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MARTIN HEIDEGGER MARTIN HEIDEGGER

GESAMTAUSGABE DIE FRAGE NACH DEM DING

IT. ABTEILUNG: VORLESUNGEN 1923-1944 ZU KANTS LEHRE VON


DEN TRANSZENDENTALEN GRUNDSATZEN
BAND 41
DIE FRAGE NACH DEM DING
Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsãtzen

1) 16]
mm

VITTORIO KLOSTERMANN VITTORIO KLOSTERMANN


FRANKFURT AM MAIN FRANKFURT AM MAIN
Freiburger Vorlesung Wintersemester 1935/36 INHALT
wurde unter dem Titel » Grundfragen der
VORBEREITENDER TEIL
Metaphysik« gehalten.
Herausgegeben von Petra Jaeger Verschiedene Weisen, nach dem Ding zu fragen .

$S 1. Philosophisches und wissenschaftliches Fragen


5 2. Die vieldeutige Rede vom Ding
/ Un FRSITAIS $ 5. Die Andersartigkeit der Frage nach der Dingheit gegen-
e
iúiber wissenschaftlichen und technischen Methoden . 5
& 4. Alltâigliche und wissenschaftliche Dic eieiranes die Fra-
ge nach ihrer Wahrheit . . .
& 5. Einzelnheit und Jediesheit. — und Tt dido : Dingbe-
stimmungen
s 6. Das Ding als je dieses
8 7. Subjektiv— objektiv. Die Frage aka as Wahrheit .
5 8 Das Ding als Trâger von Eigenschaften À
& 9. Wesensbau der Wahrheit, des Dinges und des Satzes
$10. Geschichtlichkeit der Dingbestimmung IE
$ 11. Wahrheit —Satz (Aussage) =Ding . «é é é 2 à
8 12. Geschichtlichkeit und Entscheidung .
$ 15. Zusammentfassung

HAUPTTEIL
Kants Weise, nach der Ding zu fragen

Erstes Kapitel

Der geschichtliche Boden, auf dem Kants » Kritik der reinen Ver-
NUNÍELTUME e ea Me e SO
Dieser Band ist nur im Rahmen der Gesamtausgabe lieferbar 8 14. Die Aufnahme von Kants Werk zu seinen Lebzeiten; der
(O der Einzelausgabe von »Die Frage nach dem Dinge: Neukantianismus à. . 0 6 + : Z
Max Niemeyer Verlag, Túbingen 1962
&8 15. Der Titel von Kants Hanuptwerk . . :
(O Vittorio Klostermann GmbH - Frankfurt am Main - 1984
Satz und Druck: Poeschel & Schulz-Schomburgk
S16. Die Kategorien als Weisen der Ausgesagtheit
Alle Rechte vorbehalten - Printed in Germany 817. Aóyos— ratio — Vernunit
VI Inhalt Inhalt VII

$18. Die neuzeitliche mathematische Naturwissenschaft und . Von dem obersten Grundsatz aller analytischen isa
die Entstehbung einer Kritik der reinen Vernunft 65 Erkenntnis und Gegenstand é . 2 + 6 1. 55

a) Kennzeichnung der neuzeitlichen Naturwissenschaft a) Erkenntnis als menschliche Erkenntnis . 136


gegeniiber der antiken und mittelalterlichen . . . . 66 b) Anschauung und Denken als die beiden SE EA
b) Das Mathematische, WGONOLS + . . . . . +. 69 der Erkenntnis—-. . a PEA IA 157
c) Der mathematische Charakter der neuzeitlichen Na- c) Der Gegenstand bei Kánt iictalis bestimmt . 140
turwissenschaft; Newtons erstes Bewegungsgesetz Sa d) Sinnlichkeit und Verstand. Bezeptisitã! und TRA
d) Abhebung der gnedisbon Nanoriane sesen. die neitat . . ele à De 145
neuzeitliche : 57 81 e) Der scheinbare Vorrang des Denkens; reiner Verstand
a) Die Sigea a ddça bei A sã Newton 81 auf reine Anschauung bezogen & Êr1 fes. A mÊ 147
B) Die Lehre von der Bewegung bei Aristoteles . 85 DD. Logik und Urteil bei Kant . . . : 151
4) Die Lehre von der Bewegung bei Newton 86 . Kants Wesensbestimmung des ÚUrteils . . . . 156
a) Die iiberlieferte Lehre vom UÚrteil . . e 156
e) Das Wesen des mathematischen Poivruds (Galiteis
Fallvrersuch) . . . . E 89 b) Das Unzureichende der traditionellen Lehre; o Lo-
gistkr 20 = e A e di ato 158
1) Der metaphysische Sinn des MiNERTAAAS 96
c) Die Gegenstands- ia Anschamangsbezogenheit de
a) Die Grundsitze: nene Freiheit, SE aii o und Trteils; die Apperzeption'/ . . ao e 160
Selbstbegrúndung é à. 6 + +. 96
d) Kants Unterscheidung der enalytisdhen na mtos
B) Descartes: EO sum; Ich als ausgezcidinetes e sabes À 165
SCHenCirhene pol soco
iectum . . Âe CIT 98
e) apriori-aposteriori + + «+ E 168
7) Vernuntt als oberster nba EL NWioesprica:
satz =. é! FORRO ma ERA Tn SACAR 106 f) Wie sind synthetische Últóileuonon mica? oe 170
$19. Geschichte der Dinefrage; Zusammenfassung 108 &) Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch als der
negativen Bedingung der Wahrheit des Úrteils . . 175
$20. Dierationale Metaphysik (Wolff, Baumgarten) . 112
bh) Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch als nêgo.
tive Fassung des Satzes der Identitãt =. . 176
Zweites Kapitel i) Kants transzendentale Benaoanine; allgemeine A
transzendentale Logik . . SEAT 178
Die Dingfrage in Kants Hauptwerk . 121
j) Synthetische Urteile a priori liegen onvendie 2) Ex-
soe. Was heiBt » Kritik« bei Kant? . 121 kenntnis zugrunde S 185
$ 22. Zusammenhang der »Kritik« der reinen | Vermunt mit 826. Vom obersten Grundsatz aller De ta Trteile 185
dem » System aller Grundsãtze des reinen Verstandes« 124 827. Systematische Vorstellung aller mpthelsdion Grundsãtze
$ 23. Auslegung des zweiten Hauptstiickes der transzendenta- des reinen Verstandes =. . es 9 eES E 187
len Analytik ten aller Grundsãtze des reinen Ver- a) Die Grundsãize ERRO dt Gegenstândlichkeit
standese —. . ia romarias ã 126 des Gegenstandes; Begrindbarkeit der Grundsãtze . . 187
a) Kants Begriff des Esfalicune db, Sega EAR 128 b) Der reine Verstand als Quelle und als Verbs der
b) Das Dingals Naturding . . o. e. e o 150 Regeln. Einheit, Kategorien =. . «+ . 189
c) Die Dreigliederung des RA AA úber das System c) Die mathematischen und dynamischen Grao als
der Grundsãtze =. . o SUA ERES Cs 132 metaphysische Sãtze . Farias IDA maus 193
VIII Inhalt
d) Die AÁxiome der Anschauung .
a) Quantum und quantitas é
BB) Raum und Zeit als quanta, als Toldo des reinen VORBEREITENDER TEIL
Anschauung: de E e sofslto bs:
7) Der Beweis des ersten Grundsatzes; alle BEAR VERSCHIEDENE WEISEN,
grinden im obersten Grundsatz aller synthetischen NACH DEM DING ZU FRAGEN
Lito ENE SE 7
e) Die Antizipationen der ERDÉRANÃE
a) Vieldeutigkeit des Wortes » Empfindungs«; ae Lebre $ 1. Philosophisches und wissenschaftliches Fragen
von der Empfindung und die neuzeitliche Natur-
WIBSEIISCIAES eo A a cao e nata aa R ss Aus dem Umbkreis der Grundfragen der Metaphysik stellen wir
B) Kants Begriff der Realitãt; intensive Gróflen . in dieser Vorlesung eine Frage auf. Sie lautet: » Was ist ein
7) Empfindung bei Kant transzendental estandes: Ding?« Die Frage ist schon alt. Das stets Neue an ihr ist nur,
Beweis des zweiten Grundsatzes .
daB sie immer wieder gefragt werden mubB.
ô) Das Befremdliche der oldpatouen. Realitãt Sa
Empfindung . . . es Úber diese Frage » Was ist ein Ding?« kônnte sogleich, be-
e) Mathematische PARA und oberster CAN vor sie iiberhaupt recht gestellt ist, eine weitlâufize Unterhal-
Kreisgang der Beweise =. Abu DAS EN SUBEIS tung beginnen. In einer Hinsicht ist das auch berechtigt; denn
f) Die Analogien der Erfahrung é . . . die Philosophie ist jedesmal, wenn sie beginnt, in einer ungin-
a) Analogie als Entsprechung, als Verháltuis von V er- stigen Lage. Nicht so die Wissenschaften; zu diesen gibt es aus
hãltnissen, als Bestimmung des DaBseins . 1 dem alltãglichen Vorstellen und Meinen und Denken heraus
B) Die Analogien als Begela der allgemeinen Teitbe- immer einen unmittelbaren Ubergang und Eingang. Nimmt
stimmung . . oe
man das alltâgliche Vorstellen zum einzigen Mabstab aller
y) Die erste logia E ihr Berreis; Substave ks
Zeitbestimmung . . 2 : Dinge, dann ist die Philosophie immer etwas Verriicktes. Diese
e) Die Postulate des EMACE, Denkeas IES E
Verriickung der denkerischen Haltung láBt sich nur in einem
a) Objektive Realitãt der Kategorien; die Modalitáten
Ruck nachvollziehen. Wissenschaftliche Vorlesungen kôónnen
als subjektive synthetische Grundsiitze . dagegen unmittelbar mit der Darstellung ihres Gegenstandes
B) Die Postulate entsprechen dem Wesen der Extal- beginnen. Die dabei gewahlte Ebene des Fragens wird nicht
rung; die Modalitáten sind auf Erfahrung bezogen, wieder verlassen, wenn auch die Fragen verwickelter und
nicht mehr auf Denkbarkeit .
schwieriger werden.
7) Sein als Sein der Gegenstânde der Etiude, Mo-
dalitáten im Verhãltnis zur Erkenntniskraft . .
Dagegen vollzieht die Philosophie eine stândige Verrickung
5) Kreisgang der Beweise und Erliuterungen
des Standortes und der Ebenen. Man weiB deshalb bei ihr of
h) Der oberste Grundsatz nl SIheuçaça Urteile; das lange nicht, wo einem der Kopf steht. Damit sich diese unver-
Zwischen =. . 3 meidliche und oft heilsame Verwirrung aber nicht úibersteigert,
QE derem ada not teto ai Las nda bedarf es einer vorlâufigzen Besinnung auf das, was gefragt
IE ESTTTSU SCE co Te NAO CA AA O RR quo Mico Ac! | fon werden soll. Andererseits bringt dies die Gefahr mit sich, daB
Nachwort der Herausgeberin . man weitlâufig iilber die Philosophie redet, ohne in ihrem Sinne
s Verschiedenes Fragen nach dem Ding $ 1. Philosophisches und wissenschaftliches Fragen S)
zu denken. Wir verwenden die erste Stunde, und nur diese, zu Tadrôy dê áprel oxáuuao Emb návrias Goo Ev qikioooqpia ôrávovor.
einer Besinnung auf unser Vorhaben.
Die Frage lautet: » Was ist ein Ding?« Sofort meldet sich »Derselhbe Spott aber paBt auf alle diejenigen, die sich
auch schon ein Bedenken. Man mõchte sagen: Die verfiigharen mit der Philosophie einlassen. «
Dinge gebrauchen und genieBen, hinderliche Dinge beseitigen, Die Frage » Was ist ein Ding?« mússen wir demnach als eine
erforderliche beschaffen, das hat Sinn; aber mit der Frage solche bestimmen, bei der die Dienstmigde lachen. Und was
» Was ist eim Ding?« kann man eigentlich nichts anfangen. So eine rechte Dienstmagd ist, muB doch auch etwas zum Lachen
ist es. Man kann mit ibr nichts anfangen. Es wãre auch ein gro- haben.
Bes MilBverstindnis der Frage, wollten wir zu beweisen versu- Unversehens sind wir durch die Kennzeichnung der Frage
chen, dal man mit ihr etwas anfangen kônne. Nein, man kann nach dem Ding zu einer Andeutung úiber das Eigentiimliche
mit ihr nichts anfangen. Diese Aussage iiber unsere Frage ist so der Philosophie gelangt, die jene Frage stellt. Philosophie ist
ywakhr, daB wir sie sogar als eine Bestimmung ihres Wesens ver- jenes Denken, womit man wesensmiBig nichts anfangen kann
stehen miissen. » Was ist ein Ding? «Das ist eine Frage, mit der und woriiber die Dienstmágde notwendig lachen.
man nichts anfangen kann; mehr braucht úber die Frage ei- Diese Begrilfsbestimmung der Philosophie ist kein bloBer
gentlich nicht gesagt zu werden. SpaB, sondern sie ist zum Nachdenken. Wir tun gut daran, uns
Da die Frage schon recht alt ist, so alt wie der Anfang der gelegentlich zu erinnern, daB wir bei unseren Giângen vielleicht
abendlândischen Philosophie bei den Griechen im 7. Jahrhun- einmal in einen Brunnen fallen, wobei wir lange auf keinen
dert v. Chr., wird es gut sein, die Frage auch nach ihrer ge- Grund kommen.
schichtlichen Seite kurz zu kennzeichnen. Zu dieser Frage wird Es bleibt jetzt noch zu sagen, weshalb wir von Grundfragen
eine kleine Geschichte úiberliefert. Platon hat sie uns in seinem der Metaphysik sprechen. Dieser Name » Metaphysik« soll hier
Gesprãch » Theitet« aufbewahrt (174 a sq.): nur andeuten, daB die Fragen, die behandelt werden, im Kern
und in der Mitte der Philosophie stehen. Dagegen meinen wir
“Sono nal QOuinv &oTtoovonoUvTA . .. xl àvo BAémovTA, necóÓvTA
els qoéuo, Op&ãtTA Tu êluedího nai xapieooa Peganauuemvis doo-
mit » Metaphysik« nicht ein besonderes Fach innerhalb der
xnôWOL Aéyeral Os Ta uêv Ev odoavá moolvnoIiTo elõéval, Td Philosophie, im Unterschied zur Logik oder Ethik. In der Phi-
8 tumpoodev adtoU noi xopk ródas LaviávoLr adtTóY. losophie gibt es keine Fãcher, weil sie selbst kein Fach ist. Sie
»So erzáhlt man sich von Thales, er sei, wãhrend er sich
ist kein Fach, weil hier das schulmábige Lernen in gewissen
mit dem Himmelsgewõlhbe beschãftiste und nach oben Grenzen zwar unumgãnglich, aber doch nie wesentlich ist, weil
blickte, in einen Brunnen gefallen. Dariiber habe ibn eine vor allem in der Philosophie dergleichen wie eine Arbeitstei-
witzige und húbsche thrakische Dienstmagd ausgelacht lung sofort sinnlos wird. Wir wollen daher den Namen » Meta-
und gesagt, er wolle da mit aller Leidenschaft die Dinge physik« móglichst von all dem freihalten, was ihm geschicht-
am Himmel zu wissen bekommen, wihrend ibhm doch lich anhaftet. Er bezeichne uns nur jenes Vorgehen, bei dem
man besonders Gefahr lãuft, in den Brunnen zu fallen. Nach
schon das, was ihm vor der Nase und den FúBen lãge, ver-
borgen bleibe. « dieser allgemeinen Vorbereitung kôónnen wir jetzt unsere
Frage nãher kennzeichnen. Was ist ein Ding?
Platon fiigt dem Bericht dieser Geschichte den Satz an:
4 Verschiedenes Fragen nach dem Ding 52. Vieldeutige Rede vom Ding 5

52. Die vieldeutige Rede vom Ding nebmung braucht seine Zeit. Und jemand, der guter Dinge ist,
dessen Angelegenheiten, Wiinsche und Arbeiten sind in Ord-
Zunáchst: Woran denken wir, wenn wir »ein Ding«sagen? Wir nung.
meinen ein Stiick Holz, einen Stein; ein Messer, eine Uhr; ei- Es wird schon deutlich: Wir verstehen das Wort »Ding« in
nen Ball, einen Speer; eine Schraube oder einen Draht; aber ciner engeren und einer weiteren Bedeutung. Ding im engeren
auch eine groBe Bahnhofshalle nennen wir ein »gewaltiges Sinne meint das Greifbare, Sichtbare u.s.f., das Vorhandene.
Dings«; desgleichen eine riesige Tanne. Wir sprechen von den Ding im weiteren Sinne meint jegliche Angelegenheit, solches,
vielen Dingen, die es auf einer sommerlichen Wiese gibt: die um das es so und so bestellt ist, die Dinge, die in der » Welt
Grãser und Krãuter, Schmetterlinge und Kãfer; das Ding dort geschehen, Begebenheiten, Ereignisse. SchlieBlich gibt es aber
an der Wand — das Gemãlde nãâmlich — nennen wir auch ein noch einen Gebrauch des Wortes im iweitesten Sinne; er ist
Ding, und ein Bildhauer hat in seiner Werkstatt verschiedene lange vorbereitet und vor allem im 18. Jahrhundert in der Phi-
fertige und unfertige Dinge stehen. losophie úblich geworden. Demzufolge spricht z. B. Kant vom
Dagegen zógern wir schon, die Zahl 5 ein Ding zu nennen. » Ding an sich«, und zwar im Unterschied zum » Ding fúr uns«,
Man kann die Zahl nicht greifen und weder sehen noch hôren. d.h. als »Erscheinung«. Ein Ding an sich ist jenes, was uns
Ebenso gilt der Satz »Das Wetter ist schlecht« nicht als ein Menschen nicht so wie Steine, Pflanzen und Tiere durch die Er-
Ding, so wenig wie ein einzelnes Wort »Haus«. Wir unter- fahrung zugânglich ist. Jedes Ding fúr uns ist als Ding auch
scheiden gerade das Ding » Haus« und das Wort, das dieses Ding an sich, d. h. es wird in der absoluten Erkenntnis Gottes
Ding nennt. Auch eine Haltung und Gesinnung, die wir bei absolut erkannt; aber nicht jedes Ding an sich ist Ding fiir uns.
einer Gelegenheit bewahren oder verlieren, nehmen wir nicht Ein Ding an sich ist z. B. Gott, das Wort hier so genommen, wie
als ein Ding. Kant es versteht, im Sinne der christlichen Theologie. Wenn
Wenn aber z. B. irgendwo eine Verráterei am Werk ist, sagen Kant Gott ein Ding nennt, so meint er nicht, Gott sei ein riesi-
wir doch: » Es sind da merkwirdige Dinge im Spiel.« Wir mei- ses gasfórmiges Gebilde, das irgendwo im Verborgenen sein
nen dabei nicht Holzstiicke, Gebrauchsdinge und dergleichen. Wesen treibt. »Ding« heiBt hier nach einem strengen Sprach-
Und wenn es bei einer Entscheidung »vor allen Dingen« auf gebrauch nur soviel wie »etwas«, solches, was nicht nichts ist.
diese und jene Úberlegung ankomrmt, so sind die anderen Din- Wir kônnen bei dem Wort und dem Begriff »Gott« etwas den-
ge, die ausfallen, auch nicht Steine und sonstiges, sondern an- ken, aber wir kinnen nicht Gott selbst so erfahren wie diese
dere Úberlegungen und Beschliisse. So auch dort, wo wir Kreide, úber die wir miteinander Sãtze aussagen und belegen
meinen, daB es nicht mit rechten Dingen zugehe. »Ding« ge- wie z. B.: » Losgelassen fállt sie mit einer bestimmten Geschwin-
brauchen wir jetzt in enem weiteren Sinne als zu Beginn der digkeit.«
Aufzâáhlung, in dem Sinne nâmlich, den unser deutsches Wort Gott ist ein Ding, sofern er iiberhaupt etwas ist, ein X. So ist
von Anfang an hatte. » Ding« meint dasselbe wie »thing«: Ge- auch die Zahl ein Ding, und der Glaube ist ein Ding und die
richtsverhandlung, iiberhaupt Verhandlung, Angelegenheit; so, Treue. Ebenso ist »etwas« die Bezeichnung = <, das »unde,
wenn wir irgendwo die Dinge ins reine bringen, so, wenn das das » entweder-oder«.
Sprichwort meint: »Gut Ding will Weile haben.« Alles, auch Fragen wir jetzt wieder unsere Frage: » Was ist ein Ding? «
was nicht Holz und Stein ist, sondem jede Aufgabe und Unter- Sogleich zeigt sich: Die Frage ist nicht in Ordnung, weil das,
6 Verschiedenes Fragen nach dem Ding $ 3. Andersartigheit der Frage nach der Dingheit 7

was in Frage gestellt werden soll, das » Ding<«, in seiner Bedeu- sich, da wir aus dem Gelichter der Dienstmagd offenbar etwas
tung schwankt; denn gerade das, was in Frage gestellt werden gelernt haben. Sie meint, man solle sich zuvor in diesem Um-
will, muB in sich hinreichend bestimmt sein, um in rechter 1ins-herum gut umsehen.
Weise fraglich werden zu kónnen. » Wo ist der Hund?« » Der
Hund<« kann gar nicht gesucht werden, wenn ich nicht weiB, ob
es der Hund des Nachbarn oder der eigene ist. Was ist ein $3. Die Andersartigkeit der Frage nach der Dingheit
Ding? Ding in welchem Sinne, im engeren oder im weiteren gegeniber wissenschaftlichen und technischen Methoden
oder im weitesten? Wir halten die drei Bedeutungen ausein-
ander, wenn auch die Art der Abgrenzung noch unbestimmt Aber sobald wir uns auf den Weg machen, diese Dinge zu be-
bleibt: slimmen, kommen wir in eine Verlegenheit. Denn all diese
1. Ding im Sinne des Vorhandenen: Stein, ein Stiick Holz, Dinge sind eigentlich lângst bestimmt, und wenn sie es nicht
Zange, Uhr, ein Apfel, ein Stiick Brot; die leblosen und auch sind, so gibt es gesicherte Verfahrensweisen (Wissenschaften)
die belebten Dinge, Rose, Strauch, Buche, Tanne, Eidechse, und Herstellungsweisen, in denen das geschehen kann. Was ein
Wespe... Stein sei, sagen uns am besten und schnellsten die Mineralogie
2, Ding in dem Sinne, daB dies Genannte gemeint ist, aber und die Chemie, und was eine Rose und ein Strauch, dariiber
dazu Plãne, Entschlússe, Uberlegungen, Gesinnungen, Taten, unterrichtet zuverlássig die Botanik, was ein Frosch und ein Fal-
das Geschichtliche... ke, davon erzáhlt die Zoologie; was ein Schuh sei oder ein Huf-
3. All dieses und jegliches andere dazu, was irgend ein Etwas eisen oder eine Uhr, dariiber geben der Schuster und der Schmied
und nicht Nichts ist. und der Uhrmacher die beste sachkennerische Auskunft.
Es bleibt immer willkiirlich, in welchen Grenzen wir die Be- Es stellt sich heraus, daB wir mit unserer Frage immer zu
deutungen des Wortes Ding festlegen. Entsprechend ândert «pit kommen und sogleich an Stellen verwiesen werden, die
sich der Umkreis und die Richtung unseres Fragens. vine weit bessere Antwort bereithaben oder wenigstens Erfah-
Unserem heutigen Sprachgebrauch liegt es nãher, das Wort rungen und Verfahrensweisen, solche Antworten alsbald zu ge-
Ding in der ersten (engeren) Bedeutung zu verstehen. Dann ist ben. Das ist nur eine Bestitigung dessen, was wir schon zuge-
jedes dieser Dinge (Stein, Uhr, Apfel, Rose) zwar immer auch Wtnnden haben, dal] man mit der Frage » Was ist ein Ding?«
etwas, aber nicht jedes Etwas (Zahl 5, das Glick, die Tapfer- nichts anfangen kônne. Da wir aber vorhaben, diese Frage zu
keit) istein Ding. orórtern, und zwar mit Bezug auf die nãchstliegenden Dinge,
Wir halten uns bei der Frage » Was ist ein Ding? «an die erste wird es notwendig, deutlich zu machen, was wir denn noch wis-
Bedeutung; und zwar nicht nur, um in der Nãhe des Sprachge- sen wollen im Unterschied zu den Wissenschaften.
brauchs zu bleiben, sondern weil die Frage nach dem Ding, Mit unserer Frage » Was ist ein Ding?« wollen wir anschei-
auch wo es im weiteren und weitesten Sinne verstanden wird, nend nicht wissen, was ein Granit, was ein Kieselstein, was ein
zumeist auf diesen engeren Bereich zielt und zunáchst von ihm Kaulk- oder Sandstein sei, sondern was der Stein sei als Ding.
ausgeht. Fragend: » Was ist ein Ding?«, meinen wir jetzt die Wir wollen nicht wissen, wie die Moose, Farne, Grãser, Strãu-
Dinge um uns herum. Wir fassen dieses Nãchstliegende ins cher und Bâume sich unterscheiden und jeweils sind, sondern
Auge, das Handgreifliche. Indem wir solches beachten, verrãt was die Pflanze ist als Ding, und ebenso bei den Tieren. Wir
8 Verschiedenes Fragen nach dem Ding $ 3. Andersartigkeit der Frage nach der Dingheit 9

wollen auch nicht wissen, was eine Zange ist im Unterschied Und dennoch: Wir stellen diese Frage nur, um zu wissen, was
zum Hammer, was eine Uhr im Unterschied zum Schliissel, vin Stein sei, was eine Eidechse sei, die sich auf ihm sonnt, was
sondern was dieses Gebrauchszeug und diese Werkzeuge sind vin Grashalm sei, der daneben aufwaichst, was ein Messer sei,
als Dinge. Was dies besagen soll, ist freilich nicht ohne weiteres dos wir, auf der Wiese liegend, vielleicht in der Hand halten.
klar. Aber geben wir einmal zu, es kônne so gefragt werden, CGerade dieses moóchten wir wissen, solches, was vielleicht die
dann bleibt offenbar eine Forderung bestehen: daB wir nãim- Mineralogen und Botaniker und Zoologen und die Messer-
lich, um auszumachen, tas die Dinge sind, uns an die Tatsa- selumiede gar nicht wissen wollen, wovon sie nur meinen, sie
chen und deren exakte Beobachtung halten. Was die Dinge wollten dieses wissen, wãhrend sie im Grunde etwas anderes
sind, láBt sich nicht am Schreibtisch ausdenken und durch allge- wollen: den Fortschritt der Wissenschaft fórderm oder die Lust
meines Reden vorschreiben. Es wird nur in den Arbeitsrâumen des Entdeckens befriedigen oder die technische Nutzbarkeit der
der forschenden Wissenschaft und in den Werkstátten entschie- Dinge zeigen oder ihren Unterhalt verdienen. Solches móchten
den, Wenn wir uns nicht daran halten, dann bleiben wir dem Wir wissen, was jene nicht nur nicht wissen wollen, sondern
Gelãchter der Dienstmiigde ausgesetzt. Wir fragen nach den vielleicht gar nie wissen kôónnen trotz aller Wissenschaft und
Dingen und iiberspringen dabei die Gegebenheiten und Gele- handwerklichen Geschicklichkeit. Das klingt anmaBend. Es
genheiten, die uns nach allgemeinem Urteil úber all diese klingt nicht nur so, es ist so. Freilich spricht hier nicht die An-
Dinge die angemessene Auskuntt verschaffen. mafBung einer einzelnen Person, so wenig wie unser Zweifel am
So sieht es in der Tat aus. Wir úiberspringen mit unserer Wissenwollen und Wissenkônnen der Wissenschaften sich ge-
Frage » Was ist ein Ding? « nicht nur die einzelnen Steine und ren Haltung und Gesinnung einzelner Personen richtet oder
Gesteinsarten, die einzelnen Pflanzen und Pflanzenarten, die rar gegen den Nutzen und die Notwendigkeit der Wissen-
einzelnen Tiere und Tierarten, die einzelnen Gebrauchs- und sehaft.
Werkzeuge. Wir úberspringen sogar noch diese Bereiche des Der Wissensanspruch unserer Frage ist eine AnmaBung von
Leblosen, Lebendigen, Zeugartigen und wollen nur wissen: dor Art, wie sie jedesmal in jeder wesentlichen Entscheidung
»Was ist ein Ding?« Indem wir so fragen, suchen wir jenes, liegt. Wir kennen diese Entscheidung bereits, was nicht heiBt,
was das Ding als Ding, nicht als Stein und als Holz, zu einem daB wir auch schon durch sie hindurchgegangen seien. Es ist die
solchen macht, was das Ding be-dinet. Wir fragen nicht nach Fntscheidung darúber, ob wir solches wissen wollen, womit
einem Ding irgendwelcher Art, sondern nach der Dingheit des man — im Sinne jener Redensart — nichts anfangen kann. Wenn
Dinges. Sie, die das Ding zum Ding be-dingt, kann selbst nicht wir auf dieses Wissen verzichten und die Frage nicht fragen,
wieder ein Ding sein, d. h. ein Bedingtes. Die Dingheit muB bleibt alles so, wie es ist. Wir werden unser Examen auch ohne
etwas Un-bedingtes sein. Mit der Frage » Was ist ein Ding? « diese Frage bestehen, vielleicht sogar besser. Wenn wir anderer-
fragen wir nach dem Unbedingten. Wir fragen nach dem seits diese Frage fragen, werden wir nicht ilber Nacht bessere
Handgreiflichen um uns herum und entfernen uns dabei noch Botaniker und Zoologen und Historiker, Juristen und Medizi-
um vieles weiter von den nichstliegenden Dingen weg als jener ner. Aber vielleicht bessere oder — vorsichtiger gesprochen — je- 8
Thales, der nur bis zu den Sternen sah. Wir michten sogar iiber denfalls andere Lehrer, andere Árzte und Richter, wenngleich
diese, úber jegliches Ding hinaus zum Un-bedingten, dorthin, wir auch dann — nâmlich im Beruf — nichts mit der Frage an-
wo keine Dinge mehr sind, die einen Grund und Boden geben. lnngen kônnen.
10 Verschiedenes Fragen nach dem Ding $ 4. Alltãâgliche und wissenschaftliche Dingerfahkrung 11

Mit unserer Frage móchten wir die Wissenschaften weder [rngt wird, ist die Dingheit, das, was ein Ding als solches zu
ersetzen noch verbessern. Indes múchten wir an der Vorberei- sinem Ding bestimmt.
tung einer Entscheidung mitwirken. Diese Entscheidung lau- Wenn wir nun daran gehen, diese Dingheit des Dinges fest-
tet: Ist die Wissenschaft der MaBstab fir das Wissen, oder gibt sustellen, dann sind wir trotz der geordneten Frage sogleich
es ein Wissen, in dem erst der Grund und die Grenze der Wis- wieder ratlos. » Wo« sollen wir denn das Ding fassen? Und au-
senschaft und damit ihre echte Wirksamkeit sich bestimmen? llerdem: » Das Dinge« finden wir nirgends, sondern nur immer
Ist dieses eigentliche Wissen fir ein geschichtliches Volk not- vinzelne Dinge, diese und jene Dinge. Woran liegt das? Nur an
wendig, oder lãBt es sich entbehren und anderweitig ersetzen? nuns, daB wir zunãchst und zumeist nur auf das Einzelne stoBen
Aber Entscheidungen werden nicht dadurch erarbeitet, dal und dann erst, wie es scheint, hinterher das Allgemeine, hier
man dariiber redet, sondern da Lagen geschaffen und Stellun- die Dingheit, aus dem Einzelnen heraus- und abziehen (abstra-
gen bezogen werden, in denen die Entscheidung unausweich- hieren)? Oder liegt dieses, daB uns immer nur einzelne Dinge
lich ist, in denen es zur wesentlichsten Entscheidung wird, hugegnen, an den Dingen selbst? Und wenn es an den Dingen
wenn die Entscheidung nicht fállt, sondern umgangen wird. liegt, ist es dann nur ihre irgendwie begriindete oder nur zufãl-
Das Eigentiimliche solcher Entscheidungen bleibt, daB sie lige Laune, uns so zu begegnen, oder begegnen sie uns als ein-
nur durch ein Fragen vorbereitet werden, mit dem man nach telne, weil sie in sich, als die Dinge, die sie sind, einzelne sind?
dem landlâufigen Urteil und im Gesichtskreis der Dienstmágde Unsere alltâgliche Erfahrung und Meinung von den Dingen
nichts anfangen kann. Dieses Fragen erweckt dabei immer den geht jedenfalls dahin. Bevor wir den Gang unseres Fragens
Anschein, als sei es ein Besserwissenwollen gegeniiber den Wis- lnrtsetzen, ist es notwendig, eine Zwischenbetrachtung iiber
senschaften. » Besser« — das meint immer einen Gradunter- unsere alltãâgliche Erfahrung einzuschalten. Es besteht zunãchst
schied in ein und demselben Bereich, Wir stehen aber mit unse- und auch des ferneren iilberhaupt kein haltbarer Grund, unsere
rer Frage auBerhalb der Wissenschaften, und das Wissen, das nlltiigliche Erfahrung in Zweifel zu ziehen. Freilich genúgt es
unsere Frage anstrebt, ist nicht besser und nicht schlechter — nicht, sich einfach darauf zu berufen, daB das, was uns die all-
sondern ganz anders. Anders als die Wissenschaft, aber auch iligliche Erfahrung von den Dingen zeigt, das Wahre sei, so
anders als das, was man » Weltanschauung« nennt. wenig, wie es genúgt, scheinbar kritischer und vorsichtiger zu
behaupten: Eigentlich sind wir als einzelne Menschen einzelne
Subjekte und Iche, und das, was wir vorstellen und meinen,
$ 4. Alltâgliche und wissenschaftliche Dingerfahrung; sind nur subjektive Bilder, die wir in uns herumtragen; zu den
die Frage nach ihrer Wahrheit Dingen selbst kommen wir nie hinaus. Diese Auffassung wie-
derum wird, falls sie unwahr sein sollte, nicht dadurch iiber-
Die Frage » Was ist ein Ding?« scheint jetzt in Ordnung zu wunden, dafiá man statt »ichk« jetzt »wir« sagt und statt der
sein. Es ist zum mindesten im groben ausgemacht: 1. was in linzelnen die Gemeinschaft in Ansatz bringt; so bleibt immer
Frage gestellt wird, 2. das, wonach bezúglich des in Frage Ge- noch die Môglichkeit, daB wir — miteinander — nur subjektive
stellten gefragt wird. In Frage gestellt wird das »Ding« in der Bilder von den Dingen austauschen, die dadurch um nichts
engeren Bedeutung, gemiB der wir an das Vorhandene gewie- wnhrer werden, dabB sie nun gemeinschaftlich ausgetauscht
sen sind. Das, worwach das Ding gleichsam befragt und abge- werden.
12 Verschiedenes Fragen nach dem Ding $4. Alltágliche und wissenschaftliche Dingerfalrung 15

Wir lassen jetzt diese verschiedenen Auffassungen unseres vorglichen die wenigen Jahrtausende Menschengeschichte auf
Verhãltnisses zu den Dingen und der Wahrheit dieses Verhãlt- der Erde nicht einmal eine Sekunde bedeuten.
nisses aus dem Spiel. Andererseits aber wollen wir nicht verges- Welches ist nun die wirkliche Sonne? Welches Ding ist das
sen, daB es keineswegs geniigt, sich auf die Wahrheit und Wnhre — die Sonne des Hirten oder die Sonne des Astrophysi-
Sicherheit der alltâglichen Erfahrung nur zu berufen. Gerade kurs? Oder ist die Frage falsch gestellt und wenn dies, warum?
wenn die alltágliche Erfahrung eine Wahrheit und gar eine Wieo soll das entschieden werden? Offenhar ist dazu notwendig,
ausgezeichnete Wahrheit in sich trágt, muB diese begriindet hu wissen, was ein Ding ist und was Ding-sein heiBt und wie
werden, d. h. ihr Grund mufB als ein solcher gelegt, zugestan- die Wahrheit eines Dinges sich bestimmt. Úber diese Fragen
den und ilbernommen sein. Das wird um so notwendiger, wenn kunn weder der Hirt noch der Astrophysiker eine Auskuntt ge-
sich herausstellt, daB die alltâglichen Dinge noch ein anderes ben; beide kónnen und brauchen die Fragen nicht einmal zu
Gesicht zeigen. Das tun sie seit langem, und sie tun es fúr uns ttellen, um unmittelbar diejenigen zu sein, die sie sind.
heute in einer Weite und in einer Weise, die wir kaum begrif- lin anderes Beispiel: Der englische Physiker und Astronom
fen, geschweige denn bewãltigt haben. lddington erzáhlt von seinem Tisch und sagt, jedes Ding die-
Ein gelâufiges Beispiel: Die Sonne geht hinter einer Berg- mer Art, Tisch, Stubl u.s.f., habe einen Doppelgânger. Tisch
wand unter, eine glilhende Scheibe mit einem Durchmesser von Nummer 1 ist der seit der Kindheit bekannte Tisch. Tisch Num-
— wenn es hochkommt — einem halben bis einem Meter. AI das, mor 2 ist der »wissenschafiliche Tische. Dieser wissenschaft-
was diese Sonne fiir den mit seiner Herde vom Felde heimkeh- liche Tisch, d. h. der Tisch, den die Wissenschaft in seiner Ding-
10 renden Hirten ist, braucht jetzt nicht beschrieben zu werden; es livit bestimmt, besteht nach der heutigen Atomphysik nicht aus
ist die wirkliche Sonne, dieselbe, die der Hirt fur den anderen Holz, sondem zum egróften Teil aus leerem Raum; in diese
Morgen wieder erwartet. Aber die wirlkliche Sonne ist schon Leere sind da und dort elektrische Ladungen eingestreut, die
einige Minuten frilher untergegangen; was wir sehen, ist nur mit groBer Geschwindigkeit hin und her sausen. Welches ist nun
ein durch bestimmte Stirahlungsvorginge verursachter Schein. dor wahre Tisch? Nummer 1 oder Nummer 2, oder sind beide
Aber auch dieser Schein ist nur ein Schein, denn »in Wirklich- wnhr? Im Sinne welcher Wahrheit? Welche Wahrheit vermit-
keit« — sagen wir — geht die Sonne iiberhaupt nicht unter; sie lelt zwischen beiden? Es mufB dann eine dritte geben, auf die
bewegt sich nicht ilber die Exde hin und um sie herum, sondern hezogen jeweils Nummer 1 und Nummer 2 in ihrer Weise wahr
umpgekehrt die Erde um die Sonne. Únd diese Sonne wieder ist tind und Abwandlungen der Wahrheit darstellen. Wir kónnen
nicht das letzte Zentrum des Weltsystems; sie gehórt in grôfere uns hier nicht anf den gern eingeschlagenen Weg retten, daB
Systeme, die wir heute als MilchstraBensysteme und Spiralne- wir sagen: Was iúber den wissenschaftlichen Tisch Nummer 2 11
bel kennen, die von einer Grófienordnung sind, der gegeniiber und die Spiralnebel und die sterbende Sonne vorgebracht wird,
die Ausdebnung des Sonnensystems als winzig bezeichnet wer- Mind nur Ansichten und Theorien der Physik. Dem ist zu erwi-
den muB. Und die Sonne, die táglich auf- und untergeht und dern: Auf dieser Physik grimden unsere Riesenkraftwerke, die
Licht spendet, kúhlt sich immer mehr ab; unsere Erde múbte, Flugzeuge, das Fernhóren und Fernsehen, die ganze Technik,
um die gleiche Wãrme zu behalten, ihr immer nãher kommen; die die Erde und damit den Menschen, mehr als er ahnt, ver-
statt dessen bewegt sie sich von der Sonne weg; das rast einer wnandelt hat. Das sind Wirklichkeiten, keine Ansichten, die
Katastrophe entgegen, in »Zeitrâumensa freilich, mit denen irgendwelche »lebensfernen« Forscher vertreten. Will man
14 Verschiedenes Fragen nach dem Ding $ 5. Raum und Zeit als Dingbestimmungen 15

denn die Wissenschaft noch »lebensniher« haben? Ich denke, Unversehens treffen wir auf solches, was zu einem Ding als
sie ist schon so nahe, daB sie uns erdriickt. Eher brauchen wir Ding gehõrt. Es ist eine Bestimmtheit, von der die Wissenschaf-
die rechte Lebensferne, um noch einmal einen Abstand zu erlan- len absechen, die mit ibrem Drang zu den Tatsachen dem An-
gen, in dem wir ermessen, was mit uns Menschen vor sich geht. huliein nach den Dingen am nãchsten kommen. Denn einen Bo-
Keiner weiB das heute. Deshalh miissen wir alle fragen und Inniker wird bei der Untersuchung der Lippenbliúitler nie eine
immer wieder fragen, um es zu wissen, oder auch nur, um zu vinzelne Pflanze als diese einzelne beschãftigen; sie ist immer
wissen, warum und inwiefern wir es nicht wissen. Ist der nur ein Exemplar; das gilt auch von den Tieren, etwa den zahl-
Mensch, sind die Vôlker nur in dieses Weltall hineingestolpert, losen Fróschen und Molchen, die in einem Institut getótet wer-
um ebenso wieder hinausgeschleudert zu werden, oder ist es leon. Das »je dieses«, was jedes Ding auszeichnet, wird von der
anders? Wir mússen fragen. Es gilt sogar auf lange Zeit hinaus Wissenschaft iilbersprungen. Sollen wir nun aber die Dinge in
erst ein noch viel Vorlâufigeres: Wir miissen erst wieder lernen dieser Hinsicht betrachten? Wir kâmen bei der Zahllosigkeit
zu fragen. Das geschieht allein, indem Fragen, freilich keine 1lor cinzelnen Dinge niemals an eim Ende, und wir wiirden fort-
beliebigen, gefragt werden. Wir wãhlten die Frage » Was ist mnotzt lauter Gleichgúltigkeiten feststellen. Indes, wir sind
ein Ding?« Es zeigt sich jetzt: Die Dinge stehen in verschiede- nicht der Reihe nach und ausschlieBlich auf die einzelnen, je
nen Wahrheiten. Was ist das Ding, daB es so mit ibm steht? inse Dinge gerichtet, sondern auf die allgemeine Bestimmung
Von wo aus sollen wir das Dingsein der Dinge entscheiden? nines jeden Dinges, ein » je dieses« zu sein: die Jediesheit, wenn
Wir nebmen den Standort in der alltâglichen Erfahrung, mit 1olohe Wortbildung erlaubt ist.
dem Vorbehalt, dafBb auch ihre Wahrheit einmal eine Begriin- Allein, gilt denn der Satz: » Jedes Ding ist ein je dieses und
dung fordert. lein anderes« iilberhaupt durchgiângig? Es gibt doch Dinge, von
1ilenen keines anders ist als das andere, genau gleiche Dinge,
nwei Eimer oder zwei Tannennadeln, die wir in nichts vonein-
$5. Einzelnheit und Jediesheit. Baum und Zeit nnder zu unterscheiden vermógen. Nun kôónnte man sagen: Die
als Dingbestimmungen l'msache, daB wir die zwei genau gleichen Dinge nicht weiter
nu unterscheiden vermógen, beweist noch nicht, daB sie am
In der alltâglichen Erfahrung treffen wir immer auf einzelne lénde nicht doch verschieden sind. Aber einmal angenommen,
Dinge. Mit diesem Hinweis nehmen wir nach der vorigen die zwei einzelnen Dinge seien schlechterdings gleich, so ist
Zwischenbetrachtung den Gang unserer Frage wieder auf. dlennoch jedes je dieses Ding, denn jede der beiden Tannen-
Die Dinge sind einzelne. Das heiBt zunáchst: Der Stein und nndeln ist an einem anderen Ort; und wenn sie denselben Ort
die Eidechse und der Grashalm und das Messer sind je fir sich. bosetzen sollen, dann kann das nur geschehen zu einem je an-
AubBerdem gilt: Der Stein ist ein ganz bestimmter, gerade die- iloren Zeitpunkt. Ort und Zeitpunkt machen auch schlechter-
ser; die Eidechse ist nicht die Eidechse iilberhaupt, sondern ge- lings gleiche Dinge zu je diesen, d. h. zu verschiedenen. Sofern
rade diese, und so der Grashalm und so das Messer. Ein Ding nbur jedes Ding seinen Ort und Zeitpunkt und seine Zeitdaner
iilberhaupt gibt es nicht, sondern nur einzelne Dinge, und die hint, gibt es niemals zwei gleiche Dinge. Die Jeweiligkeit der
einzelnen sind auBerdem je diese. Jedes Ding ist ein je dieses rte und ihrer Mannigfaltigkeit ist im Raume und die Jewei-
und kein anderes. ligkeit der Zeitpunkte in der Zeit gegriindet. Jener Grund-
16 Verschiedenes Fragen nach dem Ding $ 5. Raum und Zeit als Dingbestimmungen 17
charakter des Dinges, d. h. jene Wesensbestimmung der Ding- nun Kennzeichnung der Dingheit des Dinges sogleich Zweifel
heit des Dinges, ein »je dieses« zu sein, grimdet im Wesen von arheben. Wir sagten: Ort und Zeitpunkt machen auch schlech-
Raum und Zeit. lordings gleiche Dinge zu je diesen, d. h. zu je verschiedenen.
Unsere Frage » Was ist ein Ding? « schlieBt daher die Fragen Mlein, sind Raum und Zeit iberhaupt Bestimmungen des Din-
in sich: » Was ist der Raum?«, » Was ist die Zeit?« Wir nennen tos selbst? Die Dinge, sagt man, sind zwar im Raum und in der
beide gern zusammen, das ist uns geláufig. Aber wie und war- vit. Raum und Zeit sind ein Rahmen, ein Ordnungsbereich,
um sind Raum und Zeit miteinander verkoppelt? Sind sie mit dessen Hilfe wir den Ort und den Zeitpunkt der einzelnen
iiberhaupt verkoppelt, âuBerlich gleichsam aneinander und in- Dinge festlegen und angeben. Es mag also sein, daB jeglich
einander geschoben, oder sind sie ursprimelich einig? Entsprin- Ding, wenn es hinsichtlich seines Ortes und seiner Zeit be-
gen sie einer gemeinsamen Wurzel, einem Dritten, oder eher Mimmt wird, nun je dieses ist, unverwechselbar mit jeglichem
einem Ersten, das weder Raum noch Zeit ist, weil es beide schon hinderen. Aber das sind nur Bestimmungen, die dem Ding von
urspriinglicher ist? Diese und zugehórige Fragen werden uns muben her, durch den raumzeitlichen Bezug zu- und angetra-
beschiftigen, d. h. wir berubigen uns nicht dabei, daB es Raum gen werden. Úber das Ding selbst und das, was es zu je diesem
gibt und Zeit und daB man beide durch das geduldige »und« — mucht, ist damit noch nichts gesagt. Wir sehen leicht, daB sich
15 Raum und Zeit — nebeneinanderstellt wie Hund und Katze. hinter dieser Schwierigkeit die grundsãtzliche Frage verbirgt:
Um diese Fragen schon durch einen Titel festzuhalten, nennen Sind Raum und Zeit nur ein Rahmen fiir die Dinge, ein Koor-
wir sie die Frage des Zeitraumes. Unier Zeitraum verstehen wir dinutensystem, das wir behelfsmibig anlegen, um zu hinrei-
gewohnlich eine bestimmte Spanne an Zeit und sagen: im diond genauen Angaben iiber die Dinge zu kommen, oder sind
Zeitraum von hundert Jahren; wir meinen dabei eigentlich nur linum und Zeit etwas anderes? Ist der Bezug des Dinges zu
etwas Zeithaftes. Neben diesem gelâufigen und fir das Nach- Ilinen nicht dieser âuBerliche? (vel. Descartes)
denken sehr lehrreichen Sprachgebrauch geben wir der Wort- Wir blicken nach der alltáglich gewohnten Weise im Um-
verbindung » Zeitraum« einen Sinn in der Richtung, daB sie die lkreis dessen umher, was uns umgibt. Wir kinnen feststellen:
innere Einheit von Zeit und Raum anzeigt. Dabei geht die ei- Diese Kreide ist weiB; dieses Holz ist hart; die Tur ist geschlos-
gentliche Frage auf das »und«. DaB wir dabei die Zeit zuerst sem. Aber solche Feststellungen fúhren uns nicht ans Ziel. Wir
nennen, Zeitraum sagen und nicht Raumzeit, soll andeuten, mlichten die Dinge auf ihre Dingheit hin ansehen, also auf 14
daB bei dieser Frage die Zeit eine besondere Rolle spielt. Das lenes hin, was vermutlich allen Dingen und jedem Ding als
heiBt jedoch ganz und gar nicht, der Raum lasse sich aus der ninem solchen zukommt. Sehen wir sie daraufhin an, dann fin-
Zeit ableiten und sei iiberhaupt gegeniiber der Zeit etwas den wir: Die Dinge sind einzelne, eine Tir, eine Kreide, eine
Zweitrangiges. Tulel u.5.f. So einzelne zu sein, ist offenbar ein allgemeiner,
Die Frage » Was ist ein Ding?« schlieBt die Frage in sich: durchgângiger Zug an den Dingen. Wenn wir nãher zusehen,
Was ist der Zeitraum, die rãtselhafte Einheit von Raum und linden wir sogar: Diese Einzelnen sind je diese, diese Tiir, diese
Zeit, in der sich, wie es scheint, jener Grundcharakter des Din- lreide, diese jetzt und hier, nicht diejenige in Hôrsaal 6 und
ges, nur je dieses zu sein, bestimmt. nicht die vom vorigen Semester.
Der Frage nach dem Wesen von Raum und Zeit werden wir Wir haben so schon eine Antwort auf unsere Frage » Was ist
schon deshalb nicht entgehen, weil sich bezúglich der gegebe- en Ding?« Ein Ding ist immer ein »je dieses«. Wir suchen
18 Verschiedenes Fragen nach dem Ding $5. Raum und Zeit als Dingbestimmungen 19

genauer zu verstehen, worin der gefundene Wesenscharakter nichts geândert. Die Kreidestiicke sind etwas kleiner; aber ob
des Dinges besteht. Es ergibt sich: Die genannte Eigentiimlich- nriber oder kleiner, darauf kommt es uns jetzt nicht an. Die
keit der Dinge, je diese, ein »je dieses« zu sein, steht im Zu- Iiruchfliichen sind nicht so glatt wie die sonstige Oberflãche;
sammenhang mit Raum und Zeit. Durch seine jeweilige Raum- much das ist jetzt belanglos. In dem Augenblick, wo wir durch
und Zeitstelle ist jedes Ding unverwechselhar je dieses und kein dns Zerbrechen und Zerstiickeln die Kreide ôffnen wollen, um
anderes. Allerdings tauchten Zweifel auf, ob mit solcher Bezo- das Innere zu fassen, hat sie sich auch schon verschlossen, und
genheit auf eine jeweilige Raum- und Zeitstelle etwas iiber das wir kúnnen dies immer weiter fortsetzen, bis die ganze Kreide
Ding selbst gesagt sei. Solche Ort- und Zeitpunktangaben be- nu cinem Hãufchen Mehl geworden ist. Unter einem Vergrõ-
treffen am Ende nur den Rahmen, in dem die Dinge stehen Ilerungseglas und Mikroskop kônnen wir die winzigen Kórnchen
und wie, d.h. wo und wann sie gerade darin stehen. Man noch weiter zerstiickeln. Wo die Grenze dieser, wie man sagt,
kônnte darauf hinweisen, daB jedes Ding — so wie wir die Dinge »mecdhanischen« Teilung praktisch liegt, lãBt sich nie eindeutig
kennen — jeweils seine Raum-Zeit-Stelle hat und daB mithin minmnachen; in jedem Fall kommt diese Zerstiickelung erund-
dieser Bezug des Dinges zu Raum und Zeit nichts Beliebiges slitelich nie zu etwas Anderem, als das schon ist, wovon sie aus-
sein kann. Stehen die Dinge notwendig in diesem Raum-Zeit- geht; ob das Stick 4 cm lang ist oder nur 4 1 (0,004 mm), das
Bezug, und welches ist der Grund der Notwendigkeit? Liegt bleibt immer nur ein Unterschied im Wieviel, aber nicht im
dieser Grund in den Dingen selbst? Waãre dies der Fall, dann Was (Wesen).
miibte die genannte Eigentimlichkeit uns doch etwas úber die Wir kôónnten der mechanischen Zerstiickelung jetzt die che-
Dinge selbst aussagen, úber das Dingsein. misch-molekulare Zerlegung folgen lassen; wir kinnten auch
Zunichst haben wir jedoch den Eindruck, daB Raum und hinter diese zuriickgehen zum atomaren Bau der Molekile.
Zeit etwas den Dingen » AuBeres« sind. Oder tãuscht uns die- Doch wir wollen gemiB dem Ansatz unserer Frage im nãchsten
ser Eindruck? Sehen wir genauer zu! Dieses Stick Kreide: Der Illoreich der Dinge um uns herum bleiben. Aber auch wenn wir
Raum — besser der Raum dieses Hôrsaals — liegt um dieses Ding den Weg der Chemie und Physik gehen, fúhrt uns dieser nie
herum, wenn wir einmal zur Not von einem »liegen« sprechen liber einen mechanischen Bereich hinaus, d. h. iilber einen sol-
diirfen. Dieses Kreidestiick, sagen wir, nimmt einen Raum ein; vlen Baumbezirk, worin sich etwas Stoffliches von Ort zu Ort
das eingenommene Raumstiick wird ausgegrenzt durch die howegt oder an einem Ort rubt. Auf Grund der Ergebnisse der
Oberílãche des Kreidestiickes. Oberflãche? Flãche? Das Kreide- huntigen Atomphysik — seitdem Niels Bohr 1915 sein Atom-
stick ist selbst ausgedehnt; nicht nur um es herum, sondern an muordell aufstellte — sind die Beziehungen zwischen Materie und
ihm daran ist auch Raum, ja sogar in ibhm; nur ist dieser Raum num zwar nicht. mehr so einfach, aber grundsátzlich nicht an-
besetzt, ausgefúllt. Die Kreide selbst besteht im Inneren aus ilers, Was einen Ort besetzt hãlt, Raum einnimmt, mufb selbst
Raum; wir sagen ja, sie nimmt ibn ein, schlieBt ibn durch ihre nunsgodehnt sein. Unsere Frage war, wie es im Inneren des aus-
Oberflãche in sich als ihr Inneres. Der Raum ist somit fiir die todehnten Kórpers aussieht, genauer, wie es »dort« mit dem
Kreide kein bloB âuBerer Rahmen. Aber was heiBt hier Inne- Ilnum bestellt ist. Es ergibt sich: Dieses Innere ist immer wieder
res? Wie sieht dieses Innere der Kreide aus? Sehen wir nach. vin AuBen fiir die je und je kleiner werdenden Kirperchen.
Wir brechen das Stiick auseinander. Sind wir jetzt beim Inne- Inzwischen ist aus unserer Kreide ein Hãufchen Staub gewor-
15 ren? Wir sind genau wie vorher wieder drauBen; es hat sich en, Auch wenn wir annebmen, daB nichts von der Stoffmasse
20 Verschiedenes Fragen nach dem Ding $5. Raum und Zeit als Dingbestimmungen 21

verflogen und alles noch beisammen sei — es ist nicht mehr un- Auch der Raum, der am ehesten im Inneren des Dinges zu sein
sere Kreide, d. h. wir kónnen damit nicht mehr in der gewohn- olieint, ist, vom Kórperding und seinen Teilchen aus gesehen,
ten Weise auf der Tafel schreiben. Das ist zu verschmerzen. vin AuBen.
Nicht verschmerzen kónnen wir aber, daB wir den im Inneren Noch auBerlicher ist den Dingen die Zeit. Die Kreide hier hat
der Kreide gesuchten Raum, den, der zu ihr selbst gehõrt, nicht much ihre Zeiten, jetzt die Zeitpunkte, in denen sie hier, und
finden konnten. Vielleicht haben wir jedoch nicht rasch genug julát den, in dem sie dort ist. Bei der Frage nach dem Raum
zugegriffen. Brechen wir das Kreidestiick noch einmal auf! Die schien noch einige Aussicht, iba im Ding selbst zu finden. Bei
Bruchflãche und die in ihr angeordneten Stiicke sind jetzt au- ler Zeit ist selbst dies nicht der Fall. Sie flieBt úber die Dinge
16 Ben; aber das eben noch innere Elichenstick selbst ist gerade Wo wie der Sturzbach úber das Gerôll; vielleicht nicht einmal
das, worin die Kórnchen angeordnet sind, und es war fúr diese hu, da in der Bewegung des Wassers die Steine verschoben wer-
Stiicke immer schon auBen. Wo beginnt úberhaupt das Innere ln, aneinander sich reiben und abschleifen. Aber der FluB der
der Kreide, und wo hõrt das AuBen auf? Besteht die Kreide aus Zeuh lift die Dinge ganz unbehellist. DaB jetzt die Zeit von
Raum? Oder ist der Raum immer nur der Behãlter, also das 115 bis 6.00 Uhr weiterlãuft, tut der Kreide nichts. Zwar sagen
UmschlieBende dessen, woraus die Kreide besteht, dessen, was wir: » Mit« der Zeit und »im Verlauf« der Zeit ândern sich die
die Kreide selbst ist? Die Kreide nimmt den Raum nur ein; Dinge. Der beriichtigte » Zahn« der Zeit soll sogar an den Din-
dem Ding wird je ein Platz eingerâumt. Die Einrãumung von ln »nagen«. Dal die Dinge sich im Verlauf der Zeit ândern,
Raum sagt gerade, daB der Raum drauBen bleibt. Was den Ilifit sich nicht bestreiten. Doch hat jemals jemand die Zeit be-
Raum besetzt, bildet jeweils die Grenze zwischen einem Aufen obnchtet, wie sie an den Dingen nagt, d. h. allgemein: irgend-
und einem Innen. Das Innen aber ist eigentlich nur ein weiter wio an ibnen sich zu schaffen macht?
zuriickliegendes AuBen. (Streng genommen gibt es im Raum Aber vielleicht ist die Zeit der Dinge nur an ganz ausgezeich- 17
selbst weder ein AuBen noch ein Innen. Aber wo in aller Welt nuten Dingen feststellbar. Wir kennen solche: die Uhren. Sie
soll AuBen und Innen sein, wenn nicht beim Raum? Vielleicht rmelgen die Zeit. Betrachten wir diese Uhr: Wo ist die Zeit? Wir
ist jedoch der Raum nur die Moglichkeit des AuBen und Innen, hnhen ein Zifferblatt und die Zeiger, die sich bewegen, aber
aber selbst weder ein ÁAuBeres noch ein Inneres. Die Aussage: leine Zeit. Wir kônnen die Uhr óffnen und durchsuchen. Wo ist
»Der Raum ist die Moglichkeit des AuBen und Innen« mag dh die Zeit? Aber diese Uhr gibt die Zeit nicht unmittelbar;
wahr sein; was wir » Móglichkeit« nennen, ist indes noch recht bla ist eingestellt nach der Zeitangabe der deutschen Seewarte
unbestimmt. » Moglichkeit« kann vielerlei besagen. Wir sind in Hamburg. Wenn wir dorthin reisen und die Leute fra-
nicht der Meinung, mit dem Gesagten die Frage des Verhãált- fon, wo sie die Zeit haben, werden wir so klug sein wie vor der
nisses von Ding und Raum entschieden zu haben; vielleicht ist Wise.
die Frage noch nicht zureichend gestellt. Was im besonderen Wenn also sogar an dem Zeit zeigenden Ding die Zeit nicht
den Raum von dergleichen wie dieser Kreide, also von Schreib- nullindhbar ist, dann scheint sie in der Tat mit den Dingen selbst
zeug, úiberhaupt von Gebrauchszeug angeht, so haben wir das, niehts zu tun zu haben. Andererseits ist es doch keine bloBe
was wir den Zeugraum nennen, noch nicht beachtet.) Iledensart, zu sagen, daB wir mit der Uhr die Zeit feststellen.
Es galt, die Besinnung darauf zu richten, ob Raum und Zeit Wollten wir das leugnen, wo kâmen wir da hin? Nicht nur die
den Dingen »ãâuBerlichk« sind oder nicht. Es zeigt sich jetzt: Drdnung des Alltags fiele in sich zusammen, jede technische
22 Verschiedenes Fragen nack dem Ding $ 6. Das Ding als je dieses PS)

Berechnung wire unmôglich; die Geschichte, jede Erinnerung seins niemals zwei gleiche Dinge geben. Jenem Grundsatz
und jeder EntschluB ginge dahin. liegen bestimmte, mehr oder weniger eigens ausgesprochene
Und doch — in welcher Beziehung stehen die Dinge zur Zeit? Grundsãtze und Grundvorstellungen von Seiendem úiberhaupt
Bei jedem Versuch einer Feststellung verstâárkt sich erneut der und dessen Sein zugrunde, aulBerdem bestimmte Vorstellungen
Eindruck, dal Raum und Zeit nur Aufnahmebereiche fiir die von der Vollkommenheit des Schaffens und des Herstellens
Dinge sind, gleichgúltig gegen diese, aber brauchbar, um den iiberhaupt.
Dingenje ihre Raum-Zeit-Stelle anzuweisen. Wo und wie diese Wir sind jetzt nicht vorbereitet genug, um zu dem von Leib-
Autnahmebereiche eigentlich sind, bleibe jetzt offen. Soviel ist niz ausgesprochenen Prinzip und seiner Begrimdung Stellung
gewiB: Die einzelnen Dinge werden erst kraft dieser Stelle zu je nehmen zu kônnen. Es gilt, immer wieder zu sehen, in welche
diesen. Und es gibt dann doch — jedenfalls der Moglichkeit nach Weiten die Frage » Was ist ein Ding?« sogleich hinausfúhrt. Es
— viele gleiche Dinge. Gerade wenn man die Frage von den kónnte sein, daB jene theologische Begriindung des Prinzips fur
Dingen selbst her und nicht von ihrem Rahmen aus ansieht, ist uns unmãglich ist, ganz abgesehen noch von der Frage der
nicht jedes Ding notwendig ein unverwechselbares »je dieses«; elaubensmãáBigen Wahrheit des Christentums. Dennoch bleibt
das ist es nur im Hinblick auf Raum und Zeit. das eine bestehen, ja es kommt jetzt erst ans Licht, dal die
Nun hat freilich einer der gróften deutschen Denker — Leib- rage nach dem Seinscharakter der Dinge, einzelne und je diese
niz — geleugnet, daf es jemals zwei gleiche Dinge geben kônne. fu sein, ganz und gar in der Frage nach dem Sein aufgehângt
Leibniz hat in dieser Hinsicht ein besonderes Prinzip aufge- ist. HeiBt Sein uns noch Geschaffensein durch Gott? Wenn
stellt, das seine ganze Philosophie, von der wir heute kaum eine nicht, was dann? HeiBt Sein uns iilberhaupt nichts mehr, so daB
Ahnung haben, durchherrscht. Es ist das principium identitatis wir nur in einer Wirrnis herumtaumeln? Wer soll entscheiden,
indiscernibilium, der Grundsatz von der Selbigkeit der nicht- wie es mit dem Sein und dessen Bestimmbarkeit steht?
unterscheidbaren Dinge. Der Satz sagt: Zwei nichtunterscheid- Aber wir fragen zunãchst nur nach den nichstliegenden Din-
bare Dinge, d. h. zwei gleiche Dinge, kónnen nicht zwei Dinge gen um uns herum. Sie zeigen sich als einzelne und je diese. Es
sein, sie miúissen dasselbe, d. h. ein Ding sein. Warum? — werden ergab sich aus dem Hinweis auf Leibniz, daB jener Charakter
wir fragen. Die Begrundung, die Leibniz gibt, ist ebenso we- der Dinge, je diese zu sein, auch anders, aus dem Sein der
sentlich fur den Grundsatz wie fiir seine ganze philosophische Dinge selbst begritmdet werden kann und nicht nur durch die
Grundstellung. Die zwei gleichen Dinge kónnen nicht zwei Bezugnahme auf ihre Raum-Zeit-Stelle.
sein, d. h. jedes Ding ist unvertretbar je dieses, weil i0berhaupt
zwei gleiche Dinge nicht sein kónnen. Warum nicht? Das Sein
18 der Dinge ist ihr Geschaffensein durch Gott, diesen Namen im $6. Das Ding als je dieses
christlich-theologischen Sinne verstanden. Wãren jemals zwei
gleiche Dinge, dann hãtte Gott zweimal dasselbe geschaffen, Doch wir lassen die Frage, von woher sich der Charakter der
einfach nur ein Ewiges noch einmal wiederholt. Ein solches iu- Dinge, ein »je dieses« zu sein, bestimme, jetzt auf sich beru-
Berliches, mechanisches Tun aber widerspricht der Vollkom- hen und stellen einé noch viel vorlâufigere Frage, die in der
menheit des absoluten Schôpfers, der perfectio Dei. Also kann vorigen eingehiillt ist.
es auf Grund des Wesens des Seins im Sinne des Geschaffen- Wir sagten: Die einzelnen Dinge um uns herum sind je diese.
24 Verschiedenes Fragen nach dem Ding $ 7. Frage nach der Wahrheit 25
Wenn wir von etwas, was begegnet, sagen, es sei dieses, sagen wort. Die hinweisende Nennung des Artikels greift jedesmal
wir dann úiberhaupt etwas úber das Ding selbst? Dieses, nãm- liber das Hauptwort weg. Das Nennen des Hauptwortes voll-
lich das da, nâmlich das, worauf wir jetzt hinweisen. Im »Die- rieht sich immer schon auf dem Grunde eines Hinzeigens. Das
19 ses« liegt ein Zeigen, ein Hinweisen. Zwar geben wir damit ist ein » Demonstrieren«, Sehenlassen des Begegnenden und
einem Anderen — solchen, die mit uns sind, mit denen wir mit- Vorhandenen. Die nennende Leistung, die im Demonstrativ
einander sind — eine Weisung auf etwas hin. Und zwar eine sich vollzieht, gehôrt zu den ursprimglichsten des Sagens iúiber-
Weisung im Umbkreis des »da« — der da, dieses da. Das » Dieses« hnupt; sie ist keine bloB stellvertretende, also zweitrangige und
meint genauer: da in der unmittelbaren Nãhe, wãhrend wir nachgeordnete.
mit »jenes« ein Entfernteres meinen, aber auch noch im Um- Das Gesagte zu beachten, ist wichtig fir die rechte Einschãt-
kreis des Da und Dort — dieses da, jenes dort. Die lateinische sung des »Dieses«. Es liegt irgendwie in jeder Nennung als
Sprache hat hier noch schãrfere Unterschiede; hic heiBt » dieser solcher. Sofern die Dinge uns begegnen, kommen sie in den
hier«, iste » der dort« und ille »jener ganz weit weg«: das grie- GCharakter des » Dieses«. Aber damit sagen wir doch, dalB das
chische êxet — womit die Dichter auch jenes meinen, was nach »Dieses« kein Charakter des Dinges selbst ist. Das » Dieses«
der Seite liegt, die wir das Jenseitige nennen. nimmt die Dinge nur, sofern sie Gegenstand einer Hinweisung 20
Solche Worte wie »dieses«, »jenes« nennt die Grammatik nuf sie sind. Die Redenden und Meinenden aber, die solche hin-
Demonstrativa; die Worte demonstrieren, zeigen hin auf.... weisenden Worte gebrauchen, die Menschen, sind immer ein-
Der allgemeine Wortcharakter dieser hinweisenden Worte relne Subjekte. Das » Dieses«, statt ein Charakter des Dinges
kommt zum Ausdruck in der Bezeichnung Pronomina, Fiir- selbst zu sein, ist nur eine subjektive Zutat unsererseits.
Wôórter; âvrovunia sagten die griechischen, d.h. die fúr die
ganze abendlindische Grammatik maBgebenden Grammati-
ker. *Avrovupioar dextixal. In dieser Benennung von Worten $ 7. Subjektiv — objektiv. Die Frage nach der Wahrheit
wie »dieses«, »jenes« liegt eme ganz bestimmte Auslegung
und Auffassung ihres Wesens. Die Auffassung ist zwar bezeich- Wie wenig freilich mit der Feststellung, das » Dieses« sei nur
nend fiir die anfângliche Grammatik — die uns trotz allem bis nine » subjektive« Bestimmung des Dinges, gesagt ist, lãBt sich
heute beherrscht —, aber sie ist irrefithrend, Der Titel Fir-Wort dnraus ersehen, daB wir mit demselben Recht sagen kônnen, sie
— Wort nâmlich als Nomen, Name und Hauptwort — meint, oi eine »objektive«; denn obiectum heiBt das Enteegenge-
solche Worte wie »dieser« treten an die Stelle von Hauptwor- worlfene. Das » Dieses« meint das Ding, sofern es uns entgegen-
ten; das tun sie auch; das tun sie aber nur auch. Wir sprechen steht, d. h. objektiv ist. Was ein » Dieses« ist, das hângt nicht
von der Kreide und sagen nicht immer den Namen, sondern von unserer Laune und unserem Belieben ab, sondern, wenn es
gebrauchen statt dessen den Ausdruck »diese«; aber die so ge- hhon von uns abhãângt, dann ebenso auch vom Ding. Deutlich
artete stellvertretende Rolle ist nicht das urspriimgliche Wesen wird nur das eine: Solche Bestimmungen wie das » Dieses«, die
des Fiir-Wortes. Seine nennende Leistung ist eine urspring- wir innerhalb der alltâglichen Erfahrung der Dinge gebrau-
lichere. Wir fassen sie sogleich, wenn wir bedenken, daB die vhen, sind nicht selbstverstândlich, so sehr es auch den Anschein
Artikel » der, die, das« aus den hinweisenden Worten entstan- lit. Es bleibt durchaus fraglich, welche Art von Wahrheit iiber
den sind. Die Artikel setzen wir bekanntlich vor das Haupt- ilns Ding in der Bestimmung, ein »Dieses« zu sein, enthalten
26 Verschiedenes Fragen nach dem Ding $7. Frage nach der Wahrheit 27

ist.Es wird fraglich, welcher Art die Wahrheit ilberhaupt ist, die Wo sollen wir FuB fassen? Der Boden rutscht uns weg. Viel-
wir in der alltáglichen Erfahrung von den Dingen haben, ob sub- leicht sind wir schon nahe daran, in den Brunnen zu fallen;
jektiv oder objektiv, ob beides gemischt oder keines von beiden. jodenfalls lachen bereits die Dienstmãágde; und wenn wir nur
Bisher sahen wir nur, daB die Dinge iiber den Bereich der selbst dabei diese Dienstmãágde sind, d. h. im stillen bei uns ge-
alltãâglichen Erfahrung hinaus noch in verschiedenen Wahrhei- lunden haben, daB all dieses Reden vom » Dieses« und derglei-
ten stehen (die Sonne des Hirten und des Astrophysikers, der nhen doch phantastisch und leer sei.
gewóihnliche Tisch und der wissenschaftliche Tisch). Jetzt zeigt Das Schlimmste wãre nun freilich — nicht fúr unser alltãeg-
sich: Auch die Wahrheit der Sonne fúr den Hirten, die Wahr- liches Fortkommen, aber fúr die Philosophie — wenn wir uns
heit ilber den gewohnlichen Tisch — z. B. die Bestimmung » diese inf irgendwelchen Schleichwegen aus der gekennzeichneten
Sonne« und »dieser Tisch« — diese Wahrheit des »Dieses« Notlage fortstehlen wollten. Wir kônnten sagen: Aber die all-
bleibt in ihrem Wesen undurchsichtig. Wie wollen wir aber je- Higliche Erfahrung ist doch zuverlássig; diese Kreide ist diese
mals etwas iiber das Ding sagen, ohne zureichend unterrichtet kKreide, und ich nehme sie, wenn ich sie brauche, und lasse sie
zu sein tiber die Art von Wahrheit, die ilbm zukommt? Wir livgen, wenn ich sie nicht brauche. Das ist sonnenklar. Gewib —
kônnen zugleich die Gegentfrage stellen: Wie sollen wir etwas wenn es sich um den alltâglichen Gebrauch handelt. Aber jetzt
von der eigentlichen Wahrheit ilber das Ding wissen, wenn wir Írngt es sich, worin denn die Dingheit dieses Dinges bestehe
nicht das Ding selbst kennen, um zu entscheiden, welche Wahr- und ob das »Dieses« eine wahre Bestimmung des Dinges selbst
heit ibhm zukommen kann und mub? nel, Vielleicht haben wir das » Dieses« immer noch nicht hinrei-
So wird deutlich: Geradenwegs auf die Dinge zugehen, dies thend deutlich begriffen. Wir fragen erneut, woher und wie
lãBt sich nicht ausfilhren; nicht deshalb nicht, weil wir unter- rich die Wahrheit ilber das Ding als eines » je diesen « bestimmt.
wegs aufgehalten werden, sondern weil diejenigen Bestimmun- Wir kommen dabei anf eine Beobachtung, die bereits Hegel in
gen, bei denen wir anlangen und die wir den Dingen selbst helner » Phânomenologie des Geistes« (WWW II, 73 ff) durchge-
zuweisen — Raum, Zeit, das » Dieses« — sich als Bestimmungen liihrt hat. Allerdings sind Ansatz, Ebene und Absicht von He-
geben, die nicht zu den Dingen selbst gehúren. els Gedankengang anderer Art.
21 Andererseits kinnen wir uns nicht auf die billige Auskunft Das Bedenken tauchte auf, die Bestimmung des Dinges als
berufen, die sagt: Wenn die Bestimmungen nicht »objektiv« uvines »je diesen« sei nur »subjektiv«; denn diese Bestimmung
sind, dann sind sie »subjektiv«. Es kônnte sein, daB sie keines wi abhângig vom Standort des Erfahrenden und vom Zeit-
von beiden sind, daBb die Unterscheidung von Subjekt und Ob- punkt, in dem auf seiten des Subjektes die Erfahrung des Din-
jekt und mit ihr die Subjekt-Objekt-Beziehung selbst ein hóchst tos je gerade gemacht wird.
fragliches, wenn auch allbeliebtes Riickzugsgebiet der Philoso- Wodurch ist die Kreide hier je diese und keine andere? Nur
phie darstellen. dadurch, daB sie gerade hier ist, und zwar jetzt hier ist. Das
Eine wenig erfreuliche Lage — so scheint es. Úber die Ding- Hier und das Jetzt machen sie zu dieser. Bei der hinweisenden
heit des Dinges gibt es keine Auskunft ohne Wissen um die Art llestimmung — dieses — nebmen wir also Bezug auf das Hier,
jener Wahrheit, in der das Ding steht; iiber diese Wahrheit des dd. h. auf einen Ort, d. h. auf den Raum, und ebenso auf das
Dinges aber gibt es keine Auskunft ohne Wissen um die Ding- Jutzt, die Zeit. Das wissen wir bereits, jedenfalls im allgemei-

