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Andreas Herberg-Rothe, Fulda

D I E ABSOLUTHEIT DES » A N D E R E N « W E R D E N

M I T HEGEL GEGEN HEGEL DENKEN

Letztbegründung und Unvollständigkeitstheorem

Zum Schluss seines Hegel-Exkurses betont Lyotard, der »Einsatz des philosophischen Diskurses«
sei die Auffindung einer Regel, ohne dass man den Diskurs jedoch dieser Regel vor ihrer Auffindung
anpassen könnte. Satz fur Satz werde die Verkettung nicht von einer Regel, sondern von der Suche
nach einer Regel gesteuert. Lyotard reflektiert mit dieser Überlegung ein grundlegendes Begrün-
dungsproblem. Wie sollen und können logische und sprachliche Regeln und Systeme begründet,
eingeführt werden, ohne sie zugleich bereits vorauszusetzen? Zwar kann man in englischer Spra-
che deutsche Grammatik erläutern. Das prinzipielle Problem ist jedoch, wie sollen Grammatik und
Logik »selbst« erläutert werden, ohne sie vorauszusetzen und zugleich anzuwenden. 1 Lyotard geht
noch einen Schritt weiter mit der »linguistischen Wende« der Philosophie und spitzt die Problematik
zu, indem er argumentiert, dass die eigentlich erst zu begründende Regel die begründenden Sätze
bereits »erzeugt« (Widerstreit, Nr. 154, 168).
Es gibt eine Reihe von Lösungsversuchen dieses grundlegenden Begründungsproblems. Die
zwei weitreichendsten sind einerseits diejenigen, die sich auf Gödels Unvollständigkeitstheorem
(Gödel 1931) stützen, andererseits solche, die aus der geschilderten Reflexivität auf unhintergehbare
Voraussetzungen in Form einer »Letztbegründung« schließen. Im ersten Fall wird argumentiert,
dass es keine vollständige und widerspruchsfreie Begründung von Regeln bzw. Systemen geben
kann, ohne auf innerhalb dieser Regeln und Systeme nicht begründbare Axiome und Sätze zurück-
zugreifen. 2 Im zweiten Fall wird der eigentlich zu vermeidende Zirkelschluss - das zu Begründende
ist bereits vorausgesetzt, um dieses formulieren zu können - als unhintergehbare Voraussetzung
jeglichen Sprechens und Argumentierens begriffen - sei es in Form einer unhintergehbaren Letztbe-
gründung des objektiven Idealismus (Hösle) oder einer pragmatischen Transzendentalphilosophie
(Apel, Kuhlmann, Habermas). Versuchen wir, beide Ansätze nicht einfach nebeneinander stehen
zu lassen, sondern sie aufeinander zu beziehen, so ergibt sich unmittelbar, dass sie analog zu Anti-
nomien einen ebensolchen Selbst- und Fremdbezug zum Ausdruck bringen. Die Selbstbegründung
aller denkbaren Systeme basiert notwendigerweise auf einem Selbstbezug, das Gödelsche Unvoll-
ständigkeitstheorem bzw. die Gödelisierung auf einem Fremdbezug. Reflexive Selbstbegründung
genauso wie das Gödelsche Unvollständigkeitstheorem sind damit die äußersten Realisierungen

1 Diese Problematik hat wahrscheinlich Jacques Derrida in seiner Betonung der Relationalität nahezu dazu
gezwungen, den Begriff der Schrift und Sprache selbst nicht bestimmen zu können, ja nicht bestimmen
können zu wollen, obwohl er sie gleichzeitig absolut setzt (Rühle 1993,24 ff.).
2 Grundlage dieser Position ist das Ziel der Vermeidung von semantischen und mengentheoretischen An-
tinomien, die im Falle von geschlossenen, sich selbst begründenden Regeln und Systemen auftreten
können. Um diese Problematik zu vermeiden, wurde vorgeschlagen, solche »geschlossenen« Systeme zu
vermeiden (Tarski, Russell, Wittgenstein). Gödel schien dann endgültig zu beweisen, dass es grundsätz-
lich keine geschlossenen und zugleich widerspruchsfreien Systeme geben könne.

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A N D R E A S H E R B E R G - R O T H E , D I E ABSOLUTHEIT DES » A N D E R E N « W E R D E N 231

von Selbst- und Fremdbezug, indem sie beide als einander ausschließende methodologische Ansätze
begründen.
Lyotard verwirft in seiner Auseinandersetzung mit Apel (Lyotard, Grundlagenkrise 1986) expli-
zit jede Form der Selbstbegründung und ist der Gödelschen Position sowie der Sprachphilosophie
Tarskis und Russells verbunden. Eine sich selbst begründende Transzendentalphilosophie ist in die-
ser Sichtweise entweder antinomisch strukturiert oder aber tendenziell »total«. Lyotard kritisiert
Hegels Position, die er der Letztbegründung zurechnet, wie folgt: »Der Anfang (bei Hegel, Her-
berg-Rothe) kann aber nur deswegen als dieses Endresultat erscheinen, weil die Resultatsregel von
Anfang an vorausgesetzt war. Der erste Satz wurde nach dieser Regel mit dem folgenden und den
weiteren verknüpft. Diese Regel aber ist dann nur vorausgesetzt, wird nicht erzeugt. Wenn man sie
nicht von Anfang an anwendet, findet man sie nicht notwendig am Schluß, und wenn sie nicht am
Schluß steht, wird sie nicht erzeugt worden sein und war folglich nicht die gesuchte Regel« (Wider-
streit, 154, 168).
Es ist davon auszugehen, dass er mit dieser Unterscheidung zwar Hegel kritisieren will, zugleich
jedoch einen wesentlichen Unterschied von Kant und Hegel markiert. Denn Kants Intentionen be-
ziehen sich seit der Kritik der reinen Vernunft auf die Voraussetzungen der Möglichkeit des Erken-
nens, Hegels dagegen auf die Fortentwicklung des menschlichen Denkens, auf die Erzeugung neuer
Denkformen. 3 Hieraus erklärt sich der »unendliche Abstand« von Kant und Hegel, denn der eine
rückt die Klärung der Voraussetzungen des menschlichen Erkennens in den Vordergrund, der andere
jedoch deren Fortentwicklungen (am deutlichsten wird dieses Motiv in Hegels Phänomenologie des
Geistes), ohne dass auf einen von beiden Ansätzen verzichtet werden könnte.
Lyotard bemerkt zurecht, dass Hegels Konzeption bestimmt ist von dem »Bei-Sich-Bleiben«,
der Aufrechterhaltung einer Identität trotz all ihrer Fortentwicklungen. Doch dies ist nur eine Seite
innerhalb Hegels Bestimmung, denn der Begriff des Anfangs impliziert den Gegen-Satz, dass et-
was über sich hinausgeht, sich entwickelt, sich verändert. Veränderung und Aufrechterhaltung einer
Identität machen gemeinsam den Begriff des Anfangs bei Hegel aus. Der »Widerstreit« geht um die
Frage, ob Hegel einer von beiden Seiten doch einen Primat zugesprochen hat bzw. ob das Rätsel
des Zusammendenkens von beiden Seiten - dem »Bei-sich-Bleiben« gegenüber dem »Über-sich-
Hinausgehen« einer Identität - auf eine andere Art und Weise gelöst werden könne.
Anhänger seiner Position und Apologeten Hegels bleiben bei diesem stehen. Dies ist verständ-
lich. Dass jedoch auch seine entschiedensten Kritiker wieder zu Hegeischen Denkfiguren zurück-
kehren, die als Entwicklungsformen der absoluten Idee interpretiert oder eingeordnet werden kön-
nen, dies ist das zu erklärende Problem. Nach allen Versuchen, Hegel hinter sich zu lassen oder
ihn »umzukehren« (Herberg-Rothe 2002) und doch am Ende, im Resultat, unbewusst wieder bei
Hegel'schen Denkfiguren heraus zu kommen, bleibt nur eine Möglichkeit offen: Mit Hegel gegen
Hegel den »Anfang« neu denken.4 In der Entgegensetzung zwischen Parteinahme und resignie-
rendem Ablassen scheint gegenüber Hegel kein tertium möglich zu sein (Röttges 1981, 2). Diesem
tertium aber, diesem Dritten, soll hier nachgespürt werden, durch die Selbstanwendung Hegels und
das Aufzeigen von grundlegenden »Widersprüchen« in Hegels Denken, woraus sich Ansätze einer
alternativen Lösung entwickeln lassen.

3 Insgesamt ist hervorzuheben, dass Lyotard, Foucault und Derrida trotz ihrer Kritik an Hegel und dem
Rückbezug auf Kant im Unterschied zu dem letzteren die Aktivität, die Gestaltbildung betonen, etwa bei
Foucault in der Konzeption, dass der Diskurs erst Subjekte konstituiert. Diese Position ist nicht mehr
kantianisch, sondern nähert sich Hegel an. In gewisser Hinsicht ist Derridas Konzeption der Dekonstruk-
tion eine radikale Historisierung von Hegels Begriff der Vermittlung.
4 Die grundlegende Bedeutung des Anfangs bezüglich der politischen Theorie betonte vor allem Hannah
Arendt, denn bei ihr ist die Möglichkeit des Anfangen Könnens eine von drei Säulen ihrer politischen
Theorie.
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Nur auf den ersten Blick paradoxerweise entstammen diese möglichen Alternativen dem Denken
des »preußischen Philosophen des Krieges«, Carl von Clausewitz. Obwohl es eine eine Reihe von
möglichen Verbindungen zwischen beiden aufgrund ihrer Biographie - beide wohnten zur selben
Zeit nur wenige Straßen voneinander entfernt- und ihrer Bestimmung des Krieges gibt5, ist der ent-
scheidende Anknüpfungspunkt für den hier verfolgten Zusammenhang Clausewitz's Bestimmung
des Verhältnisses von Angriff und Verteidigung. Hier wird »in Praxis« Hegels WiderspruchsbegrifF
lebendig erfasst und erlaubt zugleich jenseits von dogmatischen Festlegungen Rückwirkungen auf
eine allgemeine Bestimmung von Methode, Anfang und Werden. (Herberg-Rothe, 2007)

