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Schellings Philosophie der Offenbarung

Gehalt und theologiegeschichtliche Bedeutung*

Doz. Dr. Klaus Bannach, Gartenstr. 85, D-72074 Tübingen

L Fragen an Schelling

Daß Hegels Philosophie unter Theologen seiner Zeit und einer Gene-
ration später Schule gemacht hat und bis auf den heutigen Tag immer
wieder macht, braucht man in Tübingen nicht eigens zu sagen. Bei seinem
frühvollendeten Freund aus Tübinger Studienzeiten und späteren Konkur-
renten, der Hegel zeitweise in den Schatten stellte, Schelling, der in seiner
Spätphilosophie in München und in Berlin mit dem Anspruch lehrte, das
Hegeische System überwinden zu können, ist dies viel weniger offensicht-
lich. Obwohl Schelling bisweilen geradezu konfessorisch formuliert1 und
um das Vertrauen seiner studentischen Zuhörer wirbt, sind die theologi-
schen Implikationen seiner positiven Philosophie, wie er sie, wohl im
Blick auf Kants stets kritisches Philosophieren, nennt, viel weniger disku-
tiert. Das ist um so erstaunlicher, als Schelling die außerchristliche Religi-
onsgeschichte mit dem Begriff des Mythos fassen zu können meinte und
er so den Grundgedanken der Entmythologisierungsdebatte antizipiert.
Denn schon Schelling versteht, wie sogleich genauer zu zeigen sein wird,
das Christentum als die Befreiung des Menschen aus der bloß objektiven
antiken Götterwelt und ihren Mysterien. Er setzt ihr mit der Philosophie
der Offenbarung einen theologischen Entwurf entgegen, der in seinen
Grundpositionen in theologischen Entwürfen des 20. Jahrhunderts wie-
derkehrt, sofern diese die theologische Reflexion nicht auf die Analyse
der Situation des Menschen vor Gott reduziert, sondern noch mehr zu
sagen weiß und versucht, den Weg zu beschreiben, auf dem der Mensch
oder die Menschheit aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die
Zukunft geht.
Das Desinteresse der Theologie an Schelling, die bei dem Projekt
einer Philosophie der Offenbarung eigentlich hätte hellhörig werden müs-
sen, mag daran liegen, daß die erste Gesamtedition der Werke Schellings

Probevortrag, gehalten am 5. Juli 1994 vor der Habilitationskommission der Evang.-Theol.


Fakultät der Universität Tübingen im Zusammenhang mit einem Umhabilitierungsverfah-
ren von München nach Tübingen.
Z. B. »Es ist begreiflich, wie ich mit diesem Vortrage in die Mitte zweier Parteien gerate, und
von zwei Seiten dem Miß verstände bloß gegeben bin. Ein Vortrag, wie der jetzige, wo ein
akademischer Lehrer sein ganzes Vertrauen seinen Zuhörern schenkt, — ein solcher Vortrag
kann nicht wie ein gewöhnlicher angesehen werden«. (Friedrich W. J. Schelling, Urfassung
der Philosophie der Offenbarung, l, hg. Walter E. Ehrhardt, Hamburg 1993, S. 18).

NZSTh, 37. Bd., S. 57-74


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durch seinen Sohn Karl einen Bruch in der Gedankenwelt Schellings sug-
gerierte, der Schellings Projekt einer »positiven Philosophie« als Abkehr
von seinen frühen materialistischen Systementwürfen deutete, wodurch
Schellings späte theologische Interessen in den Ruf des Uneigentlichen
kamen. Schon Walter Schulz hat aber bereits 1955 in seiner Studie »Die
Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings«
die These eines Bruches in der philosophischen Entwicklung bezweifelt.
Dazu kommt, daß von der Philosophie der Offenbarung bis 1993 nur
Nachschriften der Vorlesung aus dem Wintersemester 1841/42, vor allem
diejenige des Heidelberger Hegelianers Paulus bekannt waren, die den
Eindruck des Dunklen und Theosophischen in Schellings Texten zu ver-
stärken schienen, indem sie seine Gedanken, wenn nicht gerade verfäl-
schen, so doch verkürzen. Feuerbach konnte daher noch mit einem gewis-
sen Recht spotten, die Spätphilosophie Schellings sei »eine theosophische
Posse des philosophischen Cagliostro des neunzehnten Jahrhunderts« 2 .
Urteile dieser Art sind aber nach Auffindung der Urfassung der Philoso-
phie der Offenbarung im Zuge des wieder erwachten philosophischen
Interesses an Schelling nicht mehr so ohne weiteres möglich. Dieser Text,
herausgegeben von Walter E. Ehrhardt, wurde wahrscheinlich von Schel-
ling seinem Schüler Joseph Maximilian Wachtl nach 1831/32 diktiert, er
ist schätzungsweise drei bis vier Mal so lang wie der mitgeschriebene Text
der Vorlesung von 1841/42. Wo Paulus nur die Stichworte Schellingschen
Denkens wiedergibt und diese knapp erläutert, sind die tragenden Gedan-
ken in der Urfassung in den Fluß der Rede von Vorlesung zu Vorlesung
eingebettet. Der Gedankenreichtum dieses Textes ist stupend und nicht
so schnell auszuschöpfen. Ich will daher lediglich versuchen, anhand von
vier für die Theologie zentralen Fragen, die Schelling erörtert, eine Vor-
stellung von der Bedeutung und dem Reichtum dieses Textes zu geben.
Die Fragen lauten:
1. Ist eine Philosophie der Offenbarung überhaupt möglich, und wie ist
sie möglich? Anders gefragt: wie verhalten sich bei Schelling Wissen
und Glaube zu einander?
2. Was versteht Schelling unter dem theogonischen Prozeß?
3. Was unter dem Mythologischen Prozeß?
4. Was unter dem Prozeß des Christentums?