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mm
heit des Dinges, dessen Wahrheit in Frage steht. non. Aber wir achten nun im besonderen auf die Wahrheit ilber
28 Verschiedenes Fragen nach dem Ding $ 7. Frage nach der Wahrheit 29
die Kreide: » Hier ist die Kreide«. Das ist eine Wahrheit; das vertraut haben. Hier ist die Kreide, und zwar jetzt. Wir wollen
Hier und das Jetzt bestimmen dabei die Kreide dazu, daB wir das Jetzt genauer bestimmen. Wir wollen, damit die aufge-
betont sagen: die Kreide, das will heiBen: diese. Das sind jedoch sehriebene Wahrheit nicht einem WindstoB ausgeliefert bleibt,
allzu handereifliche, fast beleidigende Selbstverstândlichkeiten. die Wahrheit úber das Jetzt und damit úber die Kreide auf die-
Wir wollen aber noch ein úbriges tun und die selbstverstând- ser festen Tafel anbringen. Jetzt— wann jetzt? Wir schreiben an
liche Wahrheit ilber die Kreide noch mehr auswalzen. Wir wol- die Tafel: »Jetzt ist Nachmittag.« Nun, eben jetzt, an diesem
len die Wahrheit iiber die Kreide, damit wir diese Kostbarkeit Nachmittag. Nach der Vorlesung — so nehmen wir an — wird der
nicht verlieren, sogar aufschreiben. IHúórsaal abgeschlossen, damit niemand an die aufgeschriebene
Wir nebmen zu diesem Zweck einen Zettel und schreiben die Wahrheit sich heranmachen und sie heimlich verfálschen kann.
Wahrheit auf: » Hier ist die Kreide«. Wir legen diese aufge- lfrst morgen frih darf der Pedell herein, um die Tafel zu reini-
schriebene Wahrheit neben das Ding, wovon sie Wahrheit ist. gen; er liest die Wahrheit: »Jetzt ist Nachmittag«. Und er
Nach beendeter Vorlesung werden die beiden Túren geóffnet, lindet, dal der Satz unwakhr sei und dieser Professor sich ge-
der Húirsaal wird geliftet, es gibt Durchzug und der Zettel — irrt habe. Uber Nacht ist aus der Wahrheit eine Unwahrheit
nehbmen wir an — wird auf den Gang hinaus geweht. Ein Stu- fteworden.
dent findet auf dem Weg zur Mensa den Zettel, liest den Satz: Merkwiirdige Wahrheit! Um so merkwiirdiger, als jedesmal,
»Hier ist die Kreide« und stellt fest, dal dies ganz und gar wenn wir úiber die Kreide eine sichere Auskunft verlangen, sie
nicht stimmt. Durch den Luftzug ist aus der Wahrheit eine Un- tolbst hier und jeweils jetzt hier ist, ein hiesiges und ein jetziges
wahrheit geworden. Merkwirdig, daB eine Wahrheit von ei- Ding. Was sich ândert, ist immer nur die Bestimmung des Hier
nem WindstoB abhângig ist. Sonst erzáhlen sich doch die Philo- md Jetzt und demnach des Dinges; aber immer bleibt die Krei-
sophen, die Wahrheit sei etwas, was an sich gilt und úberzeit- (le doch ein » Dieses«. Also gehõrt diese Bestimmung trotz allem
lich und ewig ist, und wehe dem, der sagt, die Wahrheit sei mm Ding selbst. Das » Dieses« ist somit eine allgemeine Bestim-
nicht ewig. Das bedeutet Relativismus, der lehrt, alles sei nur mung des Dinges, gehirt zu seiner Dingheit. Aber die Allge-
verhalinismaáBig wahr; teils — teils; nichts steht mehr fest. Man meinheit des »Dieses« verlangt, allgemein je als jeweilige be-
nennt solche Lehren Nihilismus. Nibilismus, Nichts, Angstphi- Mlimmt zu sein. Die Kreide kônnte fiir uns nicht sein, was sie ist,
losophie, Tragizismus, unheroisch, Philosophie der Sorge und nlimlich eine Kreide, d. h. diese und keine andere, wenn sie nicht
der Tribsal — der Katalog dieser billigen Titel ist unerschópf- | eine jetzige und hiesige wãre. GewiB — werden wir sagen — die
lich. Bei solchen Titeln bekommt der Zeitgenosse das Gruseln, Kreide fiir uns ist immer ein »Dieses«; doch wir wollen endlich
und mit Hilfe des so erzeugten Gruselns ist dann die betref- Wissen, was die Kreide fiir sich ist. Zu diesem Zweck haben wir
fende Philosophie widerlegt. Herrliche Zeiten, wo man sogar in div Wahrheit iilber die Kreide von uns unabhângig gemacht und
der Philosophie nicht mehr nachzudenken braucht, sondern wo in dem Zettel und der Tafel anvertraut. Und siehe da: Wãh-
nur irgendwer gelegentlich auf hoóhere Weisung hin fúr das trend in der Wahrheit etwas iiber die Kreide selbst aufbewahrt
Gruseln sorgt! Und jetzt soll gar noch die Wahrheit von einem werden sollte, wandelte sich die Wahrheit zur Unwahrheit.
WindstoB abhingen! Soll? Ich frage, ob es vielleicht nicht so ist. as gibt uns einen Fingerzeig, es mit der Wahrheit ilber die
Doch am Ende liegt dies lediglich daran, daB wir nur die líreide auf anderem Wege zu versuchen, nâmlich so, daB wir,
halbe Wahrheit aufgeschrieben, sie einem flichtigen Zettel an- hntt die Wahrheiten dem Zettel und der Tafel anzuvertrauen,
30 Verschiedenes Fragen nach dem Ding $ 8. Das Ding: Tráger von Eigenschaften 31

sie bei uns behalten, sie noch weit mehr als bisher bei uns ver- Bereich, in dem auch wir, die angeblichen » Subjekte«, uns auf-
wahren, wobei wir die merkwiirdige Angst vor dem Subjekti- linlten. Wenn wir diesen Bereich fassen wollen, treffen wir im-
vismus ablegen oder gar aushalten. So kônnte es sein, dal wir, Imer auf Raum und Zeit; wir nannten es den Zeit-Raum, der
je mehr wir die Wahrheit iiber die Kreide als die unsrige ver- Hinweisung und Begegnung ermóglicht, den Bereich, der um
stehen, um so nãher dem kommen, was die Kreide fiir sich ist. die Dinge herumliegt, was sich je durch die notgedrungene An-
Mehrfach hat sich gezeigt, daB die Wahrheit úber das Ding mit liihrung von Raum und Zeit bekundete.
Raum und Zeit zusammenhãângt. DemgemafB lãBt sich auch ver-
muten, daB wir mit dem weiteren Eindringen in das Wesen von
Raum und Zeit dem Ding selbst nãher kommen, obwokhl es im- $ 8. Das Ding als Tráger von Eigenschaften
mer noch und immer wieder den Anschein hat, als seien Raum
und Zeit nur ein Rahmen fir das Ding. Vielleicht kônnen wir nie anders von den Dingen etwas erfah-
SchlieBlich wird sich die Frage erheben, ob die Wahrheit ren und úber sie etwas ausmachen, als daB wir uns in dem Be-
iiber das Ding nur etwas ist, was dem Ding zugetragen und an- reich halten, innerhalb dessen sie uns begegnen. Indes kommen
gehingt wird mit Hilfe eines Zettels — oder ob nicht umge- wir von der Frage nicht los, ob wir nicht zum mindesten inner-
kehrt das Ding selbst in der Wahrheit hãângt, so, wie es im lnlb dieses Bereiches auf die Dinge selbst zugehen, innerhalb
Raum und in der Zeit vorkommt, ob nicht die Wahrheit solches einer uns immer schon bei ibnen aufhalten. Ist dem so, dann
ist, was weder am Ding hángt nochin uns liegt, noch irgendwo werden wir von hier aus auch einiges úber die Dinge selbst aus-
am Himmel steht. muchen, d. h. eine Vorstellung davon gewinnen, wie sie selbst
24 Alle bisherigen Uberlegungen haben vermutlich zu nichts ftnbaut sind. So ist es ratsam, einmal entschieden vom Rahmen
anderem gefúbrt, als daB wir jetzt mit dem Ding weder aus um die Dinge herum abzusehen und ausschlieBlich auf ihren
noch ein wissen und nur ein groBes Wirbeln im Kopf haben. linu hinzusehen. Dieser Weg hat jedenfalls ebensoviel An-
GewiB — das war auch die Absicht. Freilich nicht, um es bei die- ipruch darauf, begangen zu werden, wie der vorige.
ser Verwirrung zu lassen, sondern um wissen zu lassen, dafô es Wir fragen wieder: » Was ist ein Ding? Wie sieht ein Ding
mit dem frischfróhlichen Zugehen auf die Dinge in dem Au- Nus? « Wenngleich wir es auf die Dingheit des Dinges abgese-
genblick seine eigene Bewandtnis hat, wo wir dabei wissen hen haben, gehen wir jetzt vorsichtig zu Werk, bleiben zunichst
múchten, wie es mit der Dingheit des Dinges steht. bei den einzelnen Dingen, sehen sie an und halten das Gese-
Wenn wir uns jetzt an die Ausgangsstellung zurickerinnern, hene fest. Ein Stein — er ist hart, grau gefãárbt, von rauher Ober-
dann kônnen wir auf Grund des absichtlich vollzogenen eigen- Iliiche; er hat eine unregelmiBige Gestalt, ist schwer und
tinmmlichen Hin- und Herfragens ermessen, warum wir so wenig besteht aus den und den Stoffen. Eine Pflanze — sie hat eine
dem Ding selbst nãher gekommen sind. Wir begannen mit der Wurzel, Stengel und Blãtter; diese sind griin, gekerbt; der
Feststellung: Die Dinge um uns herum sind einzelne, und diese lilntistiel ist kurz u.s5.f. Ein Tier hat Augen und Ohren; es kann
einzelnen sind je diese. Mit dieser letzten Kennzeichnung gerie- ich von einem Ort zum anderen bewegen, hat auBer den Sin-
ten wir in den Bereich der Hinweisung auf die Dinge, umge- noswerkzeugen auch Verdauungs- und Fortpflanzungswerk-
kehrt gesehen: in den Bereich dessen, wie uns die Dinge begeg- reuge, Organe, die es gebraucht, hervorbringt und in gewisser
nen. Hinweisung und Begegnung — das meint allgemein den Woeise erneuert. Wir nennen dieses Ding — ebenso wie die Pflan-
Ss Verschiedenes Fragen nach dem Ding $8. Das Ding: Tráger von Eigenschaften 55

ze, die auch Organe hat — einen Organismus. Eine Uhr hat ein non, » Natirliche — weil wir dabei ganz »natúrlich« bleiben
Rãderwerk, eine Feder und ein Zifferblatt u.s.f. und von aller tiefsinnigen Metaphysik und allen verstiegenen
So kônnten wir endlos fortfahren. Was wir dabei feststellen, und nutzlosen Theorien iiber die Erkenntnis absehen. Wir blei- 26
ist richtig. Die Angaben, die wir machen, sind in getreuer An- ben »natúirliche« und lassen auch den Dingen selbst ihre eigene
messung dem entnommen, was uns die Dinge selbst zeigen. Nature.
Wir fragen jetzt bestimmfter: Als was zeigen sich uns die Wenn wir nun schon die Philosophie mitreden lassen und bei
Dinge? Wir sehen davon ab, daB es Stein, Rose, Hund, Uhr und ihr nachfragen, dann zeigt es sich, dal auch die Philosophie von
anderes ist. Wir sehen nur auf das, was die Dinge durchgângiso nlters her nichts anderes gesagt hat. Was wir úber das Ding sag-
sind: immer etwas, was die und die Eigenschaften hat, immer len — es sei ein Trãáger von vielen Eigenschaften — das haben
etwas, das soundso beschaffen ist. Dieses Etwas ist der Tráger hehon Platon und vor allem Aristoteles ausgesprochen. Man hat
der Eigenschaften; das Etwas liegt den Beschaffenheiten Pa spúter vielleicht mit anderen Worten und Begriffen ausge-
gleichsam unter; dieses Etwas ist das Bleibende, auf das wir bei dritekt, im Grunde meint man immer dasselbe, auch dann,
der Feststellung der Eigenschaften immer wieder als auf das- wenn die philosophischen »Standpunkte« so verschieden sind
selbe zuriickkommen. So sind nun einmal die Dinge selbst. Was Win z. B. die von Aristoteles und Kant. So spricht Kant in der
ist demnach ein Ding? Ein Kem, um den viele wechselnde Ei- skritik der reinen Vernuntft« (A 182) als einen Grundsatz aus:
genschaften herumliegen, oder ein Triger, dem diese Eigen- sÁlle Erscheinungen [d. h. alle Dinge fúr uns] enthalten das
schaften aufliegen, etwas, was anderes besitzt, an sich hat. Wie llnliarrliche (Substanz) als den Gegenstand selbst, und das
wir es auch drehen und wenden, der Bau der Dinge zeigt sich Wnndelbare, als dessen bloBe Bestimmung, d.i. eine Art, wie
so; und um sie herum sind Raum und Zeit als ihr Rahmen. Das ler Gegenstand existiert. «
ist alles so einleuchtend und selbstverstândlich, daB man sich Was ist also ein Ding? Antwort: Ein Ding ist der vorhandene
fast scheut, solche Gemeinplãtze noch eigens vorzutragen. Es l'riiger vieler an ihm vorhandener und dabei wechselnder Ei-
liegt alles so auf der Hand, dalB man nicht einsieht, weshalb wir nhonschaften.
solche Umstãânde machen und erst noch vom » Dieses«reden und Diese Antwort ist so »natúrlichk«, daB sie auch das wissen-
von fragwirdigen metaphysischen Prinzipien, von Stufen der mlinftliche Denken, und nicht nur das »theoretische« Denken,
Wahrheit und all dergleichen. Wir sagten, die Betrachtung sonderm allen Umgang mit den Dingen, ihre Berechnung und
solle sich im Umbreis der alltâglichen Erfahrung bewegen. Was VWbschiãitzung beherrscht.
liegt dann nãher, als die Dinge so zu nehmen, wie sie sind? Die úiiberlieferte Wesensbestimmung der Dingheit des Dinges
Wir kônnten die Beschreibung der Dinge noch weiterfilhren ltinnen wir in den bekannten und gelãufigen Titeln festhalten:
und sagen: Wenn das eine Ding seine Eigenschaften ândert, |, iroxeipevoy —— ovuBeBncós
kann dies auf ein anderes seine Auswirkung haben. Die Dinge
Unterlage — was immer schon mit dabei steht, sich
wirken aufeinander und setzen einander Widerstand entgegen;
auch mit eingestellt hat
solchen Beziehungen zwischen den Dingen entspringen dann 2, substantia — accidens
weitere Eigenschaften, die die Dinge auch wieder » haben «. 35. Tráger = Eigenschaften
Diese Kennzeichnung der Dinge und ihres Zusammenhanges
(4. Subjekt — — Prãdikat)
entspricht dem, was wir die »natúrliche Weltauffassung« nen-
= Verschiedenes Fragen nach dem Ding $9. Frahrheit des Dinges und des Satzes 35

$ 9. Wesensbau der Wahrheit, des Dinges und des Satzes Wahrheit als Úbereinstimmung mit den Dingen zu verstehen,
so natirlich ergibt sich auch die Feststellung dessen, was wahr
Die Frage » Was ist ein Ding?« ist zu allgemeiner Zufrieden- oder falsch ist. Das Wahre, das wir finden, aufstellen, verbrei-
heit lângst entschieden, d. h. die Frage ist offenbhar keine Frage len und verteidigen, fassen wir in Worte. Aber ein einzelnes
mehr. Wort — Tir, Kreide, groB, aber, und — ist nicht wahr, auch nicht
Zu all dem ist die Antwort auf die Frage, d. h. die Bestim- lnlsch. Wahr oder falsch ist immer nur eine Wortverbindung:
mung des Dinges als des vorhandenen Trãgers an ihm vorhan- Die Tiir ist geschlossen; die Kreide ist weiB. Eine solche Wort-
dener Eigenschaften, auch in einer Weise begriindet und in verbindung nennen wir eine einfache Aussage. Sie ist entweder
ihrer Wahrheit jederzeit in einer Weise begrindbar, die nicht wnhr oder falsch. Die Aussage ist also der Ort und der Sitz der
iiberboten werden kann. Denn auch die Begrindung ist »na- Wuhrheit. Deshalb sagen wir auch einfach: Diese und jene Aus-
túrlich« und deshalb so gelâáufig, dal man sie sogar erst eigens hinge ist eine Wahrheit. Wahrheiten und Unwahrheiten — das
herausheben muB, um sie noch zu beachten. sind Aussagen.
27 Worin liegt diese Begrimdung fiir die Wahrheit der geláufi- Wie ist eine solche Wahrheit als Aussage gebaut? Was ist
gen Wesensbestimmung des Dinges? Antwort: In nichts Gerin- cine Aussage? Der Name » Aussage« ist mehrdeutis. Wir un-
gerem als im Wesen der Wahrheit selbst. Wahrheit — was heiBt lerscheiden vier Bedeutungen, die alle zusammengehõren und
dies? Wahr ist, was gilt. Dasjenige gilt, was mit den Tatsachen erst in dieser Einheit gleichsam den vollstândigen Grundrif des
tibereinstimmt. Es stimmt iiberein, wenn es sich nach den Tat- Baunes einer Aussage ergeben:
sachen richtet, d. h. wenn es sich dem anmibt, wie die Dinge
Aussagen von... Satz
selbst sind. Wahrheit ist demnach Anmessung an die Dinge.
Aussagen iiber . .. Auskunft
Offenbar miússen nicht nur einzelne Wahrheiten sich den ein-
Aussagenan ... Mitteilung
zelnen Dingen anmessen, sondern das Wesen der Wahrheit
Sich-Aussprechen . . Ausdruck
selbst. Wenn Wahrheit Richtigkeit, Sich-richten nach... ist,
dann mufB dies offenbar von der Wesensbestimmung der Wahr- Jemand, der vor Gericht als Zeuge aufgerufen ist, verwelgert 28
heit erst recht gelten: Sie muB sich dem Wesen des Dinges (der die Aussage, d. h. zunáchst: Er sagt nichts heraus, er behãlt, was
Dingheit) anmessen. Aus dem Wesen der Wahrheit als Anmes- er weiB, fir sich. Aussage ist hier gemeint im Sinne der heraus-
sung ist es notwendig, daB sich im Bau der Wahrheit der Bau smmgenden Mitteilung als Gegensatz zur Verschweigung. Wenn
der Dinge widerspiegelt. eine Aussage gemacht wird, so besteht diese meistens nicht aus
Wenn wir so im Wesensbau der Wahrheit dasselbe Gefiige cinzelnen abgerissenen Worten, sie ist ein Bericht. Der Zenuge,
antreffen wie im Wesensbau der Dinge, dann ist aus dem We- der sich zur Aussage entschlieBt, erzáhlt. In diesem Bericht wird
sen der Wahrheit selbst die Wahrheit der gelâufigen Bestim- iiber den Tatbestand ausgesagt. Die Aussagen stellen den Vor-
mung des Wesensbaues des Dinges erwiesen. [all, z. B. den Vorgang und die Umstânde eines gerade beob-
Wahrheit ist Anmessung an die Dinge, Ubereinstimmung nchteten Einbruchsversuches dar. Der Zeuge sagt aus: Das Haus
mit den Dingen. Aber welcher Art ist nun jenes, was sich an- lag im Dunkel; die Fensterláden waren geschlossen u.s.f.
miBt? Was ist das Úbereinstimmende? Was ist dies, wovon wir Die Aussage im weiteren Sinne der Mitteilung besteht selbst
sagen, es sei wahr oder falsch? So »natiúirliche, wie es ist, die nus » Aussagen« im engeren Sinne, d. h. aus Sãtzen. Aussagen
36 Verschiedenes Fragen nach dem Ding $ 10. Geschichtlichkeit der Dingbestimmung 37

im engeren Sinne meint nicht das Heraussagen, sondern meint 2. Diese Bestimmuneg der Dingheit wurde schon von alters
das Sagen, das Auskunft iiber das Haus, seinen Zustand und her in der Philosophie aufgestellt, offenbar deshalb, weil sie sich
die ganze Lage der Dinge gibt. Aussagen meint jetzt: Im Blick von selbst ganz »natúrlich«nahelegt.
auf die Lage und Umstânde, von ihnen her und von ibnen aus 3. Die RechtmiBigkeit dieser Bestimmung des Wesens des
gesehen, dariiber etwas sagen; Aussage, d. h. Auskunft iiber. . . Dinges ist schlieBlich belegt und begrúndet durch das Wesen
Diese Auskunft wird so gegeben, daB von dem, woriiber die der Wahrheit selbst, welches Wesen der Wahrheit gleichfalls
Rede ist, worúber die Auskunft geht, Aussagen gemacht wer- von selbst einlenchtet, d. h. »natúrliche«ist.
den. Aussagen meint drittens, aus dem her, worúber die Rede Eine Frage, die auf so natúrliche Weise beantwortet und
ist, z. B. von dem Haus, solches nehmen, was ibm zukommt, ebenso natúrlicherweise jederzeit begrimdet werden kann, ist
und dieses als zu-kommend ihm eigens zu-sprechen, zu-sagen. im Ernst keine Frage mehr. Wollte man die Frage noch auf-
Das in diesem Sinne Ausgesagte nennen wir das Prádikat. Aus- rechterhalten, dann wãre dies entweder blinder Eigensinn oder
sage im dritten Sinne ist » pradikativ«; sie ist der Satz. eine Art von Wahnsinn, der sich unterfângt, gegen das » Na-
Aussage ist demnach das dreifache: ein Satz, der Auskunft tiirliche« und aubBerhalb jeder Frage Stehende anzurennen.
gibt, welcdhe Auskunft, eigens gegeniber Anderen vollzogen, Wir werden gut daran tun, die in sich erledigte Frage » Was ist
zur Mitteilung wird. Die Mitteilung stimmt, wenn die Aus- ein Ding?« aufzugeben. Bevor wir diese erledigte Frage aus-
kunft richtig, d. h. wenn der Satz wahr ist. Die Aussage als driicklich aufgeben, stellen wir noch eine Zwischenfrage.
Satz, als Aussagen des a, b von H, ist der Sitz der Wahrheit. Am
Bau des Satzes, d. h. einer einfachen Wahrheit, unterscheiden
wir Subjekt und Prãdikat und Copula — Satzgegenstand, Satz- $ 10. Geschichtlichkeit der Dingbestimmung
aussage und Verbindungswort. Wahrheit bestebht darin, daB
das Prãdikat dem Subjekt zukommt und als zukommend im ls wurde gezeigt: Die Antwort auf die Frage » Was ist ein
Satz gesetzt und gesagt ist. Der Bau und die Bauglieder der Ding?«lautet: Ein Ding ist der Trãger von Eigenschaften, und
Wahrheit, d. h. des wahren Satzes (Satzgegenstand und Satz- die dem entsprechende Wahrheit hat ihren Sitz in der Aussage,
aussage), sind genau dem angemessen, wonach Wahrheit als dem Satz, der eine Verbindung von Subjekt und Prãádikat ist.
solche sich richtet, dem Ding als dem Trãger und seinen Eigen- Diese Antwort — so wurde gesagt — ist ganz natúrlich und ihre
schaften. Begriindung ebenso. Wir fragen jetzt nur noch: Was heiBt hier
So entnehmen wir aus dem Wesen der Wahrheit, d. h. dem »natúrliche?
Bau des wahren Satzes, einen unzweideutigen Beleg fúr die » Natiirlich« nennen wir das, was sich ohne weiteres im Um-
Wahrheit der Bestimmung, die man dem Bau des Dinges gibt. kreis der alltâglichen Verstândlichkeit » von selbst« versteht.
Uberblicken wir jetzt noch einmal alles, was die Antwort auf Iiir einen italienischen Ingenieur z. B. versteht sich der innere
unsere Frage » Was ist ein Ding?« auszeichnet, dann kôónnen Bau eines grofien Bombenflugzeugs von selbst. Fiir einen Abes-
wir ein Dreifaches fitr sie geltend machen. sinier aus dem hintersten Bergdorf ist solch ein Ding aber ganz
29 1. Die Bestimmung des Dinges als des Trãgers von Eigen- und gar nicht »natúrlich«; es versteht sich nicht von selbst, d. h.
schaften ergibt sich ganz »natúrlich« aus der alltâglichen Er- nicht aus dem, was diesem Menschen und seinem Stamm ohne
fahrung. weiteres Zutun aus dem Vergleich mit dem schon alltáglich Be-
56. Verschiedenes Fragen nach dem Ding $ 10. Geschichtlichkeit der Dingbestimmung 39

kannten einleuchtet. Fur das Zeitalter der Aufklârung war »na- natúrliche Begriff der Wahrheit ist auch nicht ohne weiteres
túrliche, was sich nach bestimmten Grundsãtzen der auf sich »natiirliche.
selbst gestellten Vernunft beweisen und einsehen lãBt und des- Darum ist die »natúrliche Weltansicht«, auf die wir uns
halb jedem Menschen an sich und der allgemeinen Menschheit stândig beriefen, nicht selbstverstândlich. Sie bleibt fragwiir-
eignet. Firr das Mittelalter war alles natiirlich, was sein Wesen, dig. Dieses vielbemiihte » Natiirliche« ist in einem ausgezeich-
seine natura, von Gott hat, dann aber kraft dieser Herkunft neten Sinne etwas Geschichtliches. So kônnte es sein, daB wir in
ohne weiteren Eingriff Goties sich selbst gestalten und in ge- unserer natúrlichen Weltansicht von einer jahrhundertealten
30 wisser Weise erhalten kann, Was dem Menschen des 18. Jahr- Auslegung der Dingheit des Dinges beherrscht sind, wãihrend
hunderts das Natúrliche war, das Verniinftige einer jeder ande- inzwischen uns die Dinge im Grunde ganz anders begegnen.
ren Bindung enthobenen allgemeinen Vernuntt an sich, wãre Unsere Zwischenfrage, was »natúirlich« heiBe, wird uns nach
dem mittelalterlichen Menschen sehr unnatiirlich vorgekom- dieser Beantwortung davon abhalten, die Frage » Was ist ein
men. Aber auch das Umgekehrte war, wie man aus der franzõ- Ding? « unbedacht fiir erledigt zu halten. Die Frage scheint sich
sischen Revolution weiB, der Fall. Aus all dem ergibt sich: Was jetzt erst nãher zu bestimmen, Die Frage selbst ist zu einer ge-
»natiúrliche sei, ist ganz und gar nicht »natúrliche«, d. h. hier: schichtlichen geworden. Indem wir, dem Anschein nach unbe-
selbstverstândlich fiir jeden beliebigen je existierenden Men- lastet und unvoreingenommen, auf die Dinge zugehen und sa-
schen. Das » Natúrliche«ist immer geschichtlich. gen, sie sind Triger von Eigenschaften, sehen und sprechen
So steigt in unserem Riicken ein Verdacht hoch; Wie, wenn nicht wir, spricht vielmehr eine alte geschichtliche Úberliefe-
diese uns so natúrlich anmutende Wesensbestimmung des Din- rung. Aber warum wollen wir diese Geschichte nicht auf sich
ges keineswegs selbstverstândlich, nicht »natúrlich« wãre? bheruben lassen? Sie stôórt uns nicht. Wir finden uns mit jener
Dann miúbBte es eine Zeit gegeben haben, wo das Wesen des Auffassung des Dinges bequem zurecht. Und gesetzt den Fall,
Dinges noch nicht in dieser Weise bestimmt war. Demzufolge wir nebmen die Geschichte der Entdeckung und Auslegung der
miúBte es weiterhin eine Zeit gegeben haben, wo diese Wesens- Dingheit des Dinges zur Kenntnis, dann ândert sich dadurch
bestimmung des Dinges erst erarbeitet wurde. Die Aufstellung nichts an den Dingen. Die elektrische StraBenbahn fãhrt des-
dieser Wesensbestimmung des Dinges wire nicht irgendwann halb nicht anders wie vordem; die Kreide ist eine Kreide, die
absolut vom Himmel gefallen, sondern griindete selbst auf Rose eine Rose und die Katze eine Katze.
ganz bestimmten Voraussetzungen. Wir haben sogleich in der ersten Stunde betont: Philosophie
So ist es in der Tat. Wir kónnen das Werden dieser Wesens- ist jenes Denken, womit man unmittelbar nichts anfangen
bestimmung des Dinges bei Platon und Aristoteles noch in den kann. Aber vielleicht mittelbar, d. h. unter bestimmten Bedin-
Hauptzigen verfolgen. Nicht nur dieses: Um dieselbe Zeit und gungen und auf Wegen, denen man es nicht mehr ohne weite-
in demselben Zusammenhang mit der Entdeckung des Dinges res ansieht, daB sie von der Philosophie gebahnt sind und nur
wird auch erst der Satz als solcher entdeckt, und ebenso dieses, von ihr gebahnt werden kônnen?
daB die Wahrheit als Anmessung an das Ding im Satz ihren Unter bestimmten Bedingungen: wenn wir uns z. B. der An-
Sitz habe. Diese sogenannte »natúrliche« Bestimmung des strengung unterziehen, die innere Lage der heutigen Natur-
Wesens der Wahrheit, aus der wir einen Beleg fúir die Rich- wissenschaften vom Unbelebten sowohl wie vom Lebendigen zu
tigkeit der Wesensbestimmung des Dinges schópften, dieser durchdenken, wenn wir ebenso das Verhãltnis der Maschinen-
40 Ferschiedenes Fragen nach dem Ding $ 10. Geschichtlichkeit der Dingbestimmung 41

technik zu unserem Dasein durchdenken, dann wird klar: Hier wissen, wie es dazu kam — daB z. B. die moderne Wissenschaft
ist das Wissen und Fragen an Grenzen gekommen, die zeigen, nur môglich wurde in einer aus der frihesten Leidenschaft des
daB eigentlich ein urspriinglicher Bezug zu den Dingen fehlt, Il'ragens durchgefihrten Auseinandersetzung mit dem antiken
daB ein solcher nur vorgetãuscht wird durch den Fortgang von Wissen, seinen Begriffen und Grundsãtzen. Wir brauchen da-
Entdeckungen und technischen Erfolgen. Wir spiiren, daB, was von nichts zu wissen und kôónnen meinen, wir seien so herrliche
die Zoologie und Botanik úiber Tier und Pflanze erforschen und Menschen, daí es uns der Herr im Schlafe geben miisse.
wie sie es erforschen, richtig sein mag. Aber sind es noch Tiere Wir kônnen aber auch von der Unumgãânglichkeit eines Fra-
und Pflanzen? Sind es nicht zuvor zurechtgemachte Maschinen, pens iilberzeugt sein, das alles Bisherige an Tragweite, Tiefgang
von denen man hinterher allenfalls noch zugesteht, sie seien und Sicherheit noch úibertreffen miisse, weil wir nur so dessen
»schlauer als wir«? Herr werden, was sonst mit seiner Selbstverstândlichkeit úber
Wir kônnen uns freilich die Anstrengung, diese Wege durch- uns hinwegrast.
zudenken, ersparen. Wir kónnen uns weiterhin an das halten, Entscheidungen werden nicht entschieden durch Sprúche,
was wir » natúrlich« finden, d. h. an jenes, wobei man sich nichts tondern nur durch Arbeit. Wir entscheiden uns fiir das Fragen,
Wweiter denkt. Wir kónnen diese Gedankenlosigkeit als MaBstab [tir ein sehr umstândliches und sehr langwieriges Fragen, das
der Dinge gelten lassen. Die elektrische Bahn fãhrt dann ge- nul Jahrzebnte hinaus nur ein Fragen bleibt. Inzwischen kôn-
nauso weiter. Denn die Entscheidungen, die fallen oder nicht on andere ihre Wahrheiten rubig an den Mann bringen.
fallen, spielen sich nicht bei der StraBenbahn und beim Motor- Nietzsche hat auf seinen einsamen Gãângen einmal den Satz
rad ab, sondern anderswo — nâmlich im Bereich der geschicht- niedergeschrieben:
lichen Freiheit, d. h. dort, wo ein geschichtliches Dasein sich zu
» Ungeheure Selbstbesinnung: nicht als Individuum, son-
seinem Grunde entscheidet und wie es sich dazu entscheidet,
dem als Menschheit sich bewunBt werden. Besinnen wir uns,
welche Stufe der Freiheit des Wissens es sich wãhlt und was es
denken wir zurúck: gehen wir die kleinen und groBen
als Freiheit setzt.
Wegel« (Wille zur Macht n. 585).
Diese Entscheidungen sind zu verschiedenen Zeiten und bei
verschiedenen Vôlkern verschieden. Sie kônnen nicht erzwun- Wir gehen hier nur einen kleinen Weg, den kleinen Weg der
gen werden. Mit der frei gewihlten Stufe der jeweiligen Frei- lleinen Frage » Was ist eim Ding? « Es ergab sich: Die scheinbar
heit des Wissens, d. h. mit der Unerbittlichkeit des Fragens melbstverstândlichen Bestimmungen sind nicht »natúrliche«. Die
32 setzt sich ein Volk immer selbst den Rang seines Daseins. Die Antworten, die wir geben, sind schon in alter Zeit gefallen.
Griechen sahen im Fragenkônnen den ganzen Adel ihres Da- Wenn wir anscheinend natúrlich und unvoreingenommen nach
seins; ihr Fragenkônnen war ibnen der MaBstab zur Abgren- ilom Ding fragen, dann spricht schon in der Frage eine Vormei-
zung gegen die, die es nicht kinnen und nicht wollen. Diese hung iiber die Dingheit des Dinges. Schon in der Art der Frage
nannten sie Barbaren. apricht die Geschichte. Wir sagten deshalb, die Frage sei eine
Wir kônnen die Frage unseres Wissens um die Dinge auf sich imoschichtliche. Darin liegt eine bestimmte Anweisung fúr unser
beruhen lassen und meinen, daB sie sich eines Tages von selbst Vurgehen, wenn wir die Frage mit hinreichendem Verstândnis
einrenke. Wir kônnen die Errungenschaften der heutigen Natur- Irngen wollen.
wissenschaften und Technik bestaunen und branchen nicht zu Wus sollen wir tun, wenn die Frage eine geschichtliche ist?
42 Verschiedenes Fragen nach dem Ding $11. Wahrheit — Satz — Ding 15
Was heiBt hier » geschichtlich«? Zunãchst stellten wir nur fest: kann eine Fúiille des Seins und der Wirklichkeit haben, die am
5) Die gelâufige Antwort auf die Frage nach dem Ding stammt lnde die Wirklichkeit des Wirklichen im Sinne des Aktuellen
aus frither, vergangener Zeit. Wir kônnten feststellen, dal3 seit wesentlich iibersteigt.
damals die Behandlung der Frage mancherlei, wenn auch keine Diese Ruhe des Geschehens ist nicht Abwesenheit der Ge-
grundstitrzenden Verânderungen durchgemacht hat, daB ver- sehichte, sondern eine Grundform ihrer Anywesenheit. Was wir
schiedene Theorien úber das Ding und úber den Satz und úiber durchschnittlich als Vergangenheit kennen und zunãchst vor-
die Wahrheit beziielich des Dinges im Laufe der Jahrhunderte stellen, ist meist nur das vormalige » Aktuelle«, das, was da-
aufgetaucht sind. Dadurch kann gezeigt werden, dal die Frage mals ein Aufsehen erregte oder gar den Lâárm besorgte, der im-
und die Antwort, wie man sagt, ihre Geschichte, d. h. schon eine mer zur Geschichte gehõrt, aber nicht die eigentliche Geschichte
Vergangenheit haben. Aber dies meinen wir gerade nicht, ist. Das bloB Vergangene erschipft nicht das Gewesene. Dieses
wenn wir sagen, die Frage » Was ist ein Ding?« sei geschicht- west noch, und seine Art zu sein ist eine eigentimliche Ruhe
lich. Denn jener Bericht úiilber die Vergangenheit, gleichsam des Geschehens, dessen Art sich wiederum aus dem bestimmt,
iiber die Vorstufen der Frage nach dem Ding, handelt von et- wns geschieht. Ruhe ist nur an sich haltende Bewegung, oft un-
was, was still liegt; diese Art des historischen Berichts ist eine heimiicher als diese selbst.
ausdriickliche Stillegung der Geschichte — wãhrend diese doch
ein Geschehen ist. Wir fragen geschichtlich, wenn wir fragen,
was noch geschieht, auch wenn es dem Anschein nach vergan- $11. Wahrheit — Satz (Aussage) - Ding
gen ist. Wir fragen, was noch geschieht und ob wir diesem Ge-
schehen gewachsen bleiben, so daB es sich erst entfalten kann. Die Ruhe des Geschehens aus der frilheren Zeit kann ihre ver-
Wir fragen daher nicht nach frilher vorgekommenen Mei- schiedenen Gestalten und Griinde haben. Sehen wir zu, wie es
nungen und Ansichten und Sãtzen úber das Ding, um sie nach- in dieser Hinsicht mit unserer Frage bestellt ist. Wir húrten: In
einander aufzureihen, wie in einer Waffensammlung die ilvn Zeiten von Platon und Aristoteles bildete sich die Bestim-
SpieBe aus den einzelnen Jabrhunderten. Wir fragen iúiber- mung des Dinges als des Trâgers von Eigenschaften heraus. Zu
haupt nicht nach der Formel und nach der Definition vom We- gleicher Zeit kam es zur Entdeckung des Wesens des Satzes,
sen des Dinges. Diese Formeln sind nur der Bodensatz und der libenfalls gleichzeitig damit entstand die Kennzeichnung der
Niederschlag von Grundstellungen, die das geschichtliche Da- Wahrheit als Anmessung des Vernehmens an die Dinge, welche
sein inmitten des Seienden im Ganzen zu diesem einnahm und Wnhrheit im Satz ihren Ort hat. All das lãBt sich ausfúhrlich
in sich aufnahm. Nach diesen Grundstellungen aber fragen wir, md eindeutig aus den Gespráchen und Abhandlungen von Pla-
nach dem Geschehen in ihmen und nach den geschehbenden lum und Aristoteles darstellen. Wir kónnen auch zeigen, wie
Grundbewegungen des Daseins, Bewegungen, die anscheinend tliose Lehren iiber das Ding, iiber den Satz und úber die Wahr-
keine mehr sind, weil sie vergangen sind. Aber, wenn eine Be- hieit in der Stoa'sich geindert haben, ferner, wie in der mittel-
wegung nicht feststellbar ist, braucht sie deshalb nicht weg zu nlterlichen Scholastik wieder Unterschiede auftreten und in der
sein; sie kann auch im Zustand der Ruhe sein. Neuzeit wieder andere und im deutschen Idealismus wieder an-
Was uns vorkommt wie vergangenes, d. h. schlechthin nicht lero, Wir wiirden so úber die Frage eine » Geschichte« erzãh-
mehr seiendes Geschehen, kann Ruhe sein. Und diese Ruhe ln, nber ganz und gar nicht geschichtlich fragen, d. h. wir wiir-
444 Verschiedenes Fragen nach dem Ding $ 11. Wahrheit — Satz — Ding 45
den die Frage » Was ist ein Ding?« dabei vollkommen in Ruhe Wenn dies letztere der Fall sein sollte, dann entstiinde so-
lassen; die Bewegung bestiinde nur darin, daB wir mit Hilfe gleich die weitere Frage: Wie kommt der Satz, die Aussage, da-
eines Berichts iiber Theorien diese gegeneinanderhalten. Indes zu, den Mabstab und das Vorbild dafiir abzugeben, wie die
bringen wir die Frage » Was ist ein Ding?« aus der Ruhe, wenn Dinge in ihrer Dingheit bestimmt sein sollen? Weil der Satz,
wir die Platonisch-Aristotelischen Bestimmungen iiber das die Aussage, Setzen und Sagen Handlungen des Menschen
Ding, den Satz und die Wahrheit in bestimmte Môglichkeiten sind, ergãbe sich, dafô nicht der Mensch sich nach den Dingen
einriicken und diese zur Entscheidung stellen. Wir fragen: Voll- richtet, sondern die Dinge nach dem Menschen und nach dem
zieht sich die Bestimmung des Wesens des Dinges und die Be- menschlichen Subjekt, als welches man gewôhnlich das » Ich
stimmung des Wesens des Satzes und die Bestimmung des We- begreift. Eine solche Deutung des Abkunftsverhãáltnisses zwi-
sens der Wahrheit nur aus Zufall gleichzeitis; oder hãn- schen der Bestimmung des Dinges und der des Satzes erscheint
gen sie alle unter sich und gar notwendig zusammen? Wenn unwahbrscheinlich, zum mindesten bei den Griechen. Denn der
solches zutrifft, wie hângen diese Bestimmungen zusammen? Ichstandpunkt ist doch etwas Modemes und daher ungrie-
Auf diese Frage haben wir offenbar schon eine Antwort gege- chisch. Bei den Griechen gab die Polis das MaB. Alle Welt redet
ben, jedenfalls dann, wenn wir uns auf das berufen, was zur heute von der griechischen Polis. Nun — bei den Griechen, dem
Begrúindung der Richtigkeit der Wesensbestimmung des Din- Volk der Denker, hat einer den Satz geprãgt: xávrov xenuátov
ses angefúhrt wurde. Dabei zeigte sich: Die Bestimmung des nótpov iotTiv ávionxos, Tàv pêv OvroY Os EOTW, TOY dE 00x Ovroy Os
Wesensbaues der Wahrheit miisse sich — auf Grund des Wesens 00x EoTWw.
der Wahrheit als Richtigkeit — nach dem Wesensbau der Dinge » Aller Dinge Mab ist der Mensch, der seienden, daB sie sind,
richten. Damit ist ein bestimmter Zusammenhang zwischen der nicht seienden, daB sie nicht sind.« Der Mann, der diesen
dem Wesen des Dinges und dem Wesen des Satzes und der Spruch tat, Protagoras, soll eine Schrift mit dem einfachen Titel
Wahrheit festgelegt. Das zeigt sich auch âubBerlich in der An- 1 'AMjfeia, die Wahrheit, geschrieben haben. Der Ausspruch
Fes)
o

ordnung der Bestimmung des Dinges und des Satzes, wonach dieses Satzes ist zeitlich nicht allzuweit entfernt vom Zeitalter
die Subjekt-Prãdikat-Beziehung an vierter Stelle steht. (vel. Platons. Vielleicht liegt darin, daB sich der Bau des Dinges nach
Seite 33) Wir dúrfen allerdings nicht vergessen, dafi wir den dlem Bau des Satzes richtet, statt umgekehrt, kein » Subjektivis-
Hinweis auf den so gesehenen Zusammenhang als die Mei- inus«; subjektiv sind hierbei lediglich die spãteren Meinungen
nung der gewôihnlichen und »natúrlichen« Auffassung der Fra- liber das Denken der Griechen. Wenn in der Tat der Satz und
ge anfúhrten. Doch diese »natúrliche« Meinung ist durchaus die im Satz ansãssige, als Richtigkeit verstandene Wahrheit der
nicht natúrlich. Das heiBt jetzt: Ihre vermeintliche Festigkeit lóst Mabstab fir die Bestimmung des Dinges sind, wenn es somit
sich in eine Folge von Fragen auf. Sie lauten: Wurde der We- nnders und umgekehrt liegt, als die natúrliche Meinung meint,
sensbau der Wahrheit und des Satzes dem Bau der Dinge ange- tlann erhebt sich die weitere Frage: Wo liegt der Grund und die
messen? Oder ist es umgekehrt, wurde der Wesensbau des Din- (Cinwihr dafúr, daB nun auch das Wesen des Satzes wirklich
ges als Tráger von Eigenschaften gemãaB dem Bau des Satzes als notroffen ist? Woher bestimmt sich, was iiberhaupt Wahrheit
der Einheit von » Subjekt« und » Pridikat« ausgelegt? Hat der Im?
Mensch den Bau des Satzes am Bau des Dinges abgelesen, oder So sehen wir: Was bei der Bestimmung des Wesens des Din-
hat er den Bau des Satzes in die Dinge hineinverlegt? (tos vor sich ging, ist ganz und gar nicht vergangen und erle-
46 Verschiedenes Fragen nach dem Ding S$ 11. Wahrheit — Satz — Ding 47

digt, sondern hóôchstens festgefahren, darum erneut in Gang zu l'rage nach dem Ding kommt aus ihrem Anfang her wieder in
bringen und somit heute noch fraglich. Wenn wir nicht einfach Bewegung.
Meinungen nachsagen, sondern begreifen wollen, was wir Mit diesem Hinweis auf die innere Fragwiirdigkeit der
selbst sagen und gewóhnlich meinen, dann geraten wir sogleich l'rage nach dem Ding sollte jetzt lediglich verdeutlicht werden,
in einen ganzen Wirbel von Fragen. in welchem Sinn wir die Frage als eine geschichtliche aufneh-
Zunãchst stebt die Frage beziglich des Dinges jetzt so: Be- men. Geschichtlich fragen meint: das in der Frage ruhende und

o
|
stimmt sich das Wesen des Satzes und der Wahrheit aus dem gefesselte Geschehen frei- und in Bewegung setzen.
Wesen des Dinges, oder bestimmt sich das Wesen des Dinges Allerdings unterliegt ein solches Vorgehen leicht einer MiB-
aus dem Wesen des Satzes? Die Frage ist auf ein Entweder- deuntung. Man kônnte meinen, es kime darauf an, der anfâng-
Oder gestellt. Allein — und das wird erst die entscheidende lichen Bestimmung des Dinges Fehler oder auch nur Unzulâng-
Frage —, reicht dieses Entweder-Oder selbst zu? Sind das Wesen lichkeit und Unvollstândigkeit nachzurechnen. Das bliebe ein
des Dinges und das Wesen des Satzes nur deshalb spiegelbild- kindisches Spiel der leeren und eitlen Úberlegenheit, die sich
lich gebaut, weil sie beide gemeinsam sich aus derselben, aber nlle Spãtergekommenen, nur weil sie spáter kommen, gegen-
tiefer liegenden Wurzel bestimmen? Was jedoch und wo soll llhber den Frúheren jederzeit anmaBen kônnen. Soferm es sich in
dieser gemeinsame Grund fiúr das Wesen des Dinges und des inseren Fragen úiberhaupt um Kritik handelt, richtet sich diese
Satzes und fiir ihre Herkunft sein? Das Unbedingte? Wir sag- nicht gegen den Anfang, sondern lediglich gegen uns selbst,
ten zu Beginn: Das, was das Wesen des Dinges in seiner Ding- inlern wir diesen Anfang nicht mehr als einen solchen, sondern
heit bedingt, kann selbst nicht mehr Ding und bedingt, es muB Wie etwas » Natúrliches«, d. h. in einer gleichgiilltigzen Verfãl-
ein Un-bedingtes sein. Aber auch das Wesen des Unbedingten mehung mitschleppen.
bestimmt sich mit durch das, was als Ding und Be-dingung an- Die Auffassung der Frage » Was ist ein Ding?« als einer ge-
gesetzt wird. Wenn das Ding als ens creatum gilt, als gottge- sehichtlichen ist gleich weit entfernt von der Absicht, lediglich
schaffenes Vorhandenes, dann ist das Unbedingte der Gott im liber frither aufgetretene Meinungen vom Ding historisch zu
Sinne des Alten Testamentes. Wenn das Ding als dasjenige gilt, hberichten, wie von der Sucht, diese Meinungen zu kritisieren
was als Gegenstand dem Ich gegeniiber steht, d.h. als das nd durch Zusammenrechnung des jeweils Richtigen aus den
Nicht-Ich, dann ist das Unbedingte das »Ich«, das absolute Ich hisherigen Meinungen eine neue herauszurechnen und anzu-
des deutschen Idealismus. Ob das Unbedingte úiber oder hinter hieten. Vielmehr gilt es, das anfângliche innere Geschehen die-
den Dingen gesucht wird oder in ihnen, das hiingt davon ab, her l'rage nach seinen einfachsten, aber in einer Ruhe verfestig-
was man als Bedingung und Bedingtsein versteht. lem Bewegungsziigen in Gang zu bringen, ein Geschehen, das
Erst mit dieser Frage dringen wir in die Richtung des mõg- nicht irgendwo in grauer Zeiten Ferne von uns abliegt, sondern
lichen Grundes fiir die Bestimmung des Dinges und des Satzes In jedem Satz und in jeder alltáglichen Meinung, in jedem Zu-
und seiner Wahrheit vor. Dâmit ist aber die anfângliche Frage iehen auf die Dinge da ist.
nach dem Ding in ihren Ausgangsstellungen erschiittert. Jenes
Geschehen der vormals maBgebenden Bestimmung des Dinges,
das lângst vergangen schien, in Wahrheit aber nur steckenge-
blieben war und seitdem ruhte, ist aus der Ruhe gebracht. Die
48 Verschiedenes Fragen nach dem Ding $ 12. Geschichtlichkeit und Entscheidung 49

$12. Geschichtlichkeit und Entscheidung Berer. Die genannte Aufgabe wire nâmlich damit nicht erfiillt,
daB wir einige Belegstellen dariiber zusammensuchten, was
Was úber den Geschichtscharakter der Frage » Was ist ein Platon und Aristoteles da und dort ilber das Ding und den Satz
Ding?« gesagt wurde, gilt von jeder philosophierenden Frage, sagen. Es múbte vielmehr das Ganze des griechischen Daseins,
die wir heute und kúnftig stellen, gesetzt freilich, dal Philoso- seine Gõôtter, seine Kunst, sein Staat, sein Wissen ins Spiel tre-
phie ein Fragen ist, das sich selbst in Frage stellt und sich daher ten, um zu erfahren, was es heiBt, dergleichen wie das Ding zu
immer und iiberall im Kreis bewegt. entdecken. Fiir diesen Weg fehlen im Rahmen dieser Vorle-
Wir sahen zu Beginn, wie sich uns das Ding zuniichst als ein sung alle Voraussetzungen. Aber auch wenn diese erfiillt wi-
einzelnes und ein »Dieses« bestimmte. Aristoteles nennt es ren, kinnten wir den Weg in den Anfang, und zwar im Hin-
1óde 11, das »Dies da«. Die Bestimmung der Einzelnheit aber blick auf die gestellte Aufgabe, jetzt nicht gehen. Es wurde
ist inhaltlich mit davon abhângig, wie die Allgemeinheit des schon angedeutet: Eine bloBe Definition des Dinges sagt nicht
Allgemeinen begriffen wird, wozu das Einzelne ein Fall und viel, weder wenn wir eine solche in der Vergangenheit aufstõ-
ein Beispiel ist. Auch in dieser Hinsicht sind bei Platon und bern, noch wenn wir selbst den Ehrgeiz hãitten, eine sogenannte
Aristoteles bestimmte Entscheidungen gefallen, in deren Wir- »neue« zusammenzuzimmern. Die Antwort auf die Frage
kungsbereich noch unsere heutige Logik und Grammatik ste- » Was ist ein Ding?« hat einen anderen Charakter. Es ist kein
hen. Wir sahen weiter, daB zur nãheren Umgrenzung des Satz, sondern eine gewandelte Grundstellung oder — noch besser
»Dieses« jeweils der Raum- und Zeitbezug zu Hilfe genom- und vorsichtiger — der beginnende Wandel der bisherigen Stel-
38 men wird. Auch beziiglich der Wesensbestimmung von Raum lung zu den Dingen, ein Wandel des Fragens und Schitzens,
und Zeit haben Aristoteles und Platon Wege vorgezeichnet, auf des Sehens und Entscheidens, kurz: des Da-seins inmitten des
denen wir uns heute noch bewegen. Seienden. Die sich wandelnde Grundstellung innerhalb des Be-
In Wahrheit aber ist unser geschichtliches Dasein schon auf tugs zum Seienden zu bestimmen, ist die Aufgabe eines ganzen
der Bahn einer Wandlung, die, wenn sie in sich erstickt, nur Zeitalters. Aber dazu wird gefordert, daB wir gerade jenes mit
darum dieses Schicksal erfãhrt, weil sie nicht in ihre eigenen helleren Augen erblicken, was uns am meisten gefangen hãlt
selbstgelesten Griinde zuriickfindet, um aus ihnen sich neu zu und in der Erfahrung und Bestimmung der Dinge unfrei
grinden. macht, Es ist die neuzeitliche Naturwissenschaft, sofern sie
Aus all dem Gesagten ist leicht zu entnehbmen, was unsere nnch gewissen Grundzigen zu einer allgemeinen Denkform ge-
Arbeit sein muB, wenn wir die Frage » Was ist ein Ding?« als worden ist. Zwar herrscht auch in dieser — wenngleich gewan- 39
eine geschichtliche in Gang bringen wollen. delt — der griechische Anfang, aber nicht allein und nicht vor-
Es gãlte zunãchst, den Anfang der Wesensbestimmung des wiegend. Die Frage nach unseren Grundverhiãltnissen zur
Dinges und des Satzes bei den Griechen in Bewegung zu brin- Natur, nach unserem Wissen von der Natur als solcher, nach un-
gen, nicht um Kenntnis davon zu nehmen, wie es frilher war, serer Herrschaft iilber die Natur ist aber keine Frage der Natur-
sondern um zur Entscheidung zu stellen, wie es heute im we- wissenschaft — sondern diese Frage steht selber mit in Frage in
sentlichen rtoch ist. Allein, wir miissen in dieser Vorlesung von der Frage, ob und wie wir noch vom Seienden als solchem im
der Ausfilhrung dieser grundlegenden Aufgabe absehen, und Linnzen angesprochen sind, Eine solche Frage wird nicht in einer
dies aus zwei Grúnden. Der eine ist anscheinend ein mehr àu- Vorlesung, sondern allenfalls in einem Jahrhundert entschie-
50 Verschiedenes Fragen nach dem Ding $ 13. Zusammentassung feel

den, aber auch dies nur dann, wenn dieses Jahrhundert nicht In ihrer Geschichte hat die Bestimmung des Dinges als des
schláft und nicht nur meint, dal es wach sei. Die Frage wird tolflich Vorhandenen den unerschútterten Vorrang. Wenn wir
nur zur Entscheidung gestellt in der Auseinandersetzung. die Frage wirklich fragen, d. h. die Moglichkeiten der Bestim-
Im Zusammenhang der Ausbildung der neuzeitlichen Wis- Inung des Dinges zur Entscheidung stellen, dann kônnen wir
senschaft kam eine bestimmte Auffassung des Dinges zu einem die neuzeitliche Antwort so wenig iiberspringen, wie wir den
einzigartigen Vorrang. Danach ist das Ding der stoffliche, in Wnfang der Frage vergessen dúrfen.
der reinen Raum-Zeit-Ordnung bewegte Massenpunkt oder Zugleich aber und vor allem sollen wir diese harmlose Frage
eine entsprechende Zusammensetzung solcher. Das so bestimm- Was ist ein Ding?« so fragen, dal wir sie als unsere erfahren,
te Ding gilt fortan als der Grund und Boden aller Dinge und dnB sie uns nicht mehr loslãBt, auch dann nicht, wenn wir
ihrer Bestimmung und Befragung. Das Lebendige ist auch da, Ilingst keine Gelegenheit mehr haben, Vorlesungen darúber zu
wo man nicht glaubt, es eines Tages mit Hilfe der Kolloid- hiliren, zumal diese nicht die Aufgabe haben, groBe Offenba-
Chemie aus der leblosen Materie erklãren zu kónnen, das Le- rungen zu verkiinden und Seelennõte zu beschwichtigen, son-
bendige wird auch da, wo man ihm seinen eigenen Charakter (lerm nur dieses vermõgen: was eingeschlafen ist, vielleicht wek-
lãBt, als Úber- und Anbau zum Un-lebendigen begriffen; des- len; was durcheinander geraten ist, vielleicht etwas zurecht-
gleichen gilt das Gebrauchszeug und das Werkzeug als ein rlicken.
stoffliches Ding, nur nachtrãglich zurechtgemacht, so dal dann
an ibhm ein besonderer Wert haftet. Aber diese Herrschaft des $ 13. Zusammentassung
Stoffdinges als des eigentlichen Unterbaues fúr alle Dinge
reicht iiber den Bereich der Dinge ilberhaupt hinaus in das Ge- Um jetzt zur endgúltigen Abgrenzung unseres Vorhabens zu
biet des »Geistigen«, wie wir es einmal ganz grob nennen wol- itulungen, fassen wir zusammen. Zu Beginn wurde betont, dal
len, z. B. in den Bereich der Deutung der Sprache, der Geschich- In der Philosophie im Unterschied zu den Wissenschaften nie
te, des Kunstwerkes u.s.f. Warum ist z. B. in unseren hóheren tin unmmittelbarer Zugang zu den Fragen mõóglich ist. Es bedarf
Schulen die Behandlung und Auslegung der Dichter seit Jahr- hier jederzeit und notwendig einer Einleitung. Die einleiten-
zebnten so trostlos? Antwort: Weil die Lehrer nichts wissen tun Uberlegungen zu unserer Frage » Was ist ein Ding?« kom-
vom Unterschied zwischen einem Ding und einem Gedicht, weil nen jetzt zu ihrem AbschluB.
sie Dichtungen wie Dinge behandeln, und dies, weil sie nie Die Frage wurde nach zwei wesentlichen Hinsichten gekenn-
durch die Frage hindurchgegangen sind, was denn ein Ding sei. teichnet: Was wird in Frage gestellt und wie wird gefragt?
DaB man heute mehr Nibelungenlied liest und weniger Homer, lrstens im Hinblick auf das, was in Frage steht — das Ding.
mag seine Griinde haben, aber geândert wird damit nichts; es Wir haben mit einem freilich sehrdúrftigen Licht gleichsam den
ist nur dieselhbe Trostlosigkeit — frilher in Griechisch, jetzt auf |Horizont abgeleuchtet, in dem úberlieferungsgemãB das Ding
Deutsch. Aber an diesem Zustand sind nicht die Lehrer schuld, und die Bestimmung seiner Dingheit stehen. Hierbei ergab sich
auch nicht die Lehrer dieser Lehrer, sondem ein ganzes Zeit- ilus Doppelte: einmal der Rahmen des Dinges, der Zeit-Raum,
alter, d. h. wir selbst — wenn uns nicht endlich die Augen auf- nd die Begegnisweise des Dinges, das » Dieses«, sodann der Bau
gehen. los Dinges selbst, Tráger von Eigenschaften zu sein, ganz allge-
Die Frage » Was ist ein Ding?« ist eine geschichiliche Frage. ein und leer: das Eine fir eine Vielheit zu bilden.
52 Verschiedenes Fragen nach dem Ding $ 13. Zusammentassung 55
Zweitens wurde versucht, die Frage zu kennzeichnen hin- (iriechen darstellen, noch ist es múglich, in einem geschlossenen
sichtlich der Art, wie sie gefragt werden muB. Es ergab sich: Die Zusammenhang diejenige Ding-Bestimmung vor Augen zu le-
Frage ist eine geschichtliche. Was damit gemeint ist, wurde er- on, die sich durch die neuzeitliche Wissenschaft zur Vorherr-
lâutert. Die einleitende Besinnung auf unsere Frage macht iwhaft gebracht hat. Andererseits aber ist das Wissen sowohl
deutlich, daB in ibr stândig zwei Leitfragen mitschwingen und von jenem Anfang als auch von den entscheidenden Zeitaltern
daher mitgefragt werden missen. Die eine: Wohin gehõrt der neuzeitlichen Wissenschaft unumgãânglich, wenn wir iiber-
úiberhaupt dergleichen wie ein Ding? Die andere: Woher neh- linupt der Frage gewachsen bleiben wollen.
men wir die Bestimmung seiner Dingheit? Aus diesem Mitge-
fragten ergibt sich erst der Leitfaden und die Richtschnur, an
41 der entlang wir gehen miissen, soll nicht alles in bloBer Zufal-
ligkeit und Verwirrung umhertaumeln und die Frage nach
dem Ding im Ausweglosen stecken bleiben.
Aber wire das ein Ungliick? Das ist dieselhe Frage wie die:
Hat es iilberhaupt einen ernsthaften Sinn, solche Fragen zu stel-
len? Wir wissen: Man kann mit ihrer Erórterung nichts anfan-
gen. Dementsprechend sind auch die Folgen, wenn wir die
Frage nicht stellen und sie iiberhôren. Wenn wir die War-
nungstafel an einer Hochspannungsleitung iibersehen und die
Drãhte beriihren, werden wir getótet. Wenn wir die Frage
» Was ist ein Ding? « iilberhiren, »passiert nichts weiter«.
Wenn ein Árzt eine Reihe von Kranken falsch behandelt, be-
steht die Gefahr, daB ihr Leben verlôscht. Wenn ein Lehrer sei-
nen Schiúlern ein Gedicht in einer unmõglichen Weise auslegt,
»passiert nichts weiter«. Aber vielleicht ist es gut, wenn wir
hier vorsichtiger sprechen: Beim Uberhõôren der Frage nach
dem Ding und bei der ungeniigenden Gedichtauslegung sieht
es so aus, als ob nichts weiter geschieht. Eines Tages — vielleicht
nach 50 oder 100 Jahren —ist gleichwohl etwas geschehen.
Die Frage » Was ist ein Ding?« ist eine geschichtliche Frage.
Aber wichtiger als das Reden úiber den geschichtlichen Charak-
ter der Frage bleibt im voraus, beim Fragen nun auch entspre-
chend diesem Charakter zu handeln. Hierbei mússen wir uns
fuir die Zwecke und Múóglichkeiten der Vorlesung mit einem
Ausweg begniigen.
Wir kôónnen weder den groBen Anfang der Frage bei den
HAUPTTEIL

KANTS WEISE, NACH DEM DING ZU FRAGEN

ERSTES KAPITEL
Der geschichtliche Boden, auf dem Kants
»Kritik der reinen Vernunfte« ruht

Wie kommen wir trotzdem — wenn auch behelfsmáBbig — auf den 42


Weg der eigentlichen » lebendigen« Geschichte unserer Frage?
Wir wahlen ein Mittelstúck dieses Weges, und zwar jenes, in
dem sich der Anfang und ein entscheidendes Zeitalter auf eine
neue Weise, weil in einem schópferischen Sinne, zusammen-
mehlieBen. Das ist jene philosophische Bestimmung der Ding-
lieit des Dinges, die Kant geschaffen hat. Die Wesensumgren-
mnung des Dinges ist kein zufálliges Beiwerk der Philosophie
lknnts, die Bestimmung der Dingheit des Dinges ist ihre meta-
physische Mitte. Wir bringen uns auf den Weg der in sich ge-
sehichtlichen Frage nach dem Ding durch eine Auslegung von
Knnts Werk.
Kants Philosophie riickt das ganze neuzeitliche Denken und
Dusein erstmals in die Helle und Durchsichtigkeit einer Be-
rimdung. Diese bestimmt seitdem alle Wissenshaltung, die
Abgrenzungen und Schãtzungen der Wissenschaften im 19.
Jnhrhundert bis zur Gegenwart. Kant ragt dabei so sehr iiber
nlles Vorige und Nachkommende hinaus, daB auch die, die ibn
nblebnen oder úiber ibn hinausgehen, noch ganz von ihbm ab-
hlingig bleiben.
Kant hat auBerdem — trotz aller Unterschiede und der Weite
los geschichtlichen Abstandes — mit dem groBen griechischen
Wnlang etwas gemeinsam, was ihn zugleich vor allen deutschen
56 Kants Weise nach dem Ding zu fragen $ 14. Kants Werk und der Neukantianismus 57

Denkern vor und nach ihbm auszeichnet: Das ist die unbestech- recht verstehen und dann meine Biicher auf's neue studiren
liche Klarheit seines Denkens und Sagens, die das Fragwiirdige und gelten lassen!« (Varnhagen von Ense, Tagebiicher 1, 46)
und Unausgeglichene keineswegs ausschlieBt und nicht Helle Spricht in diesem Wort ein eitles Sichallzuwichtignehmen,
vortâuscht, wo Dunkelheit ist. oder spricht gar die verârgerte Hoffnungslosigkeit des Beiseite-
Wir machen unsere Frage » Was ist ein Ding?« zu der Frage geschobenen? Keines von beiden; denn beides ist Kants Cha-
Kants und umgekehrt die Frage Kants zu der unseren. Die wei- rukter fremd. Was sich hier ausspricht, ist Kants tiefes Wissen
tere Aufgabe der Vorlesung wird dadurch sehr einfach. Wir um die Art und Weise, wie die Philosophie sich verwirklicht
45 brauchen nicht in grofien Ubersichten und allgemeinen Redens- und auswirkt. Philosophie gehórt zu den urspriinglichsten
arten »iihber« Kants Philosophie zu berichten. Wir versetzen uns menschlichen Bemiihungen, Von diesen bemerkt Kant einmal:
in diese selbst. Kiinftig soll nur Kant sprechen. Was wir dazu tun, » Indessen drehen sich die menschliche Bemiúilhungen in einem
ist zuweilen eine Anweisung in dem Sinne und in der Richtung, bestiindigen Zirkel und kommen wieder auf einen Punct, wo
daB wir unterwegs nicht vom Weg der Frage abkommen. Die sie schon einmal gewesen seyn; alsdenn kónnen Materialien,
Vorlesung ist so eine Art Wegweiser. Die Wegweiser sind im die jetzt im Staube liegen, vielleicht zu einem herrlichen Baue
Vergleich mit dem, was auf dem Weg selbst vor sich geht, etwas verarbeitet werden.« (Kants Antwort an Garve, Prolegomena,
Gleichgiúltiges. Sie tauchen nur ab und zu am Wegrand auf, um od. Vorlânder, S. 194) Hier spricht die úberlegene Ruhe eines
zu zeigen und im Vorbeigehen wieder zu verschwinden. Sehaffenden, der weiB, daB die Mabstãbe des » Aktuellen« ein
Der Weg unserer Frage » Was ist ein Ding?« fihrt auf Kants Staub sind und daB das GroBe sein eigenes Bewegungsgesetz
Hauptwerk, das den Titel »Kritik der reinen Vernuntt« trãgt. hat.
Die Vorlesung reicht auch dazu nicht aus, dieses Werk im Gan- Als Kant im Jahre 1781 die »Kritik der reinen Vernunft« er-
zen zu durchmessen. Wir miissen die Strecke unseres Weges tnheinen lieB, stand er im 57. Jahre seines Lebens. Bis zum Zeit-
noch einmal einschrinken. Aber wir versuchen, in die Mitte jmnkt des Erscheinens dieses Werkes hatte Kant úber zehn
dieser Strecke und damit in die Mitte des Hauptwerkes zu ge- lJuhre lang geschwiegen. Im Jahrzebnt dieses Schweigens, 1770
langen, um es nach den inneren Hauptrichtungen zu begreifen. bis 1781, sind Hólderlin und Hegel und Beethoven als Knaben
Gelingt dies, dann haben wir nicht ein Buch kennengelernt, das nmulgewachsen. Sechs Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen
ein Professor aus dem 18. Jahrhundert einmal geschrieben hat, ilus Werkes, im Jahre 1787, erschien die zweite Auflage. Ein-
sondern wir sind einige Schritte eingeriickt in eine geschicht- mlne Lehrstiicke wurden umgearbeitet, manche Beweisgânge
lich-geistige Grundstellung, die uns heute trâágt und bestimmt. verschãrft. Der Gesamtcharakter des Werkes blieb unverândert.
Die Zeitgenossen standen dem Werk hilflos gegeniiber. Es
Hing durch die Hóhenlage seiner Fragestellung, durch die
$ 14. Die Aufnahme von Kants Werk zu seinen Lebzeiten; Mlrenge seiner Begriffsbildung, durch die weitschichtige Gliede-
der Neukantianismus huing seines Fragens, durch die Neuheit der Sprache und durch
win entscheidendes Ziel úber alles Gewohnte hinaus. Kant
Kant sagte einmal in seinen letzten Lebensjahren gesprãchs- Wullte das; er war sich klar darúíiber, daB das Werk in seiner
weise: »Ich bin mit meinen Schriften um ein Jahrhundert zu llnnzen Anlage und Art gegen den Geschmack der Zeit war.
frih gekommen; nach hundert Jahren wird man mich erst línnt selbst bezeichnet einmal als den herrschenden Geschmack
58 Kants Weise nach dem Ding zu fragen $ 14. Kants Werk und der Neukantianismus 59
seines Zeitalters das Bestreben, das Schwere in philosophischen hen, welche Front schon ein Menschenalter spãter trotz ihres
Dingen als leicht vorzustellen. (Proleg. S. 195) Obwohkhl es in sei- Ungestiims oder gerade deshalb ins Leere stieB, d. h. nicht im-
nen wesentlichen Absichten nicht begriffen, sondern immer nur stande war, eine wahrhaft schópferische Gegnerschaft entste-
von einer zufálligen AuBenseite her aufgegriffen wurde, wirkte hen zu lassen. Es schien, als sei mit dem deutschen Idealismus
das Werk aufreizend. Es entstand ein eifriges Hin und Her von die Philosophie úberhaupt am Ende angekommen und den
Gegen- und Verteidigungsschriften. Bis zum Todesjahr Kants Wissenschaften endgiúltig und ausschlieBlich die Verwaltung
1804 hatten diese die Zah] 2000 erreicht. Auf diesen Zustand des Wissens anvertraut. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts
der Auseinandersetzung mit Kant beziehen sich jene bekannten nber erhob sich der Ruf » Zuriick zu Kante. Diese Riickkehr zu
Verse Schillers, die ilberschrieben sind » Kant und seine Ausle- Kant entsprang einer neuen geschichtlichen geistigen Lage; zu-
ger: &aleich war die Rúckkehr zu Kant durch die Abkehr vom deut-
schen Idealismus bestimmt. Jene geistige Lage um die Mitte
» Wie doch ein einziger Reicher so viele
des 19, Jahrhunderts hat ein wesentliches Kennzeichen in der
Bettler in Nahrung
nusgeprágten Herrschaft einer besonderen Gestaltung der Wis-
Setzt! Wenn die Kônige baun, haben die
wenschaften; man bezeichnet sie mit dem Schlagwort » Positi-
Kãrmer zu tun. «
vismus«, Das ist ein Wissen, dessen Wahrheitsanspruch seine
Derselbe Schiller hat denn auch erst Goethe zu einem Begriff vrsten und letzten MaBstãbe in dem hat, was man » Tatsachen «
von Kants Philosophie und der Philosophie iiberhaupt verhol- nennt. Úber Tatsachen — meint man — lãBt sich nicht streiten;
fen. Goethe sagt spãáter einmal, wenn er eine Seite im » Kant« tie sind der oberste Gerichtshof fiir die Entscheidungen iiber
lese, so wirke das auf ihn » wie das Betreten eines hellbeleuchte- Wahrheit und Unwahrheit. Was in den Naturwissenschaften
ten Raumes<«. durch Experimente bewiesen und was in den historischen Gei-
Im letzten Jahrzehnt der Lebenszeit Kants, in den Jahren ileswissenschaften durch Handschriften und Texte belegt ist, ist
von 1794 bis 1804, gelangte die Auffassung seines Werkes und wnhr. Dies will hier sagen: Es ist das einzige wissensmiBig aus-
ihr zufolge die Auswirkung seiner Philosophie in eine be- Wweisbare Wahre.
stimmte Richtung. Das geschah durch die Arbeit von júngeren Die Riickkehr zu Kant war von der Absicht geleitet, bei Kant
Denkern, von Fichte, Schelling, Hegel. Deren Philosophie ge- lie philosophische Begriindung und Rechtfertigung fir die po-
staltete sich auf dem Grunde der Philosophie Kants — oder bes- Wtivistische Auffassung der Wissenschaft zu finden. Sie war
ser, mit Hilfe des AbstoBes von ihr — zu dem aus, was in der nber zugleich eine wissentliche Abkehr vom deutschen Idealis-
45 landlâufigen Geschichtsdarstellung unter dem Titel » Deutscher nus, eine Abkehr, die sich selbst als Abkehr von der Metaphy-
Idealismus« bekannt ist. In dieser Philosophie wurde Kant 1h verstand. Diese neue Hinkehr zu Kant nahm daher dessen
zwar mit allen Ehren iibersprungen, aber nicht iilberwunden. Philosophie als Zertrimmerung der Metaphysik. Man nannte
Das konnte schon deshalb nicht gelingen, weil die eigentliche liese Riickbewegung zu Kant, im Unterschied zu den Anhãn-
Grundstellung Kants nicht angegriffen, sondern nur verlassen nom Kants zu dessen Lebzeiten, den ehemaligen Kantianern,
wurde; sie wurde nicht einmal verlassen, weil sie gar nicht ein- » Neukantianismus«. Wenn wir aus unserer heutigen Stellung
genommen war — sie wurde nur umgangen. Kants Werk blieb livse Riickbewegung zu Kant iiberblicken, muB es sogleich
wie eine uneroberte Festung im Ricken der neuen Front ste- lraglich werden, ob sie die auch vom deutschen Tdealismus le-
60 Kanits Weise nach dem Ding zu fragen

diglich umgangene und iibersprungene Grundstellung von $ 15. Der Titel von Kants Hauptwerk
Kant zuriidkgewinnen, ja úberhaupt finden konnte. Das war
und ist in der Tat nicht der Fall. Gleichwohl bleiben dieser phi- Wir versuchen hier, uns mit der Frage »Was ist ein Ding? «
46 losophischen Bewegung, dem Neukantianismus, innerhalb der Kants Werk zu stellen, und zwar als Lernende.
Geistesgeschichte der zweiten Hilfte des 19. Jahrhunderts un- Allerdings ist zunáchst vóllig dunkel, was ein Werk des Titels
leugbare Verdienste. Es sind deren vor allem drei: »Kritik der reinen Vernunft« mit unserer Frage » Was ist ein
1. Durch die — wenngleich einseitige — Emeuerung der Phi- Ding?« zu tun haben soll. Wie es damit steht, werden wir nur
losophie Kants wurde der Positivismus vor einem vôlligen Ab- so wahrhaft erfahren, dal wir uns auf das Werk einlassen, also
gleiten in die Tatsachenvergótterung bewahrt. 2. Kants Philoso- durch die nachfolgende Auslegung. Um jedoch nicht alles allzu-
phie selbst wurde durch sorgfiltige Auslegung und Bearbeitung lninge im vôlligen Dunkel zu lassen, versuchen wir eine vordeu-
der Schriften in ihrem ganzen Umfang bekannt gemacht. 3. Die tende Erlâuterung. Wir versuchen, mitten in diesem Werk FuB 47
allgemeine Erforschung der Geschichte der Philosophie, insbe- zu fassen, um sogleich in die Bewegung unserer Frage zu kom-
sondere auch der antiken, wurde am Leitfaden der Philosophie men. Vorher soll eine vordeutende Aufklãárung dariiber gege-
Kants auf einer hóheren Ebene der Fragestellung gehalten. ben werden, inwiefern unsere Frage mit diesem Werk zuin-
All das ist freilich wenig genug, wenn wir die eigentliche nerst zusammenhiingt — abgesehen davon, ob wir Kants Grund-
Aufgabe der Philosophie als MaBstab anlegen, was zunãchst stellung úbernebmen oder nicht, wieweit wir sie verwandeln
auch wieder nicht viel bedeutet, solange es nur eine Gegenfor- úder nicht. Wir geben diese Aufklârung auf dem Wege einer
derung bleibt, statt eine Gegenleistung zu sein. lirlâuterung des Titels. Sie ist so angelegt, daB wir uns an der
Inzwischen sehen wir Kants Philosophie in einem weiteren Stelle von Kants Werk, bei der die Auslegung beginnt, sogleich
Blickfeld als der Neukantianismus. Kants geschichiliche Stel- surechtfinden, ohne zuniáchst die vorausgehenden Stiicke des
lung innerhalb der abendliindischen Metaphysik ist deutlicher Werkes zu kennen.
geworden. Aber dies bedeutet zunáchst nur eine verbesserte hi- »Kritik der reinen Vernuntt« — was »Kritik« und »kritisie-
storische Kenntnisnahme im úblichen Sinne, nicht die Ausein- ron« heiBt, weilBB jeder; » Vernunft« — was ein vernúnftiger
andersetzung mit der von ibm erstmals eroberten Grundstel- Mensch oder ein »vernúnitiger« Vorschlag ist, versteht auch
lung. Hier muB es wahr gemacht werden, was er voraussagte: |edermann; und was »rein« bedeutet im Unterschied zu unrein
» Man wird meine Biicher einst neu studieren und gelten las- (unreines Wasser z. B.), ist auch klar. »Kritik der reinen Ver-
sen«. Wenn es so weit ist, dann gibt es keinen Kantianismus hunft« — gleichwohl kôónnen wir uns bei diesem Titel nichts
mehr; denn jeder bloBe »-ismus« ist ein MiBverstândnis und liechtes denken. Vor allem múBte man bei einer Kritik erwar-
der Tod der Geschichte. Kants » Kritik der reinen Vernunft« ge- len, daB etwas Unbefriedigendes, Ungeniigendes, also Negati-
hôrt zu jenen Werken der Philosophie, die, solange es úber- vos zuriickgewiesen werde, dafô so etwas wie eine unreine Ver-
haupt auf dieser Erde Philosophie gibt, jeden Tag von neuem nunfit kritisiert werde. Was die »Kritik der reinen Vernunfte
unerschipflich werden. Es ist eines jener Werke, die úber jeden vollends mit der Frage nach dem Ding zu tun haben soll, ist
kiinftigzen Versuch, der sie »úiberwindet«, indem er sie nur Itnnz unerfindlich. Und doch diúirfen wir mit allem Recht be-
iibergeht, das Úrteil schon gesprochen haben. hlinupten: Dieser Titel bringt nichts anderes zum Ausdruck als
lie Frage nach dem Ding — aber als Frage. Sie ist, wie wir wis-
62 Kants Weise nach dem Ding zu fragen $16. Die Kategorien 635

sen, eine geschichtliche. Der Titel meint diese Geschichte in ei- nung, ausgesagt (Quantitãt); in dem »kleiner als« wird zuge-
nem entscheidenden Abschnitt ihrer Bewegung. Der Titel sagt, was das Haus ist im Verhiáltnis zu einem anderen (Rela-
meint die Dingfrage und ist ein durch und durch geschichtli- lion); vam Bach«: der Ort; »aus dem 18. Jahrhunderte: die
cher Titel. Von auBen gesehen besagt dies: Kant, der sich úber Leit.
sein Werk durchaus im klaren war, hat ibm einen Titel gege- Beschaffenheit, Ausgedehntheit, Verhãltnis, Ort, Zeit sind
ben, der aus der Zeitlage gefordert wurde und zugleich úber sie Bestimmungen, die im allgemeinen vom Ding gesagt werden.
hinausfiihrte. Welche Geschichte der Frage nach dem Ding Diese Bestimmungen nennen die Hinsichten, in denen die
kommt in diesem Titel zum Ausdruck? Dinge sich uns zeigen, wenn wir sie in der Aussage ansprechen
und besprechen, die Blickbahnen, in denen wir die Dinge er-
blicken, auf denen sie sich uns zeigen. Sofern sie aber immer
$16. Die Kategorien als Weisen der Ausgesagtheit nuf das Ding heruntergesagt werden, ist auch das Ding im all-
gemeinen und immer schon mitgesagt als das schon Anwe-
Wir erinnern uns an den Anfang der Wesensbestimmung des sende. Was so im allgemeinen von jedem Ding als Ding gesagt
Dinges. Sie vollzieht sich am Leitfaden der Aussage. Die ein- wird, dieses »auf das Ding Herabgesagte«, worin sich seine
fache Aussage ist als Satz ein Sagen, worin etwas von etwas Dingheit und Allgemeinheit bestimmt, nannten die Griechen
ausgesagt wird, z. B. »Das Haus ist rot«. Hier wird »rot« dem rmurmmyogia (xara-àyogevei). Das so Zugesagte meint aber nichts
Haus zu-gesagt; das, wovon gesagt wird, das ixoxeipevov, ist nmnderes als das Beschaffensein, Ausgedehntsein, Im-Verhãilt-
die Unterlage. Daher wird im Zu-sagen etwas gleichsam von nis-sein, Dortsein, Jetztsein des Dinges als eines Seienden.
oben her auf das Unterliegende herunter gesagt; » von oben In den Kategorien werden die allgemeinsten Bestimmungen
herab auf etwas herunter« heiBt griechisch xatá; Sagen heiBt dos Seins eines Seienden gesagt. Dingheit des Dinges heiBt: das
gúávar, das Sagen, qúois. Die einfache Aussage ist eine xatágquoLs, “ein des Dinges als eines Seienden. Wir kinnen uns diesen jetzt
ein Léyew tl xatá TiVOS. herausgestellten Tatbestand nicht oft und eindringlich genug
48 Auf ein Ding kann verschiedenes heruntergesagt, iber es vor Augen fúhren — daB nâmlich diejenigen Bestimmungen, die
ausgesagt werden. »Das Haus ist rot«; »das Haus ist hoche; ilus Sein eines Seienden, also des Dinges selbst, ausmachen, ih-
»das Haus ist kleiner« (als jenes daneben); »das Haus ist am ren Namen haben von Aussagen iiber das Ding. Dieser Name
Bacha«;»das Haus ist aus dem 18. Jahrhundert«. liir die Seinsbestimmungen ist nicht eine beliebige Bezeich-
Am Leitfaden dieser verschiedenen Aussagen kôónnen wir nung, sondern: In dieser Benennung der Seinsbestimmungen
verfolgen, wie das Ding selbst jeweils bestimmr ist. Dabei ach- nls Weisen der Ausgesagtheit liegt eine einzigartige Auslegung
ten wir jetzt nicht auf dieses besondere Ding im Beispiel — das les Seins. DaB seitdem im abendlindischen Denken die Bestim-
Haus —, sondern auf jenes, was in jeder derartigen Aussage jeg- Inungen des Seins » Kategorien« heiBen, ist der schirfste Aus-
liches derartige Ding im allgemeinen kennzeichnet — die Ding- luck fir das, was wir bereits heraushoben: daB der Bau des
heit. »Rot«, das sagt in einer bestimmten Hinsicht, nâmlich be- Dinges mit dem Bau der Aussage zusammenhãngt. Wenn sich
ziglich der Farbe, wie das Ding beschaffen ist. Auf das Iniher und heute noch die schulmibige Lehre vom Sein des 49
Allgemeine hin gesehen, wird dem Ding eine Beschaffenheil, irienden, die » Ontologies«, als eigentliches Ziel setzt, eine »Ka-
Qualitãt, zugesagt. In der Zusage » groB« wird GrôBe, Ausdeh- Ingorienlehres« aufzustellen, so spricht darin die anfângliche
64 Kants Weise nach dem Ding zu fragen

