es gemeinhin mit gesunden taten.
Jedes Überbleibsel menschlicher Züge, die Thalia an einem von
ihrer Klinge niedergestreckten Ungeheuer sah, mehrte die Last
auf ihren Schultern, doch für die Vampire waren all diese
Geschöpfe einfach nur Beute. Sie bemerkte sogar einige
Vampire, die eigens anhielten, um sich an ihnen zu laben, ehe
sie weiter voranstürmten. Sie rang eine in ihr aufsteigende
Übelkeit nieder und zwang sich, wegzusehen.
Ein großer, offener Platz erstreckte sich vor der Kathedrale von
Thraben – einem Ort, an dem sich in glücklicheren Zeiten
Menschenmassen versammelt hatten, um an einem heiligen
Festtag einer Ansprache der Lunarchen zu lauschen. Auch jetzt
waren hier Massen versammelt: Massen aus brabbelnden,
zuckenden, widerwärtigen Dingen, die gegen das kämpften, was
von der Stadtwache und den Wächtern der Kathedrale noch
übrig war. Thalia lenkte ihren Greifen aufwärts und kreiste
über dem Platz, um sich einen Überblick über die Schlacht zu
verschaffen.
Verzweifelte Städter schwangen Schaufeln und Sensen und
versuchten, Horden pervertierter Kultisten abzuwehren. Kühne
Katharer stürmten in einem schmalen Keil vor, um die Reihen
der gesichtslosen Ungeheuer aufzubrechen, nur um sich von
allen Seiten umzingelt wiederzufinden. Ein kleines Rudel
Werwölfe, das von zwei Bestien mit weißem Fell angeführt
wurde, fiel in die Reihen seiner vollständig verderbten
Artgenossen ein. Ein massiger Skaab stand über der Leiche
eines armen Gelehrten und verteidigte mit letzter Kraft seinen
Schöpfer. Tod. So viel Tod.
Befreier der Sünden | Bild von Craig J Spearing
Als sie zu den vorrückenden Soldaten zurückkehrte, die sie
hinter sich gelassen hatte, bemerkte sie eine Gruppe schwer
gepanzerter Krieger, die die Reihermasken der Inquisition der
Lunarchen trugen. Missbildungen ragten unter ihren Hauben
und Roben hervor, und sie kreisten eine Gruppe verängstigter
Städter ein. Thalia sah, wie ein paar der Bürger auf die Knie
fielen und um Gnade durch die Kirche bettelten, die sie doch
eigentlich beschützen sollte. Und dann erkannte sie Seeta, die
Anführerin der sogenannten Sündenreinen. Mit dem Schwert
in der Hand und Wut in den Augen stieß Thalia auf die
blasphemische Katharerin hinab.
Dann sah sie, wie urplötzlich eine gezackte Klinge aus Seetas
Brust hervorwuchs, und die Anführerin der Sündenreinen fiel
auf die Knie. Hinter ihr blickte das bleiche Gesicht Olivia
Voldarens Thalia an.
„Also schön“, murmelte sie und lenkte ihren Greifen erneut
nach oben, um in dem Gewühl nach Rem Karolus oder Grete
zu suchen.
Warum macht dir das so viel aus?, flüsterte Trafts Stimme in
ihrem Kopf. Deine Feindin ist geschlagen, aber du wolltest es
selbst tun?
„Ich bin keine Heilige“, sagte sie laut.
Gesichter wandten sich zu ihr hinauf und sie sah ungeahntes
Grauen in den Blicken ihrer eigenen Soldaten. Endlich
entdeckte sie Rem. Sein Gesicht war bleich und seine Augen
geweitet. Sein Schwert landete scheppernd auf dem
Kopfsteinpflaster und er deutete hinauf – hinter sie.
Sie wendete ihren Greifen und sah den Grund für sein
Entsetzen. Vor der Kathedrale schwebte eine gewaltige
Abscheulichkeit aus verzerrtem Fleisch, sich windenden
Tentakeln und ... gefiederten Schwingen.
Brisela, Stimme der Albträume | Bild von Clint Cearley
Die beiden Köpfe des riesigen Engels gaben ein schrilles
Kreischen von sich, das ihr in den Ohren schmerzte und sie
aus dem Gleichgewicht warf, sodass sie sich an ihrem
Sattelknauf festklammern musste, um nicht in die Tiefe zu
stürzen. Unter ihr stürmten Ungeheuer vor, als unverderbte
Menschen sich an die Ohren griffen oder vor dem neuerlichen
Angriff zurücktaumelten. Das Engelsding drosch mit einem
seiner dicken, unteren Tentakel in die Massen auf dem Platz
ein und stieß Menschen und Schrecken gleichermaßen
durcheinander oder schleuderte sie zu Boden.
Wenn jemand sich diesem Albtraum stellen konnte, dann
musste es Thalia sein. Die Flügel ihres Greifen machten es
möglich – und das war mehr, als irgendjemand am Boden von
sich behaupten konnte. Sie setzte sich in ihrem Sattel zurecht,
festigte den Griff um ihr Schwert und stieg auf Augenhöhe mit
dem Engel über das zerstörte Dach der Kathedrale auf.
Trotz der enormen Ausmaße der Kreatur waren ihre Köpfe
nicht größer als der Thalias, und manche ihrer Züge als Engel
waren noch im Ansatz zu erkennen – darunter eine zerzauste
rote Haarmähne.
„Du Abscheulichkeit!“, rief sie und schluckte ihre Furcht und
ihr Entsetzen herunter. Sie wollte irgendeine Art von formeller
Herausforderung aussprechen, doch die passenden Worte
wollten ihr nicht einfallen. Also stieß sie schließlich einfach
nur zu einem Angriff hinab.
Einer der unmöglich langen Arme des Engelsdings schlug aus,
um sie zur Seite zu fegen, doch der Greif ließ sich darunter
hinwegsacken und Thalia hieb im Vorbeiflug danach. Die
beiden Köpfe öffneten erneut ihre Münder, um zu heulen –
einer davon war nur ein klaffendes Loch im Hals des anderen –
, doch das Geräusch riss ab, als Thalia ihr Schwert in so etwas
wie eine Schulter rammte, aus der mindestens drei Arme auf
der linken Seite der Kreatur sprossen. Gleichzeitig riss der
Schnabel ihres Greifen an dem knorpeligen Fleisch an einem
dieser grässlichen Köpfe.
Als Erwiderung hob der Engel einen seiner eigenen Arme und
hieb mit einem Dutzend Fingerklauen nach Thalias Hüfte und
über die Flanke des Greifen, um sie beide in Richtung der
Stufen der Kathedrale hinabzuschleudern. Der Greif versuchte
verzweifelt, sich abzufangen, während er nach unten trudelte,
doch ein Flügel war ganz offensichtlich gebrochen, und es
gelang ihm nur, sich zwischen Thalia und die harte Steintreppe
zu bringen.
Thalia tat alles weh, und ihr Bein war unter dem Greifen in
einem schrägen Winkel eingeklemmt. Schmerz schoss bei der
kleinsten Bewegung ihre Seite hinauf. Ihr war schwindelig. Sie
legte den Kopf auf den Stein und starrte zu ihrem Verderben
hinauf.
Irgendwie erschien es passend, dass sie durch die Hand eines
Engels – der Verkörperung von allem, dem sie ihr Leben
gewidmet hatte – ihr Ende finden würde. Die Verderbnis des
Engels schien all jene Pfade widerzuspiegeln, auf denen ihr
Leben in den vergangenen Monaten in die Irre gelaufen war.
Die verschmolzenen Engel schwebten zu ihr hinab, um zu
beenden, was sie begonnen hatten.
Bevor Thalia jedoch die Hand heben und sich verteidigen
konnte, schob sich etwas Helles zwischen sie und das
Engelsding.
„HALLO, MEINE SCHWESTER“, sagte das Engelsding mit
seiner grässlichen doppelten Stimme, in der ungeahnte
Ewigkeiten mitschwangen.
„Ihr seid nicht mehr meine Schwestern“, sagte die reine, klare
Stimme. Thalia sah inmitten des Lichts eine Gestalt: einen
Engel, der eine Sense hielt, deren Kopf wie ein Reiher geformt
war.
„Sigarda“, flüsterte sie. Der Erzengel der Reiherschar hatte sich
nie gegen die Menschheit gewandt – selbst dann nicht, als
Avacyns Wahnsinn seinen Höhepunkt erreicht hatte. Sogar
jetzt noch stellte sie sich ihren ... Schwestern? ... entgegen. Das
bedeutete, dass das verschmolzene Engelsding aus Bruna und
Sela bestand, den Erzengeln der anderen beiden Scharen.
Verzweiflung senkte sich wie Blei in Thalias Eingeweide.
Sigarda, Gnade des Reiherschwarms | Bild von Chris Rahn
„DU HÄTTEST UNSEREM RUF FOLGEN SOLLEN.“
„Um ein Teil des ‚Großen Werks‘ zu werden?“, erwiderte
Sigarda.
Sigarda verschaffte ihr Zeit, sich zu erholen, erkannte Thalia.
Mit aller verbleibenden Kraft stieß sie den toten Greifen von
ihrem Bein. Beinahe hätte sich ihr ob der Welle aus Schmerz,
die davon ausgelöst wurde, der Magen umgedreht.
„JA. DAS GROSSE WERK IST BEINAHE VOLLENDET.“
Das Engelsding streckte beide seiner gewaltigen Klauen nach
Sigarda aus, und vier kleinere Hände aus seiner Brust reckten
sich ihr ebenfalls entgegen. Sie erinnerten Thalia auf
absonderliche Weise an ein Kind, das nach seiner Mutter griff.
„Euer Werk endet hier, Schwestern“, sagte Sigarda. „Ihr seid zu
dem geworden, was wir zu vernichten bestimmt sind.“
Thalia spürte, wie Traft in ihr arbeitete, den Schmerz linderte,
die Wunden schloss und sogar Knochen richtete. Wenn
Sigarda ihre Schwestern nur ein klein wenig länger in Schach
halten konnte, würde Thalia erneut kampfbereit sein. Sie sah
sich nach ihrem Schwert um.
Es war fort. Der Aufprall, der sie und den Greifen zu Boden
geschleudert hatte, konnte ihre Waffe über den halben Platz
gefegt haben. Wie sollte sie denn nun ohne ein verdammtes
Schwert kämpfen?
„DU KANNST UNS JETZT NICHT MEHR VERLETZEN,
SCHWESTER“, sagte das Engelsding.
Sigarda hob die Klinge, in der sich ein verirrter Mondstrahl
verfing und sie so zum Leuchten brachte.
„Das muss ich“, sagte sie und schwang die Sense in einem
weiten, tödlichen Bogen über Arme und Brust ihrer
Schwestern.
Einer dieser gewaltigen, sonderbar gegabelten Arme pflückte
Sigarda aus der Luft. Thalia schnappte erschüttert nach Luft,
als die riesige Hand die sich wehrende Gestalt des Engels vor
das leuchtende Maul auf der Brust des Engelsdings trug, wo sie
von den vier kleineren Armen umfangen wurde. Lange
Fleischstränge quollen aus ihnen hervor und legten sich um
Sigardas Arme.
„Nein, nein, nein“, sagte Thalia. Sie konnte nicht einfach so
danebenstehen und dabei zusehen, wie der letzte Engel von
dieser Ungeheuerlichkeit verschlungen und in sich
aufgenommen wurde. Sie suchte fiebrig nach irgendetwas, was
ihr als Waffe dienen konnte.
„ENDLICH WERDEN WIR WIEDER VEREINT SEIN“,
sagten die verschmolzenen Engel.
Traft lenkte Thalias Blick auf Avacyns Speer.
„Er ist zu schwer“, sagte sie.
Nicht für uns beide, erwiderte der Geist des Heiligen.
„Na schön.“ Sie trat um ihr gefallenes Reittier herum und
bückte sich, um den Speer aufzuheben. Ein Schauer fuhr ihr
den Rücken hinunter, als Trafts Macht sie erneut
durchströmte, um sie vor der Magie des Speers zu beschützen.
Und einen Augenblick lang erzitterte sie vor schierer Ekstase,
als sie leuchtende, durchscheinende Schwingen an ihrem
Rücken ausbreitete – der Segen eines unsichtbaren Engels.
Einst war ich der Liebling der Engel, erinnerte sie Traft.
Der zerbrochene Speer schien im Licht der Fackeln und der
kleinen Feuer auf dem Platz beinahe zu glühen. Sie ergriff ihn
mit beiden Händen und richtete ihn himmelwärts.
So mühelos wie ihr Greif hoben ihre Engelsschwingen sie in
die Luft. Traft hatte natürlich recht gehabt: Mit ihren vereinten
Kräften fühlte der Speer sich genauso leicht wie ihr schlankes
Schwert an. Sie schwebte hinauf, dorthin, wo das Engelsding
Sigarda festhielt, die nun unter einer Schicht faserigen
Fleisches kaum noch zu erkennen war.
Als Bruna-Sela Avacyns Speer in Thalias Händen schimmern
sah, stieß das Geschöpf einen weiteren heulenden Schrei aus.
Als eine dieser monströsen Klauen nach ihr ausholte, blockte
Thalia sie mit dem Schaft des Speeres, ehe sie die gezackte,
zerbrochene Spitze tief in das kränkliche blaue Fleisch rammte.
Das Heulen wurde von einem der Trauer zu einem der
körperlichen Pein, und Thalia stach erneut mit dem Speer zu,
um ihn in die gleiche Schulter zu stoßen, die sie mit ihrem
Schwert bereits verwundet hatte.
Die andere Klaue kam auf sie zu, und Thalia drehte den Speer,
um ihn in etwas hineinzutreiben, was eine Handfläche hätte
sein müssen. Sie riss an der Klinge und drehte sie, um die
Wunde zu weiten und durch das Netz aus Fleisch und
Knochen zu schneiden, aus dem die abscheuliche Gliedmaße
bestand.
Sigarda schien ihre Kräfte wiederzufinden, während ihre
verschmolzenen Schwestern schwächer wurden, und sie
stemmte sich gegen die Tentakel, die sie festhielten. Thalia
schlug nach der Brust des Engelsdings, um Sigardas Fesseln zu
lockern, und stieß dann ihre Klinge durch das Gewirr aus
Rippen und Sehnen in das rote Leuchten des Unterleibs
hinein. Sie spürte den Schmerz in ihren eigenen Eingeweiden,
während sie auf den blasphemischen Engel einstach.
Instinktiv vor Schmerz um sich schlagend traf das Engelsding
Thalia mit seiner weniger verletzten Klaue und sandte sie
erneut taumelnd in Richtung des Bodens. Diesmal jedoch
fingen ihre Engelsflügel sie in einem weiten Bogen ab und
trugen sie zum Rücken des Engels hinauf, wo sie Avacyns Speer
durch gefiederte Schwingen stieß, um ihn tief im Rückgrat und
dem zu versenken, was immer den Bauchraum dieser kranken
Kreatur wohl ausfüllen mochte. Erneut durchzuckte Schmerz
ihre eigene Brust.
Das entsetzliche Heulen des Engels jedoch verklang.
Er zuckte und wand sich. Er hieb wild mit seinen gewaltigen
Klauen um sich und versuchte, hinter sich zu greifen. Flügel
peitschten brausend in der Luft und das Knäuel aus Tentakeln,
aus dem die Beine des Engels bestanden, bekam nichts mehr zu
fassen.
Sigarda brach – von Blut und Eingeweiden bedeckt wie bei
einer grausigen Geburt – aus der Brust ihrer Schwestern heraus
und stürzte auf den Platz unter ihnen.
Thalia klammerte sich an den Speer und ritt ihn wie eine
ungebändigte Stute, als das Engelsding im Todeskampf wütete.
„Schwester“, krächzte es.
Und es folgte Sigarda auf die harten Steine unter ihnen, wo es
sich wie eine tote Spinne zusammenrollte. Thalia rutschte von
seinem Rücken herunter und fiel neben ihm zu Boden. Sie
starrte hinauf in die Dunkelheit.