Mit Hegel gegen Hegel denken

Eine Weiterentwicklung Hegels durch seine »Selbst-Anwendung« ist sogar »Hegel-immanent« zu


deuten. Hegel sah nicht nur die Aufdeckung von Widersprüchen in anderen philosophischen Ansät-
zen als entscheidende Möglichkeit der Weiterentwicklung der Philosophie an. Darüber hinaus ist in
seinem Werk an keiner einzigen Stelle der Aufweis eines Widerspruchs das Telos der Darstellung.
Vielmehr versucht Hegel immer wieder, den jeweiligen Widerspruch aufzulösen und über sich selbst
hinaus zu treiben (Röttges 1981, 2).6 Hierin unterscheidet er sich keineswegs so grundlegend von
der modernen Logik, wie ihm viele seiner Kritiker unterstellen. So werden auch zum Beweis der
Widerspruchsfreiheit in der »einfachen Typentheorie« im Anschluss an Bertrand Russell Methoden
verwendet, die eigentlich erst auf transfiniter Stufe entwickelt werden können (Essler u.a 1987,
259).7 Auch Tarski löst die Widersprüchlichkeit der Lügner-Antinomie dadurch, dass er eine hö-
here Sprachstufe (die Meta-Sprache) einfuhrt, von der aus die Antinomie in den vorhergehenden
Sprachstufen nicht mehr formuliert werden kann. Genauso würde auch Hegel argumentieren, dass
erst vom Standpunkt des weiter entwickelten Systems aus die Widersprüche in der vorherigen Stufe
keine Antagonismen mehr sind, sondern Momente der Entwicklung einer Hierarchie. Analog führte
die Notwendigkeit der Lösung der Lügner-Antinomie bei Alfred Tarski erst zur Unterscheidung von
Objekt- und prinzipiell unendlichen Meta-Sprachen.

5 Ausführlich hierzu siehe Andreas Herberg-Rothe, Clausewitz und Hegel. Ein heuristischer Vergleich. In:
Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, Heft 1, 2000.
6 Vielleicht am deutlichsten thematisiert Hegel diesen Unterschied im Kapitel über das »Dasein über-
haupt«, denn »nur das, was gesetzt ist an einem Begriffe, gehört in die entwickelnde Betrachtung dessel-
ben, zu seinem Inhalte. Die noch nicht an ihm selbst gesetzte Bestimmtheit aber gehört unserer Reflexi-
on, sie betreffe nun die Natur des Begriffs selbst oder sie sei äußere Vergleichung; eine Bestimmtheit der
letzteren Art bemerklich zu machen, kann nur zur Erläuterung oder Vorausandeutung des Ganges dienen,
der in der Entwicklung sich selbst darstellen wird.« Und weiter: »Wenn dergleichen Reflexionen dienen
können, die Übersicht und damit das Verständnis zu erleichtern, so führen sie wohl auch den Nachteil
herbei, als unberechtigte Behauptungen, Gründe und Grundlagen fur das weitere anzusehen. Man soll sie
daher für nichts mehr nehmen, als was sie sein sollen, und sie von dem unterscheiden, was ein Moment
im Fortgange der Sache selbst ist« (ebd., 117). Hösle hebt diesen Ansatz besonders hervor, wenn er for-
muliert - sich allerdings auf eine andere Textstelle von Hegel beziehend - dass die spätere Kategorie erst
klärt, was die frühere eigentlich bedeutet. In diesem Sinne seien Bedeutungsmodifikationen in Hegels
Logik sinnvoll und unvermeidlich (Hösle 1988, 204).
7 Auch Lyotard betont diese »Verwandtschaft«, indem er Hegels Begriffe des an-sich und für-sich par-
allelisiert mit Tarskis Unterscheidung von Objekt- und Metasprache; Lyotard, Widerstreit, 160: »Die
Veränderung des >Subjekts<, das sich im Übergang vom >an sich< zum >für sich< in das spekulative Idiom
übersetzt, entspricht dem, was der Logiker oder Linguist [...] die Bildung einer Metasprache über eine
Objektsprache nennen.«
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ANDREAS HERBERG-ROTHE, D I E ABSOLUTHEIT DES »ANDEREN« WERDEN 233

Da Hegel die Methode der Selbstanwendung gegenüber den ihm vorangehenden Philosophien
extensiv nutzte, ist es prinzipiell legitim, auch Hegel auf sich selbst zu beziehen und zu versuchen,
auf diese Weise über ihn hinaus zu gehen. Hierzu soll zunächst ein grundlegender Widerspruch in
Hegels Konzeption dargestellt werden, der sich immer wieder wiederholt: in seiner Darstellung des
Anfangs und vor allem in der scheinbaren Aufhebung des Werdens. Dieser Widerspruch hat seinen
Ursprung in Hegels Begriff der Methode. Wenn die Annahme eines grundlegenden Widerspruchs
bei Hegel begründbar ist, beinhaltet dieser Nachweis keineswegs eine völlige Ablehnung seiner
Position, sondern eröffnet erst die Möglichkeit des »Denkens mit Hegel gegen Hegel«, ist dergestalt
Selbstanwendung und durch diesen Prozess wirkliche Weiterentwicklung Hegels. Aus der Aufzei-
gung von solchen Widersprüchen erwächst nicht »automatisch« eine neue Position. Eine Weiterent-
wicklung Hegels benötigt über das Aufzeigen von solchen Selbst-Widersprüchen hinaus Kriterien,
Ansatzpunkte zur Auflösung dieser Widersprüche.

Der »Widerspruch« in der Bestimmung des Begriffs der Methode

Die Ausgangsthese ist, dass der Hegeische Begriff der Methode sich nicht »vollständig« bestimmen
lässt, ohne sich unmittelbar zu widersprechen (Röttges 1981,337-340). Dieser Begriff sagt aus, dass
von der an-sich-seienden zur gesetzten, sprachlich dargestellten Bestimmtheit übergegangen werden
muss (Röttges 1981). Mit anderen Begriffen, aber sachlich weitgehend identisch, ist dieses Problem
auch als semantisch-pragmatische Differenz zu beschreiben. Diese besteht darin, dass die explizite
Bedeutung einer Kategorie nicht alles das ausdrückt, was für ihre Bedeutung immer schon präsup-
poniert, vorausgesetzt wird. Zur Explikation einer Bedeutung muss der ganze Apparat logischer
Kategorien und Prinzipien vorausgesetzt werden. Diese Spannung zwischen dem expliziten Gehalt
und den impliziten Voraussetzungen nötigt zur Einführung von immer neuen Kategorien, durch
die dieser »pragmatische Bedeutungsüberhang« (Wandschneider 1997) sukzessiv weiter expliziert
wird. Dieser grundlegende »Trieb«, dieses Movens der Hegeischen Dialektik, gilt bei diesem für
alle Kategorien, aber grundsätzlich nicht fur die »Abschlussbestimmungen« (Wandschneider 1997,
116)8. Dies deshalb nicht, weil in ihnen, dem Resultat, wie Lyotard kritisierte, dieses methodische
Prinzip als Selbstbewegung, Selbstexplikation einer Identität selbst erläutert, dargestellt wird.
Hier ergibt sich der genannte grundlegende Widerspruch: Auf der einen Seite kann der Begriff
der Methode seine volle Bedeutung nicht innerhalb seiner selbst haben, weil das Übergehen von
der an sich-seienden zur gesetzten Bestimmtheit dann auch für ihn selbst gelten müsste. Aufgrund
der nicht möglichen Trennung von Methode und Inhalt bei Hegel heißt dies nichts anderes, als dass
die Selbstbewegung eines Inhalts sich selbst widerspricht. Die Selbstbewegung ist bei Hegel an den
Übergang von der an-sich-seienden zur gesetzten Bestimmtheit gebunden und damit an mindestens
zwei unterschiedliche Inhalte (zum ersten Inhalt muss »Etwas« hinzu gekommen sein), so dass von
der Selbstbewegung nur eines Inhalts keine Rede sein könnte. Auf der anderen Seite wird hiermit
das grundlegende Anliegen Hegels beschrieben. Ohne Auflösung dieses Widerspruchs würde sich
der gesamte Ansatz Hegels »aufheben«.
Zwar könnte man argumentieren, dass alle Begriffe und Sätze in Hegels Logik einen Gegensatz
in semantischer und pragmatischer Betrachtung implizieren. Ein klassisches Beispiel hierfür ist der
von Vittorio Hösle immer wieder herangezogene Satz: »Es gibt keine Wahrheit«. Wenn dieser Satz
stimmen soll, muss er wahr sein, aber dann demonstriert er an sich selbst, dass es zumindest eine
wahre Aussage geben muss. An sich sagt der Satz aus, dass es keine Wahrheit gibt, als gesetzter Satz
ist er zumindest eine Wahrheit. Aber von einem solchen performativen Widerspruch muss die abso-

8 Im Unterschied zu Wandschneider gehe ich davon aus, dass dieser methodologische Ansatz auch nicht
für die Kategorie des Werdens bei Hegel gilt.
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lute Idee Hegels selbst ausgenommen werden, weil erst mit ihr sich der Begriff ergeben hat, »der das
selbst ist, was er intendiert« (Wieland, zit. Hösle 19888,200). Dies gilt auch fur den Begriff 9 der Me-
thode, den Hegel dementsprechend erst innerhalb der Erörterungen zur absoluten Idee zum Schluss
der Logik thematisiert. Für diesen gilt deshalb ebenso wie für den der absoluten Idee, dass sie selbst
dasjenige sein muss, was sie behauptet, dass sie das ist, was sie intendiert. Andernfalls wäre auch die
Hegeische Methode und mit ihr die absolute Idee zumindest performativ selbstwidersprüchlich und
müsste entsprechend Hegels eigenem methodischen Ansatz in einem noch umfassenderen Ganzen
aufgehoben werden - im »wahren logischen Gegensatz« und seiner Identität, so die hier entwickelte
These.