H. Wie ist eine Philosophie der Offenbarung möglich?

Bei dieser Frage geht es um folgendes Problem. Philosophische Refle-


xion vermag, so die allgemeine Meinung, keine Voraussetzungen anzuer-
kennen, die außerhalb ihres Begriffes liegen. Deswegen fragt Kant, ob
2
Zitiert bei W. Hogrebe, Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im
Ausgang von Schellings »Die Weltalter«, Frankfurt 1989, S. 38.

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und wie synthetische Urteile a priori möglich sind. Deswegen entwickelt


Hegel die Religionsgeschichte aus dem Begriff der Religion. Religion ist
nach Hegel die Selbstentfaltung ihres Begriffes. Er entfaltet sich von der
natürlichen über die positive zur offenbaren Religion des Christentums.
Der Begriff ist indes auch bei Hegel nicht einfach gegenständlich, also
dogmatisch, sondern ist ein nomen actionis, das immer auch den Akt des
Begreifens enthält. Jedoch ermöglicht er den gegenwärtigen Einsatz der
Wirklichkeitsanalyse; er hält das flüchtige Vorübereilen des Wirklichkeits-
prozesses gleichsam an, um darin einen Anfang des Begreifens machen zu
können. Und hier liegt nach Schelling genau das Problem; der Begriff
schneidet den bereits entrollten Faden des Natur- und des kulturellen
Überlieferungsgeschehens nach rückwärts ab. Das aber ist für die Ge-
schichte der Offenbarung ein ruinöser Vorgang. Denn diese zwingt das
Denken aufgrund ihrer puren Faktizität, eine Voraussetzung anzuerken-
nen, die sich, wie gesagt, nicht mehr in den Begriff einholen läßt. Das ist
übrigens nicht nur im Christentum so, sondern in allen Religionen, die
durch eine Stiftergestalt fest in der Geschichte der Menschheit verankert
sind. Die Aufklärungsphilosophie hat in ihrem Bestreben, bei sich selbst
anzufangen, die fundamentale Angewiesenheit des Denkens auf Überliefe-
rung verkannt. Sie ist dem Irrtum verfallen, als könne man die Welt von
vorne anfangen3. Schon deshalb müssen — so der radikale Flügel der
Aufklärung - Religionsstifter vergangener Zeiten, die immer noch Wahr-
heitsansprüche geltend machen, Betrüger sein4. Trotzdem ist jedoch eine
Philosophie der religiösen Überlieferungsgeschichte nach Schelling mög-
lich, wenn diese positiv diese Geschichte rekonstruiert, diese also nicht
nur kritisch destruieren will, wie es die Aufklärungsphilosophie in ihren
radikalen Vertretern getan hatte. Freilich kann die philosophische Refle-
xion auf diesem Felde nur in das Gewand des Epimetheus steigen, sie
kann nur - aber was heißt hier schon »nur« — nachdenken, sie kann
nicht ausdenken oder wie Prometheus vorausdenken. Sie kann nur erklä-
ren, weshalb die Überlieferungsgeschichte sich so ereignet hat, wie sie
sich ereignet hat. Sie kann nur das Christentum als Tatsache begreifbar
machen.
Was aber ist das Christentum als Tatsache? Was konstituiert eine
Tatsache, die in einem solchen Ausmaß Geschichte, d. h. geschichtliche
Folgen bewirkt, daß sie nicht selbst eine geschichtliche Tatsache unter
anderen sein kann?
An dieser Stelle ist nach Schelling von Gott zu reden. Freilich nicht,
wie es bei Hegel und seinen Schülern üblich ist, von Gott als Vernunft.
3
Friedrich W. J. Schelling, Urfassung der Philosophie der Offenbarung, 2, hg. Walter E.
Ehrhardt, Hamburg 1993, S. 418.
4
Diese radikale Meinung propagierte der »Traite de trois imposteurs«, dessen anonymer
Verfasser (um 1750) Moses, Jesus und Mohammed in außerordentlich einflußreicher Weise
als Betrüger porträtierte.

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Die Selbstexplikation der absoluten Vernunft mag wegen des Unterschie-


des von Unendlichkeit und Endlichkeit den Einwand des Pantheismus
erfolgreich widerlegen können. Sie kann jedoch nicht vermeiden, daß der
aus der göttlichen Vernunft hervorgehende Prozeß des Wirklichen emana-
nisch, das heißt zu einer Kette notwendiger Folgen wird. Emananische
Prozesse aber implizieren, was man sich nicht immer klar genug macht,
den völligen Verlust von Freiheit. Denn sie lassen nichts Neues zu und
verhindern so jedwede Form von Methexis, participatio. Das einzelne
Subjekt kann an dem Prozeß nicht mehr teilhaben und wird in die Rolle
des Zuschauers genötigt. Denn an dem, was ohnehin geschieht, braucht
man und kann man sich nicht mehr beteiligen. Schelling macht daher den
göttlichen Willen, und zwar den göttlichen Willen als Entscheidung, zum
Ursprung seiner Selbstoffenbarung in Jesus Christus. Gott will sein Ge-
heimnis in Jesus Christus preisgeben. Und er wollte dies von jeher. Schon
vor Grundlegung der Welt. Dies bringt die Christusoffenbarung an den
Tag; in ihr wird daher der Zwangscharakter des Naturprozesses über-
wunden. Und es entsteht die Möglichkeit von Freiheit, Freiheit immer
verstanden als Chance zur Methexis, nicht nur als Selbstreflexion ange-
sichts eines sich naturwüchsig vollziehenden Prozesses.
Dem entspricht Schellings Verhältnisbestimmung von Denken und
Glauben. Denken ist danach ein unaufhörlicher, zielloser »naturhafter«
Prozeß. Unaufhörlich ist dieser Prozeß, weil die zu lösenden Probleme nie
an ein Ende kommen, im einzelnen Subjekt nicht und auch in der Ge-
schichte der Wissenschaften nicht. Erst der Glaube, der sich an Gott in
Jesus Christus festmacht, befreit aus diesem Zwang des unaufhörlichen
Erdenkens von neuen Begriffen oder Denkstrategien zur Lösung alter Fra-
gen. Glaube ist das Zurruhekommen des Denkens. Denken ist das Resul-
tat der Herrschaft des Gesetzes, Glaube dasjenige des Evangeliums5. Man
könnte, Augustinus und Anselm abwandelnd, formulieren: intelligo, ut
credam. Aber das wäre auch dann mißverständlich, wenn man das ut
streng als ut consecutivum verstünde. Es geht nicht darum, daß Glaube
nun plötzlich das Ergebnis einer begrifflichen Demonstration wäre. Alles,
was Schelling sagt, ist: der Prozeß des Denkens kann nur dann in Gang
gesetzt und vor allem aufrecht erhalten werden, wenn er die Gewißheit