Sigarda half Thalia auf die Beine, und ihr Schmerz verschwand
und ihr Blick wurde wieder klar. Der gesegnete Engel – der
letzte Erzengel – lächelte sie an.
Sieg. Das Wort huschte durch ihren Geist, und sie erwiderte
das Lächeln.
Dann wurde Sigardas Ausdruck wieder ernst und sie schüttelte
den Kopf, als hätte sie Thalias flüchtigen Gedanken gelesen.
Thalia schaute sich um. Noch immer tobte der Kampf, doch es
schien, als hätte sich das Blatt gewendet: Menschen und
Vampire und Werwölfe trieben dank ihres so
unwahrscheinlich wirkenden Bündnisses die brabbelnden
Horden der Dunkelheit zurück.
Dann hob sich ihr Blick zum Himmel.
Das Ding dort oben in der Luft war unfassbar riesig. Es
erinnerte vage an die verschmolzenen Engel Bruna und Sela.
Sein kuppelförmiger Leib wurde von einer Masse seltsamer
Tentakel getragen, und in seiner Mitte glühte ein rötliches
Leuchten.
Doch nichts an seiner Gestalt erinnerte an natürliches Leben,
geschweige denn an die Majestät und Anmut eines Engels. Sein
Dasein trotzte der natürlichen Ordnung, verstieß gegen alle
ihre Gesetze und spottete der Heiligkeit des Lebens. Seine
schiere Anwesenheit lud jenen Wahnsinn ein, der trotz des
Schutzes des Heiligen wie ein stumpfes Messer gegen Thalias
Verstand drückte.
Als es sich näherte, brandete eine Woge aus verdorbenen
Schrecken vor ihm auf, brach über den Platz herein und
wendete das Blatt in dieser Schlacht erneut – hin zu ihrer aller
völligen Vernichtung.
Jace erschauerte unwillkürlich, als er auf Innistrad die Augen
aufschlug. Die Luft war hier ein ganzes Stück kälter. Sie roch
auch anders und fühlte sich sogar anders an. Der Geruch war
sonderbar – beinahe metallisch –, und als er den letzten Rest
der Luft Zendikars ausatmete und diejenige Innistrads in seine
Lungen sog, spürte er es. Diese Luft hier war irgendwie dicker.
Der erste Atemzug schmerzte, wenn auch nur ein klein wenig.
Der Himmel riss sich selbst in Stücke. Sturmwolken türmten
sich auf, als tobte ein Unwetter in sämtlichen Richtungen, und
kein Sonnenlicht drang über den Horizont. Die ewige
Dämmerung dieser Welt war einem violetten Leuchten
gewichen. Seine Augen wollten sich einfach nicht an die
Dunkelheit gewöhnen, sondern widersetzten sich ihm bei
jedem Schritt. Er blinzelte zum Horizont und zu dem Riss in
der Wirklichkeit und versuchte, sich zu konzentrieren.
Konzentriere dich. Konzentriere dich. Seine Gedanken fühlten
sich träge an, als hätte er statt eines Kopfes nur einen Sack
nassen Reis auf den Schultern sitzen. Ein Sack, dessen Inhalt
fortwährend schwappte, sich aneinander rieb, verrutschte ...
In seinem Bewusstsein erklang ein Glöckchen. Oder der aus
seinem Gedächtnis heraufbeschworene Nachhall eines
Glöckchens. Er diente ihm als Erinnerung an sich selbst, und
sein Blick wurde wieder klar.
Er stand auf einem Hügel und blickte auf die sanften Hügel
und Felder hinab, die Thraben umgaben. Er konnte die Stadt
nun sehen. Sie stand halb in Flammen. Kämpfte tobten in den
Straßen. Fackeln. Rufe. Schreie. Er war sich nicht sicher, ob er
die Schreie aus dieser Entfernung überhaupt hörte oder ob er
sie vielleicht nur spürte. Und über all dem schwebte am
Himmel ... Er konnte sich nicht dazu überwinden, es
anzusehen. Noch nicht.
Ein zweites Geräusch lenkte Jaces Aufmerksamkeit auf ein
deutlicheres und dringlicheres Problem. Knurren. Schnauben.
Grünlich leuchtende Augen in der Dunkelheit.
„Schon wieder Werwölfe“, murmelte Jace. Er griff in die
Dunkelheit hinein und berührte sanft die Bewusstseine, die er
dort fand. Drei waren es, vom Wahnsinn übermannt und in
etwas verwandelt, was er kaum wiederzuerkennen vermochte.
Als sie sich aus dem Schatten lösten, sah er die Werwölfe in
aller Klarheit. Ihr Fell war räudig und ihre Haut von
demselben Flechtwerk überzogen, das er auf allem Lebendigen
auf Innistrad gesehen hatte.
Jace traf eine Entscheidung. Von diesen Bewusstseinen war
nicht genug übrig, um sie zu retten. Sein mentaler Angriff war
wenig subtil: Er packte ihre Sinne und überlud sie mit
gleißendem Licht, ohrenbetäubenden Geräuschen und
Gerüchen, die so stark waren, dass sie daran erstickten. Es war
nicht schön, doch er musste hier einen ersten Stützpunkt
errichten, bevor die anderen eintrafen.
Ausweichplan | Bild von Ryan Yee
Zwei der Werwölfe jaulten auf und fielen zu Boden, wo sie erst
zuckten und sich dann schließlich nicht mehr regten. Der
Letzte der drei ... lachte? Jace spürte, wie das Bewusstsein der
Kreatur sich veränderte, sich anpasste und sich in Reaktion auf
den Angriff aufblähte. Die mentale Verbindung riss ab und er
musste mit ansehen, wie die Haut des Werwolfs sich kräuselte,
seine Gliedmaßen länger wurden, seine Krallen sich weiter
ausfuhren und seine Haut Schleim abzusondern begann. Jace
taumelte zurück. Was auch immer er getan hatte, hatte so etwas
wie eine reflexhafte Mutation ausgelöst. Nun wusste er nicht
einmal mehr, was er da vor sich hatte.
Mit einer raschen Geste spaltete er sich in ein Dutzend
Abbilder seiner selbst auf. Das Ungeheuer verbrachte ein paar
Augenblicke damit, Witterung aufzunehmen, ehe es sich auf
seinen echten Körper konzentrierte und die Illusionen links
liegen ließ. Jace sah sich nach einem Fluchtweg um und fand
keinen. Handlungsmöglichkeiten rasten durch seinen
Verstand, nur um eine nach der anderen verworfen zu werden.
Jaces halbstoffliche Illusionen bedrängten das Untier und
versuchten, ihm Zeit zu verschaffen, bis ...
... Ein Lichtblitz, der Klang einer peitschenden Klinge und das
Geräusch von zerreißendem Fleisch. Der Schrecken wurde zu
einem entstellten, winselnden Häuflein Elend. Gideon.
„Alles gut, Jace. Ich passe auf dich auf.“
Jace zog seinen Mantel glatt. „Hast du dich unterwegs verirrt?
Oder auf Ravnica schnell noch einen Happen gegessen?“
„Es ist nicht so leicht, dir irgendwohin zu folgen, wo ich vorher
noch nie gewesen bin. Hm.“ Gideon starrte den Hügel hinab
in Richtung Thraben. Wenn er ebenfalls Schwierigkeiten mit
seiner Wahrnehmung hatte, ließ er sich nichts davon
anmerken. „Größer als die anderen beiden. Und es hat eine
ziemliche Streitmacht zwischen sich und uns in Stellung
gebracht. Wie ist der Plan?“
Die Luft flirrte vor Hitze, und eine Frau trat aus dem Flimmern
heraus.
Chandra rieb sich die Hände. „Der gleiche wie letztes Mal,
oder? Feuer? Na ja, das war damals zwar jetzt nicht zwingend
der Plan gewesen, aber es hat Wirkung gezeigt. Das tut es in
der Regel immer.“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und
betrachtete die chaotische Szenerie unter ihnen.
Der Hügel erzitterte leicht – das einzige Zeichen für Nissas
Ankunft. Sie runzelte die Stirn, als sie sich niederkniete und
die Handfläche auf den Boden legte. „Das Mana hier ist
dunkel. Verzerrt. Es ist in der Erde, den Bäumen ... Zum Teil
ist Emrakul dafür verantwortlich, aber ...“
„Du bist das erste Mal auf Innistrad, oder? ‚Dunkel und
verzerrt‘ ist hier an der Tagesordnung.“ Jace fuhr fort: „Wir
haben hier im Grunde eine ähnliche Lage wie beim letzten Mal
– mit ein paar kleinen Abweichungen. Emrakul bewegt sich auf
Thraben zu, und wir müssen vor ihr da sein. Nissa setzt ihre
planare Glyphe ein, um auf das Netzwerk aus Leylinien
zuzugreifen. Gideon macht uns den Weg frei, damit wir dichter
herankommen. Wir leiten die Kraft der Welt durch Chandra,
und sie zieht ihr Ding durch.“
Nissa schüttelte den Kopf. „Das wird nicht klappen. Die
Leylinien sind bereits umgeleitet worden. Dort hinein.“
Jace zwang sich zu einem Grinsen. „Nun, ja. Das Netzwerk aus
Kryptolithen. Es bündelt nun sämtliche Leylinien in Richtung
Thraben. Das – und die Tatsache, dass Thraben die dichteste
Konzentration an Leben auf ganz Innistrad aufweist – bedeutet,
dass Emrakul sehr wahrscheinlich dorthin gezogen wird. Diese
Bündelung sollte die Wirkung der Glyphe verstärken. Ähnlich
wie das Polyedernetzwerk.“
„Falls wir dicht genug herankommen. Doch dann wird
Emrakul uns vernichten.“ Nissas Stimme war leise, aber fest.
„Wenn wir nicht nahe genug herankommen, kann ich von
irgendeinem anderen Punkt aus nur auf eine oder zwei
Leylinien zugreifen. Höchstens drei. Und das ist nicht genug.“
Chandra legte Nissa eine Hand auf die Schulter. „He, eine
Leylinie oder zwanzig – verschaff mir nur den Zugriff und dann
sorgen wir schon dafür, dass es reicht.“
Gideon seufzte. „Nissa, glaubst du, du kannst das schaffen? Wir
werden es nicht mit einem Plan versuchen, mit dem wir nicht
alle einverstanden sind.“
Nissa las eine Handvoll Erde auf und zerrieb sie zwischen den
Fingern. Sie blickte in die Gesichter ihrer Gefährten. Gideon
war besorgt. Jace ungerührt. Chandra aufgeregt. Sie schloss die
Augen und lauschte einige Zeit ihrem Herzschlag, der
kränklichen Erde unter sich und ihren Erinnerungen.
„Ja.“

