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LOHENGRIN
VON RICHARD WAGNER UND ANDEREN
ALVIS HERMANIS
REGIE
INSGEHEIM LOHENGRIN
VON RICHARD WAGNER, ALVIS HERMANIS, GÖTZ LEINEWEBER,
WOLFRAM RUPPERTI, CHARLOTTE SCHWAB, ULRIKE WILLENBACHER,
PAUL WOLFF-PLOTTEGG UND MANFRED ZAPATKA
ESKIL HELGA
WOLFRAM RUPPERTI CHARLOTTE SCHWAB
KATHI OTTO
ULRIKE WILLENBACHER PAUL WOLFF-PLOTTEGG
HEINER GEIST
MANFRED ZAPATKA ENRICO POLLATO
ALVIS HERMANIS
REGIE + BÜHNE
PREMIERE
5 MAI 2017
Vorstellungsdauer ca 2 Std 35 Min
Eine Pause
ERSTER AKT
König Heinrich I. ist nach Brabant gekommen, um ein Heer für den Krieg
gegen die Ungarn auszuheben und Gerichtstag zu halten. Friedrich von
Telramund verklagt Elsa, die Tochter des einstigen Herzogs von Brabant,
ihren Bruder Gottfried ermordet zu haben. Er selbst erhebt Anspruch auf
den Thron. Vor den König gerufen, schweigt Elsa zu den Anschuldigungen.
Ein Gottesgericht soll entscheiden: Ein Streiter für Elsas Unschuld wird
aufgerufen, aber keiner wagt den Zweikampf. Die Aufforderung ergeht ein
weiteres Mal, da wird Elsas Gebet erhört. Von einem Schwan geleitet, er-
scheint ein unbekannter Ritter, wie ihn Elsa im Traum voraussah. Er will für
sie kämpfen und bietet ihr seine Hand an, unter der Bedingung, dass sie nie
nach seinem Namen und nach seiner Herkunft frage. Elsa gelobt es. Der
Ritter besiegt Telramund, schenkt ihm aber das Leben.
DRITTER AKT
Am Hochzeitsbett finden sich die Liebenden zum ersten Mal allein. Doch
wachsende Zweifel lassen in Elsa den Wunsch übermächtig werden, We-
sen und Geheimnis ihres Mannes zu ergründen. Trotz aller Warnungen stellt
sie die verbotene Frage. Mit erhobenem Schwert dringt Telramund ein; er
wird getötet. Am nächsten Morgen beschuldigt der Schützer von Brabant
vor dem König und dem Heer den erschlagenen Telramund des versuchten
Meuchelmordes und klagt Elsa an, ihren Schwur gebrochen zu haben. Jetzt
muss er sein Geheimnis preisgeben: Er ist der Sohn des Gralskönigs Parzival,
gesandt, um für Elsas Unschuld einzutreten; sein Name: Lohengrin. Den
Gralsrittern ist überirdische Macht nur verliehen, solange sie unerkannt
bleiben. Schon naht der Schwan. Im Triumph über das Scheitern Lohengrins
offenbart Ortrud, sie selbst habe Elsas Bruder in den Schwan verwandelt.
Lohengrins Gebet erlöst Gottfried, der zum Führer des Heeres bestimmt
wird. Lohengrin muss zum Gral zurückkehren.
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Geheimnisvoll ist der Ritter gekom-
Paulus Cassel men. Sieg und himmlisches Wesen
fesseln die Braut. Wer so erscheint
braucht im Momente weder Namen
noch Ahnen. Er kann seine Heimat
[..] Der Schwanritter [..] kommt nicht nicht nennen, sonst muss er nach
von selbst. Von einer göttlichen Vor- Haus. Wenn er bleiben soll, muss Er-
sehung ist die Welt regiert. Die Not innerung schweigen. Die Liebe, die
findet durch Gebet einen Helfer. Nicht jetzt geblendet von seiner Tat, nicht
von Ohngefähr geschieht die Rettung, fragt, muss niemals fragen. Die jetzt
die der Bedrängte erfährt. Der Ritter nicht zweifelt, muss niemals zweifeln. So stellt er zur Bedingung seines Blei-
mit dem Schwanenschiff ist das ro- bens an die Geliebte die Bitte, ihn niemals nach seiner Herkunft zu fragen.