Exkurs — Kämpfe um das Hegel-Verständnis

Röttges versucht, den von ihm selbst dargestellten Widerspruch im Begriff der Methode zu lösen, in-
dem er die an-sich-seiende Bestimmtheit schon als gesetzte interpretiert. Der Übergang von der an-
sich-seienden Bestimmtheit zur gesetzten als Übergang von einem Inhalt zu einem anderen Inhalt
würde dadurch relativiert, dass die an-sich-seiende Bestimmtheit bereits eine »gesetzte« ist. Röttges
wiederholt damit mit Hegel die schon in der Phänomenologie des Geistes anzutreffende Figur der
Genese des Selbstbewusstseins aus dem Gegenstandsbewusstsein unter der Voraussetzung, dass das
letztere eine noch unentwickelte Stufe des Selbstbewusstsein ist (Röttges 1981, 337-340).
Mit diesem Lösungsversuch kehrt Röttges den Widerspruch aber lediglich um. Denn der erste
besagt, dass die vollständige Bestimmung des Begriffs der Methode der Annahme der Selbstbewe-
gung nur eines Inhalts widerspricht. Lösen wir diesen Widerspruch jedoch so auf, wie dies Röttges
vornimmt, ergibt sich umgekehrt ein Widerspruch zur Methode. Die Hegeische Methode wäre plötz-
lich zu beschreiben als Übergang von der gesetzten zur an-sich-seienden und wieder zurück zur
gesetzten Bestimmtheit. Damit würde sich aber die Selbstbewegung als Entwicklung relativieren, da
das gesetzt-Sein bei Hegel jeweils die höhere logisch-sprachliche Gestalt ist. Würde man das »an-
sich-Sein« schon als gesetztes begreifen - um dem ersten Widerspruch zu entgehen - gibt es keine
Höherentwicklung mehr, sondern nur die Wiederholung von gesetztem an-sich-Sein und Gesetztem
überhaupt etc.
Dieser »Lösungsversuch« weist jedoch auf einen wesentlichen Punkt hin, denn die »Umkeh-
rung« des Widerspruchs legt seine Grundlagen offen. Ist Hegels Methodenbegriff durch den Über-
gang vom an-sich-Sein zum gesetzt-Sein bestimmt, widerspricht dies der Fortentwicklung nur eines
Inhalts. Damit der Inhalt bei sich selbst bleibt, muss wiederum umgekehrt der »erste« Inhalt bereits
gesetzt sein, ermöglicht damit jedoch keine Fortentwicklung mehr. Positiv ausgedrückt, versucht
Hegel das Problem zu lösen, wie wiederholende Bewegung und Entwicklung als einheitliche Be-
wegung zusammen gedacht werden können. Wie aktuell dieses Hegeische Problem ist, zeigt sich
an der Entgegensetzimg von Reversibilität und Irreversibilität der Zeit bzw. der Begründung eines
Zeitpfeils in Naturwissenschaft und Naturphilosophie.

9 Begriffe sind bei Hegel viel mehr als nur einfache Bezeichnungen, Worte, sondern erfordern ein ganzes
System von Aussagen und Sätzen über ihren Inhalt. Insofern ist die oftmals gegen Hegel vorgebrachte
Kritik oberflächlich, dass nicht Begriffe, sondern nur Sätze widersprüchlich sein könnten. Auch hier
entspricht der Hegeische Begriff etwa dem »Namen« einer Aussage in Tarskis Semantik (zu Tarski ins-
besondere Brendel 1999, 52 ff.
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Das Problem des Anfangs

Diese Problematik tritt bereits am Begriff des Anfangs zu Beginn von Hegels Logik auf. Zum Be-
griff des Anfangs gehört, dass Etwas eben erst anfängt, noch nicht vollständig vorhanden ist. Hier-
mit wird somit einerseits ein Inhalt als Anfang bestimmt, zugleich verweist er auf etwas Anderes,
einen anderen Inhalt, dessen Anfang er ist. Zu diesem Anfang müssen andere Inhalte hinzukommen.
Um dies an einem Beispiel zu illustrieren: Der »Anfang« eines Hausbaues ist etwa das Ausheben
einer Grube, um Keller oder Fundamente zu legen. Das Ausheben einer Grube als solche kann je-
doch auch der Anfang zur Anlegung eines Teiches wie einer Wolfsfalle sein. Um als Anfang eines
Hausbaues zu dienen, muss eine Vorstellung des Legens der Fundamente wie des Ganzen bereits
vorhanden sein. Wir erhalten somit drei Momente: Erstens ist das Ausheben einer Grube »an sich«
der Anfang des Hausbaues; da dieser Anfang jedoch auch anderen Zwecken dienen kann, ist er nur
insofern Anfang eines Hausbaues, wenn er zweitens dem »gesetzten« Zweck dient, Fundamente
anzulegen. Aber auch hier gilt, dass aus Grube und Fundamenten allein nicht die ganze Architektur
und Ausgestaltung des Hauses abzuleiten ist, sondern noch etwas hinzukommen muss, das Ganze
(in Hegels Terminologie, das Absolute) des Hausbaues.
Bezüglich Hegels Begriff des Anfangs ist diese Problematik allerdings »etwas« schwieriger,
weil die ganze Architektur des Werkes eine Selbstentwicklung des Absoluten ist, es also keinen
»Architekten« gibt, der die ganze Sache übersieht. Im Anfang ist für Hegel bereits alle weitere
Fortentwicklung angelegt, allerdings nur insofern, als dieser spezielle Anfang hierauf verweist.
Aus diesem Grund kann Hegel schreiben, nur dasjenige, das gesetzt ist an einem Begriff, gehört
in die entwickelnde Betrachtung desselben. Um diese Problematik wiederum an einem Beispiel zu
verdeutlichen. Wenn die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Universums oder irgendein Parameter
Millionstel Sekunden während oder nach dem Urknall geringfügig anders gewesen wäre, hätte es
keine Bildung von Galaxien, Sternen oder Planeten gegeben, von menschlicher Existenz ganz zu
schweigen. Nur das, was am Urknall »gesetzt« gewesen ist, ermöglichte diese Weiterentwicklung.
In seiner Einleitung zur Wissenschaft der Logik betont Hegel noch einmal die Problematik, ei-
nerseits mit einem unmittelbaren Anfang beginnen zu müssen, andererseits die Einsicht berücksich-
tigen zu müssen, dass es solch einen absoluten Anfang nicht geben kann: »Es fühlt sich bei keiner
Wissenschaft stärker das Bedürfnis, ohne vorangehende Reflexion von der Sache selbst anzufangen,
als bei der logischen Wissenschaft. In jeder anderen ist der Gegenstand, den sie behandelt, und die
wissenschaftliche Methode voneinander unterschieden.« In jeder anderen Wissenschaft mache der
Inhalt nicht einen absoluten Anfang aus, sondern hänge von anderen Begriffen ab. Die Logik könne
demgegenüber keine dieser Formen des Denkens voraussetzen. Diese machten erst ihren Inhalts
aus und müssten somit innerhalb der Darstellung begründet werden. Nicht nur die Angabe der wis-
senschaftlichen Methode, sondern auch der Begriff und ihr Gegenstand, das begreifende Denken,
gehörten erst zu ihrem eigenen Inhalt und zwar mache er ihr letztes Resultat aus (alles Hegel WdL
I, Werke 5, 35). Hegel erläutert damit das Problem, wie sich grundlegende Regeln von Logik und
Grammatik erläutern, begründen lassen, ohne diese zugleich vorauszusetzen.
In der Annahme einer vollständigen Voraussetzungslosigkeit ist der Anfang in der Logik abso-
lut, ist absoluter Anfang. Doch zugleich muss auch Hegel die »Logik« natürlich voraussetzen, um
überhaupt sprechen, Aussagen machen, zu können. Demzufolge beginnt Hegel seinen eigentlichen
Text mit einer - man möchte fast sagen, weiteren - Einleitung, der Frage, womit der Anfang der
Wissenschaft gemacht werden müsse. Dort resümiert er, in »neueren Zeiten« sei erst das Bewusstsein
entstanden, dass es eine Schwierigkeit ist, einen Anfang in der Philosophie zu finden. Der Anfang der
Philosophie müsse entweder ein Vermitteltes oder ein Unmittelbares sein und es sei leicht zu zeigen,
dass er weder das eine noch das andere sein könne. Somit fände die eine oder die andere Weise des
Anfangens ihre Widerlegung. Der logische Anfang könne entweder als Resultat auf vermittelte oder
als eigentlicher Anfang auf unmittelbare Weise genommen werden (Hegel WdL I, Werke 5, 65-66).
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236 HEGEL-JAHRBUCH 2 0 1 1