„Sieh es dir an, Gared. Irgendwie hübsch. Deine Welt endet.“


Liliana sah zu, wie Thraben zu brennen begann und Tentakel
aus den Stürmen herab nach der Erde unter sich griffen. Der
Himmel wimmelte von Engeln, und am Boden unter der
Titanin wimmelte es einfach. Aus dieser Entfernung konnte sie
nur die Bewegungen ausmachen: eine schier unendliche, sich
unablässig windende Masse von Kreaturen, die immer näher an
den Ursprung des drohenden Endes dieser Welt herandrängte.
„Ja, Herrin. Das ist hier meistens so.“ Der Lehrling des
Geistermagiers blickte mit seinem hervortretenden Auge
unverwandt auf das Chaos hinab.
„Ah, da sind sie ja. Siehst du das Feuer und die Lichtblitze? Das
müssen Jaces kleine Freunde sein. Anscheinend sind sie genau
ins Zentrum des Ganzen unterwegs.“
Gared neigte den Kopf, was auf seinem ohnehin
ungeschlachten Körper geradezu grotesk wirkte. „Ja, Herrin.
Mir ist nicht entgangen, dass Sie diese zauberhafte kleine
Armee ausgehoben haben, wir aber hier oben bleiben, während
die anderen alle dort unten sind.“
„Hm. Ich schätze, das stimmt wohl.“
Chandra schrie. Die anderen konnten nicht sagen, ob vor
Schmerz, Freude oder Wut. Sie hörten nur die Laute und
spürten die überwältigende Hitze. Chandra stand in Flammen
– ein wandelndes Inferno, das Feuer in alle Richtungen
abstrahlte. Sie versengte ihre Freunde, doch ließ dafür Welle
um Welle der mutierten Überreste derer verkohlen, die vor
einigen Tagen noch die Bewohner Thrabens gewesen waren.
Übergreifende Flammen | Bild von Chase Stone
Die Schreie verklangen und das Feuer verlosch. Chandra fiel
auf Hände und Knie, und Gideon sprang vor, um sie zu
schützen. Sie saßen auf dem, was früher ein Marktplatz
gewesen war, in der Falle: Zwei der vier Eingänge waren von
Geröll und eingestürzten Gebäuden versperrt. Ein verfallener,
von Flechtwerk überzogener Turm war geradezu waghalsig über
die Pflasterstraße geneigt, die tiefer ins Herz der Stadt führte,
doch beide – diese Straße und die, über die sie gekommen
waren – waren durch Reihen um Reihen von Emrakuls Legion
versperrt.
Manche darin waren noch als Menschen zu erkennen. Ihre
Stimmen waren ein kreischendes Gewirr aus Schreien und
Brabbeln. Manche von ihnen waren das, was von Bestien,
Engeln und unaussprechlichen Dingen übrig geblieben war.
Manche bewegten sich zielgerichtet, andere schlurften und
stöhnten nur, die Gliedmaßen schlaff und das Fleisch
geschmolzen wie Kerzenwachs.
Und über ihnen ragte drohend der Sturm auf.
Der Leib der Titanin war noch immer weitestgehend im
Verborgenen, doch ihre Gegenwart war überall zu spüren.
Emrakul. Der Sturm tobte, und gezackte Blitze zuckten und
schlugen in die Stadt darunter ein. Tentakel tauchten aus den
schwarzen Wolken auf und schabten am Boden entlang. Die
Erde erbebte, während die Häuserblöcke der Stadt zu Asche
und Stein zerfielen.
Emrakul, das prophezeite Ende | Bild von Jaime Jones
„Möglichkeiten. Ich brauche mehr Möglichkeiten.“ Gideon
spähte mit ausgerolltem Sural über den Platz. „Nissa.
Elementare?“
Die Elfin schüttelte den Kopf. „Ich könnte welche herbeirufen,
doch uns würde nicht gefallen, was dann erscheint.“
Gideon knurrte voller Verdruss. „Chandra? Bereit für eine
neue Runde?“
Chandra stand gekrümmt und schwer atmend da. Sie hob eine
Hand und signalisierte schwach ihre Bereitschaft. „Klar. Ich
fange gerade erst an.“ Sie hustete und richtete sich auf – ihr
Gesicht war von Schweiß und Asche bedeckt, doch ihr Lächeln
wirkte einigermaßen aufrichtig.
„Jace. Wie sieht‘s aus?“
Jace musterte erneut die Umgebung. „Wir können nicht
weiter. Wir haben ein offenes Gebiet, das sich gut verteidigen
lässt. Ich sage, wir verwenden die Glyphe hier.“
Gideon nickte. „Nissa, kannst du das schaffen?“
Nissa kniete sich nieder und legte beide Handflächen auf den
Boden. Ein grünes Leuchten kroch aus dem Boden und
tauchte ihre Arme in üppiges Licht. „Zwei Leylinien.
Bestenfalls drei.“
„Tu es.“ Gideons Stimme barg ein kaum wahrnehmbares
Zögern. „Wir anderen müssen sie schützen. Alles, was sich uns
bis jetzt in den Weg gestellt hat, entsprang nur reinem Zufall.
Ich bin nicht sicher, dass es uns überhaupt schon bemerkt
hat.“
Jace deutete auf den Turm, der einen der Eingänge des Platzes
überblickte. Zwei illusionäre Markierungen erschienen darauf.
„Chandra, ich möchte, dass du den Turm dort und dort triffst.
Wenn das Flechtwerk Stein verwandelt, ist es ziemlich
widerstandsfähig gegen Schaden, dehnt sich bei starker Hitze
jedoch aus. Das sollte den Turm einstürzen lassen und die
Straße versperren.“
„Was?“ Chandra warf mit bereits brennenden Händen einen
Blick über die Schulter.
„Das habe ich in einem Buch gelesen. Vertrau mir.“
Chandra stieß ihre Fäuste in Richtung des Turms und zwei
Feuerbälle schlugen genau auf Jaces Markierungen ein.
Augenblicke später brach das gesamte Gebäude in sich
zusammen und blockierte einen Großteil der Straße, als es in
das gegenüberliegende Gasthaus krachte.
Der Marktplatz erwachte zum Leben: Neue Pflanzen sprossen
aus dem Staub und den Pflastersteinen, und die saure, stickige
Luft wurde ein wenig klarer. Nissa stand reglos in der Mitte des
Geschehens, während leuchtende Runen am Boden um sie
herum erschienen und sich von ihren Füßen aus
davonschlängelten, bis die komplexe Glyphe vollendet war.
Die Horden um sie herum kreischten auf. Wie eins wandten
sie sich um und stürmten auf Nissa zu – Gideon sprang vor,
um sie abzufangen. Er hieb mit wuchtigen, über den Kopf
geführten Schlägen auf die Reihen ein und warf sich in die
Massen. Goldene Funken stoben in den Nachthimmel, als
Treffer von ihm abprallten. Er stieß einen Kampfschrei aus, als
er in weitem Bogen ausholte und versuchte, so viel Schaden
wie möglich anzurichten und sämtliche Aufmerksamkeit auf
sich zu ziehen.
Nicht weichen | Bild von Tyler Jacobson
Doch die Kreaturen fielen nicht kampflos, und die, die es
taten, blieben nicht liegen. Selbst solche, die all ihrer
Gliedmaßen beraubt wurden, verharrten nur einen Augenblick
lang bewegungslos. Neue, entsetzliche Glieder wuchsen ihnen
aus jeder frischen Wunde, und sie liefen, krochen und
huschten weiter voran – geradewegs auf Nissa und die Glyphe
zu.
„Nissa, sind wir so weit? Ich glaube nämlich, jetzt ist wirklich
ein guter Zeitpunkt!“ Chandra ging an den Rand der
gleißenden Glyphe, während Nissa mit geschlossenen Augen
unverständliche Silben murmelte. Chandra rief Gideon eine
Warnung zu, bevor sie die gesamte Straße in eine
Flammenwoge tauchte. Sie blickte über die Schulter und sah,
wie Nissa in die Erde griff und etwas daraus hervorzog, was wie
eine spektrale Dornenranke aussah, die so dick wie ein
Baumstamm war. Sie mühte sich, sie aus der Erde zu ziehen,
und schnappte entsetzt nach Luft, als die Dornen sie in die
Arme stachen.
Nissa knurrte durch zusammengepresste Kiefer. „Macht euch ...
bereit. Fast ... fertig.“ Sie griff erneut hinab und zog eine zweite
Ranke hervor. Diese sträubte sich und wand sich in ihrem
Griff wie eine Schlange. Mit quälender Anstrengung gelang es
ihr, sie sich als Anker um die Hüfte zu schlingen und nach
einer dritten zu greifen.
Chandra lief umher und war sich nicht sicher, was sie als
Nächstes tun sollte. Sie konnte Nissa nicht helfen, und Gideon
tat, was er konnte, um die herandrängende Flut an Kreaturen
einzudämmen. Sie blickte auf und bereute es sofort.
Gliedmaßen, Tentakel und von Flechtwerk überzogene
Extremitäten begannen, in alle Richtungen über die Gebäude
und das Geröll zu klettern. Hunderte von ihnen. Sie blickte
zurück zu Nissa und sah, wie sie auf die Knie fiel.
Die dritte spektrale Ranke war dunkler als die anderen beiden,
die Stacheln grausamer und ihre Bewegungen geschmeidiger
und chaotischer. Nissa versuchte, sie unter Kontrolle zu halten,
doch es gelang dem Ding, sich um ihren Hals zu schlingen. Es
sah aus, als versuchte es, sie in den Boden hineinzuziehen.
„Das Leben kann nicht enden ... Selbst wenn es weiß, dass es
das muss ... Selbst wenn es weiß, dass es falsch ist! Allein und
missgestaltet. Selbst wenn es das weiß!“ Nissas Stimme hallte
über den Platz, ihre Augen leuchteten in einem kränklichen
Violett. Schlaff fiel sie zu Boden. Die Ranken waren fort. Die
Glyphe wurde sofort dunkel. Und die Horden aus Kreaturen
setzten ihren Ansturm fort.
„Zurück!“, rief Chandra, als sie zu Nissa eilte und ihren Kopf
so sanft wie möglich anhob. „Komm schon, komm schon! Los,
wach auf!“
„Wir können uns nirgendwohin zurückziehen, Chandra!“ Jace
brachte sich neben den beiden in Stellung und berührte Nissas
Stirn. „Sie ist noch da drin. Sie ist nur betäubt. Bald geht es ihr
wieder besser.“
Gideon rannte zu den anderen zurück, alldieweil die Kreaturen
langsam näher kamen. „Ich passe auf sie auf, bis sie aufwacht.
Ihr beide bringt euch auf einer anderen Welt in Sicherheit.“
Chandra stand mit flammenden Händen auf. „Auf keinen Fall.
Wir schaffen es alle hier raus oder ...“ Ihr Mut sank mit ihren
Worten.
„Oder gar nicht“, fügte Jace hinzu. „Gemeinsam oder gar
nicht?“
Chandra öffnete den Mund, um zu antworten, drehte dann
jedoch den Kopf weg. „Warte mal ... Was ist das?“
Die Planeswalker hörten es, bevor sie es sahen – ein Stöhnen,
Knurren, Knirschen und Reißen –, als die Reihen der Untoten
auf den Platz strömten. Sie bewegten sich in enger Formation
und warfen sich mit Klauen und Zähnen in die mutierten
Kreaturen, die die Planeswalker umzingelt hatten, um sie mit
entsetzlicher Kraft auseinanderzureißen.
Lilianas Elite | Bild von Deruchenko Alexander
Nekrotisches Fleisch traf auf mutierte Gliedmaßen, und keine
der beiden Seiten scherte sich um Schmerzen oder Verluste.
Die Zombies jedoch bewegten sich präzise und zielgerichtet.
Wenn Lücken in ihre Reihen geschlagen wurden, füllten sie
sich sofort wieder auf. Und als sie die Planeswalker erreichten,
teilten sie sich und bildeten eine Verteidigungslinie um sie
herum, ehe sie wieder nach außen drängten.
Und dann erschien ihre Generalin.
Finstere Rettung | Bild von Cynthia Sheppard
Liliana schwebte mit weit ausgebreiteten Armen heran, den
Kettenschleier gleich hinter den Fingerspitzen. Ihre
Hautzeichnungen gleißten, und Blut quoll daraus hervor. Mit
einer beiläufigen Geste schoss nekromagische Energie aus
ihren Händen und verbrannte die Leichen der mutierten
Kreaturen zu Asche. All die krankhaften Auswüchse und all
das verderbte Gewusel wurden einfach ausgelöscht. In einem
unermesslich weiten Meer aus widernatürlichem Leben
entstand eine Kugel aus Stille und Tod, die über das gesamte
Gebiet gebot.
Lilianas Gesichtsausdruck wurde von verzückter Wut zu einem
ernsten Lächeln, als sie anmutig zu Boden sank. Ihre
Hautzeichnungen verblassten, und der Schleier schien an
Größe einzubüßen. „Oh, Jace. Ich kam, so schnell ich konnte.“
„Was tust du hier?“ Gideon befand sich noch immer in
Kampfhaltung. Sein Sural war von Macht durchströmt.
Vereinte Kräfte | Bild von Eric Deschamps
„Die nette Dame in dem unbequemen Kleid hat uns gerade
gerettet, Gideon. Beruhige dich mal.“ Chandra drehte Liliana
den Rücken zu und trat zwischen sie.
Nissa regte sich und rappelte sich auf. „Das ... Ding, das sie bei
sich hat. Es ist mir ein Gräuel.“ Nissa zuckte vor dem Schleier
zurück und weigerte sich, auch nur in seine Nähe zu blicken.
Ein Lächeln breitete sich auf Lilianas Gesicht aus. „Das ist eine
seltsame Art, um ‚Danke, Liliana, du hast mir das Leben
gerettet und ich stehe auf ewig in deiner Schuld‘ zu sagen.“
Gideon knurrte und zog sein Sural ein.
„Liliana, ich ... Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich je
wiedersehen würde. Aber jetzt bist du hier.“ Jace schlug die
Kapuze zurück. Das Leuchten war aus seinen Augen
verschwunden. Die dunklen Ringe unter ihnen waren nun
deutlich zu erkennen.
„So redegewandt wie immer. Ja. Du wurdest gerettet, du
schuldest mir etwas und jetzt solltest du dich wirklich in
Sicherheit bringen.“
Jace schüttelte den Kopf. „Das können wir nicht tun. Wir
müssen das hier beenden. Wir stehen so kurz davor. Und
wenn du uns beschützt, können wir es auch schaffen. Das weiß
ich.“
Liliana rieb sich die Stirn. „Das ist nicht der richtige Zeitpunkt
für Scherze, Jace. Wir müssen hier dringend weg.“
„Dann solltest du dieses verfluchte Ding nehmen und
verschwinden.“ Nissa schwankte, hielt jedoch ihr Schwert in
der Hand. „Ich werde nicht an seiner Seite kämpfen.“
Gideon hob warnend die Hand. „In Seetor hast du an der Seite
von Vampiren und Piraten und noch Schlimmerem gekämpft,
Nissa. Wir nehmen alle Verbündeten, die wir bekommen
können. Wenn sie vertrauenswürdig sind.“
„Ah, der Fleischbrocken zeigt Vernunft!“ Liliana strahlte übers
ganze Gesicht.
„Aber ich weiß nicht, ob du vertrauenswürdig bist. Nissas
Instinkte liegen selten daneben, und ich bin geneigt, ihr
zuzustimmen. Dieser Gegenstand ist ... heikel. Aber ich kenne
dich nicht. Er schon.“ Gideon wandte sich an Jace.
„Entscheide du. Sag mir, Jace: Ist sie vertrauenswürdig?“
Liliana lachte hoch und klar, noch ehe Jace antworten konnte.
„Diese Frage ist lächerlich, und das weißt du auch. Schau dich
um. Ich brauche nur mit den Fingern zu schnippen und ihr
werdet alle überrannt. Hier und jetzt vertraut ihr mir gerade.
Doch wenn ihr nicht gehen wollt, kann ich euch nicht
zwingen. So sagt mir, tapfere Helden: Was habt ihr nun vor?“
Sie blickte jedem von ihnen ins Gesicht. Gideon war verärgert.
Chandra erschöpft. Nissa außer sich. Und Jace von Schmerz
erfüllt.
„Oh, wundervoll.“ Mangels eines besseren Gesichtsausdrucks
lächelte Liliana. „Ich bin mir sicher, das wird alles gut
ausgehen.“
Liliana
Es war ein Vergnügen, den sogenannten Wächtern dabei
zuzusehen, wie sie sich ob einer schwierigen Entscheidung
wanden. Gideons nur spärlich verhohlener Verdruss, Nissas
Unbehagen, Chandras Ungeduld und Jaces qualvolle
Unentschlossenheit. Jace war an seinem Lieblingsort: dank
willkürlicher Beschränkungen, die er sich selbst auferlegt hatte,
irgendwo zwischen allen Stühlen und mit der Frage befasst,
warum sämtliche Entscheidungen immer so furchtbar
schwierig sein mussten. Du wirst dich nie ändern, oder? Liliana
konnte nicht sagen, ob sie das nun amüsant oder abstoßend
fand. Manchmal war es beides.
Finstere Rettung | Bild von Cynthia Sheppard
Eine Angehörige des Mondvolks flog mit geweiteten Augen
und kurzem Atem herbei. Sie nahm keine Notiz von den
Untoten, die sie vor Emrakuls Dienern beschützten, doch sie
sah sehr wohl zu jenem gewaltigen Spektakel auf, das Emrakul
bot. Es war unmöglich, das nicht zu tun. Sie landete neben Jace
und sprach hastig und zu leise, als dass Liliana sie hätte hören
können. Sie beendete ihre kurze Rede auf eine Art, die Liliana
verwirrend gefunden hätte, hätte sie nicht schon selbst eine
Menge Zeit mit einem Telepathen verbracht. Das musste die
Mondfrau sein, die Jace erwähnt hatte. Jace und Tamiyo
setzten ihre stumme Unterhaltung fort und rückten enger
zusammen, als ihre Bewusstseine einander berührten. Liliana
runzelte die Stirn. Noch eine nutzlose Gedankenmagierin ...
Genau das, was wir jetzt brauchen.
Sie wollte etwas Zeit mit Jace allein, um herauszufinden, worauf
das hier eigentlich alles hinauslaufen sollte. Ihre Untoten
hatten für eine zeitweilige Atempause gesorgt. Doch sie
mussten hier weg. Raus aus Thraben, fort von Innistrad, fort
von Emrakul.
Als sie an den Namen dachte, wurde Lilianas Blick zu der
gewaltigen Gestalt hinaufgezogen, die vor den Toren Thrabens
schwebte. Warum hockt es einfach nur da? Die Luft fühlte sich
stickig und abgestanden an, durchzogen vom Geruch der ...
Nein, es waren nicht die Toten. Liliana war an die Toten und
deren Geruch gewöhnt. Dieser Geruch jedoch hatte etwas
Fauliges an sich, was Liliana zu schaffen machte.
Die Luft erfuhr eine plötzliche Veränderung, um einen Geruch
und einen Druck anzunehmen wie an einem Frühlingstag vor
einem Sturm, und in dieser jähen Veränderung entfaltete
sich Emrakul. Die Wolke ihres Leibes tat sich auf: Ihre langen,
dürren Tentakel sprossen in die Länge und vermehrten sich –
aus Hunderten wurden Tausende, Zehntausende, mehr. Eine
unsichtbare Sphäre der Macht brach aus Emrakul hervor,
kräuselte sich und traf jeden Planeswalker dort, wo er sich
gerade befand.
Übelkeit wallte in Lilianas Magen auf, und Schwindel verklärte
ihr den Verstand. Diese entsetzliche Vermischung von
Verzweiflung und Unwohlsein hatte sie nur einige wenige Male
in ihrem Leben erfahren. Als die Augen ihres Bruders Josu sich
leblos geöffnet hatten – tintenschwarze Kugeln voller
Verdammnis. Als sie das erste Mal Bolas unheilvollen Blick
gesehen und sein verächtliches Lachen gehört hatte, während
er ihr eine vergiftete Form der Erlösung versprach. Als die
Macht des Kettenschleiers das erste Mal durch ihre Adern
geströmt war und ihre Haut wie eine trockene Hülle hatte
aufreißen und welken lassen, um das Blut – ihr Blut –
hinaussickern zu lassen.
Nichts davon war auch nur im Entferntesten mit jenem
Gefühl alles zersetzenden Unbehagens vergleichbar, das sie in
Emrakuls Gegenwart empfand. Liliana Vess hatte ihr ganzes
Leben damit zugebracht, nicht zu sterben, und das erste Mal
seit langer Zeit fragte sie sich, ob sie womöglich dem falschen
Ziel nachgejagt war. Im Schatten von Emrakuls Erblühen
schien der Tod nur eine weitere oberflächliche Lüge des
Lebens zu sein, eine falsche Hoffnung, die nur unzureichend
jene wahren Schrecken zurückdrängte, die alle Lebenden zu
erwarten hatten.
Emrakul. Emraakull. Emraaa...
Sie schüttelte entschlossen den Kopf und versuchte, ihre
Gedanken zu ordnen. Sie hatte zu lange gelebt und zu viele
Widrigkeiten überwunden, um nun einfach klein
beizugeben. Wir müssen von dieser Welt fliehen. Das hier ... Es
ist Wahnsinn, hier zu bleiben. Das waren nicht ihre eigenen
Gedanken, sondern der Rabenmann, der geradewegs in ihren
Geist hineinsprach. Er klang ... verängstigt. Liliana fand
einigen Gefallen an seiner Furcht. Du kannst also Angst
empfinden. Ihre Untoten stöhnten im Chor: „Gefäß der
Vernichtung. Wurzel allen Übels. Flieh.“ Liliana schreckte auf.
Sie war es gewohnt, dass der Kettenschleier etwas von Gefäßen
und Wurzeln von sich gab, aber fliehen? Was auch immer
Emrakul war: Der Kettenschleier wollte damit nichts zu
schaffen haben.
Der Druck in der Luft erhöhte sich und bescherte ihr einen
Kopfschmerz, der ihr die Tränen in die Augen trieb. Die
anderen Planeswalker krümmten sich, außer Jace, der
irgendeinen Zauber wirkte. Liliana senkte den Kopf, als ihre
Pein sich vervielfachte. Emrakul von außen. Der Kettenschleier
von innen. Der verfluchte Rabenmann von wo auch immer er
war. Sie würde sich nicht von ihnen bezwingen lassen. Das sind
meine Untoten, mein Kettenschleier, mein Kopf. Sie sind
mein!
Sie starrte Emrakul an, während ihre Furcht langsam
zurückwich und einem lodernden Zorn Platz machte. Wie
kannst du es wagen ...
Weitere Energie barst aus Emrakul heraus, ein ausgewachsenes
Gewitter, das den vorherigen Ausbruch wie einen kurzen
Frühlingsregen erscheinen ließ. Liliana wurde auf die Knie
gezwungen, während sie vor Wut aufschrie. Ihre Untoten
stöhnten ein einziges Wort.
„Em-ra-kuuuull.“

Jace
Der purpurbeschattete Turm durch regnerisches Glas.
Feuerschwere Adern fallen dunkelschwer. Emrakul keckert
Gedanken in einer Schleife aus kaltem Metall ...
Eine Stimme schnitt durch das wirre Brabbeln – eine vertraute
Stimme, die er zum ersten Mal hörte. Das läuft gar nicht gut.
Ich werde mich davon nicht bezwingen lassen. So schwach bin
ich nicht. Jace atmete langsam und gleichmäßig. Gedanken
ordneten sich. Er versuchte, sich an den Unsinn zu erinnern,
der sein Bewusstsein nur Augenblicke zuvor beherrscht hatte,
doch er war bereits verschwunden – wie Tau, der in der
Morgendämmerung verging. Er befand sich oben auf einer
langen, breiten Wendeltreppe, deren weiße Stufen von Blau
durchsetzt waren. Die Treppe war hell erleuchtet, wenngleich
er keine Lichtquelle auszumachen vermochte, und sie
erstreckte sich tief nach unten – viel weiter, als er sehen
konnte.
Über ihm erhob sich ein hoher, dünner Turm aus Stein. Vom
Boden aus wirkte er wie sein Refugium daheim auf Ravnica.
Große Steintische voller Bücherstapel, Karten und
verschiedenen ... Gerätschaften, die surrten und summten.
Bücherregale, so weit das Auge reichte – er blickte sie
sehnsüchtig an. Es sah nicht nur so aus wie seine Wohnstatt
auf Ravnica, es war seine Wohnstatt ... außer dass sich in deren
Mitte keine prächtige Treppe in die Tiefe wand.
Jaces Refugium | Bild von Adam Paquette
Und auf Ravnica gab es zweifellos auch kein gewaltiges
Ungeheuer, das sein Refugium von oben zu zerstören suchte.
Hunderte Schritt über sich sah Jace gewaltige Steinblöcke des
Turms wegbrechen oder davongeschleudert werden. Das
gesamte Dach des Turms war bereits verschwunden und gab
den Blick auf einen dunklen Himmel frei, der von Wolken in
einem unheilvollen Purpur überzogen war. Als Jace die
fortschreitende Zerstörung weiter beobachtete, erkannte er,
dass es sich gar nicht um Wolken handelte. Es war ein Ding.
Eine Kreatur. Die Kreatur löste sich in einer gigantischen
purpurnen Wolke auf, aus der Hunderte zuckender Tentakel
hervorwuchsen, die von Blitzen und ohrenbetäubendem
Donner begleitet nach dem Turm schlugen und auf ihn
einpeitschten. Die Kreatur hatte einen Namen ...
Emrakul. Der Name klang merkwürdig, als er ihn aussprach. Er
war ein Wort, das er nicht kennen sollte. Ein Wort, das er
nicht kennen konnte. Oder vielleicht war das auch nur das
Wort hinter und unter dem Wort ... Jace hielt inne. Es war
zermürbend, wie leicht es war, den eigenen Gedankengang zu
vergessen. Konzentriere dich. Emrakul. Ein ... Ding. Ein
Eldrazi. Der Eldrazi. Jaces Verstand hatte Mühe, die Natur
dieses Wesens voll zu erfassen. Sein Kopf dröhnte von einem
dumpfen, hämmernden Schmerz, der mit jedem Gedanken an
die Titanin der Eldrazi dort draußen stärker wurde. Dann
denke eben nicht an sie. Wo bin ich? Was ist das für ein Ort?
Weitere Erinnerungen kehrten zurück. Er war nicht in einem
Turm gewesen. Er war in Thraben, das von unermesslichen
Horden von Emrakuls Dienern belagert wurde. Sie alle waren
dort. Gideon. Tamiyo. Nissa. Chandra. Liliana. Sie war
überraschend aufgetaucht – an der Spitze einer Armee aus
Untoten, um sie vor den Kultisten und Kreaturen Emrakuls zu
beschützen. Liliana war zurückgekommen. Sie ...
Ein lauter Donnerschlag grollte draußen, der Boden erbebte
leicht unter seinen Füßen und Jaces Kopf begann erneut zu
dröhnen. Blitze zuckten und erhellten Emrakuls Tentakel, die
weiter riesige Teile aus dem steinernen Bauwerk rissen. Der
Turm war groß und massiv, doch Emrakul nahm ihn Stein für
Stein auseinander.
Ein sanftes, weißes Licht begann weiter unten an der Treppe zu
pulsieren. Es rief ihn zu sich. Unter gewöhnlichen Umständen
war Jace vernünftig genug, um verlockenden weißen Lichtern
an einem fremden Ort zu misstrauen, führten sie doch in aller
Regel nur zu weiteren fremden Orten. Doch unter
gewöhnlichen Umständen wurden solche Orte auch nicht von
allmächtigen Titanen der Eldrazi angegriffen. Das weiße
Leuchten wirkte zunehmend noch verlockender.
Draußen gab es eine gleißende Explosion – eine lange, tiefe
Woge aus Purpur, gefolgt von krachendem Donner. Der
gesamte Turm erzitterte, als ein Blitz darin einschlug. Jace wand
sich vor Schmerz am Boden und hielt sich den Kopf, in dem es
quälend pochte. Was geschieht mit mir? Und dann sprach eine
andere Stimme – seine Stimme, die von irgendwo anders
herkam – voller Befehlsgewalt: Beweg dich. Sofort. Geh nach
unten.
Jace blickte durch die Ruinen des Turms zu dem hungrigen
purpurnen Maul Emrakuls hinauf. Ihre endlosen Tentakel
wanden sich um immer größere Teile des steinernen Bollwerks.
Jace rappelte sich auf und stolperte auf die Treppe zu. Er
beschloss, dass die Stimme – meine Stimme – recht hatte. Es
war Zeit, von hier zu verschwinden. Er stieg in die Tiefen des
Turms hinab.