Auslegung des Seins des Seienden, d. h. der Dingheit des Din- $ 18. Die neuzeitliche mathematische Naturwissenschaft
ges von der Aussage her. und die Entstehung einer Kritik der reinen Vernunft

Wir hórten bereits, daB fur die Wesensbestimmung des Dinges


$ 17. Aóvos = ratio — Vernuntt auBer dem Anfang bei den Griechen — das Heraufkommen
der neuzeitlichen Naturwissenschaft entscheidend wurde. Der
Die Aussage ist eine Art von héyew — etwas als etwas anspre- dliesem Ereignis zugrunde liegende Wandel des Daseins veriin-
chen. Darin liegt: etwas als etwas nehmen. Etwas fúr etwas hal- ilerte den Charakter des neuzeitlichen Denkens und da-
ten und ausgeben, heiBt lateinisch: reor, ratio; daher wird ratio mit der Metaphysik und bereitete die Notwendigkeit einer Kri-
die Ubersetzung von lóyos. Das einfache Aussagen gibt zu- lik der reinen Vernuntt vor. Daher ist es aus mehrfachen Griin-
gleich die Grundform, in der wir úiber die Dinge etwas meinen den notwendig, daB wir uns vom Charakter der neuzeitlichen
und denken. Die Grundform des Denkens und somit das Den- Naturwissenschaft eine bestimmtere Vorstellung verschaffen.
ken ist der Leitfaden fúr die Bestimmung der Dingheit des Dobei miissen wir darauf verzichten, auf besondere F ragen ein-
Dinges. Die Kategorien bestimmen allgemein das Sein des rugehen. Wir kónnen hier nicht einmal die Hauptabschnitte
Seienden. Nach dem Sein des Seienden fragen, was und wie lhrer Geschichte verfolgen. Viele und die meisten Tatsachen
iiberhaupt das Seiende ist, gilt als die Aufgabe der Philosophie lieser Geschichte sind bekannt, und dennoch ist unser Wissen
in erster Linie; so fragen, ist erstrangige, erste und eigentliche lim die innersten treibenden Zusammenhãnge dieses Gesche-
Philosophie, xeútm pritosoqia, prima philosophia. hinns noch sehr diirftig und dunkel. Nur dieses eine ist ganz
Wesentlich bleibt: Das Denken als einfaches Aussagen, der (loutlich, dal der Wandel der Wissenschaft sich vollzog auf dem
Mórros, die ratio, ist der Leitfaden fúr die Bestimmung des Seins lirunde einer Jahrhunderte dauernden Auseinandersetzung
des Seienden, d. h. fiir die Dingheit des Dinges. »Leitfaden« liber die Grundbegriffe und Grundsãtze des Denkens, d. h. iiber
meint hier: Die Weisen der Ausgesagtheit lenken den Blick bei lie Grundstellung zu den Dingen und zum Seienden iiber-
der Bestimmmung der Anwesenheit, d. h. des Seins des Seienden. linupt. Eine solche Auseinandersetzung: konnte nur durchge-
Aóvyos und ratio werden im Deutschen mit Vernunft úber- Ihrt werden bei einer vollkommenen Beherrschung der Uber-
setzt. Darin erscheint fúr uns gleichsam erstmalig ein Lusam- lisferung der mittelalterlichen Naturlehren sowohl wie der
menhang zwischen der Frage nach dem Ding auf der einen Iintiken; sie verlangte eine ungewôhnliche Weite und Sicher-
Seite und nach der » Vernuntt« (» Kritik der reinen Vernunite) linit des begrifflichen Denkens und schlieBlich eine Beherrschung
auf der anderen Seite. Aber wie es im Verlauf der abendlândi- Il nenen Erfahrungen und Verfahrensweisen. All das hatte
schen Metaphysik zu einer »Kritik der reinen Vernuntte Jur Voraussetzung eine einzigartige Leidenschaft des Verlan-
kommt, und was dies heiBt, ist damit noch nicht gezeigt. Wir líiis nach einem mabBgebenden Wissen, die ihresgleichen nur
versuchen es jetzt in wenigen groben Ziigen. lini den Griechen findet, ein Wissen, das zu allererst und stândig
lin cignen Voraussetzungen in Frage stellt und so auf den
tirund zu bringen sucht. Das Aushalten in der Fragwiirdigkeit
hishicint als der einzige menschliche Weg, um die Dinge in
Iliror Unerschipflichkeit, d. h. Unverfãlschtheit zu bewahren.
66 Kants Weise nach dem Ding zu fragen $ 18, Wandel der Natunvissenschaft 67

Der Wandel der Wissenschaft wird immer nur durch diese Seite, der der alten und der neuen Wissenschaft, handelt es sich
selbst vollzogen. Aber sie selbst griindet dabei auf einem zwie- jeweils um beides, um Tatsachen und Begriffe; das Entschei-
fachen Grunde: 1. auf der Arbeitserfahrung, d. h. auf der Rich- dende ist aber die Art und Weise, wie die Tatsachen begriffen
tung und Art der Beherrschung und Verwendung des Seien- und wie die Begriffe angesetzt wurden.
den; 2. auf der Metaphysik, d. h. auf dem Entwurf des Grund- Die GrôBe und Uberlegenheit der Naturwissenschaft im 16.
wissens vom Sein, auf dem das Seiende wissensmibig sich und 17, Jahrhundert beruht darauf, daB jene Forscher alle Phi-
aufbaut. Arbeitserfahrung und Seinsentwurf sind dabei wech- losophen waren; sie begriffen, daB es keine bloBen Tatsachen
selweise aufeinander bezogen und treffen sich immer in einem fibt, sondern daB eine Tatsache nur ist, was sie ist, im Lichte
Grundzug der Haltung und des Daseins. des begrindenden Begriffes und je nach der Reichweite solcher
Wir versuchen jetzt im groben diesen Grundzug der neuzeit- Begriindung. Das Kennzeichen des Positivismus, darin wir seit
lichen Wissenshaltung ans Licht zu heben. Dieses aber in der Jnhrzehnten und heute mehr denn je stehen, ist dagegen, daB
Absicht, die neuzeitliche Metaphysik zu verstehen und in eins er meint, mit Tatsachen oder anderen und neuen Tatsachen
damit die Moglichkeit und Notwendigkeit von so etwas wie miszukommen, wihrend Begriffe lediglich Notbehelfe seien, die
Kants » Kritik der reinen Vernunft«. mun irgendwie benôtigt, mit denen man sich aber nicht allzu-
weit einlassen soll — denn dies wire Philosophie. Das Komische
a) Kennzeichnung der neuzeitlichen Naturwissenschaft oder, richtiger gesagt, das Tragische an der gegenwairtigen Wis-
gegeniiber der antiken und mittelalterlichen monschaftslage ist fúrs erste noch dieses, daB man meint, man
liinne den Positivismus durch Positivismus iiberwinden. Ale
Man pflegt die neuzeitliche Wissenschaft im Unterschied zu der dings herrscht diese Haltung nur dort, wo die durchschnitiliche
des Mittelalters gem so zu kennzeichnen, dal) man sagt, jene Ind nachtrãigliche Arbeit gemacht wird. Dort, wo die eigent-
ging und geht von den Tatsachen aus, diese von allgemeinen liche, aufschlieBende Forschung geschieht, ist die Lage nicht
51 spekulativen Sãtzen und Begriffen. Das ist in gewisser Weise nnders als vor 300 Jahren; auch jene Zeit hatte ihren Stumptf-
richtig. Aber es ist ebenso unbestreitbar, daB auch die mittel- inn, so wie umgekehrt die heute fihrenden Kipfe der Atom-
alterliche und die antike Wissenschaft die Tatsachen beobach= physik, Niels Bohr und Heisenberg, durch und durch philoso-
teten, wie es unbestreithar ist, daB auch die neuzeitliche phisch denken und nur deshalb neue Fragestellungen schaffen
Wissenschaft mit allgemeinen Sãtzen und Begriffen arbeitel, lind vor allem in der Fragwiirdigkeit aushalten.
Das ging so weit, daB auf Galilei, einen der Mitbegriinder Wenn man also versucht, die neuzeitliche Wissenschaft ge-
der neuzeitlichen Wissenschaft, der Vorwurf zurickfiel, den fteniiber der mittelalterlichen dadurch zu kennzeichnen, daB
er und seine Anhiinger der scholastischen Wissenschaft mache in sie als Tatsachenwissenschaft ausgibt, dann bleibt dies
ten. Sie sagten, diese sei »abstrakt«, d. h. sie bewege sich mrundsãtzlich unzureichend. Man sieht ferner den Unterschied
in allgemeinen Sãtzen und Prinzipien. Allein dasselbe, nur 'wischen der alten und neuen Wissenschaft oft darin, daB diese
in einem verschirften und bewuBteren Sinne, traf auf Galílel Pi perimentiert und ihre Erkenntnisse » experimentell« beweist. 52
zu. Der Gegensatz der alten und der neuen Wissenschafis hor das Experiment, der Versuch, durch eine bestimmte An-
haltung kann daher nicht so festgelegt werden, dal man hidnung von Dingen und Vorkommnissen Auskiinfte iiber das
sagt: hie Begriffe und Lehrsátze und hie Tatsachen. Auf jedor Vorhalten der Dinge zu gewinnen, ist der Antike und dem Mit-
68 Kants Weise nach dem Ding zu fragen $18. Wandel der Naturwissenschaft 69

telalter auch bekannt. Diese Art der Erfahrung liegt jedem darin Mathematik anzutreffen ist.« (Vorrede zu » Metaphysi-
handwerklichen und werkzeuglichen Umgang mit den Dingen sche Anfangsgriinde der Naturwissenschafte).
zugrunde. Auch hier ist es nicht das Experiment als solches, im Die entscheidende Frage lautet: Was heifit hier » Mathema-
weiten Sinne der prirfenden Beobachtung, sondern wiederum lik« und »mathematisch«? Es scheint, daBb wir die Antwort auf
die Art und Weise, wie der Versuch angelegt und in welcher diese Frage nur aus der Mathematik selbst schópfen kinnen.
Absicht er unternommen wird, worin er griindet. Es ist zu ver- Das ist ein Irrtum; denn die Mathematik ist selbst nur eine be-
muten, daB die Art des Experiments zusammenhãângt mit der slimmte Ausformung des Mathematischen.
Art der begrifflichen Bestimmung der Tatsachen und der Art Daf die Mathematik in praktischer und lehrmábiger Hin-

[Sl
[53]
der Ansetzung der Begriffe, d. h. mit der Art des Vorgriffs auf sicht hente zur naturwissenschafilihen Fakultãt gerechnet
die Dinge. wird, hat seine geschichtlichen Griinde, ist aber wesensmáBig
Neben den beiden stets genannten Kennzeichnungen der nicht notwendig. Friher gehórte die Mathematik zu den sep-
neuzeitlichen Wissenschaft — sie sei Tatsachenwissenschaft und lem artes liberales. Die Mathematik ist so wenig eine Naturwis-
experimentelle Forschung — trifft man meistens noch eine dritte senschaft, wie die » Philosophie« eine Geisteswissenschaft ist.
an. Sie betont, die neue Wissenschaft sei rechnende und mes- Die Philosophie gehôrt dem Wesen nach so wenig in die philo-
sende Forschung. Das ist richtig; nur gilt es auch von der anti- tophische Fakultãt wie die Mathematik in die naturwissen-
ken Wissenschaft; auch sie arbeitete mit MaB und Zahl. Die sehaftiliche. Dall man Philosophie und Mathematik jetzt in
Frage ist wiederum die, in welcher Weise und in welchem dieser Weise unterbringt, das scheint nur ein Schônheitsfehler
Sinne die Rechnungen und Messungen angesetzt und durchge- nler ein Versehen im Vorlesungsverzeichnis zu sein. Vielleicht
fúhrt werden, welche Tragweite sie fir die Bestimmung der Int es aber auch etwas ganz Anderes — und es gibt Leute, die sich
Gegenstinde selbst haben. liber solche Sachen sogar ihre Gedanken machen —, nâmlich ein
Mit den genannten drei Charakterisierungen der neuzeit- Zuichen dafiir, daB es eine gegrimdete und geklãrte Einheit der
lichen Wissenschaft — sie sei Tatsachenwissenschaft, sie sei expe- Wissenschaften nicht mehr gibt, daB diese Einheit keine Not
rimentelle und messende Wissenschaft — treffen wir nicht den und keine Frage mehr ist.
Grundzug der neuen Wissenshaltung. Der Grundzug muf in
jenem bestehen, was die Grundbewegung der Wissenschaft als b) Das Mathematische, nódnois
solcher gleichurspriinglich maBgebend durchherrscht: Es ist der
Arbeitsumgang mit den Dingen und der metaphysische Ent- Wie ist es mit dem » Mathematischen«, wenn es nicht aus der
wurf der Dingheit der Dinge. Wie sollen wir diesen Grundzug Mulhematik erklãrt werden kann? Bei soldhen Fragen tun wir
fassen? ul, uns an das Wort zu halten. Zwar findet sich dort, wo dies
Wir bringen diesen gesuchten Grundcharakter der neuzeit- Wuort steht, nicht immer auch die Sache. Aber bei den Griechen,
lichen Wissenshaltung auf einen Titel, wenn wir sagen: Der Vim denen das Wort stammt, dúiirfen wir diese Voraussetzung
neue Wissensanspruch ist der mathematische. Von Kant nilimo Gefahr machen. Das » Mathematische« kommt der Wort-
stammt der oft angefihrte, aber noch wenig begriffene Satz: igung nach vom griechischen x palúuata, das Lernbare und
»Ich behaupte aber, daf in jeder besonderen Naturlehre nur so ililinr zusgleich das Lehrbare; povdáveiv heiBt lernen, nábnois
viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden kônne, als lin Lohbire, und zwar in dem doppelten Sinne: Lehre als in die
70 Kants Weise nach dem Ding zu fragen $18. Wandel der Naturwissenschaft 71

Lehre gehen und lernen, und Lehre als das, was gelehrt wird, Dinge genommen, wenn sie mathematisch angesehen und an-
Lehren und Lernen ist hier in einem weiten und zugleich we- gesprochen werden?
sentlichen Sinne gemeint, nicht in dem spãteren engen, abge- Wir sind lângst gewohnt, beim Mathematischen an die Zah-
griffenen der Schule und des Gelehrten. Doch diese Abhebung len zu denken. Das Mathematische und die Zahlen stehen
geniigt nicht, um den eigentlichen Sinn des » Mathematischen« offensichtlich in einem Zusammenhang. Die Frage bleibt nur:
zu fassen. Hierzu ist notwendig, nachzusehen, in welchen wei- Besteht dieser Zusammenhang, weil das Mathematische etwas
teren Zusammenhang die Griechen das Mathematische einrúk- Zahlenhafties ist oder weil umgekehrt das Zahlenhafte etwas
ken und wogegen sie es unterscheiden. Mathematisches ist? Das zweite ist der Fall. Sofem aber die
Was das » Mathematische« eigentlich ist, erfahren wir, wenn Zahlen dergestalt mit dem Mathematischen in Zusammenhang
wir nachsehen, wohin die Griechen das Mathematische einord- stehen, bleibt zu fragen: Warum gelten gerade die Zahlen als
nen und wogegen sie es innerhalb dieser Ordnung abgrenzen. Mathematisches? Was ist das Mathematische selbst, dal) der-
Die Griechen filhren das Mathematische, tá ualíjuata, in eins gleichen wie Zahlen als Mathematisches begriffen werden muB
mit folgenden Bestimmungen auf: und vorwiegend als das Mathematische vorgefúhrt wird?
1. tá quotxá — die Dinge, sofern sie von sich aus aufgehen Múdnois heiBt das Lernen; poítuata das Lernbare. Nach dem
und hervorkommen; 2. 1à nowoópeva — die Dinge, sofern sie Gesagten sind also mit dieser Benennung die Dinge gemeint,
54: durch Menschenhand, handwerklich, hergestellt sind und als sofern sie lernbar sind. Lernen — das ist eine Art des Aufneh-
solche dastebhen; 3. tê xonuata — die Dinge, sofern sie im Ge- mens und Aneignens. Aber nicht jedes Nehmen ist ein Lernen.
brauch und damit zur stândigen Verfúgung stehen — das kôn- Wir kônnen ein Ding nehmen, z. B. einen Stein, ibn mitneh-
nen entweder quoixá, Steine und dergl., oder notobusvo, ei- men und in eine Gesteinssammlung legen; und so Pflanzen;
gens erst Verfertigtes sein; 4. 1à xoáynata — die Dinge, sofem im Kochbuch steht: man »nehme«, d. h. man verwende. Nehmen
sie ilberhaupt solche sind, womit wir zu tun haben, sei es, das besagt: in irgendeiner Weise von einem Ding Besitz ergreifen
wir sie bearbeiten, verwenden, umpgestalten oder nur betrachten und dariúiber verfigen. Welche Art von Nehmen zeigt nun das
und durchforschen — xeúyuata, auf xeã&is bezogen, xoãEis hier lLernen? Mailífjuata — Dinge, sofern wir sie lernen. Aber wir
ganz weit genommen, weder in dem engen Sinne der prak- lkónnen strenggenommen ein Ding nicht lernen, z. B. eine
tischen Anwendung (vel. xefota) noch im Sinne der noãEis Waffe; lemen kónnen wir nur den Gebrauch des Dinges. Das
als Handlung im Sinne der sittlichen Handlung; xeãE£rs ist alles Lernen ist demnach ein Nehmen und Aneignen, wobei der Ge-
Tun und Betreiben und Aushalten, was auch die xoínoi ein- brauch angeeignet wird. Solche Aneignung geschieht durch das
schlieBt; und schlieBlich 5. 1&à poitíjuata. Nach der bisherigen (ebrauchen selbst. Wir nennen es UÚbung. Das Úben ist aber
durchlaufenden Kennzeichnung der vier erstrenannten miissen wieder nur eine Árt des Lemens. Nicht jedes Lernen ist ein
wir auch hier bei den políuata sagen: die Dinge, insofern ben. Aber was ist nun das Wesen des Lernens im eigentlichen
sie . ..; die Frage ist: inwiefern? Sinne der púdnois? Warum ist Lermnen ein Nehmen? Was an
In jedem Falle ersehen wir das eine: Das Mathematische be- ilen Dingen wird genommen, und wie wird es genommen?
trifft die Dinge, und zwar in einer bestimmten Hinsicht. Wir Betrachten wir noch einmal das Úben als eine Árt des Ler-
bewegen uns mit der Frage nach dem Mathematischen in unse- nens. In der Úbung nehmen wir den Gebrauch der Waffe, d. h.
rer Leitfrage » Was ist ein Ding?« In welcher Hinsicht sind die lie Art und Weise des Umgangs mit ihr, in unseren Besitz. Wir
72 Kanis Weise nach dem Ding zu fragen $ 18. Wandel der Naturwissenschaft São

beherrschen die Art des Umgangs mit der Waffe. Das will sa- das Herstellen des Dinges, und das hergestellte Ding wiederum
gen: Unsere Weise des Vorgehens und Umgehens stellt sich auf ist erst der ermóglichende Grund fúr die Úbung und den Ge-
das ein, was die Waffe selbst verlangt; » Waffe« meint nicht brauch. Was wir im Úben lernen, ist nur ein begrenzter Aus-
dieses einzelne Gewehbr mit dieser bestimmten Nummer, son- schnitt des Lernbaren am Ding. Das urspriingliche Lemen ist
dem etwa das Modell 98. In der Ubung lemen wir aber nicht jenes Nebhmen, worin wir dieses, was je ein Ding iiberhaupt ist,
nur Laden und Drudkpunkt Nehmen und Zielen, nicht nur die in die Kenntnis nebmen, was eine Waffe ist, was ein Gebrauchs-
Handfertigkeit, sondern in all dem lernen wir zugleich und erst ding ist. Aber das wissen wir doch eigentlich schon. Wenn wir
das Ding kennen. Das Lernen ist immer auch ein Kennenler- dieses Gewehr oder auch ein bestimmtes Gewehrmodell kennen-
nen. Beim Lernen gibt es Richtungen des Lernens, Lernen der lernen, lernen wir nicht erst, was eine Waffe ist, sondern dies
Verwendung, Lernen des Kennens. Das Kennenlernen hat wie- Wwissen wir schon vorher und miissen es wissen, sonst kúnnten
der verschiedene Stufen. Wir lernen das bestimmte einzelne wir das Gewekhr iiberhaupt nicht als solches vernehmen. Indem
Gewehr kennen, lernen, was ein Gewehr dieses Modells ist, was wir im voraus wissen, was eine Waffe ist, und nur so, wird uns
iiberhaupt ein Gewehr im allgemeinen ist. Beim Uben, das ein das vorgelegte Gesehene allererst sichtbar in dem, was es ist.
Lemen des Gebrauchs ist, bleibt aber das zugehórige Kennen- lireilich kennen wir das, was eine Walffe ist, nur im allgemei-
lernen innerhalb einer bestimmten Grenze. Das Ding kommt nen, in einer unbestimmten Weise. Wenn wir dies uns eigens
im allgemeinen zur Kenninis, so weit, daB der Lemende ein und in bestimmter Weise zur Kenntnis bringen, dann nehmen
rechter Schiitze wird. An dem Ding, dem Gewehr, ist aber noch Wir etwas in die Kenntnis, was wir eigentlich schon haben. Ge-
»mehr« kennenzulemen, also úiberhaupt zu lernen, z. B. die rade dies » zur Kenntnis Nehmene ist das eigentliche Wesen des
Gesetze der Ballistik, der Mechanik, der chemischen Wirkung l.ernens, der náúdnois. Die pabíuartao, das sind die Dinge, sofern
bestimmter Stoffe. Ferner ist daran zu lemen, was eine Waffe Wir sie in die Kenntnis nebmen, als das in die Kenntnis neh-
ist, was dieses bestimmte Gebrauchsding ist. Aber was ist dabei Wen, als was wir sie eigentlich im voraus schon kennen, den
noch viel zu lemen? Dies, welche Bewandtnis es mit solch ei- Kúrper als das Kôrperhafte, an der Pflanze das Pflanzliche, am
nem Ding úberhaupt hat. Doch das brauchen wir beim Schie- Tier das Tierische, am Ding die Dingheit usw. Dieses eigent-
Ben, beim Gebrauch des Dinges nicht zu kennen. GewiB nicht. liche Lernen ist somit ein hóchst merkwiirdiges Nehmen, ein
Das schlieBt aber nicht aus, daB es zu einem solchen Ding ge- Nehbmen, wobei der Nehmende nur solches nimmt, was er im
hôrt. Wenn es nâmlich gilt, ein Ding, dessen Gebrauch wir ein- Lirunde schon hat. Diesem Lernen entspricht auch das Lehren.
iiben, iiberhaupt verfirgbar zu machen, also herzustellen, muB lehren ist ein Geben, Darbieten; aber dargeboten wird im
der Herstellende zuvor kennengelernt haben, welche Bewandt- liehren nicht das Lernbare, sondern gegeben wird nur die An-
nis es úiberhaupt mit dem Ding hat. Es gibt beziiglich des Din- Weisung an den Schiller, sich selbst das zu nehmen, was er schon
ges noch ein urspriinglicheres Kennenlernen, solches, was zuvor lit, Wenn der Schiller nur etwas Dargebotenes ilbernimmi,
gelernt sein muB, damit es iilberhaupt solche Modelle und ent- lamt er nicht. Er kommt erst zum Lernen, wenn er das, was er
sprechende Srtiicke gibt, das Kennenlernen dessen, was úber- Nimmt, als das erfãhrt, was er selbst eigentlich schon hat. Erst
haupt zu einer SchuBwaffe gehórt und was eine Waffe ist; das 1lort ist wahrhaftes Lemen, wo das Nehmen dessen, was man
muB im vorans zur Kenntnis genommen, es muB gelernt und Whon hat, ein Sichselbstgeben ist und als ein solches erfahren
lehrbar sein. Dieses Kennenlernen ist der tragende Grund fúr wird, Lehren heiBt daher nichts Anderes, als die Anderen ler-
T4 Kants Weise nach dem Ding zu fragen $ 18. Wandel der Naturwissenschaft 75
nen lassen, d. h. sich gegenseitig zum Lernen bringen. Lernen als drei záhlen, wenn wir schon die » drei« kennen. Indem wir
ist schwerer als Lehren; denn nur wer wahrhaft lernen kann — also die Dreizahl als solche fassen, nehmen wir nur etwas aus-
und nur solange er es kann — der allein kann wahrhaft lehren. dricklich zur Kenntnis, was wir irgendwie schon haben, Dieses
Der wahrhafte Lehrer unterscheidet sich vom Schiller nur da- Zur-Kenntnis-nehmen ist das eigentliche Lernen. Die Zahl ist
durch, daB er besser lernen kann und eigentlicher lernen will. etwas im eigentlichen Sinne Lernbares, ein pófnua, d. h. etwas
Bei allem Lehren lernt am meisten der Lehrer. Mathematisches. Um die Drei als solche, d. h. die Dreiheit, zu
Dieses Lernen ist das schwerste: wirklich und bis zum fassen, dazu helfen uns die Dinge nichts. Die Drei — was st des
Grunde das zur Kenntnis nebmen, was wir immer schon wis- cigentlich? Die Zahl, die in der natúrlichen Zahlenreihe an
sen. Solches Lernen, woran uns hier einzig gelegen ist, verlangt, dritter Stelle steht. An »dritter«! Die dritte Zahl ist es doch
sich stândig beim anscheinend Nãchstliegenden aufzuhalten, nur, weil es die Drei ist. Und »Stelle« — woher Stellen? Die
z. B. bei der Frage, was ein Ding sei. Wir fragen unentwegt nur Drei ist nicht die dritte Zahl, sondern die erste Zahl, nicht etwa
57 dieselbe, auf den Nutzen gesehen, offenkundige Nutzlosigheit: die Eins. Wir haben z. B. vor uns einen Laib Brot und ein Mes-
was das Ding sei, was das Werkzeug sei, was der Mensch sei, ser, dieses eine und dazu das andere. Wenn wir sie zusammen
was das Kunstwerk sei, was der Staat, was die Welt sei. nehmen, sagen wir: diese beiden, das eine und das andere, aber
Es gab in Griechenland im Altertum einen beribhmten Ge- nicht: diese zwei, nicht 1 + 1. Erst wenn zu Brot und Messer
lehrten, der iúiberall herumreiste und Vortrâáge hielt. Man 1. B. ein Becher kommt und wir das Gegebene zusammenneh-
nannte solche Leute Sophisten. Als dieser berihimte Sophist men, sagen wir: alle; jetzt nehmen wir sie als Summe, d. h. als
einmal von einer Vortragsreise in Kleinasien nach Athen zu- ein Zusammen und soundso Viele. Erst vom Dritten her wird
ritdkkam, traf er dort auf der StraBe den Sokrates. Dessen Ge- das vormalige Eine das erste und das vormalige Andere das
wohbnheit war es, auf der StraBe herumzustehen und mit den 1weite, wird eins und zwei, wird aus dem »und« das »plus<«,
Leuten zu reden, z. B. mit einem Schuster darúber, was ein wird die Môglichkeit der Stellen und der Reihe. Was wir jetzt
Schuh sei. Sokrates hatte kein anderes Thema als immer dieses; tur Kenntnis nehmen, schópfen wir nicht aus irgendwelchen
was die Dinge seien. »Stehst Du immer noch das, sagte der Wingen. Wir nehmen, was wir irgendwie schon selbst haben. 58
angereiste Sophist úiiberlegen zu Sokrates, »und sagst immer Eis handelt sich um solches Lernbare, was als Mathematisches
dasselbe iiber dasselbe?« »Ja«, antwortete Sokrates, »das tue hegriffen werden muB.
ich; aber Du, der Du so besonders gescheit bist, Du sagst sicher All dieses nebmen wir zur Kenntnis, lernen es ohne Riicksicht
niemals dasselbe iiber dasselbe. « if die Dinge. Weil dergleichen wie die Zahlen bei unserem ge-
Die padíuato, das Mathematische, das ist jenes »an« den wihbnlichen Umgang mit den Dingen, beim Rechnen mit ihnen
Dingen, was wir eigentlich schon kennen, was wir demnach und somit beim Zãhlen am nãchsten liegt von dem, was wir an
nicht erst aus den Dingen herholen, sondern in gewisser Weise ilen Dingen zur Kenntnis nebmen, ohne es aus ihnen zu schip-
selbst schon mitbringen. Von hier aus kónnen wir jetzt verste- len, deshalb sind die Zahlen das bekannteste Mathematische.
hen, warum z. B. die Zahl etwas Mathematisches ist. Wir sehen Neshalb wird in der Folge dieses gelâufigste Mathematische
drei Stihle und sagen: Es sind drei. Was »drei« ist, das sagen mm Mathematischen schlechthin. Aber das Wesen des Mathe-
uns nicht die drei Stúihle, auch nicht drei Ápfel oder drei Katzen inntischen liegt nicht in der Zahl als der reinen Begrenzung
oder sonst irgend drei Dinge. Vielmehr kônnen wir Dinge nur (les reinen Wieviel, sondern umgekehrt: Weil die Zahl sol-
76 Kanis Weise nach dem Ding zu fragen $ 18. Wandel der Naturwissenschaft 7

chen Wesens ist, gehórt sie zu dem Lernbaren im Sinne der nach dem Gesagten nicht heiBen: In dieser Wissenschaft sei mit
póádbnois. Mathematik gearbeitet worden, sondern es sei auf eine Weise
Tnser Ausdruck » das Mathematische« ist immer doppeldeu- gelragt worden, daB ihr zufolge erst die Mathematik im enge-
tig; er meint erstens: das in der gekennzeichneten Weise und ren Sinne ins Spiel treten muBite.
nur in ibr Lernbare, zweitens: die Weise des Lernens und Vor- Es gilt daher, jetzt zu zeigen, dal und inwiefern der Grund-
gehens selbst. Das Mathematische ist jenes Offenbare an den zug des neuzeitlichen Denkens und Wissens im eigentlichen
Dingen, darin wir uns immer schon bewegen, demgemãfB wir Sinne mathematisch ist. In solcher Absicht versuchen wir, einen
sie iiberhaupt als Dinge und als solche Dinge erfahren. Das wesentlichen Schritt der neuzeitlichen Wissenschaft in einen
Mathematische ist jene Grundstellung zu den Dingen, in der Hauptziigen vorzufilhren. Daran soll deutlich werden, worin
wir die Dinge uns vor-nehmen auf das hin, als was sie uns schon das Mathematische besteht und wie es dabei sein We AA:
gegeben sind, gegeben sein mússen und sollen. Das Mathema- tel, sich aber auch in einer bestimmten Bichtung verfestiot.
tische ist deshalb die Grundvoraussetzung des Wissens von den
Dingen. c) Der mathematische Charakter der neuzeitlichen
Daher setzte Platon úiiber den Eingang zu seiner Akademie Naturwissenschaft; Newtons erstes Bewegungsgesetz
den Spruch: *Ayeopétontos pnôeis cicito! » Keiner, der nicht das
Mathematische begriffen hat, soll hier einen Zugang haben.« Das neuzeitliche Denken ist nicht mit einem Schlage da. Die
Dieser Spruch meint nicht so sebr und nicht zuerst, dabB Ansãtze regen sich im 15. Jahrhundert in der Spatedholastik
einer nur in einem Fach »Geometrie« ausgebildet sein músse, Das 16. Jahrhundert bringt ruckweise VorstôBe und eleAóteia
sondern daB er begreife, die Grundbedingung fúr das rechte Riickfãlle, Erst im 17. Jahrhundert vollziehen sich die entschei-
Wissenkônnen und Wissen sei das Wissen von den Grundvor- denden Klárungen und Begriindungen. Dieses ganze Gesche-
aussetzungen alles Wissens und die von solchem Wissen getra- hen findet seinen ersten systematischen und sociiprerschen Ab-
gene Haltung. Ein Wissen, das nicht wissensmiíbig seinen sehluB durch den englischen Mathematiker und Physiker
Grund legt und dabei seine Grenze nimmt, ist kein Wissen, Newton, und zwar in dessen Hauptwerk, das betitelt ist: Philo-
sondern nur ein Meinen. Das Mathematische, im urspringli- tophiae naturalis principia mathematica, 1686/87. In dem Ti-
chen Sinne des Kennenlernens dessen, was man schon kennt, ist tel meint » Philosophie« die allgemeine Wissenschaft (vel. phi-
die Grundvoraussetzung der »akademischen« Arbeit. Dieser losophia experimentalis); »principia« sind die Anfangsgrimde
Spruch úiber der Akademie enthiilt somit nichts weiter als eme die anfiânglichen, d. h. die allerersten Grinde. Es landelt sida
harte Arbeitsbedingung und eine klare Arbeitsbeschrânkung, in diesen Anfangsgriinden keineswegs um eine Einleitung fúr
Beides hat zur Folge gehabt, dali wir heute noch, nach zweitau- Anfãânger. í
send Jahren, mit dieser akademischen Arbeit nicht fertig ge- Das Werk war nicht nur ein AbschluB voraufgegangener Be-
worden sind und auch nie fertig werden, solange wir uns selbst miihungen, sondern zugleich die Grundlegung fiir die nach-
ernst nehbmen. kommende Naturwissenschaft. Es hat ihre Entfaltung ebenso
Diese kurze Besinnung auf das Wesen des Mathematischen ielórdert wie gehemmt. Wenn wir heute von der klassischen
wurde durch unsere Behauptung veranlaBt, der Grundzug der hysik sprechen, meinen wir die durch Newton gegrindete Ge-
neuzeitlichen Wissenschaft sei das Mathematische. Das kann ttnlt des Wissens, Fragens und Begriindens. Wenn Kant von
78 Kanis Weise nach dem Ding zu fragen $ 18. Wandel der Naturwissenschaft 79

»der« Wissenschaft spricht, meint er Newtons Physik. Fun ribus impressis cogitur statum illum mutare. » Jeder Kôrper
Jahre nach Erscheinen der » Kritik der reinen Vernunite, ge- beharrt in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichfórmigen
rade hundert Jahre nach Newtons » Anfangsgrindens«, verõf- geradlinigen Bewegung, wenn er nicht und soweit er nicht von
fentlicht Kant eine Schrift des Titels » Metaphysische Anfangs- eingeprãgten Kriften gezwungen wird, jenen Zustand zu àn-
grinde der Naturwissenschaft«, 1786. Es ist — auf dem Grunde dern.« Man nennt dieses Gesetz das Beharrungsgesetz (oder,
der in der »Kritik der reinen Vernunft« erreichten Stellung — weniger gliicklich: lex inertiae, Trigheitsgesetz).
60 ein bewuBtes und ergânzendes Gegenstiick zu Newtons Werk. Die zweite Auflage des Werkes wurde noch zu Lebzeiten
Am SchluB der Vorrede seiner Schrift nimmt Kant ausdriick- Newtons im Jahre 1713 von Cotes, dem damaligen Professor
lich auf Newtons Werk Bezug. Das letzte Jahrzebnt seines der Astronomie in Cambridge, herausgegeben und mit einer
Schaffens galt diesem Fragebezirk. (In den náchsten Monaten ausfiihrlichen Vorrede versehen. Cotes schreibt darin úiiber dieses
wird innerhalb der von der Preufischen Akademie der Wissen- Grundgesetz: naturae lex est ab omnibus recepta philosophis,
schaften besorgten Ausgabe der Werke Kants der erste Band ves ist ein von allen Forschem aufgenommenes Naturgesetz. «
dieses NachlaBvwerkes erstmals vollstiindig erscheinen.) Wer heute und seit langem die Physik studiert, macht sich
Indem wir auf Newtons Werk einen Blick werfen — mehr kaum einen Gedanken iiber dieses Gesetz. Wir nennen es wie
kônnen wir hier nicht leisten — tun wir zugleich einen Vorblick elwas Selbstverstândliches, wenn wir es iilberhaupt noch nennen 61
auf Kants Wissenschaftsbegriff, zugleich aber einen Blick in die und davon etwas wissen, dal und inwiefern es ein Grundgesetz
Grundvorstellungen, die auch in der heutigen Physik noch in ist. Und doch war hundert Jahre, bevor Newton das Gesetz in
Geltung sind, wenn auch nicht mehr ausschlieBlich. dieser Form an die Spitze der Physik stellte, das Gesetz noch
Dem Werk ist ein kurzer Abschnitt vorausgeschickt, der úber- unbekannt. Newton hat es auch nicht selbst entdeckt, sondern
schrieben ist: Definitiones. Sie betreffen quantitas materiae, schon Galilei, jedoch hat dieser es erst in seinen letzten Arbeiten
quantitas motus, die Kraft und vor allem die vis centripeta, ungewandt, und es nicht einmal eigens ausgesprochen. Erst der
Dann folgt noch ein Scholium, das die Reihe der beribmten Genueser Professor Baliani hat das gefundene Gesetz als allge-
Begriffsbestimmungen enthãlt úber die absolute und relative meines ausgesprochen; Descartes hat es dann in seine Principia
Zeit, den absoluten und relativen Raum, úber den absoluten philosophiae aufgenommen und metaphysisch zu begriinden
und relativen Ort und schlieBlich iber absolute und relative Be- versucht; bei Leibniz spielt es die Rolle eines metaphysischen
wegung. Dann folgt ein Abschnitt, der iiberschrieben ist Gesetzes (vgl. Gerh. IV, 518, gegen Bayle).
Arxriomata, sive leges motus, »Grundsãtze oder Gesetze der Ber Dieses Gesetz war bis ins 17. Jahrhundert hinein ganz und
wegung«. Daran sehlieBt sich der eigentliche Inhalt des Wer- far nicht selbstverstândlich. Die anderthalb Jahrtausende zuvor
kes; er ist auf drei Biicher verteilt. Die ersten beiden handeln war es nicht nur unbekannt, sondern die Natur und das Seiende
von der Bewegung des Kúórpers, de motu corporum, das dritto liberhaupt wurden in einer Weise erfahren, fiir die dieses Ge-
vom Weltsystem, de mundi systemate. retz keinen Sinn gehabt hãtte. In der Entdeckung dieses Geset-
Wir blicken hier lediglich auf den 1. Grundsatz, d. bh. dasje- 7es und in der Ansetzung desselben als Grundgesetz liegt eine
nige Bewegungsgesetz, das Newton an die Spitze seines Werkes Umwãilzung, die zu den grófiten des menschlichen Denkens
stellt. Es lautet: Corpus omne perseverare in statu suo quicss gehõrt und die der Wendung von der Ptolemãischen zur Koper-
cendi vel movendi uniformiter in directum, nisi quatenus a vir nikanischen Vorstellung des Naturganzen erst einen Boden
80 Kants Weise nach dem Ding zu fragen S$18. Wandel der Naturwissenschaft 81

gibt. Freilich hat das Beharrungsgesetz und seine Bestimmung So war es auch zu Zeiten Galileis: Nachdem die neuen Frage-
schon seine Vorlâufer im Altertum. Demokrit (5./4. Jahrhun- stellungen ergriffen waren, konnte man hinterher auch wieder
dert) bewegt sich in gewissen Grundziigen nach dieser Rich- den Demokrit lesen; nachdem man Demokrit mit Hilfe von
tung. Inzwischen hat man auch festgestellt, daB das Zeitalter Galilei verstand, konnte man diesem vorrechnen, daB er eigent-
Galileis und dieser selbst teils mittelbar, teils unmittelbar von lich nichts Neues berichte. Alle groBen Einsichten und Entdek-
den Gedanken des Demokrit wuBte. Aber wie es so geht mit kungen werden nicht nur meistens von mehreren gleichzeitig
dem friiher Gedachten und bei álteren Philosophen schon Vor- gedacht, sie miissen auch immer wieder gedacht werden in jener
liegenden: Man sieht es erst dann, wenn man es selbst zuvor einzigen Anstrengung, úiber dasselbe wahrhaft dasselbezu sagen.
nen gedacht har. Kant hat sich iiber diese Grundtatsache in der
Geschichte des Geistes einmal sehr deutlich ausgesprochen, als d) Abhebung der griechischen Naturerfahrung gegen
ihm nach Erscheinen seines Hauptwerkes die Zeitgenossen vor- die neuzeitliche
rechneten, was er vorbringe, das habe » auch schon« Leibniz ge-
sagt. Um Kant auf diesem Wege zu bekimpfen, griindete der a) Die Naturerfahrung bei Aristoteles und Newton
Professor Eberhard in Halle (ein Anhânger der Wolff-Leib- Wie verhãlt sich das genannte Grundgesetz zur frivheren Na-
nizschen Schule) eine besondere Zeitschrift, das » Philosophi- lurauffassung? Die im Abendland bis in das 17. Jahrhundert
sche Magazin«. Die Kritik an Kant war so oberflãchlich und herrschende Vorstellung vom Naturganzen (> Welt«) war durch
anmaBend zugleich, daB sie bei dem gewohnlichen Publikum die Platonische und Aristotelische Philosophie bestimmt; insbe-
viel Anklang fand. Als dieses Treiben zu bunt wurde, entschlofj sondere war das begrifflich-wissenschafiliche Denken durch die
sich Kant zu »der ekelhaften Arbeit« einer Streitschrift mit Grundvorstellungen, Grundbegriffe und Grundsãtze geleitet,
dem Titel: » Uber eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik die Aristoteles in seinen Vorlesungen iiber die Physik und iiber
der reinen Vernuntft durch eine últere entbehrlich gemacht wer- das Himmelsgewúulbe aufgestellt hatte und die in die mittel-
den soll. « Die Schrift beginnt also: nlterliche Scholastik ibernommen worden waren.
Wir miissen daher kurz auf die Grundvorstellungen des Ari-
» Herr Eberhard hat die Entdeckung gemacht, daB [...] die stoteles eingehen, um die Tragweite der Umwilzung abschit-
Leibnizische Philosophie eben so wokl eine Vernunftkritik ent- zen zu kônnen, die in dem ersten Newtonschen Gesetz ausge-
62 halte, als die neuerliche, wobei sie dennoch einen auf genaue sprochen ist. Wir miússen uns dabei von einem Vorurteil frei
Zergliederung der Erkenntnifivermógen gegrimdeten Dogmar- minachen, das z. T. gerade durch die scharfe Kritik der neuzeit-
tism einfiihre, mithin alles Wahre der letzteren, iiberdem aber lichen Wissenschaft an Aristoteles genãbrt wurde: als seien
noch mehr in einer gegrindeten Erweiterung des Gebiets des dessen Aufstellungen bloB erdachte Begriffe, denen jede Aus-
Verstandes enthalte.« Wie es nun zugegangen sei, daB man weisung an den Sachen selbst fehle. Das mochte von der
diese Sachen in der Philosophie des groBen Mannes und ihrer ipiit-mittelalterlichen Scholastik gelten, die oft rein dialektisch
Tochter, der Wolffischen, nicht schon lângst gesehen hat, erklârt in bodenlosen Begriffszergliederungen sich herumtrieb. Es gilt
er zwar nicht; allein wie viele fitr neu gehaltene Entdeckungen nicht von Aristoteles selbst. Dieser kiâmpft vielmehr zu seiner
sehen jetzt nicht geschickte Ausleger ganz klar in den Alten, feit gerade dafiir, daB das Denken und Fragen und Aussagen
nachdem ihnen gezeigt worden, wornach sie sehen sollen!« immer sei ein 2ívyei ópoloyoúueva tois qaivonévois; de coelo T 7, 63
82 Kants Weise nach dem Ding zu fragen $ 18, Wandel der Natunvissenschaft 85

306 a 6: »das sagen, was dem entspricht, was sich am Seienden Aber trotz dieser gleichen Grundhaltung im Vorgehen ist die
lbst zeigt«. Í (Grundstellung bei Aristoteles von der Newtons wesentlich ver-
. An ater Stelle sagt Aristoteles ausdriicklich: TÉMOS dt Tic sehieden; denn was jeweils als Erscheinendes gleichsam festge-
utv xomrãs Enotíuns tô Eoyov, tis dê quamhs Tô Fovbpsyoy Sl nommen und wie es ausgelegt wird, ist hier und dort nicht das
xvolas xará Thy alodnow. Wir hôrten (S. 70 £.), daB die Grie- Gleiche,
chen die Dinge kennzeichnen als quaixá und xotovueva, als
solches, was von ihm selbst her hervorkommt, und solches, B) Die Lehre von der Bewegung bei Aristoteles
was her-gestellt, gemacht wird. Entsprechend gibt es verschie- Dbereinstimmend ist jedoch im voraus die Erfahrung, daB das
denes Wissen, êmothun, solches um das von sich aus Hervor- Seiende im Sinne der weitgefaBten Natur — Erde, Himmel und
kommende und solches um das Hergestellte. Entsprechend ist lestirne — in Bewegung und in Ruhe ist. Ruhe bedeutet nur 64
das téros des Wissens, d. h. dasjenige, wobei dieses Wissen eine ausgezeichnete Art von Bewegung. Es handelt sich dabei
zum Ende kommt, wo es haltmacht, woran es sich eigentlichk iiberall um Bewegung von Kórpern. Aber wie Bewegung und
hált, verschieden. DemgemiB sagt jener Satz: » Das, wobei das wie Kôrper und wie das Verhãltnis beider begriffen werden,
herstellende Wissen haltmacht, woran es sich im vorhinein sei- liegt nicht fest und ist nicht selbstverstândlich. Von der allge-
nen Halt nimmt, ist das Werk als das Herzustellende; woran meinen und unbestimmten Erfahrung, daB die Dinge sich ver-
aber das Wissen um die »Natur« seinen Halt nimmt, ist O) Iindern, entstehen und vergehen, also in Bewegung sind, bis zu
qawópevov, das, was sich am Hervorkommenden zeigt; dieses viner Einsicht in das Wesen der Bewegung und in die Art ihrer
hat immer die Herrschaft, die MaBgabe, und zwar fúr die Augehôrigkeit zu den Dingen ist ein weiter Weg. Die altgrie-
Wahrnehmung, d. h. fúr das bloBe Hin- und Aufnehmens (im rhische Vorstellung von der Erde ist die von einer Scheibe, die
Tnterschied zum Machen und Sich-zu-schaffen-machen an den Yom Okeanos umílossen wird, so zwar, daB sich úber dieses
Dingen). Was Aristoteles hier als Grundsatz des wissenschaft- linnze der Himmel wilbt und sich gleichmibig um es herum
lichen Vorgehens ausspricht, unterscheidet sich in keiner Weise dreht. Spãter, bei Platon und Aristoteles und Eudoxos, wird die
von den Grundsitzen der neuzeitlichen Wissenschaft. Newton ltrde — aber jeweils verschieden — als Kugel vorgestellt, doch so,
schreibt (Principia, liber III, regulae TV): Tn philosophia experi- nf sie die Mitte von allem bleibt.
mentale propositiones ex phaenomenis per inductionem collec- Wir beschrânken uns auf die Darstellung der nachher weit-
tae non obstantibus contrariis hypothesibus pro veris aut acou- hin herrschend gewordenen Aristotelischen Auffassung, und
rate aut quamproxime haberi debent, donec alia occurrerint mich diese sei nur so weit erwãihnt, daB es ausreicht, um den
phaenomena, per quae aut accuratiores reddantur aut excep- liegensatz sichtbar zu machen, der im ersten Axiom von New-
tionibus obnoxiae. »In der Erfahrungsforscdhung miúissen die un sich ausspricht.
aus den Erscheinungen durch Zugehen darauf geschopíften Wir fragen zuerst allgemein: Welches ist nach Aristoteles das
Sãtze entweder genau oder sehr angenúhert fúr wahr gehalten Wrusen des Naturdinges? Antwort: tà quoixàd obuata sind xal*
werden, wenn nicht entgegengesetzte Vóraussetzungen dago- Mira senta xatá tórnov. »Die zur *Natur: gehórigen und sie aus-
gen stehen, bis andere Erscheinungen entgegenkommen, durch Innchenden Kôrper sind, gemãf ihnen selbst, bewegbar hin-
die sie entweder genauer wiedergegeben oder Ausnahmen un: ilrhtlich des Ortes.« Bewegung im allgemeinen ist uerafiok,
terworfen werden kúnnen.« Wmschlagen von etwas zu etwas. Bewegung in diesem weiten
84 Kants Weise nach dem Ding zu fragen $18. Wandel der Natunvissenschaft 85

Sinne ist z. B. das Erblassen und das Erróten; ein Umschlagen len ist die Bewegung eine xivnois edbela, eine gerade. Die Ge-
ist es aber auch, wenn ein Kórper von einem Ort zum anderen stirne, der ganze Himmel aber bewegen sich xeoi tô pécov,
um die Mitte herum; seine Bewegung ist xóxhw. Kreisbewe-
iibertragen wird. Dies Fortgetragenwerden, Befórderung, Um-
schlag heiBt qopá. Kivnois xatá tónov hieB bei den Griechen gung und Bewegung in der Geraden sind die einfachen Bewe-
das, was die eigentliche Bewegung des Newtonschen Kôrpers gungen, úxkoi; von beiden ist wieder die Kreisbewegung die
ausmacht. In dieser Bewegung liegt ein bestimmtes Verhãáltnis erste, d. h. von húherem und somit von húchstem Rang. Denn
noótepov Tô tTéleLOV TOU àTELOdSs, vorhergeht das Vollendete dem
zum Ort. Die Bewegung der Kórper ist aber xal'abrá, ihnen
selbst gemãB; das will sagen: Wie ein Kôrper sich bewegt, d. h. Unvollendeten. Zur Bewegung der Kórper gehôrt deren Ort.
wie er sich zum Ort verhãlt und zu welchem Ort er sich verhãlt In der Kreisbewegung hat der Kórper seinen Ort in der Be-
— dies alles hat seinen Grund im Kórper selbst. Grund heiBt wegung selbst, weshalb diese Bewegung auch die immer-wih-
doxn, und zwar in der doppelten Bedeutung: jenes, von wo et- rende, die eigentlich seiende ist, wogegen bei der geraden Be-
was ausgeht, und was iiber das so davon Ausgehende herrscht. wegung der Ort je nur in einer Richtung und vom anderen Ort
Der Kúrper ist &oxh xviasos. Was dergestalt &oexh rIvÍoEmsS ist, weg liegt und so, daB in diesem Ort die Bewegung zu ihrem
ist quois, die ursprinmeliche Weise des Hervorgehens, die jetzt linde kommt. AuBer diesen beiden Formen der einfachen Be-
freilich auf reine Ortsbewegung beschrânkt bleibt. Darin wegung gibt es die aus beiden gemischte, uti. Die reinste
zeigt sich eine wesentliche Wandlung des Physisbegriffes. Der liewegung im Sinne der Ortsverânderung ist die Kreisbewe-
kung; sie enthãlt gleichsam den Ort in ihr selbst. Ein Kôrper,
Kórper bewegt sich nach seiner Natur. Ein sich bewegender
Kúórper, der selbst àoxh xwvíoeos ist, ist ein Naturkórper. Der der sich so bewegt, bewegt sich vollkommen; das gilt von allen
rein erdige Kórper bewegt sich nach unten, der rein feurige immelskôrpern. Demgegeniiber ist die irdische Bewegung
65 Kôrper — jede auflodernde Flamme zeigt es — bewegt sich nach iImmer eine gerade oder gemischte oder aber gewaltsame, eine
oben. Warum? Weil das Erdige seinen Ort unten hat und das nlels unvollkommene.
Feurige seinen Ort oben. Jeder Kôrper hat je nach seiner Art Zwischen der Bewegung der Himmelskirper und derjenigen
seinen Ort, dem er auch zustrebt. Um die Erde liegt das Was- ler irdischen Kôrper besteht ein wesentlicher Unterschied. Die
ser, um dieses die Luft, um diese das Feuer — die vier Elemente. liereiche der Bewegungen sind verschieden. Wie ein Kirper sich
Wenn ein Kôrper sich an seinen Ort bewegt, ist die Bewegung bewegt, hângt ab von seiner Art und dem Ort, dem er zugehõrt.
ihm, d. h. der Natur gemãB, xará qiow. Ein Stein fállt zur as Wo bestimmt das Wie des Seins; denn Sein heiBt Aruve-
Erde hinab. Wird aber ein Stein, z. B. mit der Schleuder, nach menheit. Der Mond fallt nicht auf die Erde herunter, weil er sich
lim Kreis bewegt, d. h. sich vollkommen bewegt, stândig in der
oben geworfen, so ist diese Bewegung eigentlich gegen die Na-
nmntnchsten Bewegung. Diese Kreisbewegung ist in sich voll-
tur des Steins, xacà qioiv. Alle naturwidrige Bewegung ist Bla,
gewaltsam. Miindig unabhingig von etwas auBer ihr, z. B. von der Erde als 66
ler Mitte. Dagegen wird, um das vorgreifend zu sagen, im neu-
Die Art der Bewegung und der Ort des Kórpers bestimmen
sich nach dessen Natur. Fiir alle Kennzeichnung und Ab» ivillichen Denken die Kreisbewegung nur so begriffen, daB fúr
Ile Entstehung und Erhaltung ein vom Zentrum ausgehender
schiitzung der Bewegungen ist die Erde die Mitte. Der Stein,
lnrtdauernder Zug notwendig ist. Im Unterschied dazu liegt
der fãllt, bewegt sich Eni 1ô pécov, auf die Mitte zu; das Feuer,
Ir Aristoteles die »Kraft«, ôóvauis, das Vermógen zu seiner Be-
das aufsteigt, àxô toi pécov, von der Mitte weg. In beiden Fil.
86 Kanis Weise nach dem Ding zu fragen $ 18. Wandel der Naturwissenschaft 87

wegung, in der Natur des Kórpers selbst. Die Art der Bewe- in directum movetur. Wir heben das Neuartige in acht Punkten
gung des Kôrpers und die Beziehung zu seinem Ort hângen von heraus.
der Natur des Kórpers ab; die Geschwindigkeit wird bei der 1. Newtons Axiom beginnt mit: » corpus omnes, »jeder Kir- 67
natúrlichen Bewegung um so gróBer, je nãher der Kórper sei- per . . .«. Darin liegt: Der Unterschied zwischen irdischen Kõr-
nem Ort kommt; d. h. Abnahme und Zunahme der Geschwin- pern und himmlischen Kúrpern ist hinfállis geworden. Der
digkeit und Aufhóren der Bewegung haben ihren Grund in der Kosmos zerfãállt nicht mehr in zwei wohlgeschiedene Bereiche,
Natur des Kúrpers. Bei der widernatiirlichen Bewegung, d. h. den unterhalb der Gestirne und den Gestirnbereich selbst; die
der gewaltsamen, liegt die Ursache der Bewegung in der be- Naturkórper sind alle im Wesen gleichartig. Der obere Bereich
rilhrenden Kraft; gemãB seiner Bewegung mufB sich der Kórper ist kein hoherer.
aber als gewaltsam bewegter von dieser Kraft entfernen, und 2. Dementsprechend ist auch der Vorrang der Kreisbewegung
da der Kórper in sich fiir die gewaltsame Bewegung keinen vor der geradlinigen Bewegung gefallen. Sofern aber jetzt um-
Grund mitbringt, muB seine Bewegung notwendig langsamer gekehrt die geradlinige Bewegung zur maBgebenden wird,
werden und sehlieBlich aufhõren: xóvta yão tou Bratouévou xopom- fihrt das nicht mehr zu einer Scheidung der Kóôrper und einer
tépw veyvópevoa Boadúrtenov qénetar (Ileoi oboavou À 8, 277 b 6. Verteilung in verschiedene Bereiche nach ihren Bewegungswei-
TúXIOTA QUeEIDÓNMEVA TA Topa quo, ib. À 2,269 b 9). sen.

Das entspricht auch in gewisser Weise der gewohnlichen Vor- 5. DemgemiB verschwindet auch die Auszeichnung von be-
stellung: Die einem Kôrper erteilte Bewegung hãlt fúr eine ge- stimmten Órterm. Jeder Kôrper kann grundsátzlich an jedem
Wwisse Zeit an, um dann aufzuhõren, in die Rube iiberzugehen. Ort sein. Der Begriff des Ortes selbst wird ein anderer. Ort ist
Daher muB nach den Ursachen fúr die Fortdauer oder das An- nicht mehr der Platz, an den der Kórper seiner inneren Natur
dauern der Bewegung gesucht werden. Nach der Aristotelischen nach hingehõrt, sondern nur eine Lage, die sich jeweils » be-
Autfassung liegt der Grund bei den natúrlichen Bewegungen riehungsweises«, in Beziehung auf beliebige andere Lagen, er-
in der Natur des Kórpers selbst, in seinem Wesen, d. h. seinem gibt (vel. S. 88 £., 5. und 7.). Popá und Ortsverânderung im neu-
eigensten Sein. Dementsprechend lautet auch ein Satz der zeitlichen Sinne sind nicht das gleiche.
nachkommenden Scholastik: operari (agere) sequitur esse; »die Bei der Begrimndung und Bestimmung der Bewegung wird
Art der Bewegung erfolgt nach der Art des Seins«. nicht gefragt nach der Ursache fitr das Fortdauern der Bewe-
gung und somit fúr ihr stândiges Entstehben, sondem umge-
7) Die Lehre von der Bewegung bei Newton kehrt: Bewegtheit ist vorausgesetzt, und gefragt wird nach den
Wie verhãlt sich zu der geschilderten Aristotelischen Nature lUrsachen der ÁAnderung eines vorausgescetzten gleichfórmisg
betrachtung und Bewegungsauffassung die neuzeitliche, dia geradlinigen Bewegungszustandes. Fúr die gleichmábig dau-
in dem genannten LI. Axiom durch Newton eine wesentliche ernde Bewegung des Mondes um die Erde ist nicht die Kreis-
Grundlegung erfahren hat? Wir versuchen, der Reihe nach ei- lirmigkeit der Bewegung der Grund, sondern diese Bewegung
nige Hauptunterschiede herauszuheben. Wir geben zu diesem. It gerade umgekehrt dasjenige, wofiwr der Grund gesucht wer-
Zweck dem Axiom eine verkiirzte Fassung: Jeder sich selbst den muB. Dem Beharrungsgesetz gemãB múBbte der Mondkõr-
iiberlassene Kórper bewegt sich geradlinig und gleichfórmig. per sich an jedem Punkt seiner Kreisbahn in gerader Linie, d. h.
Corpus omne, quod a viribus impressis non cogitur, uniformiter in der Tangente fortbewegen, Da er das nicht tut, erhebt sich —
88 Kaonts Weise nach dem Ding zu fragen $ 18. Wandel der Naturwissenschaft 89

auf Grund der Voraussetzung des Beharrungsgesetzes und aus und widernatiirlicher, d. h. gewaltsamer Bewegung; die Bio,
ihm heraus — die Frage: Warum weicht er aus der Tangente Gevwalt, ist als Kraft nur ein MaB an Bewegungsânderung, ist
ab? Warum bewegt er sich, griechisch gesprochen, im Kreis? der Art nach nicht mehr ausgezeichnet. Der StoB z. B. ist nur
Die Kreisbewegung ist jetzt nicht mehr der begrindende eine besondere Form der vis impressa neben Druck und Zentri-
Grund, sondern umgekehrt das einer Begrimdung gerade Be- petalkraft.
dúrftige. (Wir wissen, dal Newton zu einer neuen Antwort 7. Demzufolge wandelt sich der Begriff der Natur iiberhaupt.
kam, indem er jene Kraft, gemãf der die Kôrper fallen, als die- Natur ist nicht mehr das innere Prinzip, aus dem die Bewegung
selbe ansetzte mit jener, welche die Himmelskórper in ihren der Kórper folgt, sondern Natur ist die Weise der Mannigfal-
Bahnen erhãlt, mit der Schwerkraft. Newton setzte die zentri- ligkeit der wechselnden Lagebeziehungen der Kôrper, die Art,
petale Abweichung des Mondes aus der Tangente der Bahn Wie sie anwesend sind in Raum und Zeit, die selbst als Bereiche
wilhrend eines Zeitteilchens in Vergleich mit dem Fallraum ei- móglicher Stellenordnung und Ordnungsbestimmung in sich
nes Kúirpers an der Oberfliche der Erde wihrend derselben nirgends eine Auszeichnung haben.
Zeit; in diesem Schritt sehen wir unmittelbar die genannte Be- 8. Somit wird auch die Art des Befragens der Natur eine an-
68 seitigung des Unterschieds zwischen irdischen und himmlischen dere und in gewisser Hinsicht umgekehrte.
Bewegungen und entsprechend zwischen den Kórpern.) Wir kinnen hier die volle Tragweite der Umwãlzung der Na-
4, Die Bewegungen selbst werden nicht bestimmt gemif ver- lurbefragung nicht darstellen. Es sollte nur sichtbar werden,
schiedenen Naturen, Vermigen und Krãften, den Elementen 1laB und wie in der Ansetzung des I. Grundsatzes der Bewe-
des Kúrpers, sondern umgekehrt: Das Wesen der Kraft be- gung alle wesentlichen Anderungen mitgesetzt sind. Diese An-
stimmt sich aus dem Grundgesetz der Bewegung. Dieses sagt: (lerungen sind alle unter sich verklammert und gleichmáBig in
Jeder sich selbst iiberlassene Kórper bewegt sich geradlinig- der neuen Grundstellung gegriindet, die im 1. Grundsatz zum
gleichfórmig. Demgemil ist eine Kraft dasjenige, dessen Ausdruck kommt und die wir die mathematische nennen.
Aufprigung eine Abweichung aus der geradlinig-gleichfórmi-
gen Bewegung zur Folge hat. Vis impressa est actio in corpus e) Das Wesen des mathematischen Entwurfs
exercita, ad mutandum eius statum vel quiescendi vel movendi (Galileis Fallversuch)
uniformiter in directum (Principia, Def. IV). In eins mit dieser
neuen Bestimmungsweise der Kraft ergibt sich zugleich eine liir uns bleibt zunãáchst die einzige Frage die nach der Anset- 69
solche fiir die Masse. tung des T. Grundsatzes, genauer die Frage, inwiefern darin
5. Entsprechend der Wandlung des Ortsbegriffes wird die ln Mathematische zum Bestimmenden wird.
Bewegung nur als Lageânderung und Lagebeziehung, als die Wie steht es mit diesem Grundsatz? Er spricht von einem
Entfernung von Orten gesehen. Die Bestimmung der Bewe-" litirper, corpus quod a viribus impressis non cogitur, einem sich
gung wird demzufolge eine solche hinsichtlich der Abstânde, snlbst iiberlassenen Kórper. Wo finden wir ibn? Einen solchen
Strecken des MeBbaren, des soundso GroBen. Bewegung wird lilirper gibt es nicht. Es gibt auch kein Experiment, das jemals
bestimmt nach BewegungsgrõôBe und ebenso die Masse als Ger plnen solchen Kôrper in die anschauliche Vorstellung bringen
wicht. hinnte. Nun soll doch die neuzeitliche Wissenschaft im Unter-
6. Deshalb fállt auch der Unterschied zwischen natúrlicher Whied zu den bloB dialektischen Begriffsdichtungen der mittel-
90 Kants Weise nach dem Ding zu fragen $18. Wandel der Natunvissenschaft 91

alterlichen Scholastik und Wissenschaft auf Erfahrung grin- Gegnerschaft gegeniiber Galilei so sehr, daB er seine Professur
den. Statt dessen steht ein solcher Grundsatz an der Spitze. Er aufgeben und Pisa verlassen muBte.
spricht von einem Ding, das es nicht gibt. Er verlangt eine Galilei und seine Gegner haben beide dieselbe » Tatsache«
Grundvorstellung von den Dingen, die der gewohnlichen wi- gesehen; aber beide haben dieselbe Tatsache, dasselbe Gesche-
derspricht. 7 hen sich verschieden sichtbar gemacht, verschieden ausgelegt.
In einem solchen Anspruch beruht das Mathematische, d. h. Was je fir sie als die eigentliche Tatsache und Wahrheit er-
die Ansetzung einer Bestimmung des Dinges, die nicht erfah- schien, war ein Verschiedenes. Beide haben sich bei derselben
rungsmiBig aus diesem selbst geschopft ist und die gleichwohl Erscheinung etwas gedacht, aber sie haben Verschiedenes ge-
aller Bestimmung der Dinge zugrunde liegt, sie ermóglicht und dacht, nicht im einzelnen, sondern grundsãtzlich beziiglich des
ihr erst den Raum schafft. Eine solche Grundauffassung der Wesens des Kôrpers und der Natur seiner Bewegung. Was Gali-
Dinge ist weder willkiirlich noch selbstverstândlich. Deshalb be: lei beziiglich der Bewegung vorausdachte, war die Bestimmung,
durfte es auch eines langen Kampfes, um sie zur Herrschaft zu daf die Bewegung eines jeden Kôrpers eine gleichfôrmige und
bringen. Es bedurfte der Verwandlung der Art des Zuganges geradlinige sei, wenn jegliches Hindernis ausgeschlossen bleibe,
zu den Dingen in eins mit der Gewinnung einer neuen Denk: sich aber auch gleichfôórmig ândere, wenn eine gleiche Kraft auf
art. Wir kônnen die Geschichte dieses Kampfes genau verfol- sie wirke. In seinen 1638 erschienenen Discorsi sagt Galilei:
gen. Aus ihr sei lediglich ein Beispiel genannt. Nach der Aristo: Mobile super planum horizontale projectum mente concipio
telischen Vorstellung bewegen sich die Kórper je nach ihrer omni secluso impedimento, jam constat ex his, quae fusius alibi
Natur, die schweren nach unten, die leichten nach oben. Wenn' dicta sunt, illius motum aequabilem et perpetuum super ipso
beide fallen, fallen schwere Kúrper schneller als leichte, da plano futurum esse, si planum in infinitum extendatur.» Ich den-
leichte das Bestreben haben, sich nach oben zu bewegen. Est. ke mir einen Kúrper auf eine horizontale Ebene geworfen und
wird eine entscheidende Erkenntnis, zu der Galilei gelangt, dal jedes Hindernis ausgeschlossen: so ergibt sich aus dem, was an
alle Kôrper gleich schnell fallen, und da die Unterschiede der anderer Stelle umstândlich gesagt ist, daB die Bewegung des
Fallzeiten nur vom Widerstand der Luft herstammen, nicht aus Kirpers iiber diese Ebene gleichfórmig und immerwãhrend sein
einer verschiedenen inneren Natur der Kórper und nicht aus wiirde, wenn die Ebene sich ins Unendliche ausdehnt. «
ihrer entsprechenden je eigenen Beziehung zu ihrem je eigenen In diesem Satz, der als der Vorlâufer des I. Grundsatzes von
Ort. Galilei hat zum Beleg seiner Behauptung am schielen Newton gelten darf, kommt das, was wir suchen, ganz klar zum
Turm zu Pisa, wo er Professor der Mathematik war, ein Experl. Ausdruck, Galilei sagt: Mobile . . . mente concipio omni secluso
ment vorgenommen. Dabei kamen verschieden schwere Kôrpor impedimento — »ich denke mir im Geiste ein sich vôllie selbst
beim Herabfallen vom Turm zwar nicht schlechthin gleichzel: iberlassenes Bewegbares«. Dieses » Sich-im-Geiste-denken« ist
tig an, aber mit geringen Zeitunterschieden; trotz diesor |jenes Sich-selbst-eine-Kenntnis-geben von einer Bestimmung
Unterschiede, also eigentlich gegen den Augenschein der Kim liber die Dinge. Es ist ein Vorgehen, das Platon einmal beziig-
fahrung, behauptete Galilei seinen Satz.'Aber die Zeugen dos lich der pátnois in folgender Weise kennzeichnet: — àvalafóv
70 Versuches wurden durch den Versuch erst recht stutzig úber udrôs éÉ abroi Thy êmorunv (Menon 85 d4) »heraufholend und
Galileis Behauptung, und beharrten um so hartnãckiger bei der hinauf — iiber das andere weg — nebmend die Erkenntnis selbst
alten Ansicht. Auf Grund dieses Versuches verschirfte sich dia his sich selbst«,
9 Kants Weise nach dem Ding zu fragen $18. Wandel der Naturwissenschaft 93
In diesem mente concipere wird im voraus solches zusam- 35. Der mathematische Entwurf ist als axiomatischer der Vor-
mengegriffen, was einheitlich bestimmend sein soll fir jeden ausgriff in das Wesen der Dinge, der Kirper; damit wird im
Kúrper als solchen, d. h. fir die Kôrperhaftigkeit. Alle Kôrper Grundrif vorgezeichnet, wie jedes Ding und jede Beziehung
sind gleich. Keine Bewegung ist ausgezeichnet. Jeder Ort ist jedes Dinges zu jedem Ding gebaut ist.
jedem gleich; jeder Zeitpunkt jedem Zeitpunkt. Jede Kraft be- 4. Dieser GrundriB gibt zugleich den MaBstab fiir die Aus-
stimmt sich nur nach dem, was sie an Bewegungsânderung — grenzung des Bereiches, der kúnítig alle Dinge solchen Wesens
71 diese Bewegungsânderung als Ortswechsel verstanden — verur- umschlieBt. Natur ist jetzt nicht mehr das, was als inneres Ver-
sacht. Alle Bestimmungen iiber den Kórper werden in einen múõgen des Kôrpers diesem die Bewegungsform und seinen Ort
GrundriB eingezeichnet, wonach der Naturvorgang nichts ist bestimmt. Natur ist jetzt der im axiomatischen Entwurf umris-
als die ráumlich-zeitliche Bestimmung der Bewegung von Mas- sene Bereich des gleichmibigen raumzeitlichen Bewegungszu-
senpunkten. Dieser Grundrify der Natur umgrenzt zugleich ih- sammenhanges, in den eingefiigt und verspannt die Kórper
ren Bereich als einen iiberall gleichmiBigen. allein Kóôrper sein kônnen.
Wenn wir all das Gesagte in einen Blick zusammennehmen, 5. Der so im Entwurf in seinem GrundriB axiomatisch be-
sind wir imstande, das Wesen des Mathematischen schãirfer zu stlimmte Bereich der Natur verlangt nun auch fúr die in ibm
fassen. Bisher blieb es bei der allgemeinen Charakteristik, es sei vorfindbaren Kôrper und Korpuskeln eine Zugangsart, die al-
ein Zur-Kenntnis-nebmen, das, was es nimmt, aus sich selbst lein den axiomatisch vorbestimmten Gegenstânden angemes-
sich gibt, dabei sich solches gibt, was es schon hat. Wir fassen sen ist. Die Art der Befragung und erkenntnismãáBigen Bestim- 72
jetzt die vollere Wesensbestimmung des Mathematischen in mung der Natur wird jetzt nicht mehr durch iiberlieferte
einzelnen Punkten zusammen. Meinungen und Begriffe geregelt. Die Kirper haben keine ver-
1. Das Mathematische ist, als mente concipere, ein iiber die borgenen Eigenschaften und Krãfte und Vermógen. Die Natur-
Dinge gleichsam hinwegspringender Entwurf ihrer Dingheit, kúrper sind nur das, als was sie sich im Bereich des Entwurfs
Der Entwurf eróffnet erst einen Spielraum, darin die Dinge, teigen. Die Dinge zeigen sich jetzt nur in den Verhãltnissen der
d. h. die Tatsachen, sich zeigen. Orter und Zeitpunkte und den MaBen der Masse und der wir-
2. In diesem Entwurf wird dasjenige gesetzt, wofúr die lhenden Krãfte. Wie sie sich zeigen, ist durch den Entwurf vor-
Dinge eigentlich gehalten werden, als was sie und wie sie im gezeichnet; er bestimmt deshalb auch die Weise des Hinneh-
vorhinein gewiirdigt werden sollen. Solches Wirdigen und Da- mens und der Erkundung des sich Zeigenden, die Erfahrung,
fiirhalten heiBt griechisch áE6ow. Die im Entwurf vorgreifen- tlns experiri. Weil aber jetzt die Erkundung durch den Grund-
den Bestimmungen und Aussagen sind &Eubuata. Newton 1if des Entwurfs vorbestimmt ist, kann das Befragen so ange-
iiberschreibt daher den Abschnitt, darin er die Grundbestim=- lvgt werden, daB es im voraus Bedingungen setzt, auf welche
mungen iúber die Dinge als bewegte ansetzt: Axiomata, siva lie Natur so oder so antworten muB. Auf Grund des Mathema-
leges motus. Der Entwurf ist axiomatisch. Sofern sich jedo lisehen wird die experientia zum Experiment im neuzeitlichen
Kenntnis und Erkenntnis in Sãtzen ausspricht, ist die im mas hinne. Die neuzeitliche Wissenschaft ist experimentierend auf
thematischen Entwurf genommene und gesetzte Erkenntnis tirund des mathematischen Entwurfs. Der experimentierende
eine solche, die die Dinge im vorhinein auf ihren Grund setzl. Nrang zu den Tatsachen ist eine notwendige Folge des vorheri-
Die Axiome sind Grund-Sãtze. en mathematischen Uberspringens aller Tatsachen. Wo aber
94 Kanis Weise nach dem Ding zu fragen $18. Wandel der Naturwissenschaft 95

dieses Uberspringen im Entwurf aussetzt oder erlahmt, werden hewegung mit der Bestimmung »Ortsverânderung« hinrei-
nur noch Tatsachen an sich gesammelt, entsteht der Positivis- chend gefaBt ist. Hinsichtlich des Begriffs der Kraft erhebt sich
mus. (lie Frage, ob es ausreicht, Kraft nur als von auBen einwirkende
6. Weil der Entwurf seinem Sinne nach eine GleichmãáBigkeil rsache vorzustellen. Mit Bezug auf den Grundsatz der Bewe-
aller Kórper nach Raum und Zeit und Bewegungsbeziehungen fung, das Beharrungsgesetz, stellt sich die Frage, ob er nicht
ansetzt, ermóglicht und fordert er zugleich als wesentliche Ber vinem noch allgemeineren unterzuordnen sei, dem Gesetz von
stimmungsart der Dinge das durchgângis gleiche MaBb, d. h. ler Erhaltung der Kraft, die ihrerseits jetzt hinsichtlich des
die zahlenmiáBige Messung. Die Art des mathematischen Ent Verbrauches und des Aufiwandes, der Arbeit bestimmt wird —
wurfs des Newtonschen Kórpers filhrt zur Ausbildung einer be- Titel fitr neue Grundvorstellungen, die nunmehr in die Natur-
stimmten » Mathematik« im engeren Sinne. DaB Mathematik betrachtung eindringen und einen auffallenden Anklang an
jetzt ein wesentliches Bestimmungsmittel wurde, ist nicht der dns Wirtschafiliche, an das »Rechnen« auf den Erfolg verra-
Grund fiir die neue Gestalt der neuzeitlichen Wissenschaft. lon, Dies alles vollzieht sich innerhalb und gemãB der mathe-
Vielmehr gilt: DaB eine Mathematik, und zwar eine solche be- mutischen Grundhaltung. Fraglich bleibt dabei die nãhere Be-
sonderen Schlages, ins Spiel kommen konnte und muBte, ist die Mlimmung des Verhãltnisses des Mathematischen im Sinne der
Folge des mathematischen Entwurfs. Die Begriindung der ana- Muthematik zur anschaulichen Erfabrung der gegebenen
lytischen Geometrie durch Descartes, die Begrindung der Dinge und zu diesen selbst. Solche Fragen sind bis zur Stunde
Fluxionsrechnung durch Newton, die gleichzeitige Begrimndung nllen. Sie werden in ihrer Fragwirdigkeit durch die Ergebnisse
der Differentialrechnung durch Leibniz, all dieses Neue, dieses und Fortschritte der wissenschaftilichen Arbeit iiberdeckt. Eine
Mathematische im engeren Sinne, wurde erst móglich und vor lieser brennenden Fragen betrifft das Recht und die Grenzen
allem notwendig auf dem Grunde des mathematischen Grund: les mathematischen Formalismus gegentiber der Forderung ei-
zues des Denkens úberhaupt. ns unmittelbaren Riickgangs auf die anschaulich gegebene
Wir miiBten freilich einem groBen Irrtum verfallen, wollten Nnutur.
wir meinen, mit der gegebenen Kennzeichnung der Umwen: Wenn wir aus dem bisher Gesagten einiges begriffen haben,
dung von der alten zur neuen Naturwissenschaft und mit der Ilínn ist einzusehen, daB die genannte Frage nicht auf dem
verschárften Wesensumegrenzung des Mathematischen schon Wroge eines Entweder-Oder entschieden werden kann, entwe-
ein Bild von der wirklichen Wissenschaft selbst gewonnen zu ler Formalismus oder unmittelbar anschauliche Bestimmung
haben. 1 ler Dinge; denn Art und Richtung des mathematischen Ent-
TS Was wir anfidhren konnten, ist nur der Grundzug, in dessen Wurls entscheiden mit úber das mogliche Verhiltnis zum an-
Bahn erst der ganze Reichtum der Fragestellungen und Ver: mhnulich Erfahrbaren und umgekehrt. Hinter der Frage nach
suche, der Aufstellung von Gesetzen, der AufschlieBung neuer em Verhãlinis zwischen mathematischem Formalismus und
Bezirke des Seienden sich entfaltet. Innerhalb dieser mathemar Nnturanscdhauung steht die grundsãtzliche Frage nach dem
tischen Grundstellung bleiben die Fragen nach dem Wesen von erht und den Grenzen des Mathematischen iiberhaupt inner-
Raum und Zeit, nach dem Wesen von Bewegung und Krall, linlh einer Grundstellung zum Seienden im Ganzen. Allein in
dem Wesen der Kórper und der Materie offen. Diese Fragen loser Minsicht ist fitr uns die Erôrterung des Mathematischen
bekommen jetzt erst eine neue Schirfe, z. B. die Frage, ob dio hm Bedeutung geworden.
96 Kants Weise nach dem Ding zu fragen $ 18. Wandel der Naturwissenschaft 97