»Nach dem Umsturz würde die Vernunft gleich die Neigung verspüren, den Schöpfer inter-
venieren zu lassen; aber Gott ist größer als unser Denken. Dem äußersten, das geschehen
kann, weiß er von seiner Seite durch ein anderes Äußerstes zu begegnen. Da die Welt durch
einen kreatürlichen Willen nicht herzustellen war, so wird sie durch die unzweifelhafte Tat
eines überkreatürlichen und doch menschlichen Willens hergestellt werden. Die allen Zwei-
fel aufhebende Gewißheit ist Glaube, und dieser daher das Ende des Wissens. Zuerst das
Gesetz und dann das Evangelium! So muß die strenge Zucht der Wissenschaft dem Glauben
vorangehen«, (Friedrich W. J. Schelling, Philosophie der Offenbarung, hg. Manfred Frank,
Frankfurt, 1977, S. 254).

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besitzt, im Akt des Glaubens mit einem Ergebnis, und sei dieses noch so
vorläufig, wieder aufhören zu können 6 .
Eine Philosophie der Offenbarung ist damit nur dann möglich, wenn
sie nicht ihre eigenen Axiome aufstellt und auf diesen dann ihr Gebäude
errichtet, sondern wenn sie die Tatsache als gültig voraussetzt, daß Gott
sich in Jesus Christus offenbart hat, damit die Möglichkeit von Freiheit
für den Menschen oder besser die Menschheit eröffnet wird, Freiheit von
allen bloß naturhaften Zwängen, seien es die in den Naturprozessen
selbst, seien es die des Denkens. Gegenstand einer solchen Philosophie
der Offenbarung ist daher Christus als Tatsache, deren Tatsächlichkeit
alleine daran hängt, daß Gott sie von Ewigkeit her gewollt hat. Umge-
kehrt wird in der Tatsache der Christusoffenbarung Gottes Wille offen-
bar, der sich so und nicht anders der Welt zugewandt hat. Dieses »So und
nicht anders« muß Gegenstand der philosophischen Explikation sein7.
Dann wird klar, daß der Glaube an die Offenbarung Gottes sich als Frei-
heit vom Naturprozeß vollzieht, wie dieser in der heidnischen Geschichte
der Mythologie zum Ausdruck kommt.

HL Was versteht Schelling unter dem theogonischen Prozeß?

Heißt dies, daß es in der vorchristlichen Religionsgeschichte über-


haupt keine Freiheit gibt? Doch, es gibt sie. Aber in einer gänzlich anderen
Form. Auch die Naturgeschichte und die mythologische Kulturgeschichte
sind, wenngleich sie sich in notwendiger Weise entwickeln8, doch insofern
6
»Der Glaube als Ende des Suchens schließt das Suchen nicht aus. Die noch suchende Wis-
senschaft sieht, daß Alles, was sie findet, sich wieder aufhebt. Ubi finis quaerendi, ubi
statio inveniendi? nihil ultra. Christum scire est omnia scire. Er ist des Wissens Ende; wer
ihn wahrhaft hat und ganz erkennet, hat mit ihm und in ihm alles Wissen!« (Friedrich
W. J. Schelling, Philosophie der Offenbarung 1841/42, hg. Manfred Frank, Frankfurt,
1977, S. 254).
7
»Den Weg, den eine Philosophie der Offenbarung zu durchlaufen hat, glaube ich durchmes-
sen zu haben. Das Christentum ist vorbereitet von Grundlegung der Welt her, ist die Ausfül-
lung des in den Weltprinzipien selbst liegenden Gedankens. Außer diesen Prinzipien kann
es kein Heil geben; wir müssen uns in die schicken. Einen ändern Grund kann Niemand
legen. Wir sind nicht in einer allgemeinen, abstrakten Welt. Wir können eine unendliche
Vergangenheit nicht aufheben, auf welcher die Gegenwart ruht. Der gegenwärtige Zustand
ist ein höchst bedingter. Möge der, der sich bisher im Allgemeinen und Abstrakten gefallen
hat, diese Ordnung beschränkt finden; die Welt ist nichts Schrankenloses. Wohl sollen wir
Gott im Geist und in der Wahrheit anbeten, aber daß es der wahre Gott sei, muß es der
offenbare Gott, nicht ein abstraktes Idol sein«. (Friedrich W. J. Schelling, Philosophie der
Offenbarung 1841/42, hg. von Manfred Frank, Frankfurt 1977, S. 324).
8
»Die Mythologie ist daher Folge, nicht Offenbarung eines göttlichen Willens. Dieser wird
erst nach ihr, über sie hinaus, offenbar. Es läßt sich aus der Mythologie auf jenen göttlichen
Willen schließen, der Effekt dieses Willens aber ist sie nicht«. »Der Glaube als Ende des
Suchens schließt das Suchen nicht aus. Die noch suchende Wissenschaft sieht, daß Alles,
was sie findet, sich wieder aufhebt. Ubi finis quaerendi, ubi statio inveniendi? nihil ultra.