Der Gegensatz zwischen beiden Positionen ist offensichtlich. In der (ersten) Einleitung argu-
mentiert Hegel, die Logik müsse absolut voraussetzungslos sein. Demgegenüber findet sich hier die
Position, der logische Anfang selbst müsse einerseits ein Resultat sein, ein Vermitteltes, andererseits
zugleich ein Unmittelbares. Hegel betont diese Problematik noch dadurch, dass der Anfang der
Logik, wie er von ihm dargestellt wird, ein Resultat seiner eigenen Erörterungen in der Phänome-
nologie des Geistes sei. Logisch sei der Anfang, indem er im Element des frei für sich seienden
Denkens, im reinen Wissen, gemacht werden soll. Vermittelt sei er dadurch, dass das reine Wissen
die letzte, absolute Wahrheit der historischen Entwicklung des Bewusstseins ist. Die Logik habe
damit die »Wissenschaft des erscheinenden Geistes« (sein Buch über die »Phänomenologie des
Geistes«) zu ihrer Voraussetzung, die für Hegel der Beweis der Wahrheit des reinen Wissens ist. In
der Phänomenologie wird von dem empirischen, sinnlichen Bewusstsein ausgegangen und dieses
sei das eigentlich unmittelbare Wissen, das in der Wissenschaft Unmittelbare und Erste, somit die
Voraussetzung aller weiteren Erörterungen. In der Logik aber sei dasjenige die Voraussetzung, was
sich aus jener Betrachtung als Resultat erwiesen hatte - die Idee als reines Wissen (alles Hegel WdL
I, Werke 5, 66-67). Der Gegensatz zwischen beiden Positionen ist so zusammen zu fassen: Im einen
Fall betont Hegel die Notwendigkeit der absoluten Vöraussetzungslosigkeit der Logik als eine Form
der Letztbegründung, weil eine jede denkbare Voraussetzung erst entwickelt und begründet werden
muss. Im anderen Fall hebt er hervor, dass der logische Anfang nach zwei Seiten genommen werden
muss: nach der einen Seite als voraussetzungsloses Unmittelbares, nach der anderen als vermitteltes
Resultat.
Dieser »Widerstreit« zwischen beiden Positionen offenbart sich schon ganz äußerlich in der
Gliederung des Hegeischen Gesamtwerkes. In seiner »Wissenschaft der Logik« macht Hegel sein
vorhergehendes Buch über die »Wissenschaft des erscheinendenden Geistes« (besser bekannt als
»Phänomenologie des Geistes«) noch zur Voraussetzung seiner Erörterungen. Demgegenüber wird
in der späteren »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften« das Problem des Anfangs ganz
anders dargestellt. In der letzteren ist keine Rede mehr von der Wissenschaft des erscheinenden
Geistes, der Phänomenologie als Voraussetzung der Darstellungen zur Logik. Sondern Hegel be-
ginnt unmittelbar mit der »Logik«. Die »Wissenschaft des erscheinenden Geistes« ist hier ganz im
Gegenteil eine weit fortgeschrittene Entwicklungsstufe der Gesamtdarstellung (erst im dritten Band
seiner Enzyklopädie) und erscheint innerhalb der Betrachtung des subjektiven Geistes, ist nunmehr
Folgerung und nicht mehr Voraussetzung.
Wie ist dieser Widerstreit zu erklären? Zunächst einmal ist auszuschließen, dass Hegel ein ein-
facher Fehler unterlaufen wäre, den er in den Überarbeitungen der Jahre 1830 und 1831 übersehen
hätte. Diese widersprüchliche Position ist vielmehr systematisch bedingt. Im Grunde offenbart sie
die ganze Problematik, denn Hegel beginnt mit der absoluten Vöraussetzungslosigkeit, der Unmit-
telbarkeit des Seins, um zum Schluss der Logik zu betonen, dass das absolut unbestimmte Sein nicht
so voraussetzungslos sein kann, wie von ihm selbst dargestellt worden ist. Zu Beginn der Logik
heißt es, dass das Sein in seiner unbestimmten Unmittelbarkeit nur sich selbst gleich ist. Durch
irgendeine Bestimmung oder einen Inhalt, der in ihm unterschieden oder wodurch es als unterschie-
den von einem anderen gesetzt würde, würde es nicht in seiner Reinheit festgehalten (Hegel WdL I,
Werke 5, 82-83). Zum Schluss hält Hegel jedoch explizit fest, dass solche Anfänge wie Sein, Wesen,
Allgemeinheit usw. nur von der Art zu sein scheinen, dass sie die ganze Allgemeinheit und Inhaltslo-
sigkeit haben, welche für einen formellen Anfang erfordert wird (Hegel WdL II, Werke 6, 568). Wir
können also einen Bogen spannen von der absoluten Vöraussetzungslosigkeit des Seins zu Beginn
der Logik und der Betonung, dass dieser Anfang nicht so unmittelbar, so voraussetzungslos ist, wie
er erscheint. Zum Schluss der Logik heißt es bei Hegel sogar, es habe sich gezeigt, dass der Anfang
nicht als Unmittelbares (wie Hegel zunächst immer wieder betont hatte), sondern als Vermitteltes
und Abgeleitetes genommen werden müsse (ebd. 567).

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Aus Gründen der Beweisführung oder der Selbstbewegung könnte Hegel zwar den Anfang als
absolut voraussetzungslos, als absolut unbestimmtes Allgemeines dargestellt haben, obwohl er es
»eigentlich« nicht ist.10 Die »Wahrheit« wäre demgegenüber, dass der Anfang auf der einen Seite
ein Unmittelbares ohne jede Voraussetzung ist und auf der anderen ein Resultat, ein Vermitteltes.
Obwohl die Hervorhebung des Darstellungsproblems wichtige Einsichten in den Entwicklungscha-
rakter der Hegeischen Methode und insbesondere in den Anspruch der Selbstbewegung vermittelt,
ist es mit diesem Instrumentarium nicht möglich, die dargestellten Widersprüche zu lösen. Auf diese
ungelöste Problematik verweist vor allem die Tatsache, dass die von Hegel postulierte absolute Vo-
raussetzungslosigkeit des Anfangs und der Erkenntnis seines Resultatcharakters in sich selbst einen
»Widerspruch« artikuliert. In Hegels Äußerungen zur Einheit von Unmittelbarkeit und Vermittlung
des Anfangs werden beide »sich widersprechende« Gegensätze einem einzigen Sachverhalt zuge-
ordnet.
Diese Problematik tritt besonders deutlich in Hegels fundamentaler Aussage hervor, dass es
nichts auf der Welt gibt, nichts im Himmel, in der Natur oder im Geist, was nicht ebenso die Ver-
mittlung als auch die Unmittelbarkeit in sich enthält (WdL I 66). Wenn jedoch alles, wirklich alles,
diesen Gegensatz in sich enthält, so artikuliert jeder Sachverhalt Unmittelbarkeit und Vermittlung
in sich selbst. Die Artikulation zweier sich widersprechender Gegensätze in einem Sachverhalt
scheint jedoch logisch widersprüchlich zu sein. Die mögliche Lösung des zunächst dargestellten
Widerspruchs der Voraussetzungslosigkeit und des Resultatcharakters des Anfangs führt also not-
wendigerweise zu einem weiteren, fortentwickelten Widerspruch und, in letzter Konsequenz, zur
Konzeption des »Widerspruchs« (als Antinomie) bei Hegel selbst." Die einzige Möglichkeit ist
demzufolge, diesen »Widerspruch« nicht als einfachen logischen oder pragmatischen Widerspruch
zu begreifen, sondern als Form eines »anderen« Gegensatzes. Die Grundzüge einer solchen Lösung
sollen im Folgenden am Beispiel des »Werdens« aufgezeigt werden.

Die Nicht-Auftiebbarkeit des Werdens

Aus diesen fundamentalen Problemen der Begriffe der Methode und des Anfangs ergibt sich die
Möglichkeit, mit »Hegel gegen Hegel« über diesen hinaus zu gehen. Hierzu soll diese Problematik
anhand von Hegels noch grundlegenderem Begriff des Werdens zwar wiederholt, aber an diesem
Begriff zugleich eine alternative Lösung entwickelt, ein »anderes« Werden dargestellt werden.

a. Begriffe des Werdens bei Aristoteles und Hegel


Überraschenderweise bestimmt Hegel »Werden« als Entstehen und Vergehen. Hierdurch entsteht
eine unaufhebbare Differenz von Werden und Entstehen bei Hegel. Seine Bestimmung des Werdens
beinhaltet eine deutliche Akzentverschiebung in der philosophischen Tradition. So unterscheidet
Aristoteles das Werden vom Vergehen und setzt es immanent mit dem Entstehen gleich. Im ersten
Buch seiner Physik will Aristoles den »ganzen Begriff« des Werdens durchgehen und beginnt damit,
dass aus »Einem ein Anderes« entsteht (Aristoteles Physik I, 35,189 b). Die gleiche Parallelisierung
von Werden und Entstehen findet sich kurze Zeit später: alles, was entsteht, entstehe offenkundig
von Grundlagen aus. Demgegenüber unterscheidet Aristoteles das Werden vom Vergehen dadurch,

10 Zur Bedeutung des Darstellungsproblems siehe vor allem Röttges 1981.


11 Dies insofern, als die Position vertreten wurde, die Artikulation von Gegensätzen in einem Sachverhalt
sei auf der Ebene der Spekulation in Hegels Konzeption nicht widersprüchlich, sondern die einzige Mög-
lichkeit, dem Widerspruch zu entgehen; Hösle 1988, 198.
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238 HEGEL-JAHRBUCH 2 0 1 1

dass das letztere das Übergehen von Sein in Nicht-Seiendes ist, das erste jedoch das Übergehen von
Nicht-Seiendes in Sein (ebd. 43-45, 191 b).
Das Übergehen von Nicht-Sein in Sein ist bei Aristoteles demzufolge das Werden12 und dieses
ist identisch mit dem Entstehen, denen gemeinsam das Vergehen gegenüber gestellt wird. Bei Hegel
ist das Übergehen von Nicht-Sein (bzw. Nichts, wie noch darzulegen sein wird) in Sein ganz analog
zu Aristoteles das Entstehen und dasjenige von Sein in Nicht-Sein bzw. Nichts das Vergehen. In
deutlichem Gegensatz zu Aristoteles versteht Hegel jedoch Werden als Entstehen und Vergehen,
während jener Werden als Entstehen dem Vergehen gegenüberstellt. Wie ist der Unterschied beider
Positionen zu erklären und welche Bedeutung hat diese nur scheinbar geringe Akzentverschiebung?
Zu Beginn der Erörterung seines Werdens argumentiert Aristoteles, dass aus »Einem« ein »An-
deres« entsteht. Aristoteles differenziert den Prozess des Werdens in zwei Richtungen: bei den Din-
gen, die als Einfache ihr Werden vollziehen, »beharren« die einen bei diesem Veränderungsablauf,
die anderen nicht. So bleibe ein Mensch (»beharre« als Mensch) im Prozess seiner fortschreitenden
»Bildung«, dem Werden von einem ungebildeten zu einem gebildeten Menschen, trotzdem immer
noch ein Mensch. Demgegenüber bleibe (»beharre«) das Prädikat ungebildet oder gebildet keines-
wegs, sondern verändere sich selbst (alles ebd. 35 190 a).
Es ist hervorzuheben, dass sich in der Differenz zwischen Aristoteles und Hegel ein inhaltliches
Problem verbirgt, dass unabhängig ist von der dargestellten begrifflichen Zuordnung. Zwar ist fest-
zuhalten, dass Aristoteles und Hegel mit jeweils unterschiedlichen begrifflichen Kennzeichnungen
arbeiten. Ihr Unterschied könnte aber dadurch aufgelöst werden, dass nicht dieselben Begriffe mit-
einander vergleichen werden, sondern der Kontext berücksichtigt wird. Dem Begriff des Werdens
von Hegel wäre dann derjenige der Veränderung bei Aristoteles zuzuordnen, dem des Entstehens
von Hegel der des Werdens bei Aristoteles. So charakterisiert Aristoteles die »Veränderung« so, dass
diese ihren Namen mehr nach dem »zu was« als nach dem »woher was« erhält, und nennt als die
beiden Möglichkeiten der Veränderung Werden und Vergehen (Aristoteles Buch 5, Kapitel 1,224 b,
Übersetzung Zekl). Im Rahmen dieser Zuordnung wären die Positionen von Hegel und Aristoteles
weitgehend identisch, wir erhalten Veränderung (Aristoteles) bzw. Werden (Hegel) als übergeord-
nete Begriffe, die das Werden (Aristoteles) bzw. das Entstehen (Hegel) und das Vergehen in sich
beinhalten.
Das inhaltliche Problem ist jedoch ein anderes. Bei Aristoteles bleibt im Prozess des Werdens auf
der einen Seite etwas identisch (in diesem Fall Mensch-Sein), während sich auf der anderen Seite
»Etwas« verändert, Etwas zu einem Anderen wird (der Mangel oder das Vorhandensein von Bil-
dung). Was aber ist, wenn die vorausgesetzte und bei Aristoteles gleichbleibende Identität sich qua-
litativ ändert, wenn aus dieser Veränderung etwas qualitativ Neues entsteht? Beispiele hierfür sind
die Übergänge von belebter zu unbelebter Materie, von tierischem zu menschlichem Bewusstsein,
usw. In diesen Fällen kann man schwerlich davon sprechen, dass die Identität die gleiche geblieben
sei, während sich nur die Attribute geändert hätten. An diesem Punkt unterscheiden sich Aristoteles
und Hegel.
Während Hegel argumentiert, dass jeder nur denkbare Anfang selbst schon Resultat (sei es auch
eines Abstraktionsprozesses) ist und damit Ergebnis eines Werdens, beinhaltet der Begriff der ein-
fachen Bewegung als »Veränderung überhaupt« den umgekehrten Standpunkt: jede einfache Bewe-
gung und Veränderung ist Bewegung eines vorausgesetzten »Etwas«. Zum Begriff der Bewegung
gehört, dass sich »Etwas« bewegt, verändert wird. Wie ist aus diesem Dilemma herauszukommen?
Hegel ist in diesem Punkt sogar zu radikalisieren. Zwar ist jeder Veränderung ein »Etwas« voraus-
gesetzt, »Etwas«, das sich verändert, bewegt - hier folgen wir Aristoteles. Mit Hegel ist jedoch zu