Liliana
Lilianas Blut stand in Flammen, ihr Verstand lag in
Trümmern. Eine einzige Sache hielt sie noch notdürftig
zusammen: Zorn. Das sind meine Untoten. Sie sind mein! Du
wirst sie nicht bekommen! Ohne einen bewussten Gedanken
in dieser Richtung zu fassen, sog sie die Macht des
Kettenschleiers tief in sich ein und stemmte sich damit
Emrakul entgegen. Sie spürte die verderbte Berührung des
Eldrazi, die nun derart mächtig war, dass ihr sogar die Toten
erlagen. Doch selbst diese unheilvolle Berührung war nichts
gegen Lilianas nekromagische Kraft, die vom Kettenschleier
gespeist wurde. Sie spürte, wie ihre Untoten zu ihr
zurückkehrten.
Die Macht, die ihr durch die Adern strömte, war eine einzige
Labsal. Jedes Mal, wenn sie den Kettenschleier zuvor verwendet
hatte, war da nichts als Qual und ein Reißen in ihr gewesen,
doch irgendwie schützte ihre Wut sie nun vor den schlimmsten
Verletzungen, die ihr der Kettenschleier sonst
zufügte. Vielleicht ist das das Geheimnis, wie man die volle
Macht des Schleiers entfesselt. Ich habe sie nie genug gewollt.
Von den Toten auferstehen | Bild von Kieran Yanner
Stimmen flüsterten ihr noch immer zu, Stimmen von ihren
Untoten und die des Schleiers unmittelbar in ihrem Verstand.
„Gefäß der Vernichtung. Wurzel allen Übels.“ Dies waren
nicht die einzigen Stimmen, die sie hörte. Der Rabenmann fiel
in die lähmende Melodie ein. Wir müssen von hier fort. Das
ist Wahnsinn. Ich dachte, du willst den Tod bezwingen. Das
Wesen, dem du hier gegenüberstehst, ist älter als die Zeit und
mächtiger als du, selbst wenn du tausend Kettenschleier
trügest. Wir müssen von hier fort! Der Rabenmann versuchte,
seinen Worten den Anschein eines Befehls zu geben. Nie zuvor
hatte er so nackt, so verwundbar geklungen.
Liliana gestattete sich einen Blick zu den anderen
Planeswalkern. Chandra, Tamiyo und Gideon lagen bewusstlos
am Boden. Sie tastete kurz mit ihrer Macht nach ihnen, doch
ihre Gestalten reagierten nicht auf die nekromagische
Berührung. Sie waren also allesamt noch am Leben. Nissa war
wie an Ort und Stelle festgewurzelt. Sie schrie, doch die Worte,
die dabei aus ihrem Mund drangen, waren nur
unzusammenhängendes Gestammel. Grüne und purpurne
Energie sammelte sich um sie, prallte aufeinander, ebbte auf
und ab. Jace war der Einzige, der auf den Beinen war und bei
Bewusstsein zu sein schien, auch wenn er ihr keinerlei
Beachtung schenkte. Sie bemerkte einen blauen Schimmer um
ihn herum, einen Halbschatten, der sich auch auf die fünf
anderen Planeswalker gelegt hatte. Auf alle bis auf sie. Ist es
das, was euch am Leben hält?
Der Halbschatten reichte nicht bis zu ihr. Doch sie brauchte
seine Hilfe nicht. Liliana hatte beachtliche Macht gekannt,
vereint mit der Weisheit und der Unbarmherzigkeit, die aus
zweihundert langen Lebensjahren erwachsen war. Doch sie
kannte nichts, was sie vor dem geistigen Ansturm Emrakuls
hätte beschützen können. Ohne die Macht des Kettenschleiers
wäre sie hier untergegangen.
Eine Macht, über die sie nun gebot. Und sie tat dies mit großer
Freude. Sie lachte angesichts des damit verbundenen Kitzels.
Nie war sie ihrer früheren Allmacht so nahe gekommen. Ich
kann alles schaffen. Und dennoch wisperten die Stimmen des
Schleiers noch immer in ihrem Kopf. Gefäß. Gefäß der
Vernichtung. Wir müssen vor dem Weltenbeender fliehen.
Dem Weltenerschaffer. Gefäß! Die Stimme des Rabenmannes
war von Panik erstickt. Höre auf den Schleier, du Närrin!
Flieh! Ihre Untoten. „Wurzel allen Übels. Gefäß der
Vernichtung. Gefäß!“
Liliana lachte ein Lachen, das von Zorn und Macht durchwirkt
war. „ICH. BIN. KEIN. GEFÄSS!“
Sie verdrängte die Stimmen des Schleiers und des
Rabenmannes und brachte sie jäh zum Schweigen. Sie spürte
ihren Zorn und ihre Ungeduld, als sie sich verzweifelt gegen sie
zur Wehr setzten. Alles, was zählt, ist mein Wille. Mein
Verlangen. Nichts kann mir standhalten. Sie griff in den
Schleier hinein und entzog ihm mehr Macht, als sie je zuvor
gewagt hatte.
Ich gehöre nicht dir. Du gehörst mir.
Sie sammelte die Energien des Schleiers und bündelte sie
gemeinsam mit ihrer eigenen bemerkenswerten Macht und
Weisheit. In der Umarmung solcher Kräfte spürte sie Emrakuls
geistigen Angriff nicht einmal mehr.
Sie wandte der Titanin nun ihre volle Aufmerksamkeit zu. Als
würde Emrakul Lilianas wachsende Macht bemerken, bewegte
sie sich langsam in ihre Richtung. Jeder scheint sich vor dir zu
fürchten, Emrakul. Liliana lachte erneut, ein Keckern, während
sie in ihrer Macht badete. Niemand glaubt, dass ich dich
besiegen kann. Finden wir es doch heraus.

Jace
Bei seinem Abstieg blickte Jace gelegentlich nach oben, doch
alles nur wenige Schritte hinter ihm wurde von Schatten
verhüllt. Ich schätze, diese Stufen führen nur nach unten. Er
dachte, er sollte das Gefühl, einen unbekannten Gang
hinunter in die Tiefen eines seltsamen Turmes geleitet zu
werden, irgendwie beunruhigend finden – vor allem auch
deshalb, weil sein Weg von andauerndem Donner von oben
begleitet war – , doch er blieb ganz gelassen. Hier unten ist es
zweifellos sicherer als dort oben.
Die Steinwand neben ihm begann zu schimmern. Während er
dabei zusah, wurde der Stein zu Glas oder zumindest
irgendeinem anderen durchsichtigen Material. Die gesamte
Wand neben ihm wurde vom Boden bis zur Decke zu einer
klaren Fläche. Hinter dem Fenster war eine Szene zu sehen, wie
in einem Schaukasten, den Kinder für die Schule anfertigten,
doch dieses Diorama bewegte sich.
Die Figur in der Mitte war Gideon. Er stritt gegen irgendeine
Art von himmlischem Wesen, das über ihm aufragte – es war
wahrhaftig himmlisch, denn es bestand aus einem
sternenbedeckten Firmament. Es hatte zwei große, schwarze
Hörner, die ein blaues Gesicht einrahmten. Es schwang eine
grotesk große Peitsche, in deren Griff ein menschlicher Schädel
eingearbeitet war. Gideon sah hinreichend nach Gideon aus:
breites Kinn, goldener Sural und glänzende Rüstung. Der
Ausdruck auf seinem Gesicht glich jedoch ganz und gar nicht
jenem Gideon, den Jace kannte. Dieser Gideon wirkte besorgt,
beinahe eingeschüchtert. Seine Miene zeigte Zorn – aber auch
Furcht. Interessant.
Erebos, Gott der Toten | Bild von Peter Mohrbacher
Um Gideon herum standen die anderen Mitglieder der
Wächter. Chandra mit flammendem Kopf und Händen. Nissa.
Selbst ein Jace. Ich bin doch sicher größer? Die himmlische
Gestalt breitete die Arme weit aus, die Peitsche in der Hand.
Sie sprach mit einer tiefen, hallenden Stimme, die aus dem
Boden emporzudringen schien. „Und was ist es, was du,
Kytheon Iora, am meisten begehrst? Was ist es, was du wirklich
willst?“
„Nein!“, rief Gideon mit vor Schmerz und Trotz verzerrtem
Gesicht. „Es gibt nichts, was du mir anbieten könntest, Erebos!
Nichts! Alles, was du anzubieten hast, ist Gift.“
Das Wesen – Erebos – hob die Peitsche. „Das ist kein Angebot,
Sterblicher. Sage mir wahrheitsgemäß, was du am meisten
begehrst, oder ich werde deine Freunde einen nach dem
anderen töten.“
Gideons Schultern senkten sich, und sein Sural fuhr in die
Scheide zurück. Er blickte mit einer Mischung aus Zorn und
Verzweiflung zu Erebos auf. „Am meisten begehre ich ...“ Er
hielt inne und holte tief Atem. „Andere zu beschützen, sie zu
retten ...“
„Du lügst.“ Erebos schlug mit der Peitsche zu, und als sie den
Jace neben Gideon traf, löste dessen Fleisch sich auf und er
verschwand. Ich mag es wirklich nicht, mich selbst sterben zu
sehen. Gideon schrie auf und holte mit blitzendem Sural aus,
doch Erebos zeigte keine Regung. Er hob die Hand und
Gideon wurde zurückgeschleudert.
„Du kannst mich nicht besiegen, Sterblicher. Das konntest du
nie. Und das wirst du nie. Sage mir die Wahrheit. Dann lasse
ich den Rest deiner Freunde am Leben.“
Draußen grollte laut der Donner – Emrakul, das ist Emrakul –,
und Jace konnte Gideons Antwort nicht hören. Doch wie auch
immer sie gelautet hatte: Erebos war damit nicht zufrieden. Ein
weiteres Mal schnellte die Peitsche vor und Nissa verschwand
durch ihre Berührung. Gideon zuckte zusammen, als Nissa
erschlagen wurde, griff jedoch diesmal nicht an. Chandra stand
nur mit leerem Blick da. Ihre flammenden Hände hingen
reglos an ihrer Seite. Dieses Schauspiel ist zweifellos nicht die
Wirklichkeit. Findet es in Gideons Kopf statt?
Gideons Stimme brach vor Zorn. „Ich will dich besiegen, dich
in Stücke reißen, damit du nicht länger ...“
„Nein. Noch immer sprichst du Lügen.“ Erebos Stimme
hingegen war ruhig wie ein Friedhof. Ein weiterer
Peitschenhieb, und Chandra verschwand. „Musst du erst alles
verlieren, bevor du dir die Wahrheit eingestehst, Sterblicher?
Wozu ist all dieser Starrsinn gut? Du bist sehr darauf aus, den
größten Schmerz zu spüren.“ Erebos Peitsche tanzte unter der
Führung ihres Meisters. „Was willst du?“
Gideon hob den Kopf gen Himmel und schrie: „Ich will ...“,
doch noch ehe er seinen Satz beendet hatte, wurde das Fenster
dunkel.
Jace rührte sich nicht, gelähmt von all dem, was er gerade
gesehen hatte. Wer ist Erebos? Welchen Schmerz durchlebt
Gideon? Jace hatte nicht geahnt, dass sein Freund so sehr
litt. Und meine Unwissenheit über Gideon wird nur noch von
meiner Unwissenheit darüber übertroffen, was hier vor sich
geht. Sind das Träume? Bin ich in Gideons Verstand? Emrakul
über mir wirkt zumindest sehr, sehr echt.
Die Schatten drängten dichter an Jace heran. Er musste in
Bewegung bleiben. Die Antworten waren weiter unten zu
finden. Er war nur ein paar Schritte gegangen, als eine weitere
Wand durchscheinend wurde. Diesmal befand sich Tamiyo in
der Mitte der Szene.
Tamiyo, Feldforscherin | Bild von Tianhua X
Sie saß zusammengekauert an einem kleinen Pult und brütete
über einer großen Schriftrolle, die auf einem staubigen Tisch
ausgebreitet war. Die Szene war nur von einer Kerze erhellt, die
jedoch im Verhältnis zu ihrer Größe viel zu viel Licht spendete.
Hinter Tamiyo befanden sich Regale voller Bücher und neben
ihnen weitere Stapel. Jace verspürte etwas Wehmut. Immer nur
von Büchern umgeben zu sein und alle Zeit zu haben, sie zu
lesen. Das war schon seit einer Weile nicht mehr sein Leben
gewesen und würde es auch so schnell nicht wieder werden.
Aus einem von Tamiyos Augen rann Blut. Es begann mit
einem leisen Tröpfeln. Jeder Tropfen traf mit einem
leisen Pling auf den Tisch. Während sie weiter in der
Schriftrolle las, begann auch aus dem anderen Auge Blut zu
rinnen. Jeder zweite Tropfen stammte nun aus ihm. Pling,
pling. Pling, pling. Pling, pling.
Jace sah entsetzt zu, wie fleischiges Flechtwerk über Tamiyos
Augen wucherte und sie vollkommen bedeckte. Das Mal
Emrakuls. Jace hatte in den letzten Tagen so viel von Emrakuls
Zeichen gesehen. Das Blut tropfte weiter durch das
Flechtwerk. Pling, pling. Pling, pling. Pling, pling.
Das Flechtwerk erblühte anderswo. Fleischige Auswüchse
brachen aus Tamiyos Fingern hervor und bedeckten ihre
Hände mit an ein Netz gemahnenden Mustern. Die Auswüchse
breiteten sich auf den Tisch darunter aus und machten
Tamiyos Hände daran fest. Nun war sie blind und konnte ihre
Finger nicht mehr rühren. Das Blut tropfte noch immer aus
ihren Augen. Pling, pling. Pling, pling. Pling, pling.
Während sie den Gebrauch ihrer Augen und Hände verloren
hatte, hatte Tamiyo unablässig vor sich hin geflüstert, auch
wenn für Jace kein Geräusch zu hören gewesen war. Die
fleischigen Auswüchse überwucherten nun auch ihren Mund
und versiegelten ihre Lippen mit Emrakuls Netz. Und selbst
nachdem ihr Mund verschlossen worden war, wuchs das
Geflecht wimmelnd und würmelnd weiter. Die Ranken
sprossen aus ihrem geschlossenen Mund heraus, und wenn
nun das Blut aus Tamiyos Augen tröpfelte, dann schnappten
die Ranken danach, um sich zu winden und zu zucken,
während der Lebenssaft in ihrer öligen Haut versickerte. Pling,
zuck. Pling, zuck. Pling, zuck.
Tamiyo war vollkommen reglos. Ihr Mund, ihre Augen und
ihre Hände waren völlig erstarrt. Jace hatte Tamiyos
Bewusstsein berührt. Er kannte ihre Essenz besser als die
meisten anderen. Ihre Fähigkeit zu sehen, zu sprechen, zu
schreiben – das war der wichtigste Bestandteil ihrer Magie,
ihres Verständigungsvermögens. Das war es, was sie ausmachte.
Sie wird ausradiert. Jace schrie und hämmerte gegen das
Fenster, doch weder Tamiyo noch irgendetwas anderes in dem
Raum reagierte darauf. Das Fenster wurde wieder zu
undurchsichtigem Stein.
Jace sackte in sich zusammen. Was ist das für ein Ort? Das
können nicht die Bewusstseine meiner Freunde sein. Oder?
Über ihm hingen die Schatten. Er war müde. So unendlich
müde. Langsam rappelte er sich auf und setzte seinen Abstieg
fort.