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frei, als sie von Gott unabhängig sind, genauer: unabhängig geworden
sind. Denn alles, was Gott geschaffen hat, hat er in Form von Möglichkei-
ten, von Potenzen geschaffen, damit diese sich selbst realisieren können,
also durch sich selbst — und das heißt frei — wirklich werden können.
Mit der Unterscheidung von Potenz und Akt knüpft Schelling über die
kritische Reflexionsphilosophie Kants hinweg bewußt an die aristotelisch-
mittelalterliche Auffassung dieser Begriffe an. Denn mit Hilfe dieser Be-
griffe läßt sich jeder Moment eines solchen Prozesses als der Übergang
vom Gewordensein zum Werden od£r vom Sichselbstnichtsogesetzthaben
zum Sichselbstsetzen9 beschreiben, während die Reflexionsphilosophie
nach den Bedingungen von Wirklichkeit fragt oder noch genauer nach
der Möglichkeit von Gedanken über die Wirklichkeit und ihrer Entspre-
chung mit der Wirklichkeit. Es ist die Überzeugung schon des ganz frühen
Schelling, daß diese Art von Reflexion sich nur im Kreise dreht und nie
zu den Dingen oder zur Sache kommt, so daß er nicht zögert, sie als eine
Art menschlicher Geisteskrankheit zu diagnostizieren10. Schöpfung durch
Gott ist die Bereitstellung von Möglichkeiten der Selbstrealisation. Nach-
dem Gott die Möglichkeiten des Daseins (Potenzen) erst einmal geschaf-
fen hat, besteht seine weitere schöpferische Tätigkeit darin, der Selbstre-

Christum scire est omnia scire. Er ist des Wissens Ende; wer ihn wahrhaft hat und ganz
erkennt, hat mit ihm und in ihm alles Wissen!« (Friedrich W. J. Schelling, Philosophie der
Offenbarung, hg. Manfred Frank, Frankfurt, 1977, S. 252).
9
Diese Formulierungen stammen von Friedrich Schleiermacher. Vgl. Der christliche Glaube,
2. Teil, S 4, Berlin6! 884.
10
»Denn das Wesen des Menschen ist Handeln. Je weniger er aber über sich selbst reflektiert,
desto thätiger ist er. Seine edelste Thätigkeit ist die, die sich selbst nicht kennt. Sobald er
sich selbst zum Objekt macht, handelt nicht mehr der ganze Mensch, er hat einen Theil
seiner Thätigkeit aufgehoben, um über den ändern reflektieren zu können. Der Mensch
ist nicht geboren, um im Kampf gegen das Hirngespinst einer eingebildeten Welt seine
Geisteskraft zu verschwenden, sondern einer Welt gegenüber, die auf ihn Einfluß hat, ihre
Macht ihn empfinden läßt, und auf die er zurückwirken kann, alle seine Kräfte zu üben;
zwischen ihm und der Welt also muß keine Kluft befestigt, zwischen beiden muß Berüh-
rung und Wechselwirkung möglich seyn, denn so nur wird der Mensch zum Menschen.
Ursprünglich ist im Menschen ein absolutes Gleichgewicht der Kräfte und des Bewußt-
seyns. Aber er kann dieses Gleichgewicht durch Freiheit aufheben, um es durch Freiheit
wieder herzustellen. Aber nur im Gleichgewicht der Kräfte ist Gesundheit. Die bloße Refle-
xion also ist eine Geisteskrankheit des Menschen, noch dazu, wo sie sich in Herrschaft
über den ganzen Menschen setzt, diejenige, welche sein höheres Daseyn im Keim, sein
geistiges Leben, welche nur aus der Identität hervorgeht, in der Wurzel tötet. Sie ist ein
Übel, das den Menschen selbst ins Leben begleitet und auch für die gemeineren Gegen-
stände der Betrachtung alle Anschauung in ihm zerstört. Ihr zertrennendes Geschäft er-
streckt sich aber nicht nur auf die erscheinende Welt; indem sie von dieser das geistige
Princip trennt, erfüllt sie die intellektuelle Welt mit Chimären, gegen welche, weil sie
jenseits aller Vernunft liegen, selbst kein Krieg möglich ist. Sie macht jene Trennung zwi-
schen dem Menschen und der Welt permanent, indem sie die letzte als ein Ding an sich
betrachtet, das weder Anschauung noch Einbildungskraft, weder Verstand noch Vernunft
zu erreichen vermag«. (Friedrich W. J. Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur,
1797, in: Ausgewählte Schriften l, hg. M. Frank, S. 254).

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alisierung oder Selbstorganisation der Möglichkeiten Raum zu gewähren.


Dazu zieht er sich auf sich selbst zurück. Diese Kontraktion Gottes auf
sich selbst hatte Schelling das erste Mal in den Stuttgarter Privatvorlesun-
gen aus dem Jahre 1810 erörtert. Der Ausdruck mag befremdlich klingen,
sagt Schelling, seine Zuhörer vor Augen. Es steckt jedoch ein ganz einfa-
cher Gedanke dahinter: sich selbst zu beschränken,
»sich einschließen in Einen Punkt, aber diesen auch festhalten mit allen Kräften, nicht
ablassen, bis er zu einer Welt expandiert ist, dieß ist die höchste Kraft und Vollkom-
menheit.«11
Heißt es doch bei Goethe
»Wer Großes will, muß sich zusammenraffen.
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister«12.
Nur Gott selbst könne so einen Akt der Selbstbeschränkung vollziehen,
daß er sich unter irdisch-geschichtlichen Bedingungen offenbart. Dieser
Akt ist daher als souveräner Akt göttlicher Freiheit zu verstehen13.
Man hat diesen Akt der göttlichen Selbstbeschränkung immer wieder
als göttlichen Verzicht auf Allmacht verstanden, in der Hoffnung, damit
den Schwierigkeiten zu entkommen, die sich aus der Beziehung Gottes
zur Existenz des Bösen ergeben, das in unserem Jahrhundert zu unbe-
schreibbar gewordenem menschlichem Leid geführt hat und immer noch
führt. Das aber würde bedeuten, daß sich die erfahrene oder erlittene
Zerstörung des menschlichen Antlitzes der Herrschaft Gottes zu entzie-
hen vermöchte und der Mensch gerade in seinem Leid sich selbst überlas-
sen bliebe. Der Schrei der Empörung und der Schmerz der Demütigung
hätte keine Adresse mehr. Hiob wußte immerhin, wohin und an wen er
Klage und Anklage wenden konnte. Gerade im Blick auf das Böse und
die sogenannte Theodizeeproblematik ist Schellings Konzeption, daß die
Möglichkeit des Möglichen einen Gott, der will und der entscheidet und
der dies unablässig tut, voraussetzt, besonders überzeugend. Ein emana-
nisch sich vollziehender Prozeß purer Notwendigkeit wäre blind. Er
würde blind über die zerstörte Würde des Menschen hinweggehen, wo
immer und wann immer. Die göttliche Selbstbeschränkung bewirkt, daß
das Mögliche möglich bleibt und der Prozeß des Wirklichen nicht in pure
Notwendigkeit umschlägt14. Schelling, der von Anfang an das Lebendige,

