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MANGELNDE

RECHTSSTAATLICHKEIT
IN GUATEMALA:
KONTINUITÄTEN UND
BRÜCHE
EVA KALNY
Herausgegeben von:

Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika e. V. – FDCL


Gneisenaustraße 2a, D -10961 Berlin, Germany
Fon: +49 30 693 40 29 | E-Mail: info@fdcl.org
Internet: www.fdcl.org

Autorin: Eva Kalny


Titelbild: María Soto und andere Ixil-Frauen feiern, nachdem der ehemalige guatemaltekische Diktator Efraín
Ríos Montt des Völkermords an den Ixil in den 1980er Jahren für schuldig befunden wurde.
Foto: Elena Hermosa/Trocaire (CC-BY 2.0)

Layout: Ingrid Navarrete | www.ingrid-navarrete.de


Druck: Hinkelsteindruck, 10997 Berlin
Redaktionsschluss: 26. Oktober 2022

Gefördert von Engagement Global im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung (BMZ) und mit freundlicher Unterstützung der Landesstelle für Entwicklungszusammenarbeit
(LEZ) Berlin. Der Inhalt der Veröffentlichung liegt in der Verantwortung des Autors und gibt nicht notwendig
die Position des Herausgebers wieder; die hier dargestellten Positionen geben weder den Standpunkt von
Engagement Global gGmbH und des BMZ noch der LEZ Berlin wieder.

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unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz
(CC BY-NC-SA 4.0).

FDCL-Verlag Berlin, 2022. ISBN: 978-3-949237-03-4


INHALT

Einleitung 5
Die Entwicklung des Rechtsstaats 6
Recht im Dienst der Aufrechterhaltung kolonialer Strukturen 6
Kurzer demokratischer Frühling und langer Krieg 7
Der Höhepunkt des Bürgerkriegs 7
Verfassung und Friedensverträge 8
Die Demontage der Errungenschaften der Friedensverträge 8

Das Experiment: Die Aufdeckung krimineller Strukturen im Staat 9


Die Vorgeschichte 9
Der schwierige Aufbau 9
Die Aufdeckung großer Fälle 10
Das jähe Ende des Experiments 10

Die aktuelle Demontage von Rechtsstaatlichkeit 11


Die Kooptierung des Höchstgerichts und des Verfassungsgerichts 12
Verfolgung und Exil 12

Die Folgen der Demontage von Rechtsstaatlichkeit 13


Beispiel I: Das Diario Militar 13
Beispiel II: Die Mine Fénix 14
Der Abbau der Rechtsstaatlichkeit im Kontext wirtschaftlicher, sozialer und politischer Strukturen 14

Ausblick und Schlussfolgerungen für die Unterstützung von Rechtsstaatlichkeit 15


Empfehlungen 15

Bibliografie 17
EINLEITUNG
Mehr als zwei Dutzend ehemalige Amtsträger:innen des guatemaltekischen Justizsys-
tems befinden sich aktuell im Exil, andere unter teilweise menschenunwürdigen Bedin-
gungen in Haft oder unter Hausarrest. Auf eine Phase des Aufbruchs und der Hoffnung,
in der weitreichende Netzwerke krimineller Strukturen innerhalb des Staates aufge-
deckt wurden, folgt nun die radikale Demontage der Rechtsstaatlichkeit.

Dieses Paper erläutert die historischen Wurzeln eines Rechtssystems, das dafür ge-
schaffen wurde, die Privilegien einiger weniger zu verteidigen und durchzusetzen. Die
gesellschaftliche Ordnung und die Machtbeziehungen, die durch den Kolonialismus ge-
schaffen wurden, wirken bis heute sowohl innerhalb des Landes als auch in transnatio-
nalen wirtschaftlichen Beziehungen fort.

Während der kurzen Phase des demokratischen Frühlings von 1944 bis 1954 wurden
Maßnahmen zu gesellschaftlichen Veränderungen eingeleitet, sein gewalttätiges Ende
mündete in einen 36-jährigen Bürgerkrieg. Die kriminellen Strukturen, die zu dieser
Zeit in staatlichen Institutionen entstanden und Straffreiheit für Kriegsverbrechen ga-
rantierten, blieben auch nach den Friedensverträgen bestehen und entwickelten sich
weiter.

Erst der UN gestützten Internationalen Kommission gegen die Straflosigkeit (CICIG) in


Kooperation mit der Sonderstaatsanwaltschaft gegen die Straflosigkeit (FECI) sollte es
gelingen, kriminelle Netzwerke innerhalb von staatlichen Institutionen aufzudecken.

Das jähe Ende der CICIG und die Demontage der FECI sowie die Manipulation des
Höchstgerichts und des Verfassungsgerichts zählen zu den Strategien des Abbaus von
Rechtsstaatlichkeit. Anhand von zwei emblematischen Fällen werden die Funktionswei-
se und die Folgen dieses Abbaus erläutert. Aufbauend auf diese folgt ein wenig positiver
Ausblick und Überlegungen für zentrale Aspekte der Unterstützung von Rechtsstaat-
lichkeit in Guatemala.

5
DIE ENTWICKLUNG DES RECHTSSTAATS

Ausschnitt aus dem Bild “Mesoamérica Resiste” des Beehive Design Collective. Foto: Nick Normal (CC BY-NC-ND 2.0)

Guatemala verfügt über eine äußerst kurze und wenig tiefgreifen- sierung schloss Indigene von politischen Entscheidungsprozessen
de Tradition demokratischer rechtsstaatlicher Strukturen. strukturell aus.

Die erste Erfahrung mit europäisch-spanischer Rechtsordnung Die Rechtsgeschichte zeigt hier einen langsamen Prozess der for-
beginnt ab dem Jahr 1524. Das gesamte eroberte Gebiet galt als malen Ausdehnung staatsbürgerlicher Rechte, der auch von Rück-
Besitz der spanischen Krone, welches mit der darauf lebenden schlägen gekennzeichnet ist. So sah die erste Verfassung der un-
Bevölkerung an männliche Spanier zur Verwaltung und Nutzung abhängigen Zentralamerikanischen Republik das Wahlrecht nur
übergeben wurde. Die spanische Machtübernahme bedeutete für jene vor, die einem „nützlichen Beruf oder einer bekannten
für die lokale Bevölkerung Zwangsarbeit, Zwangsmissionierung, Form der Subsistenz“ nachgingen (ebd. 109-141). Das Wahlrecht
Zwangsumsiedlung und Tributzahlungen. Epidemien durch aus blieb bis 1944 an Besitz und Einkommen gebunden. Es schloss da-
Europa eingeschleppte Krankheiten sowie die Zwangsarbeit und mit aufgrund mangelnder Anerkennung indigenen Landbesitzes
Verschlechterung der Lebensbedingungen bewirkten einen mas- Indigene strukturell aus. Und auch Frauen, deren geschlechtsspe-
siven Bevölkerungsrückgang. Dies alles führte nicht zu einer Re- zifische ökonomische Betätigungen, wie die Arbeit auf dem Markt
duktion der Tributforderungen der Spanischen Krone, sondern oder als Hausangestellte, nicht als Beruf anerkannt wurden.
zur Erhöhung des Arbeitsdrucks auf die indigene Bevölkerung
(Lovell 1990). Von Frauen wurde gefordert, sich der „göttlichen“ Insbesondere die wirtschaftsliberalen Reformen der späten
Ordnung und der Autorität des Mannes zu unterwerfen (Tostado 1870er Jahre bedeuteten umfangreiche Enteignungen des kol-
Gutiérrez 1991: 55). lektiven Landbesitzes indigener Gemeinden, deren Land nun zu
Gunsten einiger weniger mestizischer und ausländischer Groß-
Im 18. Jahrhundert verlagerte sich angesichts einer langsam an- grundbesitzer umverteilt wurde. Rebellionen gegen diese Ent-
wachsenden Bevölkerung das Interesse der spanischen vor Ort eignungen veranlassten die Regierung unter anderem dazu, Dör-
ansässigen Eliten von der Kontrolle und Ausbeutung von Arbeits- fer niederzubrennen und Anführer der Rebellionen hinzurichten
kraft hin zur Kontrolle von Land. Dementsprechend nahmen Kon- (Carmack 2001: 290f).
flikte um Land sowohl unter Indigenen als mit auch Nicht-Indige-
nen zu (Lovell 1990). Die koloniale Rechtsordnung diente dabei Mehrere Gesetze wie das Gesetz der Arbeiter von 1877 (Barrios
der Sicherstellung des Ressourcenabflusses in die kolonialisieren- 1877) oder das Gesetz gegen das Vagabundentum von 1878 (Bar-
den Zentren und der Ausbeutung der lokalen oder zwangsange- rios 1878) dienten der Absicherung der Zwangsarbeit von Indige-
siedelten Arbeitskräfte. Dies bedeutete insbesondere die rechtli- nen auf den nun entstehenden Fincas, u.a. zum Anbau und Export
che Absicherung von Ungleichheit und von Privilegien der weißen von Kaffee.
Kolonialherren.
Die Regierung strebte zudem an, den Anteil der nicht-indigenen
Recht im Dienst der Aufrechterhaltung Bevölkerung durch gezielte Immigration aus Europa zu erhöhen,
kolonialer Strukturen und schloss dafür u.a. 1886 ein Freundschaftsabkommen mit dem
deutschen Kaiserreich, welches deutschen Immigrant:innen einen
Die Rechtssysteme Guatemalas dienten und dienen trotz einiger Sonderstatus zugestand (Casaús Arzú 1995: 126-152). Die deut-
Veränderungen weitgehen der Aufrechterhaltung dieser kolonia- sche Minderheit zählt bis heute zur einflussreichsten des Landes,
len Struktur. So ist das Militär seit der Verfassung von Cádiz für und zahlreiche aktuelle Konflikte um Land und Megaprojekte fin-
das noch kolonisierte Gebiet durchgehend bis zur aktuell gültigen den auf Ländereien statt, die deutschen Einwanderer:innen samt
Verfassung von 1985 sowohl für die Verteidigung nach außen als ihren Bewohner:innen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert
auch für die Aufrechterhaltung der Ordnung im Inneren des Lan- übereignet wurden.
des zuständig (Corte de Constitucionalidad 2001). Die Koloniali-