mantische Abbild dieser unerwarte- Täte sie es, dann wäre es um seine An-
ten aber in der göttlichen Vorsehung wesenheit geschehen. Aus welcher
ruhenden Hilfe. Der Schwan trägt das Quelle auch die Frage käme, das un-
weiße Lichtkleid, welches auch die Engel tragen. Auch die Engel fliegen bewusst sich selbst verbergende Le-
sonst in wunderbarer Art. Hier bringt der Schwan als Symbol des Schif- ben in der Liebe ist verletzt. Mit der
fes die Botschaft. Das Schiff kommt auf der Flut, welche die unbegrenzte Frage, woher er ist, wird er erinnert,
Weite himmlischer Natur abbildet. „Gott hat uns fremde Gäste geschickt”, wohin er gehört. Im Augenblick ver-
spricht König Karl im Gedichte Conrad von Würzburgs, als er den Schwan spricht die Geliebte alles. Was ver-
sieht. Der Ritter kommt zur rechten Zeit, um der weinenden Herzogin zu spräche man dann nicht! Aber die Zeit
helfen. Man weiß ja, wo man helfen kann, dass Not ist. Der Gral ist die ro- vergeht. Sieben Jahre hält die Frau es
mantische Statt himmlischer Hilfe und Barmherzigkeit. Als Elsa in heißem aus. Die Gewohnheit scheint jedes Bedenken zu bedecken. Die Neugier, die
Gebet um einen Retter bei Gott fleht, sich mit Liebe entschuldigt, vergisst das Versprechen, das Liebe gegeben
läuten auf Montsalvas die Glocken, und sie fragt. Damit ist ihr Glück zu Ende. Der Schleier ist zerrissen. Die Erin-
zum Zeichen, dass jemand hilfsbe- nerung ist aufgewacht. Die Heimat ruft. Der Schwan ist am Ufer, den Gatten
dürftig ist. Lohengrin wird abgesandt, zu holen. Die Zeit ist um. Elsa muss ihn lassen. Sie hat ihn nie völlig gehabt
um der Dame beizustehen. Er steigt in und sieht ihn niemals wieder. Welch sinniges Bild von idealem Schmerz und
das Schwanschiff, das mit ihm zur Hil- Leben. [..] Der Schwanritter scheidet in Schmerz. [..] Ihn zwingt die eige-
fe göttlich eilt. Reizend ist die ganze ne höhere Natur, die er meinte stillen zu können. Sie zwingt ihn mittelst
Poesie des Schwanes in dem Schwan- der Liebe, um welcher er sich verleugnet. Wie zur Tragödie wird es, denn
ritter wiedergegeben. Der Held ist die Frau, um derentwillen er Himmlisches aufgab, treibt ihn durch sinnliche
nur die ritterliche Persönlichkeit sei- Schwäche hinaus und muss selber leiden. Vergeblich streckt sie die Arme
ner Natur und seines Symbols. Licht, Liebe und kraftvolle Tugend sind seine ihm nach, er kehrt nicht wieder. Bald erreicht ihn nicht mehr der klagende
Art. Vom Licht zeugt sein Kleid und seine englische Botschaft. Kraft ist des Ruf und sie ist mit dem Schmerz allein. Der Schmerz folgt immer nach, wenn
Schwanes Natur im gerechten Kampf. die Menschen vergessen. Immer, wenn
Der Schwan hat tadellose Sitte, sagt auch die schönste Gewohnheit den
Aristoteles. Der Adler greift ihn an, überlegnen Geist zu sich herunterge-
aber er wird überwunden nicht bloß zogen meint. Immer, wenn Unzartheit
durch Stärke, sondern durch die ge- das elastische Band zerreißt, womit
rechte Sache. Der Schwan greift Liebe die Seele fesselt. Wer vergisst,
nicht an, sondern er wehrt nur sünd- was er empfangen, wird durch Erinne-
haftes Wesen ab. Schwäne und Dra- rung verlieren. Wer das Heil fühlt, das
chen sind Feind. So besiegt Lohengrin ihn belebt, fragt nicht, wessen Sohn er
den wilden Ritter von Telramond. ist. Er weiß es selbst, des Himmels. [..]
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aus der Höhe nach der Tiefe, aus dem sonnigen Glanze der keu-
Richard Wagner schesten Reine nach dem trauten Schatten der menschlichsten
Liebesumarmung. Von dieser Höhe gewahrte mein verlangender
Blick das Weib: das Weib, nach dem sich der fliegende Holländer
[..] Ich war mir jetzt meiner vollsten Einsamkeit als künstlerischer aus der Meerestiefe seines Elendes aufsehnte; das Weib, das dem
Mensch in einer Weise bewusst geworden, dass ich zunächst einzig Tannhäuser aus den Wollusthöhlen des Venusberges als Himmels-
aus dem Gefühle dieser Einsamkeit wiederum die Anregung und das stern den Weg nach oben wies und das nun aus sonniger Höhe
Vermögen zur Mitteilung an meine Umgebung schöpfen konnte. Da Lohengrin hinab an die wärmende Brust der Erde zog. –
sich diese Anregung und dieses Vermögen so kräftig in mir kundga- Lohengrin suchte das Weib, das an ihn glaubte: das nicht früge,
ben, dass ich, selbst ohne alle bewusste Aussicht auf Ermöglichung wer er sei und woher er komme, sondern ihn liebte, wie er sei und
einer verständlichen Mitteilung, mich dennoch eben jetzt auf das lei- weil er so sei, wie er ihm erschiene. Er suchte das Weib, dem er sich
denschaftlichste zur Mitteilung gedrängt fühlte, so konnte dies nur nicht zu erklären, nicht zu rechtfertigen habe, sondern das ihn un-
aus einer schwärmerisch-sehnsüchtigen Stimmung hervorgehen, wie bedingt liebe. Er musste deshalb seine höhere Natur verbergen, denn
sie aus dem Gefühle jener Einsamkeit entstand. – Im „Tannhäuser“ gerade eben in der Nichtaufdeckung, in der Nichtoffenbarung die-
hatte ich mich aus einer frivolen, mich anwidernden Sinnlichkeit – ses höheren – oder richtiger gesagt: erhöhten – Wesens konnte ihm