12 Im Historischen Wörterbuch der Philosophie wird der Bewegungsbegriff unter den des Übergehens sub-
sumiert, wenn es heißt, dass die Bewegung als Übergang vom Seienden zum Nicht-Seienden und vom
Nicht-Seienden zum Seienden begriffen wird (Historisches Wärterbuch der Philosophie, Bd. 1, 864).
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A N D R E A S H E R B E R G - R O T H E , D I E ABSOLUTHEIT DES » A N D E R E N « W E R D E N 239

sagen, dass dieses »Etwas« sich nicht bestimmen, nicht identifizieren lässt unabhängig von seinem
vorausgegangenen »Werden«.
Zu vergleichen ist diese Position etwa mit Heißenbergs Unschärferelation. In ihr gilt, dass sich
Ort und Zeit eines beliebigen Elementarteilchens nicht unabhängig von ihrer Beobachtung bestim-
men lassen. Verallgemeinern wir dies, so gibt es keine unveränderlichen Substanzen vor, jenseits
oder außerhalb ihrer Bewegung, ihrer »Bestimmung«. Jede Kennzeichnung, Charakterisierung von
beliebigen Identitäten als scheinbar unveränderliche Substanzen (wie im philosophischen Atomis-
mus) ist bereits Resultat ihrer Bestimmung, diese sind grundsätzlich nicht unmittelbar gegeben.

Entwicklung und sich wiederholende Bewegung in Hegels Anfang


- Sein-Werden-Dasein und Sein-Nichts-Werden

Hegel beginnt seine Erörterungen im Hauptteil seiner »Wissenschaft der Logik« mit dem absolut
unbestimmten Sein als Unmittelbaren. Zugleich sei diese absolute Unbestimmtheit eingebunden in
den Gegensatz gegenüber der Bestimmung als solcher und durch diese Negation mache die Unbe-
stimmtheit selbst die Bestimmung dieses Seins aus. Hier offenbart sich die performative Differenz
zwischen dem was ein Satz aussagt und dem, was dieser selbst ist. Es werde sich daher zeigen, dass
das erste Sein »an sich« bestimmtes Sein ist und in das Dasein übergeht. Dieses Dasein als endliches
Sein hebe sich aber auf sich und gehe in die unendliche Beziehung des Seins auf sich selbst über,
das »Fürsichsein« (Hegel, WdL I, Werke 5, 82). Um diesen Übergang vom Sein zum Dasein zu
begründen, erläutert Hegel ausführlich die Übergänge von Sein in Nichts und von Nichts in Sein
und bestimmt diese als Entstehen und Vergehen, als Werden. Hegel verbindet in diesem Prozess
des »Übergehens« von Neuem die dargestellten widerstreitenden Sachverhalte in einer scheinbar
einheitlichen Begründung, die immer wieder die Interpreten herausgefordert hat.13 In der Aufeinan-
derfolge von Sein-Werden-Dasein formuliert Hegel seine Entwicklungskonzeption, in derjenigen
von Sein-Nichts-Werden jedoch die der sich wiederholenden Bewegung, der kreisförmigen Bewe-
gung, die dazu fuhrt, dass der Inhalt bei sich selbst bleibt. Der Begriff des Werdens ist bei Hegel
deshalb von so großer Bedeutung, weil er einerseits den Bedeutungsinhalt von Entwicklung hat und
als Verbindungsglied zwischen dem reinen, unbestimmten Sein und dem bestimmten Dasein not-
wendig ist. Andererseits wird mit dem Werden das bei sich selbst Bleibende der ganzen Bewegung
verdeutlicht.
Versuchen wir, die Unterschiede beider »Übergänge« zu verdeutlichen. Hegel beginnt mit dem
Sein als Anfang, geht dann über den Zwischenschritt des Nichts zum Werden über und daraufhin
zum Dasein, einem Übergang von der Bestimmungslosigkeit zur fortschreitenden (Selbst-) Bestim-
mung in der Entwicklung. Seine Ausführungen zum Werden beginnt er jedoch damit, die Wahrheit
sei weder das Sein noch das Nichts, sondern, dass beide nicht erst ineinander übergehen, sondern
immer schon ineinander übergegangen sind (Hegel WdL I, 82-83). Diese von Hegel selbst hervor-
gehobene Betonung interpretiere ich so, dass er genau genommen nicht mit dem reinen, abstrakten
Sein anfängt, sondern damit, dass Sein und Nichts immer schon ineinander übergegangen sind:
»Was die Wahrheit ist«. Beide Positionen, die Bestimmung des Seins als Anfang und die Versiche-
rung, dass Sein und Nichts immer schon ineinander übergegangen sind, widersprechen sich genauso
offensichtlich, wie ihre Einordnung in unterschiedliche strategische Ansätze ins Auge springt.
Hegel fängt mit dem abstrakten Sein an, um über das Werden den Übergang zum Dasein (und den
zu allen späteren Formen der Einheit von Sein und Nichts bis hin zur absoluten Idee) als Entwicklung
zu begründen. Gleichzeitig muss das Sein »immer schon« in das Nichts übergegangen sein und umge-

13 Vittorio Hösle zieht aus der Unvereinbarkeit beider Begründungen den Schluss, dass der Begriff des
Werdens, der beide Aspekte in sich vereinigt, ganz aufgegeben werden müsse; Hösle 1988.
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240 HEGEL-JAHRBUCH 2 0 1 1

kehrt, um die Kreisförmigkeit der Bewegung (dass das Erste immer schon das Letzte und das Letzte
immer schon das erste ist), darzustellen. In diesem Kreislauf der Bewegung des Übergegangenseins
von Sein in Nichts und von Nichts in Sein begründet Hegel das sich bei sich selbst Bleibende des An-
fangs als Identität im Unterschied zu dessen Übersich-hinaus-gehen, der Entwicklungskonzeption.14
In Hegels Konzeption des Werdens wiederholt sich damit die aus der Darstellung der Metho-
de wie des Anfangs vertraute und geschilderte Problematik. Wie ist jedoch über Hegel in diesem
Punkt hinauszugehen, um nicht ein und dasselbe Problem nur immer neu darzustellen? Argumen-
tieren wir mit und gegen Hegel, so ist sein »eigentlicher« Anfang nicht das absolut unbestimmte
Sein zu Beginn, sondern die zu Ende dargestellte, sich entwickelnde Kreisbewegung, in der sich
der Anfang immer wieder in das Ende schlingt. Hegel hebt im Vorgriff hierauf bereits zu Beginn
hervor, die »Wahrheit« sei, dass das Sein nicht erst in Nichts übergeht, sondern beide immer schon
ineinander übergegangen sind (WdL I, Werke 5, 82-83). Ausgehend von dieser Bestimmung, ist der
»wahre Anfang« in Hegels Konzeption weder das Sein noch das Nichts, sondern der wechselseitige
Übergang, das Werden. Mit und gegen Hegel bestimmen wir das Werden als eigentlichen Anfang.
Hierdurch können die »logischen« Bestimmungen aus den unterschiedlichen Formen des ineinander
Übergehens entwickelt werden, ohne eine absolut gesetzte Identität vorauszusetzen.