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Die Gesetze zur Zwangsarbeit wurden in den 1920er Jahren unter ökonomischen und sozialen Situation der indigenen Bevölkerung
Diktator Estrada Cabrera für die Bananenplantagen der United wurden zum nationalen Interesse erklärt (Corte de Constitucio-
Fruit Company erweitert (Chapman 2007: 55) und in den 1930er nalidad 2001: 448-506). Die neue Verfassung hatte erstmals zum
Jahren von General Ubico verschärft (Asamblea Legislativa de Ziel, „die Mehrheit vor der Ausbeutung durch die noch bestehen-
la República de Guatemala 1934). Indigene, die nicht 150 Tage den Überreste der Kolonialzeit“ zu verteidigen. Sie beinhaltete
Arbeit auf den Fincas nachweisen konnten, wurden zu mehrmo- wirtschaftliche und soziale Rechte und zielte auch darauf ab, die
natigen Gefängnisstrafen verurteilt. Erst die Verfassung von 1944 Situation der unter Sklaverei-ähnlichen Bedingungen lebenden
führte hier zu grundlegenden Änderungen. Arbeiter:innen der Bananenplantagen zu verbessern (García La-
guardia 2015: 86f). Großgrundbesitzer begegneten diesen Refor-
Eine weitere, beinahe durchgehende Konstante der guatemal- men mit Widerstand, teilweise verweigerten sie gar das Ende der
tekischen Rechtsentwicklung sind religiöse Bezüge in den Ver- Zwangsarbeit (Tischler Visquerra 2009: 236-238). Die Regierung
fassungen. Dies bedeutete im frühen 19. Jahrhundert das ex- bestärkte die Autonomie und die politische Macht des Militärs
plizite Verbot jeglicher öffentlicher Religionsausübung, die von und erhöhte die Anzahl an Soldaten von ca. 1000 auf 6000 (Schir-
der römisch-katholischen abwich. Erst die liberalen Reformen mer 2019: 34-40). Der demokratische Frühling von 1944 bis 1954
der 1870er Jahre brachten Religionsfreiheit (Asamblea Nacional bedeutete erstmals zumindest die formale Gleichstellung von In-
Constituyente 1879). Die darauffolgenden Verfassungen Guate- digenen und Nicht-Indigenen vor dem Gesetz.
malas bezogen sich durchgehend auf christliche Moral- und Fami-
lienvorstellungen, und dies gilt auch für die aktuelle Verfassung. Die Regierung wurde im Juni 1954 mit Unterstützung des CIA ge-
Eine klare Trennung zwischen Religion und Staat ist nicht gegeben. stürzt, die nun folgenden Militärdiktaturen bedeuteten eine Rück-
kehr zu Rechtswillkür und strafloser Gewaltanwendung durch das
Die verschiedenen Verfassungen des Landes regeln die Gerichts- Militär. Die Öffnung der Armee für ärmere Schichten unter der
barkeit sowie die Wahl von Richter:innen unterschiedlich, die demokratischen Regierung war mit ein Grund, dass unter den Be-
Einflussnahme wirtschaftlicher Akteure auf die Gesetzgebung ist dingungen der Diktatur Putschversuche stattfanden und deser-
aber eine historische Konstante. Die aktuelle Geschichte des Lan- tierte Soldaten Guerillabewegungen gründeten. Die Verfassung
des zeigt anschaulich, wie zentral die Einflussnahme auf das Jus- von 1965 war in der Folge noch prononcierter antikommunistisch
tizsystem für die Aufrechterhaltung der Macht der wirtschaftli- und erweiterte die Befugnisse von Kirchen sowohl in Bezug auf
chen Elite und des Militärs sind. Dementsprechend streben sie die Besitzrechte als auch auf Eheschließungen und Steuerreduktio-
Aufrechterhaltung eines abhängigen Rechtssystems an (Schirmer nen, religiöse Erziehung wurde zum nationalen Interesse erklärt.
2019 & Fuentes Night 2022). Die indigene Mehrheit sollte „in die nationale Kultur integriert“
werden. Erstmals war ein Verfassungsgericht vorgesehen (Corte
de Constitucionalidad 2001: 575-657, García Laguardia 2015: 94-
Wirtschaftselite 97).

Fuentes Night beschreibt in seiner umfangreichen Aufarbei- Der Höhepunkt des Bürgerkriegs
tung der Wirtschaftsgeschichte des Landes mit dem Begriff
„gestores de poder“ jene Familienkonsortien, die ihre Macht General Romeo Lucas García setzte mit seinem Staatsstreich im
und Monopole im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhun- März 1982 die Verfassung außer Kraft, es folgte die gewalttätigs-
dert aufbauten und bis heute Einfluss auf politische Entwick- te Phase des Krieges im Hochland. Den Massakern an indigenen
lungen, die Besetzungen politischer Ämter und die Gesetz- Gemeinden durch das Militär, die vor allem zwischen 1978 und
gebung sowie Rechtsprechung des Landes nehmen.  Fuentes 1983 stattfanden, waren häufig Landkonflikte vorangegangen, die
Night nennt die Familien Herrera, Ibargüen, Castillo, Novella, mit den Enteignungen im späten 19. Jahrhundert in Zusammen-
König, Torrebiarte, Gutiérrez und Botrán (2022: 15f), auch hang standen (Kalny 2017: 160). Das Militär selbst dokumentierte
bekannt als G8.  Gemeinsam mit weiteren Familien wie Ale- während der 17-monatigen Regierungszeit von Ríos Montt in den
jos Arzú oder Matheu gründeten sie im Jahr 1957 das Koor- Jahren 1982 und 1983 die Durchführung von 440 Massakern in
dinationskomitee der landwirtschaftlichen, industriellen und indigenen Gemeinden. Gleichzeitig verpflichtete das Militär in-
Finanzgesellschaften CACIF, das der Interessensvertretung digene Männer und Jugendliche zum Dienst in Patrouillen. Die
der wohlhabendsten Familien des Landes dient. Ihre Mitglie- Vertreibungen, Massaker, Patrouillendienste und Zerstörungen
der verfügen über Monopole im Bereich der Landwirtschaft, von Ernten durch das Militär bewirkten, dass die nationale Le-
des Exports, des Bankenwesens, etc. Der (CACIF) und weite- bensmittelproduktion im Jahr 1983 60 Prozent niedriger als in
re Organisationen der Wirtschaftselite sind in zumindest 58 den vorangegangenen Jahren war (Smith 1988: 207, 223). Allein
entscheidungsbefugten staatlichen Gremien vertreten das Nachbarland Mexiko nahm an die 200.000 vor allem indigene
(Rodríguez Quiroa/Naveda 2018). Flüchtlinge auf.