11
Friedrich W. J. Schelling, Stuttgarter Privatvorlesungen in: Ausgewählte Schriften 4, hg.
M. Frank, Frankfurt, 1985, S. 40 f.
12
Ebenda.
13
»Dieser Akt der Einschränkung oder Herablassung Gottes ist freiwillig. Es gibt also keinen
Erklärungsgrund der Welt als die Freiheit Gottes. Nur Gott selbst kann die absolute Identi-
tät seines Wesens brechen, um dadurch Raum zu einer Offenbarung zu machen« (Friedrich
W. J. Schelling, Stuttgarter Privatvorlesungen in Ausgewählte Schriften 4, hg. M. Frank,
Frankfurt, 1985, S. 41).
14
Dies hat Schelling 1809 selbst so formuliert: »Sagen, Gott halte seine Allmacht zurück,
damit der Mensch handeln könne, oder er lasse die Freiheit zu, erklärt nichts; zöge Gott

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Organische in der Natur zu denken versucht, der für die lebendigen


Kräfte in der Natur wunderschöne Worte fand15, ist für das Barbarische
in ihr, für die Durchsetzungskraft des Bösen daher nicht blind. Die Kata-
strophe des Menschen besteht darin, daß die dunkle Macht, die in der
Ordnung der Natur zunächst besiegt schien, im Menschen als einem Na-
turwesen wieder ihr Haupt erhob und sich gegen den Schöpfer wandte16.
Und daher ist der eigentliche Sinn der Offenbarung Gottes in Jesus Chri-
stus, daß hier offenbar wird, daß Gott nach Rom 11,33-36 und 16,25 —
27 schon vor der Grundlegung der Welt beschlossen hat, die Schöpfung
als freien Akt neu zu begründen und alles, was ist, somit der Naturnot-
wendigkeit zu entreißen und damit auch dem Bösen, das fortzeugend Bö-
ses schafft. Daraus nämlich, daß es, wie die Erfahrung lehrt, Böses gibt,
folgt nicht, daß es Böses geben muß. Die christologische Interpretation
der Schöpfung eröffnet vielmehr die Möglichkeit, Freiheit als Freiheit zu
Bösem und Gutem zu verstehen17. Dies gilt zunächst für Gott selber, wie
er von einem menschlichen Subjekt erkannt werden kann. In Christus
offenbart sich der göttliche Wille, der den Zwängen des Bösen nicht ein-
fach ihren Lauf läßt, sondern Freiheit will. Hier zeigt sich, daß Gott von
Anfang an sein Sein gesetzt hat. Nur ein gesetztes Sein ist ein gewolltes
Sein, und nur ein gewolltes Sein ist frei. Schelling nennt dieses anfängliche
Sein Gottes reine Lauterkeit, weil sich mit dieser Selbstsetzung keinerlei
Absichten oder Ziele verbinden. Das göttliche Aus-sich-Heraustreten bei
der Schöpfung der Welt ist bereits ein zweiter Schritt. Selbstsetzung ist die
Potenz A; Aus-sich-Heraustreten bei der Erschaffung der Welt die Potenz
B. Beide Momente sind aber nicht wirklich voneinander verschieden; es
handelt sich, wie Wolfram Hogrebe in seiner Studie über Schellings

seine Macht einen Augenblick zurück: so hörte der Mensch auf zu seyn« (Friedrich W. J.
Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und
die damit zusammenhängenden Gegenstände, in: Schriften von 1806-1813, Darmstadt
1990, S. 283).
15
Z. B. in: Der Frühling, Ausgewählte Schriften, hg. Manfred Frank, Frankfurt H985, Band
4, S. 207 ff.
16 »Nachdem wir jene Katastrophe, durch welche die in der Natur besiegte dunkle Macht
sich erhob und des menschlichen Bewußtseins sich bemächtigte, als gegen den göttlichen
Willen erfolgend erkannt haben, so ist urkundlich, daß Gott den Gedanken zur Wiederher-
stellung dieses Seins faßte« (F. W. J. Schelling, Philosophie der Offenbarung 1841/42, hg.
M. Frank, Frankfurt, 1977, S. 252).
17
»Eben hieraus ist vorläufig zu ersehen, daß die tiefsten Schwierigkeiten, die in dem Begriff
der Freiheit liegen, durch den Idealismus für sich genommen so wenig auflösbar seyn
werden als durch irgend ein anderes partielles System. Der Idealismus gibt nämlich einer-
seits nur den allgemeinsten, andrerseits den bloß formellen Begriff der Freiheit. Der reale
und lebendige Begriff aber ist, daß sie ein Vermögen des Guten und des Bösen sey. (Fried-
rich W. J. Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen
Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, in: Schriften von 1806-1813,
Darmstadt, 1990, S. 296.