Liliana
Diese Macht. Sie war eine Offenbarung. Alles, was nötig
gewesen war, war ihr Wille. Ihr Verlangen. So lange Zeit hatte
sie sich selbst als vollkommen pragmatisch und nur von ihrem
Ziel angetrieben betrachtet. Nicht zu sterben. Ihre
dämonischen Folterer zu töten. Doch nun wusste sie, dass sie
nicht willens gewesen war, diesen endgültigen Schritt zu gehen.
Die allerletzte Grenze zu überschreiten. Ich zeigte
Zurückhaltung. Wie töricht.
Vor ihr ragte Emrakul auf. Eine Titanin der Eldrazi. Ein
Wesen älter als die Zeit, falls die Stimme in ihrem Kopf die
Wahrheit gesagt hatte. Ich glaube, du bist ein Ding. Ein
mächtiges Ding, doch eines, das lebt. Und wenn du lebst, dann
kannst du sterben. Und wenn du stirbst – ein weiteres Lächeln
–, dann gehörst du mir.
Die Energien des Schleiers zuckten und bäumten sich unter
ihrer Kontrolle auf. Sie wollten verwendet werden, um zu
verdorren und zu töten. Macht ist dazu da, benutzt zu
werden. Sie sammelte sie, formte sie und schleuderte einen
gleißenden Strahl nekromagischer Energie nach dem anderen
auf die gewaltige Gestalt Emrakuls, um die Titanin mit ihrer
Macht zurückzutreiben.
Da war ein Lied in Lilianas Bewusstsein – eines, das alles
andere übertönte. Es war ein Lied der Macht, und es erklang
mit einer ach so süßen Melodie. Das ist es, wofür ich geboren
wurde. Dies ist mein Schicksal. Jeder Strahl, der Emrakul traf,
hinterließ klaffende Krater vernarbten, toten Materials und
turmhohe Tentakel, die verschrumpelten und verdorrten.
Manches davon regenerierte sich, doch nicht genug, ehe
Liliana auch schon ihren nächsten Treffer landen konnte. Das
erste Mal seit ihrem Erblühen wurde Emrakul kleiner. Sie
wurde zurückgeworfen. Liliana gewann.
Liliana, die letzte Hoffnung | Bild von Anna Steinbauer
Die Stimme des Rabenmannes schnitt durch ihre Verzückung
wie ein Spritzer eiskalten Abwassers. Du weißt nicht, was du da
tust. Was du da wagst. Du kannst nicht ernsthaft hoffen, diese
Macht noch länger beherrschen zu können.
Lilianas Zorn umhüllte jedes einzelne Wort ihrer gedachten
Erwiderung. Versuche nicht, mich mit deinen beschränkten
Erwartungen zurückhalten zu wollen, kleiner Mann. Heute ist
der Tag, an dem ich eine Titanin der Eldrazi vernichte. Und
warum? Weil ich es wage.
Sie wünschte, die Wächter wären bei Bewusstsein, um ihren
Sieg mitzuerleben. So sieht wahre Macht aus, ihr erbärmlichen
Ausreden für echte Planeswalker. Sie schoss Emrakul weitere
Strahlen entgegen und forcierte ihren Angriff.

Jace
Jace war nicht überrascht, wenig später auf ein neues Fenster zu
stoßen. Diesmal war es Chandra. Oder zumindest nahm er das
an. Sie war ein kleines Mädchen, doch das rote Haar und ihr
Gesicht verrieten schon etwas von jener Frau, zu der sie einst
werden sollte. Chandra war von einer bedrohlichen Menge an
Wachen umzingelt, deren Uniformen reich verziert und
farbenfroh waren. Jace erkannte den Ort nicht, zu dem sie
gehörten. Ihre Heimat. Die Wachen hoben ihre Piken und
Chandra schluchzte. Ströme von Tränen rangen mit einem
tiefen, keuchenden Schnappen nach Luft um die Herrschaft
über ihre Züge.
Chandra, Feuer von Kaladesh | Bild von Eric Deschamps
Eine der Wachen, groß und dürr, trat vor. Auf dem Gesicht
des Mannes lag ein breites Lächeln, das im Widerspruch zu
seinen harten Worten stand. „Wir haben deinen Vater getötet,
Rebellin. Und deine Mutter. Und nun werden wir dich töten.“
Jace nahm an, dass diese Szene nicht der Wirklichkeit
entsprang, sondern nur ein Albtraum in Chandras Kopf war,
aber er ballte dennoch die Fäuste. Niemand sollte einen
solchen Schmerz erdulden müssen. Die Wachen rückten mit
ihren Piken vor, während ihr Anführer höhnisch fortfuhr:
„Und das Beste daran ist, dass du nichts dagegen tun kannst.“
Chandra hörte auf zu weinen und starrte ihre Gegner an. Eine
winzige Flamme gleißte in ihrem Auge auf. „Du irrst dich“,
sagte sie. Ihre Stimme klang keineswegs wie die eines Kindes.
„Es gibt etwas, was ich tun kann.“ Ihr Körper veränderte sich,
wuchs und entwickelte sich vor seinen Augen zu der Chandra,
die er kannte. „Ich kann immer etwas tun. Ich kann etwas
verbrennen.“ Feuer loderte ihr aus Kopf und Händen.
Sie lächelte. Die Wachen wichen verunsichert zurück. Sie trat
einen Schritt vor. „Ich kann euch verbrennen.“ Der Anführer
ging in Flammen auf. Er schrie vor Schmerz. „Ich kann euch
alle verbrennen.“ Nun standen auch die anderen Wachen in
Flammen. Ihre Haut knisterte und platzte auf, und ihre
gellenden Schreie hallten zum Himmel hinauf. „Ich kann die
ganze Welt verbrennen.“ Hitze und Licht und Feuer brachen
hervor, eine weißglühende Energie, die alles einhüllte und
verbrannte. Auch Chandra. Chandra schrie. Ob aber nun vor
Vergnügen oder Schmerz vermochte Jace nicht zu sagen.
Chandra die Lodernde | Bild von Steve Argyle
Das Fenster wurde wieder zu Stein, doch Jace konnte die Hitze
noch immer spüren. Das war eines der wichtigsten Prinzipien
von Illusionen. Nur weil es bloß in deinem Kopf ist, heißt das
nicht, dass es dich nicht töten kann.
Gideon, Tamiyo, Chandra ... aber noch keine Liliana. Er
hastete weiter nach unten und schaute begierig nach dem
nächsten sich öffnenden Fenster. Er ließ die Mundwinkel
hängen, als er die Gestalt hinter der Wand sah. Oh, Nissa. Er
versuchte, nicht enttäuscht zu sein, doch er fand es schwierig,
die elfische Planeswalkerin zu verstehen.
Der Hintergrund hinter Nissa sah genau aus wie die Welt
draußen – der dunkle, purpurne Himmel, die seltsamen
Lichtblitze, der drohende Schatten Emrakuls, Liliana und ihre
Untoten. Nissa stand schmerzerfüllt in der Mitte. Sie schrie.
Sie wand sich. Sie wurde verzerrt, sie wurde verdreht, sie
zitterte – doch dies waren nicht die einzigen Verletzungen, die
ihr zugefügt wurden. Etwas ... kroch ... ihr zuckend über die
Hände.
Groteske Mutation | Bild von Dan Scott
Als Jace genauer hinsah, bemerkte er, dass aus Nissas Fingern
winzige Finger wuchsen, zehn aus jedem. Und dann sah er, wie
weitere Finger aus diesen winzigen Fingern wuchsen, kaum
dicker als ein Haar. Er erschauderte, doch als er ihre Augen
sah, schrie er unwillkürlich auf. Aus jeder von Nissas
Augenhöhlen standen mehrere winzige Augäpfel vor und aus
jedem von diesen noch weitere. Grüne Energie blitzte aus ihren
Händen und Augen, doch in diesem Grün lauerte ein dunkles,
grausames Purpur.
Emrakul ist Emrakul ist Emrakul auf ewig.
Jace wusste nicht, woher der Gedanke gekommen war, doch
selbst in seiner Unverständlichkeit erschien er ihm richtig. Auf
ewig und ewig und ...
„Negglish pthoniki ab‘ahor!“ Unzusammenhängende Silben
sprudelten aus Nissa heraus – oder zumindest waren sie in
einer Sprache, die Jace noch nie zuvor gehört hatte. Beim
Sprechen zuckte ihr Kopf wie wild, und zwischen den Worten
rutschte ihr schlaff die Zunge aus dem Mund. Was ist das da
auf ihrer Zunge? O nein. Nein, nein, nein, nein. Die Menge an
Einzelheiten, die ich ertragen kann, ist fast überschritten. Nein,
eigentlich ist sie das schon längst.
Fieberhafte Visionen | Bild von Steve Belledin
Während Unsinn und Geifer aus ihrem Mund sprudelten,
mischten sich verständliche Worte in das Gebrabbel. „Shigg
epsi-alles chut‘ghb endet! Gilma-alles chts-stirbt!“ Die
Zuckungen ließen nach, ihre Stimme gewann an Kraft und
Sicherheit. Nun war sämtliche Energie, die von ihr ausging,
purpurn – ein tiefes Purpur ohne jede Spur von Grün. Sie hob
Kopf und Arme gen Himmel und rief:
„Wachstum! Wachstum ist die Antwort! Die einzige Antwort!
Die Entropie kann nicht verlieren. Aber darf sie gewinnen?
Natürlich sind Opfer zu bringen! Warum kämpfen sie dagegen
an? Eine Ewigkeit ohne Opfer bietet nur die schreiende Starre!
Blut muss aufgewühlt und dick gestampft werden wie Butter.
Warum fürchten sie das Leben? Warum fürchten sie
die Wahrheit?“
Dass Nissa nun erkennbare Worte hervorstieß, machte kaum
einen Unterschied für Jaces Vermögen, sie zu verstehen.
Obwohl er wusste, dass es vergeblich war, griff er nach ihrem
Bewusstsein. Nissa, hilf mir. Hilf mir zu verstehen. Wovon
sprichst du?
Nissa veränderte ihre Haltung, um Jace geradewegs durch das
Fenster anzusehen. Sie sieht mich. Jace zitterte und war wie
erstarrt. Er konnte sich nicht bewegen oder auch nur
wegsehen. Ihre Augen leuchteten in einem dunklen Purpur.
Sie sprach zu ihm. „Ich kann alles tun, was ich will. Alles.
Denke daran. Das Einzige, was dich rettet, ist ...“ Das purpurne
Licht erlosch und der Nimbus um sie herum verflog. „.Dass ich
nichts will.“
Einen langen Augenblick starrte sie ihn an, das Gesicht grotesk
verzerrt, während ihre zusätzlichen Augen ruhelos hin und her
zuckten. Das Fenster wurde gnädigerweise zu Stein.
Jace stand noch immer wie festgefroren vor der Wand. Er
zitterte, und Schweiß rann ihm über das Gesicht und den
Nacken hinunter. Die Schatten von oben trieben ihn
weiter. Wie lange bin ich schon auf dieser Treppe? Was
geschieht mit meinen Freunden? Die Tiefe lockte noch immer
mit ihrem hellen Leuchten. Doch er wollte sich nicht rühren.
Er wollte gar nichts tun. Schlafen. Ich könnte schlafen. Ich
wache dann vielleicht nicht mehr auf, aber wäre das so
schlimm? Seine Augen wurden schwer, und eine angenehme
Verschwommenheit legte sich über seine Wahrnehmung. Er
setzte sich auf die Stufen. Ich bin so müde.
Als er in den Schlaf dämmerte, dachte er an Liliana. Er wusste
nicht, wo sie war oder was mit ihr geschah. Sie ist nicht hier.
Sie ist nicht an diesem Ort. Doch wenn er ehrlich war, hatte sie
ihn ohnehin nie gebraucht. „Traurig. Für eine Weile. Und
dann käme ich darüber hinweg.“ Das hatte sie damals in ihrem
Schloss gesagt, als sie seinen Tod mit dem eines Hündchens
verglichen hatte. Ein Hündchen. Würde mein Tod sie wirklich
nicht mehr berühren als der eines Hündchens? Das kann nicht
wahr sein. Ein Hündchen. Der Gedanke nagte an ihm.
Schlaf. Wie kann ich denn jetzt nur an Schlaf denken? Was
geschieht mit mir? Er wusste nicht, ob es nur an der
Erschöpfung lag oder ob ein bösartigerer Effekt am Werk
war. Ist das wichtig? Die Lösung ist die gleiche. Er stand
auf. Gehe weiter nach unten. Löse das Rätsel. Stirb nicht.
Besiege Emrakul. Als er weiter hinabging, dachte er an Liliana.

Liliana
Das erste Anzeichen von Schwierigkeiten war ein Nachlassen
ihrer Geschwindigkeit. Liliana hatte nie zuvor so viel Energie
kontrolliert, und mit jedem Atemzug hatte sie Strahl um Strahl
auf Emrakul abgefeuert. Atmen, feuern, atmen, feuern.
Und obwohl die Macht sie nicht im Stich ließ, so doch ihr
Körper. Sie zögerte einen Augenblick, um tief Luft zu holen,
und dies nutzte Emrakul, um aufzuwallen und ihren Leib und
ihre Tentakel schneller zu regenerieren, als Liliana es je für
möglich gehalten hatte. Eine Reihe dicker Tentakel hieb nach
ihr, nur um bei der Berührung durch ihre Magie zu verdorren
und sich aufzulösen. Weitere folgten jedoch rasch. Während
zuvor jeder Treffer Lilianas Emrakul zurückgetrieben hatte,
hatte sie nun Mühe, nicht selbst zurückweichen zu müssen.
Du bist sterblich. Du hast Grenzen. Das da nicht. Die Stimme
des Rabenmannes stach mit kaltem Flüstern in ihr
Hirn. Schaue dir dieses Gras und den Staub an, du Närrin. Sie
werden dein Friedhof sein.
Sie schrie vor Zorn, während sie weitere Strahlen abfeuerte.
Der Ausbruch hielt die Titanin vorerst auf Abstand.
Augenblicke später ebbte die Energie jedoch erneut ab. Liliana
schnappte nach Luft, und Emrakul kam wieder näher.
Ich werde nicht heute sterben, knurrte sie den Rabenmann,
den Schleier und jeden an, der ihr sonst noch lauschen
mochte. Und sich selbst. Emrakul und ihre Tentakel setzten
ihren gnadenlosen Vormarsch fort. Ich werde nicht heute
sterben.
Wenn du Glück hast, Liliana, ist dein Tod das Beste, was dir
heute widerfahren könnte. Du hast uns beide zum Untergang
verdammt. Der Rabenmann sprach ohne Verachtung, Hass
oder Furcht. Er klang ... resigniert. Das erste Mal, seit sie die
Wächter gerettet hatte, fürchtete sich Liliana.