Sowohl der Wahrheitsbericht Guatemala: Nunca más des Men-


schenrechtsbüros des Erzbischofs von Guatemala (ODEHAG) aus
Kurzer demokratischer Frühling und langer Krieg
dem Jahr 1998 als auch der Bericht Guatemala. Memoria del Silencio
Der Sturz des Regimes von Ubico im Oktober 1944 und die der UN basierten Wahrheitskommission CEH (1999) bezeichne-
Machtübernahme durch sozialdemokratisch inspirierte politische ten einige der Massaker als Genozid an der indigenen Bevölkerung
Führungspersönlichkeiten führten zu umfangreichen Reformen. im Sinne des internationalen Rechts. Zwei Tage nach Präsentation
Die Verfassung der Revolutionsregierung, die 1945 in Kraft trat, des Wahrheitsberichts der Katholischen Kirche wurde Bischof
erteilte allen Männern sowie Frauen, die lesen und schreiben José Gerardi Conedera ermordet, die Auftragsgeber dieser Tat ge-
konnten, das Wahlrecht unabhängig von deren Besitz oder Beruf. nießen bis heute Straffreiheit. Präsident Álvaro Arzú verweigerte
Die Zwangsarbeit wurde ebenso verboten wie die auf den Fincas die Entgegennahme des Berichts der Wahrheitskommission der
übliche nicht-monetäre Bezahlung. Ein Sozialversicherungssys- UN, die Regierung bezog keine Stellung dazu und das Militär er-
tem wurde eingeführt und beide Partner:innen in der Ehe recht- kannte nie seine Verantwortung für Kriegsverbrechen und Men-
lich gleichgestellt. Eine Alphabetisierungskampagne sowie die schenrechtsverletzungen an.
Entwicklung einer umfassenden Politik zur Verbesserung der

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wie mit den sensiblen Daten von Opfern des Bürgerkriegs oder
Verfassung und Friedensverträge
indigenen Gemeinden, die um Landrechte kämpfen, umgegangen
wird (Burgi-Palomino et al 2022: 3). Und obwohl der vierbändige
Im Januar 1986 trat eine neue und bis heute gültige Verfassung
Wahrheitsberichte der katholischen Kirche (ODHAG 1998) und
in Kraft. Auch sie ruft in ihrer Präambel Gott an und stellt die tra-
der elfbändige Wahrheitsbericht der UN (CEH 1999) über den
ditionelle Familie unter besonderen Schutz. Mehr als die Hälfte
Bürgerkrieg klarstellten, dass an die 90 Prozent der Massaker und
der Verfassung ist Menschenrechten gewidmet, internationales
Morde durch das Militär und ihm unterstellte sogenannte Zivilpa-
Recht wird in diesem Bereich über nationales Recht gestellt. In-
trouillen begangen worden waren, fordern ehemalige Angehörige
digene Gemeinden und deren Lebensformen und Sprachen wer-
des Militärs weiterhin Entschädigungszahlungen für ihren „Dienst
den anerkannt, Gesundheit wird als öffentliches Gut betrachtet
im Kampf gegen den Kommunismus“. Im Oktober 2022 beschloss
und Arbeitnehmer:innen erhalten umfangreiche Rechte. Erstmals
der Kongress deren dreijährige finanzielle Unterstützung.1
genießen alle über 18-Jährige das Wahlrecht. Guatemala ist das
erste Land Lateinamerikas, das eine Ombudsstelle für Menschen-
rechte verfassungsrechtlich verankert.

Das Militär war zentral an der Erarbeitung dieser Verfassung be-


teiligt, die vor den ersten Wahlen und damit vor dem Zusammen-
treten einer durch Wahlen legitimierten Regierung verabschiedet
wurde. Die in ihr verankerten Menschenrechte gelten unter Ein-
schränkung der Aufrechterhaltung des Friedens und der öffent-
lichen Ordnung, die Zuständigkeit dafür liegt beim Militär. Schir-
mer bezeichnet dies als „Ko-Regierung des Militärs“, nicht aber
seine Unterordnung unter ein demokratisches System. Zahlreiche
Regelungen bleiben offen formuliert und verweisen auf noch zu
verabschiedende Gesetze. Der Wirtschaftselite gelang es durch
praktisch tägliche Interventionen während der Ausarbeitung der
Verfassung, die Möglichkeiten der Besteuerung von Besitz und
Einkommen zu minimieren. Somit fehlt die ökonomische Basis, um
die in der Verfassung verankerten Rechte umzusetzen (Asamblea
Nacional Constituyente 1985, Fuentes Night 2022: 57; García La-
guardia 2015: 99-114, Schirmer 2019).

Zwischen 1991 und 1996 wurden zwölf Verträge unterzeichnet,


die den 36-jährigen Bürgerkrieg beendeten. Diese Verträge wur-
den von der Regierung nur ansatzweise umgesetzt, die nötigen
Mittel wurden nicht zur Verfügung gestellt. Neben den verfas-
sungsmäßig verankerten Hindernissen zur Erhöhung von Steuern,
die die extreme soziale Ungleichheit abbauen könnten, gelang es
Akteuren wie dem CACIF im Rahmen der Verfassungsreform von
1993 eine Regelung durchsetzen, die es dem Staat verbietet, bei
der Zentralbank Schulden aufzunehmen. Der Staat ist daher von
der Bereitschaft privater Banken abhängig, Geld aufnehmen zu
können, um seine Vorhaben zu finanzieren. Diese wiederum befin-
den sich im Besitz der Wirtschaftselite (Fuentes Night 2022: 61f).

Die Demontage der Errungenschaften


der Friedensverträge
Mitte 2020 verkündete die Regierung von Giammattei die Auf-
lösung dreier Institutionen, die im Rahmen der Friedensverträge
gegründet wurden: das Sekretariat für den Frieden (SEPAZ), die
Präsidiale Kommission für Menschenrechte (COPREDEH) und
das Sekretariat für landwirtschaftliche Angelegenheiten (SAA).
Auch das Präsidiale Sekretariat für Frauenangelegenheiten (SE-
PREM) wurden per Dekret geschlossen. Gleichzeitig gründete
die Regierung ebenfalls per Dekret eine neue Präsidiale Kommis-
sion für Frieden und Menschenrechte (COPADEH), deren Vor-
sitz Präsident Giammattei innehaben und der unter anderem
der Minister für Energie und Minen angehören sollte. Impuni-
ty Watch weist darauf hin, dass die Dekrete im Widerspruch zur
geltenden Gesetzgebung stehen. Die Möglichkeiten öffentlicher
Mobilisierung gegen diese Auflösungen war durch gesetzliche Be-
schränkungen des Versammlungsrechts im Rahmen der Covid-19
Maßnahmen stark reduziert (2021a). Der institutionellen Ver-
änderung mangelt es an Transparenz, insbesondere ist nicht klar,

1   https://lahora.gt/nacionales/anaite_alvarez/2022/10/14/exmilitares-insisten-en-q120-mil-presentaran-amparo-en-la-cc-contra-ley-de-
los-q36-mil/
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DAS EXPERIMENT : DIE AUFDECKUNG *

KRIMINELLER STRUKTUREN IM STAAT

Iván Velásquez, Leiter der CICIG (2014-2019) mit Generalstaatsanwältin Telma Aldana (2014-2018). Gemeinsam deckten sie kriminelle Strukturen und Korruptionsnetzwerke auf.
Foto: US Embassy Guatemala (CC BY-NC-ND 2.0)

Die Fachliteratur über den Bürgerkrieg verweist mehrfach auf Ge- zusammen und forderten internationale Unterstützung bei der
heimorganisationen innerhalb des guatemaltekischen Militärs, die Aufdeckung illegaler Strukturen, die zentrale Menschenrechte
mit wichtigen Akteuren in Politik und Recht vernetzt waren und der Bevölkerung verletzten. Der Menschenrechtsombudsmann
daher straffrei Bestechungen, Erpressungen und Gewaltdelikte sowie das Außenministerium begannen Verhandlungen mit der
durchführen und durchführen lassen konnten. Diese Netze um- UN zur Errichtung einer entsprechenden Kommission, die nach
fassten ehemalige Militäroffiziere, Justizbeamte, Politiker, Wirt- der Überwindung mehrerer Hürden Ende 2006 zu einem unter-
schaftstreibende und gewöhnliche Kriminelle, und entfalteten so schriftsreifen Vertrag führten. Die Ermordung von drei salvado-
viel Macht, dass sie in der Regel sicher vor strafrechtlicher Verfol- rianischen Mitgliedern des Zentralamerikanischen Parlaments
gung waren (Peacock/Beltrán 2003: 1–6). in Guatemala, die Inhaftierung geständiger Polizisten und deren
Ermordung wenige Tage später in einem Hochsicherheitsgefäng-
*Die investigative Plattform no-ficcion dokumentiert unter dem nis Anfang 2007 veranschaulichten einmal mehr die Präsenz kri-
Titel „El Experimento“ die Arbeit und das Ende der CICIG in zwei mineller Strukturen innerhalb staatlicher Institutionen. Dieser
Teilen und insgesamt 13 Podcasts, in denen Schlüsselpersonen Kontext war ausschlaggebend dafür, dass die Regierung und das
innerhalb und außerhalb der CICIG ausführlich zu Wort kom- Verfassungsgericht dem neuen Vertrag zustimmten und die CI-
men: https://www.no-fic- cion.com/el-experimento und https:// CIG, die Internationale Kommission gegen die Straflosigkeit in
www.no-ficcion.com/el-experimento-02 Guatemala, gegründet wurde.