dem einzigen Ausdrucke der Sinnlichkeit der modernen Gegenwart – die einzige Gewähr liegen, dass er nicht um dieses Wesens willen nur
herausgesehnt; mein Drang ging nach dem unbekannten Reinen, bewundert und angestaunt, oder ihm – als einem Unverstandenen –
Keuschen, Jungfräulichen, als dem Elemente der Befriedigung für ein anbetungsvoll demütig gehuldigt würde, wo es ihn eben nicht nach
edleres, im Grunde dennoch aber sinnliches Verlangen, nur ein Ver- Bewunderung und Anbetung, sondern nach dem einzigen was ihn aus
langen, wie es eben die frivole Gegenwart nicht befriedigen konnte. seiner Einsamkeit erlösen, seine Sehnsucht stillen konnte, – nach
Auf die ersehnte Höhe des Reinen, Keuschen hatte ich mich durch die Liebe, nach Geliebtsein, nach Verstandensein durch die Liebe ver-
Kraft meines Verlangens nun geschwungen: Ich fühlte mich außer- langte. Mit seinen höchsten Sinnen, mit seinem wissendsten Be-
halb der modernen Welt in einem klaren heiligen Ätherelemente, das wusstsein wollte er nichts anderes werden und sein, als voller, ganzer,
mich in der Verzückung meines Einsamkeitsgefühles mit den wollüsti- warm empfindender und warm empfundener Mensch, also überhaupt
gen Schauern erfüllte, die wir auf der Spitze der hohen Alpe empfin- Mensch, nicht Gott d. h. absoluter Künstler. So ersehnte er sich das
den, wenn wir, vom blauen Luftmeer umgeben, hinab auf Gebir- Weib, – das menschliche Herz. Und so stieg er herab aus seiner won-
ge und Täler blicken. Solche Spitzen erklimmt der Denker, um auf nig öden Einsamkeit, als er den Hilferuf dieses Weibes, dieses Her-
dieser Höhe sich frei, „geläutert“ von allem „Irdischen“, somit als zens mitten aus der Menschheit da unten vernahm. Aber an ihm haftet
höchste Summe der menschlichen Potenz zu wähnen: Er vermag hier unabstreifbar der verräterische Heiligenschein der erhöhten Natur;
endlich sich selbst zu genießen und bei diesem Selbstgenusse, un- er kann nicht anders als wunderbar erscheinen; das Staunen der Ge-
ter der Einwirkung der kälteren Atmosphäre der Alpenhöhe, endlich meinheit, das Geifern des Neides wirft seine Schatten bis in das Herz
selbst zum monumentalen Eisgebilde zu erstarren, als welches er, als des liebenden Weibes; Zweifel und Eifersucht bezeugen ihm, dass er
Philosoph und Kritiker, mit frostigem Selbstbehagen die warme Welt nicht verstanden, sondern nur angebetet wurde, und entreißen ihm
der lebendigen Erscheinungen unter sich betrachtet. Die Sehnsucht, das Geständnis seiner Göttlichkeit, mit dem er vernichtet in seine
die mich aber auf jene Höhe getrieben, war eine künstlerische, sinnlich- Einsamkeit zurückkehrt. [..]
menschliche gewesen: Nicht der Wärme des Lebens wollte ich ent-
fliehen, sondern der morastigen, brodelnden Schwüle der trivialen
Sinnlichkeit eines bestimmten Lebens, des Lebens der modernen
Gegenwart. Mich wärmte auch auf jener Höhe der Sonnenstrahl der
Liebe, deren wahrhaftigster Drang mich einzig aufwärts getrieben
hatte. Gerade diese selige Einsamkeit erweckte mir, da sie kaum mich
umfing, eine neue, unsäglich bewältigende Sehnsucht, die Sehnsucht
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Einwirkung ihrer Persönlichkeit auf den Meister zu danken, als der Fü-
Julius Kapp gung des Geschicks, die ihren Liebesbund zu einem tragischen gestal-
tete, sie zur leidensvollen Entsagung zwang und dadurch bei Wagner
einen Seelenzustand auslöste, der seiner Veranlagung nach dem Ge-
„Nicht Gut, nicht Gold, / noch göttliche Pracht; / nius in ihm die denkbar günstigsten Entfaltungsmöglichkeiten bieten
nicht Haus, nicht Hof, / noch herrischer Prunk; / musste. Fraglos hat Wagner Mathilde geliebt, wie kein Weib vor noch
nicht trüber Verträge / trügender Bund, / nicht heuchelnder Sitte / nach ihr; noch nach Jahren schreibt er: „Sie ist und bleibt meine ers-
hartes Gesetz: / selig in Lust und Leid / lässt – die Liebe nur sein.“ te und einzige Liebe! Das fühl` ich nun immer bestimmter. Es war der
Höhepunkt meines Lebens.“ Wagner stand ja auch, als Mathilde sei-
Wie ein Leitmotiv klingt dieses Wort, Brünnhildens Weisheit letzter nen Lebensweg kreuzte, im Zenit seiner Kraft, während er, als Cosima
Schluss, durch Wagners Erdenbahn. Die Liebe ist der Brennpunkt sei- die Seine wurde, schon die Fünfzig überschritten hatte. Ob allerdings
nes Lebens, der Quell seines Schaffens. Und dennoch war Wagner kein Mathilde mit ihrer weichen, sinnigen Natur auch imstande gewesen
Günstling der Venus, kein Liebling der Frauen, wie etwa Goethe oder wäre, Wagners Lebensgefährtin zu werden, ob sie, die zu seiner Muse
Franz Liszt, denen sich noch im hohen Alter verzückte Weiblichkeit bestimmt war, auch als tatkräftige Vorkämpferin, wie er sie später zur
begehrend in den Weg warf. Dazu fehlten seinem Äußeren wie sei- Verwirklichung des Geschaffenen an seiner Seite haben musste, sich
nem Wesen alle Reize eines Don Juans. Das Ritterliche, liebenswürdig bewährt hätte, das darf mit Recht bezweifelt werden.