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Weltalter zeigt18, um eine bloße Prädikation: das, was A ist, ist auch das,
was B ist und umgekehrt. Schelling selbst legt die logischen Probleme der
Aussagen über Identisches in seiner Freiheitsschrift dar19 und drückt sich
in der Philosophie der Offenbarung aus dem Wintersemester 1840/41 so
aus:
»Nichts ist trübseliger, als das Geschäft aller Rationalisten, die das vernünftig machen
wollen, was sich als über alle Vernunft gibt. Paulus spricht [1. Kor. 1,18-25] von der
Schwäche und Torheit Gottes, die mehr vermöge als die Stärke des Menschen. Nur der
Starke darf schwach sein. Haman fragte: ob sie denn noch nicht wüßten, daß Gott ein
Genie sei, das wenig danach frage, ob man es für vernünftig oder unvernünftig halte.
Es ist in der Tat nicht Jedem gegeben, die tiefe Ironie Gottes in der Weltschöpfung, so
wie in jedem seiner Akte zu begreifen. Es ist ein Anderer, der B setzt, und ein anderer,
der es überwindet; aber nicht ein anderer Gott. Die Freiheit Gottes besteht im Zusam-
menhalten dieser Absurdität«20.
So wie sich das Personsein des Menschen dadurch vollzieht, daß dieser
aus seinen Möglichkeiten bestimmte Möglichkeiten auswählt — setzt, wie
Schelling sagt - und dadurch andere ausschließt, so vollzieht sich auch
das Personsein Gottes.
Die Wahl der Möglichkeiten erschließt aber auch neue Möglichkei-
ten, die ebenfalls wieder ergriffen oder verworfen werden müssen, d. h.
die Spannung der Potenzen A und B, die den Prozeß des Sichseinerselbst-
bewußtwerdens vorantreibt, durch den sich das Personsein darstellt, er-
gibt sich in jeder Phase neu. Auch Gott wird sich im Verlauf des Natur-
prozesses und des Kulturprozesses erst seiner selbst bewußt, vorsichtiger
formuliert: er realisiert die Möglichkeiten sukzessiv, die schon immer
durch ihn selbst in ihm gesetzt waren. Das bedeutet, daß Natur- und
Kulturprozeß nicht in jedem ihrer Momente durch Antizipation des Gan-
zen oder durch virtuelle Inklusion des Ganzen einen der Vernunft einsich-
tigen Entwicklungsgang nehmen — alles Wirkliche ist ja vernünftig oder
soll vernünftig sein —, sondern daß Natur- und Kulturprozeß sukzessiv
jeden einzelnen ihrer Momente aus dem unmittelbar vorangehenden er-
zeugen. Gott vollzieht die Schöpfung schrittweise. Und wenn zu einer
menschlichen Person auch das Irrationale gehört, das diese erst überwin-
den muß, so gilt dies auch für die Person Gottes. Eben deshalb gehört
auch die Irrationalität, freilich als zu überwindende, zur Realität des
18
Vgl. Wolfram Hogrebe, Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik
im Ausgang von Schellings »Die Weltalter«, Frankfurt 1989, S. 41 ff.
19
Solche Mißverständnisse, »die, wenn sie nicht absichtlich sind, einen Grad von dialekti-
scher Unmündigkeit voraussetzen, über welchen die griechische Philosophie fast in ihren
ersten Schritten hinaus ist, machen die Empfehlung des gründlichen Studiums der Logik
zur dringenden Pflicht.« (Friedrich W. J. Schelling, Philosophische Untersuchungen über
das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, in:
Schriften von 1806-1813, Darmstadt 1990, S. 286). Schellings logische Argumentation
beginnt auf S. 288.
20
Friedrich W.J. Schelling, Philosophie der Offenbarung 1840/41, hg. Manfred Frank,
Frankfurt, 1977, S. 256.

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Wirklichkeitsprozesses. Für diesen als ganzen gilt, daß Gott mit seinen
Möglichkeiten immer schon vorausgesetzt ist. Daher verfährt eine Philo-
sophie der Offenbarung a posteriori im Denken, jedenfalls, was den Be-
griff »Gott« angeht. Nur im Blick auf die aus dieser Tatsache folgende
wissenschaftliche Methodik vermag sie a priori zu verfahren21.
Schelling nennt in der Philosophie der Offenbarung dieses in aller
Rekonstruktion der Wirklichkeitserfahrung stets vorausgesetzte Sein Got-
tes das »unvordenkliche Sein«. Der ganze Wirklichkeitsprozeß ist von
ihm abhängig, insofern als dieser stets neue Möglichkeiten hervorbringt
und eben darin eine Manifestation Gottes ist. Anders als bei Hegel kehrt
der Wirklichkeitsprozeß im Absoluten nicht zu sich selbst zurück, son-
dern ist nach vorne hin offen. Anders auch als bei Hegel werden die
Widersprüche in seiner Bewegung nicht durch den dritten Schritt der Dia-
lektik »aufgehoben«, sondern die Spannungen zwischen den verschiede-
nen Kräften, den Potenzen, bleiben erhalten und erzeugen gerade dadurch
Zunahme an Möglichkeiten, neue Spannungszustände, die den Prozeß
vorantreiben. Auch Gott unterwirft sich nach Schelling diesem Prozeß.
Die hieraus sich ergebenden Einsichten in die Geschichte Gottes mit sich
selbst sind keine müßige Spekulation, sondern ganz im Gegenteil der Ver-
such, Gott als den lebendigen Gott begreifbar zu machen.
»Verlangen wir einen Gott, den wir als ein ganz lebendiges, persönliches Wesen anse-
hen können, dann müssen wir ihn eben auch ganz menschlich ansehen, wir müssen
annehmen, daß sein Leben die größte Analogie mit dem menschlichen hat, daß in ihm
neben dem ewigen Seyn auch ein ewiges Werden ist, daß er mit Einem Wort alles mit
den Menschen gemein hat, ausgenommen die Abhängigkeit.« 22

Werden ist, wie gesagt, stets gesetzt; was gesetzt wird, ist das jeweilige
Sein Gottes, so daß es zu immer neuen Stufen kommt, auf denen Sein und
Gesetztsein dieses Seins ihrerseits zum Sein werden, das einer erneuten
Setzung bedarf. Dies ist der theogonische Prozeß bei Schelling, und er
bedeutet, daß Gott stets neue Möglichkeiten hinzugewinnt. Das Absolute
wird anders als bei Hegel niemals mit sich selbst fertig.