Die Vorgeschichte Der schwierige Aufbau

Die Mission der UN in Guatemala (MINUGUA), die die Umsetzung Die CICIG begann am 1. September 2007 ihre Arbeit mit nicht
der Friedensverträge von 1994 bis 2004 begleitet hatte, verwies mehr als diesem Vertrag. Sie wurde ausschließlich aus freiwilligen
in ihrem Abschlussbericht auf ein System struktureller Straflo- Beiträgen internationaler Geberländer finanziert, die in einen vom
sigkeit, das die Menschenrechte substantiell einschränke. Dieses Internationalen Entwicklungsprogramm der UN (UNDP) verwal-
wurde laut MINUGUA durch schwache administrative Struktu- teten Fond flossen und beständig eingeworben werden mussten.
ren, Korruption, das Fehlen richterlicher Unabhängigkeit und die Die Kommission musste sich selbst eine Struktur geben, die nötige
Existenz illegaler Strukturen bedingt, die in Verbindung mit öko- Infrastruktur wie ein Büro mit höchsten Sicherheitsmaßnahmen
nomischen Akteuren standen und die darauf zählen konnten, dass schaffen, und spezialisiertes Personal anwerben. Teil des Auf-
der Staat nicht gegen sie aktiv werden würde. Im Gegensatz zu trags an die CICIG war, innerhalb guatemaltekischer staatlicher
den in den Friedensverträgen vorgesehenen Maßnahmen nahm Strukturen die Voraussetzungen und Expertise aufzubauen, die
die Remilitarisierung zu, die Zahl der Morde stieg insbesondere zur Bekämpfung geheimer krimineller Strukturen innerhalb des
ab dem Jahr 2000 massiv an, einige wurden auch euphemistisch Staatsapparates nötig war. Dazu zählten unter anderem Vorschlä-
als „soziale Säuberungen“ bezeichnet. Unter der Regierung von ge für Gesetzesreformen, für die Schaffung von Strafgerichten für
Alfonso Portillo (2000-2004) nahmen illegale Hausdurchsuchun- besonders risikoreiche Gerichtsfälle sowie die Schaffung der Son-
gen bei Menschenrechtsorganisationen sowie Drohungen gegen derstaatsanwaltschaft gegen die Straflosigkeit FECI innerhalb der
Aktivist:innen zu. Mehrere Organisationen schlossen sich daher Staatsanwaltschaft (2008) (CICIG 2019b: 4-20). Die FECI sollte in

9
der Folge wichtigster Kooperationspartner der CICIG werden und Die Gegenwehr sollte nicht lange auf sich warten lassen. Ende
zahlreiche illegale Strukturen aufdecken. 2016 wurde bekannt, dass guatemaltekische Unternehmer Lob-
bying in den USA gegen die CICIG betrieben, und später, dass der
Das Wirken der CICIG wurde erstmals 2011 für die Öffentlich- CACIF systematisch investiert, um die Politik der USA gegenüber
keit sichtbar, als ein Video zirkulierte, das der Rechtsanwalt Ro- Guatemala zu beeinflussen (García 2022, Hernández 2021). In
senberg kurz vor seiner Ermordung aufgezeichnet hatte und in Korruptionsfälle involvierte Mitglieder der traditionellen Wirt-
dem er verkündete, er werde von Präsidenten Colom und seiner schaftselite legten Iván Velásquez nahe, diese Fälle nicht weiter
Regierung ermordet werden. Angesichts zahlreicher Proteste und zu verfolgen (Naveda 2019a), die CICIG aber deckte unbeirrt
einer veritablen Regierungskrise wurde die CICIG beauftragt, den weitere Korruptionsfälle auf. Im August 2017 erklärte Präsident
Mord aufzuklären. Einige Monate später erläuterte ihr damaliger Jimmy Morales erstmals Iván Velásquez zur persona non grata, das
Leiter Carlos Castresana auf einer Pressekonferenz ausführlich Verfassungsgericht betrachtete dies jedoch als verfassungswidrig.
und detailreich unter Bezugnahme auf zahlreiche Beweismittel,
dass Rosenberg seine Ermordung selbst in Auftrag gegeben hat- Das jähe Ende des Experiments
te, und dabei auf Verbindungen von Geschäftsleuten zu Mördern
zurückgreifen konnte. Erstmals konnte ein breiter Teil der Bevöl- Die CICIG und die FECI gingen in ihren Recherchen auch Hinwei-
kerung sehen, dass schwerwiegende Delikte mit entsprechender sen auf umfangreiche Korruption im Rahmen der Wahlkampagne
Expertise, dem Heranziehen von Beweismittel und politischem des 2015 gewählten Präsidenten Jimmy Morales nach und stießen
Willen tatsächlich aufgeklärt werden können. In diesem Klima des bei anderen Untersuchungen auf die Involviertheit von Familien-
Aufbruchs fand – ohne Beteiligung der CICIG – die Verurteilung angehörigen des Präsidenten in Korruption. Dieser verkündete
des ehemaligen Generals und Regierungschefs Ríos Montt wegen in der Folge am 31. August 2018 umringt von Angehörigen des
Genozid und Kriegsverbrechen im Mai 2013 durch die Richterin Militärs auf einer Pressekonferenz, das Mandat der CICIG nicht
Yazmin Barrios statt. Das Urteil wurde allerdings wenige Tage spä- weiter zu verlängern. In der Hauptstadt fuhren vor dem Höchstge-
ter wegen angeblicher Verfahrensfehler durch das Verfassungs- richt, dem Verfassungsgericht, der CICIG und einigen Botschaften
gericht aufgehoben. Militärjeeps auf. Im Folgemonat nutze Jimmy Morales eine Aus-
landsreise von Iván Velásquez und untersagte ihm die Wieder-
Die Aufdeckung großer Fälle einreise nach Guatemala. Dennoch setzte die CICIG ihre Arbeit
unter seiner Leitung fort und deckte bis zum Ende des Mandats im
Als ab April 2015 Iván Velásquez Gómez, Leiter der CICIG, ge- September 2019 zahlreiche weitere Fälle krimineller Strukturen
meinsam mit der damaligen Generalstaatsanwältin Telma Aldana innerhalb der Regierung auf. Gleichzeitig begann die im April 2018
in beinahe wöchentlichen Pressekonferenzen die Ergebnisse ihrer eingesetzte Generalstaatsanwältin Consuelo Porras diese Errun-
Untersuchungen krimineller Strukturen und Korruptionsnetzwer- genschaften zu unterlaufen und insbesondere die FECI bei ihrer
ke innerhalb staatlicher Institutionen erläuterten und der breiten Arbeit zu behindern.
Öffentlichkeit Beweismaterial präsentierten, erreichte die CICIG
ihren Höhepunkt an Popularität. Zu den bekanntesten Fällen zähl- Während der Existenz der CICIG deckte diese gemeinsam mit der
te der Fall La Línea, bei dem die CICIG und die FECI ein Netzwerk Generalstaatsanwaltschaft über 70 höchst komplexe kriminelle
zur Hinterziehung von Zolleinnahmen aufdeckten, an dessen Spit- Strukturen auf, mehr als 120 Fälle wurden vor Gericht gebracht,
ze der damalige Präsident Otto Pérez Molina und Vizepräsidentin bis Juli 2019 wurden Anzeigen gegen über 600 Personen einge-
Roxana Baldetti standen.2 In der Folge fanden landesweit wäh- bracht (CICIG 2019b: 50f). Zu Ende ihrer überstürzt beendeten
rend 22 Wochen jeden Samstag Proteste und Demonstrationen Amtszeit musste die CICIG feststellen, dass Guatemala weiterhin
statt sowie ein Generalstreik. Dies führte zuerst zum Rücktritt ein „gekaperter Staat“ sei (CICIG 2019a).
der Vizepräsidentin und im September 2015 zum Rücktritt des
Präsidenten. Beiden befinden sich aktuell wegen mehrerer Kor- Auch nach Ende der CICIG setzten die FECI und weitere Staats-
ruptionsdelikte in Haft. anwält:innen ihre Arbeit trotz des Widerstandes von Consuelo
Porras fort, so deckte die FECI unter anderem ein Netzwerk aus
Mehrere große Korruptionsfälle zeigte die enge Verwobenheit Wirtschaftstreibenden und Abgeordneten auf, das auf die Wahl
der Politik und der Justiz mit Unternehmen der traditionellen der Richter:innen des Höchstgerichts und der Berufungsgerichte
Wirtschaftselite und des CACIF. Dazu zählten der Fall Construc- der Periode 2000-2024 durch Bestechung Einfluss nahm.5
ción y Corrupción, der Bestechung von Politikern durch Bauunter-
nehmen aufzeigte, oder die Aufdeckung rechtswidriger Finanzie-
rungen der Wahlkampagne von Jimmy Morales durch bedeutende
Unternehmer.3 Anfang 2018 deckten die Staatsanwaltschaft und
die CICIG ein Korruptionsnetzwerk auf, das Einfluss auf die Wahl
der Höchstrichter:innen und Berufungsrichter:innen der Periode
2014-2019 nahm. Dafür wurden jene Gremien, die laut Verfas-
sung berechtigt sind, Vertretungen in die Auswahlkommission zu
entsenden, von einem Netzwerk an 32 Unternehmen und Schein-
firmen bestochen. Dieser Fall namens Comisiones Paralelas 2014
zeigte die direkte Einflussnahme von Wirtschaftsakteuren auf die
höchsten Instanzen des Justizwesens.4