Betörende, graziös Tändelnde, alle Hilfsmittel eines auf dem Parkett Diese Fähigkeiten hätte weit eher Wagners erste Gattin, Minna,
vornehmer Salons heimischen Liebesritters waren ihm, dem schwer- besessen, der dafür wiederum Mathildens Vorzüge gänzlich mangel-
blütigeren, biederen sächsischen Beamtensohn versagt. ten. Doch als sie ihm zur Seite stand, konnte von etwas derartigem
Von Natur mit starker Sinnlichkeit behaftet, hatte Wagner, den, noch nicht die Rede sein. Ihr war vom Schicksal die undankbarste Auf-
wie er selbst erzählt, schon als kleinen Knaben Berührungen von gabe von allen Frauen in Wagners Leben zuerteilt. Bei ihrer Verhei-
weiblicher Hand oder das Betasten der schwesterlichen Garderobe- ratung war sie die gefeierte Schauspielerin und er ein armer Teufel
gegenstände wollüstig erregen konnten, frühzeitig die Geheimnisse von stellenlosem Kapellmeisterlein. Sie fühlte sich ihm in jeder Be-
der Liebe kennengelernt. Mit wilder Begier hatte er sich dem sinnli- ziehung weit überlegen und versäumte es, wie das bei der Nachwir-
chen Genuss hingegeben, getreu seinem späteren Tannhäuser-Wort: kung eines solchen ersten Eindrucks meist der Fall ist, später, als er
„Und im Genuss nur kenn` ich Liebe.“ Die neben der realistischen Be- sie längst überflügelt hatte und sein Genius die Schwingen entfaltete,
tätigung seines Triebverlangens allmählich aufkeimenden seelischen diese Auffassung zu revidieren. Sie hatte die magersten Jahre mit ihm
Gefühlsregungen schlugen, wie dies in solchen Fällen, zumal bei ste- durchlebt, gedarbt und gehungert, sah dann nach einer kurzen Peri-
tem Umgang mit ausschließlich weiblichen blutsverwandten Personen ode ungetrübten Glücks das mühsam Erkämpfte durch den Mutwillen
(wie in Richards vaterlosem Elternhaus), meist zu geschehen pflegt, ihres Mannes, wie sie meinte, in Trümmer gehen und stand, als die
in ein unsinnliches, verehrungsvolles Anschmachten des geliebten wahre Sonne des Glücks über Richards Haupt aufgegangen, einsam
Wesens um. Erst die Vereinigung dieser beiden extremsten Pole des und verlassen abseits – eine kranke, verbitterte Frau.
Liebestriebes in der Gestalt der durch Veredlung einer anfangs rein Hatte Wagner in Minna die treue, aufopferungsfähige Lebens-
sinnlichen Liebelei gewonnenen Geliebten und Lebensgefährtin löste gefährtin besessen, die rührend für ihn sorgte und ihn pflegte, die
diesen Zwiespalt. [..] aber seinem Künstlertum nicht gerecht zu werden vermochte, war
Wirft man die Frage auf, welche der drei Frauen: Minna, Mathilde ihm andererseits in Mathilde die gerade den Künstler befeuern-
und Cosima, die in seinem Leben eine entscheidende Rolle gespielt de Muse erstanden, so gewährte ihm der Abend seines Lebens in
haben, für den schaffenden Künstler Wagner die bedeutungsvollste Cosima schließlich die Frau, die beides in sich vereinte. Eine der sei-
war, so kann die Antwort nur lauten: Mathilde Wesendonck. Sie besaß, nen verwandte Begabung befähigte sie, dem Genius überallhin zu fol-
als seine Muse, die geheime Kraft, alle Saiten seiner schöpferischen gen, ihre kühn zugreifende, fanatisch, ohne Rücksicht auf die Ihri-
Zauberharfe zum Erklingen zu bringen, seinem Genius die höchsten gen oder die Stimme der Welt, auf das in der Vereinigung mit Wagner
Offenbarungen zu entlocken. Dies ist vielleicht weniger einer direkten erblickte Ziel losgehende Energie, verbunden mit einem ungemein
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praktischen Blick für die Erfordernisse des Lebens, Organisationsta- Minna Wagner
lent und Geschäftssinn machten sie zur unschätzbaren Mitarbeite-
rin und Helferin des Meisters. Überdies war ihr noch vergönnt, dem
weit umhergeworfenen, heimatlosen Mann, dessen Liebessehnen in Mathilde Wesendonck
ihrer herben, fast männlichen Art Erfüllung fand, das so lang verge-
bens gesuchte eigene Heim zu bereiten und seinen heißesten Wunsch
nach einem Sohn und Erben zu erfüllen. Wie Cosima nach Wagners
Tod das schier Unmögliche verwirklicht: mit eisernem, unbeugsamem
Willen das Lebenswerk des Meisters zum Sieg gesteuert, der Welt
„Bayreuth“ erhalten hat – eine Tat, die nie hoch genug gepriesen
werden kann –, so war sie auch schon zu seinen Lebzeiten die Herr-
scherin von Wahnfried, die alles lenkende und bestimmende Kraft.
Wagners zum Verkehr mit der Welt ungeeignetes, egozentrisches
Wesen bedurfte eines solchen starken Anwalts seiner Sache. Wenn
Cosima in ihrem ehrgeizigen Streben und der blinden Anbetung des
Meisters selbst einige seiner Schwächen gesteigert und, indem sie
eine Art Fürstenhof in Bayreuth ins Leben rief, den schon 1876 von
Nietzsche so peinlich empfundenen Kult mit der Person Wagners
heraufbeschworen hat, so sind das vorüberhuschende Schatten, die
ihr Gesamtbild nicht zu trüben vermögen.
Minna, Mathilde und Cosima, diese drei Brennpunkte des
Wagnerschen Liebeslebens, eine: die er heiratete, eine: die seine un-
sterbliche Geliebte war, und eine: die ihn heiratete, hatten jede ihre
besondere Bestimmung in seinem Leben zu erfüllen, jede trat gerade
in dem ihrer Aufgabe nach richtigen Augenblick in seine Erdenbahn.