IV. Was versteht Schelling unter dem Mythologischen Prozeß?

Schellings Philosophie des Mythos wird von der neueren Forschung


häufig als einer der wichtigsten Belege für das romantische Projekt einer
21
»In Ansehung des Menschen ist freylich alle Wissenschaft Erinnerung: in Bezug auf die
Ewigkeit nicht, welche nie Vergangenheit werden kann. Nur der Mensch bedarf der Be-
freyung, damit sein Wesen wieder sey, was es an sich ist, ein Blick der lautersten Gottheit,
in welchem so wenig ein Subjekt oder Objekt unterschieden ist, als in ihr selber. Daher
ist gerade die Erkenntnis des Höchsten die einzige ihrer Art, was Unmittelbarkeit betrifft
und Innigkeit« (Friedrich W. J. Schelling, Die Weltalter, Ausgewählte Schriften, hg. Man-
fred Frank, Band 4, S. 228).
22
Friedrich W. J. Schelling, Stuttgarter Privatvorlesungen, in: Ausgewählte Schriften, hg.
Manfred Frank, Band 4, Frankfurt 1985, S. 44.

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Schellings Philosophie der Offenbarung 67

Neuen Mythologie in Anspruch genommen, die die rationalistischen anti-


religiösen Eskapaden der Aufklärungsphilosophie überwinden und die re-
ligiöse Sehnsucht der Menschen wieder in ihr Recht einsetzen sollte. Man-
fred Frank hat diesem Projekt unter dem Titel »Der kommende Gott«
umfangreiche Studien gewidmet, die der Identifikation von Christus mit
Dionysos in der Romantik bis hin zu Nietzsche nachgehen; Christoph
Jamme ist ihm in seiner »Einführung in die Philosophie des Mythos« mit
der Zuordnung Schellings zu dieser Tradition gefolgt. Doch bleibt bei
dieser Zuordnung rätselhaft, weshalb Schelling in der Philosophie der
Offenbarung die spezifische Wahrheit des christlichen Glaubens gerade
darin erblickt, daß dieser von den naturhaften Zwängen der mythischen
Religionen, die sich ihm in besonderer Weise in den antiken Mysterienreli-
gionen darstellen, also auch in dem Dionysoskult, befreit.
Freiheit ist das Resultat des Geistes und zwar wiederum deswegen,
weil der Geist nicht in bezug auf sich in abstrakter Unmittelbarkeit ver-
harrt, also bloß A, im Anfangszustand ist, sondern weil er als A aus sich
heraus und damit in Erscheinung tritt. Weil er in diesem Akt sich selbst
losläßt, ist er die Wurzel aller Freiheit: derjenigen Gottes und derjenigen
des Menschen. Schelling formuliert:
»Freiheit ist unser und der Gottheit Höchstes«23.
Die Bestimmung von »Freiheit« ist das Leitmotiv Schellingschen Denkens,
und deshalb kann die Philosophie des Mythos nur die Voraussetzung der
Philosophie der Offenbarung sein, jedoch nicht, wie es Frank und Jamme
wohl annehmen, das proprie intentum Schellingschen Denkens.
Wolfram Hogrebe ermittelt für Schellings Interesse an der mytholo-
gischen Überlieferung einen anderen Grund. 1802 habe sich Schelling in
seinem Jenaer Freundeskreis mit Dantes Göttlicher Komödie beschäftigt.
An diesem klassischen Text habe ihn vor allem fasziniert, wie es Dante
gelungen sei, das Wissen seiner Zeit in poetischer Form darzustellen, so
daß dieses Wissen jedermann zugänglich gewesen sei. Schelling habe dar-
aufhin beschlossen, seine Naturphilosophie in poetischer Form darzustel-
len24. Das Motiv dafür war eben der Wunsch, die neuen wissenschaftli-
chen Erkenntnisse allgemein zugänglich zu machen, rundheraus: zu popu-
larisieren. Das Phänomen der buchstaben- und schriftlosen Wissensüber-
lieferung in Form von Mythen und Sagen beschäftigt Schelling von An-
fang an25 und ist sicher nicht zur Gänze religiös motiviert, denn als die
griechischen Mysterienreligionen dem Volksaberglauben verfielen, mußte

23
Friedrich W. J. Schelling, Urfassung der Philosophie der Offenbarung, hg. Walter E. Ehr-
hardt, Hamburg 1993, Band II, S. 79.
24
Vgl. Wolfram Hogrebe, Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik
im Ausgang von Schellings »Die Weltalter«, Frankfurt 1989, S. 14 ff.
25
1793 erscheint seine Schrift »Ueber Mythen, historische Sagen und Philosopheme der
ältesten Welt«. Vgl. Hogrebe a. a. O.