2   https://www.no-ficcion.com/casos/caso-la-linea
3   https://www.no-ficcion.com/casos/caso-financiamiento-electoral-ilicito-fcn-nacion
4   https://www.cicig.org/comunicados-2018-c/com_023_20180227/
5   https://www.no-ficcion.com/project/comisiones-paralelas-2020
10
DIE AKTUELLE DEMONTAGE VON
RECHTSSTAATLICHKEIT

“Wir haben es satt - Diebe raus”. Demonstration gegen Präsidenten Otto Pérez Molina (2015). Foto: Eric Walter (CC-BY-SA-4.0)

Seit dem Ende der Arbeit der CICIG wird die Rechtsstaatlichkeit keit (Federación Latinoamericana de Magistrados/Unión Interna-
in Guatemala konsequent abgebaut und werden ehemalige Mit- cional de Magistrados 2022: 5). Das Außenministerium der USA
arbeitende der CICIG sowie der FECI, unter ihrem damaligen setzte sowohl Consuelo Porras als auch den aktuellen Leiter der
Leiter Juan Francisco Sandoval, systematisch verfolgt. Letzterer FECI Rafael Curruchiche 2021 auf die Liste korrupter und anti-
wurde im Juli 2021 fristlos entlassen und lebt nun im Exil in den demokratischer Akteure Zentralamerikas, bekannt als Lista Engel.
USA. Seither entließ oder versetzte Consuelo Porras mehr als
zwanzig Staatsanwält:innen der FECI, die mit der CICIG zusam- Das Hochkommissariat für Menschenrechte der UN beschreibt im
men gearbeitet hatten. Dies beeinträchtigt die noch anhängigen September 2022 Guatemala als eines jener Länder, in denen ehe-
Verfahren von Fällen, die mit der CICIG erarbeitet wurden, sowie malige Mitarbeitende der UN und ihre Kooperationspartner poli-
die Untersuchungen aktueller Fälle von Korruption und Straflosig- tischer Verfolgung ausgesetzt sind (A/HRC/51/47).

Lista Engel

Der demokratische Abgeordnete Eliot L. Engel präsentierte einen Gesetzespassus zum „Verstärkten Engagement der USA im
Nördlichen Dreieck“, wonach die USA einerseits die finanzielle Hilfe an die Staaten El Salvador, Guatemala und Honduras er-
höhen sollte, andererseits aber u.a. Fortschritte in der Korruptionsbekämpfung und der Stärkung demokratischer Strukturen
einfordert. Ausländische Personen, die in großem Ausmaß Korruption fördern, können mit dem Einfrieren ihres Vermögens in
den USA und mit Einreisebeschränkungen sanktioniert werden. Die Regelung wurde im Juli 2019 vom Kongress angenommen
(Library of Congress 2019). Seither hat das US Department of State drei Listen von Personen veröffentlicht, die von solchen Sank-
tionen betroffen sind (US Department of State 2021a, US Department of State 2021b, US Department of State 2022). Diese Listen
sind in Zentralamerika als Lista Engel bekannt. Aus Guatemala sind aktuell 38 Personen betroffen.

Folgende Mitglieder der Staatsanwaltschaft befinden sich auf der Lista Engel:

• Maria Consuelo Porras Argueta: Generalstaatsanwältin, beschuldigt der Behinderung von Untersuchungen von Korruption
und der Verfolgung von Mitarbeiter:innen der Staatsanwaltschaft, die Korruptionsfälle bearbeiten.
• Angel Arnoldo Pineda Ávila, Generalsekretär der Staatsanwaltschaft, beschuldigt der Behinderung von Untersuchungen
von Korruption.
• José Rafael Curruchiche Cacul: Leiter der FECI, beschuldigt der Behinderung von Untersuchungen von Korruption sowie
der Kriminalisierung von Mitarbeiter:innen der FECI, Anwält:innen und ehemaligen Mitarbeiter:innen.

11
untersucht Fälle von Bedrohungen dieser Personen nicht, und
Die Kooptierung des Höchstgerichts Aufforderungen der Interamerikanischen Menschenrechtskom-
und des Verfassungsgerichts mission, bedrohten Richter:innen und Staatsanwält:innen Schutz
vor Verfolgung und Bedrohungen zu erteilen, wird seitens der
Die Mitglieder des Höchstgerichts, die auf Basis der Bestechun- guatemaltekischen Regierung kaum nachgekommen (ebd. 13). Die
gen im Fall Comisiones Paralelas 2014 ernannt wurden, und de- Organisation Fundación contra el Terrorismo (FcT) droht diesen
ren Amtszeit verfassungsmäßig auf fünf Jahre begrenzt ist, sind Richter:innen und Staatsanwält:innen regelmäßig und postet In-
weiterhin im Amt. Die Kongressabgeordneten weigerten sich wie- formationen aus Verfahren gegen diese, die rechtmäßig nur der
derholt, die Entscheidung des Verfassungsgerichts umzusetzen, Generalstaatsanwaltschaft bekannt sind. FcT wurde von Ricardo
für die Neuwahl des Höchstgerichts jene Kandidat:innen auszu- Méndez Ruiz Valdez gegründet, dessen Vater Coronel Ricardo
schließen, die im Fall Comisiones Paralelas 2020 der Korruption Méndez Ruiz Rohrmoser strategische militärische Funktionen
beschuldigt wurden, und ihre Wahl zu begründen (ebd. 11). Die während der frühen 1980er Jahre inne hatte und im Fall Cremo-
ehemalige Richterin des Strafgerichts für Hochrisikofälle D, Erika paz (López Vicente 2022) verdächtigt wurde, für das gewaltsame
Lorena Aifán Dávila, die unter anderem für den Fall Comisiones Verschwindenlassen und die Ermordung von mehr als 500 Perso-
Paralelas 2020 zuständig war, musste im Jahr 2022 ins Exil gehen. nen in der Provinz Alta Verapaz verantwortlich zu sein. Er verstarb
wenige Tage vor seiner geplanten Inhaftierung.6
Folgende Personen befinden sich auf Grund ihrer Beteiligung
an Manipulationen der Wahlen des Höchstgerichts 2014 und Folgende Mitglieder der FcT befinden wegen der Behinderung
2020 auf der Lista Engel:  der Justiz im Fall von Menschenrechtsverletzungen durch
ehemalige Armeeangehörige sowie der Einschüchterung von
• Gustavo Adolfo Alejos Cámbara: ehemaliger Privatsekretär Ermittler:innen und Mitarbeiter:innen der FECI auf der Lista
des Präsidenten Álvaro Colom. Engel:
• Manuel Duarte Barrera: aktuell Richter des Höchstgerichts.
• Mayra Alejandra Carrillo de León: Leiterin des Instituts für • Raúl Amílcar Falla Ovalle: Anwalt der FcT.
Opfer. • Moisés Eduardo Galindo Ruiz: Anwalt der FcT.
• Carlos Estuardo Gálvez Barrios: ehemaliger Rektor der • Ricardo Rafael Méndez Ruiz Valdez: Gründer der FcT.
staatlichen Universität San Carlos.
• Juan Carlos Godínez Rodríguez: Rechtsanwalt.
• Dennis Billy Herrera Arita: Rechtsanwalt.
• Gustavo Adolfo Herrera Castillo: Politiker und Unternehmer.
• Nery Oswaldo Medina Méndez: aktuell Richter des Höchst-
gerichts.
• Vitalina Orellana y Orellana: aktuell Richterin des Höchst-
gerichts.
• Geisler Smaille Pérez Domínguez: aktuell Richter.
• Néster Mauricio Vásquez Pimental: aktuell Richter des
Höchstgerichts.

Die Wahl der Mitglieder zum Verfassungsgericht für die Periode


2021-2026 war von zahlreichen Unregelmäßigkeiten gekenn-
zeichnet (Impunity Watch 2021b). Der Kongress verweigerte die
Vereidigung der als unbestechlich und kompetent anerkannten
Richterin Gloria Porras, die bereits zuvor Verfassungsrichterin
war, auch sie befindet sich nun im Exil. Die nun vereidigten Rich-
ter:innen des Verfassungsgerichts gelten als regierungstreu und
haben bereits mehrmals im Sinne korrupter Akteur:innen ent-
schieden.