£) Der metaphysische Sinn des Mathematischen Wege der Auslegung der Offenbarungsquellen, der Schrift und
der kirchlichen Uberlieferung. Was sonst an Erfahrungen ge-
inmmelt und an Kenntnissen gewonnen wurde, gliederte sich
74 Um an unser Ziel zu kommen, geniigt das bisher gewonneno
Verstândnis des Mathematischen noch nicht. Zwar werden wir
wie von selbst in diesen Rahmen ein. Denn es gab im Grunde
es jeizt nicht mehr als eine Verallgemeinerung des Verfahrens
kein weltliches Wissen. Das sogenannte natiirliche, nicht offen-
hbarungsmãBbige Wissen hatte daber fir sich und gar aus sich
einer bestimmten Disziplin der Mathematik auffassen, sondern
diese als eine Ausformung von jenem. Aber jenes Mathemali:
line eigengestaltete Form der WiBbarkeit und Begriindung.
sche mufB seinerseits noch aus tiefer liegenden Grinden begrif: ; Nicht dies also ist wissenschaftsgeschichtlich das Entscheidende,
fen werden. Wir sagten, es sei ein Grundzug des neuzeitlichen dal) alle Wahrheit des natiirlichen Wissens am iibernatinlichen 75
kemessen wurde, sondern daB das natiirliche Wissen, unbescha-
Denkens. Jede Denkart ist aber immer nur der Vollzug und d
let jener Messung, aus sich zu keiner cigenstândigen Begriin-
Folge einer jeweiligen Art des geschichtlichen Daseins, der je ã-
Hlung und Prãâgung gelangte. Denn die Ubernahme der Aristo-
weiligen Grundstellung zum Sein úiberhaupt und zu der Weis w
Ielischen SyIlogistik kann nicht als solche gerechnet werden.
wie das Seiende als ein solches offenbar ist, d. h. zur Wahrheit.
Was wir als das Mathematische herausstellten, muB jetztna ea lm Wesen des Mathematischen als des gekennzeichneten
dieser Richtung eine Beleuchtung erfahren; denn nur so wird lintwurks liegt ein eigentimlicher Wille zur Neugestaltung
und Selbstbegrindung der Wissensform als solcher. Die Abló-
das sichtbar, was wir suchen: diejenige Gestaltung des neuzeil:
iung von der Offenbarung als der ersten Wahrheitsquelle und
lichen metaphysischen Denkens, in deren Zug so etwas wie ema
»Kritik der reinen Vernunft« entstehen konnte und mute. dio Zuriickweisung der Uberlieferung als maBgebender Wis-
Ionsvermittlung — all diese Verwerfungen sind nur negative
a) Die Grundsãtze: neue Freiheit, Selbstbindung und l'olgen des mathematischen Entwurfs. Wo der Wurf des ma-
Selbstbegrimndung Ihematischen Entwurfs gewagt wird, stellt sich der Werfer
lieses Wurfes auf einen Boden, der allererst im Entwurf erwor-
Wir fragen daher nach dem metaphysischen Sinn des Math o
matischen, um so seine Bedeutung fir die neuzeitliche Metaphy" lm wird. Im mathematischen Entwurf liegt nicht nur eine
sik zu ermessen. Wir gliedern diese Frage in zwei Teilfragen:
linlreiung, sondern zugleich eine neue Erfahrung und Gestal-
limg der Freiheit selbst, d. h. der selbstiilbermommenen Bin-
1. Welche neue Grundstellung des Daseins zeigt sich im He
j lung. Im mathematischen Entwurf vollzieht sich die Bindung
aufkommen der Herrschaft des Mathematischen?
2. Tn welcher Weise treibt das Mathematische, seinem eigos
hn die in ihm selbst geforderten Grundsitze. GemãB diesem
Inneren Zug, der Befreiung zu einer neuen Freiheit, drângt das
nen inneren Zug entsprechend, in eine Anfsteigerung zu einer
' i : Muthematische aus sich dazu, sein eigenes Wesen als Grund
metaphysischen Bestimmung des Daseins?
fúr uns die zweite Frage; die erste sei nur im Miner selbst und somit allen Wissens zu legen.
Wichtiger ist
knappen UmriB beantwortet. Damit koimmen wir zur zweiten Teilfrage: In welcher Weise
des Mathemati Irvibt das Mathematische, seinem eigenen inneren Zug entspre-
Bis zu dem ausgeprigten Hervorkommen
'liend, in eine Aufsteigerung zu einer metaphysischen Bestim-
scdhen als eines Grundzugs des Denkens galt als die mal os
Mung des Daseins? Wir kinnen der Frage auch die verkiirzte
bende Wahrheit die der Kirche und des Glaubens. Die Ermitto:
Wendung geben: Welcher Art ist die Entstehung der neuzeit-
lung des eigentlichen Wissens um das Seiende geschah auf dem
$ 18. Wandel der Naturwissenschaft
98 Kants Weise nach dem Ding zu fragen 99
hindurch ging, ibre eigene GróBe wahrhaft in groBer Úberle-
lidhen Metaphysik aus dem Geiste des Mathematischen? Schon
genheit schãtzte, war er imstande,
aus der Form dieser Frage wird ersichtlich: Die Mathematik den ersten Grund zu ihrer
Uberwindung zu legen.
konnte nicht dadurch zum MaBstab der Philosophie werden,
Methoden nur passend verallgemeinert Das iibliche Bild von Descartes und seiner Philosophie ist fol-
dal mathematische
i gendes: Im Mittelalter stand die Philosophie — wenn sie iiber-
und dann auf die Philosophie úibertragen wurden.
haupt fúr sich bestand — unter der ausschlieBlichen Herrschaft
Vielmehr sind die neuzeitlichen Naturwissenschaften und die
der Theologie und verfiel allmáhlich der bloBen Begrilfszerglie-
neuzeitliche Mathematik und die neuzeitliche Metaphysik aus
derung und Erórterung iiberlieferter Meinungen und Sãtze;
derselben Wurzel des Mathematischen im weiteren Sinne ent
sie erstarrte in ein Schulwissen, das den Menschen nichts mehr
sprungen. Weil unter diesen dreien die Metaphysik am weite-
anging und auferstande war, die Wirklichkeit im Ganzen zu
sten ausgreift — auf das Seiende im Ganzen — und weil sie zu-
durchleuchten. Da erschien Descartes und befreite die Philoso-
gleich am tiefsten greift — nach dem Sein des Seienden als sol-
phie aus dieser unwiirdigen Lage. Descartes begann an allem
chen —, muB gerade die Metaphysik ihren mathematischen
| zu zweifeln; aber dieser Zweifel stieB am Ende doch auf etwas,
Grund und Boden bis auf den Felsgrund ausschachten.
die neuzeitli che Philosop hie von was nicht mehr bezweifelt werden konnte; denn indem der
Indem wir verfolgen , wie
aufwichs t, begreife n wir Zxweifler zweifelt, kann er doch nicht daran zweifeln, daB er,
diesem in ihr selbst gelegten Grund
einer » Kritilk der Zweifler, vorhanden ist und vorhanden sein mu, damit er
die geschichtliche Móglichkeit und Notwendigkeit
iiberhaupt zweifeln kann. Indem ich zweifle, muB ich gerade
76 der reinen Vernunft«. Noch mehr — wir werden verstehen ler:
zugestehen, daB »ich bin«; das »Iche« ist demnach das Tnbe-
nen, warum dieses Werk die Gestalt hat, die es hat, und wes-
zweifelbare. Indem so der Zweifler Descartes die Menschen in
halb wir an der Stelle unsere Auslegung des Werkes ansetzen,
den Zweifel hineinzwang, filhrte er sie dazu, an sich selbst, an
an der wir einsetzen werden.
ir »Iche zu denken. So wurde das » Ich«, die menschliche Sub-
joktivitãt, zum Mittelpunkt des Denkens erklirt. Von hier aus
B) Descartes: cogito sum; Ich als ausgezeichnetes subiectum
entsprang der Ichstandpunkt der neuen Zeit und ihr Subjekti-
Man setzt gewihnlich den Beginn der neuzeitlichen Philoso-
vismus. Die Philosophie selbst aber wurde so zu der Einsicht
phie bei Descartes (1596-1650) an; er lebte eine Generation
gebracht, daB am Anfang der Philosophie das Zweifeln stehen
spúter als Galilei. Gegeniiber den zuweilen auftauchenden Voar:
miisse, die Besinnung auf die Erkenntnis selbst und ihre Mõg-
suchen, die neuzeitliche Philosophie mit dem Meister Eckhart fio
lichkeit. Vor der Theorie iiber die Welt muB eine Theorie der
oder in der Zwischenzeit zwischen ihm und Descartes beginnen
Erkenntnis aufgestellt werden. Erkenntnistheorie ist fortan die
zu lassen, muB an der bisherigen Ansetzung festgehalten wet"
Grundlage der Philosophie, und das macht sie zur modernen im
den. Die Frage ist nur, wie man dabei Descartes” Philosophis
Unterschied zur mittelalterlichen. Seitdem sind auch die Er-
selbst versteht. DaB die philosophische Ausgestaltung des mr:
neuerungsversuche der Scholastik bestrebt, in ihrem System die
thematischen Grundzugs des neuzeitlichen Daseins sich mall:
lrkenntnistheorie nachzuweisen oder sie doch nachzutragen,
gebend in Frankreich, England und Holland vollzieht, ist kein
wo sie fehlt, um sie so fiir die moderne Zeit brauchbhar zu ma-
Zufall, sowenig wie die Tatsache, daB Leibniz die entscheiden:
dort, insbesondere wãhrend seines Parisor then. Entsprechend werden Platon und Aristoteles zu Erkennt-
den AnstôBe von
Aufenthaltes 1672-1676, empfing. Nur weil er durch diese Well nistheoretikern umgedeutet.
100 Kants Weise nach dem Ding zu fragen $ 18. Wandel der Naturwissenschaft 101
Diese Geschichte von Descartes, der kam und zweifelte und schaft des neuen Denkens und Forschens dahin, die erst nur
damit ein Subjektivist wurde und so die Erkenntnistheorie be- dunkle und ungeklirte und stoBweise vorbrechende und ôfters
griindete, gibt zwar das iibliche Bild; aber sie ist, wenn es hoch sich selbst miBdeutende Grundhaltung in ihrem innersten We-
kommt, ein schlechter Roman — nur keine Geschichte, in der sen zur Klarheit und Entfaltung zu bringen. Das bedeutet aber:
die Bewegung des Seins sichtbar wird. Das Mathematische will sich selbst, im Sinne seiner eigenen
Das Hauptwerk Descartes' trigt den Titel: Meditationes de inneren Forderung, begriinden; es will sich selbst ausdriicklich
prima philosophia (1641). Prima philosophia: das ist die ão nls MaBstab allen Denkens herausstellen und die daraus ent-
qulosoqia des Aristoteles, ist die Frage, was das Sein des Seien- springenden Regeln aufstellen. An dieser Arbeit der Besinnung
den sei, in der Gestalt der Frage nach der Dingheit der Dinge. auf das Mathematische in seiner grundsãtzlichen Bedeutung ist
Meditationes de metaphysica — nichts von Erkenntnistheorie. Descartes wesentlich beteiligt. Diese Besinnung mubBte, weil sie
Fiir die Frage nach dem Sein des Seienden (fitr die Kategorien) das Ganze des Seienden und des Wissens davon betraf, notwen-
bildet der Satz, die Aussage, den Leitfaden. (ÚUber den eigente dig eine Besinnung auf die Metaphysik werden. Dieses gleich-
lichen metaphysikgeschichtlichen Grund des Vorrangs der Ge- irspriingliche Vorgehen in der Richtung einer Grundlegung
wiBheit, die erst die Ubernahme und metaphysische Entfaltung des Mathematischen und in der Richtung einer Besinnung auf
des Mathematischen ermóglichte — das Christentum und die die Metaphysik kennzeichnet in erster Linie seine philosophi-
Heilsgewifheit, die Sicherung des Einzelnen als solchen —, soll sehe Grundhaltung. Wir kônnen dies noch eindeutig an Hand
hier nicht gehandelt werden.) einer unvollendeten Friihschrift verfolgen, die erst ein halbes
Die Lehre des Aristoteles wurde im Mittelalter in einer ganz Jnhrhundert nach dem Tode Descartes im Druck erschien
bestimmten Weise aufeenommen. Dieser »mittelalterliche« (1701). Die Schrift ist betitelt: Regulae ad directionem ingenii.
Aristoteles erfuhr in der Zeit der Spãâtscholastik durch die spa- 1. Regulae — Grund- und Leitsãtze, in denen sich das Mathe-
nischen Philosophenschulen, insbesondere den Jesuiten Suarez, mutische selbst seinem Wesen unterwirft; 2. ad directionem
eine umfassende Auslegung. Descartes erhãlt seine erste und Ingenti — eine Grundlegung des Mathematischen, damit es
grundlegende philosophische Ausbildung bei den Jesuíten in selbst im Ganzen das RichtmaB werde fúr den forschenden
La Flêche. Im Titel seines Hauptwerkes kommt beides zum. Lieist. In der Nennung des Regelhaften sowohl wie im Hinblick
Ausdruck, die Auseinandersetzung mit dieser Úberlieferung nuf die innere freie Bestimmung des Geistes kommt schon rein
und der Wille, die Frage nach dem Sein des Seienden, nach der litelmãBig der mathematisch-metaphysische Grundzug zum
Dingheit des Dinges, nach der » Substanz«, erneut aufzunehs Ausdruck. Descartes faBt hier auf dem Wege einer Besinnung
men. 7
nul das Wesen der Mathematik den Gedanken einer scientia
Aber all dies geschieht inmitten einer Zeit, in der schon seil universalis, der Wissenschaft, auf die als die Eine, MaBgebende
einem Jabhrhundert das Mathematische als Grundzug des Dens alles hingewendet und eingerichtet ist. Descartes betont aus-
kens sich mehr und mehr herausrang und zur Klarheit drângte,- ilriicklich, es handle sich dabei nicht um die mathematica vul-
in einer Zeit, die gemiãB diesem freien Entwurf der Welt zu ei Itiris, sondern um die mathesis universalis.
nem neuen Ansturm auf die Wirklichkeit aufbrach. Da ist Wir miissen hier darauf verzichten, den inneren Aufbau und
nichts von Skeptizismus, nichts von Ichstandpunkt und Subjele 1len Hauptinhalt dieser unvollendeten Schrift darzustellen. Tn
78 tivitát-yonallem nur das Gegenteil. Deshalb geht die Leidenr Ir wird der neuzeitliche Begriff der » Wissenschafi« geprigt.
102 Kants Weise nach dem Ding zu fragen S18. Wandel der Naturwissenschaft 105

Nur wer diese riicksichtslos nitchterne Schrift bis in ihre hinter- nium cognitionem per eosdem gradus ascendere tentemus.
sten kiltesten Winkel wirklich und lange durchdacht hat, »Das Vorgehen im Ganzen besteht in der Ordnung und Vertei-
bringt die Voraussetzung mit, eine Ahnung von dem zu bekom- lung dessen, worauf der Scharfblick des Geistes gerichtet sein
men, was in der neuzeitlichen Wissenschaft vor sich geht. Um muB, um irgendeine Wahrheit zu finden. Nun werden wir aber
eine Vorstellung von der Absicht und Haltung der Schrift zu ein solches Vorgehen nur einhalten, wenn wir die eingewickel-
vermitteln, seien aus den XXI Regeln nur drei genannt, und ten und dunklen Sãtze stufenweise auf die einfacheren zuriick-
zwar die IIL., IV. und V. Aus ibnen springt der Grundzug des fúhren und dann versuchen, aus der Einsicht in die allerein-
neuzeitlichen Denkens in die Augen. fachsten Sãtze zur Erkenntnis aller anderen durch dieselben
Regula III. Circa obiecta proposita, non quid alii senserint, Stufen hinaufzusteigen. «
79 vel quid ipsi suspicemur, sed quid clare et evidenter possimus Das Entscheidende bleibt die Art und Weise, wie diese Be-
intueri, vel certo deducere, quaerendum est; non aliter enim sinnung auf das Mathematische sich auf die Auseinanderset-
scientia acquiritur. »[m Umikreis der vorliegenden Gegenstãn- zung mit der úberlieferten Metaphysik (prima philosophia)
de, mit Bezug auf sie, sind die Fragen zu erórtern, und zwar auswirkte und wie sich, von da ausgehend, das weitere Schicksal
nicht, was andere gemeint haben oder was wir selbst vermuten, und die Gestalt der neuzeitlichen Philosophie bestimmte.
sondern was wir klar und einsichtig erschauen kôónnen oder in Zum Wesen des Mathematischen als Entwurf gehõórt das
sicheren Schritten ableiten; nicht anders námlich kommt es zur Axiomatische, die Ansetzung von Grundsãtzen, auf denen alles
Wissenschaft. « Weitere in einsichtiger Folge grindet. Wenn das Mathemati-
Regula IV. Necessaria est Methodus ad rerum veritatem in- sche im Sinne einer mathesis universalis das gesamte Wissen
vestigandam. begriinden und gestalten soll, dann bedarf es der Aufstellung
» Notwendig ist das Verfahren, um der Wahrheit der Dinge iusgezeichneter AÁxiome.
auf die Spur zu kommen. « Sie miissen 1. die schlechthin ersten sein, in sich, aus sich ein- 80
Diese Regel meint nicht den Gemeinplatz, daf eine Wissen- sichtig, evidens, d.h. schlechthin gewiB. Diese GewiBheit ent-
schaft auch ihre Methode haben muB, sondern die Regel will seheidet mit úiber ihre Wahrheit. 2. Die obersten Áxiome miis-
sagen, dal das Vorgehen, d. h. die Art, wie wir iilberhaupt hin- sen als die schlechthin mathematischen iiber das Seiende im
ter den Dingen her sind (nétodos), im vornhinein iúiber das ent- Gianzen zum voraus festmachen, was seiend ist und was Sein
scheidet, was wir an den Dingen an Wahrheit aufspiiren. heilBt, von wo aus und wie sich die Dingheit der Dinge be-
Methode ist nicht ein Ausstattungsstiick der Wissenschaft itimmt. Nach der Úberlieferung geschieht dies am Leitfaden
unter anderen, sondern der Grundbestand, aus dem sich aller- les Satzes. Aber bisher wurde der Satz nur als solches genom-
erst bestimmt, was Gegenstand werden kann und wie es Ge- nen, was sich gleichsam von selbst so darbot. Der einfache Satz
genstand wird. llber die einfach vorliegenden Dinge enthãlt und behãlt das,
Regula V. Tota methodus consistit in ordine et dispositione Wwns die Dinge sind. Der Satz ist wie die Dinge auch vorhanden,
eorum ad quae mentis acies est convertenda, ut aliquam verita- ler vorhandene Behãlter des Seins.
tem inveniamus. Átque hanc exacte servabimus, si propositio- Allein, fir die schlechthin mathematische Grundstellung
nes involutas et obscuras ad simpliciores gradatim reducamus, lnnn es keine vorgegebenen Dinge geben. Der Satz kann kein
et deinde ex omnium simplicissimarum intuítu ad aliarum om- beliebiger sein. Der Satz muB selbst — und gerade er — auf sei-
104 Kants Weise nach dem Ding zu fragen $18. Wandel der Naturwissenschaft 105

nen Grund gestellt sein. Er muB ein Grundsatz, der Grundsatz Seiende. Sein von Seiendem bestimmt sich aus dem »ich bin«
schlechthin sein. Es gilt, daher einen solchen Grundsatz alles nls der GewiBheit des Setzens.
Setzens zu finden, d. h. einen Satz, in dem das, worúber er et- Die Formel, die der Satz zuweilen hat: »cogito ergo sum«,
was sagt, das subiectum (ómoxeípevov), nicht anderswoher nur legt das MiBverstândnis nahe, als handle es sich hier um eine
aufgenommen wird. Das Unterliegende muB sich als ein solches SchluBfolgerung. Das trifft nicht zu und kann auch nicht so
in diesem urspringlichen Satz selbst erst ergeben und gesetzt sein; denn dieser SchluB miiBte als Obersatz haben: id quod
werden. Nur so ist das subiectum ein fundamentum absolutum, cogitat, est; als Untersatz: cogito; als SchluB: ergo sum. Aber
ein rein aus dem Satz als solchem, dem Mathematischen als sol- was im Obersatz steht, wire nur eine formale Verallsemeine-
chem Gesetztes, Grundlage, Basis und als solches fundamentum rung dessen, was in dem Satz liegt: cogito — sum. Descartes
absolutum zugleich inconcussum und somit unbezweifelbar, selbst betont, es lãge kein SchluB vor. Das sum ist nicht eine
schlechthin gewiB. Weil jetzt das Mathematische sich selbst als lºolge aus dem Denken, sonderm umgekehrt der Grund dafúr,
Prinzip alles Wissens ansetzt, mufi alles bisherige Wissen not- das fundamentum. Im Wesen des Setzens liegt der Satz: Ich
wendig in Frage gestellt werden, abgesehen davon, ob es halt- hetze; das ist ein Satz, der sich nicht auf Vorgegebenes richtet,
bar ist oder nicht. sondern nur sich selbst das gibt, was in ihm liegt. In ihm liegt:
Descartes zweifelt nicht, weil er ein Skeptiker ist, sondern er lol setze; ich bin es, der setzt und denkt. Dieser Satz hat das
muB zum Zweifler werden, weil er das Mathematische als abso- Iigentúmliche, daB er das, woriiber er aussagt, das subiectum,
luten Grund ansetzt und eine ihm entsprechende Unterlage fiir nllererst setzt. Was er setzt, das ist in diesem Fall das »Iche;
alles Wissen sucht. Es gilt jetzt nicht nur, ein Grundgesetz zu das Ich ist das subiectum des allerersten Grundsatzes. Das Ich
finden fiir den Bereich der Natur, sondern den allerersten und Ist daher ein ausgezeichnetes Zugrundeliegendes — iroxeinevov,
obersten Grundsatz fúr das Sein des Seienden iiberhaupt. Die- Mmbiectum —, das subiectum des Setzens schlechthin. Daher
ser sechlechthin mathematische Grundsatz kann nichts vor sich kommt es, daB seitdem das Ich vorzugsweise als das subiectum,
haben und dulden, was ihm vorgegeben wãre. Wenn iiberhaupt als »Subjekt« angesprochen wird. Der Charakter des ego als
etwas gegeben ist, dann nur der Satz úiberhaupt als solcher, des ausgezeichneten immer schon Vorliegenden bleibt unbeach-
d. h. das Setzen, die Position, im Sinne des aussagenden Den- let. Statt dessen bestimmt sich die Subjektivitãt des Subjekts
kens. Das Setzen, der Satz, hat nur sich selbst als das, was ge- nus der Ichheit des »ich denke«. DaB das »Iche« zu der Kenn-
setzt werden kann. Erst wo das Denken sich selbst denkt, ist es reichnung dessen kommt, was fúr das Vorstellen das eigentliche
schlechthin mathematisch, d. h. ein Zur-Kenntnis-nehmen des- im vorhinein schon Vor-liegende (das » Objektive« im heutigen
sen, was wir schon haben. Sofern das Denken und Setzen sich so Sinne) ist, das liegt nicht an irgendeinem Ichstandpunkt oder
auf sich selbst richtet, findet es Folgendes: Woriber auch im- In einem subjektivistischen Zweifel, sondern an der wesentli-
mer und in welchem Sinne ausgesagt werden mag, jederzeit ist chen Vorherrschaft und bestimmt gerichteten Radikalisierung
81 dieses Aussagen und Denken ein »ich denke«. Denken ist im- des Mathematischen und Axiomatischen.
mer als »ich denke« ego cogito. Darin liegt: Ich bin, sum; co- Dieses auf Grund des Mathematischen zum ausgezeichneten
gito, sum — ist die unmittelbar in dem Satz als solchem liegende mbiectum erhobene Ich ist seinem Sinne nach ganz und gar
oberste GewiBheit. Im »ich setze« ist das »iche als das Set- nichts » Subjektives« von der Art einer zufálligen Eigenschaft
zende mit- und vorgesetzt als das schon Vorliegende, als das grerade dieses besonderen Menschen. Dieses im »ich denke« aus-
106 Kants Weise nach dem Ding zu fragen $ 18. Wandel der Naturwissenschaft 107
gezeichnete » Subjekt«, das Ich, gilt erst dann als subjektivi- des Menschen. Dieser wurde bis dahin und auch fernerhin als
stisch, wenn sein YWesen nicht mehr begriffen, d. h. aus seiner animal rationale, als verniinftiges Lebewesen begriffen. Mit
seinsmáBigen Herkunft entfaltet wird. der eigentúmlichen Betonung des Ich, d. h. mit dem »Ich den-
Bis zu Descartes galt als » Subjekt« jedes fir sich vorhandene kex«, riiekt nun die Bestimmung des Vernúnftigen und der Ver-
Ding; jetzt aber wird das »Ich« zum ausgezeichneten Subjekt, nunft in einen ausgezeichneten Vorrang. Denn das Denken ist
zu demjenigen , auf welches die iibrigen Dinge erst als
mit Bezug der Grundakt der Vernuntt. Diese, die Vernuntt, wird jetzt mit
82 soléhe sich bestimmen. Weil sie — mathematisch — ihre Dingheit dem »cogito sum« ausdriicklich und gemaãB ihrer eigenen For-
erst durch den begrimdenden Bezug zum obersten Grundsatz derung als erster Grund alles Wissens und als Leitfaden aller
und dessen » Subjekt« (Ich) erhalten, sind sie wesenhaft solches, Bestimmung der Dinge iiberhaupt gesetzt.
was als ein andéres in Beziehung zum » Subjekt« stebt, ihm ent-. Schon bei Aristoteles war die Aussage, der Lóyos, der Leit-
gegenliegtals obiectum. Die Dinge selbst werden zu »Objekten«. [aden fúr die Bestimmung der Kategorien, d. h. des Seins des
Das Wort obiectum macht jetzt einen entsprechenden Bedeu- Seienden. Indes war der Ort des Leitfadens — die menschliche
tungswandel durch; denn bis dahin bezeichnete obiectum das Vernuntt, die Vernuntt ilberhaupt — nicht als Subjektivitãt des
im bloBen Sidhvorstellen Entgegengeworfene: Ich stelle mir ei- Subjekts ausgezeichnet. Jetzt aber ist die Vernunft, als das »ich
nen goldenen Berg vor. Dieses so Vorgestellte — ein obiectum in denkes«, eigens im obersten Grundsatz als Leitfaden und Ge- 85
der Sprache des Mittelalters — ist nach dem heutigen Sprachge"- richtshof aller Seinsbestimmung angesetzt. Der oberste Grund-
brauch etwas blofi » Subjektives«; denn ein » goldner Berg« exi- sntz ist der Ichsatz: cogito — sum. Er ist das Grundaxiom allen
stiert nicht »objektiv« im Sinne des gewandelten Sprachge- Wissens, aber er ist nicht das einzige Grundaxiom, und das ein-
brauches. Diese Umkehrung der Bedeutungen der Worte sub- Inch deshalb, weil in dem Ichsatz selbst noch ein anderer be-
iectum und obiectum ist keine bloBe Angelegenheit des iehlossen liegt und mit diesem und somit mit jedem Satz ge-
Sprachgebrauches; es ist ein grundstiirzender Wandel des Da- "eltzt ist. Indem wir sagen: >»cogito — sum«, sagen wir das aus,
seins, d. h. der Lichtung des Seins des Seienden, auf Grund der Was im subiectum (ego) liegt. Die Aussage mufB als solche, soll
Herrschaft des Mathematischen. Es ist eine dem gewohknlichen ie Aussage sein, immer das setzen, was im subiectum liegt.
Auge notwendig verborgene Wegstrecke der eigentlichen Ger Das, was im Prãdikat gesetzt und gesprochen ist, darf und kann
schichte, die immer die der Offenbarkeit des Seins — oder gar nicht gegen das Subjekt sprechen; die xatágacis mubB immer
nichts ist. ] so sein, daB sie die âvriqacnis vermeidet, d. h. das Sagen im
Sinne des Dagegensprechens, des Widerspruchs. Im Satz als
7) Vernuntt als oberster Grund; Ichsatz, Widerspruchsatz bntz, und demgemã6B im obersten Grundsatz als Ichsatz, ist
Das Ich, als »ich denkex, ist der Grund, auf den fortan alle Goes ileichurspriinglich der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch
wiBheit und Wahrheit gelegt wird. Das Denken aber, die Aus (lurz: Satz vom Widerspruch) als giiltig mitgesetzt.
sage, der Logos, ist zugleich der Leitfaden fúir die Bestimmun- Indem das Mathematische als der axiomatische Entwurf sich
gen des Seins, die Kategorien. Diese werden am Leitfaden dos Iwlbst als maBgebendes Prinzip des Wissens setzt, wird das Set-
»ich denkes«, im Blick auf das Ich gefunden. Das Ich wird so, ren, das Denken als »ich denke«, der Ichsatz, angesetzt. » Ich
kraft dieser grundlegenden Bedeutung fiir die Begrimdung dos 1lenke« heiBt: Ich vermeide den Widerspruch, ich folge dem
gesamten Wissens, die betonte und wesentliche Bestimmung Widerspruchsatz.
108 Kants Weise nach dem Ding zu fragen $ 19. Zusammenftassung 109

Der Ichsatz und der Widerspruchsatz entspringen aus dem nunft, rein aus ibhr, ohne Zubilfenahme des Bezugs auf Vorge-
Wesen des Denkens selbst, so, daf3 blof auf das Wesen des »idh ebenes. Sie sind ein reines Sich-selbst-geben dessen, was das
denke« und das, was in ibm und nur in ibhm liegt, gesehen wird, DNenken in seinem Wesen schon in sich hat.
Das vich denke« ist die Vernuntt, ist ihr Grundakt. Was ledige Jetzt bleibt uns noch, den dritten Abschnitt in der Geschichte
lich aus dem »ich denke« geschopft ist, ist bloB aus der Ver: der Dingfrage zn kennzeichnen, d. h. zu zeigen, wie es von der
nunit selbst gewonnen. Die Vernuntt ist, so gefaBt, rem sie Dingbestimmung aus reiner Vernuntt zu einer Kritift der rei-
selbst, ist reine Vernuntt. nen Vernunft kommen kann und muf. Zu diesem Zwecke
Die gemiãl dem mathematischen Grundaug des Denkens ist notwendig, dalB wir uns, wenn auch nur im Groben, eine
bloB aus der Vernunft entspringenden Grundsãtze werden dic Vorstellung davon verschaffen, wie sich die neuzeitliche Meta-
physik gemã6 der mathematischen Grundlegung durch Descar-
Grundsãtze des eigentlichen Wissens, d. h. der Philosophie in
tes entfaltet.
erster Linie, der Metaphysik. Die Grundsãtze aus bloBer Ver-
nunft sind die Axiome der reinen Vernuntt. Die reine Ver: Die philosophischen Grundaxiome, d. h. die Axiome schlecht-
nunit, der so verstandene Xóyos, der Satz in dieser Gestalt, wird lin, sind der Ichsatz und der Widerspruchsatz und der Satz vom
Lirund. Auf sie soll die ganze Metaphysik gegriindet werden, so
Leitfaden und BichtmaB der Metaphysik, d. h. der Gerichtshol
fr die Bestimmung des Seins des Seienden, der Dingheit der (Inf) diese Axiome auch den inneren Aufbau der Metaphysik
Dinge. Die Frage nach dem Ding ist jetzt in der reinen Vem) ilurchherrschen, d. h. die wissensmiábige Gestaltung ihres ge-
nuntt verankert, d. h. in der mathematischen Entfaltung ihrer mmten Bereiches. Von diesem war bisher kaum die Rede. Wir
: MIgten nur, Metaphysik sei die Frage nach dem Seienden im
Grundsãtze.
In dem Titel »reine Vernuntte liegt der Móyos des Aristotelos linnzen und nach dem Sein des Seienden, Aber wie ist das
“eiende im Ganzen gemeint? Bei der Darstellung jener Um-
und im »rein« insbesondere eine bestimmte Ausformung d
Mathematischen. wendung des frilheren Wissens von der Natur zum neuzeitli-
fhen Denken haben wir uns auf einen Ausschnitt des Seienden
hueschrânkt. Nicht nur das; wir haben auch davon abgesehen, zu
berichten, wie dieser beschrânkte Bezirk (Natur) in das Ganze
$ 19. Geschichte der Dingfrage; Zusammentassung
des Seienden gehôrt. Die Natur oder der Kosmos gelten aber
hit der Herrschaft des Christentums im Abendland als das Ge-
Der erste Abschnitt der Geschichte der Dingfrage ist gek
sehaffene, nicht nur im Mittelalter, sondern anch durch die
zeichnet durch den Wechselbezug von Ding und Aussage
tnze neuzeitliche Philosophie hindurch. Die neuzeitliche Me-
84 (1ó7os), an deren Leitfaden die allgemeinen Seinsbestimmunha
Inphysik seit Descartes bis zu Kant, und iiber Kant hinaus auch
gen (Kategorien) gewonnen werden. Der zweite Abschnitt fal
die Aussage, den Satz als Grundsatz, mathematisch und stellh lie Metaphysik des Deutschen TIdealismus, ist ohne die christli-
then Grundvorstellungen nicht zu denken. Das Verháltnis zum
demgemiB die Grundsãtze heraus, die im Wesen des Denkens,
tlogmatischen Kirchenglauben kann dabei sebr locker, sogar
des Saizes als solcdhem, liegen: den Ichsatz und den Widersprucl
satz. Dazu kam in der Folge noch bei Leibniz der Satz vom pbgebrochen sein. GemãB der Vorherrschaft der christlichen
Grund, der im Wesen eines Satzes als eines Grundsatzes auch Vurstellung vom Seienden kommt in das Seiende im Ganzen
nine bestimmte Gliederung und Abstufung. Das eigentliche
schon mit gesetzt ist. Diese Sãtze entspringen aus bloBer Ver:
110 Kants Weise nach dem Ding zu fragen $ 19. Zusammenfassung 111
und hôchste Seiende ist jenes, was als der schipferische Ur. Grundsatz leitend wird, kommt das Ich und damit der Mensch
sprung alles Seienden gilt, der eine, persônliche Gott als Gel zu einer einzigartigen Stellung innerhalb dieses Fragens nach
85 und Schipfer. Alles nichtgóttliche Seiende ist das Geschaffeno, dem Seienden; er bezeichnet nicht nur einen Bereich unter an-
Innerhalb des geschaffenen Seienden aber hat ein Seiendes ecina deren, sondern denjenigen, auf den alle metaphysischen Sãtze
Auszeichnung. Dies ist der Mensch, und zwar deshalb, weil sein ruriickgehen und wovon sie ausgehen. Der Gang des metaphy-
ewiges Seelenheil in Frage steht. Gott als der Schópfer, die sischen Denkens bewegt sich im je verschieden ausgegrenzten
Welt des Geschaffenen, der Mensch und sein ewiges Heil sind Bezirk der Subjektivitãt. Deshalb sagt spáter Kant: Alle Fragen
die drei aus dem christlichen Denken her bestimmten Bereicho ler Metaphysik, d. h. die der genannten Disziplinen, lassen sich
innerhalb des Seienden im Ganzen. Da die Metaphysik nacdh ruriickfilhren auf die Frage: Was ist der Mensch? Im Vorrang
dem Seienden im Ganzen fragt, was es sei und warum es so sei, dieser Frage verbirgt sich der von den Regulae Descartes' her
wie es ist, handelt die eigentliche Metaphysik — christlich ver teprãgte Vorrang der Methode.
standen — von Gott (Theologie), von der Welt (Kosmologie), Wenn wir schon zur Kennzeichnung der neuzeitlichen Meta-
vom Menschen und seinem Seelenheil (Psychologie). Soferm physik die Unterscheidung von Form und Inhalt gebrauchen, 86
nun gemif dem mathematischen Grundzug des neuzeitlichon Iíissen wir sagen: Das Mathematische gehõrt ebensosehr zum
Denkens auch die Metaphysik aus den Grundsátzen der bloBen Inhalt dieser Metaphysik wie das Christliche zu ihrer Form.
Vernunft, der ratio, sich gestaltet, wird die metaphysische Nach den drei Grundrichtungen des metaphysischen Fragens
Lehre von Gott eine Theologie, aber eine theologia rationalis, linndelt es sich jedesmal um Seiendes: Gott, Welt, Mensch. Je-
wird die Lehre von der Welt Kosmologie, aber eine cosmologin ilesmal soll úber das Wesen und die Miglichkeit dieses Seien-
rationalis, wird die Lebre vom Menschen Psychologie, aber ei 1len entschieden werden, und zwar rational, aus reiner Ver-
psychologia rationalis. nuntt, d.h. aus Begriffen, die im reinen Denken gewonnen
Es liegt nahe, den ganzen Sachverhalt der neuzeitlichen M hind. Wenn aber im Denken und rein aus ihm iiber das Seiende
taphysik in folgender Weise zurechtzulegen: Fiir diese Gestal! imlschieden werden soll, was und wie es ist, so muB dabei offen-
der Metaphysik sind zwei Momente wesentlich: 1. die chris! Mehich vor der Bestimmung des Seienden als Gott, als Welt,
kche Vorstellung vom Seienden als dem ens creatum; 2. lh Mensch ein Vorbegriff vom Seienden iiberhaupt leitend
mathematische Grundzug. Jenes erste Moment betrifft den Ins Min. Zumal dort, wo dieses Denken sich selbst mathematisch
halt dieser Metaphysik, das zweite betrifft ihre Form. A higreift und sich als mathematisches begriindet, muB der Ent-
diese Kennzeichnung nach Inhalt und Form ist allzu billig, Wirf dessen, was das Seiende iiberhaupt als solches ist, aus-
wahr zu sein. Denn die christlich bestimmte Gliederung mad Ilniddich allem zum Grunde gelegt werden. So muB dem auf
nicht nur den Inhalt aus, das, was im Denken verhandelt wirdi lin gesonderten Bezirke gerichteten Fragen ein solches vorauf-
es bestimmt ebenso auch die Form, das Wie. Insofem Gott als then, was nach dem Seienden im allgemeinen fragt, d. h. die
Schipfer die Ursache und der Grund alles Seienden ist, wird dis Mulnphysik als allgemein nach dem Seienden fragende, die
Wie, die Weise des Fragens, im vorhinein auf dieses Prinzip hin mnstnphysica generalis. Von ihr aus gesehen, werden Theologie,
orientiert. Umgekehrt ist das Mathematische nicht nur eing linmologie, Psychologie, weil sie je besondere Gebiete des
iiber den christlichen Inhalt gestiilpte Form, sondern es gehiirl Iminnden befragen, zur metaphysica specialis.
selbst zum Inhalt. Sofem der Ichsatz, das »Ich denkex«, nlh Aber weil die Metaphysik jetzt mathematisch ist, kann das
112 Kanis Weise nach dem Ding zu fragen 5$ 20. Rationale Metaphysik 113
Allgemeine nicht dasjenige bleiben, was nur iiberhaupt úber eine wesentliche Vereinigung der durch Descartes vollzagenen
dem Besonderen schwebt, sondern das Besondere mufi als ein Grundlegung der Philosophie mit der Uberlieferung der mit-
solches aus dem Allgemeinen als dem Axiomatischen nach lelalterlichen Scholastik und damit zugleich eine Wiedervereini-
Grundsitzen abgeleitet werden. Das besagt fiir die metaphy:- gung von Platon und Aristoteles. Das ganze abendlândische
sica generalis: Es muB in dieser grundsátzlich nach Axiomen, metaphysische Wissen sollte sich in der Vernunfiklarheit der
md zwar nach dem ersten Áxiom, nach dem Schema des Sel: Aufklârung sammeln und die Menschheit des Menschen in rei-
zens und Denkens úiberhaupt, entschieden werden, was zu ele ner Vernunft auf sich selbst stellen. Chr. Wolff bearbeitete die
nem Seienden als solchem iberhaupt gehõrt, was die Dingheil Philosophie in weitverbreiteten lateinischen und deutschen
eines Dinges ilberhaupt bestimmt und umgrenzt. Was ein Ding Lehrbiichern. Sein Lehrbuch der Metaphysik trigt in der deut-
sei, muB im vorhinein aus den obersten Grundsãtzen aller schen Bearbeitung einen kennzeichnenden Titel, der in seiner
Sãtze und des Satzes iilberhaupt, d. h. aus der reinen Vernunil, Art jetzt nach dem Gesagten verstândlich sein muB: » Verniinff-
entschieden sein, bevor iúber gótiliche und weltliche und lige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen,
menschliche Dinge verniinftig gehandelt werden kann. nuch allen Dingen iiberhaupt.« 1719. Wolff lehrte zuerst in
Diese vorgingige und durchgângige Durcdileuchtung allor Halle als Professor der Mathematik und ging alsbald zur Philo-
Dinge hinsichtlich ihrer Dingheit aus der reinen Vernuntft des sophie úber; seine grimdliche und strenge Art des Lehrens be-
vernimítigen Denkens iiberhaupt, die Aufhellung als dieser deutete fiir das damalige seichte Geschwãtz der Theologen eine
vorgângige Klarmachen aller Dinge ist Aufklúrung, ist der ernste Gefahr. Wolff wurde daher 1723 auf Betreiben seiner
Geist des 18. Jahrhunderts. In diesem Jahrhundert erlangt erst Iheologischen Gegner aus Halle vertrieben; es wurde ihm der
die neuzeitliche Philosophie ihre eigentliche Gestalt, in die Aufenthalt bei Strafe des Stranges verboten. Von 1723 bis 1740
Kants Denken hineinwãchst und die auch sein eigenstes neu: lehrte er in Marburg. Friedrich d. Gr. war mit der genannten
tiges Fragen trãgt und bestimmt, die Gestalt der Metaphysil, Methode, eine Philosophie durch Androhung des Galgens zu
ohne die auch die des 19. Jahrhunderts undenkbar wãre. widerlegen, nicht einverstanden und berief Wolff nach Halle
suriick, Dort wurde er Kanzler der Universitãt, Geheimrat, Vi-
reprisident der Petersburger Akademie und des Heiligen Ri-
$ 20. Die rationale Metaphysik (Wolff, Baumgarten) Iischen Reiches Freiherr. Unter den vielen Schiilem Wolffs
mngen Gottsched und Alexander Baumgarten (1714-692) hervor;
87 Zwischen Descartes und der Aufklârung steht Leibniz. Aber lieser schrieb gleichfalls eine Metaphysik (Metaphysica, 1739):
kam weniger in seinem eigensten Denken und Schaffen zur nr machte auBerdem — im allgemeinen Zuge der Herrschafts-
Wirkung als vielmehr in der Gestalt der durch ihn bestimm iestaltung der reinen Vernuntt — den Versuch, die Kunst und
Schulbildung in der Philosophie. das Verhãltnis zur Kunst, d. h. nach damaliger Autfassung den
Wãihrend des 18. Jahrhunderts wurde in Deutschland Lieschmack, den Vernunfiprinzipien zu unterwerfen. Der Ge-
wissenschaftliche und philosophische Denken durch die Lebre Mhmack und das in diesem Beurteilungsvermõgen Zugângli-
und Schule von Christian Wolff (1679-1754) beherrscht. Seina the, die Kunst, gehóôren in den Bereich des Sinnlichen, der
philosophische Ausriistung nahm er aus einer bestimmten Aus miolos. So, wie das Denken in der Logik unter Vernunftprinzi- 88
legung der Philosophie von Leibniz. Von hier aus erstrebte er pion gestellt wird, so bedarf es auch einer Vernunftlehre vom
114 Kants Weise nach dem Ding zu fragen $ 20. Rationale Metaphysik 115
Sinnlichen, einer Logik des Sinnlichen, der alofnoic. Baum- nebmlich um des Reichtums und der Prãzision seiner Lehrart
garten nannte daher diese rationale Lehre von der aioinoie, willen« (Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen im
die Logik der Sinnlichkeit: » Asthetik«. Seitdem heiBt — trotz Winterhalbjahr 1765/66. ed. K. Vorlânder, S. 155), (vel. Prole-
der Gegenwehr Kants gegen diesen Gebrauch des Titels — die gomena $$ 1-3). Kant gibt in dieser kleinen Schrift eine An-
philosophische Lehre von der Kunst Ásthetik, ein Umstand, der seige davon, wie er seine einstigen Vorlesungen iiber Metaphy-
mehr enthãli als die bloBe Angelegenheit eines Titels, eine Tat- sik, Logik, Ethik und Physische Geographie nach einer abge-
sache vielmehr, die nur aus der neuzeitlichen Metaphysik be- linderten Lehrart einzurichten gedenke.
griffen werden kann und die nicht nur fir die Auslegung des Was die Metaphysik, » die schwerste unter allen philosophi- 89
Wesens der Kunst, sondern iiberhaupt fúr die Stellung der schen Untersuchungens«, angeht, so schickt er dieser eine meta-
Kunst im Dasein des Zeitalters von Goethe, Schiller, Schelling physische Erfahrungswissenschaft vom Menschen voraus, um so
und Hegel entscheidend wurde. erst stufenweise zur Metaphysik hinzuleiten. Das bringt den
Kant selbst steht durch seinen Lehrer, den Wolffianer Martin Vorteil, innerhalb der Metaphysik das Abstrakte jeweils durch
Knutzen, in der UÚberlieferung der Leibniz-Wolffschen Schule. das vorausgeschickte Konkrete »in die gróbBte Deutlichkeit zu
Alle seine Schriften vor der »Kritik der reinen Vernunit« be- stellen«. Aber dieses Vorgehen hat noch einen Vorteil; Kant
wegen sich im Fragebereich und in der Denkart der zeitgenôssi- Mmgt darúáber: » Ich kann nicht umhin noch eines Vorteils zu ge-
schen Schul-Philosophie, auch da, wo Kant schon streckenweise denken, der zwar nur auf zufilligen Ursachen beruht, aber
eigene Wege geht. Nur beiláufig sei erwãihnt, dal5 Kant úber fleichwokl nicht gering zu schãtzen ist, und den ich aus dieser
die Schuliiberlieferung hinaus unmittelbar in die Philosophie Methode zu ziehen gedenke. Jedermann weiB, wie eifrig der
von Leibniz eindrang — soweit dies damals móglich war — dal Anfang der Kollegien von der munteren und unbestândigen
er ebenso unmittelbar ein Durchdenken der englischen Philosor Jugend gemacht wird, und wie daranf die Hôrsãle allmiáblich
phie, insbesondere Humes fiir die Ausgestaltung seines Fragens nlwas gerãumiger werden. . .. da ..., wenn die Ontologie, eine
fruchtbar machte. Im Ganzen aber blieb die Schulphilosophia irliwer zu fassende Wissenschaft, ibn von der Fortsetzung abge-
Leibniz-Wolffscher Prigung so beherrschend, dal Kant auch hhreckt hãtte, das, was er etwa móchte begriffen haben, ibhm zu
noch in der Zeit, als er den neuen Standort seiner Philosophie tr nichts weiterhin nutzen kann, «
gewonnen hatte, also nach Erscheinen der »Kritik der reinen Das Lebrbuch von Baumgarten vermittelt uns die Gestalt der
Vernuntt« und der folgenden Werke, an dem Brauch festhielt, Iiblichen Metaphysik des 18. Jahrhunderts, die Kant unmittel-
in den Vorlesungen die Handbiicher der Schulphilosophie zu- br vor Augen stand und die schlieBlich jenes Werk erzwang,
grunde zu legen und deren Texte fortlaufend von Paragraphen Init dem Kant diese Metaphysik aus den Angeln hob und die
zu Paragraphen zu erlâutern. Kant hat in seinen Vorlesungen l'tnge nach der Metaphysik neu stellte.
niemals von seiner Philosophie gesprochen, wenngleich sich in Die Metaphysica Baumgartens verteilt den gesamten Lehr-
der spiteren Zeit beim Durchsprechen der Lehrbiicher oder Mult der Metaphysik in genau 1000 kurze Paragraphen. Das
»Lesebiicher«, wie man damals sagte, die neu gewonnene Denks Hinnze ist entsprechend der sehulmábigen Gliederung in 4 Teile
art nicht vôllig ausschalten lieB. Fúr seine Metaphysikvorlesung hingeteilt: T. Ontologia (Metaphysica generalis) S$ 4-550; II.
hat Kant das schon genannte Lehrbuch von Alexander Baum» Liomologia SS 351-500; II. Psychologia $$ 501-799; IV.
garten zugrunde gelegt. Kant schãtzte dieses Lehrbuch » vor: Theologia naturalis $$800-1000.
116 Kants Weise nach dem Ding zu fragen $ 20. Rationale Metaphysik 117

Aber die Anfilhrung dieses AuBeren sagt uns nicht viel úber die alte, und doch sagt der Begriff der Metaphysik kennzeich-
die rationale Metaphysik, die Metaphysik aus reiner Vernunh, nenderweise unmittelhbar davon nichts. Unmittelbar nicht —;
auch wenn wir uns an das erinnern, was iiber den Grundzug die Definition sagt aber ebensowenig, der Gegenstand der
der neuzeitlichen Metaphysik und ihre Begrindung gesagt Metaphysik sei die Erkenntnis als solche. Wir miissen númlich
wurde. Wir kinnen uns andererseits nicht auf den geschlosse- diese Begriffsbestimmung so verstehen, dal cognitio humana
nen Inhalt einlassen, der an sich selbst nicht so sehr weitlâulig nicht das menschliche Erkenntnisvermôgen meint, sondern das
ist, der aber auf Grund der mathematisch-rationalen Gestal- vom Menschen aus reiner Vernunft Erkennbare und Exrkannte.
tung und Begriindungsform ein sehr verwickeltes Gebilde dar Dieses ist das Seiende. Dessen » Anfangsgrinde« gilt es heraus-
stellt. rustellen, d. h. die Grundbestimmungen seines Wesens, das
Und doch ist es notwendig, dalB wir uns von dieser » Metas Mein. Aber weshalb sagt die Begriffsbestimmung nicht einfach
physica« eine bestimmtere Vorstellung verschaffen, um den dies, so, wie es Aristoteles schon bestimmte: “Eotw êmothpn tie
Ubergang von ihr zur » Kritik der reinen Vernunft« mit einigem | liemwpst Tô Bv f) Ov xai Tá toútw daráprovTa xa adro. (Metaph. T,
Verstândnis zu vollziehen. Wir kennzeichnen die genannte tu Beginn)
Metaphysik behelfsweise durch die Erórterung von drei Fras Warum ist jetzt die Rede vom Erkennbaren und der Er
gen: 1. Wie bestimmt diese Metaphysik ihren eigenen Begrifl? lenntnis? Weil jetzt, seit Descartes, das Erkenntnisvermigen,
2. Wie ist in dieser unmittelbar vorkantischen Metaphysik das (lie reine Vernuntt, eigens als dasjenige fest gemacht ist, an des-
90 Wesen der Wahrheit verstanden, deren hôchste menschliche en Leitfaden die Bestimmungen iiber das Seiende, das Ding,
Verwirklichung auf dem Felde der Erkenntnis die Metaphysik In strenger Ausweisung und Begrindung aufegestellt werden
darstellen soll? 3. Welches ist der innere Bau der Metaphysik? mwllen. Das Mathematische ist jenes Galileische »mente conci-
Durch die Beantwortung dieser drei Fragen vollziehen wit pores«; in der Aufsteigerung zur Metaphysik heiBt es jetzt: Es
noch einmal eine einheitliche Besinnung auf den mathematis ill, aus dem Wesen der reinen Vernunfterkenntnis den fúir
schen Grundzug der neuzeitlichen Metaphysik. Wir ersehen llles weiterhin Erkennbare maBgebenden Entwuxf des Seins
daraus, was diese Metaphysik aus reiner Vernunft zu sein beans ilvs Seienden zu setzen. Das geschieht zunichst in der meta-
sprucht; wir entnebmen vor allem, welche Gestalt in ibhr dis pliysischen Grunddisziplin, in der Ontologia; nach $ 4 ist sie
Frage nach dem Ding angenommen hat. lin scientia praedicatorum entis generaliorum; Kant (a.a. O.
Zu 1. Wie bestimmt diese Metaphysik ihren eigenen Begrifl? 1, 155 E.) úbersetzt: » Wissenschaft von den allgemeineren Ei-
Der $ 1 lautet: Metaphysica est scientia prima cognitionis hus Itunschaften aller Dinge«. Wir ersehen hieraus einmal, daB der
manae principia continens. » Metaphysik ist die Wissenschall, Ilugriff des Dinges sehr weit, so weit als mõôglich gefaBt wird. 91
die die ersten Anfangsgrinde der menschlichen Erkenntnin 1lJing« ist jegliches, was ein Seiendes ist; auch Gott, die Seele,
enthãlt (umfaBt).« Diese Begriffsbestimmung der Metaphysilk lie Welt gehôren zu den Dingen. Wir ersehen weiter, daB die
erweckt den Anschein, als handle es sich in der Metaphysik um Dingheit der Dinge sich auf dem Grunde und am Leitfaden der
eine Lehre von der Erkenntnis, also um Erkenntnistheorie; bis. lirundsãtze der reinen Vernunit bestimmt. Als solche Grund-
her galt aber doch die Metaphysik als die Wissenschaft vom Milne lernten wir kennen: den Ichsatz und den Widerspruchsatz
Seienden als solchem, d. h. vom Sein des Seienden. Allein, diesn lim] den Satz vom Grund. Damit stehen wir unmittelbar bei
Metaphysik handelt ebenso vom Seienden und vom Sein wia 1lur Reantwortung der zweiten Frage.
118 Kants Weise nach dem Ding zu fragen $ 20, Rationale Metaphysik 119

Zu 2. Wie ist in der vorkantischen Metaphysik des 18. Jahr- sind die ehernen Sãtze der Vernuntt selbst: der Ichsatz und der
hunderts das Wesen der Wahrheit verstanden, deren hóchste Widerspruchsatz und der Satz vom Grund. Die Wahrheit dar-
menschliche Verwirklichung auf dem Felde der Erkenntnis die iiber, was die Dinge in ihrer Dingheit sind, bestimmt sich aus
Metaphysik darstellen soll? den Grundsãtzen der reinen Vernuntt, d. h. in dem gekenn-
Nach dem iiberlieferten Begriff ist die Wahrheit (veritas) die zeichneten wesentlichen Sinne: mathematisch. Diesem Wahr- 92
adaequatio intellectus et rei, die Angleichung von Denken und heitsbegriff gemaB muB sich auch der innere Bau der ganzen
Ding; statt adaequatio sagt man auch commensuratio oder Metaphysik gestalten. Damit stellen wir die dritte Frage.
convenientia, Anmessung oder Ubereinkuntft. Diese Wesensbe- Zu 3. Welches ist der innere Bau dieser Metaphysik? Wir
stimmung der Wahrheit ist doppeldeutig, welche Doppeldeutig- kônnen am AuBeren, an der Einteilung und Abfolge der Diszi-
keit auch schon im Mittelalter die Wahrheitsfrage leitete. Es plinen, schon einiges ablesen. Der Baugrund ist die Ontologie
liegt auf ihr noch der Ab- und Nachglanz einer einstmals ur- und die Spitze des Baues die Theologie. Jene handelt von dem,
spriinglicheren, wenn auch kaum ergriffenen Wesenserfahrung Was zu einem Ding iiberhaupt, zu einem Seienden im allgemei-
der Wahrheit im Anfang des griechischen Daseins. Als adae- nen (oder in communi), dem ens commune gehõrt; diese, die
quatio ist Wahrheit einmal eine Bestimmung der ratio, der Theologie, handelt vom hóchsten und eigentlichsten Seienden
Aussage, des Satzes. Wahr ist ein Satz, sofern er sich an die schlechthin, vom summum ens. Inhaltlich finden wir diese Glie-
Dinge angleicht. Die Bestimmung der Wahrheit als Anglei- derung der Metaphysik auch im Mittelalter, sogar schon bei
chung gilt aber nicht nur vom Satz im Verhãltnis zu den Din- Aristoteles. Das Entscheidende ist aber, daB inzwischen durch
gen, sondern auch von den Dingen, sofern sie als geschaffene die Entfaltung und Selbstklárung des neuzeitlichen Denkens
auf den Entwurf eines schôpferischen Geistes bezogen, diesem nls des mathematischen der Anspruch der reinen Vernuntt die
gemãB sind. Wahrheit ist — so gesehen — die Angemessenheit Herrschaft ibemommen hat. Das will sagen: Auf Grund und
der Dinge an ihr von Gott erdachtes Wesen. um Leitband der allerallgemeinsten Grundsãtze der reinen
Wir fragen vergleichend: Wie lautet die Wesensbestimmung Vernuntt sollen die allgemeinsten Bestimmungen des Seins des
der Wahrheit in der neuzeitlichen Metaphysik? Baumgarten Seienden entworfen werden. Aber zugleich soll aus diesen all-
gibt im $ 92 seiner » Metaphysik« folgende Bestimmung;: veri- Roemeinsten Begriffen in rein vernunfigemãBer Zergliederung
tas metaphysica potest definiri per convenientiam entis cum und Folgerung derselben das gesamte Wissen von der Welt,
principiis catholicis. » Die metaphysische Wahrheit« — d. h. die ynn der Seele und von Gott abgeleitet werden.
Wahrheit der metaphysischen Erkenntnis — » kann bestimmt So entscheidet die reine innere Gesetzlichkeit der Vernunft
werden als Ubereinkunft des Seienden mit den allerallgemein- nus ibren Grundsãtzen und Grundbegriffen úber das Sein
sten Anfangsgriinden«. Principia catholica sind die Grund- (los Seienden, die Dingheit der Dinge. In dieser reinen Ver-
sãtze (Axiome), und zwar die »katholischen« (nach dem grie- munfterkenntnis sol die Wahrheit úber das Seiende fiir alle
chischen xatórov), d. h. auf das Ganze zu gerichteten Grund- minenschliche Vernuntft als unbezweifelbare und allgemeinver-
sãtze, die etwas vom Seienden im Ganzen und vom Sein des bindliche GewiBheit ihre Begriindung und Gestaltung bekom-
Seienden iiberhaupt aussagen. Diesen Grundsãátzen gemiil) Win,
miissen alle metaphysischen Sãtze, die das Sein und seine Be- Die reine Vernuntt in dieser ihrer Selbstgestaltung, die reine
stimmtheiten festlegen, aufgestellt werden. Diese Grundsãtzo Vernuntt in diesem Anspruch, die reine Vernuntt als der maB-
120 Kants Weise nach dem Ding zu fragen

gebende Gerichtshof fiir die Bestimmung der Dingheit aller


Dinge iiberhaupt — diese reine Vernuntt ist es, die Kant in die
»Kritikestellt, |
MAL

ZWEITES KAPITEL

Die Dingfrage in Kants Hauptwerk

$21. Was heift » Kritik« bet Kant?