Welcher von ihnen der Preis gebührt? Eine schwer zu entscheidende,
müßige Frage. Sie alle haben, jede in ihrer Art, unvergängliche Ver-
dienste um den Menschen wie Künstler sich errungen und besitzen
ein Anrecht auf den Dank und die Achtung der Nachwelt. Darum las-
se man endlich alle kleinliche Rivalität und Eifersüchtelei fahren und
neige sich in der gerechten Anerkennung, dass wir ohne diese Frauen
wohl schwerlich das Wagnersche Kunstwerk in seiner heutigen Grö-
ße und Ausdehnung besäßen, dem glanzvollen weiblichen Dreigestirn:
Minna, Mathilde, Cosima.
[..] So stark auch bei dem männlichen Tiere der höchsten Gattungen die lei- [..] Cosima Wagners Aufzeichnungen brechen am Vorabend von RWs Tod
denschaftliche Brunst bereits auch auf die Individualität des Weibchens ge- ab. Am 13. Februar 1883 lässt RW sich beim Mittagstisch entschuldigen.
richtet sein mag, so beschützt es die Mutter doch nur so lange, bis diese Im Arbeitszimmer schreibt er an dem Aufsatz „Über das Weibliche im
selbst im Stande ist, die Jungen zur Selbsterhaltung soweit anzuleiten, dass Menschlichen“. Nach den letzten Notizen: „Gleichwohl geht der Prozess der
sie endlich sich selbst überlassen werden und auch der Mutter sich entfrem- Emanzipation des Weibes nur unter ekstatischen Zuckungen vor sich. Liebe –
den können [..]. Hiergegen nun wäre zu behaupten, dass die Ausscheidung Tragik“, erleidet er einen Herzanfall, gegen 15.30 Uhr stirbt er in Cosimas
des Menschen aus dem tierischen Gattungsgesetze zuerst sich dadurch voll- Armen. Wagners Hausarzt in Venedig, Dr. Friedrich Keppler, schreibt über
zog, dass die Brunst in ihm als leidenschaftliche Zuneigung auf das Individuum RWs Krankheit und die Ursache seines Todes: „Richard Wagner litt an einer
sich wandte [..]. Liebestreue: Ehe; hier liegt die Macht des Menschen über weit vorgeschrittenen Herzerweiterung, speziell Erweiterung der rech-
die Natur, und wir nennen sie göttlich. Sie ist die Bildnerin der edlen Rassen.1 ten Herzkammer mit konsekutiver fettiger Degeneration des Herzfleisches.
Leicht dürfte das Hervorgehen dieser aus den zurückbleibenden niedereren Außerdem war er mit einer ziemlich ausgedehnten Magenerweiterung und
Rassen durch das Hervortreten der Monogamie aus der Polygamie erklärt einer rechtsseitigen inneren Leistenhernie behaftet. Letztere war beson-
werden können; gewiss ist, dass die edelste weiße Rasse in Sage und Ge- ders schwer zurückzuhalten und außerdem lange Zeit durch ein möglichst
schichte bei ihrem ersten Erscheinen monogamisch auftritt, als Eroberer unpassendes Bruchband malträtiert worden, so dass der erste Rat, den ich
durch polygamische Vermischung mit den Unterworfenen sofort aber ihrem ihm überhaupt erteilte, in der Verordnung eines passenden Bruchbandes be-
Verderben entgegen geht.2 [..] Von vorzüglichen Köpfen wird die Polygamie stand. Die Leiden, von denen Richard Wagner in den letzten Monaten seines
als der natürlichere Zustand angesehen, wogegen die monogamische Ehe als Lebens heimgesucht war, bestanden zunächst in Störungen, die vom Magen
ein stets neu unternommenes Wagnis gegen die Natur gilt. Gewiss stehen und Darm ausgingen, vor allem in hochgradigem Meteorismus, hiezu gesell-
polygamische Völker dem Naturzustande näher und erreichen hierbei, so- ten sich dann, aber immer erst sekundär sowohl durch direkte mechani-
bald nicht störende Mischungen unterlaufen, die Reinerhaltung ihrer Rasse sche Beengung des Brustraumes in Folge der massenhaften Gasentwicklung
mit dem Erfolge, mit welchem die Natur die tierischen Geschlechter unver- in Magen und Gedärmen, als durch Reflex von Magen- auf die Herznerven,
ändert sich gleich erhält. Nur ein bedeutendes Individuum kann der Poly- qualvolle Störungen in der Herzaktion, welche schließlich durch Ruptur der
game nicht erzeugen, außer unter der Einwirkung des idealen Gesetzes der rechten Herzkammer die Katastrophe herbeiführten; dass die zahllosen
Monogamie, wie es ja selbst durch leidenschaftliche Zuneigung und Liebe- psychischen Aufregungen, welchen Wagner durch seine eigentümliche Geis-
streue in den Harems der Orientalen seine Macht zuweilen ausübt. Hier ist tesanlage und Geistesrichtung, durch seine scharf prononcierte Stellung zu
es, wo das Weib selbst über das natürliche Gattungsgesetz erhoben wird, einer Reihe brennender Fragen in Kunst, Wissenschaft und Politik, durch seine
welchem es andererseits nach der Annahme selbst der weisesten Gesetz- merkwürdige gesellschaftliche Position, alltäglich ausgesetzt war, viel zur
geber so stark unterworfen blieb, dass z. B. der Buddha es von der Möglichkeit Beschleunigung des unglücklichen Endes beigetragen haben, ist selbstver-
der Heiligwerdung ausgeschlossen gehalten wissen wollte.3 Es ist ein schöner ständlich. Der Anfall selbst, der dem Leben des Meisters ein so jähes Ende
Zug der Legende, welcher auch den Siegreich-Vollendeten zur Aufnahme des setzte, muss eine ähnliche Veranlassung gehabt haben, doch kann ich mich
Weibes sich bestimmen lässt. Gleichwohl geht der Prozess der Emanzipation auf diesbezügliche Vermutungen nicht einlassen. Die ärztliche Behandlung,
des Weibes nur unter ekstatischen Zuckungen vor sich. Liebe – Tragik. die ich Wagner angeraten hatte, bestand in Massage des Unterleibes und
Applikation eines passenden Bruchbandes; arzneiliche Behandlung vermied
Vendramin, 11. Febr. 1883. ich soviel als nur möglich, da Wagner die üble Gewohnheit hatte, viele und
starke Arzneimittel, welche ihm von verschiedenen Ärzten, die er schon
früher konsultiert hatte, verordnet worden waren, oft in großen Mengen
durcheinander einzunehmen.“ [..]