Einheit und Unterschied im Werden

Gegenüber den von ihm selbst verwendeten Ausdrücken wie »Sein und Nichts ist dasselbe« oder
der »Einheit des Sein und Nichts« wie allen anderen »Einheiten des Subjekts und Objekts« hält
Hegel in der (späten) Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften fest, dass diese Ausdrücke
mit Recht anstößig seien. Dies deshalb, weil das schiefe und unrichtige darin liege, dass die Einheit
herausgehoben, die Verschiedenheit aber nicht zugleich ausgesprochen und anerkannt werde. Da-
mit werde von der Verschiedenheit ungehörigerweise abstrahiert und diese scheinbar nicht bedacht.
Demgegenüber müsse die Einheit in der zugleich vorhandenen und gesetzten Verschiedenheit ge-
fasst werden. Werden sei der wahre Ausdruck der Einheit von Sein und Nichts.
Nach seiner Betonung des Werdens als wahrer Einheit von Sein und Nichts relativiert er dieses
jedoch. Werden sei dadurch gekennzeichnet, dass es nicht nur die Einheit von Sein und Nichts, son-
dern zugleich die Unruhe in sich sei: »die Einheit, die nicht bloß als Beziehung-auf-sich bewegungs-
los, sondern durch die Verschiedenheit des Seins und Nichts, die in ihm ist, in sich gegen sich selbst
ist« (Hegel, Enzyklopädie I, Werke 8, 191). Sein gehe in Nichts über, aber Nichts sei ebenso das
Gegenteil seiner selbst und dami Übergehen in Sein. Beide »verschwinden« (in Hegels Konzeption)
jeweils in ihrem Gegenteil. Hegel bestimmt Werden als Unruhe in sich, als Verschwinden des Ver-
schwindens, weil Werden die Einheit von Sein und Nichts ist und zugleich auf ihrer Verschiedenheit
beruht. »Es widerspricht sich also in sich selbst, weil es solches in sich vereint, das sich entgegen-
gesetzt ist; eine solche Vereinigung aber zerstört sich« (Hegel WdL I, Werke 5, 113).
Diese Kennzeichnung ist zutiefst überraschend. Die allgemeine Kennzeichnung des Werdens als
Einheit von Sein und Nichts, die zugleich auf ihrer Verschiedenheit beruht, dürfte auf den ersten Blick
geradezu »das« Markenzeichen der Hegeischen Methode sein. Was können Formulierungen wie die
der »Zauberformel« der Identität von Identität und Nicht-Identität oder der Einheit von Identität und
Nicht-Identität von Sein und Nichts anderes bedeuten als eine Einheit von Gegensätzen, die zugleich

14 Aus dieser zentralen Stellung des Begriffs des Werdens für den Prozess des »Über-sich-hinaus-Gehens«
als Entwicklungskonzeption und des »Bei-sich-selbst-Bleibens« begründet sich auch die angesproche-
ne begriffliche Akzentverschiebung gegenüber Aristoteles. Mit dem Begriff des Werdens kann Hegel
wesentlich besser als mit dem der Aristotelischen Veränderung den Übergang zum Dasein in seiner Ent-
wicklungskonzeption verdeutlichen.
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ANDREAS HERBERG-ROTHE, D I E ABSOLUTHEIT DES »ANDEREN« WERDEN 241

auf ihrer Unterschiedenheit beruht? Offenbar gibt es bei Hegel ganz verschiedene Formen der Einheit
von Gegensätzen, solche die sich zerstören, wie das Werden als Unruhe in sich und solche, die »blei-
ben«, wie bereits das Dasein als »ruhiges Resultat« des Werdens, als »ruhige Einfachheit« der Einheit
von Sein und Nichts (alles Hegel WdLI, Werke 5, 112-113). Weiterhin ist aber auch das Dasein als
ruhige Einfachheit nicht letztes Entwicklungsstadium (was es wäre, wenn es sich nicht genauso wie
das Werden aufheben würde), sondern zeigt sich in seiner Fortentwicklung als selbstwidersprüchlich,
so dass es sich seinerseits »zerstört« und in eine höhere Kategorie übergeht.15
Würden wir aber die gleichen Kriterien, die bei Hegel zum Verschwinden des Werdens fuhren,
an seinen Begriff der Methode, den des Anfangs oder der absoluten Idee bzw. des absoluten Geistes
herantragen, würden sich auch diese »aufheben«, würden »verschwinden«. Während Hegel diese
Konsequenz nicht zieht, weil er über kein alternatives Modell verfügt und diese Überlegung zur
Selbstaufhebung seiner eigenen Position fuhren würde, ist diese Annahme Voraussetzung des »Den-
kens mit Hegel gegen Hegel«. Im Unterschied zu Hegel ist unsere Konzeption davon bestimmt,
dass bereits das Werden nicht aufgehoben werden kann, nicht verschwindet, weil das Aufheben, das
»Verschwinden«, selbst nur eine von den zwei Seiten des Werdens ist.

»Auflieben« von Sein, Nichts und Werden

Das Aufheben des Werdens begründet Hegel mit dem Aufheben seiner zwei Momente, dem Entste-
hen und dem Vergehen. Hegel spricht davon, dass sich beide gegenseitig »paralysieren«. Lesen wir
Hegels Passagen zum Aufheben jedoch genau, so ergibt sich, dass er zugleich auch eine Position
vertritt, in der keineswegs Sein und Nichts sowie das Werden als verschwindend, als aufgehoben
zu betrachten sind, sondern ausschließlich das Sein. Voraussetzung dieser Interpretation sind ver-
schiedene Annahmen aus dem »Umweg über Clausewitz«: vor allem, dass der Übergang von Sein
in Nichts und von Nichts in Sein ein wesentlich unterschiedener, ein asymmetrischer Übergang ist.
Wenn die hieraus folgende Überlegung stimmig ist, dass nur das Sein im Werden aufgehoben wird,
kann das Werden zumindest nicht vollständig aufgehoben werden. Der hier dargestellte Widerspruch
ergibt sich aus den Aussagen zum Aufheben von Nichts im Werden einerseits und dem Begriff des
Aufhebens selbst andererseits. (Herberg-Rothe, 2007)
Über die reine Feststellung dieses Widerspruchs soll mit dem Umweg über Clausewitz die Po-
sition entwickelt werden, dass das Aufheben als Übergehen von Sein in Nichts und damit Vergehen
nur eine der beiden Seiten des Werdens ist. Demgegenüber kann die andere Seite, das Entstehen als
Übergehen von Nichts in Sein, keineswegs mit dem Begriff des Aufhebens in Verbindung gebracht
werden, weil das Entstehen im Werden nicht aufgehoben erscheint, nicht verschwindet, sondern
gesetzt wird, das Setzen ist. Hierdurch entwickeln wir die These, dass die eine von beiden Seiten im
Werden das Vergehen als Aufheben ist, die andere Seite jedoch das Entstehen als Setzen.
Wie bestimmt Hegel das Aufheben von Entstehen und Vergehen im Werden? Vergehen sei die
eine Richtung des Werdens, das Übergehen von Sein in Nichts. Aber Nichts sei ebenso das Über-

15 Das Argument von Hösle, nicht das Dasein selbst sei selbstwidersprüchlich, sondern das Endliche ent-
wickele sich notwendig ohne Widersprüche aus dem Dasein und erst das Endliche sei widersprüchlich,
ist zwar dem Hegeischen Text angemessen. Jedoch ist dies ebenso der Entwicklungsgang des Werdens,
da auch dieses zunächst als »Wahrheit« von Sein und Nichts wird, um sich erst in seiner weiteren Ex-
plikation als selbstwidersprüchlich zu erweisen: Auch hier ist der Fortgang nicht selbstwidersprüchlich,
sondern erst die letzte Stufe des Werdens; genauso ist es auch in bezug auf Dasein und Endliches, mit
dem einen Unterschied jedoch, dass Hegel hier lediglich zwei Begriffe verwendet - aber als Dasein ist
das Dasein endlich, so dass kein prinzipieller Unterschied zur Konzeption des Werdens zu entdecken ist;
Hösle 1988,111,163.
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242 HEGEL-JAHRBUCH 2 0 1 1

gehen in Sein, sei Entstehen. Dieses Entstehen sei die andere Richtung des Übergehens in Sein.
Dieses Sein wiederum hebe sich ebenso selbst auf und sei deshalb wiederum Übergehen in Nichts
und damit Vergehen. Hegel zieht die Schlussfolgerung, dass sich Sein und Nichts nicht gegenseitig
aufheben, »sondern jedes hebt sich an sich auf und ist an ihm selbst das Gegenteil seiner«. Entstehen
ist bei Hegel daher das Übergehen von Nichts in Sein und Vergehen umgekehrt das Übergehen von
Sein in Nichts, ohne dass ein Unterschied im Begriff des Übergehens bei Hegel ersichtlich wäre
(Hegel Wdl I, Werke 5, 112-113). Genau hier liegt das grundlegende Problem, dergestalt, dass
Hegel von einem identischen symmetrischen Übergehen, nicht von einem asymmetrischen ausgeht,
woraus sich der nun zu schildernde Widerspruch ergibt.
In der unmittelbar auf das Aufheben des Werdens folgenden Anmerkung erläutert Hegel den
Begriff des Aufhebens. Ein Aufgehobenes ist demzufolge ein Vermitteltes, das Nicht-Seiende, aber
als Resultat, das von einem Sein ausgegangen ist. Wenn nun das Aufgehobene das Nicht-Seiende ist,
das von einem Sein ausgegangen ist, ist das Aufheben selbst als Übergehen von Sein in Nicht-Sei-
endes zu verstehen (Hegel WdL I, Werke 5,113-115). Hier fällt sofort die Analogie zum Vergehen
im Werden auf. In der Bestimmung des Aufhebens findet sich die Kennzeichnung des Übergehens
von Sein in Nicht-Seiendes, in der des Vergehens im Werden diejenige des Übergehen von Sein in
Nichts (ebd. 112-113). Die beiden Begriffe »Nicht-Sein« und »Nichts, wie es im Werden« ist, sind
in diesem speziellen Zusammenhang jedoch identisch. Hegel formuliert: »es ist beides, Sein und
die Negation desselben, in einem ausgesprochen, das Nichts, wie es im Werden ist« (Hegel WdL I,
Werke 5, 84 und 113). Das Nichts, das Nicht-Sein im Werden ist demzufolge das Aufgehobene und
das Übergehen von Sein in Nichts im Werden das Aufheben selbst.
Verstehen wir mit Hegel das Aufgehobene als Vermitteltes, als Nicht-Seiendes, dass von einem
Sein ausgegangen ist, kann das Nichts im Werden entgegen seiner Annahme nicht ebenfalls aufge-
hoben werden. Dies deshalb nicht, weil erstens das Resultat des Aufhebens des Nichts keineswegs
ein Nicht-Seiendes, sondern bei Hegel das Sein ist. Zweitens geht das Aufheben des Nichts auch
nicht von einem Sein aus, sondern eben vom Nichts im Werden. Hegel folgend, wird das Sein im
Werden aufgehoben, weil es das Übergehen in das Nicht-Sein ist, dass von einem Sein ausging, und
dieses Übergehen wird von Hegel in der dazugehörigen Anmerkung als Aufheben bestimmt. Dem-
gegenüber kann das Nichts im Werden im Gegensatz zu Hegels Annahme nicht aufgehoben werden,
weil dieses angenommene Aufheben des Nichts weder von einem Sein (sondern vom Nichts) aus-
geht, noch das Nicht-Sein (sondern gerade das Sein) zum Resultat hat.16

Vermittelte und unmittelbare Einheit

Bezüglich des Werdens betont Hegel, dieses enthalte eine jeweils unterschiedene Einheit von Sein
und Nichts. Die eine Einheit enthalte das Sein als unmittelbar und als Beziehung auf das Nichts, die
andere das Nichts als unmittelbar und als Beziehung auf das Sein (Hegel WdL 1,112). »Das Werden
ist auf diese Weise in gedoppelter Bestimmung; in der einen das Nichts als unmittelbar, [...], in der
anderen das Sein als unmittelbar«. Gegenüber dieser Annahme ist das Nichts im Werden bei Hegel
aber grundsätzlich ein vermitteltes Nicht-Sein, so dass es in keinem Fall unmittelbar sein kann. Dies
impliziert, dass das Nichts im Werden eigentlich auch nicht anfangend sein kann, da es selbst das
Vermittelte und hierdurch Resultat ist.