Jace
Jace rechnete damit, dass eine weitere Wand durchsichtig
wurde, um ihm eine Szene aus Lilianas Verstand zu zeigen.
Womit er nicht gerechnet hatte, war, dass die Stufen an einer
Tür endeten.
Es war eine schwere Eichentür mit eisernen Beschlägen, aber
ohne Klinke oder Schlüsselloch. Nur Holz und Eisen, von dem
gleichen dicken Stein eingefasst wie der Rest der Treppe. Er
legte seine Hand an die Tür. Eine Stimme schrie – nein nein
nein nein nein –, und blanker Schrecken ergriff von seinem
Verstand Besitz. Doch die Stimme verklang und der Schrecken
wich. Jace schaute die Stufen hinauf. Die Schatten kamen
weder näher noch teilten sie sich, um den Weg zurück
freizugeben. Wenn er weitergehen wollte, dann durch diese
Tür. Er schob die Tür auf und trat über die Schwelle.
Der Raum besaß weder Form noch Farbe. Schwindel überkam
ihn, da sein Verstand Mühe hatte, seine Umgebung auch nur
ansatzweise zu begreifen. Jace spürte den heftigen Sog der
Ewigkeit, eine endlose Schleife, die sich zu dem Schrecken
auswuchs, niemals den Frieden der Auslöschung zu kennen,
um nur um nur um nur ... bis die Wirklichkeit zurückkehrte.
Das ihn umgebende Nichts wurde zu einem weiten, weißen
Feld.
Vor ihm befand sich ein Engel.
Er näherte sich ihm, und Jace bemerkte, dass der Raum um sie
beide herum langsam Gestalt annahm. Sie befanden sich an
einem echten Ort. Einem Raum. Einer Nachahmung jenes
Refugiums, in dem diese bizarre Reise begonnen hatte. Sein
Refugium. Der Engel war groß – größer als jeder Engel, den er
zuvor gesehen hatte. Selbst größer als Avacyn. Und seine
Schwingen waren gewaltig, mit dicken Muskelsträngen
versehen und dicht gefiedert. Sie falteten sich hinter ihm
beinahe in Form einer Pilzwolke ...
Jaces rasendes Herz ließ ihn in kalten Schweiß
ausbrechen. Nein o nein o nein ...
Das Gesicht des Engels war von einer Kapuze verborgen, doch
die beiden Schwerter, die er trug – eins in jeder Hand –, waren
deutlich zu erkennen. Der Saum seines Wamses wurde zu
langen Bändern – zehn, nein hundert –, und es schienen
immer mehr zu werden. Sie zuckten und wanden sich. Als
würden sie Jace bemerken, tasteten sie die Luft vor ihm ab wie
lebendige Geschöpfe. Wenn ich zu schreien anfange, weiß ich
nicht, ob ich je wieder aufhören kann. Also schreie ich besser
nicht. Ob Weinen hilft? Ich weine gern, wenn es hilft.
Schrein der vergessenen Götter | Bild von Daniel Ljunggren
Jace lachte vor Vergnügen und Furcht zugleich. Ich bin so froh,
dass ich mich witzig finde. Das Lachen durchbrach seine
Lähmung und setzte seinen Verstand wieder in Gang. Ich
kenne diesen Engel. Ich habe ihn schon einmal gesehen. Oder
zumindest Statuen von ihm – damals auf Zendikar. „Emeria?“,
keuchte er. Das Wort klang auf seinen Lippen fremd.
Sie blickte ihn an, doch er konnte ihr Gesicht unter der
Kapuze nicht erkennen. Jace betrachtete aufmerksam die
Bänder und die Schwerter, doch nichts davon schien ihn
angreifen zu wollen. Seine Zuversicht wuchs.
„Bist du ... Bist du Emeria? Bist du ... Emrakul?“
„Darf ich mich setzen?“ Es war eine weibliche Stimme. Leicht,
beinahe heiter. Jace hätte unter anderen Umständen vielleicht
sogar gesagt, dass dieses Wesen trällerte. Doch nicht jetzt. Jace
konnte keine Lippen unter der Kapuze sehen, die diese Laute
erzeugt hatten, doch die Stimme klang völlig
gewöhnlich. Zumindest irgendwie.
Jace war so damit beschäftigt, die Stimme auszudeuten, dass er
einen Augenblick brauchte, um zu begreifen, was sie eigentlich
gesagt hatte. „Du fragst mich?“ Von allen Überraschungen
dieses Tages wäre der Erhalt einer höflichen Nachfrage
eigentlich kaum als die bemerkenswerteste zu sehen
gewesen. Aber ehrlich gesagt stand sie auf dieser Liste
womöglich sogar an allererster Stelle.
„Dies ist schließlich dein Zuhause.“ Eine Pause. „Jace. Jace
Beleren.“ Als sie „Beleren“ sagte, tat sie es langsam, Silbe für
Silbe.
Ich habe jetzt sehr große Angst. Und ich bin auch sehr
neugierig. Was für ein sonderbarer Gegensatz.
„Ich bin hier nur eine Besucherin. Also: Darf ich?“ Sie wartete.
Um wie vieles unwirklicher wird dieser Tag denn noch? Er war
sicher, darauf nicht wirklich eine Antwort zu wollen. Denke
daran, was wichtig ist: Stirb nicht. Löse das Rätsel. Besiege
Emrakul. Sein Mantra. Er fügte einen weiteren Satz
hinzu. Lade Emrakul auf eine Tasse Tee ein. Er lächelte, und
das Lächeln erreichte sein Gesicht. „Bitte. Aber selbstredend.
Bitte setz dich.“ Jace winkte in Richtung des großen steinernen
Tisches, und Emeria – nein, ich weiß nicht, was das ist. Hör
auf so zu tun, als wüsstest du es – der Engel setzte sich.
Er steckte seine beiden Schwerter in Scheiden am Rücken. Als
seine Hände wieder auf dem Tisch lagen, hielten sie etwas
anderes: eine große Schriftrolle mit eisernen Beschlägen. So
eine Schriftrolle habe ich schon einmal gesehen. Wo? „Es
macht dir doch nichts aus, dass ich arbeite, während wir reden,
oder?“ Ihre trällernde Stimme klang, als käme sie von einem
Gildenmagier der Azorius, der um Rat zu einer Protokollfrage
bat.
Gib dich dieser Unwirklichkeit einfach hin. Kämpfe nicht
länger dagegen an. Schau, wohin das führt. „Natürlich nicht.
Nur zu. Ich möchte dich keineswegs von der Arbeit abhalten.“
Sie nickte und rollte die Schriftrolle auf. Eine unheimliche
Empfindung nagte an Jaces Hinterkopf. Wo habe ich diese
Schriftrolle gesehen? Doch es wollte ihm nicht einfallen. Von
irgendwoher erschien ein langer Griffel und sie begann, auf die
Schriftrolle zu schreiben.
Jace räusperte sich. „Nun, da wir ja, ähm ... reden wollen. Wer
genau bist du? Was ist das für ein Ort? Was geht hier vor?“ Jace
konnte nicht wählerisch sein, woher er Antworten bekam. Er
konnte seinem üblichen Instinkt, einfach Gedanken zu lesen,
nicht widerstehen – Unwissenheit ist so viel schlimmer als
Wahnsinn –, doch da war ... nichts. Nichts, woran er sich
orientieren konnte. Geheimnisse machen keinen Spaß, wenn
sie geheim bleiben. Er musste das also auf die ganz
gewöhnliche Art tun, auf die auch jeder andere zurückzugreifen
hatte. Durch Worte. Worte für eine Titanin der Eldrazi.
„Alles endet. Alles stirbt. Ganzheit liegt immer hinter uns. Die
Zeit weist nur in eine Richtung.“ Dies waren Echos von jenen
irren Äußerungen, die Nissa zuvor getätigt hatte, doch Jace
verstand sie ebenso wenig, als sie nun von dem Engel kamen.
Er blickte nicht auf, als er schrieb. Die Kapuze verdeckte,
womit auch immer diese absonderlichen Worte ausgesprochen
wurden.
„Bist du Emrakul?“ Jace wusste nicht, was er da genau riskierte,
und es begann auch, ihn zunehmend weniger zu
kümmern. Vorsicht ist etwas für Leute mit einem Ass im
Ärmel. „Was willst du?“
Sie hielt einen Augenblick inne und betrachtete die
Schriftrolle. „Das ist alles falsch. Ich bin unvollständig,
unerfüllt, unfertig. Da sollten Blüten sein, keine öde
Abweisung. Der Acker war nicht bereitet. Es ist nicht meine
Zeit. Noch nicht.“ Die Art, wie sie noch sagte, jagte Jace einen
Schauer über den Rücken. Sie nahm das Schreiben wieder auf
und strich einen langen Absatz getrockneter Tinte aus.
„Es reicht!“, rief Jace. „Du bist aus einem Grund hier! Du
könntest mich auf unzählige andere Weisen töten – mit deinen
Schwertern oder deinen Tentakeln –, aber du tust es nicht. Du
sitzt hier und redest Unsinn ... Warum? Ich verstehe nicht, was
du sagst, und ich verstehe nicht, was du willst. Hilf mir. Bitte.“
Als Jace sprach, verrauchte sein Zorn und wurde durch etwas
noch Nützlicheres ersetzt. Konzentration. Er spürte, wie sich
ein Schleier lüftete, der nur durch sein Weichen enthüllte, wie
viel er verborgen gehalten hatte.
„Spielst du Schach?“, fuhr die Stimme fort, als hätte Jace
ebenso viel Unsinn erzählt wie sie selbst. Jace war erneut
versucht, laut aufzuschreien, glaubte aber nicht, dass es viel
nützen würde. Und außerdem spielte er Schach. Und er war
ziemlich gut darin.
„Ja, das tue ich.“
„Würdest du eine Partie mit mir spielen?“ Sie stellte das
Schreiben ein und rollte die Schriftrolle zusammen.
„Ich bin nicht sicher, ob ich Zeit zum Spielen habe ...“
„Wenn du gewinnst, hört all dies auf. Ich werde dir alle
Antworten geben, die du verlangst.“ Sie legte die Rolle hinter
sich.
Jace witterte zwar eine Falle, doch er war wirklich gut im
Schach. „Und was, wenn du gewinnst?“
„Ich gewinne bereits, Jace Beleren. Lass uns eine Partie
spielen.“
„Oh, es gibt da ein Problem.“ Jace blickte sich um. In seiner
echten Wohnstatt auf Ravnica gab es ein Schachbrett – ein
sehr schönes, das ihm die Boros geschenkt hatten –, doch in
diesem seltsamen Scheinbild konnte er keines sehen. „Ich, äh,
habe gar kein ...“
Der Engel machte eine Geste und ein Schachspiel erschien vor
ihnen dort auf dem Tisch, wo gerade noch die Schriftrolle
gelegen hatte. Das Brett und die Figuren waren aus schwerem
Stein und voller feiner Details. Jace hob eine Augenbraue,
doch falls der Engel dies bemerkte, ließ er sich nichts davon
anmerken. Ich schätze, solange sie nur Schachbretter erschafft,
ist alles gut. „Sollen wir spielen?“ Sie deutete auf das Brett. Jace
war weiß und machte den ersten Zug. Großzügig von ihr.
„Du wirst schneller ziehen müssen, Jace. Die Zeit
läuft.“ Schneller? Er zog beinahe sofort. Sie schien keine
besonders geübte Spielerin zu sein, und Jace begann, ein
mögliches Schachmatt in sechs oder sieben Zügen zu erkennen.
„Die Verständigung zwischen uns ist schwierig. Ich kann nicht
mit dir sprechen. Ich weiß nicht einmal, ob es dich wirklich
gibt. Doch du – dein Hirn – ist sehr ... anpassungsfähig.“ Dort
– ein Fehler. Noch fünf Züge. Siegessicher hielt er inne. Sie
sagte etwas, was er tatsächlich verstehen konnte.
„So, was ist das alles hier denn nun?“ Er deutete auf ihre
Umgebung. „Was bist du? Wie lässt
mein anpassungsfähiges Hirn das hier geschehen?“
„Diese Antwort kennst du besser als ich.“ Sie legte die Hand
auf eine Figur und zögerte. „Oder zumindest ein Teil von dir.
Was macht dein Kopfschmerz?“
Woher weiß sie davon? In Wahrheit war nur ein leichtes,
dumpfes Pochen geblieben – sehr wohl noch zu spüren, aber
nicht störend. „Es ... Es geht schon. Du bist also nicht Emeria?
Bist du überhaupt real?“
„Ich wurde vor langer Zeit personifiziert. Kräften kann man
nicht mit Vernunft beikommen. In sich ausbreitenden Wellen
existiert keine Handlungsfähigkeit. Wenn man den leichten
Weg wählen will, um mit dem zu ringen, was man nicht
wahrnimmt oder auch nur begreift, wer bin dann ich, mich
dem entgegenzustellen? Niemand. Du. Vielleicht.“
Sein Kopfschmerz wurde stärker. Jace und der ... was auch
immer dieses Geschöpf war tauschten einige weitere Züge aus.
Das Schachmatt war nur noch einen Zug entfernt. Je mehr Jace
darüber nachdachte, desto mehr schien all dies auf bizarre
Weise Sinn zu ergeben. Das hier war nicht Emeria. Das hier
war nicht Emrakul. Das hier war der Versuch seines Verstands,
dem Drängen und den Emanationen Emrakuls Sinn zu
verleihen, die er in sich verspürte. Er musste sie personifizieren,
um überhaupt die Chance dazu zu haben, sich irgendeinen
Reim auf sie zu machen. An diese Personifizierung zu glauben,
hieß allerdings, den Tod zu riskieren. Oder Schlimmeres. Ein
Schwindel erfasste ihn. Auf ewig und ewig und ewig und
emrak...
Genug. Er nahm seine Dame und bewegte sie in Position.
„Schachmatt.“ Er lächelte. Er war nicht sicher, was es
bedeutete, die Partie gewonnen zu haben, doch es fühlte sich
gut an, zu gewinnen ... wenigstens etwas. Sie hielt inne und
betrachtete das Brett.
„So ist es.“ Sie griff nach ihrer Kapuze und schob sie zurück.
Instinktiv zuckte Jace zusammen, da er plötzlich sicher war,
dass er nicht wissen wollte, wie sie aussah, aber ... sie sah völlig
gewöhnlich aus. Wie ein Engel. Wie die Statue, die er auf
Zendikar gesehen hatte. Er tat einen langen, tiefen Atemzug.
Einer der Bauern neben seiner Dame begann zu zucken und zu
zerfließen. Hände und ein kleines Steinschwert erschienen an
der Figur, die sich umdrehte, um nach der Dame zu stechen.
Diese kreischte auf. Blut strömte aus ihrer Seite. Sie fiel zu
Boden, blutend und zitternd. Sterbend. Auf dem Rest des
Brettes brach Tumult aus, als sich weitere von Jaces Figuren
verwandelten. Mutierten. Sie griffen einander gnadenlos an
und töteten einander, bis die wenigen verbleibenden Figuren
sich der anderen Seite des Brettes zuwandten. Sie trugen nun
alle Waffen, von denen das Blut tropfte, und sie begannen,
gemächlich auf Jaces König zuzumarschieren, der nun Jace
selbst ähnlich sah.
Jace starrte das Chaos mit offenem Mund an. „Wa... ab ... da ...
Das ist nicht fair! Du hast gemogelt! Das kannst du nicht tun!
Das sind meine Figuren!“
Evakuierung | Bild von Franz Vohwinkel
Das Gesicht des Engels begann zu schmelzen. Fleisch fiel von
ihm ab, als der Rest von ihm – Schwingen, Schwerter, Bänder,
alles – sich nach und nach in purpurnen Rauch verwandelte.
Die Stimme blieb jedoch.
„Es sind alles meine Figuren, Jace Beleren. Das waren sie schon
immer. Ich habe nur keine Lust mehr, mit ihnen zu spielen.“
Draußen gab es eine gewaltige, krachende Explosion, die von
einem lauten Knirschen begleitet wurde. Die Decke wurde
fortgerissen und enthüllte den nun vertrauten Anblick
Emrakuls – jener gewaltigen Pilzwolke mit ihren Hunderten
von Tentakeln und zuckenden Blitzen, die den Raum Stück für
Stück zerschlugen.
Die Stimme fuhr fort, leicht und luftig wie eine Brise. „Es
kommt, Jace. Ich komme. Bleibe in Bewegung. Finde deine
Antworten. Aber tu es schnell. Die Zeit weist nur in eine
Richtung, und das tut sie voller Hunger.“
Am Ende des Raumes erschien eine Tür und dahinter ein
helles blaues Leuchten. Jace warf einen weiteren Blick auf
Emrakul über sich und floh.