Verfolgung und Exil

Bis Oktober 2022 sahen sich 24 Amtsträger:innen des Justizwe-


sens gezwungen, ins Exil zu gehen, werden acht ehemalige Mit-
arbeiter:innen der FECI strafrechtlich verfolgt und befinden sich
zwei in Haft. Der Richter Miguel Ángel Gálvez des Strafgerichts
für Hochrisikofälle B ist mit Aufhebung der richterlichen Immuni-
tät bedroht. Die Anklagen lauten u.a. auf Machtmissbrauch, weil
Staatsanwält:innen Untersuchungen gegen Korruption einleite-
ten oder Richter:innen Urteile wegen Korruption oder Kriegsver-
brechen sprachen – wenn sie also ihrer Arbeit nachgingen. Parallel
zur Kriminalisierung sind diese aktuellen und ehemaligen Amts-
träger:innen Einschüchterungen, Bedrohungen, Verfolgung u.a.
durch Autos ohne Nummernschilder und Schmierkampagnen in
den sozialen Medien ausgesetzt. Die Generalstaatsanwaltschaft

6   https://cmiguate.org/mendez-ruiz-y-su-vinculacion-con-el-creompaz/
12
DIE FOLGEN DER DEMONTAGE VON
RECHTSSTAATLICHKEIT

Demonstration vor dem Büro des Unternehmens Cementos Progreso, das aufgrund von Menschenrechtsverletzungen immer wieder in den Schlagzeilen steht (2009). Foto: Surizar (CC BY-NC 2.0)

Der Abbau der Fortschritte in der Entwicklung von Rechtsstaat- teren Mitarbeiter:innen ihres Amtes. Dies bedeutet eine massive
lichkeit hat weitreichende Auswirkungen über die betroffenen Beeinträchtigung der staatlichen Untersuchungen (CIDH 2022:
Amtsträger:innen des Justizwesens hinaus. Menschenrechtsakti- 757, Del Águila 2022). In einem weiteren Gerichtsfall wurde der
vist:innen, Journalist:innen aber auch Überlebende und Angehöri- Presse Zutritt zum Prozess verweigert (CIDH 2022: 772).
ge von Kriegsverbrechen sind nun verstärkt der Verfolgung durch
staatliche, kriminelle und wirtschaftliche Akteure ausgesetzt und Das Militärtagebuch ist Grundlage mehrere Fälle, die aktuell vor
können auf keine rechtlichen Konsequenzen für die Täter:innen dem Richter Miguel Ángel Gálvez am Strafgericht für Hochrisiko-
hoffen. Dies sei anhand des Beispiels des „Militärtagebuchs“ und fälle B verhandelt werden. Dieser entschied am 6. Mai 2022, das
der Mine Fénix ausführlicher erläutert. Verfahren gegen neun ranghohe Angehörige des Militärs und der
Polizei wegen Verschwindenlassen, Mord und Mordversuch zu
Beispiel I : Das Diario Militar eröffnen. In der Folge wurde er von Fahrzeugen ohne Nummern-
schild verfolgt und erhielt Drohanrufe. Die FcT brachte Strafan-
Im Jahr 1999 tauchte ein Dokument auf, das in der Folge „Militär- zeigen gegen ihn wegen Amtsmissbrauchs ein und beantragte die
tagebuch“ genannt wurde. Es umfasst 94 Seiten minutiöser Auf- Aufhebung seiner richterlichen Immunität. Der Interamerikani-
zeichnungen aus den Jahren 1983 bis 1985 über Observierungen, sche Gerichtshof für Menschenrechte forderte am 8. Juli 2022 die
Entführungen, Folter und Ermordung durch das Militär an 183 als guatemaltekische Regierung auf, dem Richter und seiner Familie
oppositionell eingeschätzten Personen. Das Dokument gibt Auf- adäquate Sicherheitsmaßnahmen zur Verfügung zu stellen (Corte
schluss über gezielte Verfolgung und gewaltsames Verschwin- IDH 2022a).
denlassen während des Bürgerkriegs. Sechs Fälle, die auf Infor-
mationen aus dem Dokument beruhen, wurden zwischen 2002 Acevedo Ramírez, einer der Angeklagten wegen Folter in Fällen
und 2012 vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschen- des Militärtagebuchs, arbeitete nach dem Krieg als Chef des Si-
rechte zu Gunsten der Kläger und gegen den Staat Guatemala cherheitsdienstes des ebenfalls für Menschenrechtsverletzungen
entschieden. Die Staatsanwältin Elena Gregoria Sut Ren, die die bekannten Unternehmens Cemento Progreso, welches sich in Be-
Untersuchungen in den Verfahren durchgeführt hatte, ist bis heu- sitz der Familie Novella befindet. Er war auch in dieser Funktion
te Strafanzeigen ausgesetzt, so z.B. einer Strafanzeige durch das an Übergriffen beteiligt (Burt/Estrada 2022). Das Verfassungs-
Nationale Büro zur Prävention von Folter wegen angeblich selek- gericht wies am 22. Juli 2022 ein Rechtsmittel des Richters gegen
tiver Strafverfolgung von Beschuldigten. Sie erhält trotz akutem Anzeigen der FcT zurück und gab damit den Weg frei für die Auf-
Risiko keine staatlichen Schutzmaßnahmen (Corte IDH 2022b). hebung seiner Immunität. Das Höchstgericht bestätigte dieses
Generalstaatsanwältin Porras versetzte im Oktober 2021 die er- Urteil am 21. Oktober 2022. Es liegt auf der Hand, dass diese Ent-
fahrene Staatsanwältin für Menschenrechte Hilda Elizabeth Pine- scheidungen auch die Sicherheit und das Leben der Zeug:innen
da García, die mehrere aus dem Diario Militar resultierende Fälle und Überlebenden bedrohen.
bearbeitete und enthob sie im Juli 2022 gemeinsam mit 13 wei-

13
Beispiel II : Die Mine Fénix Pläne für die Manipulation der lokalen Bevölkerung und der con-
sulta. Zu diesen Strategien zählte auch die Kriminalisierung zen-
traler Akteur:innen des Widerstands gegen das Unternehmen
(López 2022).

Sowohl Journalist:innen (Prensa Comunitaria 2018) als auch indi-


gene Autoritäten (Simón Francisco 2022) sind aktuell der Krimi-
nalisierung ausgesetzt, und die Bestechung der lokalen Justiz und
der lokalen Sicherheitskräfte garantiert deren Handeln im Sinne
des Unternehmens.

Der Abbau der Rechtsstaatlichkeit im Kontext


wirtschaftlicher, sozialer und politischer Strukturen

Der Richter Miguel Ángel Gálvez ist nur einer von mehreren Mit-
gliedern des Justizwesens, die für Verurteilungen, die sie auf-
bauend auf Daten des Militärtagebuchs (und anderer Quellen)
Die Fabrik CGN Pronico in El Estor, wo das Nickel für den Export nach Europa aufgearbeitet wird.
aussprechen, von der FFcT und anderen militärnahen Kreisen
Foto: © Wolf-Dieter Vogel
verfolgt und bedroht werden. Dies betrifft z.B. auch die ehe-
Der Nickelabbau in El Estor am Izabal-See geht auf die 1960er malige Staatsanwältin Claudia Paz y Paz, die sich im Exil betrifft.
Jahre zurück. Er begann, ohne die Zustimmung der lokalen Bevöl- Die Ermittlungen zeigen auch immer wieder, dass Personen, die
kerung einzuholen. Während des Bürgerkriegs wurden Wissen- damals straflos an Folter und Morden beteiligt waren, auch heu-
schaftler:innen ermordet, die die engen Verflechtungen zwischen te Gewalttaten begehen. Ebenso zeigt sich, dass der Staat trotz
staatlichen Institutionen und Minenunternehmen sowie Umwelt- internationaler rechtlich bindender Entscheidungen nicht gewillt
schäden aufdeckten. Auch in den 1990er Jahren wurden Lizenzen ist, die Verfolgung der Richter:innen zu unterbinden und ihnen
zum Nickelabbau ohne Absprachen mit der indigenen Bevölke- adäquaten Schutz zukommen zu lassen. Verfolgte Richter:innen
rung vor Ort erteilt (Solano 2005: 36-39). 1997 verabschiedete aber auch Zeug:innen können vom Höchstgericht und dem Ver-
Guatemala ein Gesetz über Schürfrechte, welches die Rahmen- fassungsgericht in ihrer aktuellen Besetzung keine Hilfe erwarten.
bedingungen für internationale Minenunternehmen noch attrakti- Die Daten von Mining Secrets zeigt besonders anschaulich Zu-
ver machte und setzte Steuern und Abgaben auf ein Prozent der sammenhänge zwischen Korruption, Kriminalisierung von Ak-
Bruttogewinne des Unternehmens herab (Van de Sandt 2009: 11). teur:innen vor Ort, nationalen politischen und wirtschaftlichen
Nach mehreren Namenswechseln und Unternehmensübernah- Eliten und transnationalen Unternehmen auf. Gleichzeitig machen
men ist die Mine aktuell als Mina Fénix bekannt und befindet sich sie die historische Dimension sichtbar, die im vorliegenden Fall auf
in Besitz der schweizerischen Solway Investment Group. Zahlrei- die Zeit des Bürgerkriegs, in anderen Fällen auf die Landenteig-
che Manager des Subunternehmens Compañía Guatemalteca de nungen ab den 1870er Jahren, zurück gehen. Megaprojekte wie
Níquel sind russische Staatsangehörige. Minen, exportorientierte Monokulturen oder Staudämme dienen
wie zur Zeit des Kolonialismus einerseits dem ungehinderten Fluss
Im Jahr 2017 verfärbte sich der See rot und zahlreiche Fische und von Ressourcen nach Europa und Nordamerika, andererseits der
Schildkröten starben, die Anrainer:innen führten dies auf giftige Aufrechterhaltung von Privilegien einiger weniger Mitglieder der
Abwässer des Minenunternehmens zurück. Dieses stritt alle Vor- Wirtschaftselite. Für viele, insbesondere aber für Indigene, bedeu-
würfe ab, auch das zuständige Ministerium unternahm nichts. tet dies Armut und Vertreibung sowie die Zerstörung der Umwelt.
Proteste der Anrainer:innen wurden von der Polizei gewaltsam In diesen Fällen stehen lokale Umwelt- und Menschenrechtsver-
beendet, ein Fischer wurde erschossen. Die Polizei hatte zu dieser teidiger:innen nicht nur den Unternehmen vor Ort gegenüber,
Zeit bereits vier Jahre lang Bestechungsgelder von dem Unter- sondern mächtigen transnationalen Strukturen. So zählen zu den
nehmen erhalten. Einer Entscheidung des Verfassungsgerichts Kunden der Nickelmine in El Estor in Deutschland wahrscheinlich
aus dem Jahr 2019, dass das Unternehmen nur nach einer consul- unter anderem IKEA und Bosch-Siemens. Letztere belieferten das
ta, einer Befragung der lokalen Bevölkerung, weiterarbeiten dür- Minenunternehmen mit Equipment.8 Die Bestechungen und die
fe, kam dieses nicht nach. Auch im Oktober 2021 wurden Proteste Nichtbeachtung richterlicher Entscheidungen ist so in transnatio-
von Anrainer:innen von der Polizei gewaltsam aufgelöst, die Re- nale Geldflüsse eingebettet. Diese Struktur globaler Wirtschafts-
gierung verhängte den Ausnahmezustand über die Region. Ende beziehungen unterminieren lokale Rechtsstaatlichkeit.
2021 fand eine consulta statt, in die weder die Kläger:innen noch
die organisierten Fischer noch lokale indigene Autoritäten einge-
bunden waren.