Fußnoten
1 Nur aus solcher Ehe konnten die Rassen sich auch in der Zeugung veredeln.
2 Bei Eroberern sogleich Polygamie (Besitz).
3 Idealität des Mannes – Naturalität des Weibes – (Buddha) – nun – Entartung des Mannes.
Kunst ist ein Urbegriff, erhaben wie die Gottheit, unerklärlich wie das Le- L‘Etat c‘est moi! Ludwig XIV. hat es allein für sich in Anspruch genommen
ben, undefinierbar und zwecklos. Das Kunstwerk entsteht durch künst- zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte, das kann heute jeder
lerisches Abwerten seiner Elemente. Ich weiß nur, wie ich es mache, ich Mensch für sich in Anspruch nehmen. Also heute ist jeder Mensch Son-
kenne nur mein Material, von dem ich nehme, ich weiß nicht zu welchem nenkönig; das ist das Prinzip. (Interview 1970)
Zwecke. Das Material ist so unwesentlich, wie ich selbst. Wesentlich ist
das Formen. GW 5, 76 (Merz, 1920)
Jim Jarmusch
Nur Kurt Schwitters kann über Kurt Schwitters sprechen. GW 3, 43 (Merz, 1920)
Ich würde lieber einen Film über jemanden machen, der seinen Hund aus-
führt, als über den Kaiser von China. (Interview 2005)
El Lissitzky
Die Bildleinwand ist mir zu eng geworden. Der Kreis der Farbenharmonien-
Feinschmecker ist mir zu eng geworden, und ich schuf den Proun als Um-
steigestation aus der Malerei in die Architektur. Schriften 321 (Persönliches)
[..] Die kulturpolitische harte Linie in der Sowjetunion und der DDR war die Linie einer qua- „Lohengrin“ in Moskau 1923
litativ neuen realistischen Kunst, des sozialistischen Realismus, den Josef Stalin und An- [..] Die Premiere der zweiten Moskauer nachrevolutionären „Lohengrin“-Inszenierung
drei Schdanow im Jahre 1934 als einzige legitime Schaffensweise proklamiert hatten. Ge- fand am 29. März 1923 im Bolschoi-Theater statt. [..] Das Ganze – der Farbenreichtum, das
mäß dieser harten Linie in der Kulturpolitik hatte die Kunst einen eindeutigen Zweck, und konstruktivistische Bühnenbild, der statische Chor – erinnerte hinsichtlich seiner Lesart
zwar das sozialistische Bewusstsein der Bevölkerung zu stärken und somit auf die Verwirk- und Ästhetik an die Inszenierung von 1918. Es ist auch bekannt, dass während des Vor-
lichung der großen sozialistischen Utopie der Entstehung des neuen Menschen produktiv spiels auf den Zwischenvorhang Farben projiziert wurden. Weißes, silbriges und goldenes
einzuwirken. Während aber Wagners letztes Musikdrama „Parsifal“ als lebensverneinendes Licht wies auf die Protagonisten Lohengrin und Elsa hin, Schwarz und Golddunkel auf die
pessimistisches Werk leicht aus dem sozialistischen Spielplan gestrichen werden konnte, Bösewichte Ortrud und Telramund. Vom Standpunkt der harten Linie aus hatte bestimmt
gestaltete sich die Sache bei der anderen Gralsoper „Lohengrin“ komplizierter. Die Ironie weder der „Lohengrin“ als Oper noch die Form der Neuinszenierung etwas mit der er-
der Geschichte liegt darin, dass der im Kontext des deutschen Vormärz zwischen 1845 und sehnten realistischen proletarischen Kultur zu tun, weshalb die Oper und deren Inszenie-
1848 als „linke“ Oper entstandene „Lohengrin“ nach der Reichsgründung von der „rech- rung Angriffsflächen boten. [..] Die Kontroverse um das Repertoire des Bolschoi-Theaters
ten“ Seite vereinnahmt wurde und daher im 20. Jahrhundert bei der politischen Linken reflektiert eine markante Wende im Umgang mit dem kulturellen Erbe. Diesmal wurden
weitgehend auf Ablehnung stieß. Wagners sozialutopische Ideen traten zu symbolisch und nicht zeitgenössische Werke attackiert, sondern Klassiker des vorigen Jahrhunderts. Vom
zu vage in Erscheinung, als dass eine Vereinnahmung von Seiten der kulturpolitischen har- kulturellen Erbe wurden ähnliche nützliche Eigenschaften für die Hervorbringung des so-
ten Linie in der Sowjetunion oder der DDR in Frage gekommen wäre. Die „linken“ Ideen im zialistischen Menschen gefordert wie von der zeitgenössischen Kunst. Statt eines unkom-
„Lohengrin“ haben allerdings liberale Marxisten und Künstler beider Länder gefesselt, was plizierten Umgangs mit dem Idealismus und Mystizismus des „Lohengrin“, wie man ihn 1918
ein Grund für die nachfolgenden, höchst emotionalen Auseinandersetzungen gewesen sein praktiziert hatte, wurde im Jahre 1923 vom wichtigsten russischen Opernhaus eine klare
dürfte. [..] Stellungnahme über seine künstlerischen Entscheidungen gefordert. [..] Der „Lohengrin“
wurde indes nicht verboten und blieb bis 1936 auf dem Spielplan. [..]