Liliana
Liliana tat alles, um am Leben zu bleiben.
Sie hatte einen Teil ihrer Macht dazu verwendet, die
Auswirkungen des Kettenschleiers zu dämpfen. Sie hielt ihre
Haut vom Zerreißen und ihre Adern vom Bluten ab. Als sie
den Kettenschleier vollständig übernommen hatte, hatte sie
geglaubt, sein Geheimnis gelüftet zu haben.
Sie hatte sich geirrt.
Doch so schmerzhaft das Aufreißen ihrer Haut und ihrer
Adern auch war, so war es doch besser als die Vernichtung
durch Emrakul. Sie nutzte noch immer ungeheure Kräfte, doch
diese dienten nun alle nur noch einem einzigen Zweck: nur
noch einen Augenblick mehr am Leben zu bleiben.
Doch ihr gingen die Augenblicke aus. Als Emrakul ob ihrer
magischen Attacken in alle Richtungen um sich schlug, wies sie
ihre Untoten an, anzugreifen. Sie bissen, griffen, hieben nach
Emrakul – wie Fliegen nach einem Sturm und mit dem
gleichen Ergebnis. Unter Emrakuls Angriff wurden Hunderte
von Untoten vernichtet und Hunderte weitere lösten sich auf,
als Liliana instinktiv Macht von ihren Wiederbelebungen
abzog, um noch einen Augenblick mehr zu überleben.
Lilianas Elite | Bild von Deruchenko Alexander
Wenn es einen Trost in ihrer drohenden Niederlage gab, dann
den, dass in ihrem Kopf Stille herrschte. Keine Stimme des
Rabenmannes, kein Flüstern des Kettenschleiers. Selbst wenn
ihre Wirklichkeit derzeit aus nichts als Blut und Schmerz und
einem verzweifelten Überlebenskampf bestand, gehörte ihr
Verstand doch ihr und nur ihr allein. Das war ein Trost, wenn
sie ihn denn als solchen begreifen wollte.
Ein großes Tentakel so dick wie ihr Oberkörper brach durch
ihre Abwehr und schlang sich um ihre Hüfte. Sie schrie
wutentbrannt auf und durchtrennte es. Das verdorrte Fleisch
fiel einfach von ihr ab. Sie hustete Blut und taumelte, als
weitere Tentakel sich ihr näherten.
Sie würde hier sterben.
Sie blickte zu den anderen Planeswalkern, deren Körper noch
immer auf der freien Fläche lagen, die ihre Zombies zu ihrem
Schutz geschaffen hatten. Nissa schrie nicht mehr. Sie war
bewusstlos wie die anderen. Nur Jace stand noch, und der
blaue Schimmer beschützte ihn vor ... etwas. Doch weder
bewegte er sich noch sprach er.
„Jace!“ Ihr Schrei rief keinerlei Reaktion hervor. Keinerlei
Zeichen des Erkennens.
„Jace, du Bastard! Ich hoffe, du machst etwas Nützliches!“ Das
war alles, wozu sie Zeit hatte, bevor Emrakul wieder
herandrängte. Jeder Augenblick zählte. Das wurde zu ihrem
Mantra. Nur noch einen Augenblick mehr. Nur noch einen
Augenblick mehr. Nur noch ...
Jace
Jace warf sich durch das offene Portal und suchte Zuflucht vor
Emrakuls Angriff.
Er befand sich in einem kleinen, dunklen Raum, einer Kopie
einem seiner persönlichsten Rückzugsorte auf Ravnica. Und
dort vor ihm stand er selbst.
Jace, Enträtsler der Geheimnisse | Bild von Tyler Jacobson
Nach all dem anderen Wahnsinn, den Jace seit seinem
Erwachen im Turm erlebt hatte, war es eindeutig eine der
gutartigeren Verwirrungen, nun sich selbst gegenüberzustehen.
„Oh, das wird sicher spannend.“
Das Ebenbild zeigte keinerlei Regung. Nicht einmal ein
Lächeln. „Du bist hierhergelangt. Das wurde auch Zeit. Aber
ich weiß nicht, ob du ich bist.“ Er zog kurz eine nachdenkliche
Miene. „Löse dieses Rätsel.“
„Was? Ich bin fertig mit Rätseln. Ich brauche Antworten. Was
–“
„Erst ein Rätsel“, sagte das Ebenbild.
„Du machst Witze. Ich werde hier nicht herumstehen und
Rätsel lösen, die mir irgendeine tyrannische Form meiner
Selbst aufgibt. Oder schlimmer noch: ein bösartiger
Hochstapler, der nur meine Zeit verschwenden will.“ Jace
beendete seine Tirade mit einem wütenden Schrei.
Das Ebenbild stand mit einem selbstzufriedenen Lächeln und
einer hochgezogenen Augenbraue da. Bin ich wirklich so
nervenaufreibend? Das bin ich wohl. Daran sollte ich arbeiten.
„Es ist nur nervenaufreibend, wenn du weißt, dass ich recht
habe. Ich muss wissen, dass du ich bist.“ Jace fragte sich, ob es
bleibende Schäden hinterließ, wenn man sich selbst ins
Gesicht boxte. Wahrscheinlich.
„Woher weiß ich, dass du ich bist?“ Das war nicht die klügste
Erwiderung, doch mehr fiel ihm im Augenblick nicht ein. Sein
Hirn hatte gerade eine Menge zu verarbeiten.
„Weil ich derjenige mit den Antworten bin. Du verschwendest
Zeit, die wir nicht haben.“ Das Ebenbild wippte auf eine Weise
mit dem Fuß, die Jace nur zu gut wiedererkannte. Ich glaube
nicht, dass ich jemals wieder mit einem anderen Menschen zu
tun haben kann. Ich bin zu nervig, um sich mit mir abzugeben.
Er ließ die Schultern sinken und winkte ab. „Na schön, stell
dein Rätsel.“
„Nicht größer als ein Kiesel, aber mein Lid bedeckt die ganze
Welt. Was bin ich?“
„Das? Das ist dein Rätsel? Damit willst du sichergehen, dass ich
ich bin? Du musst ein Hochstapler sein, denn ich weigere mich
zu glauben, dass ich so dumm bin.“
„Du hast die Frage noch nicht beantwortet. Diese
Unterhaltung wird schnell zu Ende sein, wenn du es nicht
tust.“ Die Augen des Ebenbildes leuchteten blau. Jace war auf
perverse Weise froh, dass es bedrohlich wirkte. Es ist schön,
wenn man weiß, dass man ab und an einen bedrohlichen
Eindruck machen kann.
„Pah. Ich würde meinen, mir hätte etwas echt Schwieriges
einfallen sollen. Augen. Die Antwort lautet Augen.“ Jace starrte
sein Ebenbild an und blinzelte dann mehrere Male auffällig,
um seinen Punkt zu verdeutlichen. „Ich sehe die ganze Welt.
Und jetzt nicht. Ich sehe was. Ich sehe nichts. Wie kann dir
dieses Rätsel irgendetwas genutzt haben?“ Das Ebenbild
entspannte sich und ließ den Zauber fallen, den es offenkundig
vorbereitet hatte.
Und dann verstand Jace. Der Sinn des Rätsels bestand nicht
darin, zu überprüfen, ob er es lösen könnte. Vielmehr ging es
darum, wie abschätzig und ungläubig er sich angesichts eines
derart einfachen Rätsels zeigen würde. Er nickte. Also schön,
das bin also ich. Er wusste, dass das Ebenbild das Gleiche
dachte.
„Fein. Ich bin ich. Ich meine, ich bin ... Ja, wir sind wir.
Wahrscheinlich. Du hast mir Antworten versprochen.“ Jace
versuchte, die Gedanken seines Ebenbildes zu lesen, doch
nichts geschah.
„So funktioniert das hier nicht. Hier unterhalten wir uns.“ Ein
freches Lächeln.
„Na gut.“ Jace hatte Mühe, nicht mit den Zähnen zu knirschen.
„Unterhalten wir uns. Jetzt sofort.“
Das Ebenbild grübelte kurz nach. „Ich weiß noch immer nicht
alles, was du nicht weißt. Frag mich etwas.“
„Wo sind wir?“ Jace war sich nicht sicher, ob das die
dringlichste Frage war, aber er war die letzte Stunde in diesem
verfluchten Turm herumgelaufen und wollte wirklich wissen,
wo er sich befand.
„Im Ernst? Das ist der Teil, den du dir noch nicht
zusammengereimt hast?“ Du überheblicher ... Jaces Zorn wurde
nicht dadurch gemildert, dass die Überheblichkeit von ihm
selbst kam. Und in diesem Aufwallen von Ärger kam die
Erkenntnis. Jace erinnerte sich.
Daran, wie Emrakul sich erhob, knospte, erblühte. Liliana
hatte ihnen durch ihre Untoten eine kurzzeitige Pause von
Emrakuls Dienern verschafft, doch keiner von ihnen war
darauf vorbereitet gewesen, dass sich Emrakul selbst erhob. Die
körperlichen Anzeichen waren offensichtlich, doch die echte
Gefahr lag in dem geistigen Angriff. Ein Druck – ein Schmerz
wie keiner, den er je zuvor gespürt hatte. Tamiyos Windspiel
hatte sich augenblicklich aufgelöst. Es war keine Zeit für einen
Plan oder auch nur einen Gedanken gewesen.
Der Zauber, den er gewirkt hatte, war reflexartig erfolgt. Er
hatte ihn schon vor sehr langer Zeit vorbereitet, um seinen
Verstand vor einer drohenden Auflösung zu schützen.
Ich bin nicht in einem Turm. Ich bin der Turm. Alles wurde
ihm plötzlich völlig klar. Die Szenen mit seinen Freunden, die
Unterhaltung mit Emeria, selbst dieses Gespräch hier fanden
in seinem Kopf statt und erhielten Form und Gestalt durch
seinen Zauber. Willkommen im Anwesen von Jace. Ich hoffe,
ihr habt euren Aufenthalt genossen. Den Szenen nach zu
urteilen, die er in den Gedanken seiner Freunde gesehen hatte,
war er jedoch recht überzeugt davon, dass nicht einer von
ihnen Gefallen daran gefunden hatte. Doch die Alternative war
der Untergang oder Schlimmeres. Auf ewig und ewig und ewig
und emra...
Er schüttelte hastig den Kopf, um den Singsang loszuwerden,
und er bemerkte, dass sein Ebenbild es ihm gleichtat. Der
Druck durch Emrakul verstärkte sich. Jace blickte auf und sah
die Decke des Raumes beben. Es greift an. Es kommt.
„Und du? Ich?“
„Innistrad war ein seltsamer Ort. Ein gefährlicher Ort. Schon
gleich nach meiner Ankunft wusste ich, dass etwas hier nicht
stimmte. Ich habe einige ... Sicherheitsvorkehrungen getroffen,
falls irgendeine Katastrophe eintritt. Rätsel in Rätseln, Schatten
in Schatten. Emrakul ist das Furchteinflößendste, was ich
– wir – jemals gesehen haben. Also habe ich einen
Ausweichplan erstellt, um mich von mir abzuspalten. Um
herauszufinden, was wirklich vor sich geht und es aufhalten zu
können. Um alles wieder instand zu setzen. Du weißt schon.“
Und nun wusste er es.
Teile des Puzzles | Bild von Magali Villeneuve
Er war so gut darin, sich selbst abzuwandeln. Er schauderte
und fragte sich, welches Ich der echte Jace war.
Der bessere Jace. Unsinn. Das bin natürlich ich.
„He!“, protestierte das Ebenbild. „Nicht so voreilig! Du bist nur
der Zweitklügste in diesem Raum.“
„Genug.“ Jaces Gedanken begannen, auf eine vertraute und
tröstliche Art und Weise zu rasen. „Der Plan. Ich habe dich
hoffentlich nicht nur dazu erschaffen, mir ein blödes Rätsel zu
stellen. Wir wissen nicht, wie wir Emrakul besiegen können.“
„Sprich mit Tamiyo. Sie war gerade dabei, uns etwas
Interessantes zu sagen, als Emrakul angriff.“
„Das ist dein nützlicher Hinweis? Sprich mit Tamiyo?“
„Nein, mein nützlicher Hinweis ist, endlich herauszufinden,
wie wir alle weiter durch die Gegend laufen, miteinander
sprechen und klar denken können, während das geistige
Gegenstück einer Rakdos-Golgari-Mörderbande uns ohne
jeden Unterlass attackiert. Das ist tatsächlich ziemlich knifflig.“
„Oh. Na ja, danke, Ich. Gut gemacht.“
„Alle sind in ziemlich schlechtem Zustand. Aber zumindest
können wir zusammenhängend denken. Es ... Es sieht nicht gut
aus da draußen. Und es gibt noch ein Problem.“
„Was ...“ Noch während er die Frage stellte, kannte er bereits
die Antwort. Die beiden Teile von Jace verschmolzen und
wurden zu einem. Es gab Worte, doch die Worte wurden von
ihnen beiden gleichzeitig ausgesprochen.
„Liliana stirbt gleich.“ Jace hob den Zauber auf. Der Turm
verblasste, um der Wirklichkeit Platz zu machen.

Jace
Er kehrte ins Chaos zurück. Liliana lag vor ihm am Boden,
bewusstlos und aus zahlreichen Wunden blutend. Über ihnen
schwebte Emrakul in ihrer vollen Größe. Um die Mitte ihres
Körpers leuchtete hell ein lavendelfarbener Ring – das Auge
ihres Sturms. Ihre Tentakel, breit und dick, verwüsteten das,
was von Thraben noch übrig war.
Emrakul, das prophezeite Ende | Bild von Jaime Jones
Von Lilianas Untoten war nur noch ein Bruchteil übrig. Die
Menschen und Bestien, die von Emrakuls Wahnsinn infiziert
waren, hatten sich wieder zusammengerottet und drohten,
durch die Reihen der Untotenarmee zu brechen. Es würde
nicht viel nützen, Emrakuls geistigen Ansturm
zurückzuschlagen, wenn sie anschließend von ihren Dienern in
Stücke gerissen wurden.
Die anderen Planeswalker, die einen Wimpernschlag nach Jace
das Bewusstsein wiedererlangt hatten, taumelten
orientierungslos umher. Jace lenkte etwas von seiner
Konzentration auf seine Freunde und wischte damit die
Spinnenweben von Emrakuls Angriff fort. Chandra, Gideon –
Lilianas Untote brauchen eure Hilfe. Wir können Emrakuls
Diener nicht durchlassen. Gideon bewegte sich als Erster, mit
der entschlossenen Zügigkeit eines erfahrenen Kriegers. Das
Bild von Erebos‘ Peitsche blitzte in Jaces Bewusstsein auf, doch
er schüttelte es ab.
Chandra blieb noch stehen. Ich kann ... Ich kann noch immer
versuchen, sie zu verbrennen. Ich schaffe das schon. Ihr Zögern
verschwand und wurde durch jene natürliche Zuversicht
ersetzt, die Jace gleichermaßen anziehend und verblüffend
fand. Sie spielt ihre Zuversicht nicht. Die Zuversicht kommt
einfach zu ihr. Merkwürdig, dachte er bei sich. Jace zögerte. Es
schien nicht richtig, Emrakul zu verbrennen. Nicht einmal
möglich. Doch wie konnte er sicher sein, dass dies alles nicht
nur ein weiteres Spiel war, das Emrakul mit ihm – mit ihnen
allen – spielte? Emrakul war in seinem Verstand gewesen. Er
hatte ihre Macht gespürt.
Er teilte seine Gedanken mit der gesamten Gruppe. Sein
Schutzzauber hielt ihre Bewusstseine miteinander
verknüpft. Nein, Chandra. Emrakul ist zu groß. Zu mächtig.
Wir können sie nicht auf diese Weise besiegen. Ich bin mir
nicht einmal sicher, ob sie überhaupt vernichtet werden kann.
Jace hat recht. Der Versuch, Emrakul zu verbrennen, ist, als
würde man eine Fackel in den Ozean werfen. Das wird nicht
klappen. Selbst wenn alle Leylinien verfügbar wären. Sie ist zu
... unermesslich groß. Nissas Stimme klang seltsam und weit
entfernt. Sie verflocht Ranken, Knospen und Blätter mit
Verbänden, die sie auf Lilianas Wunden legte, um sie am
Leben zu halten. Emrakul war da, als ich erwachte. Im
Augenblick meines Funkens. Vielleicht ist es nur passend, dass
sie auch dem Ende beiwohnt.
Oh, schön. Du wirst sicher nicht auf viele Feiern
eingeladen. Chandras schelmische Stimme strafte ihre Worte
Lügen. Genug der düsteren Worte. Sprechen wir lieber
darüber, wie wir das hier gewinnen können. Ich werde ein paar
Sachen verbrennen. Chandra rannte zum äußeren Ring aus
Zombies, wo ihre Flammen wahnsinnige Kultisten
zurückschlugen.
Jace. Denke daran, was Avacyn gesagt hat. Tamiyos Stimme,
eine leichte Brise an einem sonnenbeschienenen Ufer.
Ein Echo erklang in seinem Kopf – ein wahnsinniger Engel,
der seine letzten Worte an seinen Schöpfer richtete. Was nicht
vernichtet werden kann, muss gebannt werden.
Jace, das ist die Antwort. Das ist es, was wir tun müssen. Wir
können Emrakul nicht vernichten. Wir müssen sie
bannen. Tamiyos Stimme war drängend und klar. Die Wächter
hatten auf Zendikar vor dem gleichen Dilemma gestanden und
sich für die Vernichtung entschieden. Doch hier auf Innistrad
war das undenkbar. Emrakul war mächtiger als sie. Die einzige
Vernichtung, die hier überhaupt infrage kam, war ihre eigene –
zusammen mit allen anderen Bewohnern Innistrads.
Wie? Sie zu bannen, ist vielleicht ebenso wenig möglich, wie sie
zu vernichten. Welcher Kerker könnte sie schon halten?
Der gleiche Kerker, dem alle Schrecken Innistrads für
Hunderte von Jahren nicht entfliehen konnten.
Der Höllenkerker? Jace war verwirrt. Wurde der nicht zerstört?
Nicht der Höllenkerker, erwiderte Tamiyo. Das, woher der
Höllenkerker stammt. Der Mond. Ein silberner Mond. Ich
habe einen Bannzauber. Einen mächtigen. Ich kann ihn auf
den Mond einstimmen. Doch er muss auch mit Emrakul
verbunden sein ...
Jaces Gedanken überschlugen sich schier. Das konnten sie
schaffen. Jace war zuversichtlich, dass er Tamiyos Zauber an
Emrakul binden konnte. Doch sie würden Macht brauchen,
die den Zauber speiste. Nissa ...
Nissa hatte geschwiegen und weiterhin ihr Mana in ihre
Wundumschläge für Liliana geleitet. Liliana atmete
gleichmäßig, war aber noch bewusstlos. Jace spürte eine warme
Welle der Dankbarkeit für Nissa, doch nun musste er noch
mehr von ihr verlangen. Weitaus mehr ... Kannst du den
Zauber mit Macht speisen?
Nissas Stimme war kühl und ruhig. Nein. Hier gibt es nur
wenige Leylinien, die ich berühren kann. So wenige, die ich
berühren will. Jace zögerte. Er war unschlüssig, was er als
Nächstes sagen oder wie er ihr helfen konnte. Doch ich
schulde dir etwas, Jace Beleren. Ich werde es versuchen.
Du schuldest mir etwas?
Mein Verstand gehörte nicht mir. Ich war in einer Dunkelheit
gefangen, die durch ihren Aufstieg erschaffen wurde. Ich wurde
viel zu leicht von ihr verschlungen. Das war nicht ... angenehm.
Du hast mich von diesem Schrecken befreit. Du hast die Gabe,
schwierige Dinge sehr einfach aussehen zu lassen. Ich werde
tun, was ich kann.
Jace geriet ins Stammeln. Oh, also ... Danke. Das war nicht
wirklich ich. Ich meine, ich habe den Zauber gewirkt, aber ich
habe damals gar nicht richtig nachgedacht und habe es
vermutlich sogar ein bisschen schlimmer gemacht, weil ich
nicht ...
Ein einfaches Danke reicht schon, Jace. Du hast außerdem
auch die Gabe, sehr einfache Dinge sehr schwierig aussehen zu
lassen. Ich bin bereit.
Jace wusste keine Antwort, also schwieg er. Tamiyo, bist du
bereit?
Tamiyo hatte eine Schriftrolle hervorgezogen. Eine weitere
Erinnerung blitzte in Jaces Verstand auf. Der Engel holte eine
lange Schriftrolle hervor. Eine Schriftrolle mit eisernen
Beschlägen. Dort hatte er Tamiyos Schriftrolle gesehen – in
seiner geistigen Unterhaltung mit Emeria. Doch die
Schriftrolle, die Tamiyo in der Hand hielt, hatte keine eisernen
Beschläge.
Jace hatte keine Zeit mehr, über dieses Rätsel nachzudenken.
Die freie Fläche um sie herum wurde immer kleiner. Gideon
und Chandra hielten Emrakuls Diener auf, doch sie konnten
nicht überall gleichzeitig sein, und die Untoten waren kurz
davor, überrannt zu werden. Es war Zeit.
Ich bin bereit, bestätigte Tamiyo. Sie begann, ihre Schriftrolle
zu lesen. Jace konnte sich nicht auf die Worte konzentrieren.
Er war zu sehr damit beschäftigt, Tamiyos Zauber mit Hilfe des
Wissens, das er Ugin und seinen eigenen Veränderungen am
Polyedernetzwerk auf Zendikar verdankte, an Emrakul zu
binden. Eine Glyphe blitzte auf dem Mond auf – helle, scharfe
Linien auf dem silbrigen Spiegel. Er musste diese Glyphe auf
Emrakul – auf Emrakuls Präsenz – anbringen.
Gefangen im Mond | Bild von Ryan Alexander Lee
Doch der Zauber verlangte nach Macht. Nach wahren
Strömen, Fluten von Macht. Nissa stemmte sich mit grün
leuchtenden Augen gegen die Erde, während sie jene
verderbten Manafragmente, die auf Innistrad noch übrig
waren, zu etwas verwob, was Jace verwenden konnte. Jace
spürte, wie sie die Leylinien leer saugte, um nach jedem letzten
Rest an Energie zu suchen. Es war nicht genug. Es würde nicht
genug sein. Nissa fiel zu Boden, die Arme weit von sich
gestreckt.
Sie würden den Zauber verlieren.
Während Jace sich mühte, den Zauber aufrechtzuerhalten,
brach seine geistige Verbindung zu Tamiyo ab. Wo sie in
seinem Kopf gewesen war, war nun nur noch eine Wolke – ein
dunkler, grauer Nebel, den er nicht durchdringen konnte.
Tamiyo zog eine weitere Schriftrolle hervor – eine lange
Schriftrolle mit eisernen Beschlägen – und begann, einen
zweiten Zauber zu lesen.
Kraft floss in Jace hinein. Er befand sich in einem breiten
Strom aus Mana – mehr Magie, mehr Kraft, als er jemals zuvor
gespürt hatte. Es war wundervoll. Er nahm die Magie, um sie
zu formen, und jeder Punkt der Glyphe verband sich mit
einem Knoten der Macht an Emrakul, die Jace aus dem
Stegreif erschuf. Jace entfesselte die volle Wirkung des Zaubers.
Licht brach aus dem Mond heraus.
Ein kalter, silberner Strahl traf Emrakul von oben.
Er hüllte die Kreatur ein ... und die Kreatur streckte sich. Hin
zum Licht und zum Mond.
Die Verzerrung war körperlich unmöglich. Vor Jaces Augen
wand sich Emrakuls Gestalt durch das Licht zum Mond hin.
Sie streckte sich, streckte sich weiter, um dann ...
... zu reißen.
Emrakul fiel in sich zusammen. Sie zerbröckelte wie ein dünnes
Pergament, auf dem feine Glassplitter verstreut waren, und
verdichtete sich zugleich zu einem Nichts, wie es für eine
Kreatur von ihrer Größe völlig unmöglich erschien. Doch sie
tat es.
Das Licht verlosch. Emrakul war fort. Sie hatten gesiegt.
Auf dem silbernen Antlitz des Mondes leuchteten die
dreieckigen Formen der Glyphe. Verbrannt. Vernarbt.
Versiegelt.
Einen Augenblick lang war das einzige Geräusch das Rascheln
trockenen Laubs im Wind. Neben ihm fiel Tamiyo auf die
Knie und übergab sich.