Auf welchem Wege Kant selbst zu dieser » Kritik« kommt, wel-


ches die innere und áâubBere Entstebungsgeschichte des Werkes
»Kritik der reinen Vernunft« ist, das wollen wir nicht verfol-
gen. Es ist kennzeichnend, dalBb wir von dieser Zeit seines
Schweigens auch aus Briefen wenig erfahren; aber selbst wenn
wir mehr wiBten, wenn wir genau zusammenrechnen kônnten, 95
von woher Kant beeinfluBt wurde u.s.f., in welcher Abfolge er
die einzelnen Stiicke des Werkes ausarbeitete, kinnten wir dar-
aus weder das Werk erklãren — Schôpferisches ist unerklárbar —,
noch kônnte uns diese Neugier auf die Werkstatt Kants dienlich
sein fiir das Verstândnis, gesetzt, daB wir nicht im voraus wis-
sen und begreifen, was Kant in seinem Werk will und leistet.
Darum allein handelt es sich jetzt. Genauer: um das Vorlâufi-
gere, das Verstândnis des Titels.
Was »reine Vernuni£t« meint, wissen wir jetzt. Es bleibt noch
zu fragen: Was heiBt »Kritik«? Es kann sich hier nur darum
handeln, eine Vordeutung auf das zu geben, was »Kritik«
meint. Wir sind gewohnt, bei der Nennung dieses Wortes so-
gleich und vor allem etwas Verneinendes herauszuhõóren. Kritik
ist uns Bemângelung, Nachrechnung von Fehlern, Herausstel-
lung des Unzureichenden und die entsprechende Zuriúckwei-
sung. Wir mússen bei der Anfúhrung des Titels » Kritik der rei-
nen Vernuntt« diese gewihnliche und abwegige Bedeutung
von vornherein fernhalten. Sie entspricht auch nicht der ur-
sprimelichen Bedeutung des Wortes. »Kritik« kommt vom
griechischen xoivew; dies bedeutet: »sondern«, »absondern«
und so » das Besondere herausheben«. Diese Abhebung gegen
anderes entspringt einem Hinaufheben auf einen nenen Rang.
122 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 21.» Kritifiz bei Kant 125
Der Sinn des Wortes » Kritik« ist so wenig negativ, dal er das gibt einen vôlligen Uberschlag iiber das ganze Vermógen der rei-
Positivste des Positiven meint, die Setzung desjenigen, was bei nen Vernuntt; sie zeichnet und umreiBt nach einem Wort Kants
aller Setzung als das Bestimmende und Entscheidende im vor: den » VorriBi« (B XXIII) der reinen Vernuntt. Kritik wird so
aus angesetzt werden mufB. So ist Kritik Entscheidung in die- sur Grenzen ziehenden Ausmessung des ganzen Bereichs der
sem setzenden Sinne. Erst in der Folge, weil Kritik Absonde- reinen Vernuntt. Diese Ausmessung vollzieht sich, wie Kant
rung und KHeraushebung des Besonderen, Ungemeinen und musdriicklich und immer wieder einschárft, nicht durch Bezug-
zugleich MaBgebenden ist, ist sie auch Zurickweisung des Ge- nabme auf »Faktis« sondem sie geschieht aus Prinzipien,
wôhbnlichen und UngemãBen. nicht durch Feststellung irgendwo angetroffener Eigenschaf-
Diese Bedentung des Wortes » Kritik« kommt in der zwelten len, sondern durch Bestimmung des vollen Wesens der reinen
Hãlfte des 18. Jahrhunderts auf einem eigenen Wege zum Vor- Vernunft aus ihren eignen Grundsãtzen. Kritik ist Grenzen zie-
schein: in den Erôrterungen úiber die Kunst, iilber das Gestalten hender, ausmessender Entwurf der reinen Vernuntt. Deshalb
der Kunstwerke und das Verhalten zu ibmen. Kritik heiBt Feste nehõrt zur Kritik als Wesensmoment das, was Kant das Archi-
setzung des MabBgebenden, der Regeln, heiBt Gesetzgebung, lektonische nennt.
und das bedeutet zugleich Heraushebung des Allgemeinen ges Sowenig wie die Kritik eine bloBe » Zensur« ist, sowenig ist
genúber dem Besonderen. In dieser zeitgenissischen Bedeu- die Architektonik, der baumeisterliche Entwurf des VWesens-
tungsrichtung liegt Kants Gebrauch des Wortes »Kritik«, clas hbnues der reinen Vernuntt, ein bloBer »Aufputze. (Zum Ge-
er nachher auch in den Titel zweier anderer Hauptwerke setzle! brauch des Titels »architektonisch« vel. Leibniz, De Primae
» Kritik der praktischen Vernuntt«, » Kritik der Urteilskraft«, Philosophiae Emendatione, und Baumgarten, Metaphysica $ 4,
Aber das Wort empfiângt durch Kants Werk noch einen er: úntologia als metaphysica architectonica).
fúillteren Sinn. Diesen gilt es jetzt zu umreiBen. Von ihm aus In dem Vollzug der so verstandenen » Kritikk« der reinen Ver-
lãBt sich erst in der Folge die verneinende Bedeutung verstes nunft kommt das » Mathematische« im grundsãtzlichen Sinne
94 hen, die das Wort bei Kant auch hat. Wir versuchen, dies im nllererst zu seiner Entfaltung und zugleich zu seiner Aufhe-
Riickblick auf das bisher Dargestellte deutlich zu machen, ohno hung, d. h. an seine eigene Grenze. Dies gilt auch von der
schon eigens auf Kants Werk einzugehen. rkritik«. Gerade sie liegt im Zuge des neuzeitlichen Denkens
Die » Kritik der reinen Vernunft« wird, wenn Kritik den ge. Iiberhaupt und der neuzeitlichen Metaphysik im besonderen.
kennzeichneten positiven Sinn hat, nicht die reine Vernunht Die » Kritik« Kanis aber fihrt gemiãB ihrer Ursprimelichkeit zu
einfach zuriickweisen und bemiângeln, » kritisieren«, vielmehr hiner nenen Wesensumgrenzung der reinen Vernunft und da-
darauf ausgehen, ihr entscheidendes und besonderes und somil Init zugleich des Mathematischen.
ihr eigentliches Wesen erst zu umgrenzen, Diese Grenzziehung
ist in erster Linie nicht Abgrenzung gegen ..., sondern Ein-
grenzung im Sinne des Aufweisens der inneren Gliederung dor
reinen Vernuntt. Die Abhebung der Bauglieder und des Glieder:
baues der reinen Vernuntt ist ein Herausheben der verschieda:
nen Múiglichkeiten des Vernunftgebrauchs und der entsprechen-
den Regeln. Wie Kant einmal betont (A 768, B 796): Die Kritilk
124 Die Dingfrage in Kanis Hauptwerk $ 22. »Kritilkkx und »System aller Grundsãtze« 125
$22. Zusammenhang der » Kritifi« der reinen Vernunft Seins (der Dingheit) der Dinge, d. h. der Kategorien wurde. Die
mit dem » System aller Grundsátze des reinen Verstandes « Aussage: »Das Haus ist hoch« nennt man auch ein Urteil. Das
Urteilen ist ein Akt des Denkens. Das Urteilen ist eine beson-
95 Es ist kein Zufall, daB die Kritik der reinen Vernuntt durch dere Weise, wie Vernuntt sich vollzieht und handelt. Die reine
Kant stindig von einer Besinnung auf das Wesen des Mathe- Vernunft als urteilende Vernunft nennt Kant Verstand, den
matischen und der Mathematik begleitet ist, von einer Abgren- reinen Verstand: Die Sãtze, Aussagen, sind Verstandeshandlun-
zung der im engeren Sinne mathematischen Vernuntt gegen- gen. Das gesuchte System der Grundsãtze aller Sãtze ist daher
iiber der metaphysischen, d. h. derjenigen, auf die eine Meta- das System der Grundsãtze des reinen Verstandes.
physik, ein Entwurf des Seins des Seienden, der Dingheit der Wir versuchen, Kants » Kritik der reinen Vernunit« aus der
Dinge gegriindet werden muB; denn auf diese Begrindung der grundlegenden Mitte her zu verstehen. Deshalb setzen wir mit
Metaphysik kommt eigentlich alles an. Es sei an die Definition der Auslegung an der Stelle ein, die iiberschrieben ist » System
der Metaphysik bei Baumgarten und an die Definition der me- aller Grundsãtze des reinen Verstandes« (A 148, B 187). Der 96
taphysischen Wahrheit erinnert. Kritik der reinen Vernuntt gesamte Abschnitt, um den es sich handelt, erstreckt sich bis
heiBt Ausgrenzung der Bestimmtheit des Seins des Seienden, A 2535 und B 294.
der Dingheit der Dinge aus reiner Vernunt, heiBt: Ausmes- Es ist Sache der Auslegung, unser Fragen und Wissen so
sung und Entwurf derjenigen Grundsãtze der reinen Vernuntt, durch das herausgegriffene Stick hindurchzufiihren, daB dabei
auf deren Grund sich so etwas wie ein Ding in seiner Dingheit ein Verstândnis des Gesamtwerkes entsteht. Aber auch dieses
bestimmt. Verstehen dient nur der Einsicht in die Frage: » Was ist ein
Wir entnebmen hieraus schon, daf in dieser »Kritik« der Ding? «
»mathematische« Grundzug der neuzeitlichen Metaphysik fest- Zur Vorbereitung kônnen aus dem Werk vereinzelte Ab-
gehalten wird, námlich im vorhinein aus Grundsátzen das Sein schnitte gelesen werden, in denen die eigentliche Fragestellung
des Seienden zu bestimmen. Der Ausgestaltung und Begriin- nicht unmittelbar vorkommrt, die aber geeignet sind, Licht ilber
dung dieses » Mathematischen« gilt die eigentliche Anstren- einige Grundbegriffe Kants zu verbreiten. Es seien drei solcher
gung. Die Grundsitze der reinen Vernunft miissen gemãf ih- Abschnitte genannt:
rem eigenen Charakter begrimdet und bewiesen werden. Es 1) Von A 19, B 35 bis À 22, B 356. 2) Von À 50, B 74 bis A 62,
liegt zugleich im Wesen der Grundsãtze, daB sie unter sich ei- B 86.3) Von A 298, B 355 bis À 320, B 377.
nen gegrimdeten Zusammenhang darstellen, einheitlich aus Dagegen empfiehlt es sich nicht, schon die beiden » Vorreden«
einer inneren Einheit zusammengehõren. Eine solche Einheit zu À und B oder gar die entsprechenden» Einleitungen«zu lesen,
nach Prinzipien nennt Kant ein System. Die Kritik als Ausmes- weil sie den Einblick in das Ganze des Werkes voraussetzen.
sung des inneren Baues und des Baugrundes der reinen Ver- Wir versuchen mit unserer Auslegung, den Bau des Werkes
nuntft steht somit vor der grundlegenden Aufgabe, das System nicht von auBen zu betrachten und zu umschreiben. Wir stellen
der Grundsãátze der reinen Vernunft darzustellen und zu be- uns vielmehr in den Bau selbst, um etwas von seinem Gefiige
grúnden. zu erfahren und den Standort fiir den Blick auf das Ganze zu
Wir wissen aus Friiherem, daf schon fiir Aristoteles der Satz gewinnen.
als einfache Aussage zum Leitfaden der Bestimmungen des Wir folgen dabei nur einer Anweisung, die Kant selbst ein-
126 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 23. Auslegung des zweiten Hauptstiicks 187

mal in einer hingeworfenen Uberlegung festgehalten hat. Es Wissens von den Dingen gegriindet wird. Kant bringt so einen
handelt sich um die Beurteilung von philosophischen Werken: Bereich zur Abhebung und Ausgrenzung (Kritik), von dem aus
» Man muB seine Beurtheilung vom Ganzen anfangen und auÍ nllererst entschieden werden kann, wie es mit der Dingbestim-
die Idee des werks samt ihrem Grunde richten. Das úbrige ge- mung und der Wahrheit der bisherigen Metaphysik steht, ob in
hõrt zur Ausfiilhrung, darin manches kan gefehlt seyn und bes- ihr das Wesen der Wahrheit wahrhaft bestimmt ist, ob in ihr
ser werden.« (Akademieausgabe WW XVIII, Nr. 5025) wirklich ein streng axiomatisches, d. h. mathematisches Wissen
Kritik der reinen Vernuntt ist zuerst Durchmessung und in eindeutiger Folge seinen Gang nimmt und dabei ins Ziel
Ausmessung ihres Wesens und ihres Gefúges. Die Kritik weisl kommt, oder ob diese rationale Metaphysik — wie Kant sagt —
die reine Vernunft nicht zuriick, sondern setzt sie erst in dio nur ein » Herumtappen« ist, und zwar ein Herumtappen in
Grenzen ihres Wesens und ihrer inneren Einheit. *bloBen Begriffen«, die ohne Ausweisung an den Sachen selbst
Kritik ist die Selbsterkenntnis der vor sich selbst und auf sich und daher ohne Recht und Gúltigkeit bleiben. Die Ausmessung
selbst gestellten Vernuntt. Kritik ist so der Vollzug der inner- ler reinen Vernunte mui mit Ricksicht auf die Metaphysik aus
sten Verniinftigkeit der Vernuntt. Die Kritik vollendet die Aul- reiner Vernunft zugleich ab-messen, wie Metaphysik, d. h. nach
Kkliirung der Vernunft. Vernuntt ist Wissen aus Prinzipien und der Definition, wie die Wissenschaft von den Anfangsgrinden
somit selbst das Vermôgen der Prinzipien und Grundsãtze, der menschlichen Erkenntnis móúglich ist. Wie steht es mit der
Eine Kritik der reinen Vernunft im positiven Sinne muB dahen menschlichen Erkenntnis und ihrer Wahrheit?
die Grundsãátze der reinen Vernuntt in ihrer inneren Einheit (Die folgende Auslegunsg holt nach, was in der Schrift » Kant
und Vollstândigkeit, d. h. in ihrem System herausstellen. und das Problem der Metaphysik« (1929) fehlt; vel. das Vor-
Wwort zur 2. Auflage, 1950.
Der Titel dieser Schrift ist ungenau und fihrt deshalb leicht
$ 23. Auslegung des zweiten Hauptstiickes der transzendentas. mu dem Mibverstândnis, als handle es sich bei dem » Problem
len Analytik: » System aller Grundsitze des reinen Verstandes« ler Metaphysik« um die Problematik, deren Bewiltigung der
Metaphysik aufgegeben sei. »Das Problem der Metaphysik«
97 Die Auswahl gerade dieses Stitckes aus dem ganzen Werk er meint jedoch die Fragwirdigkeit der Metaphysik als solcher.)
seheint zunichst willkiúrlich. Sie lãBt sich allenfalls damit recht- Kant gibt auf das zweite Hauptstiick, worin er das System
fertigen, da uns dieses Hauptstiick im Hinblick auf unsera nller Grundsãtze behandelt, einen Riickblick, und zwar am Be-
Leitfrage, die Frage nach der Dingheit des Dinges, besondera inn des Stiickes, das iiberschrieben ist: » Von dem Grunde der
Einblicke verschafft. Aber auch dies bleibt zunãáchst nur eine Interscheidung aller Gegenstânde úiberhaupt in Phaenomena
Behauptung. Die Frage erhebt sich, ob fiir Kant selbst und fir und Noumena« (A 235, B 294). In einem anschaulichen Ver- 98
die Art, wie er sein Werk begrilf, gerade dieser Abschnitt eina aleich verdeutlicht er, worauf es ihm mit der Aufstellung des
so betonte Bedeutung hat, ob wir im Sinne Kants sprechen, hystems aller Grundsãtze des reinen Verstandes ankam: » Wir
wenn wir diesen Abschnitt die Mitte des Werkes nennen. Dicsa hnben jetzt das Land des reinen Verstandes nicht allein durch-
Frage ist zu bejahen; denn in der Aufstellung und einheitli- reist, und jeden Teil davon sorgfâáltig in Augenschein genom-
chen Begriindung dieses Systems aller Grundsãtze des reinem nen, sondern es auch durchmessen, und jedem Dinge auf dem-
Verstandes gewinnt Kant den Boden, auf den die Wahrheit dos hlben seine Stelle bestimmt. Dieses Land aber ist eine Insel,
128 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 23. Auslegung des zweiten Hauptstiicks 129

und durch die Natur selbst in unverânderliche Grenzen einge- wird im System aller Grundsãtze des reinen Verstandes gege-
schlossen. Es ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name), ben. Kant sagt daher auch (Proleg. $ 235), dal diese Grundsãtze
umgeben von einem weiten und stitrmischen Ozeane, dem ei- »ein physiologisches, d. i. ein Natursystem ausmachen«. In $ 24
gentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank, und man- nennt er sie dann auch die » physiologischen Grundsãtze«. » Phy- 99
ches bald wegschmelzende Eis neue Linder litgt, und indem es siologische« ist hier im urspriinglichen und alten Sinne verstan-
den auf Entdeckungen herumschwãirmenden Seefahrer unauf- den, nicht im heutigen; heute meint Physiologie die Lehre von
hôrlich mit leeren Hoffnungen tãuscht, ibn in Abenteuer ver- den Lebensvorgângen im Unterschied von der Morphologie als
flechtet, von denen er niemals ablassen und sie doch auch nie- der Lehre von den Gestalten des Lebendigen. Im Wortgebrauch
mals zu Ende bringen kann.« Kants ist gemeint: 2óyos der quous, die Grundaussagen iiber die
Natur, aber quo jetzt im Sinne Newtons gedacht.
a) Kants Begriff der Erfahrung Nur indem ausdriicklich und in begriindeter Weise von dem
festen Boden der ausweisbaren Erkenntnis, dem Land der Er-
Das durchmessene und ausgemessene Land, der feste Boden der fahrung und der Karte dieses Landes, Besitz genommen wird,
Wahrheit, ist der Bereich der gegrimdeten und begrimndbaren ist eine Stellung bezogen, von der aus iiber die Gerechtsame
Exrkenntnis, Diese nennt Kant » Erfahrung<«. Daher entsteht die und die AnmaBungen der iiberlieferten rationalen Metaphysik,
Frage: Welches ist das Wesen der Erfahrung? Das » System al- d. h. iiber deren Môglichkeit entschieden werden kann.
ler Grundsãtze des reinen Verstandes<« ist nichts anderes als der Die Aufstellung des Systems der Grundsãtze ist die Besitz-
AufriB des Wesens und Wesensbaues der Erfahrung. Das We- nahme des festen Landes mõglicher Wahrheit der Erkenntnis.
sen einer Sache ist nach der neuzeitlichen Metaphysik dasje- Sie ist der entscheidende Schritt im Ganzen der Aufgabe der
nige, was die Sache als solche in sich móglich macht: die Móg- Kritik der reinen Vernuntt. Dieses System der Grundsãtze ist
lichkeit, possibilitas, verstanden als das Ermúiglichende. Die das Ergebnis einer eigentimmlichen Zergliederung (Analysis)
Frage nach dem Wesen der Erfahrung ist die nach ihrer inne- des Wesens der Erfahrung. Kant schreibt einmal in einem Brief
ren Móglichkeit. Was gehórt zum Wesen der Erfahrung? In am seinen Schúler Jak. S. Beck vom 20. Januar 1792, 10 Jahre
dieser Frage liegt aber zugleich: Was ist das Wesen dessen, was nach Erscheinen der » Kritik der reinen Vernunfte«: »die Analy-
in der Erfahrung in Wahrheit zugãânglich wird? Denn wenn sis einer Erfahrung úiberhaupt und die Prinzipien der Móglich-
Kant das Wort Erfahrung gebraucht, versteht er es immer in keit der letzteren [sind] gerade das schwerste von der gan-
einem wesenhaft doppelten Sinne: ren Kritike«. (Briefe, Cassirer X, 114; Akademicausgabe XI,
1. Das Erfahren als Geschebnis und Handlung des Subjekts 513 E.) Fur den Vortrag dieses schwersten Stiickes der » Kritik
(Ich). 2. Das in solcdhem Erfahren Erfahrene selbst und als sol- der reinen Vernuntt« gibt Kant in demselben Brief die Anwei-
ches. Die Erfahrung im Sinne des Erfahrenen und Erfahrba- sung: » Mit einem Worte: da diese ganze Analysis nur zur
ren, der Gegenstand der Erfahrung, ist die Natur, und zwar Absicht hat, darzutun: daB Erfahrung selbst nur vermittelst
Natur verstanden im Sinne von Newtons »Prinzipien« als iewisser synthetischer Grundsitze a priori móglich sei, dieses
»Systema mundi«. Die Begriindung der inneren Môóglichkeit nber alsdann, wenn diese Grundsãtze wirklich vorgetragen wer-
der Erfahrung ist daher fir Kant zugleich die Beantwortung den, allererst recht faBlich gemacht werden kann, [. . .] so kurz
der Frage: Wie ist eine Natur iilberhaupt móglich? Die Antworl wie mõglich zu Werke zu gehen.« Hier ist ein Doppeltes klar
130 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 23. Auslegung des zweiten Hauptstiicks 131

betont: 1. fiir die rechte Einsicht in das Wesen der Erfahrung, Erinnern wir uns jetzt noch kurz an die einleitenden Betrach-
d. h. der Wahrheit der Erkenninis, ist das Entscheidende der tungen zu Beginn der ganzen Vorlesung. Dort stellten wir die
wirkliche Vortrag des Systems der Grundsátze; 2. die Vorberei- Frage nach dem Ding im Umbkreis dessen, was uns tagtãglich
iung dieses Vortrages ist móglichst knapp zu fassen. zunãchst umgibt und begegnet. Damals entstand die Frage,
Wir erfúillen daher nur eine klare Anweisung Kants, wenn wie sich zu den unmittelbar begegnenden Dingen die Gegen-
wir das System der Grundsãtze herausgreifen und die Ausle- stânde der Physik, also die Naturdinge, verhalten. Im Blick auf
gung dieses Stúckes so anlegen, dal alles im voraus dazu Be- Kants Wesensbestimmung des Dinges als Naturding kinnen
nôtigte móglichst knapp zusammengefaBt und im Verlauf der wir ermessen, dal Kant von vornherein die Frage nach der
Auslegung selbst beigeschafft wird. Dingheit der uns umgebenden Dinge nicht stellt. Diese Frage
hat fúr ibn kein Gewicht. Sein Blick heftet sich sogleich auf das
b) Das Ding als Naturding Ding als Gegenstand der mathematisch-physikalischen Wissen-
schaft.
100 Das System der Grundsãtze des reinen Verstandes ist im eigen- DaB fúr Kant diese Hinsicht bei der Bestimmung der Ding-
sten Sinne Kanits die innere tragende Mitte des ganzen Werkes. heit des Dinges maBgebend wurde, hat Griinde, die wir jetzt,
Dieses System der Grundsãtze soll uns iiber die Frage Auf- nach der Kennzeichnung der Vorgeschichte der Kritik der rei-
schlufb geben, wie Kant das Wesen des Dinges bestimmt. Was nen Vernuntt, leicht ermessen. Die Bestimmung des Dinges als
im vorigen úber die Bedeutung des Systems der Grundsãtze Naturding hat indes auch Folgen, fir die freilich Kant selbst
gesagt wurde, gibt schon eine Vordeutung auf die Art und am wenigsten verantwortlich gemacht werden darf. Man
Weise, wie Kant das Wesen des Dinges umgrenzt und in wel- kônnte der Meinung huldigen, das Úberspringen der uns um-
cher Weise er es iilberhaupt fitr bestimmbar hãlt. gebenden Dinge und der Auslegung ibrer Dingheit sei ein Ver-
»Ding« — das ist der Gegenstand unserer Erfahrung. Da der siiumnis, das sich leicht nachholen und der Dingbestimmung 101
Inbegriff des múglichen Erfahrbaren die Natur ist, so muB in der Naturdinge anfúgen oder allenfalls auch vorordnen lasse.
Wahrheit das Ding als Naturding begriffen werden. Zwar un- Aber dies ist unmôglich, weil die Dingbestimmung und die Art
terscheidet gerade Kant das Ding in der Erscheinung und das ibres Ansatzes grundsãtzliche Voraussetzungen in sich schlieBt,
Ding an sich. Aber das Ding an sich, d. h. abgelôst von und die sich auf das Ganze des Seins und den Sinn des Seins iiber-
herausgenommen aus jeglichem Bezug der Bekundung fir uns, haupt erstrecken. Wenn man es sonst nicht wahrhaben will,
bleibt fúr uns ein bloBes X. In jedem Ding als Erscheinung mittelbar ist gerade aus der Dingbestimmung Kants dieses zu
denken wir zwar unvermeidlich dieses X mit; aber in Wahr- lernen: dal nimlich ein einzelnes Ding fúir sich nicht móglich
heit bestimmbar und in seiner Weise als Ding erkennbar ist nur und daher die Dingbestimmung nicht durch Bezugnahme auf
das erscheinende Naturding. Wir fassen kúnftig Kants Antwort einzelne Dinge vollziehbar ist. Das Ding als Naturding ist nur
auf die Frage nach dem Wesen des uns zugânglichen Dinges in bestimmbar aus dem Wesen einer Natur úiberhaupt. Entspre-
die zwei Sãtze zusammen: 1. Das Ding ist Naturding. 2. Das chend und erst recht ist das Ding im Sinne des uns zunãchst —
Ding ist der Gegenstand mõglicher Erfahrung. Hier ist jedes vor aller Theorie und Wissenschaft — Begegnenden nur be-
Wort wesentlich, und zwar in der bestimmten Bedeutung, die flimmbar aus einem Zusammenhang, der vor aller und túiber
es durch Kants philosophische Arbeit erlangt hat. nller Natur liegt. Das geht so weit, daB selbst die Dinge der
132 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 23. Auslegung des zweiten Hauptstiicks 155
Technik, obzwar sie dem Anschein nach erst auf Grund der wis- Kant in einem inneren Zusammenhang mit der Dreizahl der
senschaftlichen Naturerkenntnis hergestellt werden, in ihrev úiberlieferten Grundsãtze steht. In welchem Sinne das zutrifft,
Dinghaftigkeit etwas anderes sind als etwa Naturdinge mit der wird die Auslegung zeigen. Achten wir zuerst auf die Úber-
Auflage einer praktischen Verwendunr. schriften, und zwar zunãáchst auf die der beiden ersten Ab-
Dies alles aber deutet nur wieder darauf hin, daB das Fragen schnitte, dann finden wir den Begriff des obersten Grundsatzes,
der Dingfrage nichts Geringeres ist als ein entscheidendes FuB- und dies je fúr einen Gesamtbereich von Urteilen. Der allge-
fassen des wissenden Menschen inmitten des Seienden im Gan- meine Titel des ganzen Haupistickes faBt die Grundsãtze als
zen. Es fallen in der Bewiltigung oder Nichtbewiltigung oder solche des reinen Verstandes. Jetzt ist von Grundsãtzen der Ur-
Vernachlãssigung der hinreichend weit gedachten Dingfrage teile die Rede. Mit welchem Recht? Verstand ist das Vermógen
Entscheidungen, deren zeitlicher Spielraum und Abstand in zu denken. Denken aber ist: Vorstellungen in einem BewuBt-
unserer Geschichte immer nur nach Jahrhunderten zu betrach- sein vereinigen; »ich denke« heiBt: »ich verbinde«. Vorstellen-
ten ist. Die Auseinandersetzung mit dem Schritt Kants soll uns derweise setze ich ein Vorgestelltes mit einem anderen zusam-
fúr solche Entscheidungen das rechte AugenmaB verschaffen. men: » Das Zimmer ist warm«; » Der Wermut ist bitter«; » Die
Sonne scheint«. » Die Vereinigung der Vorstellungen in einem
c) Die Dreigliederung des Hauptstiickes BewunbBtsein ist das Urteil. Also ist Denken soviel als UÚrteilen
úber das System der Grundsãtze oder Vorstellungen auf Urteile iilberhaupt beziehen.« (Proleg.

Das » Hauptstiick« der »Kritik der reinen Vernunit«, das wir


$ 22)
Wenn mithin statt »reiner Verstand« in der Uberschrift des
auszulegen versuchen, beginnt A 148, B 187 und ist iilberschrie- Hauptstiickes nunmehr in den Úberschriften der beiden ersten
ben: »System aller Grundsãtze des reinen Verstandes«. Abschnitte » Urteil« steht, so ist damit sachlich nichts anderes
Das ganze Stúck, das sich bis À 235 und B 294 erstreckt, ist in senannt; Úrteil ist nur die Art, wie der Verstand als Vermõógen
drei Abschnitte gegliedert: des Denkens das Vorstellen vollzieht, Warum freilich allgemein
Il. Abschnitt » Von dem obersten Grundsatze aller analyti- » Urteil« gesagt wird und nicht reiner Verstand, wird sich aus
schen Urteile« (A 150, B 189 bis A 153, B 193). dem Inhalt der Abschnitte ergeben. (Das, was diese Handlun-
IL. Abschnitt » Von dem obersten Grundsatze aller syntheti- gen »verrichtens, die Verrichtung und das Verrichtete, ist die
schen Urteile« (A 154, B 193 bis A 158, B 197). Einheit von Vorstellungen, und zwar als selbst vorgestellte
II. Abschnitt » Systematische Vorstellung aller synthetischen Einheit, z. B. die scheinende Sonne im Urteil: »Die Sonne
Grundsãtze desselhben« (des reinen Verstandes) (A 158, B 197 scheint.«)
bis
A 235, B 287). Zugleich entnehmen wir aus den beiden ersten Uberschriften
102 Es folet eine »Allgemeine Anmerkung zum System der eine Unterscheidung der Urteile in analytische und syntheti-
Grundsãtze« (B 288 bis 294). sche. Kant bemerkt einmal in seiner Streitschrift gegen Eber-
Bei dieser Dreigliederung der Lehre Kants von den Grund- hard » Úber eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der rei-
sãtzen denken wir sofort an die drei Grundsãtze der úberliefer- nen Vernuntft durch eine àltere entbehrlich gemacht werden
ten rationalen Metaphysik: Widerspruchsatz, Ichsatz und Satz soll« (1790), es sei, um die Hauptaufgabe der Kritik der reinen
vom Grund. Es ist zu vermuten, daB die Dreigliederung bei Vernuntt auflósen zu kónnen, » freilich unumgânglich nothwen-
1354 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk

dig, einen deutlichen und bestimmten Begriff davon zu haben, $ 24. Von dem obersten Grundsatz aller analytischen Urteile.
was die Kritik erstlich unter synthetischen Urtheilen zum Unter- Erkenntnis und Gegenstand
schiede von den analytischen iiberhaupt verstehe«. Der »ge-
nannte Unterschied der Urtheile [sei] niemals gehôrig eingese- (A 150 f£., B 189 ff.)
hen worden.« (Akademieausgabe WW VIII, S. 228 u. S. 244)
1053 In den Úberschriften des ersten und zweiten Abschnittes im Im Titel des I. Abschnittes ist der »Satz vom Widerspruch« als
»Hauptstiick« iiber das »System aller Grundsiitze des reinen cines der drei Grundaxiome der iiberlieferten Metaphysik ge-
Verstandes« ist demnach mit der Unterscheidung der analyti- meint. DaB dieser Satz hier aber der »oberste Grundsatz aller
schen und synthetischen Urteile und der ihbnen zugehôrigen analytischen Urteile« genannt wird, bringt schon Kants beson-
obersten Grundsãtze etwas fiir den gesamten Fragebereich der dere Auffassung dieses Satzes zum Ausdruck. Mit dieser unter-
Kritik der reinen Vernunft Entscheidendes angezeigt. Daher ist scheidet er sich sowohl von der vorangehenden Metaphysik als
es auch kein Zufall, daB Kant in der Einleitung zu diesem Werk auch von der nachfolgenden des Deutschen Idealismus, zamal
(A 6 f., B 10 fl.) ausdriicklich und im voraus » Von dem Unter- derjenigen Hegels. Die allgemeine Absicht Kants in seiner Auf-
schiede analytischer und synthetischer Urteile« handelt. fassung des Satzes vom Widerspruch geht dahin, diesem
Aber ebenso wichtig wie der Inhalt der beiden ersten Uber- Grundsatz die leitende Rolle streitig zu machen, die er sich
schriften ist die Úberschrift des dritten Abschnittes. Hier ist insbesondere in der neuzeitlichen Metaphysik angemaBt hatte.
weder von Grundsãtzen der analytischen Urteile noch der syn- Diese Rolle des Satzes vom Widerspruch als des obersten 104
thetischen Urteile die Rede, sondern von synthetischen Grund- Axioms in aller Erkenntnis des Seins ist schon bei Aristoteles,
sátzen des reinen Verstandes. Und gerade die systematische wenn auch in einem anderen Sinne, herausgestellt. (Metaphy-
» Vorstellung« (Vorfilhrung) dieser ist das eigentliche Ziel des sik 7 3-6.)
ganzen Hauptstiickes. Am SchluB des dritten Kapitels (1005 b 33) sagt Aristoteles:
Es erscheint jetzt als das Gegebene, der Auslegung dieser drei. qúcer vão ox xai Tv Alloy dEopátoy aim návrov, » Vom Sein
Abschnitte eine Erórterung des Unterschiedes zwischen analy- her gesehen ist dieser Satz sogar auch der Grund (Prinzip) aller
tischen und synthetischen Urteilen vorauszuschicken. Allein, der anderen Axiome (Grundsãtze). «
wir ziehen es vor, gemãfB der allgemeinen Art des Ganges unse- Kant hat bereits 1755 in seiner Habilitationsschrift einen er-
rer Auslegung diese Unterscheidung dort zu behandeln, wo der sten, wenngleich noch unbestimmten VorstoB gegen die Vor-
Text es unmittelbar fordert. Wir úbergehen die einleitende Be- herrschaft des Satzes vom Widerspruch in der Metaphysik ge-
trachtung zum » Hauptstiick«; denn diese (A 148, B 187) ist nur wagt. Diese kleine Schrift trigt den kennzeichnenden Titel:
unter Bezugnahme auf die voranstehenden Stiicke des Werkes Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova diluci-
verstândlich, auf die wir nicht eingehen. Wir beginnen sogleich datio. » Eine neue Beleuchtung der ersten Grundsãtze der me-
mit der Auslegung des I. Abschnittes. taphysischen Erkenntnis.« Der Titel dieser Schrift kônnte auch
wieder iiber der fast 30 Jahre spúter erschienenen » Kritik der
reinen Vernunft«stehen.
156 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 24. Erkenntnis und Gegenstand 157

a) Erkenntnis als menschliche Erkenntnis 2. Es wird gesagt, daB unsere Urteile widerspruchsfrei sein
miissen, nicht unsere Erkenntnisse; das deutet darauf hin, daB
Allerdings bewegt sich die Erôrterung des Satzes vom Wider- die Urteile, die Verstandeshandlungen, zwar ein wesentliches,
spruch in der » Kritik der reinen Vernuntt« auf einer anderen, aber doch nur ein Bestandstiick unserer Erkenntnis ausmachen.
eigens gegriindeten Ebene und in einem durchsichtigen, den- 3. Von unserer Erkenntnis wird gesagt, daB sie je irgend-
kerisch beherrschten Bereich. Das verrãt sogleich der erste Satz, einen Inhalt hat und daB sie sich je so oder so »auf das Objekt«
mit dem der Abschnitt beginnt (A 150, B 189): » Von welchem bezieht. Statt » Objekt« gebraucht Kant oft das Wort » Gegen-
Inhalt auch unsere Erkenntnis sei, und wie sie sich auf das Ob- stande.
jekt beziehen mag, so ist doch die allgemeine, obzwar nur nega- Um diese drei herausgehobenen Bestimmungen der Erkennt-
tive Bedingung aller unserer Urteile iiberhaupt, daB sie sich nis als der menschlichen in ihrem inneren Zusammenhang zu
nicht selbst widersprechen; widrigenfalls diese UÚrteile an sich verstehen und von da aus die folgenden Darlegungen Kants
selbst (auch ohne Riicksicht aufs Objekt) nichts sind. « úiber die Grundsãtze zu begreifen, ist es notwendig, Kants
Hier ist allgemein gesagt: Alle unsere Erkenntnis steht unter Grundauffassung der menschlichen Erkenntnis so, wie sie erst-
der Bedingung, daB ihre Urteile in sich selbst widerspruchsfrei mals in der »Kritik der reinen Vernunftt« deutlich wird, so
seien. An diesem Satz Kants ist jedoch iiber diesen allgemeinen knapp wiemóõglich darzustellen.
Gehalt hinaus Verschiedenes und fúr alles Folgende Entschei-
dendes zu beachien. b) Anschauung und Denken als die beiden
1. Die Rede ist von » unserer Erkenntnis«, das will sagen, von Bestandstiicke der Erkenntnis
der menschlichen Exkenntnis, nicht unbestimmt von irgendei-
ner Erkenntnis irgendeines erkennenden Wesens, auch nicht Kant rúckt — im vollen BewuBtsein der Tragweite der Bestim-
von einer Erkenntnis iiberhaupt und schlechthin, von Erkennt- mungen, die er zu geben hat — an den Beginn seines Werkes
nis in einem absoluten Sinne. Vielmehr stehen wir, die Men- den Satz, der nach seiner Anffassung das Wesen der menschli-
schen, unsere Erkenntnis und nur sie hier und in der ganzen chen Erkenntnis umgrenzt (À 19, B 33): » Auf welche Art und
»Kritik der reinen Vernunft« in Frage. Nur in bezug auf eine durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Ge-
nicht absolute Erkenntnis hat es úiberhaupt einen Sinn, den genstânde beziehen mag, es ist doch diejenige, wodurch sie sich
Satz vom Widerspruch als Bedingung anzusetzen; denn abso- auf dieselbe unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als
lute Erkenntnis, unbedingte, kann iiberhaupt nicht unter Be- Mittel abzweckt, die Anschauung. Diese findet aber nur statt,
105 dingungen stehen. Was fiir das endliche Erkennen ein Wider- sofern uns der Gegenstand gegeben wird; dieses aber ist wie-
spruch ist, braucht es fiir das absolute Erkennen nicht zu sein. derum, uns Menschen wenigstens, nur dadurch mõóglich, daB er
Wenn daher im Deutschen Idealismus Schelling und vor allem das Gemút auf gewisse Weise affiziere. «
Hegel das Wesen der Erkenntnis sogleich absolut setzen, ist es Diese Wesensbestimmung der Erkenntnis ist der erste und
sachgemãab, daB fúr ein solches Erkennen die Widerspruchslo- tugleich alles entscheidende Gegenschlag gegen die rationale
sigkeit keine Bedingung der Erkenntnis ist, sondern umge- Metaphysik. Kant hat damit eine neue Grundstellung des Men-
kehrt, der Widerspruch gerade das eigentliche Element der richen inmitten des Seienden bezogen, genauer; eine im Grunde
Erkenntnis wird. immer bestehende eigens ins metaphysische Wissen gehoben
158 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 24. Erkenntnis und Gegenstand 159
und zur Begriindung gebracht. DaB es sich um menschliche Er- dert ist. Sofern nur die Einigung von Anschauung und Denken
106 kenntnis handelt, wird noch durch den Zusatz in der 2. Auflage eine menschliche Erkenntnis ausmacht, missen offenbar die bei-
besonders eingeschirft: »uns Menschen wenigstens«. Mensch- den Bestandstuicke, um vereinbar zu sein, irgendeine Verwandt-
liche Erkenntnis ist vorstellendes Sichbeziehen auf Gegenstãn- schaft und Gemeinsamkkeit bei sich tragen. Sie besteht darin, da
de. Aber dieses Vorstellen ist nicht bloBes Denken in Begriffen, beide, Anschauung und Denken, » Vorstellungen « sind. Vor-stel-
Urteilen, sondern — das wird durch Sperrung im Druck und len heiBt, etwas vor sich bringen und vor sich haben, etwas auf
durch den Bau des ganzen Satzes herausgehoben — »die An- sich als das Subjekt zu, auf sich zuriick, prásent haben: re-prae-
schauung«. Die eigentlich tragende und unmittelbare Bezie- sentare. Wie unterscheiden sich aber Anschauen und Denken
hung auf den Gegenstand ist die Anschauung. Gleichwohl innerhalb des gemeinsamen Charakters des Vorstellens als Wei-
macht sie allein ebensowenig das Wesen unserer Erkenntnis sen des Vorstellens? Wir kônnen dies jetzt nur behelfsmibig
aus wie das Denken allein, sondern das Denken gehõôrt zur An- verdeutlichen: »diese Tafel« — damit sprechen wir an, was vor
schauung, und zwar so, daB es im Dienst der Anschauung stehbt. uns steht und uns vorgestellt ist. Vor-gestellt ist dabei diese be-
Menschliche Erkenninis ist begriffliche, urteilsfórmige An- stimmte fláchige Ausbreitung mit dieser Fárbung und in dieser 107
schauung. Menschliche Erkenntnis ist also eine eigentiimlich Beleuchtung und von dieser Hãrte und Stofflichkeit u.s.f.
gebaute Einheit von Anschauung und Denken. Immer wieder Das jetzt Aufgezahlte ist uns unmittelbar gegeben. Wir se-
betont Kant durch das ganze Werk hindurch diese Wesensbe- hen und tasten das Genannte obine weiteres. Wir sehen und
stimmung der menschlichen Erkenntnis. Als Beispiel sei die tasten je gerade diese Ausbreitung, diese Fârbung, diese Be-
Stelle B 406 angefiihrt, die erst in der zweiten Auflage steht, in leuchtung. Das unmittelhar Vorgestellte ist immer »dieses«,
der sich sonst gerade eine schirfere Betonung der Rolle des das je gerade so und so Einzelne. Vorstellen, das unmittelbar
Denkens im Erkennen geltend macht: » Nicht dadurch, daB ich und daher je dieses Einzelne vor-stellt, ist Anschauen. Dessen
bloB denke, erkenne ich irgendein Objekt,« (das ist gegen die Wesen wird deutlicher aus der Abhebung gegen die andere
rationale Metaphysik gesprochen) »sondern nur dadurch, daB Weise des Vorstellens, gegen das Denken. Denken ist nicht un-
ich eine gegebene Anschauung in Absicht auf die Einheit des mittelbares, sondern mittelhares Vorstellen. Was es vorstellend
BewubBtseins, darin alles Denken besteht, bestimme, kann ich meint, ist nicht Einzelnes, » dieses«, sondern gerade Allgemei-
irgend einen Gegenstand erkennen.« Dasselbe sagt die Stelle nes. Indem ich sage » Tafel«, ist das anschaulich Gegebene auf-
A 719, B 747: » Alle unsere Erkenntnis bezieht sich doch zuletzt gefaBt als, begriffen als Tafel; » Tafel« — damit stelle ich etwas
auf múgliche Anschauungen: denn durch diese allein wird ein vor, was auch fir anderes gilt, zunãchst fir entsprechend Gege-
Gegenstand gegeben.« Dieses » zuletzt« meint in der Ordnung benes in anderen Hórsãlen. Das Vorstellen von dem, was fiir
des Wesensbaues der Erkenntnis soviel wie: zuerst, in erster Li- viele gilt, und zwar als ein solches Vielgúltiges, ist das Vorstel-
nie. len von etwas Allgemeinem; dies allgemeine Eine, was allem
Menschliche Erkenntnis ist in sich zwiefúltig. Das zeigt sich ihm Zugehórigen gemein ist, ist der Begriff. Denken ist Vor-
an der Zwiefalt der sie aufbauenden Bestandstiicke. Sie sind stellen von etwas im ÁAllgemeinen, d. h. in Begriffen. Begriffe
hier als Anschauung und Denken benannt. Aber ebenso we- aber werden nicht unmittelbar vor-gefunden; es bedarf eines
sentlich wie diese Zwiefalt gegeniiber einer Einfalt ist die Art bestimmten Weges und Mittels, sie zu bilden; Denken ist da-
und Weise, wie diese Zwiefalt gleichsam gefaltet und geglie- her mittelbares Vorstellen.
140 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 24. Erkenntnis und Gegenstand 141

c) Der Gegenstand bei Kant zwiefáltig bestimmt sagen deutlicher: Jedesmal, wann die Sonne scheint, dann wird
der Stein warm; jedesmal, wann ich die Wahrnehmung der
Aus dem Gesagten wird jedoch zugleich klar, dal nicht nur das Sonne habe, folgt auf diese (meine) Wahrnehbmung in mir die
Erkennen zwiefãáltig ist, sondern daB auch das Erkennbare, der Wahrnehmung des warmen Steins. Dieses Zusammensein der
móõgliche Gegenstand der Erkenntnis, zwiefâltig bestimmt sein Vorstellungen von Sonne und Stein in der Aussage »jedesmal,
muB, um iiberhaupt ein Gegenstand zu sein. Wir kónnen uns wann... dann...« ist bloB eine Vereinigung verschiedener
diesen Sachverhalt zunãáchst vom Wort aus verdeutlichen. Was Wahrmmehmungen, d. h. ein Wahrnebmungsurteil. Hier werden
Wir sollen erkennen kônnen, muB uns irgendwoher begegnen, jeweils meine Wahrnebmungen und so die je jedes anderen
entgegenkommen; das meint das »Gegen« in Gegenstand. wahrnehmenden Ich zueinandergesetzt, also nur festgestellt,
Aber nicht jedes Beliebige, was uns gerade trifft, irgendeine wie das gerade jeweils mir Gegebene sich fir mich ausnimmt.
vorbeiziehende Gesichts- oder Gehórsempfindung, irgendeine Sage ich dagegen: » Weil die Sonne scheint, deshalb wird der
Druck- oder Wiãârmeempfindung ist schon ein Gegenstand. Das Stein warm«, dann spreche ich eine Erkenntnis aus. Die Sonne
Begegnende mul3 bestimmt sein als stehend, als etwas, das ist jetzt als Ursache und das Warmwerden des Steins als Wir-
Stand hat und so bestândig ist. Damit wird jedoch nur eine vor- kung vorgestellt. Die Erkenntnis kinnen wir auch ausdriicken
lâufige Anweisung darauf gegeben, daB offenbar auch der Ge- in dem Satz: » Die Sonne erwãrmt den Stein«. Sonne und Stein
genstand zwiefáltig bestimmt sein mub. Aber was nun — im sind jetzt nicht verkniipft auf Grund der jeweils nur subjektiv
Sinne von Kants Begriff der Erkenntnis — wahrhaft ein Gegen- feststellbaren Aufeinanderfolge der entsprechenden Wahrneh-
stand des menschlichen Erkennens ist, haben wir dadurch noch mungen, sondern sie sind in den Begriffen Ursache und Wir-
nicht gesagt. Ein Gegenstand im strengen Sinne Kants ist nãm- kung allgemein in sich, wie sie in sich und zueinander stehen,
lich weder das nur Empfundene noch auch das Wahrgenom- gefaBt. Jetzt ist ein Gegen-stand erfaBt. Die Beziehung ist nicht
108 mene. Wenn ich z. B. auf die Sonne zeige und das Gezeigte als mehr die: » jedesmal wann — dann«; diese betrifft die Abfolge
Sonne anspreche, so ist das so Genannte und Gemeinte nicht eines Wahrnehmens. Die Beziehung ist jetzt die des »wenn —
Gegenstand als Gegenstand der Erkenntnis im strengen Kanti- so« (»weil — deshalbs«); sie betrifft die Sache selbst, ob ich sie
schen Sinne, sowenig wie der Stein, auf den ich hinzeige, oder gerade wahrnehme oder nicht. Diese Beziehung ist jetzt als not-
die Tafel. Selbst wenn wir weitergehen und etwas úiber Sonne wendige gesetzt. Was dieses Urteil sagt, gilt jederzeit und fiir
und Stein aussagen, dringen wir noch nicht zum Gegenstând- jedermann; es ist nicht subjektiv, sondern gilt vom Objekt, vom
lichen im strengen Kantischen Sinne vor. Auch wenn wir be- Gegenstand als solchem.
zúglich des Gegebenen etwas wiederholt fest-stellen, bringen Das empfindungs- und wahrnebmungsmibBig Begegnende
wir es noch nicht zur Erfassung des Gegenstandes. Wir kônnen und so anschaulich Gegebene — Sonne und Sonnenschein, Stein
z. B. auf Grund wiederholter Beobachtungen sagen: Wann die und Wãrme — dieses » Gegen« kommt als ein in sich stehender
Sonne den Stein bescheint, dann wird er warm. Hier ist zwar Sachverhalt erst zum Stand, wenn das Gegebene in solchen Be-
Gegebenes, Sonne — Sonnenschein — Stein — Wãrme, und dieses griffen wie Ursache — Wirkung, d. h. unter dem Satz der Kausa- 109
Gegebene ist auch in gewisser Weise urteilsmáBig bestimml, litãt allgemein vorgestellt und so gedacht wird. Die Bestand-
d. h.: Sonnenschein und Wãirme des Steins sind in eine Bezie- stiicke des Erkennens, Anschauung und Begriff, miissen in
hung gebracht. Aber es fragt sich: in welche Beziehung? Wir einer bestimmten Weise geeinigt werden. Das anschaulich Ge-
142 Die Dingfrage in Kants Haupiwerk S$ 24. Erkenntnis und Gegenstand 145

gebene muB unter die Allgemeinheit bestimmter Begriffe ge- verwirklicht sich in der Gestalt der mathematisch-physikali-
bracht werden, der Begriff muB úber die Anschauung kommen schen Wissenschaft. 4. Diese Wissenschaft und damit das
und das in ihr Gegebene in seiner Weise bestimmen. Mit Bezug Wesen eigentlicher menschlicher Erkenntnis sieht Kant in der
auf das Beispiel — und d. h. grundsãtzlich — ist aber schon hier geschichtlichen Gestalt der Newtonschen Physik, die man heute
dieses zu beachten: noch die» klassische«nennt.
Das Wahrnehmungsurteil »jedesmal wann — dann« geht
nicht allmãáhlich bei einer hinreichend grofien Zahl von Beob- d) Sinnlichkeit und Verstand. Rezeptivitãt und Spontaneitãt
achtungen in das Erfahrungsurteil » wenn — so« úber. Derglei-
chen ist so unmõglich, wie es ausgeschlossen ist, daB jemals ein Was wir bisher iiber die menschliche Erkenntnis sagten, sollte 110
»wann« in ein » wenn« und ein »danne in ein » deshalb« úber- zunichst nur die Zwiefáltigkeit in ihrem Wesensbau kenntlich
geht und umgekehrt. machen, ohne diesen Bau schon in seinem innersten Gefúige vor
Das Erfahrungsurteil verlangt in sich einen neuen Schritt, Augen zu stellen. In eins mit der Zwiefiltigkeit der Erkenntnis
eine andere Art des Vorstellens des Gegebenen, nâmlich im Be- ergab sich ein erstes Verstândnis der Zwiefãiltigkeit des Gegen-
egriff. Dieses wesentlich andere Vorstellen des Gegebenen, das standes: Das bloBe anschauliche » Gegen« ist noch kein Gegen-
Autffassen desselben als Natur, macht es erst móglich, daB nun- stand; aber auch das nur begrifflich allgemein Gedachte ist als
mehr die Beobachtungen als múgliche Veranschaulichungen so Stiindiges noch kein Gegenstand.
des Erfahrungsurteils genommen werden kônnen, daB jetzt im Damit klãrt sich auch, was im ersten Satz unseres Abschnities
Licht des Erfahrungsurteils die Bedingungen der Beobachtung »Inhalt der Erkenntnis« und »Beziehung aufs Objekt« heiBt.
abgewandelt und die entsprechenden Folgen dieser abgewan- Der » Inhalt« bestimmt sich immer aus dem und als das, was
delten Bedingungen untersucht werden kinnen. Was wir in dev nmnschaulich gegeben wird: Licht, Wãrme, Druck, Farbe, Ton.
Wissenschaft Hypothese nennen, ist der erste Schritt zu einem Die »Beziehung aufs Objekt«, d. h. auf den Gegenstand als
wesentlich anderen, nâámlich begrifflichen Vorstellen gegeniiber solchen, besteht darin, dal ein anschaulich Gegebenes in der
bloBen Wahmehbmungen. Erfahrung entsteht nicht »empir Allgemeinheit und Einheit eines Begriffes (Ursache-Wirkung)
rische, aus Wabmehmung, sondern wird nur metaphysisch err sum Stehen gebracht wird. Aber wohlgemerkt: Zum Stehen
mãõglicht: durch ein dem Gegebenen eigentiimlich vorgreifen- (itebracht wird immer ein Anschauliches; das begreifende Vor-
des, neues begriffliches Vorstellen, hier in den Begriffen: stellen bekommt hier einen wesentlich verschárften Sinn.
Ur-sache — Wirkung. Hierdurch wird ein Grund fiir das Ger Wenn daher Kant wiederholt betont: Durch die Anschauung
gebene gesetzt: Grundsãtze. Ein Gegenstand im strengen Sinne wird der Gegenstand gegeben, durch den Begriff wird der Ge-
Kants ist also erst das Vorgestellte, worin Gegebenes in einer isenstand gedacht, so legt das leicht MiBverstândnisse nahe, als
notwendigen und allgemeingúltigen Weise bestimmt ist. Ein hi das Gegebene schon der Gegenstand, als sei der Gegenstand
solches Vorstellen ist eigentliche menschliche Erkenntnis. Kant nur Gegenstand durch den Begriff. Beides ist gleich irrig. Viel-
nennt sie Erfahrung. Zusammentassend ist jetzt úber Kants mehr gilt: Der Gegenstand steht nur, wenn Anschauliches be-
Grundauffassung von der Erkenntnis zu sagen: grifflich gedacht ist, und der Gegenstand steht nur entgegen,
1. Erkenntnis ist fir Kant menschliche Erkenntnis. 2. Eigent- wenn der Begriff ein anschaulich Gegebenes als solches be-
liches menschliches Erkennen ist die Exrfahrung. 3. Erfahrung Mlimmt.
144 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 24. Erkenntnis und Gegenstand 145

Kant gebraucht somit den Titel Gegenstand in einem engen unmittelbar vorgestellte Einzelne, dieser das mittelbar vorge-
und eigentlichen und in weitem und uneigentlichem Sinne. stellte Allgemeine. Das jeweils verschiedene Vorstellen vollzieht
Eigentiicher Gegenstand ist nur das in der Erfahrung als Er- sich in einem entsprechend verschiedenen Verhalten und Lei-
fahrenes Vorgestellte; uneigentlicher Gegenstand ist jegliches sten des Menschen. In der Anschauung wird das Vorgestellte
Etwas, worauf sich ein Vorstellen ilberhaupt — sei es Anschauen als Gegenstand vor-gestellt, d. h. das Vorstellen ist ein Vorsich-
oder Denken — bezieht. Gegenstand im weiteren Sinne ist so- haben eines Begegnenden. Begegnendes wird, sofern es als ein
wohl das nur Gedachte als solches als auch das nur im Wahr- solches genommen werden soll, auf- und hingenommen. Der
nehmen und Emplinden Gegebene. Obwohl Kant der Sache Gharakter des Verhaltens in der Anschauung ist das Hin-neh-
nach jedesmal sicher ist, wie er »Gegenstand« meint, so liegt men, Empfangen, recipere — receptio, Rezeptivitãt. Dagegen
doch in diesem flieBenden Gebrauch das Anzeichen dafiir, daB ist das Verhalten im begrifflichen Vorstellen derart, daB das
Kant die Frage nach der menschlichen Erkenntnis und ihrer Vorstellen von sich aus das mannigfaltis Gegebene vergleicht
Wahrheit sogleich und nur in einer bestimmten Hinsicht aufge- und vergleichend auf Eines und Selbiges bezieht und dieses als
rollt und entschieden hat. Kant hat davon abgesehen, das Of- solches festhãlt. Im Vergleichen von Tanne — Buche — Eiche —
fenbare, das uns vor einer Vergegenstindlichung zum Erfah- Birke wird das herausgeholt, festgehalten und bestimmt, worin
rungsgegenstand begegnet, in seinem eigenen Wesen zu diese als dem Einen und Selbigen iibereinkommen: » Baum«.
befragen und zu bestimmen. Sofem er auf diesen Bereich Das Vorstellen dieses Allgemeinen als solchem muf sich dabei
1H scheinbar zuriickgehen muB, wie bei der Unterscheidung der von sich her aufmachen und das Vorzustellende vor sich brin-
bloBen Wahrnebhmung von der Erfahrung, geht der verglei- sen. GemãB diesem Charakter des »von sich aus« ist das Den-
chende Gang immer in der Richtung von der Erfahrung zur ken — als Vorstellen in Begriffen — spontan, Spontaneitãt.
Wahrnebmung. Dies besagt: Die Wahrnehmung ist von der Das menschliche Anschauen vermag niemals durch den Voll-
Erfahrung her gesehen und in bezug auf sie ein »noch nicht. ug seines Anschauens als soldhem das zu Schauende, den
Es gilt, aber ebenso und vor allem zu zeigen, was Erfahrung als Gegenstand selbst, herbeizuschaffen. Dergleichen ist hóchstens
die wissenschaftliche Erkenntnis in bezug auf die Wahrneh- in einer Art Einbildung, Phantasie, mõglich. Dabei wird jedoch
mung im Sinne der vorwissenschafilichen Erkenntnis nicht der Gegenstand nicht selbst als seiender, sondern nur als ein-ge-
mehr ist. Fiir Kant war angesichts der rationalen Metaphysik bildeter beigestellt und geschaut. Menschliches Schauen ist
und ihrer Anspriiche allein entscheidend: À An-schanuen, d.h. an ein schon Gegebenes angewiesenes
1. iilberhaupt den Anschauungscharakter der menschlichen Schauen.
Erkenntnis als grundgebendes Wesensbestandstick geltend zu Weil das menschliche Anschauen darauf angewiesen ist, daB 112
machen; 2. auf Grund dieser gewandelten Bestimmung auch ilim das Anschaubare gegeben wird, muB das zu Gebende sich
und erst recht das Wesen des zweiten Bestandstiickes, des Den- nnzeigen. Dafúr muB es sich melden kônnen. Das geschieht
kens und der Begriffe, neu zu bestimmen. durch die Sinneswerkzeuge. Vermittelst dieser werden, wie
Nunmehr kônnen wir den zwiefãâltizen Charakter der lKunt sagt, unsere Sinne — Sehen, Húren u.s.f. — »gerúhri«; es
menschlichen Erkenntnis noch deutlicher, und zwar nach ver- wird ihbnen etwas angetan, sie werden angegangen. Das uns so
schiedenen Hinsichten, kennzeichnen, Bisher nannten wir als Anziehende und die Art, wie der Anzug des Anziehenden ge-
die beiden Bestandsticke: Anschauung und Begriff, jene das schieht, ist die Empfindung als Affektion. Im Denken, im Be-
146 Die Dingfrage in Kants Haupiwerk $ 24. Erkenntnis und Gegenstand 147
griff dagegen ist das Vorgestellte solches, was wir seiner Form e) Der scheinbare Vorrang des Denkens;
nach selbst bilden und herrichten; seiner Form nach — dies reiner Verstand auf reine Anschauung bezogen
meint das Wie, in dem das Gedachte, begrifflich Vorgestellte
ein Vorgestelltes ist, nâmlich im Wie des Allgemeinen. Das Bei der Auslegung der » Kritik der reinen Vernunft« und bei
Was hingegen, z. B. »Baumartiges«, muB seinem Inhalt nach der Auseinandersetzung mit Kants Philosophie iiberhaupt
gegeben werden. Die Verrichtung und Herrichtung des Begrif- konnte es nicht entgehen, daB nach seiner Lehre die Erkenntnis 113
fes heiBt Funktion. aus Anschauung und Denken besteht. Aber von dieser allge-
Menschliches Anschauen ist notwendig sinnliches, d. h. sol- meinen Feststellung ist noch ein weiter Weg zum wirklichen
ches, dem das unmittelbar Vorgestellte gegeben werden muB. Verstândnis der Rolle dieser Bestandstiicke und der Art ihrer
Weil menschliche Anschauung auf Gebung angewiesen, d. h. Einheit, vor allem aber zur rechten Beurteilung dieser Wesens-
sinnlich ist, deshalb bedarf sie der Sinneswerkzeuge. Weil also bestimmung der menschlichen Exkenntnis.
unser Anschauen ein Sehen und Hóren u.s.f. ist, deshalb ha- Tn der » Kritik der reinen Vernuntt«, wo Kant das »schwerste
ben wir Augen und Ohren; nicht aber sehen wir, weil wir Au- Geschãft« auf sich nimmt, die Erfahrung in ibrem Wesensbau
gen, nicht hóren wir, weil wir Obren haben, Sinnlichkeit ist das zu zergliedern, nimmt númlich die Erórterung des Denkens
Vermôgen der menschlichen Anschauung. Das Vermógen des und der Verstandeshandlungen, also die des zweiten Bestand-
Denkens aber, worin der Gegenstand als Gegenstand zum stiickes nicht nur den unverbãltnismáBbig griBberen Raum ein,
Stand gebracht wird, heiBt Verstand. Wir kônnen jetzt die ver- sondern die ganze Fragerichtung dieser Zergliederung des We-
schiedenen Kennzeichnungen der Zwiefãltigkeit der menschli- sens der Erfahrung ist auf die Kennzeichnung des Denkens ab-
chen Erkenntnis in einer Reihe iibersichtlich anordnen und zu- gestellt, als dessen eigentliche Handlung wir bereits das Urteil
gleich die verschiedenen Hinsichten festlegen, nach denen diese kennenlernten. Die Lehre von der Anschauung, diodnous, ist die
Unterscheidungen jeweils die menschliche Erkenntnis bestim- Asthetik (vgl. »Kritik der reinen Vernunft« À 21, B 55 An-
men: merkung). Die Lehre vom Denken, vom Urteilen, Móyos, ist die
Logik. Die Lehre von der Anschauung umfaBt A 19 bis À 49,
Anschauung — Begriff (Denken) / das Vorgestellte als solches im
also 30 Seiten, bzw. B 33 bis B 753, 40 Seiten. Die Lehre vom
Gegenstand.
Denken A 50, B 74 bis A 704, B 752 beansprucht iiber 650 Sei-
Rezeptivitãt — Spontaneitãt / Verhaltensweisen des Vorstellens.
ten.
Affektion — Funktion / der Geschehnis- und Ergebnischarakter
Der Vorrang in der Behandlung der Logik, ihr unverhãáltnis-
des Vorgestellten.
miBig groBer Umfang im Ganzen des Werkes springt in die
Sinnlichkeit — Verstand / Vorstellen als Vermógen des mensch- Augen. Auch in einzelnen Abschnitten kónnen wir immer wie-
lichen Gemiites, als Quellen der Er-
der feststellen, daB die Frage nach dem Urteil und dem Begriff,
kenntnis.
also die Frage nach dem Denken, im Vordergrund steht. Wir
Kant gebraucht diese verschiedenen Fassungen der zwei We- kónnen diese Tatsache unschwer auch aus dem Abschnitt erken-
sensstiicke je nach dem Zusammenhang. nen, den wir unserer Auslegung zugrunde legen und den wir
uls die innere Mitte des Werkes bezeichneten. Die Úberschrif-
len sprechen deutlich genug: Es handelt sich um die Urteile.
146 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 24. Erkenntnis und Gegenstand 149

Vom hkóyos (Vernuntt) ist eigens die Rede im Gesamttitel des Der Grund ist ebenso einfach wie einleuchtend. Gerade yeil
Werkes. Auf Grund dieses augenfálligen Vorrangs der Logik Kant — im Gegensatz zur rationalen Metaphysik, die das We-
hat man fast durchgângis geschlossen: Also sieht Kant das ei- sen der Erkenntnis in die reine Vernuntt, in das bloB begriff-
gentliche Wesen der Erkenntnis im Denken, im Urteilen. Die- liche Denken setzte — die Anschauung als das tragende Grund-
ser Meinung kam die iiberlieferte und alte Lehre entgegen, wo- moment der menschlichen Erkenntnis herausstellte, deshalb
nach der Ort der Wahrheit und Falschheit das Urteil, die mubBte jetzt das Denken seines bisher angemaBten Vorrangs,
Aussage sei. Wahrheit ist der Grundcharakter der Erkenntnis. seiner ausschlieBlichen Geltung, entsetzt werden. Aber die Kri-
Also ist die Erkenntnisfrage nichts anderes als die Urteilsfrage, tik durfte sich nicht mit der negativen Aufgabe, dem begriff-
und die Auslegung Kants muB an diesem Punkt als dem ma/B3- lichen Denken die AnmaBung zu bestreiten, begniigen; sie
gebenden ansetzen. muBte zuvor und vor allem das Wesen des Denkens neu bestim-
Wie sehr durch diese Vormeinungen das Eindringen in die men und begriinden.
Mitte des Werkes verhindert wurde, kann und braucht hier Die ausgedehnte Erórterung des Denkens und des Begriffs in
nicht mehr berichtet zu werden. Aber es ist fúr die rechte An- der » Kritik der reinen Vernunft« spricht sowenig fir eine Her-
eignung des Werkes von Bedeutung, diese Sachlage stândig vor absetzung der Anschauung, daB vielmehr diese Erórterung des
Augen zu haben. Allgemein fúhrte die neukantianische Ausle- Begriffs und des Urteils der deutlichste Beleg dafiir ist, daB
gung der » Kritik der reinen Vernunft« zu einer Unterschãtzung fortan die Anschauung das Mafgebende bleibt und daB ohne
114 des grundlegenden Bestandstiickes in der menschlichen Er- sie das Denken nichts ist.
kenntnis: der Anschauung. Die Kantauslegung der Marburger Die weitlâufige Behandlung des einen Bestandstiickes der
Schule ging sogar so weit, die Anschauung als einen Fremd- Erkenntnis, des Denkens, hat sich sogar in der zweiten Auflage
kôrper ilberhaupt aus der » Kritik der reinen Vernuntft« heraus- noch verschãrft, so daB es in der Tat oft so aussieht, als sei die
zustreichen. Diese Hintansetzung der Anschauung hatte zur Frage nach dem Wesen der Erkenntnis ausschlieBlich eine
Folge, daB auch die Frage nach der Einheit der beiden Bestand- Frage nach dem Urteil und seinen Bedingungen. Der Vorrang
stiicke, Anschauung und Denken, genauer: die Frage nach dem der Urteilsfrage hat aber seinen Grund nicht darin, daB das
Grunde der Múiglichkeit ihrer Vereinigung, eine verkehrte Wesen der Erkenntnis eigentlich Urteilen ist, sondern darin,
RBichtung nahm, wenn sie iilberhaupt ernstlich gestellt wurde. dal das Wesen des Urteils neu bestimmit werden muB, weil es
All diese noch heute in verschiedenen Abwandlungen umlau- jetzt als ein im vorhinein auf Anschauung, d. bh. auf den Ge-
fenden MiBdeutungen der » Kritik der reinen Vernuntt« haben genstand bezogenes Vorstellen begriffen wird.
bewirkt, daB die Bedeutung dieses Werkes fúr die ihm eigent- Der Vorrang der Logik, die ausfiihrlichere Behandlung des
lich anliegende und einzige Frage, die nach der Múóglichkeit Denkens, ist gerade deshalh notwendig, weil das Denken sei- 45
einer Metaphysik, weder richtig abgeschãtzt noch vor allem nem Wesen nach nicht den Vorrang vor der Anschauung hat,
schópferisch fruchtbar gemacht wurde. sondern auf diese gegrúndet und jederzeit auf sie bezogen ist.
Wie ist es aber zu erklãâren, daB trotz der grundlegenden und Der Vorrang der Logik in der » Kritik der reinen Vernuntt« hat
maBgebenden Bedeutung der Anschauung in der menschlichen seinen Grund einzig im Nichtvorrang des Gegenstandes der Lo-
Erkenntnis sogar Kant selbst die Hauptarbeit der Zergliede- gilk, in der Dienststellung des Denkens gegeniiber der Anschau-
rung der Erkenntnis auf die Erôrterung des Denkens verlegt? ung. Wenn das Denken als rechtes immer anschauungsbezogen
150 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 24. Erkenntnis und Gegenstand 151

ist, dann handelt die zugehôrige Logik dieses Denkens notwen- reiner Anschauung und Sinnlichkeit gegrindet ist. Kritik der
dig und gerade von diesem wesenhaften Bezug zur Anschau- reinen Vernuntt ist einmal Umgrenzung dieser auf reine An-
ung, mithin von dieser selbst. Der geringe Umfang der Ásthe- schauung gegrindeten Vernuntt und ist zugleich Zuriickwei-
tik — als zunãchst abgesonderter Lehre von der Anschauung — sung der reinen Vernuntt als » bloBer« Vernuntt.
ist nur ein âuBerer Schein. Weil die Asthetik jetzt das Entschei-
dende ist, d. h. úilberall als maBgebend hineinspielt, deshalb £) Logik und Urteil bei Kant
macht sie der Logik so viel zu schaffen. Deshalb muB die Logik
so umfangreich ausfallen. Die Einsicht in diese Zusammenhãânge, d. h. die Gewinnung 116
Das zu beachten ist wichtig, nicht nur fúr die Gesamtauffas- des Wesensbegriffes eines »reinen Verstandes« ist jedoch die
sung der » Kritik der reinen Vernunft« úberhaupt, sondern vor Vorbedingung fiir das Verstândnis des III, Abschnittes, der das
allem fitr die Auslegung unseres Hauptstirckes. Denn die Úber- systematische Gefiige des reinen Verstandes herausstellen soll.
schriften der beiden ersten Abschnitte, insgleichen der erste Die jetzt vollzogene Klârung des Wesens der menschlichen
Satz des 1. Abschnittes lauten so, als gleite die Frage nach der Erkenntnis setzt uns instand, den ersten Satz unseres Abschnit-
menschlichen Erkenntnis und ihren Grundsãtzen einfach ab in tes mit anderen Augen zu lesen als am Beginn. » Von welchem
eine Frage der Urteile, also des bloBen Denkens. Wir werden Inhalt auch unsere Erkenntnis sei, und wie sie sich auf das Ob-
jedoch sehen, dafB genau das Gegenteil der Fall ist. Wir kinnen jekt beziehen mag, so ist doch die allgemeine, obzwar nur nega-
sogar — mit einer gewissen Úberspitzung — sagen: Die Frage tive Bedingung aller unserer Urteile iiberhaupt, daB sie sich
nach den Grundsãtzen des reinen Verstandes ist die Frage nach nicht selbst widersprechen; widrigenfalls diese Urteile an sich
der notwendigen Rolle der notwendig dem reinen Verstand zu- selbst (auch ohne Riicksicht aufs Objekt) nichts sind.« (A 150,
grunde liegenden Anschauung. Diese Anschauung muf offen- B 189). Wir sehen: Unsere Erkenntnis wird hier sogleich in ei-
bar selbst eme reine sein. ner bestimmten Hinsicht, nâmlich auf das zweite Wesensbe-
»Rein« besagt einmal: » bloB«, »ledig«, eines anderen ledig, standstiick des Erkennens, die Denkhandlung, das Urteil, hin
und zwar der Empfindung. Negativ gesehen, ist die reine An- betrachtet. Genauer wird gesagt, die Widerspruchsfreiheit sei
schauung empfindungsfíreie, obzwar zur Sinnlichkeit gehôrige die »obzwar nur negative Bedingung aller unserer Urteile
Anschauung. » Rein« besagt dann: nur áuf sich gegriindet und iiberhaupt«. Die Rede ist hier von »allen unseren Urteilen
somit erstlich bestehend. Diese reine Anschauung, dieses in ei- iiberhaupt«, noch nicht von den »analytischen Urteilen«, die
nem unmittelbaren Vorstellen vorgestellte reine, empfindungs- in der Úberschrift als Thema gesetzt sind. Ferner ist die Rede
freie Einzelne, d. h. hier Einzige, ist die Zeit. Reiner Verstand von einer »nur negativen Bedingungs«, nicht von einem ober-
heiBt zunãáchst bloBer Verstand, abgelóst von der Anschauung. sten Grund. Zwar spricht der Text vom Widerspruch und von
Weil aber der Verstand als solcher auf Anschauung bezogen ist, den Urteilen iiberhaupt, aber noch nicht vom Satz vom Wider-
kann die Bestimmung »reiner Verstand« nur heiBen: auf An- spruch als oberstem Grundsatz aller analytischen Urteile. Kant
schauung, und zwar auf reine Anschauung bezogener Verstand. fnBt hier das Urteil noch vor aller Unterscheidung in analyti-
Dasselbe gilt vom Titel »reine Vernuntt«. Er ist zweideutig. sehe und synthetische Urteile.
Vorkritisch nennt er die bloBe Vernuntt; kritisch, d. h. auf das In welcher Hinsicht ist dabei das Urteil gesehen? Was ist
Wesen eingegrenzt, besagt er: die Vernuntt, die wesenhaft in iiberhaupt ein Urteil? Wie bestimmt Kant das Wesen des Ur-
152 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 24. Erkenninis und Gegenstand 155
teils? Die Frage klingt einfach, und doch wird die Fragestel- standene Wort Kants úber die Logik ein Zeugnis. Es steht —
lung sogleich verwickelt. Denn wir wissen: Urteilen ist die nicht zufállig — erst in der zweiten Auflage (Vorrede B VIID):
Handlung des Denkens. Durch Kants Wesensbestimmung der »DaB die Logik diesen sicheren Gang schon von den iltesten
menschlichen Erkenntnis hat das Denken eine neue Kennzeich- Zeiten her gegangen sei, lãBt sich daraus ersehen, daB sie seit
nung erfabren: Es kommt in eine wesenhafte Dienststellung dem Aristoteles keinen Schritt rickwãrts hat tun dúrfen, wenn
zur Anschauung. Dasselbe muB demnach auch fúr die Denk- man ihr nicht etwa die Wegschaffung einiger entbehrlicher
handlung des Urteils gelten. Nun kinnte man sagen: Durch Subtilitáten, oder deuilichere Bestimmung des Vorgetragenen
die Betonung der Dienststellung des Denkens und des Urteilens als Verbesserungen anrechnen will, welches aber mehr zur Ele-
wird nur eine besondere Abzweckung des Denkens eingefiihrt. ganz, als zur Sicherheit der Wissenschaft gehõôrt. Merkwiirdig
Das Denken selbst und seine Bestimmung wird damit im We- ist noch an ihr, daB sie auch bis jetzt keinen Schritt vorwãrts hat
sen nicht beriihrt, vielmehr muB das Wesen des Denkens (Ur- tun kônnen, und also allem Ansehen nach geschlossen und
teilens) iilberhaupt schon bestimmt sein, um es, das Denken, in vollendet zu sein scheint.« Das heiBt grob gesagt: Von jetzt an
diese Dienststellung einzuricken. erweist sich dieser Schein als nichtig. Die Logik wird neu ge-
Das Wesen des Denkens, des Urteilens, ist von alters her grimdet und gewandelt.
durch die Logik bestimmt. Kant konnte also, wenn er schon in Kant ist stellenweise zu dieser Einsicht klar vorgedrungen,
117 der angezeigten Richtung einen neuen Erkenntnisbegriff fest- aber er hat sie nicht ausgestaltet; das hãtte nichts Geringeres
legte, beziiglich des Denkens nichts anderes tun, als der gelãu- bedeutet als dieses: auf dem erst durch die » Kritik der reinen
figen Bestimmung des Wesens des Denkens (Urteilens) die Vernuntt« selbst freigelegten Grund und nur aus diesem die
Wweitere anzufiigen, daB es im Dienst der Anschauung stehe. Er Metaphysik aufzubauen, Solches lag jedoch nicht in der Absicht
durfte die bisherige Lehre vom Denken, die Logik, unverândert Kants, da ihm zunãchst und allein die »Kritik« im besagten
úibernehmen, um sodann den Zusatz anzubringen, die Logik Sinne wesentlich sein mufite. Es lag aber auch nicht im Vermõ-
miisse, wenn sie vom menschlichen Erkennen handle, immer gen Kants, weil eine solche Aufgabe das Vermógen auch des
betonen, dafb dabei das Denken auf die Anschauung zu bezie- eroBen Denkers úbersteigt; denn sie verlangt nichts Geringeres
hen sei. als iiber den eigenen Schatten zu springen. Das vermag keiner.
So sieht in der Tat die Stellung Kants zur iiberlieferten Logik Aber die hôchste Anstrengung im Versuch dieses Verwehrten —
und damit auch zu deren Wesensbestimmung des Urteils aus. das ist die entscheidende Grundbewegung des denkerischen
Was noch wichtiger ist: Kant selbst hat die Sachlage vielfach in IHandelns. Bei Platon, bei Leibniz, vor allem bei Kant, dann bei 118
dieser Weise gesehen und dargestellt. Er hat sich nur langsam Schelling und Nietzsche kónnen wir in je verschiedener Weise
und schwer dahin durchgerungen, zu erkennen, daB seine Ent- elwas von dieser Grundbewegung erfahren. Hegel allein ist es
deckung der eigentiimlichen Dienststellung des Denkens mehr scheinbar gelungen, iiber diesen Schatten zu springen — aber
sei als eine nur zusãátzliche Bestimmung desselben, daB sich viel- nur so, daB er den Schatten, d. h. die Endlichkeit des Menschen,
mehr damit die Wesensbestimmung des Denkens und damil beseitigte und in die Sonne selbst sprang. Hegel hat den Schat-
die der Logik von Grund aus ândert. Von der sicheren Ahnung ten iibersprungen, aber er ist deshalb nicht úber den Schatten
dieser durch ibn eingeleiteten Umwãlzung gibt jenes oft ange- gesprungen. Doch jeder Philosoph muf dieses wollen. Dieses
fúhrte, aber meist im gegenteilizen Sinne und daher falsch ver- Miissen ist seine Berufung. Je lânger der Schatten, um so weiter
154 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 24. Erkenninis und Gegenstand 155