16 Die Möglichkeit des Rtickbezuges des »Begriffs des Aufhebens« auf das von Hegel angenommene »Auf-
heben des Werdens« ergibt sich mit Notwendigkeit daraus, dass Hegel den unmittelbar zuvor verwandten
Begriff des Aufhebens in einer Anmerkung erklärt, so dass es sich hier nicht um die Abfolge von Aussage
eines Satzes und dem, was der Satz ist, handeln kann.
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A N D R E A S H E R B E R G - R O T H E , D I E ABSOLUTHEIT DES » A N D E R E N « W E R D E N 243

Hegel hebt zwar hervor, das Aufgehobene sei besonders vom Nichts zu unterscheiden, weil
Nichts das Unmittelbare ist, ein Aufgehobenes dagegen das Vermittelte, das Nichtseiende, aber als
Resultat, das von einem Sein ausgegangen ist (ebd., 114). Hier unterscheidet Hegel offensichtlich
das Nichts als Unmittelbares vom Nicht-Sein als Vermitteltes. Dies steht jedoch im Widerspruch
zu allen sonstigen Bestimmungen des Nichts im Werden, insbesondere deijenigen, dass Sein und
Nichts im Werden immer schon ineinander übergegangen sind. Das Nichts im Werden ist immer
schon das Nicht-Sein, das von einem Sein ausgegangen ist und damit das Vermittelte, so dass das
Nichts im Werden in keinem Fall als Unmittelbares sein kann.
Wie steht es jedoch umgekehrt mit dem Sein als Unmittelbarem? Weder aus der Bestimmung
des Aufhebens, des Werdens oder aus derjenigen des Seins selbst ergibt sich ein Widerspruch zur
Annahme Hegels, dass das Sein im Werden eine Einheit von Sein und Nichts ist, in der das Sein
unmittelbar ist. Wie kann aber das Sein im Werden selbst unmittelbar sein, wenn es selbst bereits
eine Einheit von Sein und Nichts ist? Widerspricht dies nicht der Bestimmung des Unmittelbarem?
So finden wir in Hegels Kapitel »Womit der Anfang der Wissenschaft gemacht werden muss«, die
Kennzeichnung, dass nur das Unmittelbare einfach sein kann, weil nur im Unmittelbaren noch nicht
ein Fortgegangensein von einem zu einem anderen ist (Hegel WdL I, Werke 5, 79). Kann es dann
aber überhaupt ein solches Unmittelbares geben?
Dieser Kennzeichnung steht entgegen, dass selbst das reine Sein und das reine Nichts nicht erst
ineinander übergehen, sondern immer schon bereits ineinander übergegangen sind (ebd. 82). Wei-
terhin ist an Hegels Aussage zu erinnern, dass es »Nichts gibt, nicht im Himmel oder in der Natur
oder im Geiste oder wo es sei, was nicht ebenso die Unmittelbarkeit enthält als die Vermittlung«
(ebd. 66). Wenn dem so ist, kann auch das Unmittelbare immer nur schon etwas »Fortgegangenes«
sein. Ziehen wir hier das Modell des wahren logischen Gegensatzes von Clausewitz heran und sei-
ne Überlegung, dass der Übergang der Verteidigung in den Angriff ein anderer als umgekehrt ist,
ergibt sich hieraus die Überlegung, dass das Sein im Werden als unmittelbare Einheit von Sein und
Nichts zu begreifen ist, weil das Nichts im Werden unmittelbar in das Sein übergeht. Vermittlung
und Unmittelbarkeit unterscheiden sich nicht dadurch, dass das eine ein »Fortgegangenes« ist und
das andere nicht. Dann könnte es überhaupt kein Unmittelbares innerhalb Hegels Konzeption geben.
Beide unterscheiden sich vielmehr dadurch, dass das Vermittelte eine vermittelte Einheit und das
Unmittelbare eine unmittelbare Einheit von Gegensätzen darstellt. (Herberg-Rothe, 2005)
Hegel verwendet im Kapitel über das Aufheben des Werden tatsächlich den Begriff der einsei-
tigen, unmittelbaren Einheit von Sein und Nichts (WdL I, Werke 5, 113). Das Sein ist demzufolge
nur deshalb unmittelbar, weil es die unmittelbare Einheit zweier Momente bzw. an das unmittelbare
Übergehen aus etwas Anderem gebunden ist. Sind Sein und Nichts im Werden Entstehen und Ver-
gehen, so nur deshalb, weil Sein als Unmittelbares und Nichts als Vermitteltes an das unmittelbare
Übergehen bzw. an das vermittelte Übergehen, die Vermittlung, gebunden sind. Wir begegnen bei
Hegel zwei ganz unterschiedlichen Formen der Einheit von Sein und Nichts: ihrer unmittelbaren
Vereinigung in einer Einheit einerseits, ihrer unterschiedenen (und damit bestimmten) Einheit im
Werden, andererseits. Diese beiden unterschiedlichen Bestimmungen finden wir wieder in Hegels
Begriffen des Gesetzt-Seins und Aufgehoben-Seins. 17

17 Die Möglichkeit, Hegels Begriff von Einheit auch als unvermittelte Einheit zu denken, ergibt sich aus
einer seiner Bestimmungen von Einheit: Da im Begriff der Einheit vom Unterschied abstrahiert werde,
wäre es laut Hegel besser, nur »Ungetrenntheit und Untrennbarkeit« zu sagen - wenngleich Hegel ein-
schränkt, dass damit das Affirmative der Beziehung des Ganzen nicht ausgedrückt werde. Trotz dieser
weitergehenden Problematik des »Affirmativen«, das auch Lyotard in das Zentrum seiner Hegel-Kritik
setze, ist die Vergleichbarkeit mit dem hier entwickelten Konzept des »wahren logischen Gegensatzes«
und dessen Aspekten von Polarität (Untrennbarkeit) und Ungetrenntheit (Komplementarität) deutlich.
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244 HEGEL-JAHRBUCH 2 0 1 1

Der unmittelbare Gegensatz zwischen reinem Sein und reinem Nichts wird von Hegel zwar
»trickreich« abgewehrt, zugleich bleibt er vorausgesetzt. Hegel argumentiert auf den ersten Blick
überzeugend, dass der Unterschied zwischen reinem Sein und reinem Nichts »unsagbar« sei. Er for-
dert diejenigen auf, die auf diesem Unterschied beharren, ihn anzugeben. Indem sie den Unterschied
angeben, würden sie sich dadurch auf die Ebene des bestimmten Seins und des bestimmten Nichts
begeben und die Ebene des absolut unbestimmten Seins und Nichts verlassen (WdL I, 95). Diese
Argumentation ist so unwiderlegbar wie das Letztbegründungsargument. Indem der Unterschied
angegeben wird, werden Sein und Nichts »bestimmt« und hierdurch kann der Unterschied zwischen
dem unbestimmten Sein und Nichts nicht angegeben werden. Wie bei den Letztbegründungs-Argu-
menten wird aber auch hier ein »Anderes« mitgeführt. Denn die von Hegel vorausgesetzte absolute
Bestimmungslosigkeit von Sein und Nichts ist nach seinen eigenen Worten bereits die Bestimmung,
in denen sich Sein und Nichts beide gleich sind (WdL I, 82). Insofern könnte, nehmen wir Hegels
»trickreiches« Argument ernst, zwar weder der Unterschied von Sein und Nichts ausgesagt werden,
aber auch nicht seine vorhergehende Aussage, dass beide »dasselbe« sind.18
Hegel verdeutlicht seine Annahme mit einem »erhellenden« Beispiel, demjenigen von »reinem
Licht« und »reiner Finsternis«. Er argumentiert, dass man in der absoluten Klarheit und Helligkeit
genauso viel und sowenig sieht als in der absoluten Finsternis. Das eine Sehen sei so gut als das
andere reines Sehen, Sehen von Nichts. Reines Licht und reine Finsternis seien zwei Leere, welche
dasselbe sind. Erst dann, wenn beide ihren Gegensatz an sich selbst haben, »getrübte Helligkeit«
und »erhellte Finsternis« sind, können wir etwas sehen. Obwohl reines Licht und reine Finster-
nis für Hegel »reine Abstraktionen« sind, verweisen sie trotzdem auf ihre Gegensätzlichkeit, ihren
Unterschied (Hegel WdL I, 96). Zwar hat Hegel natürlich insofern Recht, dass in beiden Fällen
»nichts« Bestimmtes gesehen werden kann - dies bedeutet jedoch keineswegs, dass ihr Unterschied
»unsagbar« sei. An diesem Beispiel ist ganz im Gegensatz zu Hegels Intention ablesbar, dass es eine
grundlegend andere Formen der Bestimmung von Gegensätzen geben kann als diejenige des Satzes
von Spinoza, omnis determinatio est negatio.