Liliana
Sie war noch am Leben.
Sie fühlte sich überglücklich. Sie hatte schon viele Male zuvor
echte Freude erfahren. An jenem Tag, als sie ihre Jugend
zurückerhalten hatte. Als sie die Dämonenfürsten Kothoped
und Griselbrand getötet und ihren verzweifelten Schreien
gelauscht hatte. Jeder dieser Augenblicke hatte sich wie ein
Betrug angefühlt – die beste Art von Betrug, bei der man
ungeschoren davonkam und am Ende auch noch den Sieg für
sich verbuchte.
Doch dieser Moment war noch süßer. Vielleicht deshalb, weil
sie wahrhaft gewusst hatte, dass sie sterben würde. Vielleicht
deshalb, weil sie sich aus ihrem Stolz und ihrer Gier nach
Kontrolle heraus Emrakul derart übereilt entgegengestellt hatte
und doch niemand von ihnen jetzt noch am Leben wäre, hätte
sie es nicht getan. Vielleicht deshalb, weil es keine Emrakul
mehr gab. Ihr Makel – ihr Geschmack – war von Innistrad
verschwunden, und alles war besser durch ihre Abwesenheit.
Der bloße Gedanke an Emrakul ließ Liliana erschaudern. Sie
war dem Tod so nahe gewesen. Oder Schlimmerem. Sie starrte
den Mond an. Mögest du für immer darin verfaulen. Das hast
du davon, dich Liliana Vess in den Weg zu stellen.
Die Planeswalker hatten sich am Ende eines sehr langen Tages
wieder zusammengefunden. Nachdem der Kampf gegen
Emrakul gewonnen war, mussten noch immer Feuer gelöscht,
Augen geschlossen, Trost gespendet und Wunden geheilt
werden ... oder auch nicht, wenn der angerichtete Schaden zu
groß war. Liliana kümmerte das wenig. Jedes Mal, wenn sie die
Grenzen des Kettenschleiers auslotete, fühlte sie sich danach
leer, als würde ein Teil von ihr fehlen. Es war nun schon so
viele Male geschehen, dass sie sich nicht mehr sicher war,
überhaupt noch erkennen zu können, was da fehlte.
Es spielte auch gar keine Rolle. Sie hatte ihr Soll an guten
Taten nun für eine ganze Weile erfüllt. Niemand von euch
wäre noch am Leben, wäre ich nicht gewesen. Ihr habt Glück,
dass ich keine Entlohnung dafür verlange, diese Welt gerettet
zu haben. Nun, sie würde eine Entlohnung dafür einfordern,
doch nicht jetzt und nicht von irgendjemandem auf Innistrad.
Es war erstaunlich, wozu vermeintliche Verpflichtungen und
eingebildete Treue die Menschen bringen konnten. Man
brauchte nur die Wächter als Beispiel zu nehmen. Sie
schuldeten einander nichts. Buchstäblich nichts. Und dennoch
standen sie hier, kämpften füreinander und waren willens,
füreinander zu sterben. Liliana war an die Auswirkungen
solcher Beziehungen gewöhnt und sogar von ihnen abhängig –
solange es dabei um ihre Untoten ging. Das war ein sehr
verlässliches Machtgefüge. Doch Innistrad hatte ihr die
Grenzen dieses Ansatzes aufgezeigt. Untote gaben gute Diener
ab, doch es gab Aufgaben, die sie nicht erfüllen konnten. Und
es war wirklich ganz wunderbar, auf eigene Faust zu kämpfen ...
Zumindest solange, bis es das nicht mehr war. Wenn man
nicht auf das Unwahrscheinliche vorbereitet war und niemand
da war, der einen vor seinem vorzeitigen Ende retten konnte.
Vor einiger Zeit hatte sie darüber nachgedacht, sich jene
Gefühle zunutze zu machen, die Jace für sie hegte. Oder gehegt
hatte, wie sie zugeben musste. Er ist nur ein Junge. Ein Junge,
und ich sollte es besser wissen. Jace hatte sich ungeachtet seines
jüngsten Erfolges als sehr zuverlässig in seiner Unzuverlässigkeit
erwiesen. Was hast du mit deinem Zauber gemacht, während
ich dich am Leben hielt? Hast du versucht, Emrakul zu Tode zu
denken? Obwohl sie zugeben musste, dass das, was er getan
hatte, tatsächlich geklappt hatte, verbesserte es dennoch nicht
unbedingt ihre Meinung über ihn. Ein Junge. Ich sollte mir dir
fertig sein.
Doch hier ergab sich nun eine Gelegenheit, die weit über Jace
und seine Beschränkungen hinausging. Hier war eine
ganze Gruppe. Eine Gruppe von Freunden. Heute hatte sie
etwas erkannt: die Macht der Freundschaft. Richtig eingesetzt
waren Freunde wie bessere Zombies. Sie halfen und retteten
einem das Leben, weil sie es wollten, und nicht, weil sie es
mussten.
Wie viel mehr konnte sie mit solch mächtigen Freunden
erreichen? Wie viel mehr konnte sie erobern? Wie viel mehr
konnte sie an sich reißen? Der Gedanke brachte sie zum
Lächeln. Sie würden zwar ihren Befehlen nicht gehorchen, aber
spielte das eine Rolle? Jace war im Vergleich zu ihr nicht das
einzige Kind. Sie alle waren Kinder. Niemand unter ihnen
hatte ihre jahrhundertelange Erfahrung, niemand unter ihnen
hatte von jener Macht gekostet, von der sie gekostet hatte –
weder zuvor irgendwann noch jetzt –, und niemand unter
ihnen war so zielstrebig und ruchlos wie sie.
Sie wusste nicht, wo der Rabenmann war. Weder in ihrem
Kopf noch außerhalb davon gab es irgendein Zeichen von ihm.
Der Kettenschleier war bezwungen. Heute hatte sie auf sehr
schmerzhafte Weise erfahren müssen, wie unzuverlässig er als
Waffe war. Doch wenn ich meine eigenen Wächter habe, die
mich nach jeder Verwendung heilen ... Ein Gedanke für später.
Aber ihr gefiel die Idee. Meine eigenen Wächter nur für mich.
Gideon hatte unablässig auf Tamiyo eingeredet. Die Mondfrau
sah aus, als wäre ihr übel, und Liliana konnte ihr kaum einen
Vorwurf daraus machen. Gideon war sicher hübsch anzusehen,
doch sie kannte Untote, die klüger waren. Gideon brabbelte
irgendetwas über die Wächter und wie sie gerade erst damit
anfingen, Gutes zu tun. Und wollte Tamiyo nicht auch
unbedingt nur Gutes tun? Tamiyo schüttelte den Kopf und
ging mit vor Furcht geweiteten Augen davon. Es passte, dass
eine Gedankenmagierin sich als zu anfällig und verletzlich
herausstellte. Sie war wie Jace: nutzlos.
Jace sah zu ihr herüber, und er hatte noch immer diesen
treudoofen Ausdruck dabei in den Augen. Entscheide dich
doch mal, Kind! Sie rang ihre Gereiztheit nieder. Sie brauchte
ihn und seine Anhänglichkeit jetzt.
„Gideon.“ Jaces Stimme war zögernd und dünn. Sie sprachen
leise miteinander, und Liliana achtete darauf, kein Anzeichen
jenes Lächelns zu zeigen, das sich auf ihr Gesicht zu stehlen
versuchte. Ja, Kapuzenjunge, nutze nur deine zögerliche Art,
um dein ehrliches Verlangen zu stillen, mir unbedingt helfen
zu wollen. Es war jedoch klar ersichtlich, dass Gideon nicht
glücklich damit war. Liliana wusste allerdings auch nicht, ob
Gideon jemals mit irgendetwas glücklich war. Du solltest
zumindest Freude an deiner Jugend und deinem guten
Aussehen zu haben, solange du beides noch hast. Warum sind
Kinder nur so dumm?
Irgendwann trat die Augenweide an sie heran. Es folgten
weitere Worte darüber, Gutes zu tun, aber Liliana war zu sehr
auf den Eid konzentriert, um aufmerksam zuzuhören. Sie hatte
ausgiebig darüber nachgedacht, wie sie ihn wohl angehen
sollte. War er zu aufrichtig und zu geschwollen, würde man nur
Verdacht schöpfen – einen Verdacht, der ihre nächsten
Schritte schwerer machen würde. War er jedoch zu zynisch und
zu offenherzig, dann würde genau dieser Verdacht ohne
weiteres Zutun bestätigt werden. Sie brauchte einen schmalen
Mittelweg mit einem Hauch von Zynismus, aber mit dem
Herzen dennoch deutlich am rechten Fleck.
Als Gideon um ihren Eid bat, war sie bereit.
Lilianas Eid | Bild von Wesley Burt
„Ich erkenne, dass wir gemeinsam stärker sind als allein. Wenn
das bedeutet, dass ich das, was getan werden muss, ohne die
Hilfe des Kettenschleiers tun kann, dann werde ich Wache
halten. Zufrieden?“
Sie sagte es mit dem Hauch eines Lächelns. Nur einem Hauch.
Und außerdem war ihre Freude aufrichtig. Der besten
Täuschung lag ohnehin immer ein Körnchen Wahrheit
zugrunde.
Sie war nun ein Mitglied der Wächter. Eine Zukunft voller
Verheißungen und ehrgeiziger Ziele breitete sich in ihrer
Vorstellung vor ihr aus.

Jace
Jace war erschöpft. Es war der längste Tag seines Lebens
gewesen, und er wollte nur noch schlafen – einen Schlaf ohne
jede Träume oder Gedanken.
Doch zunächst musste er mit jemandem sprechen.
Er fand sie in den Vororten Thrabens, wo sie in der Ruine
einer kleinen Kirche saß. Nur wenige Gebäude in Thraben
standen noch, und diese Kirche war nicht verschont geblieben.
Verlassenes Heiligtum | Bild von Vincent Proce
Sie saß einfach nur mit übereinander geschlagenen Beinen und
geschlossenen Augen da. Jace fühlte sich unbehaglich, einen so
intimen Augenblick zu unterbrechen. Doch er brauchte
Gewissheit.
„Tamiyo ... ? Bist du ... Kann ich ... ?“ Jace wusste nicht, wie er
seine Fragen stellen sollte. Tamiyo öffnete die Augen. Ihr
Gesicht zeigte noch immer das gleiche Unwohlsein und das
gleiche Grauen wie seit dem Ende des Zaubers.
„Was ist da draußen geschehen, Tamiyo? Du warst da. Unsere
Bewusstseine waren miteinander verbunden. Und dann ...
nicht mehr. Du bist verschwunden. Was ist mit dir
geschehen?“
Tamiyo saß nur da und brach in Tränen aus. Eine nach der
anderen fielen sie – pling, pling – auf den Schutt unter ihr.
Ihre Worte klangen unsicher, zögerlich. „Nissa war zu Boden
gegangen. Der Zauber drohte zusammenzubrechen. Ich wusste
nicht, was ich tun sollte. Wie ich helfen konnte.“
Jace war überrascht. „Also hat Nissa diese Macht allein erzeugt?
Ich bin beeindruckt. Ich dachte, das warst du mit deiner
zweiten Schriftrolle.“
Tamiyo blickte ihn voller Trauer und Zorn zugleich an. „Nein.
Du verstehst nicht. Das war ich. Mit der zweiten Schriftrolle.
Die Energie stammte von ihr.“
„Aber das ist doch wundervoll! Du hast uns gerettet! Du hast
Innistrad gerettet ... Alles! Ist es, weil es eine der eisernen
Schriftrollen war? Eine von denen, die du nicht öffnen
wollest?“
„Sei jetzt still, Jace! Hör zu. Hör einfach nur zu. Ich war das
nicht. Es ... Sie ... hat mich übernommen. Verstehst du? Das
war nicht ich! Ich war da, in meinem eigenen Körper. Hilflos,
als sie mich übernommen hat. Meine Augen, meine Hände,
meine Stimme ... Sie übernahm sie alle. Sie gehörten nicht
mehr mir.“ Ihr Weinen wurde zu einem Schluchzen.
Er erinnerte sich an eine Stimme – eine Stimme, als er dabei
zusah, wie seine Schachfiguren einander töteten. Es sind alles
meine Figuren, Jace Beleren. Das waren sie schon immer. Ich
habe nur keine Lust mehr, mit ihnen zu spielen.
„Es ... Es tut mir leid, Tamiyo. Ich weiß nicht ...“
„Doch das war nicht das Schlimmste. Die Schriftrolle, die ich
geöffnet habe. Die zweite. Du hattest recht. Das hätte ich nicht
tun sollen. Ich habe vor langer Zeit ein Versprechen gegeben,
und eines Tages werde ich mich dafür verantworten müssen.
Aber der Zauber, den sie gelesen hat ... Das war nicht der
ursprüngliche Zauber. Sie hat einen ... anderen Zauber
gewirkt.“
Emeria. Von irgendwoher erschien ein langer Griffel und sie
begann, auf die Schriftrolle zu schreiben. Jace begann zu
zittern.
„Er wurde verändert. Wie hat sie das gemacht? Wie konnte sie
das tun?“ Ihr Stimme nach zu urteilen, war Tamiyo nackter
Panik nah. „Als dieses Ungeheuer meinen Körper übernahm
und eine Schriftrolle las – eine Schriftrolle, die alles auf dieser
Welt hätte vernichten können –, da speiste es stattdessen einen
Zauber, der es selbst hier gefangen halten würde ... Wie konnte
das geschehen, Jace? Warum ist es geschehen? Was haben wir
nur getan?“
„Ich ... Ich weiß es nicht.“ Jace hatte keine Worte mehr für sie.
Und keine für sich selbst.
Tamiyo holte tief Luft. „Ich habe es dir schon einmal gesagt,
Jace. Manchmal müssen unsere Geschichten enden. Und
dennoch sind wir hier, und jeder versucht, seine Geschichte zu
verlängern, ganz gleich, um welchen Preis. Was aber, wenn alle
Geschichten nur ihre Geschichte sind? Im Dienst eines
entsetzlichen Schicksals, das sich erst noch zeigen wird?“
Tamiyo blickte zum Mond auf.
„Haben wir wirklich gewonnen?“ Tamiyos Stimme klang nicht
mehr furchtsam, sondern schwermütig. Jace wusste keine
Antwort. Irgendwann stand sie auf und entschwebte in den
dunklen Nachthimmel. Es gab keine Abschiedsworte.
Jace saß lange Zeit nur da. Erneut blickte er zum Mond und
dessen silbernem Schein hinauf. Zu der Glyphe, die noch
immer hell auf seiner Oberfläche leuchtete – als Zeugnis
dessen, was die Wächter erreicht hatten. In den Tiefen dieses
Mondes ruhte die mächtigste und zerstörerischste Kraft, die
jeder von ihnen je gesehen hatte. Die Worte des Engels stachen
in seinen Kopf wie Dolche eines unerfüllten Schicksals. Das ist
alles falsch. Ich bin unvollständig, unerfüllt, unfertig. Da
sollten Blüten sein, keine öde Abweisung. Das Feld war noch
nicht bereitet.. Es ist nicht meine Zeit. Noch nicht.
Ein eiskalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Es ist
nicht meine Zeit. Noch nicht. Er löste seinen Blick vom Mond
und machte sich auf die Suche nach einem sicheren Bett, um
für eine kurze Weile völliges Vergessen zu finden.

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