Im März 2022 veröffentliche die Rechercheplattform Forbidden


Stories das Dossier Mining Secrets,7 das auf Hunderttausenden
geleakten Daten des Unternehmens beruht. Aus diesen geht her-
vor, dass Solway sehr wohl wusste, dass das Unternehmen die
Verschmutzung des Sees sowie andere Umweltschäden zu verant-
worten hatte, und dass es über ausgeklügelte Strategien der Be-
stechung und Einflussnahme auf die Polizei, das Militär, die lokalen
Autoritäten, die Justiz und die jeweilige Regierung verfügte, sowie

7   https://forbiddenstories.org/case/mining-secrets/
8   https://www.tagesschau.de/investigativ/schmutziger-nickelabbau-guatemala-101.html
14
AUSBLICK UND SCHLUSSFOLGERUNGEN FÜR DIE
UNTERSTÜTZUNG VON RECHTSSTAATLICHKEIT

Protestierende schreiben ihren Unmut und ihre Hoffnungen für ein anderes Guatemala auf ein großes Plakat (2017). Foto: © Eva Kalny

Da die Wahlen der Richter:innen zum Höchstgericht als auch zum Angesichts des geschwächten Justizwesens gewinnen Maßnahme
Verfassungsgericht sehr gezielt manipuliert wurden, ist aktuell wie die Lista Engel ebenso an Bedeutung wie Auslieferungsforde-
nicht davon auszugehen, dass im Land Gerichtsverfahren gegen rungen der USA und Gerichtsverfahren ebendort, wenn in Fällen
Korruption und Gewalt prosperieren können, wenn es sich bei den von Korruption und Geldwäsche ein Bezug zu den USA hergestellt
Beschuldigten um Mitglieder der Wirtschaftselite, des Militärs werden kann.
oder der Regierung handelt. Tatsächlich muss davon ausgegangen
werden, dass zahlreiche bereits wegen Korruption und Menschen- Empfehlungen
rechtsverletzungen verurteilte Personen vorzeitig aus der Haft
entlassen werden und sogar großzügige Entschädigungsgelder Die Unterstützung von Rechtsstaatlichkeit muss unter diesen Be-
erhalten, während unbestechliche Richter:innen, Staatsanwält:in- dingungen als langfristiges Unterfangen betrachtet werden und
nen und Zeug:innen mit weiteren Repressalien zu rechnen haben. die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen des Lan-
Die Verfolgung von Journalist:innen oder Menschenrechtsakti- des mitbedenken (u.a. Naveda 2019b).
vist:innen wird in der Regel nicht untersucht und geht teilweise
auch direkt vom Staat aus. Betroffenen können deshalb nicht mit Wichtige Aspekte solch einer Unterstützung sind:
staatlichem Schutz rechnen. Und so nimmt die Zahl derjenigen
zu, die sich gezwungen sehen, ins Exil zu gehen. Dies wiederum • Die weitere Entwicklung und der Ausbau von Unterstüt-
reduziert die Möglichkeiten, im Land Recherchen durchzuführen zungsmaßnahmen für jene, die sich gezwungen sehen ins Exil
und Missstände aufzudecken. Internationale Rechercheplattfor- zu gehen. Ziel sollte dabei auch sein, Mechanismen aufzu-
men wie Hidden Secrets können dazu beitragen, Korruption und bauen, damit diese Personen ihr Wissen und ihre Fähigkeiten
damit verbundene Angriffe auf lokale Justizsysteme aufzuzeigen. weiterhin zur Unterstützung der Rechtsstaatlichkeit einset-
Sie zeigen dabei auch die Beteiligung transnationaler Konzerne an zen können.
Korruption und an der Schwächung von Rechtsstaatlichkeit auf. • Die Unterstützung von Organisationen in Guatemala, die
unter absehbar noch schwieriger werdenden Umständen
Für lokale Menschenrechtsverteidiger:innen und bedrohte Mit- weiterhin für Rechtsstaatlichkeit eintreten sowie Menschen-
glieder des Justizwesens sind das interamerikanische Menschen- rechtsverletzungen und Angriffe auf die Rechtsstaatlichkeit
rechtssystem, das Menschenrechtssystem der UN und die ent- recherchieren, dokumentieren und publizieren.
sprechenden Mechanismen des Europäischen Parlaments und der • Die Nutzung aller diplomatischen Mittel auf nationaler Ebene
Europäischen Union wichtige Bezugspunkte. Zwar setzt die gua- sowie der Ebene der EU und der UN, um Rechtsstaatlichkeit
temaltekische Regierung die Empfehlungen und Gerichtsurteile und relevante Akteur:innen zu unterstützen.
kaum um, doch können diese wieder im Land genutzt werden, um • Die Entwicklung von Mechanismen, die sich an der Lista Engel
die breite Öffentlichkeit zu informieren und so auch Druck auf die orientieren.
Regierung auszuüben. Dies betrifft auch die aktuellen Resolutio- • Zahlreiche nationale Akteur:innen , die an der Demontage der
nen des Europäischen Parlaments (Parlamento Europeo 2019 & Rechtsstaatlichkeit Guatemalas beteiligt sind, verfügen über
2022). Gleichzeitig gilt es, lokale Organisationen dabei zu unter- Doppelstaatsbürgerschaften und sind auch EU-Bürger:innen.
stützen, aktuelle Menschenrechtsverletzungen zu dokumentie- Präsident Giammattei selbst ist z.B. auch italienischer Staats-
ren, um die Beweise in späteren Verfahren verwenden zu können.
15
bürger. Es sollten Mechanismen erarbeitet werden, mit denen
diese Personen für ihr Handeln seitens der Mitgliedsstaaten
der EU zur Verantwortung gezogen werden können.
• Die strikte Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze durch
ausländische Unternehmen. Das Beispiel der Mine Fénix in El
Estor zeigt, dass hier hoher Kontrollbedarf besteht.
• Die Entwicklung wirksamer Kontrollmechanismen für die
Einhaltung menschenrechtlicher und rechtsstaatlicher Stan-
dards bei allen Produkten, die in die EU bzw. Deutschland im-
portiert werden. Das bedeutet u.a. ein strenges Lieferketten-
gesetz mit effektiven Kontrollen.
• Handelsabkommen wie z.B. das Freihandelsabkommen der
EU mit Zentralamerika dürfen solche Kontrollen nicht unter-
laufen.
• Eine gezielte Befassung mit der deutschen Minderheit in
Guatemala und den Nachfahren jener Deutschen, die seit den
1870er Jahre von den Landzuweisungen und der Zwangs-
arbeit Indigener profitiert haben, sowie die Entwicklung von
Mechanismen der Entschädigung für die betroffenen indige-
nen Gemeinden. Dabei sollten progressive Ansätze der ge-
rade stattfindenden Auseinandersetzung um den deutschen
Kolonialismus in Afrika aufgegriffen und den spezifischen
Umständen angepasst weiterentwickelt werden.