der Sprung. Das hat mit einer Psychologie der schópferischen die iiberlieferten Lehren gehalten und deren schulmiáBige Ord-
Persônlichkeit nichts zu tun; es betrifft allein die zum Werk nung und Darstellung zum Leitfaden genommen, also nicht 119
selbst gehórige Bewegungsgestalt des in ihm Erwirkten. die innere Systematik der Sache selbst, wie sie sich seinem Den-
Kants Haltung in der scheinbar so trockenen Frage: » Worin ken darstellte. Kant benutzte als Handbuch in seinen Logik-
besteht das Wesen des Urteils?« zeigt etwas von dieser Grund- Vorlesungen den » Auszug aus der Vernunfilehre« von Meier,
bewegung. Wie schwierig es fir Kant war, von seinem neuen ein Schulbuch, dessen Verfasser ein Schitler Baumgartens, des
Erkenntnisbegriff her auch die entsprechende Wesensbestim- schon genannten Schiilers von Wolff war.
mung des Urteils in der ganzen Tragweite zum Ansatz zu brin- Bei diesem Stand der Behandlung der Urteilsfrage durch
gen, zeigt das Verhãltnis der 1. zur 2. Auflage der »Kritik der Kant sind wir gezwungen, in genauester Anmessung an Kant
reinen Vernuntt«. Der Sache nach sind alle entscheidenden Ein- eine freiere systematische, aber kurze Darstellung seiner We-
sichten in der 1. Auflage gewonnen. Gleichwohl gelangt Kant sensbestimmung des Urteils zu geben. Nach dem Gesagten
erst in der 2. Auflage dahin, an der entscheidenden Stelle die- fithrt dies von selbst zur Aufhellung des entscheidenden Unter-
jenige Wesensumgrenzung des Urteils vorzutragen, die seiner schiedes der analytischen und synthetischen Urteile.
eigenen Grundstellung entspricht. Die Frage: » Worin besteht das Wesen des Urteils?« kann
Wenn Kant auBerdem immer wieder die grundsãátzliche Be- zunãáchst nach zwei Hinsichten gestellt werden, einmal in der
deutung der von ihm neu aufgestellten Unterscheidung der Ur- Richtung der iiberlieferten Bestimmung des Denkens und dann
teile in analytische und synthetische heraushebt, dann sagt das in der Richtung der neuen Umgrenzung durch Kant. Diese ist
nichts anderes als: Das Wesen des Urteils úberhaupt ist neu von einer Art, dal sie die von der Úberlieferung gegebenen
bestimmt. Jene Unterscheidung ist nur eine notwendige Folge Kennzeichnungen des Urteils nicht schlechthin ausschlieBt, son-
dieser Wesensbestimmung und damit rickzeigend zugleich dern mit in den Wesensbau des Urteils hereinnimmt. Das deu-
eine Weise der Kennzeichnung des neugefaBien Wesens des Ur- let darauf hin, daB dieser Wesensbau nicht so einfach ist, wie
teils. die vorkantische Logik meinte und wie man lângst auch heute
Der Hinweis auf all das Gesagte ist notwendig, damit wir die wieder — trotz Kant — die Sache sieht. Der innerste Grund fiúr
Frage » Worin besteht nach Kant das Wesen des Urteils? « nicht die Schwierigkeit, das volle Wesen des UÚrteils zu sehen, liegt
zu leicht nehmen und nicht iiberrascht sind, wenn wir uns in nicht in der Unvollkommenheit von Kants Systematik, sondern
seinen Bestimmungen nicht ohne weiteres und einheitlich hin- im Wesensbau des Urteils selbst.
durchfinden. Denn Kant hat nirgends eine systematische Dar- Hier sei daran erinnert, dal wir bereits frilher gelegentlich
stellung seiner Wesensbestimmung des Urteils auf dem Grunde des Nachweises, inwiefern seit Platon und Aristoteles der Leit-
der von ihm selbst erreichten Einsichten entwickelt, auch nicht faden fúr die Dingbestimmung der hóyos, die Aussage, sei, an
und gerade nicht in seiner uns iiberlieferten Logik-Vorlesung, Hand einer vierfachen Bedeutung von » Aussage« auf den ge-
wo man dergleichen noch am ehesten vermuten kônnte. Diese frliederten Bau des Urteils hingewiesen und ihn schematisch an-
ist iilberhaupt mit Vorsicht zu Rate zu ziehen; denn 1. sind Vor- gezeigt haben. (Vel. S. 351.) Das dort Gestreifte findet jetzt
lesungshefte und Nachschriften ohnehin eine fragwirdige seine wesentlichen Ergânzungen in einer kurzen systemati-
Sache, besonders in Abschnitten, die schwierige Dinge erórtern; schen Darstellung der Wesensbestimmung des Urteils bei Kant.
2. hat gerade Kant in seinen Vorlesungen sich immer zuerst an
156 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 25. Wesensbestimmung des Urteils 157
$ 25. Kants Wesensbestimmung des Urteils so daB es nur darauf ankommt, zu sehen, wie noch und gerade
in der gegebenen Bestimmung IHinweise auf die eigentlichen
a) Die úiberlieferte Lehre vom Urteil Wesensmomente liegen,
Damit wir jedoch den neuen Schritt Kants mit- und nachvoll-
Wir gehen von der úiberlieferten Urteilslehre aus. Die in ihrer ziehen kônnen, ist es gut, zuvor noch die zu seiner Zeit herr-
Geschichte auftretenden Unterschiede und Wandlungen mis- schende und von ihm auch beachtete Auffassung des Urteils
sen beiseite bleiben. Erinnert sei nur an die aristotelische allge- kurz zu nennen. Wir wahlen hierzu die Definition des Urteils,
meine Bestimmung der Aussage (Urteil), des 2óyos: Léyew tu die WYolff in seiner groBen »Logik« gegeben hat. Im $ 39 heiBt
UT TIVOS, »Etwas vONM Eetwas aussagen«; praedicere. Aussa- es: actus iste mentis, quo aliquid a re quadam diversum eidem
gen ist daher: ein Prádikat auf ein Subjekt beziehen — » Die tribuimus, vel ab ea removemus, iudicium appellatur. » Jene
120 Tafel ist schwarz.« Kant driickt diese allgemeine Kennzeich- Handlung des Geistes, in der wir etwas von einer gewissen
nung des Urteils so aus, daB er am Beginn des wichtigen Ab- Sache Verschiedenes dieser zuteilen — tribuere (xatágquacis) —
schnittes » Von dem Unterschiede analytischer und synthetischer oder von ihr weghalten — removere (ârxóguois) —, wird Urteil
Urteile« (Einleitung A 6, B 10) bemerkt: Tn den Urteilen wird (iudicium) genannt.« DemgemiB sagt der $ 40: Dum igitur
»das Verhãltnis eines Subjekts zum Prádikat gedacht«. Das Ur- mens iudicat, notiones duas vel coniungit, vel separat. » Wãh-
teil ist ein Verhãálinis, in dem und durch das einem Subjekt ein rend (indem) daher der Geist urteilt, verbindet er entweder
Pridikat zu- bzw. abgesprochen wird; demgem㣠gibt es zu- oder trennt er zwei Begriffe.« Dementsprechend vermerkt der
sprechende, bejahende, und absprechende, verneinende, Urteile. $ 201: In enunciatione seu propositione notiones vel coniun-
»Diese Tafel ist nicht rot. « Es ist wichtig, im Auge zu behalten, guntur, vel separantur. » In der Aussage oder dem Saiz werden
daB seit Aristoteles durchgângig, auch bei Kant, als maBge- Begriffe entweder verbunden oder getrennt.«
bende Grundform alles Urteilens die einfache bejahende (und Der Schiiler eines Schiúilers dieses Meisters der Begriffszerglie-
wahre) Aussage angesetzt wird. derung, der genannte Professor Meier, bestimmt in seinem
Kant sagt vom Urteil, der Uberlieferung entsprechend, in » Auszug aus der Vernunfilehre« $ 292 das Urteil folgender-
ihm werde »das Verhãltnis eines Subjekts zum Prãádikat ge- maBen: » Ein Urtheil (iudicium) ist eine Vorstellung eines logi-
dacht«. Diese Feststellung trifft allgemein zu. Aber die Frage schen Verhãltnisses einiger Begriffe«. — DaB in dieser Defini-
bleibt, ob damit das Wesen des Urteils erschópft oder auch nur tion der Logos als Vorstellung eines logischen Verhiltnisses
im Kem erfaBt ist. Mit Bezug auf Kant gesprochen erhebt sich bestimmt wird, ist besonders »laogisch«; aber davon abgesehen:
die Frage, ob er zugeben wiirde, dal mit der angefúhrten und Die Urteilsdefinition in dem von Kant gebrauchten Handbuch
von ibm selbst gebrauchten Kennzeichnung des Urteils dessen gibt nur verflacht die Wolffsche Bestimmung wieder. Urteil ist
Wesen getroffen sei. Kant wiirde das nicht zugeben. Anderer- »die Vorstellung eines Verhãltnisses zwischen einigen Begrif-
seits sieht man auch nicht, was noch weiter zur Wesensbestim- fen«.
mung des Urteils herzugebracht werden soll. Am Ende ist es
auch nicht notwendig, noch weitere Bestimmungen beizuschaf-
fen. Vielmehr gilt es umgekehrt, zu sehen, dal) die gegebene
Bestimmung bereits wesentliche Momente des Urteils auslãBt,
158 Die Dingfrage in Kanis Hauptwerk $ 25. Wesensbestimmung des Urteils 159

b) Das Unzureichende der traditionellen Lehre; die Logistik »schon immer dergleichen wie Zusammensetzung von Vor-
stellungen in einer gewissen Einheite. Diese Kennzeichnung 122
Wir stellen zunáchst dieser Urteilsdefinition der Schulphiloso- des Urteils gilt vom Urteil úberhaupt. Um hier Beispiele zu ge-
phie diejenige von Kant gegeniiber, in der sich der âuBerste brauchen, die uns nachher beschiftigen miissen: » Diese Tafel
Unterschied am schãârfsten ausdriickt. Sie findet sich in der ist sdhwarz«; »alle Kôrper sind ausgedehnt«; »einige Kôrper
zweiten Auflage der » Kritik der reinen Vernunft«, und zwar sind sedhwer«. Durchgângig wird hier ein Verhãltnis vorgestellt.
im Zusammenhang eines Abschnittes, den Kant fúr die zweite Vorstellungen werden verbunden. Den sprachlichen Ausdruck
Auflage von Grund aus umgearbeitet und in dem er Dunkel- dieser Verbindung finden wir im »ist« oder »sind«; daher wird
heiten beseitigt hat, ohne an der Grundstellung etwas zu àn- dieses » Verhãiltniswôrtchen« (Kant) auch »Band«, Copula ge-
dern. Es ist der Abschnitt úber die » Transzendentale Deduk- nannt. Der Verstand ist danach das Vermõgen, Vorstellungen
tion der reinen Verstandesbegriffe«. Die Wesensbestimmung des zu verbinden, d. h. dieses Subjekt-Prãdikat-Verhâltnis vorzu-
Urteils findet sich in $ 19 (B 140 ff.). Der Paragraph selbst be- stellen. Die Kennzeichnung der Aussage als Vorstellungsver-
ginnt mit den Worten: »Ich habe mich niemals durch die Er- kniipfung ist richtig, aber unbefriedigend. Diese richtige, aber
klárung, welche die Logiker von einem Urteile ilberhaupt unzureichende Aussagedefinition ist die Grundlage fuir eine
geben, befriedigen kônnen: es ist, wie sie sagen, die Vorstellung Anffassung und Bearbeitung der Logik geworden, die hente
eines Verhãâltnisses zwischen zwei Begriffen.« » Erklârung« und seit einigen Jahrzebhnten viel von sich reden macht und
meint, etwas klar machen, nicht es ursãchlich ableiten. Was Logistik genannt wird. Mit Hilfe von mathematischen Metho-
Kant hier als unzureichend zuriickweist, ist genau die Defini- den wird versucht, das System der Aussageverkniipfungen zu
tion von Meier, d. h. von Baumgarten und Wolff. Gemeint ist errechnen; daher nennt sich diese Logik auch »mathematische
die in der Logik seit Aristoteles gelâufige Bestimmung des Ur- Logik«. Sie stellt sich eine mógliche und berechtigte Aufgabe.
teils als Aussage, Aéyew tt natá tivos. Kant sagt aber nicht, die- Was die Logistik beibringt, ist nun freilich alles andere, nur
se Kennzeichnung sei falsch; er sagt nur, sie sei unbefriedi- keine Logik, d. h. eine Besinnung auf den Xhóyos. Die mathe-
gend. Deshalb kann er selbst diese Urteilsdefinition gebrau- matische Logik ist nicht einmal eine Logik der Mathematik in
chen, und er gebraucht sie mehrfach noch in der Zeit nach dem Sinne, daB sie das Wesen des mathematischen Denkens
Erscheinen der » Kritik der reinen Vernunft«, auch der 2. Auf- und der mathematischen Wahrheit bestimmte und iiberhaupt
lage. So sagt Kant in Untersuchungen, die um das Jahr 1790 zu bestimmen vermõchte. Die Logistik ist vielmehr selbst nur
angestellt sind: » Der Verstand zeigt sein Vermógen lediglich in eine auf Sãtze und Satzformen angewandte Mathematik. Alle
Urteilen, welche nichts anderes sind als die Einheit des BewuBt- mathematische Logik und Logistik stellt sich selbst notwendig
seins im Verhiltnis der Begriffe úberhaupt...« (»Fortschrit- auBerhalb jedes Bereichs der Logik, weil sie zu ihrem eigensten
te...«ed, Vorlânder, S. 97). Wo ein Verhãltnis vorgestellt Zwecke den Xóyos, die Aussage, als bloBe Vorstellungsverkniip-
wird, wird immer eine Einheit vorgestellt, die das Verhãltnis fung, d. h; grundsãtzlich unzureichend ansetzen muf. Die An-
aushãlt und die durch das Verhiltnis bewuBt wird, so daB das, maBungen der Logistik, als die wissenschaftliche Logik aller
was im Urteil bewuBt ist, den Charakter einer Einheit hat. Wissenschaften zu gelten, fallen in sich zusammen, sobald das
Ganz dasselbe driickt schon Aristoteles aus (de anima T 6, 450 a Bedingte und Undurchdachte ihres Ansatzes einsichtig wird. Es
27 £.);: Im Urteil sei obvieocis 11 Hôn vonuátov Ooxep Ev Ovtov, ist auch kennzeichnend, daB die Logistik all das, was úiber ihre
160 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 25. Wesensbestimmung des Urteils 161
eigene Bestimmung der Aussage als Vorstellungsverkniipfung stehen in der bestimmten Beziehung gegebener Vorstellungen
hinausgeht, als eine Sache der »feineren Unterschiede« be- auf ein Objekt. «
zeichnet, die sie nichts angehen. Aber hier stehen nicht feinere Wir kônnen uns die neue Sachlage in einer Zeichnung ver-
und gróbere Unterschiede in Frage, sondern dieses, ob das We- deutlichen. Sie soll uns nachher zugleich als Anhalt dienen,
sen des Urteils getroffen ist oder nicht. wenn wir aus der neuen Auffassung des Urteils den wesentli-
Wenn Kant sagt, die angefúhrte » Erklârung« des Urteils in chen Unterschied zwischen analytischen und synthetischen Ur-
der Schullogik sei unbefriedigend, so ist diese Unzufriedenheit teilen entfalten.
keine nur persônliche, auf besondere Wiinsche Kants hin abge-
schãtzte. Vielmehr stellt die genannte Erklârung jene Ansprii-
che nicht zufrieden, die aus dem Wesen der Sache selbst
kommen.

c) Die Gegenstands- und Anschauungsbezogenheit des Urteils;


die Apperzeption

1253 Wie lautet Kants neue Bestimmung des Urteils? Kant sagt
(a. a. O., B 141), »daB ein Urteil nichts anderes sei, als die Art,
gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzep-
tion zu bringen.« Wir kinnen diese Definition und ihre einzel- Bei der erstgenannten Definition des Urteils handelt es sich
nen Bestimmungsstiicke noch nicht sogleich voll begreifen. In- einfach um ein Verhãltnis von Begriffen, Subjekt und Pridikat.
des springt etwas Auffallendes in die Augen. Es ist nicht mehr Dab das Vorstellen eines solchen Verhãltnisses einen actus men- 124
von Vorstellungen und Begriffen die Rede, sondern von » gege- lis verlangt, ist selbstverstândlich; denn eine Handlungsweise
benen Erkenninissen«, d. h. vom Gegebenen in der Erkennt- des Verstandes gehórt zu jeder Verstandeshandlung. In der
nis, mithin von den Anschauungen. Es ist die Rede von »objelk- neuen Definition dagegen ist die Rede von der objektiven Ein-
tiver«, d. h. gegenstândlicher »Einheit«. Hier ist das Urteilen heit der Erkenninisse, d. h. von der Einheit der Anschauungen,
als Verstandeshandlung nicht nur úberhaupt auf Anschauung welche als eine zum Objekt gehórige und das Objekt bestim-
und Gegenstand bezogen, sondern: aus diesem Bezug, sogar als mende vorgestellt wird. Dieses Vorstellungsverhãltnis ist als
dieser Bezug ist sein Wesen bestimmt. Durch die im Anschau- Ganzes objektbezogen. Damit ist aber fiir Kant sogleich auch
unes- und Gegenstandsbezug festremachte WWesensbestim- der Bezug auf das »Subjekt« im Sinne des Ich, das denkt und
mung des Urteils wird diese Bezogenheit allererst umrissen und urteilt, gesetzt. Dieser Ichbezug ist in der eigentlichen Urteils-
ausdricklich in das einheitliche Gefúige der Erkenntnis hinein- definition Apperzeption genannt. Percipere ist das einfache
gestellt. Hieraus erwãchst ein neuer Begriff des Verstandes. Vernehmen und Erfassen des Gegenstândlichen; in der Apper-
Verstand ist jetzt nicht mehr nur das Vermõigen der Vorstel- zeption wird zum erfafiten Gegenstand in gewisser Weise der
lungsverbindung, sondern nach $ 17 (B 157): »Verstand ist, Bezug auf das Ich und dieses selbst mit dazu (ad) percipiert,
allgemein zu reden, das Vermõgen der Erkenntnisse. Diese be- erfaBt. Das Entgegenstehen des Gegenstandes als eines solchen
162 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 25. Wesensbestimmung des Urteils 163

ist nicht móglich, ohne daB dieses Begegnende in seinem Ent- die gewandelte Auffassung des Logos und alles dessen, was zu
gegenstehen fúr ein Vor-stellendes, Reprisentierendes gegen- ihm gehõrt, d. h. des »Logischen«. Bisher sah man das Wesen
wiirtig ist, das sich dabei selbst mit prásent hat, zwar nicht auch des Logischen in der Beziehung und im Verhãltnis von Begrif-
als Gegenstand, sondern nur insoweit, als das Begegnende in len. Kants neue Bestimmung des Logischen ist — gegen die
seinem Entgegen iiberhaupt einen gerichteten Bezug auf sol- iiberlieferte gehalten — etwas schlechthin Befremdliches und fast
ches verlangt, das des Begegnenden gewãrtig ist. Widersinniges, sofern sie sagt, das Logische bestehe gerade
Nach der Art, wie wir jetzt die zwei Urteilsdefinitionen, die nicht in diesem blofen Verhiltnis von Begriffen. Kant hat of-
iiberlieferte und Kants eigene, gegeneinander abgehoben ha- lenbar aus dem vollen Wissen um die Tragweite seiner neuen
ben, sieht es so aus, als sei durch Kant nur etwas in die Urteils- Bestimmung des Logischen diese in die Uberschrift des wichti-
definition eingefiigt, was bisher weggelassen war. Aber es han- gen $ 19 gesetzt; sie lautet: »Die logische Form aller Urteile
delt sich nicht um eine » bloBe Erweiterungs«, sondern um eine besteht in der objektiven Einheit der Apperzeption der darin
urspriinglichere Fassung des Ganzen. Deshalb miússen wir von enthaltenen Begriffe«. Als methodische Anweisung gelesen
Kants Wesensbestimmung ausgehen, um abschãtzen zu kôn- heiBt dieses: Alle Erórterung des Wesens des Urteils muB von
nen, wie es mit der iiberlieferten Definition steht. Nehmen wir dem vollen Wesensbau des Urteils ausgehen, wie er sich aus den
diese fiir sich, dann zeigt sich deuilich, daB wir ein Bauglied Beziigen auf den Gegenstand und auf den erkennenden Men-
herausheben und daB dieses, so genommen, nur ein kimstliches schen im voraus festlegrt.
Gebilde darstellt, das aus dem tragenden Grund der Bezúge.
zum Gegenstand und zum erkennenden Ich entwurzelt ist. d) Kants Unterscheidung der analytischen und synthetischen
Daraus ist leicht zu ermessen, warum die iiberlieferte Urteils- Urteile
definition Kant, dem in Absicht auf die Frage nach der Mõg-.
lichkeit der Metaphysik die Frage nach dem Wesen der Was will nun die Unterscheidung in analytische und synthe-
menschlichen Erkenntnis entscheidend werden muBte, niemals. lische Urteile? In welcher Hinsicht verschafft uns die Klâirung
befriedigen, d. h. zum Frieden mit der Sache selbst bringen derselben eine erfiilltere Einsicht in das Wesen des Urteils?
konnte. Bisher wissen wir von dieser Unterscheidung nur, daB von ihr
Wollen wir die neue Urteilsdefinition Kants deutlicher ver- die Abgrenzung der beiden ersten Abschnitte unseres Haupt-
stehen, dann heiBt dies nichts anderes, als daB wir uns die schon stiickes geleitet ist. Aus der Benennung vermõgen wir zuniichst
genannte Unterscheidung in analytische und synthetische Ur- nicht viel zu entnehmen. Wir kôónnen, ihr folgend, leicht in die
teile klar machen. Wir fragen: In welcher Hinsicht sind hier die Irre gehen, und zwar deshalb, weil die so benannte Unterschei-
Urteile unterschieden? Was besagt diese leitende Hinsicht fur dung sich auch an der iiberlieferten Urteilsbestimmung antref-
die neue Wesensbestimmung des Urteils? fen 1ãBt und sogar schon zur Zeit ihrer ersten Ausbildung bei
125 Die vielfach so gewundenen, schiefen und ergebnislosen Ver- Aristoteles in Anwendung kam. Analytisch, Analysis, auflósen,
suche, mit Kants Unterscheidung zurechtzukommen, kranken nuseinandernehmen, diwioeois; Synthesis dagegen Zusammen-
alle von vornherein daran, daB sie die úiberlieferte Urteilsdefini- setzen.
tion, aber nicht die von Kant erreichte zugrunde legen. Achten wir noch einmal auf die Ansetzung des Urteils als des
Die Unterscheidung bringt nichts anderes zum Vorschein als Verhãltnisses von Subjekt und Prãdikat, dann ergibt sich so-
164 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 25. Wesensbestimmung des Urteils 165

gleich: Dieses Verhãltnis, d. h. das Zusprechen des Prádika- cin rein geometrischer oder ein stofflicher, physischer sein. Das
tes zum Subjekt, ist eine Synthesis, z. B. von »Tafel« und Prãdikat » ausgedehnt« liegt im Begriff selbst; eine bloBe Zer-
»schwarz«. Andererseits aber mússen die beiden Verhãltnisglie- gliederung des Begriffes findet dieses Glied. Die im Urteil » Der
der, um zusammensetzbar zu sein, auseinandergenommen wer- lKúrper ist ausgedehnt« vorgestellte Einheit des Verhãáltnisses
den. In jeder Synthesis liest eine Analysis und umgekehrt. von Subjekt und Prãdikat, die Zusammengehórigkeit beider
Also ist jedes Urteil als Vorstellungsverhâlitnis — nicht nur bei- hat ihren Bestimmungsgrund im Begriff Kórper. Wenn ich
lâufig, sondern notwendig — zugleich analytisch und synthe- iiberhaupt in irgendeiner Weise ilher Kórper urteile, so muB ich
126 tisch. Weil demnach jedes Urteil als solches analytisch und syn- von dem Gegenstand schon eine gewisse Erkenntnis haben im
thetisch ist, hat die Unterscheidung in analytische und synthe- Sinne seines Begriffes. Wird iiber den Gegenstand nichts weiter
tische Urteile keinen Sinn. Diese Úberlegung ist richtig. Nur ausgesagt, als was im Begriff liegt, d. h. grúndet sich die Wahr-
legt Kant seiner Unterscheidung nicht das herkômmlich ge- heit des Urteils nur auf die Zergliederung des Subjektbegriffes
meinte Urteilswesen zugrunde. Was bei Kant analytisch und als solchem, dann ist dieses nur zergliederungsmã£ig gegriin-
synthetisch heiBt, bestimmt sich nicht aus der herkimmlichen, dete Urteil ein analytisches. Die Wahrheit des Urteils stúítzt sich
sondern aus der neuen Wesensumegrenzung. Um den Unter- auf den auseinandergelegten Begriff als solchen.
schied und die leitende Hinsicht des Unterschiedes wirklich in Wir verdeutlichen das Gesagte an der Zeichnung: 127
den Blick zu bekommen, nehmen wir die Zeichnung zu Hilfe
und zugleich Beispiele von analytischen und synthetischen Ur-
teilen. x O. x

» Alle Kórper sind ausgedehnt« — ist nach Kant ein analyti-


sches Urteil. » Einige Kôrper sind schwer« ist (Proleg. $ 2 a) nach
Kant ein synthetisches Urteil. Im Blick auf die Beispiele kinnte
man den Unterschied dahin festlegen, daB im analytischen Ur-
teil von »allen« Kórpern die Rede ist, im synthetischen dagegen
von »einigen«. Diese Abweichung der beiden Urteile ist gewiB
nicht zufállig; aber sie reicht nicht aus, um den gesuchten Un- Zum Urteil nach der neuen Bestimmung gehôrt der Bezug
terschied zu fassen, zumal dann nicht, wenn wir ibn nur im aufs Objekt (X), d. h. das Subjekt ist in seinem Bezug aufs Ob-
Sinne der herkômmlichen Logik verstehen und sagen: Das erste jekt gemeint. Aber dieser Bezug kann nun in verschiedener
Urteil ist ein universales, das zweite ein partikulares. » Alle Weise vorgestellt sein. Einmal so, daB das Objekt nur so weit
Kôrper«, dies meint hier: der Kórper im allgemeinen und iiber- vorgestellt wird, als es im Allgemeinen genannt ist, im Begriff.
haupt. Dieses »im allgemeinen« wird nach Kant im Begriff vor- In diesem haben wir schon eine Erkenntnis vom Objekt und
gestellt. » Alle Kirper«, das heiBt: der Kóôrper seinem Begriff kônnen mit UÚbergehung des Objekts (X), ohne den Umweg
nach genommen, im Hinblick auf das, was wir iiberhaupt mit iiber das X, rein im Subjektbegriff » korperlich« bleibend, aus
»Kôrper« meinen. Vom Kôórper, seinem Begriff nach genom- diesem das Prádikat schópfen. Ein solches zergliederndes Urteil
men, nach dem, was wir iiberhaupt dabei vorstellen, kóinnen stellt nur klarer und lauterer dar, was wir im Subjektbegriff
wir, miissen wir sogar sagen: Er ist ausgedehnt, mag der Kórper schon vorstellen. Das analytische Urteil ist daher nach Kant nur
166 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 25. Wesensbestimmung des Urteils 167

erlâuternd; es erweitert unsere Erkenntnis inhaltlich nicht, nmnalytisch. Aber diese Hinsicht ist bei Kants Unterscheidung
Nehmen wir ein anderes Beispiel. Das Urteil: »Die Tafel int nicht leitend. Wir sehen jetzt deutlicher, was es mit dieser allge-
ausgedehnt« ist ein analytisches Urteil. Im Begrifft der Tafel meinen Urteilsbezichung auf sich hat, wenn sie gesondert her-
als eines Kôrperhaften liegt Ausgedehntsein, Dieses UÚrteil. ist nusgehoben und einzig als Urteilsbeziehung ausgegeben wird.
selbstverstândlich, d. h. das In-Beziehung-setzen von Subjekt Dunn ist sie nur die gleichgiltige neutralisierte Beziehung von
und Prãdikat hat seinen Grund schon im Begriff, den wir vou Subjekt und Prãdikat, die im analytischen und synthetischen
einer Tafel haben. Sagen wir dagegen: » Die Tafel ist schwarza, Urteil allgemein — aber je wesensverschieden — vorliegt. Diese
dann ist das Gesagte nicht selbstverstândlich. Die Tafel kónnte eingeebnete und verblaBte Form wird zum Wesen des Urteils
auch grau oder weilBB oder rot sein. Im Begriff von einer Tafol restempelt. Das Verhiingnisvolle bleibt, daB diese Feststellung
liegt nicht schon
— so, wie das Ausgedehntsein — das Rotsein fest. jederzeit richtig ist. Unsere Zeichnung wird jetzt insofern irre-
Wie die Tafel gefárbt ist, daB sie schwarz ist, kann nur vom. liihrend, als sie den Eindruck erwecken kônnte, die Subjekt-
Gegenstand selbst her ausgemacht werden. Um also auf den Pridikat-Beziehung sei zunáchst und vor allem anderen das
Bestimmungsgrund zu kommen, darin hier das Verhãltnis von Tragende und das Úbrige ein Beiwerk.
Subjekt und Prãádikat gegriindet ist, muB das Vorstellen einen Die entscheidende Hinsicht, nach der die Unterscheidung in
anderen Weg nehbmen als im analytischen Urteil, nâmlich den analytische und synthetische Urteile festgelegt wird, ist der Be-
Weg úber den Gegenstand und seine bestimmte Gegebenheit. zug der Subjekt-Pridikat-Beziehung als solcher auf das Objekt.
Vom analytischen Urteil her gesprochen heiBt dies: Wir kón- Wird dieses nur in seinem Begriff vorgestellt und dieser als das
nen hier nicht innerhalb des Subjektbegriffes bleiben und uns Vorgegebene gesetzt, dann ist zwar das Objekt (Gegenstand) in
nicht nur auf das berufen, was zu einer Tafel iilberhaupt gehõórt. gewisser Weise MakBstab, aber nur als der gegebene Begriff;
Wir mússen aus dem und iiber den Begriff hinausgehen und dieser kann die Bestimmungen nur hergeben, indem er zerglie-
den Weg iiber den Gegenstand selbst nehmen. Das sagt aber: dert wird, so zwar, daB allein das Zergliederte und dabei Fler-
Jetzt mu zum Begriff vom Gegenstand der Gegenstand selbs! ausgehobene dem Gegenstand zugesprochen wird. Die Begriin-
128 hinzu vorgestellt werden; dieses Mit-dazu-vorstellen des Ge- dung vollzieht sich im Bereich der Zergliederung des Begriffes.
genstandes ist eine Synthesis. Ein solches Urteil, in dem das Auch im analytischen Urteil ist der Gegenstand mitmafBgebend
Prádikat im Durchgang durch das X und im Rúckgang darauf — aber lediglich in seinem Begriff. (Vgl. A 151, B 190: »Denn
zum Subjekt hinzugesetzt wird, ist ein synthetisches. » Denn von dem, was in der Erkenntnis des Objekts schon als Begriff
daB etwas auBer dem gegebenen Begriffe noch als Substrat hin- liegt und gedacht wird ...<)
zu kommen miisse, was es môglich macht, mit meinen Pridica- Wird das Objekt aber unmittelbar maBgebend fúr die Sub-
ten úiber ibn hinaus zu gehen, wird durch den Ausdruck der jekt-Priâdikat-Beziehung, nimmt das Aussagen den es auswei-
Synthesis klar angezeigt«. (Úber eine Entdeckung ..., WW senden Weg iiber das Objekt selbst, ist dieses mit dabei als das
VIITS. 245). Zugrundeliegende und Griindende, dann ist das Urteil synthe-
Im Sinne der úberlieferten Urteilsdefinition wird auch im tisch.
Die Unterscheidung eliedert die Urteile nach der móglichen 129
analytischen Urteil zum Subjekt ein Prádikat gesetzt. Aus der
Hinsicht auf das Subjekt-Pridikat-Verhãáltnis ist auch das ana- Verschiedenheit/ des Bestimmungsgrundes der Wahrheit der
Iytische Urteil synthetisch. Umgekehrt ist das synthetische auch Subjekt-Prãâdikat-Beziehung. Liegt der Bestimmungsgrund im
168 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk 5$ 25. Wesensbestimmung des Urteils 169

Begriff als solchem, dann ist das Urteil analytisch; liegt er im sind, lateinisch gesprochen, a priori, eher als anderes. Gemeint
Gegenstand selbst, dann ist das Urteil synthetisch, Dieses bringi int nicht, dal uns diese Vorwegnahmen als solche in der Ord-
aus dem Gegenstand selbst zur bisherigen Kenntnis desselben nung der geschichtlichen Ausbildung unserer Erkenntnis zuerst
etwas hinzu; es ist erweiternd; das analytische dagegen ist nur bekannt wurden, sondern: Die vorwegnehmenden Sãtze sind
erlâuternd. die ersten dem Range nach, wenn es sich darum handelt, die
Es muB deutlich geworden sein, daB die durchgesprochenga lrkenntnis in sich zu begrinden und aufzubanen. So kann ein
Unterscheidung der Urteile den neuen Urteilsbegriff voraus- Nuaturforscher schon lângst mannigfache Kenntnisse und Er- 150
setzt, den Bezug auf die objektive Einheit des Gegenstands kenntnisse von der Natur haben, ohne daB er das oberste Be-
selbst, und daB sie zugleich dazu dient, eine bestimmte Einsicht Wwegungsgesetz eigens als solches kennt; gleichwohl ist das in
in den vollen Wesensbau des Urteils zu vermitteln. Gleichwohl] diesem Gesetz Gesetzte der Sache nach immer schon der Grund
sehen wir noch nicht klar, was diese Unterscheidung in analy- [tir alle besonderen Aussagen, die im Bereich der Feststellun-
tische und synthetische Urteile innerhalb der Aufgabe der Kri- en von Bewegungsablâufen und ihrer RegelmiBbigkeit ge-
tik der reinen Vernuntt soll. Wir bestimmten diese positiv als Inacht werden.
Wesenseingrenzung der reinen Vernuntt, d. h. dessen, was diese Die Prioritãt des a priori ist eine solche des Wesens der Din-
vermag, negativ als Zurickweisung der AnmaBungen der Me- te; was das Ding zu dem ermóglicht, was es ist, geht dem Ding
taphysik aus bloBen Begriffen. der Sache und der » Natur« nach vorher, wenngleich wir dieses
Vorgângige erst nach Kenntnisnahme irgendwelcher nãchster
e) a priori — a posteriori Boschaffenheiten des Dinges erfassen. (Úber die prioritas na-
lurae vel. Leibniz ed. Gerhardt, II, 263; Brief an de Volder
Inwiefern hat die genannte Unterscheidung fir die Durchfiih- vom 21. 1. 1704). Tn der Ordnung des ausdricklichen Erfassens
rung der Kritik eine grundlegende Bedeutung? Wir kónnen die ist das sachlich Vorgângige nachherig. Das xeótepov qucer ist
Frage beantworten, sobald wir die analytischen und syntheti- lortepoy xods hão. DaB das sachlich Vorgângige in der Ord-
schen Urteile noch in einer Hinsicht gekennzeichnet haben, die nung des Kennenlernens das Nachherige ist, filhrt leicht und
bisher absichtlich zuriickgestellt wurde. immer wieder zu dem Irrtum, es sei auch der Sache nach ein
Bei der Aufhellung des Wesens des Mathematischen und bei Nachtrãágliches und demzufolge Unwichtiges und im Grunde
der Darstellung der Entfaltung des mathematischen Denkens Gleichgúltiges. Diese weitverbreitete und auBerdem bequeme
in der neuzeitlichen Naturwissenschaft und in der neuzeitlichen Meinung entspricht einer eigentimmlichen Blindheit fir das
Denkweise iiberhaupt stieBen wir auf einen merkwúrdigen Wesen der Dinge und fúr die maBgebende Bedeutung der We-
Tatbestand. Jenes erste Bewegungsgesetz Newtons z. B. und senserkenntnis, Die Vorherrschaft solcher Wesensblindheit ist
desgleichen das Fallgesetz Galileis haben beide das Eigentim- immer das Hindernis fúr eine Wandlung des Wissens und der
liche an sich, daf sie dem, was die Nachpritfung und Erfahrung Wissenschaften. Andererseits beruhen die entscheidenden
im wôrtlichen Sinne darbietet, vorausspringen. In solchen Sat- Wandlungen des Wissens und der Wissenshaltung des Men-
zen ist bezúglich der Dinge etwas vorweggenommen. Solche schen daraunf, daB das sachlich Vorgângige auch fúr das Fragen
Vorwegnahmen gehen dem Range nach allen weiteren Bestim- in der rechten Weise als das Vorherige und als stândiger Vor-
mungen iiber die Dinge voran und vorher; die Vorwegnahmen wurf ergriffen wird.
170 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 25. Wesensbestimmung des Urteils 171
Das a priori ist der Titel fitr das Wesen der Dinge. Je nach- iiberlieferte neuzeitliche Metaphysik? Wie wir wissen, ist die
dem die Dingheit des Dinges begriffen und iiberhaupt das Sein rationale Metaphysik eine Erkenntnis aus bloBen Begriffen, so-
des Seienden verstanden wird, je nachdem wird auch das a mit a priori, Allein, diese Metaphysik will nicht Logik sein, will
priori und seine prioritas gedeutet. Wir wissen: Fiir die neu- nicht nur Begriffe zergliedern, sondern sie beansprucht, die
zeitliche Philosophie ist in der Rangordnung der Wahrheiten iibersinnlichen Bereiche — Gott, Welt, Menschenseele —, also die
und Sãtze der Ichsatz der erste Satz, d. h. das im reinen Denken Gegenstânde selbst zu erkennen. Die rationale Metaphysik will
des Ich, als des ausgezeichneten Subjekts, Gedachte. So kommt die Erkenntnis darúiber erweitern. Die Urteile dieser Metaphy-
es, daB umgekehrt alles im reinen Denken des Subjekts Ge- sik sind ihrem Anspruch nach synthetisch, sind aber zugleich,
dachte als das a priori gilt. À priori ist jenes, was im Subjekt, weil aus blofen Begriffen, aus dem bloBen Denken gewonnen,
im Gemiit, bereitliegt. Das a priori ist jenes, was zur Subjekti- a priori. Die Frage nach der Móglichkeit der rationalen Meta-
vitãt des Subjekts gehórt. Alles andere dagegen, was erst durch physik lãBt sich daher auf die Formel bringen: Wie sind die in
ein Hinausgehen aus dem Subjekt und durch Eingehen auf das ihr beanspruchten Urteile múglich, d. h. wie sind synthetische
Objekt, auf die Wahmehmungen, zugânglich wird, ist — vom Urteile, und zwar a priori môglich? Wir sagen »und zwars«,
Subjekt her gesehen — nachherig: a posteriori. denn wie synthetische Urteile a posteriori móglich sind, lãbt
Auf die Geschichte dieser Unterscheidung — a priori, vorgãn- sich ohne Schwierigkeiten einsehen. Eine Erweiterung unserer
gig dem Range nach, und a posteriori, entsprechend nachherig = Erkenntnis (Synthesis) ergibt sich jedesmal dann, wenn wir
151 kann hier nicht eingegangen werden. Kant iibernimmt sie in úber den Begriff hinausgehen und die Gegebenheiten des
seiner Weise aus dem neuzeitlichen Denken und kennzeichnet Wahrnehmens und Empfindens, das a posteriori, das Nachhe-
mit ihrer Hilfe die Unterscheidung der Urteile in analytische rige — vom Denken als dem Vorherigen aus gesehen — zu Wort
und synthetische. Ein analytisches UÚrteil, das den Bestim- kommen lassen.
mungsgrund der Wahrheit seiner Subjekt-Prãdikat-Beziehung Wie andererseits analytische Urteile a priori móglich sind, ist
lediglich im Begriff hat, verbleibt im vorhinein im Bereich der ebenfalls klar; sie geben als erlâuternde nur das wieder, was
Begriffszergliederung, also im Bereich des bloBen Denkens; es schon im Begriff liegt. Dagegen bleibt zunãchst unerfindlich,
ist a priori. Alle analytischen Urteile sind ihrem Wesen nach wie synthetische Urteile a priori móglich sein sollen, Nach dem
a priori. Die synthetischen Urteile sind a posteriori. Wir mússen Bisherigen jedenfalls ist schon der Begriff eines solchen Urteils
hier erst iilber den Begriff hinaus zum Gegenstand, von dem her in sich widersprechend. Da die synthetischen Urteile a posteriori
die Bestimmungen »nachher« geschópft werden. sind, brauchen wir statt synthetisch nur a posteriori zu setzen, 152
um den Widersinn der Frage zu sehen. Sie lautet: Wie sind a
£) Wie sind synthetische Urteile a priori muóglich? posteriorische Urteile a priori móglich? Oder wir kôinnen, da
alle analytischen Urteile a priori sind, statt a priori analytisch
Werfen wir jetzt von Kants Klárung des Wesens des Urteils aus setzen und die Frage auf die Formel bringen: Wie sind synthe-
einen Blick auf die iiberlieferte Metaphysik. Eine Kritik dersel- tische Urteile analytisch móglich? Das ist so, wie wenn wir
ben mufB das Wesen des in ihr vollzogenen und beanspruchten sagen wollten: Wie ist Feuer als Wasser móglich? Die Antwort
Denkens und Urteilens umgrenzen. Welche Art von Urteilen versteht sich von selbst. Sie lautet: unmóglich.
beansprucht, im Lichte von Kants Urteilslehre gesehen, die Die Frage nach der Miglichkeit synthetischer Urteile a priori
172 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $25). Wesensbestimmung des Urteils 175

nimmt sich aus wie die Forderung, úber den Gegenstand etwas miissen den Charakter von synthetischen Urteilen a priori ha- 155
Verbindliches und ihn Bestimmendes auszumachen, ohne auí ben. Im III. Abschnitt unseres Haupistiickes geschieht nichts
den Gegenstand ein- und zuriickzugehen. nnderes als die systematische Darstellung und Begriindung die-
Dennoch besteht die entscheidende Entdeckung Kants gerade ser synthetischen und doch zugleich a priorischen Urteile.
darin, sehen zu lassen, dafi und vor allem wie synthetische Ur-
teile a priori móglich sind. Die Frage nach dem Wie der Mõg- £) Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch als der
lichkeit besagt fur Kant allerdings ein Doppeltes: 1. in welchem negativen Bedingung der Wahrheit des Urteils
Sinne und 2. unter welchen Bedingungen.
Synthetische Urteile a priori sind nâmlich, wie sich zeigen Von hier aus verstehen wir schon eher, warum diesem III. Ab-
wird, nur unter genau bestimmten Bedingungen múglich, wel- schnitt zwei Abschnitte vorausgeschickt werden, deren erster
che Bedingungen die rationale Metaphysik nicht zu erfillen von den analytischen Urteilen und deren zweiter von den syn-
vermag. Synthetische Urteile a priori sind deshalb in ihr nicht thetischen Urteilen handelt. Auf dem Hintergrund dieser bei-
vollziehbar. Das eigenste Vorhaben der rationalen Metaphysik den ersten Abschnitte wird erst das Eigentúmliche und Neu-
bricht in sich zusammen. Wohlgemerkt: nicht deshalb, weil sie artige des im III. Abschnitt Behandelten, wird der Sinn der
zufolge âuBerer Hindernisse und Schranken nicht an das ge- Mitte des ganzen Werkes sichtbar, Auf Grund der durchge-
steckte Ziel gelangt, sondern weil die Bedingungen derjenigen filhrten Aufhellung des Unterschieds der analytischen und
Erkenntnis, die sie ihrem Charakter nach beansprucht, auf synthetischen Urteile verstehen wir auch, warum von den
Grund dieses Charakters von ihr nicht erfúllbar sind. Die Zu- obersten Grundsãtzen dieser UÚrteile die Rede ist bzw. was dies
riickweisung der rationalen Metaphysik auf Grund ihrer inne- bedeutet.
ren Unmóglichkeit setzt freilich den positiven Aufweis derjeni- Die analytischen und synthetischen Urteile werden im Hin-
gen Bedingungen voraus, die synthetische Urteile a priori blick auf die je verschiedene Art ihrer Beziehung aufs Objekt,
móõglich machen. Aus der Art dieser Bedingungen bestimmt d. h. im Hinblick auf die jeweilige Art des Bestimmungsgrun-
sich auch, wie, d. h. in welchem Sinne allein synthetische Ur des fiir die Wahrheit der Subjekt-Pridikat-Beziehung unter-
teile a priori môglich sind, in einem Sinne nâmlich, von dem bis schieden. Der oberste Grundsatz ist die Satzung des ersten und
zu Kant die Philosophie und das menschliche Denken úber- cigentlichen Grundes, in dem die Wahrheit der betreffenden
hauptnichts wnBten. Art von Urteilen griindet. So kônnen wir jetzt in der Umdre-
Bei der Sicherstellung dieser Bedingungen — und das sagt hung des Ganzen sagen:
zugleich: bei der Umgrenzung des Wesens so gearteter Urteile Die beiden ersten Abschnitte unseres Hauptstiickes vermit-
— erkennt Kant nicht nur, inwiefern sie móglich, sondern auch, teln die urspriingliche Einsicht in das Wesen sowohl der analy-
inwiefern sie notwendig sind. Sie sind nâmlich notwendig fúr lischen als auch der synthetischen Urteile, insofern sie jeweils
die Ermóglichung der menschlichen Erkenntnis als Erfahrung. von dem handeln, was den VWesensunterschied beider Arten
GemiBi der Úberlieferung des neuzeitlichen Denkens, die Kant von Urteilen ausmacht. Sobald von analytischen und syntheti-
trotz allem festhãlt, grindet Erkenntnis in Grundsãátzen. Die- schen Urteilen die Rede ist, und zwar im Sinne Kants, sind die
jenigen Grundsãtze, die unserer menschlichen Erkenntnis not- Urteile und ist das Wesen des Urteils iberhaupt in ihrer und
wendig als Bedingungen ihrer Moglichkeit zugrunde liegen, aus ihrer Beziehung aufs Objekt begriffen, also gemaB dem
174 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 25. Wesensbestimmung des Urteils 175
neuen in der » Kritik der reinen Vernunft« gewonnenen Ur dem ungeachtet doch Begriffe so verbinden, wie es der Gegen-
teilsbegriff. stand nicht mit sich bringt, oder auch, ohne daB uns irgendein
Wenn daher in unserem Hauptstiick durchgiângig von den Grund weder a priori noch a posteriori gegeben ist, welcher ein
Urteilen gehandelt wird, so heiBt dies nicht und nicht mehr, das solches Urteil berechtigte, und so kann ein Urteil bei allem dem,
Denken werde fiir sich betrachtet, sondern es heiBt: Die Bezie- daB es von allem inneren Widerspruche frei ist, doch entweder
hung des Denkens auf den Gegenstand und damit auf die An- falsch oder grundlos sein.« (A 150, B 190)
schauung steht in Frage. Jetzt erst gibt Kant die Formel des beriilhmten Satzes vom
Die versuchte kurze systematische Besinnung auf Kants Ur- Widerspruch: » Keinem Dinge kommt ein Prãdikat zu, welches
teilslehre sollte uns instand setzen, die folgenden Erórterungen ihm widerspricht«. (A 151, B 190) In seiner Metaphysikvorle-
des 1. Abschnittes zu verstehen, d. h. einen Vorblick auf die sung (Pôlitz, S. 15) lautet die Formel: nulli subjecto competit
inneren Zusammenhânge dessen zu gewinnen, was Kant im praedicatum ipsi oppositum. » Keinem Subjekt kommt ein ibm
folgenden zur Sprache bringt. selbst entgegengesetztes Prádikat zu.« Beide Fassungen unter-
Ein Urteil ist entweder analytisch oder synthetisch, d. h. es scheiden sich nicht wesentlich. Diejenige der » Kritik der reinen
hat den Bestimmungsgrund seiner Wahrheit entweder im ge- Vernunft« nennt eigens das Ding, das, worauf der Subjektbe-
134 gebenen Subjekt-Begriff oder im Gegenstand selbst. Ein UÚrteil griff bezogen ist; die Vorlesung nennt den Subjektbegriff
kôónnen wir betrachten lediglich als Subjekt-Prãdikat-Bezie- selbst.
hung; damit fassen wir gleichsam nur einen Restbestand des Im letzten Absatz unseres 1. Abschnittes begriimdet Kant,
Urteilsbaues; auch dieser Restbestand steht noch, um das zu warum er den Satz vom Widerspruch in dieser von der Uberlie-
sein, was er ist, um iiberhaupt ein Subjekt-Prádikat-Verhãltnis ferung abweichenden Fassung aufstellt. »Es ist aber doch eine
abzugeben, unter einer Bedingung, daB nâmlich Subjekt und Formel dieses berilhmten, obzwar von allem Inhalt entblófBten
Pridikat iilberhaupt vereinbar, d. h. einander zusprechbar und und bloBê formalen Grundsatzes, die eine Synthesis enthãlt,
nicht sich widersprechend sind. Allein, diese Bedingung gibt welche aus Unvorsichtigkeit und ganz unnôtigerweise in ihr ge-
noch nicht den vollen Grund der Wahrheit des Urteils, weil die- mischt worden. Sie heiBt: es ist unmúglich, daB etwas zugleich
ses noch nicht voll begriffen ist. sei und nicht sei.« Bei Aristoteles lautet der Satz vom Wider- 155
Die bloBe Vereinbarkeit von Subjekt und Prãdikat sagt spruch: tô vão adtô Gua únáoxew te xal ph ónáoxew dduvatov
nur, daB úberhaupt ein Aussagen als Méyew tu xatá Tuwos, ein 1p adro xal xatá tô adrôó (Met. T 3, 1005b 19). »Unmõg-
Spruch iiberhaupt, móglich sei, sofemn ein Widerspruch nicht lich kann dasselbe zugleich vorkommen sowohkl als nicht vor-
hindert. Diese Vereinbarkeit reicht jedoch als Bedingung des kommen am selben in Hinsicht auf das selbe.« Wolff in sei-
Sagens noch nicht in den Bereich des Wesens des Urteils. Das ner Ontologie $ 28: Fieri non potest, ut idem simul sit et non
Urteil ist hier noch ohne den Hinblick auf Grundgebung und sit. »Es kann nicht geschehen, dal dasselbe zugleich sei und
Gegenstandsbeziehung betrachtet. Die bloBe Vereinbarkeit von nicht sei«. Auffallend ist in diesen Fassungen das úuna, simul,
Subjekt und Priidikat besagt iiber die Wahrheit des Urteils so zugleich, also die Zeitbestimmung. In Kants eigener Fassung
wenig, daB ein Subjekt-Pridikat-Verhãltnis trotz der Wider- findet sich das »zugleich« nicht. Warum ist es weggelassen?
spruchsfreiheit falsch oder gar grundlos sein kann. » Wenn aber »Zugleiche« ist eine Zeitbestimmung und kennzeichnet daher
auch gleich in unserem Urteile kein Widerspruch ist, so kann es den Gegenstand als zeitlichen, d. h. als Erfahrungsgegenstand.
176 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 25. Wesensbestimmung des Urteils 177

Sofern aber der Satz vom Widerspruch nur als negative Bedin- hier der einzige und hinreichende MaBbstab fir das Zusprechen
gung des Subjekt-Prãâdikat-Verhãltnisses iiberhaupt verstanden und Absprechen des Prãdikats. Der Satz, der den Grund der
wird, ist das Urteil in seiner Abschnúrung vom Gegenstand und Wahrheit des analytischen Urteils setzt, mufB also die Selbigkeit
dessen zeitlicher Bestimmung gemeint. Aber auch wenn man des Begriffes als Grund des Subjekt-Prádikat-Verhãltnisses set-
dem Satz vom Widerspruch, wie es alsbald geschieht, eine posi- zen. Als Regel verstanden, muB er setzen: die Notwendigkeit
tive Bedeutung zuweist, gehõôrt nach Kant das »zugleiche als des Festhaltens des Begriffes in seiner Selbigkeit, Identitãt, Der
Zeitbestimmung nicht in seine Formel. oberste Grundsatz der analytischen Urteile ist der Satz der
Identitãt.
h) Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch als Aber sagten wir nicht, der oberste Grundsatz, von dem in
negative Fassung des Satzes der Identitãt diesem 1. Abschnitt gehandelt werde, sei der Satz vom Wider-
spruch? Sagten wir dies nicht mit Recht, da Kant im I. Ab-
Inwiefern kann vom Satz vom Widerspruch ein positiver Ge- schnitt nirgends vom Satz der Identitãt spricht? Allein, dal von
brauch gemacht werden, so daB er nicht nur eine negative Be- ciner zweifachen Rolle des Satzes vom Widerspruch die Rede
dingung der Múiglichkeit des Subjekt-Prãdikat-Verhãltnisses ist, muB stutzig machen. Die Rede vom positiven Gebrauch des
iiberhaupt, d. h. in allen móglichen Urteilen, darstellt, sondern Satzes vom Widerspruch besagt nicht nur: Anwendung dieses
einen obersten Grundsatz fiir eine bestimmte Art von Urteilen? Satzes als Bestimmungsgrund, sondem: Diese Anwendung ist
Die úberlieferte rationale Metaphysik war der Meinung, der nur mõóglich, wenn zugleich der negative Gehalt des Satzes in
Satz vom Widerspruch sei Grundsatz aller Urteile ivberhaupt, seinen positiven umgewendet ist. In der Formel dargestellt: von
d. h. nach Kant der analytischen sowohl wie der synthetischen. AzEnonà wirdzu A = A fortgegangen.
Diese Unterscheidung der Urteile ermóglicht es Kant, die Reich- Der positiv gebrauchte Satz vom Widerspruch ist der Satz der
weite der axiomatischen Geltung des Satzes vom Widerspruch Identitãt. Kant nennt zwar in unserem Abschnitt den Satz der
schãrfer als bisher, d. h. im Negativen und Positiven abzugren- Identitãt nicht, aber in der Einleitung (A 7, B 10) bezeichnet er
zen. Ein Grundsatz ist, im Unterschied zu einer bloB negativen die analytischen Urteile als diejenigen, »in welchen die Ver-
Bedingung, ein solcher Satz, in dem ein Grund fir mógliche knúpfung des Pridikats mit dem Subjekt durch Identitãit« ge-
Wahrheit gesetzt wird, d. h. solches, was zureicht, um die dacht wird; hier ist »Identitit« als der Grund des analytischen
Wahrheit des Urteils zu tragen. Grund ist hier immer als sol- Urteils angegeben. Insgleichen sind in der Streitschrift » Úber
ches vorgestellt, was trágt und im Tragen ausreicht, er ist ratio eine Entdeckung . . .« (WW VIII S. 245) die analytischen Ur-
sufficiens. Wird das Urteil nur als Subjekt-Prãdikat-Verhãlinis teile als diejenigen bestimmt, »die ganz auf dem Satze der
genommen, dann ist es iilberhaupt nicht in Hinsicht auf die Be- Identitãt oder des Widerspruchs beruhen«. Im folgenden IL.
stimmungsgriinde seiner Wahrheit angesehen. Dagegen wird Abschnitt (A 154/5, B 194) werden Identitãt und Widerspruch
diese Hinsicht in der Unterscheidung von analytischen und zusammen genannt. Das Verhãáltnis der beiden Grundsãtze ist
synthetischen Urteilen bestimmend. Das analytische Urteil bis heute nicht entschieden. Es láBt sich auch nicht formal ent-
nimmt den Gegenstand lediglich in seinem gegebenen Begriff scheiden, weil diese Entscheidung von der Auffassung des Seins
156 und will gerade nur diesen in der Selbigkeit seines Inhaltes und der Wahrheit ilberhaupt abhângig bleibt. In der rationalen
festhalten, um ibn zu erlâutern. Die Selbigkeit des Begriffs ist Schulmetaphysik hatte der Satz vom Widerspruch den Vorrang.
178 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 25. Wesensbestimmung des Urteils 179

Deshalb stellt Kant in unserem Abschnitt die Erôrterung aul schrânkung des Satzes vom Widerspruch als Grundsatz auf die
den Satz vom Widerspruch ab. Fúr Leibniz wird dagegen die analytischen Urteile noch deutlicher zu fassen, und zwar im
Identitãt das erste Prinzip, zumal fúr ihn alle Urteile Identitã- Hinblick auf die leitende Frage nach der Dingheit des Dinges.
ten sind. Kant selbst zeigt in seiner Habilitationsschrift (IT. Teil: Die iiberlieferte Bestimmung der Dingheit des Dinges, d. h. des
de principio contradictionis, 1. propositio) gegen Wolff: Verita- Seins des Seienden, hat die Aussage (das Urteil) zum Leitfa-
tum omnium non datur principium UNICUM, absolute pri- den; Sein wird aus dem Denken und den Gesetzen der Denk-
mum, catholicon. Die 3. propositio zeigt die praeferentia des barkeit bzw. Undenkbarkeit bestimmt. Der jetzt besprochene
principium identitatis . . . prae principio contradictionis. l. Abschnitt unseres Hauptstiickes sagt indes nichts anderes als:
157 In den analytischen Urteilen wird der Gegenstand nur nach Das bloBe Denken kann nicht der Gerichtshof fúr die Bestim-
seinem Begriff gedacht und nicht als Erfahrungsgegenstand, mung der Dingheit des Dinges sein, Kantisch gesprochen: fúr
d.h. als zeitbestimmter Gegenstand; mithin braucht der die Gegenstândlichkeit des Gegenstandes. Die Logik kann nicht
Grundsatz dieser Urteile in seiner Formel auch keine Zeitbe- die Grundwissenschaft der Metaphysik sein. Sofem aber bei der
stimmung zu enthalten. Bestimmung des Gegenstandes, der nach Kant Gegenstand der
menschlichen Erkenntnis ist, gleichwohl notwendig das Denken
13) Kants transzendentale Betrachtung; allgemeine und beteiligt bleibt, und zwar als anschauungsbezogenes Denken,
transzendentale Logik d. h. als synthetisches UÚrteil, hat die Logik als Lehre vom Den-
ken in der Metaphysik ein Wort mitzusprechen. GemãB der ge-
Der Satz vom Widerspruch und der Satz der Identitãt gehóren wandelten Wesensbestimmung von Denken und Urteilen muB
nur in die Logik und betreffen nur das logisch betrachtete Ur- sich jedoch auch das Wesen der darauf bezogenen Logik wan- 158
teil, Wenn Kant so spricht, dann siebt er allerdings iber den deln; es muB eine Logik sein, die das Denken einschlieBlich
von ihm eingefiihrten Unterschied im Gebrauch des Satzes vom seines Gegenstandsbezuges in den Blick faBt. Diese Art Logik
Widerspruch hinweg und betrachtet alles Denken als nur lo- nennt Kant die transzendentale Logik.
gisch, das in seiner Begriindung nicht den Weg úber den Ge- Transzendental ist das, was die Transzendenz betrifft. Tran-
gensiand selbst nimmt. Logik, im Sinne der »allgemeinen szendental gesehen, wird das Denken in seinem Hiniibersteigen
Logiks«, sieht von aller Beziehung aufs Objekt ab (A 55, B 79). zum Gegenstand betrachtet. Transzendentale Betrachtung rich-
Sie kennt nichts dergleichen wie synthetische Urteile. Alle Ur- tet sich nicht auf die Gegenstiinde selbst; auch nicht auf das
teile der Metaphysik sind aber synthetische. Also — und darauf Denken als bloBes Vorstellen der Subjekt-Prãdikat-Beziehung,
Kkomm:t es jetzt allein an — ist der Satz vom Widerspruch kein sondern auf den Uberstieg und auf den Bezug zum Gegenstand
Grundsatz der Metaphysik. — als diesen Bezug.
Also — das ist die weitere entscheidende Folgerung, die zwi- (Transzendenz: 1. Hinúber zu — als solches
schen Abschnitt I und II vermittelt — fordern die metaphysische 2. Úber-weg —)
* Erkenntnis und jede gegenstândliche, synthetische Erkenntnis (Zu Kants Bestimmung des » Iranszendentalen« vel. Kr. d. r.
iiberhaupt eine andere Begriindung. Andere Grundsãtze miis- V. A 12, B 25. In einer Aufzeichnung WW XVIII Nr. 5738 heiBt
sen aufgestellt werden. es: » Bestimmung eines Dinges in Ansehung seines Wesens (als
Bei der Wichtigkeit dieses Schrittes versuchen wir, die Ein- Ding) ist transcendental.«)
180 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 25. Wesensbestimmung des Urteils 181
GemãB dieser Betrachtungsrichtung nennt Kant seine Philo, IUnterschied zu den »besonderen« Fragen der Wissenschaft.
sophie Transzendentalphilosophie. Das System der Grundsiilza Allein, es handelt sich hierbei nicht nur um quantitative Unter-
ist die Grundlegung derselben. Um hier und im folgenden schiede des mehr oder weniger » allgemein«, sondern ein quali-
deutlicher zu sehen, wollen wir uns verschiedene Blickstellun» lntiver Unterschied kommt zum Vorschein, ein solcher im We-
gen des Fragens zur Abhebung bringen. sen, in der Blickrichtung, in der Begriffsbildung und in der
Wir pflegen unsere Erkenntnisse, aber auch schon die Fragen Begriindung, und zwar liegt dieser Unterschied schon innerhalb
und Weisen des Betrachtens in Sãtzen auszudriicken. Der Phy- jeder Wissenschaft selbst; er gehórt zu ihr, sofern sie eine freie
siker und der Jurist, der Historiker und der Mediziner, der geschichtliche Handlung des Menschen ist. Darum gehôrt zu
Theologe und der Meteorologe, der Biologe und der Philosoph, jeder Wissenschaft die stândige Selbstbesinnung.
alle reden sie gleichermaBen in Sãtzen und Aussagen. Verschie- Achten wir auf das Beispiel jener Aussage: » Die Sonne er-
den bleiben dabei die Gebiete und Gegenstânde, auf.die sich wirmt den Stein«. Wenn wir dieser Aussage und ihrer eigen-
das Aussagen bezieht. Daher ist der Inhalt des Gesagten jeweils sten Aussagerichtung folgen, sind wir geradezu auf die Gegen-
ein anderer. stinde Sonne, Stein, Wãrme gerichtet. Unser Vorstellen geht in
So kommt es denn auch, daB man gemeinhin keinen anderen dem auf, was der Gegenstand selbst bietet. Wir achten nicht auf
als einen inhaltlichen Unterschied findet, wenn wir in der Fra- die Aussage als solche. Wir kônnen uns allerdings durch eine
gerichtung der Biologie reden und von Zellteilung, Wachstum, cigentiimliche Blickwendung des Vorstellens von Sonne und
Fortpflanzung handeln, oder wenn wir iiber die Biologie selbst Stein abkehren und auf die Aussage als solche achten. Solches
— ihre Richtung des Fragens und Sagens selbst — handeln. Man geschah z. B., als wir das Urteil als Subjekt-Prádikat-Verhãltnis
meint, ilber Gegenstânde der Biologie biologisch zu reden, un- kennzeichneten. Dieses Subjekt-Prãdikat-Verhãáltnis selbst hat
terscheide sich nur inhaltlich von einer Erórterung úber Biolo- mit der Sonne und dem Stein nicht das geringste zu tun. Wir
gie. Wer das erste kann, muB doch auch, und gerade er, das nehbmen die Aussage, den Aóyos — »die Sonne erwãârmt den
zweite kónnen. Aber das ist eine Tâuschung; denn iiber Biolo- Stein« — jetzt rein »logisch«. Wir sehen dabei nicht nur davon
gie kann man nicht biologisch handeln. Biologie ist nicht so ab, daB die Aussage auf Naturgegenstânde bezogen ist. Wir
etwas wie Algen und Moose, Frósche und Molche, wie Zellen achten úberhaupt nicht auf ihren gegenstândlichen Bezug.
und Organe. Biologie ist eine Wissenschaft. Die Biologie selbst AuBer jener ersten Vorstellungsrichtung — geradezu anf den
kônnen wir nicht unter das Mikroskop legen, wie die Gegen- Gegenstand — und auBer dieser zweiten — auf das gegenstands-
stânde der Biologie. lose Aussageverhãltnis in sich — gibt es nun eine dritte. Wir
Tn dem Augenblick, wo wir »iiber« eine Wissenschaft reden sagten bei der Kennzeichnung des Urteils » die Sonne erwãârmt
und auf eine solche uns besinnen, versagen alle Mittel und Me- den Stein«, die Sonne werde als Ursache und die Wãrme des
139 thoden dieser Wissenschaft, in der wir uns selbst auskennen. Steins als Wirkung verstanden. Wenn wir dies beziiglich der
Fiir das Fragen nach einer Wissenschaft wird eine Blickstellung Sonne und des warmen Steins festhalten, so sind wir zwar auf
verlangt, deren Vollzug und Leitung noch weniger selbstver- die Sonne und den Stein gerichtet, aber gleichwohl nicht gera-
stândlich ist als die Beherrschung einer Wissenschaft. Kommt es dezu. Wir meinen nicht nur die Sonne selbst und den warmen
zu Erórterungen iiber eine Wissenschaft, dann setzt sich leicht Stein selbst, sondern wir sehen uns jetzt den Gegenstand » Son-
die Meinung fest, solche Betrachtungen seien » allgemeine<«, im ne« daraufhin an, wie dieser Gegenstand fir uns Gegenstand
182 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 25. Wesensbestimmung des Urteils 1853

ist, in welcher Hinsicht er gemeint ist, d. h. wie unser Denken szendentalen Blick- und Fragestellung. Es ist die Einúbung des
ibn denkt. Vorstellens, in dem sich alle Besinnung auf die Wissenschaften
Wir nebmen jetzt den Gegenstand (Sonne, Wãirme, Stein) notwendig bewegt. Die Sicherung dieses Bereiches, die wissent-
nicht geradezu, sondern hinsichtlich der Weise seiner Gegen- liche und wissende Inbesitanahbme desselben, das Gehen- und
140 stândlichkeit in den Blick. Das ist die Hinsicht, in der wir uns Stehenkónnen in seinen Dimensionen ist die Grundvorausset-
auf ihn im vorhinein, a priori, beziehen: als Ursache, als Wir- zung fiir jedes wissenschaftliche Dasein, das seine geschichtliche
kung. Stellung und Aufgabe begreifen will.
Wir sind jetzt nicht nur nicht auf den Gegenstand der Aus-
sage gerichtet, sondern auch nicht auf die Form der Aussage j) Synthetische Urteile a priori liegen notwendig aller
als solche, vielmehr darauf: wie der Gegenstand Gegenstand Erkenninis zugrunde
der Aussage ist, wie die Áussage den Gegenstand im vorhinein
vorstellt, wie unsere Erkenntnis zum Gegenstand hiniibersteigt, Wenn wir in einer Wissenschaft auf ihren Gegenstandsbereich
transcendit, und wie dabei — in welcher gegenstândlichen Be- zugehen, sind die Gegenstinde dieses Bereiches im vorhinein
stimmtheit — der Gegenstand begegnet. Diese Betrachtungs- schon so und so bestimmi; aber nicht zufállig, auch nicht auf
weise nennt Kant die transzendentale. In gewisser Weise steht Grund einer Unachtsamkeit unsererseits, so, als kinnte jemals
der Gegenstand im Blick, in gewisser Weise auch die Aus- diese Vorbestimmung des Gegenstandes unterbunden werden.
sage, weil der Bezug von Aussage und Gegenstand erfaBt sein Sie ist vielmehr notwendig, so notwendig, daB wir ohne sie ilber- 141
will. haupt nie vor Gegenstânden stehen kônnten, als vor solchem,
Diese transzendentale Betrachtung ist aber nicht eine âuBer- wonach sich unsere Aussagen richten und iworan sie sich messen
liche Verkoppelung der psychologischen und logischen Betrach- und ausweisen. Wie soll denn ein wissenschaftliches Urteil mit
tungsweisen, sondern etwas Urspriinglicheres, woraus jene nur dem Gegenstand iibereinstimmen, also z. B. ein kunsthistori-
einseitig herausgehoben sind. Sobald wir innerhalb einer Wis- sches Urteil iiber ein Kunstwerk wirklich ein kunsthistorisches
senschaft uns in irgendeiner Weise auf diese Wissenschaft selbst Urteil sein, wenn nicht im voraus der Gegenstand als Kunstwerk
besinnen, vollziehen wir den Schritt in die Blickbahn und in die bestimmt ist? Wie soll eine biologische Aussage iber ein Tier in
Ebene der transzendentalen Betrachtung. Meist ahnen wir da- Wahrheit ein biologisches Urteil sein, wenn nicht das Tier als
von nichts. Deshalb sind unsere Uberlegungen in dieser Hin- Lebewesen vorbestimmt ist?
sicht oft zufállig und verworren. Sowenig wir aber in irgend- Was der Gegenstand seinem gegenstândlichen Wesen nach
einer Wissenschaft einen begriindeten und fruchtbaren Schritt ist, darilber miissen wir immer schon eine inhaltliche Erkennt-
tun kónnen ohne die Vertrautheit mit ihren Gegenstinden und nis, nach Kant eine synthetische Erkenntnis haben, und zwar
Verfahrensweisen, sowenig kôónnen wir einen Schritt in der im vorhinein, a priori. Ohne synthetische Urteile a priori kónn-
Besinnung auf die Wissenschaft tun ohne die rechte Erfahrung ten uns iiberhaupt niemals Gegenstânde entgegenstehen, als
und Úbung der transzendentalen Blickstellung. solches, wonach wir uns »dann«, nâmlich in den besonderen
Wenn wir in dieser Vorlesung stândig nach der Dingheit des Untersuchungen und Fragen und Beweisen richten und worauf
Dinges fragen und in diesen Fragebereich uns zu versetzen be- wir uns stândig berufen.
miihen, so ist das nichts anderes als die Einúibung dieser tran- In allen Urteilen der Wissenschaften sprechen schon synthe-
184 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk

tische Urteile a priori, Vor-urteile in einem echten und notwen- $ 26. Vom obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile
digen Sinne. Je nach der Ausdrúcklichkeit und Bestimmtheit,
womit eine Wissenschaft sich um ihre Vor-urteile bemiiht, be- Wenn wir alles zur Ausgrenzung der analytischen Urteile Ge-
miBt sich die Wissenschafilichkeit einer Wissenschaft — aber sagte in einem Blick zuasammennehmen, dann miissen die bei-
nicht nach der Anzahl der geschriebenen Biicher und nicht nach den ersten Absãtze des zweiten Abschnittes verstândlich gewor-
der Anzahl der Institute und erst recht nicht nach dem Nutzen, den sein:
den sie gerade bietet. Voraussetzungslose Wissenschaft gibt es »Die Erklârung der Múglichkeit synthetischer Urteile, ist
deshalb nicht, weil das Wesen der Wissenschaft in solchem Vor- eine Aufgabe, mit der die allgemeine Logik gar nichts zu schaf-
aussetzen, in Vor-urteilen iiber den Gegenstand besteht. All fen hat, die auch sogar ihren Namen nicht einmal kennen darf.
dies hat Kant nicht nur behauptet, sondern gezeigt, und nicht Sie ist aber in einer transzendentalen Logik das wichtigste Ge-
nur gezeigt, sondern begrimndet. Die Begriindung hat er in der schãft unter allen, und sogar das einzige, wenn von der Mõg-
Gestalt der » Kritik der reinen Vernuntt« als gebautes Werk in lichkeit synthetischer Urteile a priori die Rede ist, imgleichen
unsere Geschichte gestellt. den Bedingungen und dem Umfange ihrer Giilltigkeit. Denn
Verstehen wir das Wesen der Wahrheit im úberlieferten nach Vollendung desselben, kann sie ihrem Zwecke, námlich
Sinne als die Ubereinstimmung der Aussage mit dem Gegen- den Umfang und die Grenzen des reinen Verstandes zu bestim-
stand — und auch Kant versteht sie so —, dann kann die so ver- men, vollkommen ein Geniige tun.
standene Wahrheit nicht sein, wenn nicht zuvor der Gegen- Im analytischen Urteile bleibe ich bei dem gegebenen Be-
stand durch synthetische Urteile a priori zum Gegen-stehen griffe, um etwas von ibm auszumachen. Soll es bejahend sein,
gebracht wird. Daher nennt Kant die synthetischen Urteile a so lege ich diesem Begriffe nur dasjenige bei, was in ihm schon
priori, d. h. das System der Grundsãtze des reinen Verstandes gedacht war; soll es verneinend sein, so schlieBe ich nur das
den » Quell aller Wahrheit« (A 237, B 296). Der innere Zusam- Gegenteil desselben von ihm aus. In synthetischen Urteilen
menhang des Gesagten mit unserer Frage nach der Dingheit aber sol] ich aus dem gegebenen Begriff hinausgehen, um etwas
des Dinges ist offensichtlich. ganz anderes, als in ilhm gedacht war, mit demselben im Ver-
Wahrhafte Dinge, d. h. solche Dinge, davon uns eine Wahr- hãúltnis zu betrachten, welches daher niemals, weder ein Ver-
heit werden kann, sind fir Kant die Gegenstânde der Erfah- hãltnis der Identitãt, noch des Widerspruchs ist; und wobei dem
rung. Der Gegenstand aber wird uns nur zugânglich, wenn wir Urteile an ihm selbst weder die Wahrheit, noch der Irrtum an-
úber den bloBen Begriff hinausgehen zu jenem anderen, was gesehen werden kann.«(A 154 £., B 195 f£.)
142 erst dazu- und beigestellt werden muB. Solche Beistellung ge- Das »ganz anderee ist der Gegenstand. Das Verhãáltnis die-
schieht als Synthesis. Den Dingen begegnen wir, Kantisch ge- ses »ganz anderen« zum Begriff ist das vorstellunesmáb£ige
sprochen, erst und nur im Bereich der synthetischen Urteile, Beistellen des Gegenstandes in einem denkenden Anschauen:
und der Dingheit des Dinges demgemãB erst im Umbkreis der die Synthesis. Nur indem wir in dieses Verhâltnis eingehen und
Frage, wie ein Ding iiberhaupt und im vorhinein als Ding in ihm uns halten, begegnet uns ein Gegenstand. Die innere
móglich, d. h. zugleich, wie synthetische Urteile a priori mõôsg- Múglichkeit des Gegenstandes, d. h. sein Wesen, bestimmt sich
lich sind. daher mit aus der Môglichkeit dieses Verhãltnisses zu ihm.
Worin besteht, d. i. worin grúindet dieses Verhálinis zum Ge-
186 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 27. Systernatik der Grundsãtze des reinen Verstandes — 187

genstand? Der Grund, worauf es ruht, muB freigelegt und ei- Im dritten Abschnitt werden alle synthetischen Grundsitze
gens als der Grund gesetzt werden. Dies geschieht in der Auf- des reinen Verstandes systematisch vorgefiihrt. Alles, was den
stellung und Begrindung des obersten Grundsatzes aller Gegenstand zu einem Gegenstand macht, was die Dingheit des
synthetischen Urteile. Dinges umgrenzt, wird in seinem inneren Zusammenhang dar-
145 Tn diesem gesetzten Grund griindet die Bedingung der Múig- gestellt. Auch bei der Auslegung des dritten Abschnittes begin-
lichkeit aller Wahrheit. Die Quelle aller Wahrheit sind die nen wir sogleich mit der Darstellung der einzelnen Grundsãtze.
Grundsãtze des reinen Verstandes. Sie selbst, und damit diese Die Vorbetrachtung sei nur so weit erlâutert, daB wir einen be-
Quelle aller Wahrheit, geben auf einen tieferen Quell zuriick, stimmteren Begriff vom Grundsatz úberhaupt und von dem
der im obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile ans Licht Gesichtspunkt der Einteilung der Grundsãtze gewinnen.
gebracht wird. Dazu gibt der erste Satz des dritten Abschnittes den Schliis-
Mit dem zweiten Abschnitt unseres Hauptstitckes erreicht sel: » Dal iiberhaupt irgendwo Grundsãtze stattfinden, das ist
das ganze Werk der »Kritik der reinen Vernunft« seinen durch lediglich dem reinen Verstande zuzuschreiben, der nicht allein
es selbst gelegten tiefsten Grund. Der oberste Grundsatz aller das Vermógen der Regeln ist, in Ansehung dessen, was ge-
synthetischen Urteile — oder wie wir auch sagen kônnen: Die schieht, sondern selbst der Quell der Grundsãtze, nach welchem
urspriingliche Wesensbestimmung der menschlichen Erkennt- alles (was uns nur als Gegenstand vorkommen kann) notwen- 144,
nis, ihrer Wahrheit und ihres Gegenstandes — wird am SchluB dig unter Regeln steht, weil, ohne solche, den Erscheinungen
dieses zweiten Abschnittes (A 158, B 197) auf die Formel ge- niemals Erkenntnis eines ihnen korrespondierenden Gegen-
bracht: »die Bedingungen der Moglichkeit der Erfahrung standes zukommen kônnte. «(A 158 £., B 197 £.)
iiberhaupt sind zugleich Bedingungen der Môglichkeit der
Gegenstânde der Erfahrungs«.
Wer diesen Satz begreift, begreift Kants » Kritik der reinen $ 27. Systematische Vorstellung aller synthetischen Grundsatze
Vernuntt«. Wer diese begreift, kennt nicht nur ein Buch aus des reinen Verstandes
dem Schrifttium der Philosophie, sondem beherrscht eine
Grundstellung unseres geschichtlichen Daseins, die wir weder a) Die Grundsãtze ermôglichen die Gegenstândlichkeit
umgehen noch iiberspringen, noch sonstwie verleugnen kôn- des Gegenstandes; Begrindbarkeit der Grundsãtze
nen. Aber wir miissen sie in der aneignenden Verwandlung
zum Austrag in die Zukunft bringen. Im Verfolg der Frage nach der Dingheit des Dinges wurden wir
Der zweite Abschnitt ist auch dem Range nach dem dritten auf Kants Lehre von den Grundsãtzen des reinen Verstandes
vorgeordnet, dieser dagegen ist nur die Ausfaltung von jenem, gefihrt. Inwiefern? Fiúr Kant ist das uns zugângliche Ding der
Deshalb ist ein erfúlltes und bestimmtes Verstândnis des ent- Gegenstand der Erfahrung. Erfahrung heiBt fitr Kant die dem
scheidenden zweiten Abschnittes erst múglich, wenn wir den Menschen múgliche theoretische Erkenntnis des Seienden.
dritten schon kennen. Wir iiberspringen daher den zweiten Ab- Diese Erkenntnis ist zwiefáltis. Daher sagt Kant: »Verstand
schnitt und kommen auf ibn erst nach der Auslegung des drit- und Sinnlichkett konnen bei uns nur in Verbindung Gegen-
ten am SchluB unserer Darstellung der Dingfrage in der » Kritik stânde bestimmen.« (À 258, B 314) Ein Gegenstand ist als Ge-
der reinen Vernunfte« zuriick. genstand durch die Verbindung, d. h. die Einheit des im An-
188 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 27. Systernatik der Grundsãtze des reinen Verstandes — 189

schauen Angeschauten und im Denken Gedachten bestimmt. erst ermóglichen. Die Grundsãtze kônnen aber auch nicht aus
Zum Wesen des Gegenstandes gehórt das Gegen und der dem bloBen Denken allein begrindet werden, da es Grund-
Stand. Das Wesen dieses Gegen, seine innere Múglichkeit und sútze des Gegenstandes sind. Die Grundsãtze haben also auch
der Grund desselben, insgleichen das Wesen dieses Standes — nicht den Charakter der allgemeinen formal-logischen Sãtze
seine innere Moglichkeit und der Grund desselben — und wie z. B. À ist À, von denen man sagt, sie seien selbstverstând-
schlieBlich und vor allem die ursprimgliche Einheit beider, der lich. Die Berufung auf den gesunden Menschenverstand ver-
Gegenheit und der Stândigkeit, machen die Gegenstândlichkeil sagt hier. Sie ist im Bereich der Metaphysik »eine Zuflucht, die
des Gegenstandes aus. jederzeit beweist, dafé die Sache der Vernuntt verzweifelt ist.
DaB die Bestimmung des Wesens des Gegenstandes úber- (A 785 £., B 811 £.) Welcher Art der Beweisgrund dieser Grund-
haupt durch Grundsãtze erfolgt, leuchtet nicht ohne weiteres sútze des reinen Verstandes ist und wie sie sich durch die Art
ein. Es wird jedoch verstiindlich, wenn wir die Uberlieferungs- ihres Beweisgrundes auszeichnen, muB sich aus dem System der
richtung innerhalb der Dingfrage in der abendlândischen Phi- Grundsãtze selbst zeigen.
losophie beachten. Darnach ist der mathematische Grundzug
entscheidend: der Rúckgang auf Axiome bei aller Bestimmung b) Der reine Verstand als Quelle und als Vermõógen
des Seienden. Kant bleibt in dieser Uberlieferung. Allein die der Regeln. Einheit, Kategorien
Art, wie er die Axiome faBt und begriindet, bringt eine Um:
wilzung. Der bisher oberste Grundsatz aller Urteile, der Sata Dafb die Dingbestimmung bei Kant auf Grundsãtze zuriickge-
vom Widerspruch, ist seiner Vormachtstellung enthoben. Weal- fiihrt wird, nebmen wir als Zeichen dafúr, daB Kant in der
che Grundsãtze treten an seine Stelle? Uberlieferung bleibt. Aber diese geschichtliche Kennzeichnung
Zunáchst muB auffallen: Kant spricht nicht von Axiomen, ist noch keine sachliche Erklãrung. Wenn Kant das Wesen des
»Axiomex« sind fiir ibn eine bestimmte Art von Grundsãátzen Denkens neu bestimmt, muB er auch auf dem Grunde dieser
a priori, nâmlich diejenigen, die unmittelbar gewiB, d. h. aus neuen Fassung des Wesens des Verstandes zeigen, warum und
der Anschauung des Gegenstandes ohne weiteres belegbar sind. inwiefern zu diesem Grundsãtze gehóren.
Um solche Grundsãtze handelt es sich im vorliegenden Zusam- Erst Kant ist imstande, das Walten von Grundsãtzen nicht
menhang nicht, was sich schon darin andeutet, daB es Grund- einfach hinzunehmen und zu bejahen, sondern es aus dem We-
sátze des reinen Verstandes sind. Aber als Grundsãtze múissen sen des Verstandes selbst zu begriinden. Auf diesen Zusammen-
sie einmal die Griinde zu anderen Sãtzen und Urteilen enthal- hang weist der erste Satz des dritten Abschnittes hin. Dort wird
145 ten. Sodann kónnen sie selbst nicht mehr in frilheren und all. ausdriicklich gesagt, » der reine Verstand« sei »selbst der Quell
B 188), der Grundsãtze«. Inwiefern dies zutrifft, gilt es zu zeigen, und
gemeineren Erkenntnissen gegriindet sein. (A 148/9,
Dies schlieBt nicht aus, daB ihnen eine Begriindung eignet. Diu zwar unter Bezugnabhme auf alles, was wir bisher iiber das We-
Frage bleibt nur, worin sie ibre Begrimdung haben. Grund" sen des Verstandes vernommen haben. Die allgemeine Logik,
sãtze, die das Wesen des Gegenstandes begriinden, kónnen die das Urteil als das Verhãltnis der Subjekt-Prádikat-Vorstel-
nicht auf den Gegenstand gegriindet sein. Die Grundsãtze kón" lungen bestimmt, kennt den Verstand als das Vermógen der
nen nicht erfahrungsmábfig aus den Gegenstânden geschipll Vorstellungsverbindung. So, wie die logische Urteilsauffassung
werden, da sie selbst die Gegenstândlichkeit der Gegenstândo richtig, aber unzureichend ist, bleibt auch diese Auffassung des
190 Die Dingfrage in Kants Haupiwerk $ 27. Systematik der Grundsãátze des reinen Verstandes — 191