Das »andere« Werden

Versuchen wir, aus diesen Überlegungen eine andere Lösung der von Hegel dargestellten Problema-
tik in ihren Grundzügen zu charakterisieren. Mit Hegel ist das Übergehen von Sein in Nichts und
von Nichts in Sein als Werden zu bestimmen. Beide Formen des ineinander Übergehens sind inso-
fern »dasselbe«, als sie überhaupt Übergehen sind (Hegel WdL I, Werke 5, 83). Beide Formen des
Übergehen sind dasselbe, sind Momente des Werden als Übergehen wie Angriff und Verteidigung
bei Clausewitz dasselbe sind als Kämpfen, als Formen des Krieges. Sie sind ebenso »dasselbe«, wie
zwei Pole in einem polaren Gegensatz bzw. in einem Magneten nur als Pol »dasselbe« sind. Mit
Hegel wollen wir festhalten, dass Sein und Nichts immer schon ineinander übergegangen sind und
das Werden demzufolge jeder Bestimmung von Sein und Nichts vorausgesetzt bleibt, ihre »Wahr-
heit« ist (ebd.). Aufgrund dieser Kennzeichnung können Sein und Nichts jedoch nicht dem Werden
vorausgesetzt sein und das Werden erst aus diesen folgen, sondern umgekehrt, Sein und Nichts
(»Was ihre Wahrheit ist«) sind immer schon ineinander übergegangen. Dies beinhaltet, dass Sein
und Nichts nur Extreme im Werden sind und beide nichts jenseits, außerhalb des Werdens sind. Hier
argumentieren wir mit Hegel, dass auch die scheinbare Unmittelbarkeit von Anfang und Sein bereits
Resultat ist.

18 Diese Beurteilung ist unabhängig von der unaufgeklärten Differenz zwischen dem Begriff »dasselbe-
sein« und der »Einheit von Sein und Nichts«. Dem zweiten Begriff kann Hegel den Unterschied von Sein
und Nichts entgegenstellen, der nicht anzugeben sei - ungeklärt ist der Status des »dasselbe sein«.
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ANDREAS HERBERG-ROTHE, D I E ABSOLUTHEIT DES »ANDEREN« WERDEN 245

Mit Hegel sind wir der Auffassung, dass das Übergehen von Sein in Nicht-Sein, das Aufheben,
das Vermitteln im Werden ist (entsprechend Hegels Bestimmung zu Beginn der Anmerkung über das
Aufheben; ebd. S 113). Da das Nichts im Werden nicht das reine, vollkommene Nichts sein kann,
sondern das Nicht-Sein als Resultat, das von einem Sein ausgegangen ist, ist das Nichts im Werden
selbst das Aufgehobene. Das Übergehen von Sein in Nichts im Werden, in Nicht-Sein, ist damit das
Vergehen, das Aufheben, das Vermitteln (ebd., 84 und 112). Außerhalb des Werdens kann es kein
Nicht-Sein geben. Um den logischen Widerspruch in Hegels Konzeption der Methode, des Anfangs
wie des Werdens zu vermeiden, ist der umgekehrte Prozess des Übergehens von Nichts in Sein
jedoch nicht mit dem Begriff des Aufhebens zu kennzeichnen, da dies dem Begriff des Aufhebens
widersprechen würde. Indem Hegel für die unmittelbare Einheit (bzw. das unmittelbare Übergehen
in der Interpretation von Röttges) den Begriff des Setzens verwendet, ist das Übergehen von Nichts
in Sein, das Entstehen, mit Hegel als Setzen zu verstehen. Gegen Hegel wollen wir infolgedessen
festhalten, dass das bloße Übergehen eines Pols, eines Gegensatzes in sein Gegenteil, nicht allge-
mein mit dem Begriff des Verschwindens (ebd., 83) bzw. dem des Aufhebens belegt werden kann, da
es sich hierbei um unterschiedliche, um asymmetrische Übergänge handelt: einmal das Übergehen
von Sein in Nichts, in Nicht-Sein als Vergehen, Aufheben bzw. Verschwinden, das andere Mal um
das unmittelbare Übergehen von Nichts in Sein, das Entstehen, das Setzen.
Mit Hegel ist zu argumentieren, dass Sein und Nichts im Werden jeweils nur als Einheit von
Sein und Nichts gefasst werden können (WdL I, Werke 5,112). Analog zu einem polaren Gegensatz
existieren Sein und Nichts nicht unabhängig voneinander, sondern nur in der Einheit ihres Gegen-
einander - sie sind beide komplementär. Dies beinhaltet auch, dass es kein Sein »für sich« gibt, das
»abtrennbar« von seinem Bezug auf das Nicht-Sein, das Nichts im Werden wäre. Sein lässt sich nur
implizit gegen das Nichts bestimmen wie umgekehrt. Mit Hegel ist auch festzuhalten, dass das Sein
im Werden unmittelbar ist (ebd.). Hieraus ziehen wir die Schlussfolgerung, dass das Sein im Werden
die unmittelbare Einheit von Sein und Nichts ist. Demgegenüber kann mit und gegen Hegel argu-
mentiert werden, dass Nichts im Werden nicht unmittelbar ist, sondern nur als das Vermittelte selbst
zu bestimmen ist. Da Sein und Nichts im Werden beide Resultat sind, kann die Konsequenz gezogen
werden, dass das »Resultat-Sein« als solches nicht ausreicht, um den Unterschied von Vermitteltem
und Unmittelbarem zu begründen. Ihr Unterschied kann nur als vermittelte oder unmittelbare Ein-
heit bzw. als vermitteltes oder unmittelbares Übergehen gefasst werden. Vermitteltes und Unmit-
telbares machen nur Sinn, wenn wir sie als Resultat eines unterschiedlichen, eines asymmetrischen
Übergehens begreifen. Sein ist das Unmittelbare, weil es eine unmittelbare Einheit von Sein und
Nichts ist und unmittelbar aus dem Nichts hervorgeht. Demgegenüber ist Nichts das Vermittelte,
weil es eine vermittelte Einheit von Sein und Nichts ist und durch den Prozess des Aufhebens, des
Vermitteins, aus dem unmittelbaren Sein hervorgeht.
Ist das Nichts im Werden mit Hegel das Nicht-Sein, das von einem Sein ausgegangen ist, kann
es nicht das »reine«, »absolute« oder »vollständige« Nichts sein (nicht umsonst argumentiert Hegel,
dass das Nichts im Werden das Nicht-Sein ist, und keineswegs das reine, abstrakte Nichts, Hegel
WdL I, Werke 5, 84). Das Nicht-Sein, das Nichts im Werden, ist demzufolge immer bezogen auf ein
schon vorhandenes Anderes, auf das Sein und hat somit eine immanente Bestimmung. Genauso wie
die scheinbare Bestimmungslosigkeit des reinen Seins von Hegel als Bestimmung gewertet wird, ist
das Nicht-Sein im Werden ein unaufhebbar Relatives, dass nur gilt in bezug auf die vorausgesetzte
Bestimmtheit des Seins.
Das Aufheben als eine Seite des Werdens beinhaltet eine vermittelte Einheit von Sein und Nichts.
Aufgrund dieses Sachverhaltes kann das Werden zumindest nicht vollständig aufgehoben werden,
da das Aufheben nur eine Seite des Werdens ist. Eine Selbstaufhebung des Werdens würde aus die-
sem Grund immer das Moment des Setzens mit beinhalten, so dass weder eine Verabsolutierung des
Aufhebens noch des Setzens dem Werden gerecht wird.

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246 HEGEL-JAHRBUCH 2 0 1 1

Werden ist nicht die abstrakte, sondern die »bestimmte« Einheit von Sein und Nichts, ist wiede-
rum mit Hegel festzuhalten (ders. WdL 1,112). Allerdings ist dies eine andere Form der Bestimmung
als die durch eine »einfache« Negation, ist gegen Hegels Aufgreifen von Spinozas berühmten Satz
(»Omnis determinatio est negatio« - diesen Satz bezeichnet Hegel als von unendlicher Wichtig-
keit; Hegel, WdL I, Werke 5, 121) hervorzuheben- nicht alle Formen der Bestimmung müssen eine
Negation sein, insbesondere kann die Negation selbst nicht durch eine Negation erklärt werden.
Analog zum wahren logischen Gegensatz von Angriff und Verteidigung ist zu sagen, dass der wahre
logische Gegensatz von Entstehen und Vergehen, von Sein und Nichts zugleich eine unaufhebbare
Einheit bildet. In Clausewitz' Bestimmung von Angriff und Verteidigung ist diese Einheit der Krieg,
im Fall von Entstehen und Vergehen, von Sein und Nichts das Werden.

Zusammenfassung

Die Absolutheit des »anderen Werden« bedeutet keineswegs, dass es ein Werden als Entstehen und
Vergehen ohne »Etwas« gibt, das entsteht oder vergeht. Aber dieses »Etwas« ist grundsätzlich nicht
vollständig zu bestimmen, weil es immer zugleich Gewordenes und Werdendes ist. Dies wird deut-
licher, wenn wir uns Zeitspannen vom Urknall bis heute und noch einmal diese Zeitspanne hinzu
denken: »Alles« ist zugleich im Entstehen und Vergehen. Beide sind die Differenzierungen im einen
Werden. Ihre Unterschiedlichkeit ergibt sich aus den unterschiedlichen Formen des asymmetrischen
Übergangs: Vermittlung und unmittelbarer Übergang, Aufheben und Setzen, vermittelte und unmit-
telbare Einheit, Einheit und Differenz bzw. Unterschied usw. Dasjenige was absolut ist und bleibt,
sind die weiteren und tendenziell unendlichen Differenzierungen, die sich aus diesen anderen Kenn-
zeichnungen des Werden ergeben, bis hin zu Angreifen und Verteidigen bei Clausewitz, bis zu Lie-
ben und Hassen. Das Werden wird nicht etwa nur aufgehoben, wie dies Hegel sah, sondern zugleich
immer neu gesetzt.

Dr. phil. habil.Andreas Herberg-Rothe


Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
Hochschule Fulda
Marquardstr. 35
36039 Fulda

andreas. herberg-rothe@sk. hs-fulda. de

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