„Lohengrin“ in Moskau 1918
In den ersten Jahren nach der russischen Oktoberrevolution von 1917 schwebte Wagners Der Streit um „Lohengrin“ in „Theater der Zeit“, 1958/59
Musik in der Luft. Nach den Worten der berühmten Pianistin Marija Judina war die Zeit Die romantikkritische Grundhaltung in der SBZ/DDR bis in die 70er Jahre hinein war
direkt nach der Revolution trotz aller Kälte und allen Hungers voll von Hoffnung und zweifelsohne ein Grund dafür, warum es „Lohengrin“, der „Gipfel der Romantik“
Inspiration. Wagners Musik erlebte eine Renaissance und verkörperte den Geist der ersten (Thomas Mann), in der DDR nicht leicht hatte; am allerwenigsten in den 50er Jahren.
nachrevolutionären Jahre. Nach dem Revolutionsjahr 1917 wurde eine Reihe von Neuinsze- Laut der Theorie von Georg Lukács, die in der DDR sehr einflussreich war, [war] der für
nierungen von Wagners Opern auf die Bühne gebracht. Sie waren von der „revolutionä- „Lohengrin“ grundlegende Gedanke von einer auserwählten Elite des Gralsordens einer-
ren“ modernen Ästhetik, dem Konstruktivismus, geprägt. Der „Lohengrin“ war die erste seits und dem Volk andererseits als reaktionäre Idee zu bewerten. Selbstverständlich war
von diesen Opern, und seine Premiere am 5. September 1918 in der Zimin-Oper eröffnete die Idee einer charismatischen Herrschaft im „Lohengrin“ mit dem Diskurs der antifaschis-
somit auch die zweite nachrevolutionäre Spielzeit in Moskau. [..] tischen Erziehung in der DDR nicht zu vereinen. [..] Neben Heinz Bärs Aufsatz „Wahllose
Auf den ersten Blick mag es seltsam erscheinen, dass nach der Machtübernahme der Wagnerei“ in „Theater der Zeit“ 7/1958 war es die bewusst provozierende Rezension zur
Bolschewiki eine Oper aufgeführt wurde, die um 1918 eher mit dem reaktionären Hurra- „Lohengrin“-Inszenierung an der Staatsoper Berlin von Erika Wilde im darauffolgenden
Patriotismus des Deutschen Reiches als mit der radikalen russischen Linken assoziiert wer- Heft, welche die Diskussion auslöste. Die Kulturrevolution im Visier, forderte Bär eine nor-
den konnte. In Russland hatte sich der Wagnerismus nach der Jahrhundertwende jedoch mative Diskussion darüber, welche Opern Wagners im sozialistischen Kulturkanon erhalten
in eine andere Richtung entwickelt als in Deutschland. Der Grund dafür liegt im russischen bleiben könnten und welche nicht. Seine Hauptargumente gegen das Gesamtwerk Wagners
Symbolismus der Jahrhundertwende, der von Wagner beeinflusst worden war und der sich sind „der unkontrollierte Rausch, die irreale Enthusiasmierung, die mystische Verzerrung
im Laufe der ersten Jahrzehnte des neuen Jahrhundert politisiert hatte. [..] Der Gral, der der Wirklichkeit, die Hingabe an das Walten der Vorsehung“. [..] Neben der Rauschwirkung
„in fernem Land, unnahbar euren Schritten“ liegt, ist eine Utopie, von deren Existenz die der Oper hält Bär Lohengrins Frageverbot für verhängnisvoll, sowohl für Elsa als auch für
irdische Welt nur durch Lohengrins Gralserzählung am Ende der Oper erfährt. Sie ist etwas das Volk. Die Idee des absoluten Gehorsams gegenüber dem Frageverbot ist für Bär „das
Abstraktes, sie liegt jenseits der konkreten Bühnengeschehnisse, und sie tritt nur musika- genaue Gegenteil dialektischer Welterforschung“. [..] Vor allem wurde über „Lohengrins“
lisch auf: in A-Dur. [..] Obwohl über die Inszenierung von 1918 nur wenig Quellenmateri- Einfluss auf die Jugend, die sozialistischen Erwachsenen der Zukunft, diskutiert. Dies des-
al erhalten ist, gibt es Hinweise darauf, dass die „Lohengrin“-Inszenierung dieser Lesart halb, weil berichtet wurde, dass viele Jugendliche vor der Premiere am Kartenschalter
entsprechend zu interpretieren ist. [..] Dies wurde in der konstruktivistischen, zeitlosen Schlange gestanden hätten. Laut Bär sei die Gefahr nicht zu übersehen, dass noch heute
Ästhetik der Inszenierung klar ersichtlich. Das futuristische, dreidimensionale Bühnenbild das Verführerische im „Lohengrin“ die Jugend in Verwirrung stürzen könnte. [..]