Verstandes zutreffend und doch unbefriedigend. Der Verstand Urteilstafel, die Aufweisung und Ordnung der verschiedenen
146 muB als ein auf das Objekt bezogenes Vorstellen bzw. als ein so Weisen der Subjekt-Pridikat-Verbindung, aus der Uberliefe-
gebautes Verbinden von Vorstellungen gefaBt werden: als jenes rung tibermnommen und ergânzt. (Vel. A 70, B 95). Die Ge-
Vorstellen, das diese Beziehung auf einen Gegenstand als sol- sichtspunkte der Einteilung sind Quantitãt, Qualitãt, Relation
chen aufnimmt und ausmacht. und Modalitãt. Die Urteilstafel kann daher eine Anweisung
Das Verbinden von Subjekt und Prãdikat ist nicht nur ein- geben auf ebensoviele Arten von Einheiten und Einheitsbegrif-
fach ein Verbinden iiberhaupt, sondern jeweils ein bestimmtes [en, die das verschiedene Verbinden leiten. GemãB der Urteils-
Verbinden. Erinnern wir an das gegenstândliche Urteil »die tafel kann eine Tafel dieser Einheitsbegriffe des reinen Ver-
Sonne erwiãirmt den Stein«. Sonne und Stein sind hier gegen- standes, seiner Stammbegriffe, aufgestellt werden. (Vgl. À 80,
stândlich vorgestellt, indem die Sonne als UÚrsache begriffen B 106). Wird iiberhaupt etwas als Bedingung fir die Einigung
wird, der Stein in seinem Warmwerden als Wirkung. Die Ver- und einheitliche Setzung eines Mannigfaltigen vorgestellt, so
bindung von Subjekt und Pridikat geschieht auf dem Grunde ist diese vorgestellte Bedingung als Regel des Verbindens ge- 147 |
der allgemeinen Beziehung von Ursache und Wirkung. Verbin- nommen, Weil zum Wesen des Verstandes als Vorstellungsver-
dung ist immer ein vorstellendes Zusammensetzen im Hinblick bindung das vorgreifende Vorstellen von Einheiten, die dieses
auf eine mógliche Art von Einheit, die das Zusammen kenn- Verbinden regeln, gehirt und weil diese regelnden Einheiten
zeichnet. In dieser Kennzeichnung des Urteils scheint noch ver- zum Wesen des Verstandes selbst gehóren, deshalb ist der Ver-
blaBt der ursprimeliche Sinn des Xóyos als Sammlung durch. stand im Grunde das Vermõógen der Regeln. Daher sagt Kant
Jede Art von Subjekt-Prãdikat-Verbindung in Urteilen setzl (A 126): » Jetzt kônnen wir ihn [den Verstand] als das Vermo-
voraus und trãigt als leitende Hinsicht die Vorstellung einer gen der Regeln charakterisieren«, und er filgt bei: »Dieses
Einheit in sich, der gemãB und in deren Sinne verbunden wird, Kennzeichen ist fruchtbarer und tritt dem Wesen desselhen nã-
Das vorgreifende Vorstellen solcher die Verbindung leitenden her.« Das gleiche sagt unsere Stelle zu Beginn des dritten Ab-
Einheiten gehõórt zum Wesen des Verstandes. Die Vorstellun- schnittes, der Verstand sei das » Vermógen der Regeln«. Hierin
gen von diesen Einheiten als solchen und im allgemeinen sind zeigt sich die metaphysische Bestimmung des Wesens des Ver-
nach der frilher gegebenen Bestimmung »Begriffe«. Die zur standes.
Verstandeshandlung des Verbindens gehórigen Begriffe solchen Aber im vorliegenden Abschnitt geht die Wesensbestim-
Einheiten sind jedoch nicht von irgendwelchen vorgegebenen mung des Verstandes noch um eine Stufe weiter in das Wesen
Gegenstânden abgezogen, keine aus der Wahmehmung einzel- zurick. Der reine Verstand ist »nicht allein das Vermógen der
ner Gegenstânde geschópften Begriffe. Die Vorstellungen von Regeln«, sondern sogar die Quelle der Regeln. Das will sagen:
diesen Einheiten gehóren zu den Handlungen des Verstandes, Der reine Verstand ist der Grund der Notwendigkeit von Re-
zum Wesen des Verbindens. Sie liegen rein im Wesen des Ver- geln iiberhaupt. Damit Begegnendes, Sichzeigendes, d. h. Er-
standes selbst und heiBen daher reine Verstandesbegriffe: Kates scheinendes iiberhaupt als Gegenstehendes vor uns kommen
gorien. kann, mufB das Sichzeigende im vorhinein die Móglichkeit ha-
Die allgemeine Logik hat eine Mannigfaltigkeit von Urteils- ben, irgendwie zum Stehen und zur Stândigkeit zu kommen.
formen herausgestellt, Weisen der Subjekt-Prádikat-Verbin- Das Insichstehende, das Nichtanseinanderfahrende aber ist das
dung, die sich in einer Urteilstafel ordnen lassen. Kant hat diese Insichgesammelte, d. h. in eine Einheit Gebrachte, das in dieser
192 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 27. Systematik der Grundsãtze des reinen Verstandes — 195

Einheit Anwesende und so Bestândige. Die Stândigkeit ist das stand der Quell der Grundsãtze. Diese Grundsãtze ihrerseits
einheitliche in sich von sich aus An-wesen. Diese Anwesenheil sind die » Quelle aller Wahrheit«, d. h. der Móglichkeit, dabB
wird mit durch den reinen Verstand ermõglicht. Seine Hand- unsere Erfahrungen iúberhaupt mit Gegenstânden úberein-
lung ist das Denken. Das Denken aber ist ein » Ich denkex, ich stimmen kônnen.
stelle mir etwas im allgemeinen, in seiner Einheit und Zusam- Solche Ubereinstimmung mit .. . ist nur móglich, wenn das
mengehirigkeit vor. Die Prásenz des Gegenstandes zeigt sich Womit der Ubereinstimmung zuvor schon vor uns kommt und
im Reprãsentieren, in dem auf mich zu Prásentwerden durch vor uns steht. Nur so spricht uns in den Erscheinungen ein Ge-
das denkende, d.i. verbindende Vorstellen, Wem aber diese genstândliches an, nur so werden sie erkennbar hinsichtlich ei-
Prãsenz des Gegenstandes prisentiert wird, ob mir als eineni nes in ihbnen sprechenden und ihnen entsprechenden (»korre-
zufálligen »Ich« mit seinen Launen und Wiinschen und An* spondierenden«) Gegenstandes. Der reine Verstand gibt die
sichten oder mir als einem Ich, das, all jenes » Subjektive« zur Múglichkeit der Ubereinstimmung mit dem Gegenstand dank
rickstellend, den Gegenstand selbst sein lãBt, was er ist, dies der Gegenstândlichkeit der Erscheinungen, d. h. der Dingheit
hãângt von dem Ich ab, nâmlich von der Weite und dem Áus- der Dinge fiir uns.
griff der Einheit und der Regeln, unter die das Verbinden der
Vorstellungen gebracht wird, d. h. im Grunde von der Tragr c) Die mathematischen und dynamischen Grundsãtze
weite und der Art der Ereiheit, kraft deren ich selbst ein Selbst als metaphysische Sãtze
bin.
Das vor-stellende Verbinden ist dem Verstand nur móglich, Auf dem Grunde des Dargelegten kônnen wir den entscheiden-
wenn er Weisen der Einigung, Regeln der Einheit des Verbins den Satz verstehen, der den dritten Abschnitt einleitet (A
dens und Bestimmens in sich enthãlt, wenn der reine Verstand 158 £., B 197 £.). Die Grundsãtze des reinen Verstandes legen
Regeln entspringen lãBt, selbst deren Ursprung, deren Quelle den Grund fiir die Gegenstândlichkeit der Gegenstânde. In ih-
ist. Der reine Verstand ist der Grund der Notwendigkeit von nen — nãâmlich in ihrem Zusammenhang — sind diejenigen Vor-
148 Regeln, d. h. des Stattfindens von Grundsátzen, weil dieser stellungsweisen eigens vollzogen, kraft deren das Gegen des
Grund, der Verstand selbst, notwendig ist, und zwar gemil) Gegenstandes und der Stand des Gegenstandes, und zwar in
dem Wesen dessen, wohin der reine Verstand gehõrt, gemil ihrer urspringlichen Einheit, sich óffnen. Die Grundsãtze be-
dem Wesen der menschlichen Erkenntnis. treffen immer diese einheitliche Zwiefãltigkeit des Wesens des
Sind wir Menschen dem Andrang von all dem, inmitten des- Gegenstandes. Deshalb miúissen sie einmal den Grund legen in
sen wir húngen, nur offen, dann sind wir dem Andrang nicht der Richtung des Gegen, der Gegenheit, und zugleich in der
gewachsen. Wir werden seiner nur Herr, indem wir ibm aus Richtung des Standes, der Stâindigkeit. Hieraus erwichst dem
einer Uberlegenheit dienen, d. h. indem wir den Andrang uns Wesen der Grundsãtze zufolge ihre Gliederung in zwei Grup-
entgegenstehen lassen, ibn zum Stehen bringen und damit ei pen. Kant nennt sie die mathematischen und die dynamischen
nen Bereich múglicher Stândigkeit bilden und bewahren. In Grundsãtze. Welches ist der sachliche Grund dieser Unterschei-
dieser Not des freien Bestehenmiissens des Andrangs griindel dung? Wie ist sie gemeint?
die metaphysische Notwendigkeit des reinen Verstandes. Ger Kant bestimmt als das uns zugângliche Ding das Naturding,
mãiB dieser seiner metaphysischen Herkuntft ist der reine Ver. den Kôrper, der 1st als Gegenstand der Erfahrung, d. h. der 149
194 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 27. Systematik der Grundsãtze des reinen Verstandes — 195

mathematisch-physikalischen Erkenntnis. Der Kórper ist ein physische Grundsãtze, die die physischen Grundsãtze der Dyna-
Bewegliches oder Ruhendes im Raume, so zwar, daB die Bewe" mik erst ermõglichen. Nicht zufállig úberschreibt Hegel einen
gungen als Ortsverânderungen zahlenmãbig nach ihren Bezie- wichtigen Abschnitt in seiner » Phânomenologie des Geistes<«,
hungen bestimmbar sind. Diese mathematische Bestimmtheil darin er das Wesen des Gegenstandes als Naturding umgrenzt,
des Naturkórpers ist fur Kant jedoch keine zufállige, ibhm nur mit dem Titel: » Kraft und Verstand«.
angehiângte Form einer Verrechnung der Vorgânge, vielmehr Wir finden die gedoppelte Bestimmungsrichtung des Natur-
gehórt dieses Mathematische, im Sinne des Beweglichen im kórpers, die mathematische und die dynamische, erstmals bei
Raume, zuerst und vor allem zur Bestimmung der Dingheit des Leibniz klar vorgezeichnet (vgl. u. a. Gerh. IV, 594 £.). Aber erst
Dinges. Soll die Miglichkeit des Dinges metaphysisch begriffen Kant ist es gelungen, ihre innere Einheit im System der Grund- 150
werden, dann bedarf es solcher Grundsátze, in denen dieser sãtze des reinen Verstandes zur Darstellung und Begriindung
mathematische Charakter des Naturkôrpers begriindet ist. Des. zu bringen.
halb heiBt eine Gruppe der Grundsãtze des reinen Verstandes Die Grundsãtze enthalten diejenigen Bestimmungen der
»die mathematischen Grundsãtze«. Diese Bezeichnung meint Dinge als Erscheinungen, die ihnen im vorhinein, a priori, zu-
nicht, die Grundsãtze seien selbst mathematisch, in die Mathe- kommen, und zwar zufolge der móglichen Formen der Einheit
matik gehôrige Grundsitze, sondern sie sind die auf den ma-. des verstandesmãáBigen Verbindens, d. h. der Kategorien. Die
thematischen Charakter des Naturkórpers bezogenen, ibm den Tafel der Kategorien ist vierfach gegliedert. Dieser Gliederung
Grund legenden metaphysischen Grundsãtze. entspricht die der Grundsãátze. Die mathematischen und dyna-
Das Ding im Sinne des Naturkórpers ist aber nicht nur ein mischen Grundsãtze sind in je zwei Gruppen, das ganze System
Bewegliches im Raume, nicht nur solches, was einen Raum eins ist in vier Gruppen abgeteilt:
nimmt, d. h. ausgedehnt ist, sondern ist solches, was einen 1. Axiome der Anschauung. 2. Antizipationen der Wahrneh-
Raum erfúllt, besetzt hãlt, in dieser Besetzung sich ausbreitet mung. 3. Analogien der Erfahrung. 4. Postulate des empiri-
und verteilt und behauptet, ist Widerstândigkeit, d. h. Kralt, schen Denkens iiberhaupt. Wir versuchen diese Benennungen
Diesen Charakter des Naturkórpers hat erstmals Leibniz her der Grundsãtze im folgenden aus der Darlegung derselben zu
ausgestellt, Kant hat diese Bestimmungen aufgenommen. Das verstehen. Kant bemerkt ausdriidklich: »Diese Benennungen
den Raum Erfúllende, ráumlich Anwesende kennen wir nur habe ich mit Vorsicht gewãihlt, um die Unterschiede in Anse-
durch Krãfte, die im Raum wirksam sind. (A 265, B 321) Dia hung der Evidenz und der Ausilbung dieser Grundsãtze nicht
Kraft ist der Charakter, in dem das Ding im Raum anwest, unbemerkt zu lassen.« (A 161, B 200) Es handelt sich um die
TIndem es wirkt, ist es wirklich. Die Wirklichkeit, die Anwesenr Grundsãtze der Quantitãt, der Qualitãt, der Relation und der
heit, das »Dasein« des Dinges bestimmt sich aus der Krall Modalitãt.
(dynamis), d. h. dynamisch. Daher nennt Kant diejenigen Das Verstândnis der Grundsãtze wird nur im Durchgang
Grundsãtze des reinen Verstandes, die die Móglichkeit des Din durch ihren Beweis gewonnen; denn dieser Beweis ist nichts
ges hinsichtlich seines » Daseins« bestimmen, die dynamischen anderes als die Aufweisung des » Prinzips«, des Grundes, auf
Grundsãtze. Auch hier ist zu beachten, was bezúglich der Ber dem sie griinden, woraus sie mithin das schópfen, was sie selbst
zeichnung »mathematisch« gesagt wurde. Es sind keine Sátze sind. Daher kommt auf diese Beweise alles an. Die Formel der
aus der Dynamik als einer Disziplin der Physik, sondern meti Sãtze sagt nicht viel, zumal sie nicht selbstrerstândlich sind.
196 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 27. Systematik der Grundsãtze des reinen Verstandes — 197

Kant hat deshalb eine groBe Arbeit auf diese Beweise verwens —- den Gegenstand als solchen bestimmen? Diese Móglichkeit
det; er hat die Beweise, jedenfalls die der ersten drei Gruppen, wird in den Beweisen der Grundsãtze erwiesen. Der jeweilige
fúr die zweite Auflage neu bearbeitet. Alle sind nach einem Beyweis aber leistet nichts anderes, als den Grund dieser Grund-
bestimmten Schema gebaut, das mit dem wesentlichen Gehalt sátze selbst ans Licht zu heben, der schlieBlich immer einer und
dieser Grundsãtze zusammenhãngt. Auch die Fassungen der derselbe sein mub und den wir dann im obersten Grundsatz
einzelnen Grundsãtze, vor allem ihrer Prinzipien, sind in der aller synthetischen Urteile antreffen. DemgemãB sind die ei-
ersten und zweiten Auflage verschieden. Diese Unterschiede goes sentlichen Grundsãtze des reinen Verstandes diejenigen, in
ben wichtige Fingerzeige, in welcher Richtung Kants Absicht denen jeweils das Prinzip der Sãtze der vier Gruppen ausge-
der Klarstellung geht und wie der eigentliche Sinn dieser Sãtzo sprochen wird. Also nicht die AÁxiome und nicht die Antizipatio-
zu verstehen ist. nen und Analogien und Postulate selbst sind eigentlich die
Wir nehmen noch einmal alles in einen Blick, um fortan das Grundsãtre, sondem Grundsãtze sind die Prinzipien der
Wesentliche bei dieser Aufstellung und Begrindung der Áxiome, Antizipationen, Analogien und Postulate.
Grundsãtze des reinen Verstandes gegenwaãrtig zu haben. Dig
Grundsãtze sind » Prinzipien der Exposition« der Erscheinun=- d) Die Axiome der Anschauunsg
gen. Sie sind die Grinde, auf deren Grund fúr einen Gegen-
stand die Ausgesetztheit in sein Erscheinen mõglich ist, sie Achten wir sogleich auf die schon vermerkte Verschiedenheit
sind die Bedingungen der Gegenstândlichkeit des Gegenstans der Fassungen in À und B (À 162, B 202).
des. A: »Grundsatz des reinen Verstandes: Alle Erscheinungen
Aus dem, was jetzt iiber die Grundsãtze des reinen Verstan- sind ihrer Anschauung nach extensive GrôBen. «
des im allgemeinen gesagt wurde, lãft sich auch schon deutlis B:» Das Prinzip derselben ist: Alle Anschauungen sind exten-
151 cher entnehmen, in welchem Sinne sie synthetische Urteilo sive Gróflen. «
priori sind und wie ihre Móglichkeit bewiesen werden mull, Nicht immer ist die Fassung in B treffender als die in À.
Synthetische UÚrteile sind solche, die unser Wissen vom Gegens Beide ergânzen sich und sind deshalb von besonderem Wert,
stand erweitern. Dies geschieht gemeinhin so, daB wir die Pridi- weil Kant dieses groBe von ihm entdeckte Gebiet nicht eigens
kate auf dem Wege der Wabmehmung aus dem Gegenstand so durchleuchtet hat, wie ihm dies als Aufgabe eines Systems
her, a posteriori, schipfen. Doch jetzt handelt es sich um Pridi- der Transzendentalphilosophie vorschwebte. Aber fir uns
kate, um Bestimmungen des Gegenstandes, die diesem a priori Nachkommen ist gerade das Unausgeglichene, das Hin und
zukommen, Diese Bestimmungen sind jene, aus denen und aul Her, sind die neuen Anlãufe, das vorbahnende Unterwegs we-
Grund deren sich iiberhaupt erst bestimmt, was zu einem Go. sentlicher und fruchtbarer als ein glattes System, darin alle Fu-
genstand als Gegenstand gehõrt, jene Bestimmungen, die dis gen ausgefuúllt und úiberstrichen sind.
Bestimmtheiten der Gegenstândlichkeit des Gegenstandes zum Bevor wir den Beweisgang fiir den ersten Grundsatz durch-
sammenhringen. Sie mússen offenbar a priori sein; denn nur gehen, fragen wir nach dem, wovon hier die Rede ist, nach den
sofern wir iilberhaupt um Gegenstândliches wissen, kónnen wir » Bestandstiicken<«. Wir wissen, es handelt sich um die Bestim-
diesen und jenen mõglichen Gegenstand erfahren, Aber wie is mung des Wesens des Gegenstandes. Der Gegen-stand be-
solches múglich: im vorhinein — vor der Erfahrung, aber fuúr sin stimmt sich durch Anschauung und Denken. Gegenstand ist
198 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 27. Systematik der Grundsãtze des reinen Verstandes 199

das Ding, sofern es erscheint. Der Gegenstand ist Erscheinung, Grofihafte úberhaupt nennen kônnen. Die GróBe als quantitas,
Erscheinung heifBit hier nie Schein, sondern meint den Gegem als MaB und Ausmessung des GroBhaften, ist jeweils eine be-
stand selbst in seinem Anwesen und Dastehen. An derselban stimmte Einheit, bei der die Teile vor dem Ganzen vorhergehen
Stelle, wo Kant am Beginn der »Kritik der reinen Vernuntia und dieses zusammen-setzen. In der Grife als quantum, im
die zwei Bestandstiicke der Erkenntnis nennt, Anschauung und GroBhaften ist dagegen umgekehrt das Ganze vor den Teilen;
Denken, kennzeichnet er auch die Erscheinung. »In der Em es ist in Ansehung der Menge der Teile unbestimmt und in sich
scheinung nenne ich das, was die Empfindung korrespondierl, stetig. Quantitas ist immer quantum discretum; sie ist nur
die Materie derselben, dasjenige aber, welches macht, dal das múglich durch nachherige Zerteilung und entsprechende Zu-
Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhãâltnissen go. sammensetzung (Synthesis) innerhalb und auf dem Grunde des
ordnet werden kann, nenne ich die Form der Erscheinung.« (À quantum. Dieses selbst aber wird niemals erst durch Synthesis,
20, B 34) Form ist das Worinnen der Ordnung von Farbem, was es ist. GróBe als quantitas ist immer, weil durch so und so
Tônen und dergleichen. viele Teile bestimmt, etwas Vergleichbares, wihrend Raumhaf-
tes — von der quantitas abgesehen — in sich jederzeit dasselbe ist.
a) Quantum und quantitas Bei der Gróbe als quantitas handelt es sich immer um Grô-
Im ersten Grundsatz ist die Rede von Erscheinungen »ihrer An Benerzeugung. Geschieht diese im Fortgang von Teilen zu
schauung nache, also vom Gegenstand in der leitenden Hin» Teilen zum Ganzen, durch sukzessive Anstiickung der ausein-
sicht auf das Gegen, das Begegnen, das Vor-uns-kommen.In anderliegenden Teile, dann ist die GróBe (quantitas) eine
dieser Hinsicht wird gesagt: Die Erscheinungen als Anschau- extensive. »Die GroBe der Menge [Aggregat] ist extensiv.«
ungen sind extensive GróBen. (Reflex. Nr. 5887, vel. Nr. 5891)
Was heiBt Grófe und was meint extensive GróBe? Der deut= GróBe als quantitas ist immer Einheit einer wiederholten
sche Ausdruck »GróBex« ist im allgemeinen und besonders in Setzung. Die Vorstellung von solcher Einheit enthãlt zunichst
bezug auf Kants Erôrterungen zweideutig; deshalb setzt Kant nur das, was der Verstand in solch wiederholter Setzung »fúr
gem unterschiedliche lateinische Ausdriicke in Klammern dazu, sich selbst tuthe; es »ist darin nichts enthalten, was eine War-
oder er gebraucht oft nur die lateinischen, um den Unterschied, nebmung erfoderte«. (Reflex. Nr. 6558 a) Quantitãt ist ein reiner
den er selbst erst klar herausgestellt hat, festzulegen. Wir fin- Verstandesbegriff. Nicht so die GróBe als quantum; sie ist nicht
den am Ende eines Absatzes und zu Beginn des folgenden die durch Setzung erzeugt, sonderm fúr ein Anschauen zumal ge-
zwei verschiedenen Titel fúr GrófBe (A 165, B 204): GróBe geben.
als quantum und GrôBfe als quantitas (vel. Reflexionen, Nr,
6338 a, WW XVIII, 659 f£.). Die GróBe als quantitas gibt Ante BB) Raum und Zeit als quanta, als Formen der reinen
wort auf die Frage: Wie groB? Sie ist das MaB, das Soviel einor Anschauung
vielmalgenommenen Eins. Die GróBe eines Zimmers betriágl Was soll nun heiBen: Die Erscheinungen als Anschauungen
soundso viel Meter nach Lânge, Breite und Hõôhe. Diese Grúólla sind extensive GróBen? Aus der vergleichenden Bestimmung
des Zimmers aber ist nur mõóglich, weil das Zimmer als Raunis der GróBe als quantitas und der Grôbfe als quantum wurde er-
haftes ilberhaupt ein Oben, Unten, Hinten, Vorn und Neben sichtlich, daB quantitas immer quantum voraussetzt, dal) GróBe
ist, ein quantum. Darunter versteht Kant das, was wir das als MaB, als Soviel, immer MaB eines GroBhaften ist. Demnach

o
200 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $27. Systematik der Grundsitze des reinen Verstandes — 201

miissen die Erscheinungen als Anschauungen, d. h. die An- Gegebenen. An der Stelle, wo Kant den Raum als un-endliche
schauungen als solche, quanta sein, GroBhaftes, wenn sie úber- GrôBe bestimmt, sagt er aber: » Der Raum wird als eine unend-
haupt Quantitãten sollen sein kônnen. Solchen Wesens (quan-. liche GriBe gegeben vorgestellt.« (A 25) »Der Raum wird als
ta) aber sind nach Kant Raum und Zeit. Der Raum ist eine. cine unendliche gegebene GróBe vorgestellt.« (B 39) Das Vor-
GrúBe — das besagt nicht: Er ist ein so und so GroBes. Raum ist stellen, das den Raum als solchen vor uns bringt, ist ein geben-
zunãchst gerade nie so und so groB, sondern solches, was GrôBe des Vorstellen, d. h. ein Anschauen; der Raum selbst ist ein
im Sinne von quantitas erst ermõóglicht. Der Raum wird nicht Angeschautes und in diesem Sinne: Anschauung. Unmittelbar
durch Ráâume zusammengesetzt. Der Raum besteht nicht aus gegeben ist der Raum. Wo ist er gegeben? Ist der Raum iiber-
Teilen, sondern jeder Raum ist immer nur als Einschrânkung haupt irgendwo? Ist er nicht vielmehr die Bedingung der Mig-
des ganzen Raumes, so zwar, dafBá sogar die Schranke und lichkeit jedes »wo« und » dort« und »hier«? Ein Raumcharak-
Grenze den Raum und die Raumerstreckung voraussetzen und ter ist z. B. das Nebeneinander. Dieses Neben gewinnen wir je-
wie der Teilraum im Raum verbleiben. Der Raum ist eine doch nicht erst durch Vergleich von nebeneinander liegenden
GrôóBe (quantum), bei der endliche, maBhaft bestimmte Abtei- Gegenstânden. Um diese Gegenstiânde als nebeneinander zu er-
lungen und Zusammensetzungen immer zu spãt kommen, wo fahren, miissen wir das Neben- und im gleichen das Vor- und
das Endliche dieser Art schlechthin kein Recht hat und nichts Hinter- und Úbereinander schon unmittelbar vorstellen. Diese
fúr die Bestimmung des Wesens ausrichtet; deshalb wird der Erstreckungen hãângen nicht von den Erscheinungen ab, von
Raum eine »unendliche Grófe« (À 25) genannt. Dies meint dem, was sich zeigt; denn wir kinnen uns alle Gegenstânde im
154 nicht: »endlos« hinsichtlich der endlichen Bestimmungen, als Raum wegdenken, aber nicht diesen selbst. Bei allem Sichzei-
quantitas, sondern als quantum, was nichts Endhaftes als seine gen der Dinge in der Wahmehmung ist, und zwar im vorhinein
Bedingung voraussetzt, vielmehr umgekehrt selbst Bedingung notwendig der Raum im Ganzen allgemein und unmittelbar
jeder Teilung und endlichen Zerstitckung; ist. gegeben vorgestellt. Aber dieses Eine, allgemein Gegebene,
Der Raum und ebenso die Zeit sind quanta continua, ur dieses Vorgestellte ist kein Begriff, ist nicht etwas im allgemei-
springlich GroBhaftes, un-endliche GrôBen und demzufolge nen Vorgestelltes, so, wie » Baum iiberhaupt«. Die allgemeine
mõgliche extensive GrôfBen (Quantitãten). Der Grundsatz der Vorstellung » Baum« enthilt alle einzelnen Búume unter sich
Axiome der Anschauung lautet: » Alle Erscheinungen sind ihrer als das, woyon sie aussagbar ist. Der Raum aber enthilt alle
Anschauung nach extensive Grôófien.« Wie kónnen aber An- einzelnen Rãume in sich. Die einzelnen Rãume sind nur jewei- 155
schauungen extensive GróBen sein? Dazu miissen sie urspriing- lige Einschrâinkungen des einen ursprimglich einigen Raumes
lich GroBheiten sein (quanta). Als solche nennt Kant Raum und als eines einzigen. Der Raum als quantum ist als ein einziges
Zeit und, wie wir sehen, mit Recht. Aber Raum und Zeit sind » Dieses« unmittelbar gegeben. Ein Einzelnes unmittelbar vor-
doch keine Anschauungen, sondern: Raum und Zeit. stellen heiBt anschauen. Raum ist ein Angeschautes, und zwar
Friiher bestimmten wir das Anschauen als das unmittelbare ein vor allem Erscheinen der Gegenstânde in ibhm Angeschau-
Vorstellen eines Einzelnen. Durch dieses Vorstellen wird uns tes, im Blick Stehendes. Der Raum wird nicht durch Empfin-
etwas gegeben. Anschauen ist ein gebendes Vorstellen, kein dungen empfunden, er ist ein im vorhinein — a priori —, d. h.
machendes, durch Zusammensetzen erst bildendes. Anschau- rein Angeschautes. Der Raum ist reine Anschauung. Als dieses
ung im Sinne des Angeschauten ist Vorgestelltes im Sinne eines rein Angeschaute ist er jenes, was alles uns empirisch Gegebene
204 Die Dingfrage in Karus Hauptwerk $ 27. Systematik der Grundsãtze des reinen Verstandes — 205

Subjektbezuges die Raumfrage aufbaut, dazu vgl. »Sein und Anschauung der genannten Art. Was bedeutet dies hinsichtlich
Zeit« $$ 19-24 und $ 70). des gegenstândlichen Charakters der Erscheinungen? Wir sa-
Fiir uns ist jetzt nur wichtig, zu zeigen, inwiefern Raum und gen: »Der Mond steht am Himmel.« Seiner sinnlichen, emp-
Zeit iiberhaupt als Anschauungen denkbar sind. Der Raum gibt findungsmábigen Gegebenheit nach ist er ein Leuchtendes,
sich nur in diesem reinen Anschauen, worin der Raum als sol- Farbiges mit mannigfaltig verteilten Helligkeiten und Dunkel-
cher von uns im vorhinein uns vor-gehalten, als Anblickbares heiten; er ist gegeben auBer uns, dort, in dieser bestimmten
vor-gestellt wird, »vor-gebildet« als jenes GrofBihafte des Ne- Gestalt, von dieser GrõôBe, in diesem Abstand von anderen
ben- und Úber- und Hintereinander, einer Mannigfaltigkeit, Himmelskôórpern. Der Raum — das Worinnen der Mondgege-
die von sich aus die Moglichkeit zu eigenen Einschrânkungen benheit — ist zu dieser Gestalt von dieser GróBe in diesen Ver-
und Begrenzungen gibt. hãltnissen und Abstânden eingeschrânkt und begrenzt. Der
Raum und Zeit sind reine Anschauungen. Von der Anschau- Raum ist ein bestimmter Raum, und nur diese Bestimmtheit
157 ung wird in der Ásthetik gehandelt. Anschanung ist darnach macht den Mondraum, die Mondrãumlichkeit aus. Die Be-
solches, was a priori zur Gegenstândlichkeit des Gegenstandes stimmtheit zu dieser Gestalt, dieser Ausdehnung, diesem Ab-
gehõrt, was Erscheinungen sich zeigen 1ãBt; reine Anschauung stand von anderem griindet in einem Bestimmen. Das Bestim-
ist transzendental. Die iranszendentale Ásthetik gibt nur eine men ist ein geordnetes Zusammensetzen, ein Herausheben
Vorbetrachtung. Ihre eigentliche Thematik kommt erst in der besonderer Ausdehnungssticke, die selbst in ihren Teilen
Behandlung des ersten Grundsatzes zum Ziel. gleichartig sind, z. B. der Teile der Kreislinie der Gestalt. Nur
indem die Mannigfaltigkeit des an sich unbestimmten Raumes
y) Der Beweis des ersten Grundsatzes; alle Grundsãtze grúnden in Teile zerlegt und aus diesen Teilen in bestimmter Abfolge
im obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile und mit bestimmtem Aufhõóren zusammengesetzt wird, vermas
Mit dem Gesagten ist das Wesentliche vorbereitet, um den Be- das Leuchtend-Farbige als Mondgestalt dieser GrôBe und Ent-
weis des ersten Grundsatzes und damit diesen selbst zu verste- fernung sich uns zu zeigen, d. h. von uns hingenommen und 158
hen. Der Beweis besteht aus drei Sãtzen, die klar gegeneinan- aufgenommen zu werden in den Umkreis des uns je schon Be-
der abgesetzt sind. Der erste Satz beginnt mit » Alle... .«, der gegnenden und Gegen-uns-stehenden.
zweite mit »Nun ist...« der dritte mit » Also ...«. Unver- Das Erscheinende ist nach seiner Anschauung, nach der Form
kennbar steben die drei Sãtze im Zusammenhang der Form seiner Angeschautheit, d. h. hinsichtlich des Raumes und seiner
eines Schlusses: Obersatz, Untiersatz, SchluBsatz. Alle folgenden zunichst unabgehobenen Mannigfaltigkeit, ein so und so Be-
Beweise — firr die Antizipationen und Analogien —, die sich, wie stimmtes: ein zusammengesetztes Gleichartiges. Die Zusam-
der Beweis der Axiome, erst in der zweiten Auflage finden, sind mengesetztheit ist jedoch eine solche nur auf Grund einer darin
in dieser Weise gebaut. so und so vorgestellten Einheit der Gestalt, der Grófe. In der
Wir vollziehen die drei Schritte des Schlusses, indem wir zu- Synthesis waltet — sie regelnd — Einheit, die Vorstellung einer
gleich das in den einzelnen Sátzen noch Ungeklãrte erlâutern. solchen, das BewuBtsein von ihr. Damit haben wir den wesent-
Der Beweis beginnt mit dem Hinweis darauf, daB alle Er- lichen Gehalt des Obersatzes herausgehoben. Der Untersatz
scheinungen sich in Raum und Zeit zeigen; hinsichtlich der setzt unmittelbar bei dem zuletzt Gesagten ein, d. h. beim Be-
Weise ihres Erscheinens, ihrer Form nach, enthalten sie eine wubBtsein der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen. (B 205)
206 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 27. Systematik der Grundsitze des reinen Verstandes — 207

»Nun ist das BewuBtsein des mannigfaltigen Gleichartigoen schen zwei Punkten ist nur eine gerade Linie múglichs«, als ma-
in der Anschauung iúiberhaupt, sofern dadurch die Vorstellung thematische Sãtze von den Erscheinungen selbst gelten, warum
eines Objekts zuerst mõóglich wird, der Begriff einer Gróúbo die Mathematik sich auf die Gegenstânde der Erfahrung an-
(quanti).« Hier wird gesagt, wodurch die Einheit des Mannigs wenden lãBt. Dies ist nicht selbstverstândlich und nur unter
faltigen ilberhaupt móglich wird. Gehen wir vom mannigfaltis bestimmten Bedingungen mõglich. Sie werden im Beweis des
gen Gleichartigen selbst aus. Gleichartiges ist die Abfolge dar Grundsatzes herausgestellt. Kant nennt den Grundsatz deshalb
Aufreihbung und Zusammensetzung des vielen Gleichen zum auch den »transzendentalen Grundsatz der Mathematik der
Einen, eine Abfolge von unterschiedsloser Vielheit. Die Einhoit Erscheinungen« (A 165, B 206). Unter dem Titel »Axiome der
einer solchen ist je ein »soundso viel«, d. h. Quantitãt úberm Anschauung« werden nicht diese selbst aufgestellt und abge-
haupt. Einheit úberhaupt einer Vielheit úberhaupt ist die Leite handelt, Der Grund-Satz wird bewiesen, indem der Grund der
vorstellung eines Verbindens, eines »Ich denkes«, ein reinel gegenstândlichen Wahrheit der Axiome gesetzt wird, d. h. der
Begriff des Verstandes. Sofern aber dieser Verstandesbegrill Grund ihrer selbst als notwendiger Bedingungen der Gegen-
»Einheit« als Regel der Einigung sich auf GroBhaftes, quans stândlichkeit der Gegenstânde. Die Anwendbarkeit der Axiome
tum iiberhaupt bezieht, ist er der Begriff eines quanti. Diesen der Mathematik der Ausdehnung und der Zahl und damit der
Begriff — die Quantitãt — bringt das gleichartige Mannigfaltigo Mathematik iiberhaupt besteht notwendig zu Recht, weil die
je in einem Geeinigten zur Gesammeltheit, zum Stehen. Dus Bedingungen der Mathematik selbst, diejenigen von quantitas
durch wird die Vorstellung eines Objekts zuerst mõóglich, das und quantum, zugleich die Bedingungen des Erscheinens des-
»Ich denke« und das Entgegen fur das Ich. Sofern nun — wia sen sind, worauf Mathematik angewandt wird.
im Obersatz gesagt ist — die Erscheinungen in der Form vom Damit treffen wir auf jenen Grund, der diesen Grund und
Raum und Zeit erscheinen, ist die erste Bestimmung des Begegr alle anderen móglich macht, auf den jeder Beweis jedes Grund-
nenden als solchem diese gegliederte, gestalthafte Einigung im satzes des reinen Verstandes zuriickverwiesen wird. Es ist der
Hinblick auf quantitas. Zusammenhang, den wir jetzt erstmalig deutlicher in den Blick
Jetzt wird der SchluB zwingend: Es ist also dieselbe Einhelt bekommen:
und Einigung, die die Erscheinungen als gestalthafte, soundso Die Bedingung des Erfahrens der Erscheinungen, hier hin-
groBe, im Auseinander des Raumes und der Zeit begegnen lil sichtlich Gestalt und GrôBe — núâmlich die Einheit der Synthe-
und die in der Zusammensetzung iiberhaupt Gleichartiges nlh sis als Quantitãt — diese Bedingung des Erfahrens ist zugleich
Quantitãten einer Menge zum Stehen bringt. Also sind die Em die Bedingung der Múglichkeit des Gegenstandes der Erfah-
scheinungen ihrer Anschauung nach, in der Weise ihres begoegr rung. In dieser Einheit kommt die begegnende Mannigfaltig-
nenden Gegenstehens, im vorhinein extensive GróBen. Dat keit des Gegen erst zum Stand — und ist Gegenstand. Die je-
quantum — Raum — bestimmt sich zu je diesen erscheinenden weilige quantitas der Rãume und Zeiten macht die Aufnahme
Raumgebilden nur in der Synthesis der Quantitãát. Dieselho des Begegnenden, die Apprehension, das erste Gegenstehenlas-
159 Einheit der Quantitãt lãBt Begegnendes gesammelt entgegens sen des Gegenstandes múglich. Auf unsere Frage nach der
stehen. Damit ist der Grundsatz bewiesen. Dadurch ist abor Dingheit des Dinges, d. h. nach der Gegenstândlichkeit des Ge-
auch begriindet, warum alle Grundsitze, die etwas iiber dio genstandes, antworten der Grundsatz und sein Beweis dieses:
reine Mannigfaltigkeit der Ausdehnung aussagen, z. B, »Zwir Weil Gegenstândlichkeit iberhaupt Einheit der Sammlung ei-
208 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 27. Systematik der Grundsãtze des reinen Verstandes — 209

nes Mannigfaltigen in einer Vorstellung von Einheit ist und e) Die Antizipationen der Wahrnehmung
Vorbegriff, dieses Mannigfaltige aber in Raum und Zeit begeg.
net, mubB das Begegnende selbst in der Einheit der Quantitlil In den Grundsãtzen wird der Grund, die innere Moglichkeit
als extensive GrôBe entgegenstehen. des Gegenstandes gesetzt. Die mathematischen Grundsiitze fas-
Die Erscheinungen miissen extensive GriBen sein. Damit sen den Gegenstand im Hinblick auf das Gegen und dessen
wird iiber das Sein der Gegenstânde selbst etwas ausgesagt, sol. innere Móglichkeit. Daher spricht auch der zweite Grundsatz
ches, was nicht schon im Begriff eines Etwas úberhaupt liegl, ebenso wie der erste von den Erscheinungen im Hinblick auf
woriiber wir im Urteil aussagen. Dem Gegenstand wird mit der ihr Erscheinen. À: » Der Grundsatz, welcher alle Wahmehmun-
160 Bestimmung, extensive Grôfe zu sein, synthetisch etwas zugês gen, als solche, antizipiert, heiBt so: In allen Erscheinungen hat
sprochen, aber a priori, nicht auf Grund von Wahrnehmungen die Empfindung, und das Reale, welches ihr an dem Gegen-
einzelner Gegenstiânde, sondern im vorhinein aus dem Wesen stande entspricht, (realitas phaenomenon) eine intensive Groófie
der Erfahrung iiberhaupt. d. i. einen Grad«. B: »Das Prinzip derselben ist: In allen Er-
Welches ist die Angel, in der sich der ganze Beweis drehbl, scheinungen hat das Reale, was ein Gegenstand der Emp-
d. h. welches ist der Grund, auf dem der Grundsatz selbst rubt? findung ist, intensive Grõôfe, d. i. einen Grad.«
Was wird demnach urspriinglich durch den obersten Grundsate Hier sind die Erscheinungen in einer anderen Hinsicht ge-
selbst ausgesprochen und damit ans Licht gehoben? nommen als beim ersten Grundsatz. Dieser versteht die Erschei-
Welches ist der Grund der Móglichkeit dieses Grundsatzes alt nungen als Anschauungen hinsichtlich der Form Raum und 161
eines synthetischen Urteils a priori? In diesem wird der reiné Zeit, in der das Begegnende begegnet. Der Grundsatz der » An-
Verstandesbegrill Quantitãt auf das quantum Raum und damil tizipationen der Wahrnehbmung« achtet nicht auf die Form,
auf die im Raum erscheinenden Gegenstânde iibertragen. Win sondern auf das, was durch die Form als das Bestimmende be-
kann iiberhaupt ein reiner Verstandesbegriff das Bestimmenda stimmt wird, auf das Bestimmbare als die Materie der Form.
werden fiir so etwas wie Raum? Diese gânzlich ungleichartigen Materie meint hier nicht den vorhandenen materiellen Stoff.
Stiicke miissen in irgendeiner Hinsicht iibereinkommen, um. Materie und Form sind als » Reflexionsbegriffe« gedacht, und
iberhaupt als Bestimmbares und Bestimmendes sich zu einis zwar als die allgemeinsten, die sich fúur die Ritckbesinnung auf
gen, und zwar so, daB kraft dieser Einigung von Anschauúng die Struktur der Erfahrung ergeben (vgl. A 266 ff., B 322 f£.).
und Denken ein Gegenstand ist. | Im Beweis der » Antizipationen« ist die Rede von Empfin-
Weil diese Fragen sich bei jedem der Grundsãtze und ibren dungen, vom Realen, aber auch wieder von GróBe, und zwar
Beweisen wiederholen, sollen sie jetzt noch nicht beantwortel von intensiver GróBe. Jetzt handelt es sich nicht um Axiome der
werden. Wir wollen zuvor erst sehen, daB diese Fragen in der Anschauung, sondern um Grundsãátzliches der Wahrnehmung,
Behandlung der Grundsiãtze stândig und unausweichlich wio- d. h. eines solchen Vorstellens, »in welchem zugleich Empfin-
derkehren. Wir mõchten die Antwort aber auch nicht bis an don dung ist«. (B 207)
Schlub der Auslegung der Grundsãtze verschieben, sondern sia
nach der Erórterung des folgenden Grundsatzes darlegen, im
Ubergang von den mathematischen zu den dynamischen
Grundsãtzen.
210 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 27. Systematik der Grundsátze des reinen Verstandes — 211
a) Vieldeutigkeit des Wortes » Empfindung«; die Lehre von mit » Empfindung« Benannte ist deshalb so vieldeutig, weil es
der Empfindung und die neuzeitliche Naturwissenschaft eine eigentiimliche vermittelnde Zwischenstellung zwischen
Im menschlichen Erkennen muB das Erkennbare begegnen den Dingen und dem Menschen, zwischen Objekt und Subjekt
und gegeben werden, weil das Seiende ein anderes ist als wir cinnimmt. Je nachdem, wie wir das Objektive deuten, und je
selbst und weil wir das Seiende nicht selbst gemacht und ge- nach dem Begriff vom Subjektiven wandelt sich auch die Auf-
schaffen haben. Einem Schuster braucht man nicht erst einen fassung und Deutung des Wesens und der Rolle der Empfin-
Schuh zu zeigen, um ihn wissen zu lassen, was ein Schuh ist; er dung. Hier sei nur eine Auffassung genannt, die sich im abend-
weiB dies ohne den begegnenden Schuh und weib es ohne dio- lândischen Denken schon sehr bald breitmachte und auch heute
sen viel besser und eigentlicher, weil er dergleichen herstellen vielfach noch nicht iilberwunden ist. Je mehr man dazu iúiber-
kann. Was er dagegen nicht herstellen kann, muf ihm anders« ging, die Dinge nach ihrem bloBen Aussehen, nach Gestalt und
woher vorgefilhrt werden. Da wir Menschen das Seiende als Lage und Erstreckung zu sehen (Demokrit und Platon), um so
solches im Ganzen nicht geschaffen haben und nie schaffen kóns aufdringlicher muBte gegeniiber den Lagebeziehungen das
nen, mubB es uns, damit wir davon wissen, gezeigt werden. werden, was die Abstânde und die Orte ausfiillt, das empfin-
Bei diesem Zeigen des Seienden in seiner Offenbarkeit hat dungsmãbig Gegebene. In der Folge wurden die Empfindungs-
nun jenes Tun eine herausragende Aufgabe, das die Dinga gegebenheiten — Farbe, Ton, Druck und StoB — zu den ersten
zeigt, indem es sie in gewisser Weise schafft, das Schaffen des und eigentlichen Bausteinen, aus denen ein Ding sich zusam-
Kunstwerks. Werk wirkt Welt. Welt eróffnet erst die Dinge in. mensetzt.
nerhalb ihrer. Die Móglichkeit und Notwendigkeit des Kunstr Sobald einmal die Dinge in eine Mannigfaltigkeit von Emp-
werks ist nur ein Beweis dafúr, dal wir um Seiendes erst dann findungsgegebenheiten zerschlagen waren, konnte die Deu-
Wwissen, wenn es uns eigens gegeben wird. tung ihres einheitlichen Wesens nur so vonstatten gehen, daB
Gewihnlich geschieht dies jedoch im Begegnen der Dinge im man sagte: Eigentlich sind die Dinge nur Ansammlungen von
Umbreis der alltâglichen Erfahrung. Dazu miissen sie uns ans Empfindungsdaten, anBerdem haben sie noch einen Ge-
gehen, affizieren, auf uns zu- und eindringen. Hierbei ergeben brauchswert und einen Schinheitswert und — sofern wir sie er-
sich Eindriicke, die Emplindungen. Ihre Mannigfaltigkeit ver- kennen — einen Wahrheitswert. Die Dinge sind wertbehaftete
teilt sich auf die verschiedenen Felder unserer Sinne, Gesicht, Ansammlungen von Empfindungen. Die Empfindungen wer-
Gehãõr usf. In der Empfindung und ihrem Andrang finden wir den dabei fiir sich vorgestellt. Sie werden selbst zu Dingen ge-
dasjenige, was den »eigentlichen Unterschied des Empirischen macht, ohne dal zuvor gesagt wird, was denn das Ding sei,
von dem Erkenntnis a priori ausmacht«. (A 167, B 208/9) Das durch dessen Aufspaltung die Splitter — die Empfindungen —
162 Empirische ist das a posteriori, das — von uns aus, als dem Er. als das angeblich Urspriingliche iibrigbleiben.
sten, gesehen — Zweite, immer Nachherige und Beiherspielendo, Der nãchste Schritt aber ist der, daB die Splitterdinge, die
Das Wort » Empfindung« ist wie das Wort Vorstellung zu Emplindungen, als Wirkungen einer Ursache gedeutet werden.
nãchst zweideutig: Es meint einmal das Empfundene, das ver Die Physik stellt fest, die Ursache der Farbe seien Lichtwellen,
nommene Rot, den Ton, Rotempfindung, Tonempfindung. Es periodische endlose Zustandsânderungen im Áther. Jede Farbe
meint zugleich das Empfinden als einen Zustand unserer selbsl, hat ihre bestimmte Schwingungszahl, z. B. Rot hat die Wellen-
Aber bei diesem Unterschiede hat es nicht sein Bewenden., Das linge 760 uu und die Schwingungszahl 400 Billionen pro Se-
212 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $27. Systematik der Grundsãtze des reinen Verstandes — 213
kunde. Das ist Rot; es gilt als das objektive Rot gegenúber dem Zum Gliick gibt es aber vorerst noch — auBer den Lichtwellen
bloB subjektiven Eindruck der Rotempfindung. Schóner wiira und auBer den Nervenstróômen — die Farbigkeit und das Leuch-
es noch, wenn man auch diese Rotempfindung als Reizzustand ten der Dinge selbst, das Grim des Blattes und das Gelb des
165 auf elektrische Stróme in den Nervenhahnen zurúckfúhren Kornfelds, das Schwarz der Krãhe und das Grau des Himmels.
kônnte. Wenn es so weit kommt, wissen wir, was die Dingo Der Bezug zu all dem ist nicht nur auch da, er muf stândig als
objektiv sind. das vorausgesetzt werden, was durch die physiologisch-physika-
Eine solche Erklârung der Empfindung sieht sehr wissenr lische Fragestellung sogleich zerschlagen und umgedeutet wird.
schaftlich aus und ist es doch nicht, sofern der Bereich der Emp Die Frage erhebt sich: Was ist seiender, jener grobe Stuh] mit
findungsgegebenheit und das, was erklãrt werden soll, namlidh der Tabakpfeife, den das Gemálde van Goghs zeigt, oder die
die Farbe als gegebene, sogleich verlassen werden. Úberdies Lichtwellen, die den dabei verwendeten Farben entsprechen,
wird nicht beachtet, dal noch ein Unterschied besteht, ob wir. oder die Empfindungszustânde, die wir bei der Betrachtung des
bei einer Farbe die bestimmte Farbigkeit eines Dinges meinen, Bildes »in uns« haben? Jedesmal spielen Emplindungen eine
dieses Rot am Ding, oder die Rotempfindung als im Auge go- Rolle, aber jedesmal in einem verschiedenen Sinne. Die Ding- 164
gebene. Diese letztgenannte Gegebenheit ist nicht unmittelbar farbe z. B. ist etwas anderes als der im Auge gegebene Reiz, den
gegeben. Es bedarf einer sehr verwickelten und kúnstlichen wir als solchen nie unmittelbar erfassen. Die Dingfarbe gehõrt
Einstellung, um die Empfindungsfarbe als solche im Unter« zum Ding. Sie gibt sich uns auch nicht als Ursache eines Zustan-
schied zur Dingfarbe zu fassen. Achten wir indes — unter Fem des in uns. Die Dingfarbe selbst, z. B. das Gelb, ist nur dieses
haltung jeder Erkenntnistheorie — auf die Gegebenheit der Gelb als zugehôrig zum Kornfeld. Die Farbe und ihre leuch-
Dingfarbe, z. B. auf das Griin eines Blattes, dann findet sich du tende Farbigkeit bestimmen sich jeweils aus der urspringlichen
nicht das mindeste von einer Ursache, die eine Wirkung in uns Einheit und Art des farbigen Dinges selbst. Dieses setzt sich
auslóst. Wir vernebmen niemals das Griún des Blattes als Wir. nicht erst aus Empfindungen zusammen.
kung auf uns, sondern als Griin des Blattes. Die Hinweise sollen nur dazu dienen, uns deutlich zu ma-
Wo aber — wie in der neuzeitlichen mathematischen Physik = chen, dal) nicht ohne weiteres klar ist, was man meint, wenn
das Ding und der Kôrper als ausgedehntes und widerstândigos man Empfindung sagt. Die uneingegrenzte Vieldeutigkeit des
Ding vorgestellt werden, da sinkt die anschauliche Mannigfal- Wortes und die unbeherrschte Vielfaltigkeit der gemeinten
tigkeit zu einer solchen von Emplindungsgegebenheiten herab, Sache spiegeln nur die Unsicherheit und Ratlosigkeit wieder,
Heute ist das Gegebene fiir die experimentelle Atomphysik nur die eine zureichende Bestimmung des Bezuges zwischen
eine Mannigfaltigkeit von Lichtflecken und Strichen auf der Mensch und Ding hintanhalten.
photographischen Platte. Dieses Gegebene auszulegen, bedarl Weithin herrscht die Meinung, die Auffassung der Dinge als
es nicht weniger Voraussetzungen als bei der Auslegung eines einer bloBen Mannigfaltigkeit von Empfindungsgegebenhei-
Gedichtes. Es ist nur die Festigkeit und Greifbarkeit der MeBr ten sei die Voraussetzung fúr die mathematisch-physikalische
apparatur, was den Anschein erweckt, diese Auslegung stindo Bestimmung der Kórper; die Lehre von der Erkenntnis, wo-
auf einem festeren Boden als die angeblich nur auf subjektiven nach diese wesentlich in Empfindungen bestehe, sei der Grund
Einfãllen beruhenden Auslegungen der Dichter in den Geistem fir die Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschaft. Die
wissenschaften. Sache verhãlt sich indes umgekehrt. Der mathematische Ansatz
214 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 27. Systematik der Grundsãtze des reinen Verstandes — 215

des Dinges als des ausgedehnten Beweglichen in Raum und des BewnBtseins wirklich sei und wahrhaft existiere. » Realpoli-
Zeit hat zur Folge, daB das umgânglich alltâglich Gegebene alt tisch« denken heiBt, mit den wirklich vorhandenen Zustânden
bloBes Material aufgefaBt und in die Mannigfaltigkeit der und Umstânden rechnen. Realismus in der Kunst ist die Weise
Emptfindungen aufgesplittert wird. Der mathematische Ansatz der Darstellung, die das Wirkliche und das, was man dafúir
hat erst bewirkt, dal man fúr eine entsprechende Lehre von hãlt, vermeintlich nur abschreibt. Die heute gelâufize Bedeu-
den Empfindungen wieder hellhôrig wurde: In der Ebene die: tung von Realitãt im Sinne von Wirklichkeit miússen wir uns
ses Ansatzes hãlt sich auch Kant; er hat, wie die Uberlieferung aus dem Sinn schlagen, um zu verstehen, was Kant mit dem
vor ihm und nach ihm, jenen Bereich der Dinge von vornherein Realen in der Erscheinung meint. Die heute gelâufige Bedeu-
iibersprungen, in dem wir uns unmittelbar heimisch wissen, tung von » Realitãt« entspricht úberdies weder dem urspriing-
der Dinge, wie sie uns auch der Maler zeigt: der einfache Stuhl lichen Wortsinn noch dem anfânglichen Gebrauch dieses Titels
mit der eben hingelegten oder liegengelassenen Tabakpfeifo. in der mittelalterlichen und neuzeitlichen Philosophie bis zu
bei van Gogh. Kant. Indes ist der heutige Gebrauch vermutlich durch ein
Nichtverstehen und die MiBdeutung des Sprachgebrauchs bei
B) Kants Begriff der Realitãt; intensive GróBen Kant entstanden.
Wenngleich Kants Kritik sich von vornherein im Bereich doer Realitãt kommt von realitas; realis heiBt solches, was zur res
Erfahrung des Gegenstandes der mathematisch-physikalischen gehõrt. Dies meint die Sache. Real ist das, was zu einer Sache
Naturerkenntnis aufhãlt, bleibt seine metaphysische Auslegung gehõrt, was den Wasgehalt eines Dinges, z. B. eines Hauses, ei-
der Empfindungsgegebenheit grundsátzlich von allen bisheri- nes Baumes mit ausmacht, was zum Wesen einer Sache, zur
gen und nach ihm kommenden verschieden, d. h. ibnen allen essentia gehõrt. Realitãt bedeutet zuweilen das Ganze dieser
iiberlegen. Die Auslegung der Gegenstândlichkeit des Gegemns. Wesensbestimmung einer Sache oder die einzelnen Bestand-
standes in Richtung auf das empfindungsmabig Gegebene an stiicke derselben. So ist z. B. die Ausdehnung eine Realitãt des
ibm vollzieht Kant in der Aufstellung und durch den Beweis. Naturkórpers, ferner die Schwere, die Dichtigkeit, die Wider-
165 des Grundsatzes der Antizipationen der Wahmehmung. Es. standskraft. All solches ist real, gehõrt zur res, zur Sache » Na-
kennzeichnet die bisherige Kantauslegung, daB sie dieses Stúck turkórper«, abgesehen davon, ob der Kôrper wirklich existiert
entweder iiberhaupt iibergangen oder in jeder Hinsicht miB« oder nicht. Zur Realitãt eines Tisches gehórt z. B. Stofflichkeit;
deutet hat. Der Beweis dafúr ist die Ratlosigkeit, mit der man der Tisch braucht dabei nicht wirklich, im heutigen Sinne
einen Grundbegriff handhabt, der in diesem Grundsatz eino »real« zu sein. Das Wirklichsein selbst, die Existenz, ist etwas,
wesentliche Rolle spielt. Wir meinen den Begriff des Reale was zum Wesen erst hinzukommt, und in dieser Hinsicht galt
und der Realitãt. die existentia selbst als eine Realitãt. Erst Kant hat gezeigt, da
Die Klârung dieses Begriffes und seiner Verwendung bel Wirklichkeit, Vorhandensein kein reales Prãdikat eines Dinges
Kant gehõrt zur ersten Vorschule bei der Einfihrung in die ist; d. h. hundert mógliche Taler unterscheiden sich nicht im
»Kritik der reinen Vernunft«. Der Ausdruck »BRealitáte« wird. mindesten von hundert wirklichen Talern, nãmlich ihrer Reali-
heute in der Bedeutung von Wirklichkeit oder Existenz verstans tãt nach genommen; es ist jedesmal dieselbe Sachheit, nâmlich
den. So spricht man von der Frage nach der Realitãt der Aus 100 Taler, dasselbe Was, res, ob móglich oder wirklich.
Benwelt und meint damit die Erórterung, ob etwas auBerhalh Wirklichkeit unterscheiden wir gegen Múglichkeit und ge- 166
216 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 27, Systematik der Grundsitze des reinen Verstandes — 217

gen Notwendigkeit; alle drei Kategorien werden bei Kant zur phaenomenon (À 168, B 209), ist dasjenige, was als der erste
sammengefa[t unter den Titel Modalitãt. Daraus, daB in dieser Wasgehalt die Leere von Raum und Zeit besetzen muB, damit
Gruppe » Realitãte sich nicht findet, ist zu ersehen, daB Realititl úiberhaupt etwas erscheinen kann und Erscheinen, der Andrang
nicht Wirklichkeit bedeutet. In welche Gruppe gehórt die eines Gegen, múglich wird.
Realitãt, d. h. was ist ihr allgemeinster Sinn? Es ist die Qualitãt Das Reale in der Erscheinung ist im Sinne Kants nicht jenes,
— quale —, ein So und So, das und das, ein Was; »Bealitáte« alt was in der Erscheinung wirklich ist im Unterschied zu solchem,
Sachheit antwortet auf die Frage, was ein Ding ist, nicht aul was an ibr unwirklich und bloBer Schein und Dunst sein kônn-
die Frage, ob es existiert (A 143, B 182). Das Reale, das die res te. Das Reale ist jenes, was ilberhaupt gegeben sein muB, damit
Ausmachende, ist eine Bestimmung der res als solcher. So wird úiber etwas hinsichtlich seiner Wirklichkeit oder Unwirklichkeit 167
der Begriff Realitãt in der vorkantischen Metaphysik erlãâutert, entschieden werden kann. Das Reale ist das reine und erste not-
Kant schlielBt sich in der Verwendung des metaphysischen Be: wendige Was als solches. Ohne das Reale, die Sachheit, ist der
griffes Realitãt dem Lehrbuch von Baumgarten an, worin die. Gegenstand nicht nur unwirklich, er ist iilberhaupt nichts, d. h.
Úberlieferung der mittelalterlichen und neuzeitlichen Meta: obne ein Was, gemiãB dem er sich als das und das bestimmt. In
physik schulmãBig verarbeitet ist. diesem Was, dem Realen, qualifiziert sich der Gegenstand als
Der Grundcharakter der realitas ist bei Baumgarten die de- so und so Begegnendes. Das Reale ist das erste quale des Gegen-
terminatio, die Bestimmiheit. Ausdehbnung und Stofflichkeit standes.
sind Realitáten, d. h. zur res »Kôórper« gehórige Bestimmthuoi- Neben diesem kritischen Begriff von Realitãt gebraucht Kant
ten. Genauer betrachtet ist die realitas eine determinatio posis den Titel zugleich in dem iiberlieferten weiteren Sinne fúr jede
tiva et vera, eine zum wahren Wesen einer Sache gehórige und Sachheit, die das Wesen des Dinges mitbestimmt, des Dinges
als solche gesetzte Bestimmtheit. Der Gegenbegriff ist ein Was, als Objekt. DemgemãB treffen wir hãufig und gerade bei einer
das ein Ding nicht positiv bestimmt, sondern im Hinblick aul Grundfrage der » Kritik der reinen Vernuntt« auf den Ausdruck
solches, was ihm fehlt. So ist die Blindheit ein Fehlen, solches, »objektive Realitit«. Diese Wendung hat die erkenntnistheore-
das in dem, was das Sehen ist, ausbleibt. Allein, die Blindheit tische MiBdeutung der » Kritik der reinen Vernunfi« veranlaBt
ist offenkundig nicht nichts. Sie ist zwar keine positive Deter« und befórdert. Der Titel »objektive Realitát« wurde im Hin-
mination, aber eine negative, d. h. eine » Negation«. Der Gar blick auf die Erórterung des ersten Grundsatzes erlâutert. Hier
genbegriff zur Realitãt ist die Negation. ist die Frage, ob und wie die reinen Vernunfibegriffe, die nicht
Wie allen aus der ilberlieferten Metaphysik aufgenommencen empirisch aus dem Gegenstand genommen sind, gleichwohl
Grundbegriffen gibt Kant auch diesem, der realitas, eine neue zum Sachgehalt des Objektes gehõóren, ob z. B. Quantitãt »ob-
kritische Auslegung. Gegenstânde sind die Dinge, wie sie er jektive Realitãt« hat. Diese Frage meint nicht, ob die Quantitãt
scheinen. Erscheinungen bringen jeweils etwas, em Was zum wirklich vorhanden sei, ob ihr etwas auBerhalb des BewuBtseins
Sichzeigen. Was dabei vor allem andrãângt und uns anfállt und entspreche. Gefragt ist vielmehr, ob die Quantitãt und warum
angeht, dieses erste Was und Sachhafte wird »das Reales in sie zum Gegenstand als Gegenstand, zum Objekt als solchem,
der Erscheinung genannt, »aliquid sive obiectum qualificatum, gehõre. Raum und Zeit haben »empirische Realitit«.
ist die Besetzung des Raumes und der Zeit« (WW XVIII Nr, Im zweiten Grundsatz ist neben der Empfindung und dem
6538 a, S. 663). Das Reale in den Erscheinungen, die realitas Realen von der intensiven GróBe die Rede. Die Unterscheidung
218 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $27. Systematik der Grundsãtze des reinen Verstandes — 219

im Begriff der GróBe nach quantum und quantitas wurde be- 7) Empfindung bei Kant transzendental verstanden; Beweis
reits erlâutert. Ist die Rede von extensiver GróBe, dann heiBt des zweiten Grundsatzes
GrõôBe quantitas, GróBenmaB, und zwar das einer angestúckten Nunmehr verstehen wir den Grundsatz seinem allgemeinen In-
Menge. Das Intensive, die intensio, ist nun nichts anderes als halt nach (A 166):
die quantitas einer qualitas, eines Realen: z. B. eine leuchtende »Der Grundsatz, welcher alle Wahrmehmungen, als solche,
Flãche (der Mond). Die extensive GrôBe des Gegenstandes fas- antizipiert, heiBt so: In allen Erscheinungen hat die Empfin-
sen wir, wenn wir schrittweise seine râumlichen Erstreckungen dung, und das Reale, welches ihr an dem Gegenstande ent-
durchmessen, seine intensive GróBe dagegen, wenn wir der ex- spricht, (realitas phaenomenon) eine intensive Grófe d. i. einen
tensiven nicht achten, wenn wir die Flãche nicht als EFlãche, son- Grad,.«
dern das reine Was ihres Leuchtens, das » wie groB« des Leuch- In B 207 lautet er: » In allen Erscheinungen hat das Reale,
tens, der Farbigkeit beachten. Die quantitas der qualitas ist die was ein Gegenstand der Empfindung ist, intensive Grõofie, d. à.
Intensitãt. Jede GrôBe ist als quantitas die Einheit einer Viel- einen Grad.«
heit; aber extensive und intensive GróBe sind dies in verschie- Wir begreifen aber den Grundsatz erst auf Grund des Bewei-
dener Weise. In der extensiven GrófBe wird die Einheit immer ses, der zeigt, worin dieser Grundsatz — als Grundsatz des rei-
nur auf Grund und in der Zusammennahme der zunãáchst un- nen Verstandes — grindet. Der Beweisgang ist zugleich die
mittelbar gesetzten vielen Teile erfaBt. Die intensive GróBe Auslegung des Grundsatzes. Erst aus der Beherrschung des Be-
wird dagegen unmittelbar als Einheit vernommen. Die Viel- weises werden wir imstande sein, den Unterschied der beiden
168 heit, die zur Intensitãt gehõôrt, kann an ihr nur so vorgestellt Fassungen À und B zu ermessen und iúiber den Vorzug der ei-
werden, daB ein Intensives der Negation — bis zur Null — ange- nen vor der anderen zu entscheiden. Zu beachten bleibt: Der
nãhert wird. Die Vielheiten dieser Einheit liegen nicht ausge- Grundsatz sagt etwas úiber die Empfindungen, nicht auf Grund
breitet in ibhr, so daB die Ausbreitung durch die Zusammenzãh- einer psychologischen empirischen Beschreibung oder gar einer
lung der vielen Strecken und Stiicke die Einheit ergibt. Die physiologischen Erklárung ihres Entstehens und ihrer Her-
einzelnen Vielheiten der intensiven Grife entspringen viel- kunft, sondern auf dem Weg einer transzendentalen Betrach-
mehr aus der Einschrânkung der Einheit eines quale; sie sind tung. Das bedeutet: Die Empfindung wird im voraus als etwas
selbst je wieder ein quale, sind viele Einheiten. Solche Einhei- in den Blick genommen, was innerhalb des Bezuges eines Hin-
ten nennen wir Grade. Ein lauter Ton z. B. ist nicht aus einer ibersteigens zum Gegenstand und bei der Bestimmung seiner
bestimmten Anzahl dieser Tóúne zusammengesetzt, sonderm Gegenstândlichkeit ins Spiel kommt. Das Wesen der Empfin-
vom leisen zum lauten geht eine Stufung der Grade. Die Viel- dung wird aus ihrer Rolle innerhalb des Transzendenzbezuges
heiten der Einheit einer Intensitãt sind viele jeweilige Einhei- umegrenzt.
ten. Die Vielheiten der Einheit einer Extensitãt sind jeweilig Damit gewinnt Kant eine andersgeartete Grundstellung in 169
einzelne Einheiten einer Vielheit. Beide aber, Intensitát und der Frage nach der Empfindung und ihrer Funktion in der Er-
Extensitãt, lassen sich als Quantitáten den Zahlen zuordnen; scheinung der Dinge. Empfindung ist nicht ein Ding, dafúr Ur-
aber die Grade und Stufen der Intensitáten werden dadurch sachen gesucht werden, sondern ein Gegebenes, dessen Gege-
nicht zu einem bloBen Aggregat von Teilen. benheit aus den Bedingungen der Mõglichkeit der Erfahrung
verstândlich zu machen ist.
220 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 27. Systematik der Grundsitze des reinen Verstandes — 291