16
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Smith, Carol A. (1988): Destruction of the material bases for Indian culture: economic changes in Totonicapán. In: Carmack, R. M. (Hg.):
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WEITERE INFORMATIONEN UND PUBLIKATIONEN

IM INTERNET UNTER
www.fdcl.org

KRIMINALISIERUNG VON DAS PHÄNOMEN


MENSCHENRECHTSVERTEIDIGER*INNEN STRAFLOSIGKEIT UND
IN ZENTRALAMERIKA SEINE VERORTUNG IM
LATEINAMERIKANISCHEN
KONTEXT IN
VERGANGENHEIT UND
GEGENWART
RAINER HUHLE

Forschungs-und
Dokumentationszentrum
Chile- Lateinamerika e.V.

REFORMA
EXTRAKTIVISMUS AGRARIA
RELOADED POPULAR!
ROHSTOFFPOLITIK IN LATEINAMERIKA SEIT DIE LANDFRAGE IN LATEINAMERIKA
DEM BOOM AB 2003 NEU STELLEN?
TOBIAS LAMBERT TOBIAS LAMBERT

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Chile- Lateinamerika e.V.

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Chile- Lateinamerika e.V.
verbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit oder schwere Menschenrechtsverletzungen in Aussicht stellen.“1 Ganz besonders ist die
Bekämpfung der Straflosigkeit im Rahmen der UNO mit dem Namen des französischen Richters Louis Joinet verbunden, der sich Mitte
der 1990er Jahre im Auftrag der damaligen Subkommission für Menschenrechte an die Erarbeitung von Grundsätzen über die Frage der
Straflosigkeit machte und 1997 die erste Fassung der heute allgemein als „Joinet-Prinzipien“ bekannten UN-Prinzipien zur Bekämpfung
der Straflosigkeit vorlegte,2 die später von der amerikanischen Juristin Diane Orentlicher überarbeitet wurden.3 Keines der beiden Do-
kumente liegt übrigens bisher in einer deutschen Fassung vor, was durchaus als Indiz für das vergleichsweise geringe Interesse an der
Diskussion um Straflosigkeit im deutschen Sprachraum gelten darf.

Staatenpflicht zur Strafverfolgung – Recht der Opfer auf Strafverfolgung? – Die zivilgesellschaftlichen Forderungen nach Bestrafung

[Foto 03 Berta Caceres von Steffi oder Foto 04


Und Foto 04-1 oder 04-2 Joinet klein]
Ganz anders sieht es dagegen in Lateinamerika aus. Ohne die dort entwickelten und vorgetragenen Forderungen aus der Zivilgesell-
schaft, insbesondere der Verbände von Familienangehörigen der Opfer, wäre die menschenrechtliche Normierung des Kampfs gegen
die Straflosigkeit kaum denkbar gewesen. Ehe Joinet seine Prinzipien niederschrieb, hatte er eine Reihe von Konsultationen, Work-
shops u.ä. in verschiedenen Ländern vor allem Lateinamerikas durchgeführt und sich die Argumente und Forderungen der Angehörigen
und der Menschenrechtsaktivist*innen angehört.
Die „Joinet-Prinzipien“ bestehen aus vier Säulen, die bis heute den Kern aller „transitional justice“-Anstrengungen bilden:
Das Recht auf Wahrheit (the right to know)
Das Recht auf Gerechtigkeit (the right to justice)
Das Recht auf Wiedergutmachung (the right to reparation)
Garantien gegen die Wiederholung der Verbrechen (guarantees of non-recurrence)

Alle vier Elemente berühren das Problem der Straflosigkeit, und alle vier werfen zahlreiche, meist von Joinet bereits angerissene Prob-
leme auf. Am direktesten ist die Straflosigkeit im Kontext des Rechts auf Gerechtigkeit angesprochen. Joinet leitet seinen Begriff eines
„Rechts auf Gerechtigkeit“ von dem allgemeinen Rechtsgrundsatz her, dass alle Menschen ein Recht auf „faire und wirksame Rechtsmit-
tel“ (right to a fair and effective remedy) haben, wenn sie Opfer von Unrecht werden. Dieses Recht ist auch in allen großen Menschen-
rechtsabkommen ausdrücklich garantiert.4 Joinet leitet aus diesem Rechtsprinzip nicht nur entsprechende Staatenpflichten ab, nämlich
die Pflicht, die Rechtsverletzungen zu untersuchen, die Täter zu verfolgen und, sofern ihre Schuld geklärt ist, auch zu bestrafen (Par. 27).
In seiner Sicht stehen diesen Staatenpflichten auch die entsprechenden Rechte der Opfer gegenüber, nämlich, dass die Täter vor Gericht
gestellt werden und die Opfer Entschädigungen erhalten (Par. 26).
Herausgegeben von:
Ein solches „Recht auf Gerechtigkeit“ als Menschenrecht
Forschungs- von Opfern politischer
und Dokumentationszentrum Großverbrechen
Chile-Lateinamerika e. V.war in expliziter Form bis dahin nicht
– FDCL
formuliert worden. In seinem bahnbrechenden ersten Urteil im Fall Velásquez Rodríguez
Gneisenaustraße 2a, D -10961 Berlin Vs. Honduras (1988), in dem der IAGMR erst-
mals das Verbrechen des Verschwindenlassens rechtlich fasste, hielt er ausdrücklich
Fon: +49 30 693 40 29 | E-Mail: info@fdcl.org fest, dass der internationale Menschenrechts-
schutz nicht mit dem Strafrecht verwechselt werden dürfe: „Das internationale
Internet: www.fdcl.org Menschenrechtsrecht hat nicht die Bestrafung der Täter
zum Ziel, sondern den Schutz der Opfer und die Wiedergutmachung des Schadens, der ihnen durch die für deren Ursachen verantwort-
lichen Staaten zugefügt wurde.“5 Und auch in seinen zahlreichen späteren
Autorin: Urteilen, in denen er Amnestien und andere Formen der Straf-
Eva Kalny
losigkeit verurteilte, tat der IAGMR dies mit Blick aufMaría
Titelbild: Staatenpflichten und auf
Soto und andere die Verletzung
Ixil-Frauen feiern, zahlreicher Menschenrechte der Opfer,
darunter das Recht auf effektive
nachdem Rechtsgarantien, formulierte aber kein
der ehemalige guatemaltekische „Recht
Diktator auf Gerechtigkeit“
Efraín Ríos Montt desim Sinn eines Rechts auf Bestrafung
Völkermords
der Täter. an den Ixil in den 1980er Jahren für schuldig befunden wurde.
Genau dies aber verlangten viele – nicht alle – Opfer- und Menschenrechtsorganisationen
Foto: Elena Hermosa/Trocaire (CC-BY 2.0) in ihrem Kampf zur Überwindung der latein-
amerikanischen Diktaturen und für ein „NieLayout:
Wieder“. Ingrid Navarreteund
„Verurteilung Bestrafung der Schuldigen“ war das Motto, unter dem die Müt-
| www.ingrid-navarrete.de
ter der Plaza de Mayo noch unter der Diktatur in Argentinien 1982 ihre wöchentlichen
Druck: Hinkelsteindruck, 10997 Berlin Runden vor dem Regierungsplatz drehten.6 Und
in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre fanden in zahlreichen lateiname

1  The rule of law and transitional justice in conflict and post-conflict societies, Report of the Secretary-General, 23
August 2004 (S/2004/616).
2  Question of the Impunity of Perpetrators of Human Rights Violations (Civil And Political): Revised Final Report Pre-
Eva Kalny Decision
pared by Mr. Joinet Pursuant to Sub-Commission | FDCL | Berlin, 2022 (E/CN.4/SUB.2/1997/20/REV.1, 2. Oktober
1996/119
1997. ISBN: 978-3-949237-03-4
3  Report of the independent expert to update the Set of Principles to Combat Impunity, UN (Document) Doc E/
CN.4/ 2005/ 102 (18 February 2005).
4  Z.B. in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische
Rechte, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Interamerikanischen Menschenrechtskonvention.
5  Corte IDH. Caso Velásquez Rodríguez Vs. Honduras. Fondo. Sentencia de 29 de julio de 1988. Serie C No. 41, Par.
134.
6  vgl. die Forderungen der Madres de Plaza de Mayo in Argentinien seit 1980, in: Hauck, Kuno / Rainer Huhle: „20
Jahre Madres de Plaza de Mayo - Geschichte, Selbstverständnis und aktuelle Arbeit der ‘Madres de Plaza de
Mayo’ in Argentinien“, in: Detlef Nolte (Hg.): Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika, Frankfurt 1996, S. 108-
127; hier S. 112f.

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