WEITERDREHEN WELTABWÄRTS
Die Schreie des jungen Mannes, den sie gezwungen hatte, sein Leben in ihres
rutschen zu lassen, ignorierte Svenja, so gut sie konnte, da sie sich konzen-
trieren musste, weil sie wusste, dass sie nicht einfach geradeaus laufen durfte,
sonst würde sie, so nah an der überschriebenen Szene, ins schlechte Sterben
zurückfallen. Ihr kraftvolles, wütend verzweifeltes Rennen war eine Art ver-
kehrter Anlauf zu einem Sprung, der schon hinter ihr lag. Als sie den Hauptein-
gang des Bahnhofs passiert hatte, begann sie, sich zu drehen, um ihre Flucht
zu vollenden. Einmal um sich selbst, leichter Schwindel stellte sich ein, aber
sie wusste, dass sie sich um mehr als 720° drehen musste, um vor dem Hand-
lungsbogen, aus dem sie gesprungen war, wirklich sicher zu sein – sie kannte
die Translationssymmetrie, die über die Anordnung der Szenen in jedem ein-
zelnen von Menschen in Deutschland im Laufe ihres Lebens bewusst oder un-
bewusst aufgeführten Stück wachte, und wusste, dass das, was sie regierte,
eine diskrete, eine in Päckchen unterteilte, nicht stetige Sorte Symmetrie war,
bei deren Navigation alles darauf ankam, dass die Inhaberin oder der Inhaber
der Rolle die jeweilige Verschiebung einer Handlung oder einer Sinneinheit im
Dialog gemäß einem festen Translationsvektor richtig einschätzte, auch wenn RESIDENZTHEATER SPIELZEIT 2016 / 2017
es sich letztlich bei Sprüngen wie ihrem nur scheinbar um eine räumliche, in TEXTNACHWEISE
Wahrheit aber um eine zeitliche Anpassung handelte. Sie trat fest mit dem lin- Handlung „Lohengrin“ in: Programmheft zu „Lohengrin“. Hg. vom Staatstheater Stuttgart, Premiere am 3.3.1990.
Paulus Cassel: Der Schwan. In ders.: Hierozoicon: Die Thierwelt in heiliger Schrift, Legende und Sage. Berlin 1861.
ken Bein auf, um sich nicht weiter zu drehen als nötig, und strauchelte natür- Richard Wagner: Eine Mitteilung an meine Freunde. In ders.: Werke, Schriften und Briefe. Digitale Bibliothek 107.
Hg. von Sven Friedrich, Directmedia, Berlin 2004.
lich, weil sie sich im hintersten Hintergrund ihres Bewusstseins immer noch für Julius Kapp: Weib und Liebe im Leben und Schaffen Richard Wagners. In ders.: Wagner und die Frauen. Berlin 1929.
Richard Wagner: Über das Weibliche im Menschlichen. In ders.: Werke, Schriften und Briefe. Digitale Bibliothek 107.
die Verletzte bei einem Autounfall hielt, der ihr beide Identitätssupplemente, Hg. von Sven Friedrich, Directmedia, Berlin 2004.
Sven und Svenjamin, weggenommen hatte, so dass sie eine Art endomorphen Henry Perl: Richard Wagner in Venedig. Augsburg 1883.
Franz Blei: Formen der Liebe. Marbach 1956.
Verlustschmerz am Rand ihres Selbstbilds flackern sah, der sie schließlich zur Charles Baudelaire: Richard Wagner und der „Tannhäuser“ in Paris. In ders.: Sämtliche Werke / Briefe, Bd. 7.
Hg. von Friedhelm Kemp, Claude Pichois. München / Wien 1992.
Seite kippen und gegen die Außenmauer des Bahnhofs prallen ließ. Der Boden Bazon Brock: Der Hang zum Gesamtkunstwerk. In Harald Szeemann (Gesamtidee für Ausstellung und Buch) et al.:
Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800. Aarau / Frankfurt a. M. 1983.
schien sich unter ihr weiterzudrehen, sie griff nach etwas, das ihr Halt geben Jukka von Boehm: „Lohengrin“ als Feindbild der „progressiven“ sozialistischen Kunst. In: wagnerspectrum Heft 1,
Schwerpunkt Lohengrin. Hg. von Udo Bermbach et al. Würzburg 2014.
konnte, kriegte aber nur den oberen Rand eines eingedellten, an der Delle Die zwölfte Episode des Fortsetzungsromans „Köpfe in Stücken“ von Dietmar Dath ist ein Originalbeitrag für dieses Programmheft.
ter: ein Becher Milkshake von McDonalds, eine zerknüllte Klatschzeitschrift, FILMTIPPS
Hans-Jürgen Syberberg (Regie): Winifred Wagner und die Geschichte des Hauses Wahnfried 1914–1975 [Dokumentarfilm].
eine leere Haarspraydose und ein leeres Ritex-Kondomfolienpäckchen. Svenja Deutschland 1975.
Anja Dreschke (Regie): Die Stämme von Köln [Dokumentarfilm]. Deutschland 2010.
fluchte: „Scheiß… dummer Scheiß… alles.“ Jim Jarmusch (Regie, Drehbuch): Paterson. USA 2016.
Zwei Leute lachten, neben ihr, dann reichten sie ihr die Hände: „Na, das war ja REDAKTION GÖTZ LEINEWEBER + ROSE REITER FOTOS ANDREAS POHLMANN
mal ein Auftritt. Willkommen in deiner Zukunft, Svenja!“ HERAUSGEBER
GESTALTUNG HERBURG WEIL AND DRUCKEREI VOGL GMBH & CO KG
BAYERISCHES STA ATSSCHAUSPIEL, MAX-JOSEPH-PL ATZ 1, 80539 MÜNCHEN