Aus demselben Sachverhali ergibt sich auch das Verstândnis nahme des begegnenden Was ist » augenblicklich«, beruht nicht
der Bezeichnung dieser Grundsãtze als Antizipationen der auf der Abfolge eines zusammenseizenden Auffassens. Das
Wahrnebmung. Vernehmen des Realen ist ein einfaches Da-haben, Gesetztsein-
Der Beweis hat wieder dieselbe Form, wenngleich Ober-, Un- lassen, ist positio eines positum.
ter- und SchluBsatz in mehrere Sãize auseinandergezogen sind. Untersaiz: Es ist múglich, daB in diesem offenen Feld des 170
Der Untersatz beginnt (B 208) mit » Nun ist vom empirischen Realen das Besetzende sich ândert zwischen dem AuBersten ei-
BewuBtsein zum reinen ...«; der Úbergang zum SchlubBsatz nes vollen Andrangs und der Leere des raumzeitlichen Berei-
beginnt mit » Da nun Empfindung an sich . . .«; der eigentliche ches. GemãB dieser Andrangsspanne liegt in der Empfindung
SchluB mit »so wird ibr . . . also. ..« ein GroBhaftes, das nicht auf Anstiickung einer wachsenden
Es sei versucht, den Beweis in einer vereinfachten Form aulf- Menge geht, sondern je dasselbe quale betrifft, aber je in einem
zubauen, aber so, daB die Gelenke schãârfer heraustreten. Nachs anderen So-grobB.
dem wir die wesentlichen Bestimmungen von » Empfindungs«, Ubergang: Das Wie-groB, die Quantitãt eines quale, d. h. ei-
»Realitit« und »intensive Grófen« vorausgeschickt haben, nes Realen, ist aber je ein bestimmter Grad desselben Was. Die
kann eine inhaltliche Schwierigkeit nicht mehr bestehen. Zuvor GrôBe des Realen ist intensive GrôBe.
sei noch einmal an das Probandum des Beweises erinnert. Es Schlufisatz: Also hat das in der Erscheinung uns Angehende,
gilt, zu zeigen, dafb der reine Verstandesbegriff — hier die Kate- das Empfindbare als Reales, einen Grad. Insofern der Grad sich
gorie der Qualitãt — die Erscheinungen im vorhinein hinsichtlich als Quantitãt durch die Zahl bestimmen lãBt, diese jedoch eine
dessen bestimimit, was an ibnen das Begegnende ist, daB dieser verstandesmáBige Setzung des » wievielmal Eins« ist, kann das
Qualitãt der Erscheinungen zufolge eine Quantitãt — im Sinne Empfundene als begegnendes Was mathematisch zum Stehen
der Intensitãt — móglich und damit die Anwendung der Zahl, gebracht werden.
der Mathematik, gewihrleistet ist. Mit dem Beweis wird zus Damit ist der Grundsatz bewiesen. Er lautet nach B:
eleich erwiesen, dalb ein Gegen obne den Vorhalt eines Was »In allen Erscheinungen hat das Reale, was ein Gegenstand
iiberhaupt nicht begegnen kann, daB im Hinnehmen schon ein der Empfindung ist, intensive Grofie, d. i. eimen Grad.« Ge-
Vorwegnehmen eines Was liegen muB. nauer miilite der Satz lauten: In allen Erscheinungen hat das
Obersatz: Alle Erscheinungen enthalten als in der Wahrneh- Reale, welches das Gegenhafte-Stândige an dem Empfundenen
mung sich Zeigendes neben den raumzeitlichen Bestimmthei- ausmacht . .. Keinesfalls aber will der Satz sagen: Das Reale
ten solches, was das Andrângende ausmacht — Kant nennt es die hat einen Grad, weil es Gegenstand der Empfindung ist, son-
Materie —, was uns angeht und aufliegt und den raumzeitlichen dern: Weil das andrângende Was der Empfindung fiir das vor-
Bereich besetzt. stellende Entgegenstehenlassen eine Realitãt, die Quantitãt
ÚUbergang: Ein solches Auf- und Vorliegendes (positum) einer Realitãt aber die Intensitãt ist, deshalb hat die Empfin-
kann als so Vor-liegendes und Besetzendes nur vernehmbar dung — als Sachheit des Gegenstandes — den gegenstândlichen
werden, indem es im voraus im Lichte eines Was-Charakters, Gharakter einer intensiven GróBe.
im eróiffneten Umbkreis von Realem iiberhaupt vorgestellt wird. Die Fassung des Grundsatzes in À ist dagegen miBverstind-
Auf dem offenen Hintergrund von Washaftem kann allein lich und fast gegen den Sinn des eigentlich Gemeinten. Sie legt
Empfindbares ein Empfundenes werden. Eine solche Hin- die Irmmeinung nahe, als hãtte zuerst die Empfindung einen
222 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 27. Systematik der Grundsãtze des reinen Verstandes — 225

Grad und dann auch das ihr entsprechende, von ihr dinghall »Etwas« lãbt sich weder sehen noch hóren, noch riechen,
verschiedene und dahinter stehende Reale. Allein, der Grund- schmecken oder tasten. Es gibt kein Sinnesorgan fiir das » Was«
satz will sagen: Zuerst und eigentlich hat das Reale als quale und fúr ein » dies« und » jenes«. Der Was-Charakter des Emp-
eine Quantitãt des Grades — und deshalb auch die Empfindung; findbaren muB im voraus im Umkreis und als Umkreis des Hin-
deren Intensitãt als gegenstândliche beruht auf der Vorgege- nehmbaren vor-gestellt, vorweg-genommen sein. Ohne Realitãt
benheit des Realitãtscharakters des Empfindbaren. Die Fassung kein Reales, ohne Reales kein Empfindbares. Weil im Bereich
in À ist daher in folgender Weise abzuândern: » In allen Er- des Hinnehmens und Wahrnehmens am allerwenigsten ein
scheinungen hat die Empífindung, und d. h. zavor das Reale, derartiger Vorgriff vermutet werden kann, gibt Kant, um dieses
das sie (acc.) als ein Gegenstândliches sich zeigen lãBt, eine in- Befremdliche kenntlich zu machen, dem Grundsatz der Wahr-
tensive GrôBe. « nebmung den Namen Antizipation. Allgemein gesehen sind
Es scheint, daB wir hier willkúiirlich in Kants Text eingreifen. alle Grundsãtze, in denen sich die Vorausbestimmung des Ge-
Indes zeigt allein schon der Unterschied der Fassungen in À genstandes ausspricht, Antizipationen. Kant gebraucht auch zu-
und B, wie sehr Kant selbst sich damit abmúhit, seine neuartige weilen diesen Titel in der weiteren Bedeutung.
Einsicht in das transzendentale Wesen der Empfindung in die Menschliches Wahrnehmen ist antizipierend. Das Tier hat
verstehbare Form eines Satzes zu zwàngen. auch Wahmehmungen, d. h. Empfindungen, aber es antizi-
piert nicht; es lãBt nicht im voraus das Andringende begegnen
à) Das Befremdliche der Antizipationen. Realitãt und als das in sich stehende Was, als das Andere, das auf es selbst,
Empfindung das Tier, als das andere zusteht und so sich als seiend zeigt.
171 Wie neu der Grundsatz fiir Kant selbst war, erkennen wir leicht Alles Vieh, bemerkt Kant an anderer Stelle (»Die Religion in-
daran, daB Kant immer wieder úiber das Befremdliche, das der nerhalb der Grenzen der bloBen Vernunft«), kann niemals Ich
Satz ausspricht, sich wundern muBte. Was ist auch befremdli- sagen. Dies bedeutet: Es kann sich nicht in Stellung bringen als
cher als dieses, daB wir auch da noch, wo es sich — wie bei den das, wogegen ein gegenstehendes Anderes stehen kônnte. Dies
Empfindungen — um solches handelt, was uns anfállt, was wir schlieBt nicht aus, dal das Tier zu Nabrung und Licht und Luft
nur empfangen, dafi gerade bei diesem »>auf uns zu« von uns und zu Tieren in Beziehung ist und sogar in einer sehr geordne-
aus ein Entgegen- und Vor-greifen móglich und notwendig ist? ten — denken wir nur an das Spiel der Tiere. Aber in all dem ist
Wahrnebmung als reines Hinnebmen und Antizipation als kein Verhalten zu Seiendem, so wenig wie zu Nichtseiendem.,
entgegen-fassendes Vorgreifen sind sich auf den ersten Blick Sein Leben verlãâuft diesseits der Offenheit von Sein und Nicht- 172
durchaus zuwider. Und dennoch: Nur im Lichte des entgegen- sein. Hier mag allerdings die weitlâufige Frage auftauchen,
vorgreifenden Vorstellens von Realitát ist Empfindung ein woher wir denn wissen, was im Tier vorgeht und was nicht.
hinnehmbares, begegnendes Dieses und Jenes. Unmittelbar kinnen wir es nie wissen, aber dennoch mittelbar
Zwar meinen wir, etwas empfinden, etwas wahrnehmen, sei eine metaphysische GewiBheit iiber das Tiersein gewinnen.
die gelâufigste und einfachste Sache von der Welt. Wir sind Nicht nur im Vergleich zum Tier ist die Antizipation von
emplindende Wesen. GewiB! Allein, ein »Etwas« und ein Realem in der Wahrnehbmung befremdlich, sondern ebenso im
»Was« hat noch niemals ein Mensch empfunden. Durch wel- Vergleich zu der bisherigen Auffassung der Erkenntnis. Wir
ches Sinnesorgan soll denn auch dergleichen geschehen? Ein erinnern uns an das »im vorhinein«, das gelegentlich der Un-
224. Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $27. Systematik der Grundsdátze des reinen Verstandes — 225

terscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen ans e) Mathematische Grundsãtze und oberster Grundsatz.
gezeigt wurde. Das synthetische Urteil hat das Eigentiimlicha, Kreisgang der Beweise
daB es aus dem Subjekt-Prãdikat-Verhúltnis zu einem ganz ans Nehmen wir jetzt beide Grundsãtze in verkiirzter Form zusam- 1753
deren, zum Gegenstand heraustreten mubB. Der erste grundle- men, dann lãbt sich sagen: Alle Erscheinungen sind als An-
gende Hinausgriff des Vorstellens in Richtung auf das Da-har schauungen extensive, als Emplindungen intensive Grófben:
ben eines begegnenden » Wasx« als solchem ist die Antizipation Quantitáten. Solche sind nur móglich in quanta. Alle quanta
des Realen, diejenige Synthesis, Beistellung, in der ilberhaupt aber sind continua. Sie haben die Eigenschaft, daB an ihnen kein
ein Wasbereich vor-gestellt wird, aus dem her Erscheinungen abhebbarer Teil jemals der kleinstmógliche ist. Also sind alle
sich sollen zeigen kônnen. Daher sagt Kant im SchluBabsatz der Erscheinungen im Was ihres Begegnens und im Wie ihres Er-
Behandlung der Antizipationen der Wahmehmung (A 175/6, scheinens stetig. Diesen Charakter der Erscheinungen, die Ste-
B 217): »Aber das Reale, was den Empflindungen úiberhaupt tigkeit, der ihre Extensitit ebenso wie die Intensitãt angehr,
korrespondiert, im Gegensatz mit der Negation = O, stellt nur behandelt Kant im Abschnitt úiber den zweiten Grundsatz fiir
etwas vor, dessen Begriff an sich ein Sein [d. h. ein Anwesen beide Grundsãtze gemeinsam (A 169 ff., B 211 f.). Dadurch
von etwas] enthãlt, und bedeutet nichts als die Synthesis in ei- werden die Axiome der Anschauung und die Antizipationen als
nem empirischen BewuBtsein iiberhaupt. « die mathematischen Grundsãtze zusammengeschlossen, d. h.
Die vorgreifende Vorstellung von Realitãt eróffnet den Blick als diejenigen, die die Môglichkeit einer Anwendung von Ma-
auf Was-seiendes iiberhaupt (das meint hier »Sein«) und bildel thematik auf Gegenstinde metaphysisch begrinden.
so den Bezug, auf dessen Grund das empirische BewnBtsein Der Begriff der GrôBe — im Sinne der Quantitãt — findet in
úiberhaupt BewuBtsein von etwas ist. Das Was iberhaupt ist die der Wissenschaft seinen Halt und seinen Sinn in der Zahl. Sie
»transzendentale Materie« (A 145, B 182), das Was, das zur Er- stellt die Quantitãten in ihrer Bestimmtheit dar.
móglichung eines Gegenhaften im Gegenstandim voraus gehórl, Weil die Erscheinungen als ein Gegenhaftes ivberhaupt und
Die Empfindungen mõgen in der Psychologie wie immer be- im vorhinein nur auf Grund der vorgreifenden Sammlung im
schrieben werden, die Physiologie und Neurologie mógen dio Sinne der Einheitsbegriffe (Kategorien) Quantitãt und Qualitãt
Empfindungen als Reizvorgânge oder wie immer erklãren, die zum Stehen kommen, deshalb ist Mathematik auf die Gegen-
Physik mag die Ursachen der Empfindungen in Atherschwirn- stânde anywendbar; deshalb ist es móglich, auf Grund einer
gungen und elektrischen Wellen nachweisen— all das sind mõg- mathematischen Konstruktion etwas Entsprechendes im Ge-
liche Erkenntnisse. Aber sie bewegen sich nicht im Bezirk der genstand selbst anzutreffen und durch das Experiment zur Aus-
Frage nach der Gegenstândlichkeit des Gegenstandes und unr- weisung zu bringen. Die Bedingungen des Erscheinens der
seres unmittelhbaren Bezuges zu diesem. Kants Entdeckung der Erscheinungen, die jeweilige quantitative Bestimmtheit ihrer
Antizipationen des Realen in der Wahrnehmung ist besonders Form und ihrer Materie, sind zugleich die Bedingungen des
erstaunltich, wenn man bedenkt, daB einerseits seine Schiitzung Gegenstehens, der Gesammeltheit und Stândigkeit der Erschei-
der Newtonschen Physik und andererseits seine Grundstellung nungen.
im Subjektbegriff Descartes' durchaus nicht dazu angetan sind, Die beiden Grundsãtze von der extensiven und intensiven Grô-
den freien Blick auf das Ungewohnliche der Antizipation in der Be aller Erscheinungen sprechen —nur in einer bestimmten Hin-
Rezeptivitãt der Wahrnebmung zu fórdern. sicht — den obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile aus.
226 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 27. Systematik der Grundsãtze des reinen Verstandes — 227
Diese Tatsache ist zu beachten, wenn der Charakter der voll- f) Die Analogien der Erfahrung
zogenen Beweise fir die Grundsátze erfaBt werden soll. Von
den einzelnen inhaltlichen Schwierigkeiten dieser Beweise abs Die Grundsãtze sind Regeln, gemãB denen das Gegenstehen
gesehen, haben sie etwas Befremdliches; denn wir sind stândig des Gegenstandes fiir das menschliche Vor-stellen sich bildet.
versucht zu sagen: Alle Gedankenginge bewegen sich im Kreis, Die Axiome der Anschauung und die Antizipationen der Wahr-
Auf diese Schwierigkeit der Beweise braucht nicht erst eigens nebmung betreffen die Ermõóglichung der Gegenheit eines Ge-
hingewiesen zu werden. Indes bedarf es der Aufhellung des gen in der doppelten Hinsicht: einmal des Worinnen des Ge-
Grundes der Schwierigkeit. Er liegt nicht lediglich im besondes genhaften und dann des Was-Charakters des Gegen.
ren Inhalt der Grundsãtze, sondern in ihrem Wesen. Der Die zweite Gruppe der Grundsãtze dagegen betrifft — bezig-
Ee

Grund der Schwierigkeit ist ein notwendiger. Die Grundsitze lich der Móglichkeit eines Gegenstandes iilberhaupt — an diesem
sollen bewiesen werden. als diejenigen Bestimmungen, die eino die Móglichkeit des Standes, dessen Stândigkeit, oder, wie Kant
Erfahrung von Gegenstânden úberhaupt erst ermúglichen. Wio sagt, das » Dasein«, »die Wirklichkeit« des Gegenstandes, in
wird solches bewiesen? Dadurch, daB gezeigt wird, daB sie unserer Redeweise: das Vorhandensein.
selbst nur móglich sind auf Grund der Einheit und Zusammen= Die Frage erhebt sich: Warum gehôren die Analogien der
gehórigkeit der reinen Verstandesbegriffe mit dem anschaulich Erfahrung nicht zu den Grundsãtzen der Modalitãt? Die Ant-
Begegnenden. wort mui lauten: weil Dasein nur als Verháltnis der Zustânde
Diese Einheit von Anschauung und Denken ist selbst das der Erscheinungen untereinander bestimmbar ist und nie un-
Wesen der Erfahrung. Der Beweis besteht also darin, daB ge- mittelbar als solches.
zeigt wird: Die Grundsãtze des reinen Verstandes sind durch Ein Gegenstand steht erst und ist erst als stehender eróffnet,
dasjenige múglich, was sie selbst ermúglichen sollen — die Em wenn er in seiner Unabhingigkeit vom jeweiligen zufãlligen
fahrung. Das ist ein offenkundiger Zirkel. GewiB — und fiir das Akt der Wahrnehmung desselben bestimmt ist. » Unabhingig-
Verstândnis des Beweisganges und des Charakters der Sache keit von . . .« ist aber nur eine negative Bestimmung. Sie reicht 175
selbst ist es unumgiinglich, diesen Zirkel nicht nur zu vermuten nicht zu, das Stehen des Gegenstandes positiv zu begrimden.
und dabei Verdacht gegen die Sauberkeit des Beweises zu schip- Dies ist offenbhar nur so móglich, daB der Gegenstand in sein
fen, sondern den Zirkel klar zu erkennen und ibn als solchen zu Verhãltnis zu anderen Gegenstinden hinausgestellt wird und
vollziehen. Kant múBbte wenig von seiner eigensten Aufgabe daB dieses Verhiltnis selbst in sich die Stândigkeit, die Einheit
und Absicht begriffen haben, wenn ihm nicht der Kreisgang des in sich bestehenden Zusammenhangs hat, innerhalb dessen
dieser Beweise vor das innere Auge gekommen wãre. Schon die einzelnen Gegenstânde stehen. Die Stândigkeit des Gegen-
seine Behauptung, diese Sitze seien Grundsãtze, aber bei aller standes grúndet daher in der Verkniipfung (nexus) der Erschei-
GewiBheit doch niemals so augenscheinlich wie 2 x 2 = 4(A nungen — genauer in dem, was eine solche Verkniipfung im
755, B 761), deutet darauf hin. vorhinein ermõglicht.
228 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 27. Systematik der Grundsãtze des reinen Verstandes — 299

a) Analogie als Entsprechung, als Verhãltnis von Verhãltnissen, rung des Titels — das Verstândnis dieser Grundsãtze vorzu-
als Bestimmung des DaBseins bereiten.
Verkniipfung (nexus) ist wie compositio eine Weise der Verbin- Zuvor sei noch einmal die allgemeine Abhebung dieser
dung (coniunctio) (B 201, Anm.) und setzt in sich die Leitvor- Grundsãtze gegen die vorigen kenntlich gemacht. Bei den ma-
stellung einer Einheit voraus. Allein, jetzt handelt es sich nicht thematischen Grundsãtzen handelt es sich um diejenigen Re-
um diejenigen Verbindungen, die das Gegebene, das Begeg- geln der Einheit des Verbindens, gemaãB denen sich der Gegen-
nende, in seinem Wasgehalt nach Rãumlichkeit und Realitãt stand als ein begegnendes Was in seinem Wasgehalt bestimmt.
und deren Graden zusammensetzen, nicht um Verbindung des Auf Grund der Regeln der quantitativen Zusammensetzung im
Gleichartigen im Wasgehalt der Erscheinung (compositio, d. i. Bereich des EFxtensiven des Raumes und des Intensiven des
Aggoregation und Koalition), sondern um eine Verbindune der Empfundenen kónnen die múglichen Gestalten des Begegnen-
Erscheinung hinsichtlich ihres jeweiligen Daseins, ihrer Anwe- den im vorhinein konstruiert werden. Die mathematische Kon-
senheit. Die Erscheinungen aber wechseln, sind je zu anderen struktion des Aussehens, des Wasgehalts der Erscheinungen,
Zeitpunkten mit je verschiedener Zeitdauer, mithin hinsichtlich lãBt sich aus der Erfahrung durch Beispiele belegen und aus-
ihres Daseins ungleichartig. Weil es nunmehr auf die Bestim- weisen. (A 178, B 221) Bei den folgenden Grundsátzen handeli
mung der Stândigkeit des Gegenstandes, mithin auf sein Ste- es sich nicht um die Bestimmung dessen, was begegnet, in sei-
hen in der Einheit des Zusammenhangs mit dem UÚbrigen, also nem Wasgehalt, sondern um die Bestimmunsg, ob und wie und
auf die Bestimmung seines Daseins im Verhãltnis zum Dasein dalB das Begegnende begegnet und dasteht, um die Bestim-
der Anderen ankommt, handelt es sich um eine Verbindune des mung des jeweiligen Daseins der Erscheinungen innerhalb ih-
Ungleichartigen, um das einheitliche Zusammenstehen in je res Zusammenhanges.
verschiedenen Zeitverhãálinissen. Dieser Zusammenstand des Das Dasein eines Gegenstandes — ob er vorhanden ist und dal3
Ganzen der Erscheinungen in der Einheit der Regeln ihres Zu- er vorhanden ist — lãBt sich niemals a priori durch das bloBe
sammen, d. h. nach Gesetzen, ist jedoch nichts anderes als die Vorstellen seines móglichen Daseins unmittelhar erzwingen
Natur. » Unter Natur (im empirischen Verstande) verstehen wir und vor uns bringen. Wir kónnen nur das Dasein eines Gegen-
den Zusammenhang der Erscheinungen ihrem Dasein nach, standes — dieses, dal er da sein muB — aus dem Verhãltnis des
nach notwendigen Regeln, d. i. nach Gesetzen. Es sind also ge- Gegenstandes zu anderen erschlieBen, nicht das Dasein unmit-
wisse Gesetze, und zwar a priori, welche allererst eine Natur telbar erwirken. Wir kónnen dieses Dasein nach bestimmten
môõglich machen«. (A 216, B 265) Diese »urspringlichen Ge- Regeln suchen, es sogar als notwendig errechnen, aber dadurch
setize« werden in den Grundsãtzen, die Kant mit dem Titel immer noch nicht und nie hervorzaubern. Es muB sich erst fin-
»Analogien der Erfahrung« belegt, ausgesprochen. Jetzt han- den lassen. Wenn es gefunden ist, kinnen wir es als das Ge-
delt es sich nicht — wie bei den vorigen Grundsãtzen — um suchte nach bestimmten Merkmalen erkennen, »identifizie-
»Anschauung«, um » Wahmehmung«, sondern um das Ganze ren«,
der Erkenntnis, worin das Ganze der Gegenstânde, die Na- Diese Regeln des Suchens und Findens des Daseinszusam-
tur in ihrer Anwesenheit, bestimmt wird, um die Erfahrung. menhanges der Erscheinungen — des Daseins der nichtgegebe-
Warum aber » Analogien«? Was heiBt » Analogie«? Wir ver- nen Einen im Verhãâálinis zum gegebenen Dasein der Anderen —
176 suchen hier in einem umgekehrten Vorgehen — aus der Kli- diese Regeln der Verhiltnisbestimmung des Daseins der Ge-
250 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 27. Systematik der Grundsãtze des reinen Verstandes — 231

genstinde sind die Analogien der Erfahrung. Analogie heiBt Vorgriff auf einen notwendigen Zusammenhang der Wahrneh-
Entsprechung, meint ein Verhãltnis, númlich das Verhãlinis des mungen und Erscheinungen iiberhaupt, d. h. auf die Erfah-
»Wwie — so«. Was dabei in diesem Verhãltnis steht, sind wieder- rung. Die Analogien sind Analogien der Erfahrung.
um Verhãltnisse. Die Analogie ist, nach ihrem urspriinglichen
Begrill gefalit, ein Verhãltnis von Verhiltnissen. Je nachdem, B) Die Analogien als Regeln der allgemeinen Zeitbestimmung
was in diesem Verhaltnis steht, unterscheidet man mathema- Daher lautet das » Prinzip« der Analogien der Erfahrung nach
tische und metaphysische Analogien. Im Verhãáltnis des » wie — B218:
so« stehen fiir die Mathematik Verhãáltnisse, die — kurz gesagt »Erfalrung ist nur durch die Vorstellung einer notwendigen
— als gleichartige konstruierbar sind: wie à zu b, so c zu d. Wenn Verkniipfung der Wahrnehmungen múglich.« Nach À 176/7
a und b in ihrem Verhãltnis gegeben sind und ebenso c, dann ausfuhrlicher:
kann nach der Analogie d bestimmt, konstruiert, durch solche » Alle Erscheinungen stehen, ihrem Dasein nach, a priori un-
Konstruktion selbst beigestellt werden. Bei der metaphysischen ter Regeln der Bestimmung ihres Verhãltnisses untereinander
]

Analogie dagegen handelt es sich nicht um rein quantitative in einer Zeit. «


Verhiiltnisse, sondern um qualitative, um solche zwischen Un- Mit dem Wort »Zeit« ist das Stichwort gegeben, das denje-
gleichartigem. Hier hingt das Begegnen des Realen, seine nigen Zusammenhang anzeigt, in dem diese Grundsãtze als
Anvwesenheit, nicht von uns ab, sondern wir von ihm. Wenn im Regeln sich vorgreifend bewegen. Kant nennt daher die Analo-
Bereich dessen, was begegnet, ein Verhãltnis Begegnender gege- gien (A 178, B 220) ausdriicklich »Regeln der allgemeinen
ben ist und ein zu einem der beiden Gegebenen Entsprechen- Zeitbestimmunge. » Allgemeine« Zeitbestimmung heiBt jene
des, so kann jetzt nicht das Vierte selbst erschlossen werden, Zeitbestimmung, die aller empirischen Zeitmessung in der
derart, daB es durch solchen SchluB auch schon anwesend wãre. Physik vorausliegt, und zwar notwendig als der Grund ihrer
Vielmehr kann nach der Regel der Entsprechung nur auf das Múglichkeit vorausliest. Da ein Gegenstand hinsichtlich seiner
Verháltnis des Dritten zum Vierten geschlossen werden. Wir Dauer, hinsichtlich der Aufeinanderfolge mit anderen und hin-
gewinnen aus der Analogie nur die Anweisung auf ein Ver- sichilich des Zugleichseins im Verhãâltnis zur Zeit stehen kann,
hãltnis eines Gegebenen zu einem Nichtgegebenen, d. i. die unterscheidet Kant »drei Regeln aller Zeitverhãáltnisse der Er-
Anweisung, wie wir vom Gegebenen aus das Nichtgegebene zu scheinungen« (A 177, B 219), d. h. des Daseins der Erscheinun-
suchen haben und als was wir es antreffen mússen, wenn es sich genin der Zeit hinsichtlich ihres Verhãlmisses zur Zeit.
zeigt. In den bisherigen Grundsãtzen war nicht unmittelbar von
Jetzt wird klar, weshalb Kant die Grundsãtze der Bestim- der Zeit die Rede. Warum riickt in den Analogien der Erfah-
mung des Verhãiltnisses des Daseins der Erscheinungen unter- rung der Bezug zur Zeit in den Vordergrund? Was hat die Zeit
einander Analogien nennen kann und mubB. Da es sich um die mit dem zu tun, was diese Grundsiitze regeln? Die Regeln be-
Bestimmung des Daseins handelt, dessen, daf und ob etwas ist, treffen das Verhâáltnis der Erscheinungen untereinander hin-
das Dasein Dritter aber niemals a priori erwirkt, sondern nur sichtlich ihres » Daseins«, d. h. der Stândigkeit des Gegenstandes
angetroffen werden kann, und zwar im Verhãltnis zu Vorhan- im Ganzen des Bestandes der Erscheinungen. Stândigkeit be-
denem, sind die hier notwendigen Regeln immer Regeln fir sagt einmal: das Dastehen, die Anwesenheit; Stândigkeit be-
ein Entsprechen: Analogien. In solchen Regeln liegt daher der sagt aber auch: Fortwihren, Beharren. In dem Titel » Stândig-
232 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 27. Systematilk: der Grundsãtze des reinen Verstandes — 235

keit« hóren wir beides in einem. Er besagt: fortwihrende setzt sich nicht erst durch Anstitckung zusammen, sondern ist
Anwesenheit, Dasein des Gegenstandes. Wir sehen leicht: An- uneingeschrãânkt, un-endlich, ist nicht durch Zusammensetzung
wesenheit, Gegenwart enthãlt einen Bezug zur Zeit, desglei- gemacht, sondern gegeben. Dieses ursprimglich einige einzige
chen das Fortwihren und Beharren. Grundsãtze, die die Be- Ganze des Nacheinander wird im vorhinein unmittelbar vorge-
stimmung der Stândigkeit des Gegenstandes betreffen, haben stellt, d. h. die Zeit ist ein a priori Angeschautes, ist »reine An-
daher notwendig und in einem ausnebmenden Sinne mit der schauung«.
Zeit zu tun. Die Frage ist fr uns: in welcher Weise? Die Ant- Der Raum ist die Form, worinnen alle âuBeren Erscheinun-
wort ergibt sich, wenn wir einen der Grundsãtze durchdenken gen begegnen. Die Zeit ist aber nicht auf diese eingeschrânko,
und seinen Beweis durchlaufen. Wir wãihlen dazu die erste sie ist auch die Form der inneren Erscheinungen, d. h. des Auf-
Analogie (A 182 ff., B 224: ff). tretens und der Abfolge unserer Verhaltensweisen und Erleb-
Zur Vorbereitung sei kurz gezeigt, in welcher Weise Kant das nisse. Daher ist die Zeit die Form aller Erscheinungen iber-
Wesen der Zeit umgrenzt. Dabei beschrânken wir uns auf das, haupt. »In ihr allein ist alle Wirklichkeit [d. i. Dasein, Anwe-
was zum Verstândnis dieser Grundsãtze nôtig ist. Recht bese- senheit] der Erscheinungen mõóglich.« (A 31, B 46) Jegliches
hen erfahren wir aber gerade erst durch Kants Aufstellung der Dasein jeglicher Erscheinung steht als Dasein in einem Verhãlt-
Analogien und durch ihre Beweise Wesentliches iiber seinen nis zur Zeit. Die Zeit selbst ist »unwandelbar und bleibendse,
Zeitbegriff. sie » verlãuft sich nichte«. (A 144, B 183) » .. . die Zeit selbst ver-
Von der Zeit war bisher nur im Vorbeigehen bei der Kenn- indert sich nicht, sondern etwas, das in der Zeit ist.«(A 41, B58)
zeichnung des Wesens des Raumes die Rede. Wir sagten dort: In jedem Jetzt ist die Zeit dasselbe Jetzt; sie ist stândig sie selbst.
Das Enitsprechende zu dem, was úber den Raum gesagt wird, Die Zeit ist jenes Beharrliche, was jederzeit ist. Die Zeit ist das
gelte von der Zeit. Wir finden auch, daBB Kant die Erórterung reine Bleiben, und nur sofern sie bleibt, ist Nacheinander und
der Zeit in eins mit der des Raumes in der transzendentalen Wechsel múglich. Obzwar die Zeit in jedem Jetzt Jetztcharakter
Asthetik einleitet. Wir sagen mit Bedacht: einleitet — weil das hat, ist jedes Jetzt unwiederholbar dieses einzige und von je-
dort úiber die Zeit Erórterte weder das von Kant zu Sagende dem anderen Jetzt verschiedene. DemgemaãB Ilábrt die Zeit selbst
erschiópiit noch iiberhaupt das Entscheidende gibt. in bezug zu ihr selbst verschiedene Verhiltnisse der Erscheinun-
Die Zeit wird zunãchst, entsprechend wie der Raum und gen zu; das Begegnende kann in verschiedenen Verháltnissen
durch dieselben Beweisgriinde, als reine Anschauung aufge- zur Zeit stehen. Verhãlt es sich zur Zeit als dem Beharrlichen,
zeigt. Das Zugleichsein und das Nacheinander sind im vorhin- also zu ihr selbst als quantum, GroBhaftem, dann ist das Dasein
ein vorgestellt. Nur unter dieser Voraus-vor-stellung kann man nach seiner Zeiterófbe genommen und bestimmbar in seiner
sich vorstellen, daB einiges Begegnende zu einer und derselben Dauer, d. h. im Wieviel von der Zeit im Ganzen. Die Zeit selbst
Zeit (zugleich) oder in verschiedenen Zeiten (nacheinander) ist. ist als Grôfe genommen. Verhiilt sich das Erscheinende zur Zeit
». . . verschiedene Zeiten sind nicht zugleich, sondern nachein- als einer Reihe der Jetzt, dann ist es so genommen, wie es nach-
ander (so wie verschiedene Râume nicht nacheinander, sondern cinander in der Zeit ist. Verhãlt es sich zur Zeit als Inbegrifl, so
179 zugleich sind).« (A 351, B 47) Verschiedene Zeiten sind jedoch ist das Erscheinende so genommen, wie es zumal in der Zeit ist.
nur Teile einer und derselben Zeit. Verschiedene Zeiten sind DemgemãB bezeichnet Kant als die drei Modi der Zeit: Beharr-
nur als Einschrinkungen einer einzigen ganzen Zeit. Diese lichkeit, Folge und Zugleichsein. Mit Bezug auf diese drei móg-
234 Die Dingfrage in Kanis Hauptwerk $ 27. Systermatik der Grundsátze des reinen Verstandes — 255

lichen Verhiltnisse des Daseins der Erscheinungen zur Zeit, die vorausgesetzt werde. Der genannte Grundsatz liegt unausge-
Zeitverhãlinisse, gibt es drei Regelm der Bestimmung dersel- sprochen aller Erfahrung zu Grunde. »Ein Philosoph wurde
ben, drei Grundsãtze vom Charakter der Analogien: gefragt: wieviel wiegt der Rauch? Er antwortete: ziehe von dem
IL. Analogie: Der Grundsatz der Beharrlichkeit. Gewichte des verbrannten Holzes das Gewicht der iibrigblei-
11. Analogie: Der Grundsatz der Zeitfolge, nach dem Gesetze benden Asche ab, so hast du das Gewicht des Rauchs. Er setzte
der Kausalitãt. also als unwidersprechlich voraus: daB, selbst im Feuer, die Ma-
HI. Analogie: Der Grundsatz des Zugleichseins, nach dem terie (Substanz) nicht vergehe, sondern nur die Form derselben
Gesetze der Wechselwirkung oder Gemeinschaft, eine Abânderung erleide.« (A 185, B 228) Aber — so betont Kant
180 Wir versuchen, die erste Analogie zu begreifen, d. h. ihren — es gentigt nicht, dal man das Bedúrfnis, den Grundsatz der
Beweis nachzuvollziehen. Hierzu sei noch einmal an das allge- Beharrlichkeit zugrunde zu legen, nur » fiihlt«, sondern es muB
meine Wesen der Analogien erinnert. Sie sollen als diejenigen bewiesen werden: 1. daB und warum in allen Erscheinungen
Regeln begrindet werden, auf die sich im voraus die Stândig- etwas Beharrliches sei; 2. daB das Wandelbare nichts anderes
keit des Gegenstandes, das Dasein der Erscheinungen in ihrem sei als eine bloBe Bestimmung des Beharrlichen, also etwas, was
Verhãltnis untereinander bestimmt, Diese Regel aber vermasg — in einem Zeitverhãltnis zur Beharrlichkeit als einer Zeitbestim-
weil Dasein der Erscheinungen nicht von uns verfiigt werden mung steht.
kann — das Dasein nicht durch apriorische Konstruktion vorzu- Kants Beweis sei wiederum in der Form eines Schlusses vor-
fúhren und zu erwirken. Sie gibt nur eine Anweisung zum Auf- gelegt. Da es sich um Regeln der Bestimmung des Daseins han-
suchen von Verhãltnissen, denen entlang von einem Dasein auf delt, Dasein aber besagt, »in einer Zeit sein«, und Dasein, wie
das andere geschlossen werden kann. Der Beweis solcher Regeln Kant vermerkt, als ein Modus der Zeit zu gelten hat (A 179, 181
hat zu zeigen, warum diese Grundsãtze notwendig sind und B 222), so wird die eigentliche Angel, in der sich der Beweis
worin sie eriinden. dreht, die Zeit sein mússen, ihr eigentimliches Wesen in sei-
nem Verhãaltnis zu den Erscheinungen. Weil ein Beweis in der
y) Die erste Analogie und ihr Beweis; Substanz als Form eines Schlusses im Untersatz seinen formalen Drehungs-
Zeitbestimmuneg punkt hat, mulB im Untersatz das Entscheidende gesagt wer-
Der Grundsatz der Beharrlichkeit lautet in der Fassung von den, was den Obersatz zum SchluBsatz vermittelt.
A 182: » Alle Erscheinungen enthalten das Beharrliche (Sub- Obersatz: Alle Erscheinungen — d. i. das uns Menschen Be-
stanz) als den Gegenstand selbst, und das Wandelbare, als des- gegnende selbst — begegnen in der Zeit und stehen somit hin-
sen bloBe Bestimmung, d. i. [als] eine Art, wie der Gegenstand sichtlich der Einheit ihres Zusammenhanges in der Einheit ei-
existiert. « ner Zeitbestimmtheit. Die Zeit selbst ist das ursprimeliche
Um den Satz sogleich als Analogie zu lesen, istes wichtig, auf Beharrliche — urspriinglich, weil nur, solange die Zeit beharrt,
das »und« zu achten, d. h. auf die Nennung des Verhãltnisses Beharrliches als in der Zeit Dauerndes móglich ist. Daher ist
des Beharrlichen und des Wandelbaren. Beharrlichkeit ilberhaupt das im vorhinein allem Begegnenden
Kant weist darauf hin, daB »zu allen Zeiten« nicht bloB in Vorgehaltene und ihm Unterbreitete: das Substrat.
der Philosophie, sondern auch vom gemeinen Verstand so etwas Untersatz: Die Zeit selbst kann fúr sich, absolut, nicht wahr-
wie Substanz, Beharrlichkeit im Wechsel der Erscheinungen, senommen werden, d. h. die Zeit, worin alles Begegnende seine
256 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $27. Systematik der Grundsatze des reinen Verstandes — 237
Stelle hat, ist nicht vernehmbar als solches, daran auch schon die In allen Beweisen der dynamischen Grundsãtze kommt diese
einzelnen Zeitstellen des Begegnenden und damit dieses in seiner Rolle der Zeit dadurch zum Vorschein, dal jedesmal im Unter-
Zeitstelle a priori bestimmt werden kônnte. Dagegen fordert die satz die entscheidende Aussage iiber das Wesen der Zeit sich zur
Zeitals das Beharrliche in allem Erscheinen, daB alles Bestimmen Geltung bringt. Zeit ist einerseits der Inbegriff, worinnen alle
des Daseins der Erscheinungen, d. h. ihr In-der-Zeit-sein, auf Erscheinungen begegnen, worinnen daher das Stehen der Ge-
dieses Beharrliche im vorhinein und vor allem Bezug nimmt. genstânde in ihren Verháltnissen des Beharrens, des Aufeinan-
Schlufsatz: Also muB das Stehen des Gegenstandes zuerst derfolgens und des Zugleichseins sich bestimmt. Andererseits
und vor allem von der Beharrlichkeit aus begriffen werden, aber kann — dies sagt jeweils der Untersatz — die Zeit an sich
d. h. die Vorstellung vom Beharren im Wechsel gehõôrt im vor- selbst nicht wahrgenommen werden. Das bedeutet — mit Bezug
hinein zur Sachhaltigkeit eines Gegenstandes. auf die mógliche Bestimmung der Anwesenheit der Gegen-
Die Vorstellung vom Beharren im Wechsel ist aber das im stânde zu irgendeiner ZLeit — nichts Geringeres als: Die jeweilige
reinen Verstandesbegriff » Substanz« Gemeinte. Also hat ge- Zeitstelle und das Zeitverhilinis eines Gegenstandes kinnen
mãiB der Notwendigkeit dieses Grundsatzes die Kategorie Sub- nie a priori aus dem reinen Zeitverlauf als solchem konstruiert,
stanz objektive Realitát. Im Gegenstand der Erfahrung, der d.i. selbst anschaulich dargestellt und vorgefúhrt werden.
Natur, ist stândig Verânderung, d. i. diejenige Art von Dasein, Wirklich an der Zeit, d. h. unmittelbar anwesend ist nur das
die auf eine andere Art von Dasein desselben Gegenstandes jeweilige Jetzt. So bleibt allein die Moglichkeit, den Zeitcha-
folgt. Die Bestimmung der Verânderungen — also des Naturge- rakter eines unmittelbar nicht gegebenen, aber doch wirlklichen
schehens — setzt Beharrlichkeit voraus. Verânderung namlich Gegenstandes aus dem jeweiligen Anwesenden her und in sei-
ist nur in bezug auf Beharrliches bestimmbar, da nur das Be- nem móglichen Zeitverhâlinis zu diesem a priori za bestimmen
harrliche verândert werden kann, wãhrend das Wandelbare und damit einen Leitfaden zu gewinnen, wie der Gegenstand
keine Verânderung erleidet, sondern nur einen Wechsel, Die zu suchen ist. Dessen Dasein selbst muB uns immer zu-fallen.
Akzidenzien — als welche man die Bestimmungen der Substanz Soll demnach das Ganze der Erscheinungen in seiner Gegen-
faBt — sind daher nichts anderes als verschiedene Weisen des stândlichkeit uns ilberhaupt erfahrbar sein, dann bedarf es ge-
Beharrens, d. h. des Daseins der Substanz selbst. grúndeter Regeln, die eine Anweisung enthalten, in welchen
Alle Stândigkeit der Gegenstânde bestimmt sich auf Grund Zeitverhãáltnissen iiberhaupt das Begegnende stehen muB, da-
des Verhãáltnisses ihrer Verânderungen untereinander. Verin- mit die Einheit des Daseins der Erscheinungen, d. h. eine Na-
182 derungen sind Weisen der Anwesenheit von Kráãften. Daher tur, móglich ist. Diese transzendentalen Zeitbestimmungen
heiBen die Grundsãtze, die das Dasein der Gegenstânde betref- sind die Analogien der Erfahrung, deren erste wir durchgespro-
fen, dynamische. Verânderungen aber sind Verânderungen ei- chen haben.
nes Beharrlichen. Beharrlichkeit muB im voraus den Horizont Die zweite Analogie lautet nach B 232:
bestimmen, innerhalb dessen Gegenstânde in ihrem Zusam- » Alle Verânderungen geschehen nach dem Gesetze der Ver-
menhang stândig sind. Beharrlichkeit aber ist als fortwãhrende kniipfung der Ursache und Wirkung«; nach A 189: » Alles, was
Anwesenheit nach Kant der Grundcharakter der Zeit. Álso geschieht (anhebt zu sein) setzt etwas voraus, worauf es nach
spielt die Zeit bei der Bestimmung der Stândigkeit der Gegen- einer Regel folgt. «
stânde die maBgebende Rolle. Der Beweis dieses Grundsatzes gibt die erstmalige Begriin-
258 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 27. Systematik der Grundsãtze des reinen Verstandes — 239

dung des Kausalgesetzes als eines Gesetzes der Gegenstinde der Tn den Analogien, den Grundsãtzen der Entsprechung, des
Erfahrung. Im-YVerhãltnis-stehens und dessen Bestimmung, wird gezeigt,
Die dritte Analogie lautet nach B 256: inwiefern der Gegenstand hinsichtlich seiner Stândigkeit nur
» Álle Substanzen, sofern sie im Raume als zugleich wahrge- auf Grund des vorgângigen Hinblickes auf die Verhãltnisse be-
nommen werden kônnen, sind in durchgângiger Wechselwir- stimmbar sein kann, in denen das Begegnende (die Erscheinun-
kung«; nach À 211: > Alle Substanzen, sofern sie zugleich sind, gen) steht. Diese Verhiltnisse kônnen, da sie alle móglicher-
stehen in durchgângiger Gemeinschaft, (d. i. Wechselwirkung weise zur Erscheinung kommenden Gegenstinde im vorhinein
untereinander)«. vorstellen und einbeziehen miissen, nur Verhãltnisse des Inbe-
Dieser Grundsatz und sein Beweis ist neben seinem Inhalt griffs aller Erscheinungen sein — nâmlich der Zeit. Die den Ka-
fiir die Art der Auseinandersetzung Kants mit Leibniz von be- tegorien der Quantitãt, Qualitãt und Relation entsprechenden
sonderer Bedeutung, wie denn iiberhaupt die » Analogien« den drei Gruppen von Grundsãtzen haben dies gemeinsam, daf sie 184
Wandel zwischen den Grundstellungen beider Denker in ein im voraus bestimmen, was zum sachhaltigen Wesen des Gegen-
besonderes Licht stellen. standes als eines begegnenden und stândigen gehórt. Mit Bezug
Es gilt zum SchluB, einen Hinweis auf die zweite Unter- auf die Kategorien gesprochen, zeigen diese drei Gruppen von
gruppe der dynamischen Grundsãtze zu geben, die zugleich die Grundsãtzen, daB und inwiefern die Kategorien im vorhinein
letzte Gruppe im ganzen System derselben ausmacht. das sachhaltige Wesen des Gegenstandes, seine Sachheit úber-
haupt und im Ganzen, ausmachen. Die genannten Kategorien
£g) Die Postulate des empirischen Denkens iilberhaupt sind die Realitáten des Wesens des Gegenstandes. Die genann-
a) Objektive Realitãt der Kategorien; die Modalititen als ten Grundsiitze beweisen, daí sie — als diese Realitãten — diesen,
subjektive synthetische Grundsãtze den Gegenstand (das Objekt), ermúglichen, zum Objekt als sol-
Wir wissen: Das System der Grundsãtze des reinen Verstandes chem gehóren, daB die Kategorien objektive Realitãt haben.
ist nach der Ordnung und Einteilung der Kategorientafel ge- Die bisher besprochenen Grundsãtze legen dasjenige als
ordnet und eingeteilt. Die Kategorien sind die im Wesen der Grund, wodurch sich iilberhaupt erst ein Gesichtskreis bildet, in-
Verstandeshandlung selbst entspringenden Vorstellungen von nerhalb dessen dieses und jenes und vieles im Zusammenhang
Einheit, die als Regeln des urteilsmáBigen Verbindens, d. i. des als ein Gegenstândliches begegnen und stehen kann.
Bestimmens des begegnenden Mannigfaltizen am Gegen- Was soll dann noch die vierte Gruppe der Grundsitze, die
stande dienen. Die vier Titel fúr die vier Gruppen der Katego- Postulate des empirischen Denkens iiberhaupt? Diese Gruppe
rien sind Quantitãt, Qualitãt, Relation und Modalitãt. Nun- entspricht den Kategorien der Modalitãt. Der Titel deutet schon
mehr sehen wir riickblickend deutlicher: etwas Kennzeichnendes an. Modalitit: modus, Weise, ein Wie
In den Áxiomen der Anschauung wird gezeigt, inwiefern — nâmlich im Unterschied zum Was, zum Realen úiiberhaupt.
Quantitãt (als extensive Grófe) notwendig zum Wesen des Ge- Kant leitet die Erôrterung der vierten Gruppe der Grundsãtze
genstandes als eines Begegnenden gehõrt. mit der Bemerkung ein, dafb die Kategorien der Modalitãt et-
In den Antizipationen der Wahrnebmung wird gezeigt, wie was »Besonderes« an sich haben (A 219, B 266). Die Katego-
Qualitãt (Realitãt) im vorhinein das Begegnende als ein solches rien der Modalitát (Mõglichkeit, Wirklichkeit oder Dasein,
und zu einem solchen bestimmt. Notwendigkeit) gehóren nicht zum sachhaltigen Wesen eines
240 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 27. Systematik der Grundsãtze des reinen Verstandes — 241
Gegenstandes. Ob z. B. ein Tisch múglich, wirklich oder notwen- 1.» Was mit den formalen Bedingungen der Exrfahrung (der
dig ist, berihrt die Sachheit
» Tisch«iiberhauptnicht; diese bleibt Anschauung und den Begriffen nach) úbereinkommt, ist mõg-
jedesmal dieselbe. Kant driickt dies so aus: Die Kategorien der lich,«
Modalitit sind keine realen Prãdikate des Gegenstandes, Sie ge- Múglichkeit begreift Kant als Úbereinkunft mit demjenigen,
hôren demnach auch nicht zum sachhaltigen Wesen der Gegen- was úiberhaupt das Erscheinen von Erscheinungen im voraus
stindlichkeit úberhaupt, nicht zum reinen Begriff dessen, was regelt: mit Raum und Zeit und deren quantitativer Bestim-
das Wesen von Gegenstand als solchem umgrenzt. Dagegen sa- mung. Nur indem das Vorstellen sich an das hãlt, was in der
gen sie etwas dariiber aus, wie der Begriff vom Gegenstand sich ersten Gruppe der Grundsãtze úiiber den Gegenstand gesagt ist,
zum Dasein und dessen Weisen verhãlt und wie, nach welchen kann iiber dessen Môglichkeit entschieden werden. Die bishe-
Modi, das Dasein des Gegenstandes zu bestimmen ist. rige rationale Metaphysik dagegen bestimmt die Móglichkeit
Die Grundsitze, die hieriiber etwas ausmachen, kônnen also als Widerspruchslosigkeit. Was sich nicht widerspricht, ist nach
nicht wie die vorigen die Frage betreffen, ob und wie die Kate- Kant zwar zu denken mõóglich; aber mit dieser Denkmõglich-
gorien (Móglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit) objektive keit ist noch nichts iiber die Daseinsmóglichkeit eines Gegen-
Realitãt haben, da sie úberhaupt nicht zur Realitãt des Gegen- standes ausgemacht. Was nicht in Raum und Zeit erscheinen
standes gehõren. Weil die Grundsitze nichts dergleichen be- kann, ist fiir uns ein unmõglicher Gegenstand.
haupten kónnen, kinnen sie auch nach dieser Hinsicht nicht 2, » Was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der
bewiesen werden. Fiir diese Grundsãátze gibt es daher keine Be- Empfindung) zusammenhãngt, ist wirklich. «
weise, sondern nur Erlâuterungen und Erklirungen ihres Ge- Wirklichkeit begreift Kant als Zusammenhang mit dem, was
haltes. uns ein Reales, Sachhaltiges zeigt: mit der Empfindung. Nur
indem das Vorstellen sich an das hãlt, was in der zweiten
B) Die Postulate entsprechen dem Wesen der Exfahrung; die Gruppe der Grundsãtze iiber den Gegenstand gesagt ist, kann
Modalitãten sind auf Erfahrung bezogen, nicht mehr auf úber dessen Wirklichkeit entschieden werden. Die bisherige ra-
Denkhbarkeit tionale Metaphysik dagegen faBt Wirklichkeit nur als Ergin-
185 Die Postulate des empirischen Denkens úiberhaupt geben nur zung der Môglichkeit im Sinne der Denkbarkeit: existentia als
an, was gefordert ist, um einen Gegenstand als múglichen, als complementum possibilitatis. Damit ist aber noch nichts iiber
wirklichen und als notwendigen zu bestimmen. In diesen For- die Wirklichkeit selbst ausgemacht. Was rein verstandesmãBig
derungen, »Postulaten«, liegt zugleich die Wesensumgren- zum Móglichen noch hinzugedacht werden kónnte, das ist nur
zung von Moglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit. Die das Unmógliche, aber nicht das Wirkliche. Was Wirklichkeit
Postulate entsprechen dem Wesen dessen, wodurch Gegen- heiBt, erfillt und bewãhrt sich uns nur im Verhãltnis des Vor-
stiinde iiberhaupt bestimmbar sind: dem Wesen der Erfahrung. stellens zur Begegnung eines Realen der Empfindung.
Die Postulate sind nur Aussagen des Erfordernisses, das im Hier sind wir an dem Punkt, von dem die MiBdeutung des 186
Wesen der Erfahrung liegt. Dieses bringt sich daher als der Realitâtsbegriffes ausgeht. Weil das Reale, und zwar als Ge-
MaBstab zur Geltung, an dem die Weisen des Daseins und da- gebenes, allein die Wirklichkeit eines Gegenstandes bewãhrt,
mit das Wesen des Seins sich milBit. DemgemãaB lauten die hat man — zu Unrecht — Realitát mit Wirklichkeit gleichge-
Postulate (A 218, B 265 £.): setzt. Realitãt aber ist nur eine Bedingung fir die Gegebenheit
242 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 27. Systematik der Grundsãtze des reinen Verstandes 243

eines Wirklichen, jedoch nicht schon die Wirklichkeit des Wirk- mit«; Môglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit werden ver-
lichen. standen aus dem Verhãáltnis unseres Erkenntnisvermógens — als
3. »Dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allge- eines denkmãBig bestimmten Anschauens — zu den in diesem
meinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, ist (existiert) selbst liegenden Bedingungen der Múglichkeit der Gegen-
notwendig.« stânde.
Notwendigkeit begreift Kant als Bestimmtheit durch das, Die Modalitãten Móoglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit
was den Zusammenhang mit dem Wirklichen — aus der Zusam- setzen nichts Sachhaltiges zur Sachhaltigkeit des Gegenstandes
menstimmung mit der Einheit einer Erfahrung úiberhaupt — hinzu, und dennoch sind sie eine Synthesis. Sie setzen den Ge- 187
festlegt. Nur indem das Vorstellen sich an das hãlt, was in der genstand je in ein Verhãltnis zu den Bedingungen seines Ge-
dritten Gruppe der Grundsãtze iiber die Stândigkeit des Ge- gen-stehens. Diese Bedingungen aber sind zugleich diejenigen
genstandes gesagt ist, kann úber dessen Notwendigkeit ent- des Gegenstehenlassens, des Erfahrens, mithin der Handlun-
schieden werden. Die bisherige rationale Metaphysik dagegen gen des Subjekts. Auch die Postulate sind synthetische Grund-
verstand die Notwendigkeit lediglich als dasjenige, was nicht sãtze, aber nicht objektiv, sondern nur subjektiv synthetisch.
nicht sein kann. Weil jedoch das Dasein nur als Ergânzung des Dies will sagen: Sie setzen nicht die Sachheit des Gegenstandes,
Múóglichen und dieses nur als das Denkbare bestimmt wurde, des Objekts, zusammen, sondern sie setzen das ganze durch die
blieb auch diese Bestimmung des Notwendigen im Bereich der drei ersten Grundsãtze bestimmte Wesen des Gegenstandes,
Denkbarkeit; das Notwendige ist das als unseiend Undenkbare. dies in seinem múglichen Verhiltnisse zum Subjekt und zu des-
Aber das, was wir denken mússen, braucht deshalb nicht zu exi- sen Weisen des anschauend-denkenden Vorstellens. Die Moda-
stieren. Wir kônnen iiberhaupt nie das Dasein eines Gegenstan- litáten setzen zum Begriff des Gegenstandes das Verhãlinis des-
des in seiner Notwendigkeit erkennen, sondern immer nur das selben zu unserer Erkenntniskraft hinzu (A 234, B 286). Daher
Dasein eines Zustandes eines Gegenstandes im Verhãlinis zu sind auch die drei Weisen des Seins den drei ersten Gruppen
einem anderen. der Grundsitze zugeordnet. Das in diesen Gesagte setzt die
Modalitáten voraus. Insofern bleibt die vierte Gruppe der syn-
y) Sein als Sein der Gegenstânde der Erfahrung; Modalitãten thetischen Grundsãtze des reinen Verstandes den iibrigen dem
im Verhãltnis zur Erkenntniskraft Range nach vorgeordnet. Umgekehrt bestimmen sich die Mo-
Aus dieser Erlâuterung des Gehaltes der Postulate, die gleich- dalitáten nur im Verhiãiltnis zu dem in den voranfgehenden
bedeutend ist mit einer Wesensbestimmung der Modalitãten, Grundsãtzen Gesetzten.
entnehmen wir, daB Kant, indem er die Weisen des Seins be-
stimmt, das Sein zugleich einschrânkt auf das Sein der Gegen- à) Kreisgang der Beweise und Erlâuterungen
stâinde der Erfahrung. Die nur logischen Erklárungen von Hieraus wird deutlich, daB auch die Erlâuterung der Postulate,
Múóglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit, wie sie die rationale gleich wie die Beweise der ilbrigen Grundsãtze, sich im Kreis
Metaphysik pflegte, werden zuriickgewiesen; kurz: Das Sein bewegt. Warum besteht diese Kreisbewegung und was sagt sie?
wird nicht mehr aus dem bloBen Denken bestimmt. Aber wor- Die Grundsitze sollen als diejenigen Sãtze bewiesen werden,
aus dann? Auffallend ist in den Postulaten die wiederkehrende die die Moóglichkeit einer Erfahrung von Gegenstânden be-
Formel: »was úbereinkommt mit« »was zusammenhãngt grinden. Wie werden diese Sãtze bewiesen? Indem gezeigt
244 Die Dingfrage in Kants Hauptwerk $ 27. Systematik der Grundsãtze des reinen Verstandes — 245

wird, daf| diese Sãtze selbst nur móglich sind auf Grund der gegenstehen haben als sie selbst, obzwar das Begegnen-lassen
Einheit und Einigung der reinen Verstandesbegriffe mit den durch uns geschieht. Wie ist solches móglich? Nur so, daB die
Formen des Anschauens, mit Raum und Zeit. Die Einheit von Bedingungen der Múóglichkeit des Erfahrens (Raum und Zeit
Denken und Anschauen ist selbst das Wesen der Erfahrung. als reine Anschauungen und die Kategorien als reine Verstan-
Der Beweis besteht darin, dal gezeigt wird: Die Grundsãtze des desbegriffe) zugleich Bedingungen des Gegenstehens der Ge-
reinen Verstandes sind durch dasjenige môglich, was sie selbst genstânde der Erfahrung sind.
ermôglichen, durch das Wesen der Erfahrung. Das ist ein of- Was so ausgesprochen wird, hat Kant als den obersten
fenkundiger Zirkel, und zwar ein notwendiger. Die Grundsàtze Grundsatz aller synthetischen Urteile angesetzt. Nun wird klar,
werden bewiesen im Rúiickgang auf das, dessen Hervorgang sie was der Kreisgang im Beweis der Grundsãtze bedeutet — nichts
ermõglichen, weil diese Sãtze nichts anderes ans Licht heben anderes als dieses: Die Grundsãtze sagen im Grunde nur immer
sollen als diesen Kreisgang selbst; denn dieser macht das We- den obersten Grundsatz aus, aber so, daB sie in ihrer Zusam-
sen der Erfahrung aus. mengehôrigkeit all das eigens nennen, was zum vollen Gehalt
Im Schlubteil seines Werkes (A 757, B 765) sagt Kant vom des Wesens der Erfahrung und des Wesens eines Gegenstandes
Grundsatz des reinen Verstandes, daB »er die besondere Eigen- gehõrt.
schaft hat, daB er seinen Beweisgrund, náâmlich Erfahrung, Die Hauptschwierigkeit des Verstândnisses dieses Grund-
selbst zuerst múglich macht, und bei dieser [der Erfahrung] im- stiickes der » Kritik der reinen Vernunft« und des ganzen Wer-
mer vorausgesetzt werden mubB.« Die Grundsãtze sind solche kes liegt darin, daB wir aus der alltâglichen oder wissenschaft-
188 Sãtze, die ihren Beweisgrund begrimden und diese Begriin- lichen Denkweise herkommen und in ihrer Haltung lesen. Wir
dung auf den Beweisgrund verlegen. Anders gesagt: Der sind entweder auf das gerichtet, was vom Gegenstand selbst
Grund, den sie legen, das Wesen der Erfahrung, ist kein vor- gesagt wird, oder auf das, was úber die Weise seiner Erfahrung
handenes Ding, auf das wir zurickkommen und worauf wir erórtert wird. Das Entscheidende ist aber, weder nur auf das
dann einfach stehen. Die Erfahrung ist ein in sich kreisendes eine noch nur auf das andere, auch nicht nur auf beides zusam-
Geschehen, wodurch das, was innerhalb des Kreises liegt, eroff- men zu achten, sondern zu erkennen und zu wissen:
net wird. Dieses Offene aber ist nichts anderes als das Zwischen — 1. daB wir uns immer im Zwischen, zwischen Mensch und
zwischen uns und dem Ding. Ding bewegen miissen;
2. dal dieses Zwischen nur ist, indem wir uns darin bewe-
h) Der oberste Grundsatz aller synthetischen Urteile; gen;
das Zwischen 3. daB dieses Zwischen sich nicht wie ein Seil vom Ding
zum Menschen spannt, sondern daB dieses Zwischen als Vor-
Worauf Kant stieB und was er als Grundgeschehnis immer neu griff iber das Ding hinausgreift und ebenso hinter uns zuriick.
zu fassen sucht, ist dieses: Wir Menschen vermigen das Seien- Vor-griff ist Rick-wurf.
de, das wir nicht selbst sind, zu erkennen, obzwar wir dieses Wenn wir daher — vom ersten Saiz der »Kritik der reinen 189
Seiende nicht selbst gemacht haben. Seiend zu sein inmitten ei- Vernuntt« an — in dieser Haltung lesen, rúckt alles schon im
nes offenen Gegeniúiber von Seiendem, das ist das unausgesetzt Beginn in ein anderes Licht.
Befremdende. In Kants Fassung heiBt das: Gegenstânde ent-

— TETAS
OTTO
Sehluf ANHANG

Wir versuchten, zu der Lehre von den Grundsãtzen vorzudrin- Beilage zu Seite 98 ff.
gen, weil in dieser Mitte der » Kritik der reinen Vernuntt« die
Frage nach dem Ding neu gestellt und beantwortet wird. Wir Die Voraussetzungen der Philosophie Descartes", also des ver-
sagten friiher, die Dingfrage sei eine geschichtliche; jetzt sehen meintlichen » Beginns« der neuzeitlichen Philosophie:
wir deutlicher, inwiefern es sich so verhãlt. Kants Fragen nach 1. GewiBheit — Wissen — als freies Vertrauenkónnen auf sich
dem Ding fragt nach Anschauen und Denken, nach der Erfah- selbst;
rung und deren Grundsãtzen, d. h. es fragt nach dem Men- 2. dazu je ich selbst ego — als dieser — eigentlich seiendes; daB
schen. Die Frage: Was ist ein Ding? ist die Frage: Wer ist der das Einzelne das Seiende ist und gerade es, res singulare;
Mensch? Das bedeutet nicht, dabB die Dinge zu einem mensch- nicht im universale das Sein der Exemplare.
lichen Gemãchte werden, sonderm heiBt umgekehrt: Der Umschlag des Nominalismus vorausgesetzt, und zwar des
Mensch ist als jener zu begreifen, der immer schon die Dinge spãáteren; der frilhere (10./11. Jahrhundert) wird metaphy-
iiberspringt, aber so, dal dieses Uberspringen nur mõglich ist, sisch in Richtung auf singulare gar nicht entscheidend.
indem die Dinge begegnen und so gerade sie selbst bleiben — 3. Das Wesentliche des intuítus — selbst vernehmen und aus-
indem sie uns selbst hinter uns selbst und unsere Oberflãche Wweisen — und entsprechend deductio.
zuriickschicken. In Kants Frage nach dem Ding wird eine Di- Das Mathematische — das Gesetz.
mension eróffnet, die zwischen dem Ding und dem Menschen 4. Ens creatum und doch zugleich in sich wesend — (Nomina-
liegt, die iiber die Dinge hinaus- und hinter den Menschen zu- lismus).
riickreicht.

Beilage zu Seite 102 ff.

Das Mathematische steigert sich zum bestimmenden Wesen und


zum Grunde fúr alles Wissen.
Ein solches Wissen muB auf das Ganze des Seienden im Ent-
wurf zielen und gerade deshalb nicht Vorgegebenes anerken-
nen; es muB sich auf Axiome, Grundsãtrze stellen, die einzig aus
dem Wesen des Satzes und der Setzung genommen sind. Das
Wesen des einfachen Satzes ist die Beziehung von Subjekt und
Prâdikat., Subjekt-Pridikat-Beziehung.
1. Indem das Setzen sich selbst eigens setzt, das Denken sich
248 Anhang Anhang 249

denkt, findet es: Denken ist: ich denke; ich denke, d. h. ich bin; Weder ego cogito als Tatsache noch sum als Tatsache, son-
das »Ich« offenbart sich als das Subjektum dieses ausgezeichne- dern die Zusammengehórigkeit als solche; in ihr hângen jene
ten Satzes, des Ichsatzes; das Ich wird ausgezeichnetes Satz- Tatsachen — ihre Tatsãchlichkeit also unbestimmt.
Subjekt und wird so das erste und eigentliche Subjekt. Seitdem
ist das Ichhafte das Subjektartige. Die Bedeutungen von subiec-
tum und obiectum kehren sich um. (Satz und Subjekt). Beilage zu Seite 163 ff.
2. AuBer dem Ichsatz — der Setzung des Ich — liegt im Satz
als solchem, dal das Gesetzte (Prãdikat) sich nicht dem Subjekt Wir stehen bei einer kurzen Zwischenbetrachtung úber Kants
widersetzt, daB im Spruch der Widerspruch vermieden wird; im kritische Lehre vom Urteil und vom Verstand. Das Kritische
Wesen des Satzes ist gesetzt das Gesetz vom zu vermeidenden ist nach Frilherem jenes, was zur Abhebung bringt, das Wesen
Widerspruch (Widerspruchssatz). (Subjekt und Prádikat). heraushebt und einsichtig macht. Durch Kants kritische Be-
3. Indem das Setzen das Gesetzte so setzt, dal es auf dem stimmung des Urteils und des Denkens úiberhaupt, intellectus,
Unterliegenden griindet, fordert das Setzen vor sich selbst fir wird erstmals in begrimdeter Weise die AnmalBung des ent-
sich selbst je einen Grund. Im Wesen des Satzes liegt der Satz wurzelten Verstandes metaphysisch ilberwunden. DaB wir diese
vom Grunde. (Satz und Verhãâltnis von Prãdikat und Subjekt). ÚUberwindung bis heute noch nicht wirklich angeeignet haben,
spricht nicht gegen einen scheinbaren Rationalismus Kants, son-
dern spricht nur gegen uns, Kant iilberwindet den Intellektualis-
Beilage zu Seite 103 ff.
mus nicht durch bloBe Abkehr, sondern durch eine urspringli-
chere Wesensbestimmung des Denkens.
Descartes
BloBe Abkehr wird entweder zu einer Hinfãlligkeit an das
Prinzip der GewiBheit — Wissen des Wissens; dieses Wissen — sogenannte Irrationale, oder aber sie wird eine Berufung auf
als Versichern der Habe — nicht unmittelbar auf das Seiende, den Verstand als gesunden Menschenverstand. Kant hat den
sondern Ich auf sich selbst. Das Prinzip der GewiBheit: die Verstand in einer Weise verstanden wie kein Denker zuvor.
mittelalterliche fides — Lehrgehalt; reformatorische fides — fidu- Deshalb sieht er auch, was es mit der Berufung auf den gesun-
cia, clara et distincta perceptio. den Menschenverstand auf sich hat. Kant sagt, wo diese quali-
GewiBsein der Zusammengehõrigkeit: von ego cogito und tas occulta in der Philosophie herrsche, da habe er ein angemabB-
sum; das » ergo« zwar nicht » SchluB «-anzeige, wohl aber fúr die tes Ansehen; solches sei »faule Philosophie« — der gesunde
Zusammengehórigkeit von cogito und sum. Das Zugleich — Menschenverstand ist der /faule Fleck der Philosophie (Reflex.
nicht ohne einandersein. Nr. 4963). Wahrhafter Verstand versteht sich gar nicht von
Zusammengehõrigkeit als Gedachtheit — das Mathematische; selbst. Und deshalb ist wahrhafte Logik, und d. h. Architektonik,
deductio als mathematische Ausfaltung des intuitus. nach einem Wort Kants nur fiir Meister (Reflex. Nr. 4861).
Clara — unmittelbares Haben der natura rei (conceptus); dis- Der neue Begriff des Denkens entfaltet sich in der Ausarbei-
tincta — die Abwehr und Ausscheidung des Nichtzugehúrigen tung des Unterschiedes der Urteile als analytischer und synthe-
und Sicherung des Zugehórigen. Vgl. Wachsbeispiel — was zur tischer. Diese Unterscheidung wird nur sichtbar und begriind-
natura als res extensa und was nicht dazu gehõrt. bar, wenn das Denken in seinem Gegenstandsbezug begriffen
250 Anhang Anhang 251
ist und Denken nicht mehr als Rechnen mit Begriffen verstan- bei uns im Blick, im Blick eines Vorstellens qua Anschauen —
den wird, sondern als wesentliche Handlung der Gegenstands- mit Raum ein einziges einiges Ganzes. Vorbildung und psychi-
bestimmung und d. h. als im Dienste der Wahrheit stehend. sche Ein-bildung.
Von hier aus ist die Hinsicht der Unterscheidung zu fassen. Der Beweisgang wurde durchlaufen oder mehr gestolpert.
Die Urteile unterscheiden sich nach der Art ihrer Beziehung Nochmal in den weiten Zusammenhang hineinstellen.
aufs Objekt, und das sagt zugleich, nach der Art des Bestim- Gegenstand in der Erfahrung; zur Erfahrung: Anschauung
mungsgrundes fúr die Wahrheit der Subjekt-Prãdikat-Bezie- und Denken, Gegen-stand. Denken aber urspriingliches Vor-
hung. (. . . Beispiele). -stellen von Einheiten als Regeln des Verbindens, verbinden das
Die Unterscheidung des a priori und a posteriori und ihre anschaulich Gegebene. Diese Einheiten entspringen rein aus
Bedeutung fiir die Urteilsunterscheidung. Von hier: die Frage- dem Verstand; nicht aus dem Gegenstand erborgt und doch
formel fir die Grundfrage der Kritik der reinen Vernunft. gerade zu seiner Bestimmung bestellt.
Die Zwischenbetrachtung als Vorbereitung 1. fiir das ganze Wie ist das móglich? Wie kônnen reine Verstandesbegriffe
Hauptstiick; im folgenden auf Grund des neuen Ansatzes eine Bestimmungen des Begegnenden sein? Wie kônnen sie solches,
noch ursprúnglichere Fassung des Wesens des Verstandes; 2. im woraus sie gar nicht entnommen, als Gegen zum Stehen brin-
besonderen fiir den 1. Abschnitt: Widerspruchsfreiheit und Satz gen?
vom Widerspruch. Die Grundsitze als Sãtze solcher Regelung des Verbindens
Von diesem in einer zwiefachen Hinsicht gehandelt. Einmal sprechen aus, daB und wie reine Verstandesbegriffe die Erschei-
als von einer negativen Bedingung aller Urteile ilberhaupt und nungen als solche bestimmen. Alle Erscheinungen als An-
sodann als oberster Grundsatz aller analytischen Urteile. Wi- schauungen sind extensive GróBen, Quantitãten. Es gilt, diese
derspruchsfreiheit meint einmal Vereinbarkeit des Subjekt- Grundsãtze zu beweisen, d. h. zu zeigen, daB und inwiefern der
Prãdikat-Verhiltnisses als solchem; dann aber bedeutet sie eine reine Verstandesbegriff Quantitãt eine a priori Bestimmung des
bestimmte Zusammengehúórigkeit von Subjekt und Priâdikat im Gegenstandes sein kann.
analytischen Urteil. Das Gegen, das Angeschaute, steht in diesen Begriffen. Die-
ser Begriff ist auf das Gegen, die Anschauungen, anwendbar.
Beilage zu Seite 197 ff. Warum? Weil es dieselbe Einheit des Verbindens ist, die einmal
das Begegnen als solches, das Angeschaute, ermóglicht und die
Recapitulation den Begriff ausmacht.
Obersatz auflósen: Die Erscheinungen zeigen sich im Raum.
In der vorigen Stunde ein Doppeltes behandelt. Zur Vorberei- Raum ist quantum. Erscheinungen aber sind jeweils bestimm-
tung des Beweises des LI. Grundsatzes wurde dargelegt, inwie- te Raumgestalten, also synthetische Gliederungen und Abhe-
fern Anschauungen GróBen sein kónnen, gleichbedeutend mit bungen im Raum.
dem Nachweis, inwiefern Raum und Zeit als quanta reine An- Untersatz: Nun ist aber dasjenige, was vor allem ein Gegen-
schauungen sind, und was das heifit. In der Abhebung gegen stehendes móglich macht, die Einheit einer anschaulichen Man-
Newton und Leibniz. nigfaltigkeit úberhaupt qua Einheit — der Begriff eines Aus-
Raum — einrãumend. Das im Vorhinein; dieses im vorhinein einander, GroBheit ilberhaupt, eines quantum, d. h., Quantitat.
2592 Anhang

Schlufi: Dieser reine Verstandesbegriff Quantitãt ist aber


nichts anderes als jene Synthesis, kraft deren Erscheinungen als
bestimmte Raumgestalten erscheinen kônnen. Álso sind alle NACHWORT DER HERAUSGEBERIN
Erscheinungen als Anschauungen Quantitáten, und zwar ex-
tensive (Raum).
Es ist dieselhbe Bedingung, die das Begegnende begegnen Bei der hier vorgelegten Schrift Martin Heideggers handelt es
láBft und die es als Gegen zum Stehen bringt. sich um seine Vorlesung aus dem Wintersemester 1935/56 an
Der Beweis ist ein Kreisgang. Wenn wir diesen Kreisgang als der Freiburger Universitãt mit dem Titel »Grundfragen der
solchen durchschauen und vollziehen, gehen, bekommen wir Metaphysik«. 1962 lieB Heidegger selbst diese Uberlegungen
eigentlich zu wissen, worum sich alles »dreht«. mit dem Titel »Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von
Zuvor aber den niáchsten Grundsatz und seinen Beweis. Anti- den transzendentalen Grundsãátzen« im Max Niemeyer Verlag
zipationen der Wahrnehmung. in Túibingen erscheinen.
Fiir die Aufnahme in die Gesamtausgabe der Schriften Mar-
tin Heideggers wurde der Text nochmals mit der Handschrift
verglichen, einige Fehler wurden berichtigt. Im Falle dieses
Textes haben wir aus Heideggers eigener Hand ein so reich
gegliedertes Dokument vor uns, dal dem Herausgeber nur eine
Vereinheitlichung innerhalb der Durchzãhlung der Gedanken-
sechritte hinsichtlich der Paragraphen und der weiteren Unter-
teilung zu tun úibrigblieb.
Im Text vorkommende Klammern stammen von Heidegger
selbst. Fiinf Beilagen — in Form von Zetteln mit der Zuordnung
zur entsprechenden Seitenangabe — werden als Anhang mitab-
gedruckt, da sie in ihrer Prágnanz fiir die Gedankenfolge wei-
tere Klárung zu geben vermógen. Ausdriicklich hatte Heidegger
selbst in dieser Vorlesung » Einiges úber das Handwerkliche ge-
sagt ...« Die von ihm benutzten Ausgaben nannte und kom-
mentierte er folsendermaLen:
» Kants Gesammelte Schriften (WW), herausgegeben von der
PreufBischen Akademie der Wissenschaften in Berlin
A. Schriften 1I- IX
B. Briefe —X-XII
C. Handschrifilicher NachlaB XIII - XIX
D. Vorarbeiten, Nachtrige — XX - XXI
Ausgaben von Kants Vorlesungen
254 Nachiwort

B. Vorlesungen iiber die Metaphysik


Pôlitz-Schmidt
Die Philosophischen Hauptvorlesungen Kants nach den neu-
aufgefundenen Kollegheften des Grafen Heinrich zu Dohna-
Wundlacken v. À. Kowalewsky
Kritik der reinen Vernunft, Sonderausgaben von
B. Erdmann.
K. Vorlânder
BR. Schmidt-Meiner
Reclam
Warnen vor Ausgabe von G. Miller »stilistisch gereinigte!
ebenso Deutsche Bibliothek ohne Seitenzahl der Original-
ausgabe
Schrifttum iiber Kant ist unúbersehbar und entsprechend
verschiedenartig.
Nur zwei Werke, die sich ergânzen:
Aloys Riehl, Der philosophische Kritizismus und seine Be-
deutung fiir die positive Wissenschaft, Bd. 1, 2. Auflage 1908.
Max Wundt, Kant als Metaphysiker. Ein Beitrag zur
Geschichte der deutschen Philosophie im 18. Jahrhundert,
1924, ;
Zeitgenóssische Schilderungen von Borowski, Jachmann und
Wasianski, alle drei im Todesjahr Kants in Kinigsberg 1804
erschienen.
Neue Ausgabe zusammen v. À. Hoffmann, Halle 1902. «

Is
Fiúr erhaltenen Rat und sachverstândige Hilfe danke ich be-
sonders herzlich Herrn Dr. Hermann Heidegger, Herm Prof.
Dr. Friedrich-Wilhelm vy. Herrmann und Herr Dr. Hartmmut
Tietjen. Herr cand. phil. Hans-Helmuth Gander gilt mein
Dank fir seine sorgfáltige Mitarbeit beim Korrekturenlesen
und
fiir die gewissenhafte Uberpriifung der Zitate.
Petra Jaeger

í.

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