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68 Klaus Bannach

sich die Philosophie von der Religion trennen und im Gegensatz zu dieser
esoterisch werden, also dem Diskurs unter Interessierten im Stile der Pla-
tonischen Akademie in Athen verpflichtet bleiben26. Es gehe jetzt nur
darum, daß sich die Philosophie die großen Gegenstände, die sie an die
Religion und damit an den Dogmatismus verloren hat, wieder aneignet.
Das eben geschieht in der Philosophie der Offenbarung. Erst durch sie
wird deutlich, was es mit der Philosophie der Mythologie auf sich hat,
erst durch sie wird der Unterschied zwischen wahrer und falscher Reli-
gion erkennbar.
Gewiß war der Mensch auch schon im Paradies, also im reinen Na-
turzustand, in der Wahrheit. Aber er war sich dessen noch nicht bewußt.
Die bewußt erkannte Wahrheit ist die, die den Irrtum durchschritten oder
durchlitten hat. Sie auch ist erst die ganze Wahrheit. Die natürliche Reli-
gion, die die Philosophie der Mythologie beschreibt, ist deshalb nicht wie
bei Hegel ein überwundenes Stadium in der Entwicklung der Religionsge-
schichte zur offenbaren Religion hin; sie ist vielmehr die bleibende Vor-
aussetzung dafür, daß die Religion der Offenbarung, das Christentum,
sich selbst als wahr erkennen kann. Erst dann wird deutlich, daß die
Mythologie die natürliche Religion ist, von deren Zwängen die Religion
der Offenbarung befreit. Schelling nennt dies die große Wohltat Christi27,
die als solche nur dadurch als Wohltat verstanden werden kann, daß sie
von den Zwängen der Naturreligion befreit.
Der produktive Beitrag schon der ersten Vorlesungen der Philosophie
der Offenbarung in ihrer Urfassung zu einer in der Theologiegeschichte
unseres Jahrhunderts z. B. zwischen Brunner einerseits und Barth ande-
rerseits so heftig umstrittenen Frage liegt auf der Hand. Und, so muß
man überrascht feststellen, er hat immer noch Klärendes zum Problemfeld
Natürliche Theologie contra Offenbarung zu sagen. Schelling unterschei-
det einerseits scharf zwischen natürlicher und offenbarer Religion; ande-
rerseits setzt er sie durch diese Unterscheidung auch zueinander in Bezie-
hung. Denn
»Es gibt nur eine Wahrheit, nämlich jene, welche gegen den Irrtum den Sieg errungen
hat. Die Wahrheit des Christentums ist nicht eine unmittelbar gegebene, sondern eine
gesteigerte, darum weit höhere, so daß man sagen kann: Der Mensch hat durch den
Irrtum weit mehr gewonnen, als verloren«28.
Es ist die Wahrheitserkenntnis der Bußfertigen, über die nach Jesu Wort
mehr Freude im Himmel ist als über 99 Gerechte, die der Buße nicht
bedürfen29, (Matth 18,13; Luk 15,7).
26
Vgl. Friedrich W. J. Schelling, Philosophie und Religion, Ausgewählte Schriften, hg. Man-
fred Frank, Band 3, S. 26 ff.
27
»Befreiung von dem Heidentum war die Hauptwohltat Christi« (Friedrich W. J. Schelling,
Urfassung der Philosophie der Offenbarung, hg. Walter E. Ehrhardt, Hamburg 1993,
Band I, S. 7.
28
Ebenda.
29
Ebenda.

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Schellings Philosophie der Offenbarung 69

Aber Schelling treibt die Differenzierung des Verhältnisses zwischen


natürlicher und offenbarer Religion noch weiter. Denn was heißt schon
»wahr« und »falsch« im Blick auf gelebte Religion? Es kann ja nicht
nur um Überzeugungen gehen, nicht nur um kirchlich sanktionierte oder
verworfene Dogmatik. Alle Religionen sind nämlich in einer bestimmten
Hinsicht gleich. In allen gibt es Gebete, rites de passage, öffentliche Ver-
sammlungen, grundlegende schriftliche oder mündliche Überlieferung,
also das, was die Religionsphänomenologie beschreibt. Unterschieden
aber sind Religionen darin, was für eine Rolle diese Elemente in ihnen
spielen, welche wichtig sind für ihr gesamtes Erscheinungsbild und welche
nicht. Und dies ist eben bei einem Vergleich zwischen Heidentum und
Christentum der springende Punkt: die Religion der Offenbarung bürdet
dem Menschen keine zusätzlichen Lasten auf; sie setzt ihn vielmehr von
überflüssigen Lasten frei. Denn das tägliche Brot reicht ganz und gar an
Last.
Und schließlich kann das Verhältnis zwischen natürlicher und offen-
barer Religion nicht im geschichtlichen Niemandsland bestimmt werden.
Es wandelt sich mit den geschichtlichen Umständen. Das gilt nach Schel-
ling, nachdem es dank der Aufklärung nicht nur natürliche und positive
Religion, sondern noch die Religion der Vernunft gibt, erst recht. In dieser
Situation haben natürliche und offenbare Religion in ihrer Frontstellung
gegen die Rationalisierung aller Religion in der Aufklärungsphilosophie
mehr Gemeinsamkeiten als offenbare Religion und Vernunftreligion, un-
beschadet der Tatsache, daß sich das Christentum nicht als unmittelbar
entstandene Religion ankündigt, sondern als Erlösung von blinder
Macht30. Die geschichtliche Betrachtungsweise erlaubt es aber, die ganze
Entwicklung der Religionsgeschichte als eine Kette zu betrachten, in der
kein Glied fehlen darf 31 . Dies verkennen Religionstheoretiker wie Mat-
thew Tindal, die die Vernunft an Stelle von Mythos und Offenbarung
setzen wollen. Es ist zwar wahr, daß das Christentum so alt ist wie die
Grundlegung dieser Welt, wie es Tindal schon im Titel seines Buches wie
mit einer Fanfare ankündigt32. Aber in einem ganz anderen Sinn, als Tin-
dal sich das dachte. Die positive Religionsgeschichte, Mythos und Offen-
barung, können nicht in eine allgemeine Vernunft, wie sie auch den Na-
turgesetzen zugrundeliegt, transformiert werden. Das würde die Aufhe-
bung der sehr besonderen Geschichte Gottes mit dieser Welt bedeuten,
deren Ende ja noch aussteht. Im Sinne Tindals hätte Gott mit dieser Welt
zwar einen Anfang gemacht; sie hätte aber kein Ende. Dann hätte Gott
aber auch keine Geschichte mit dieser Welt, weil alle Geschichten einmal
zu Ende gehen, was Geschichten erst zu Geschichte macht.

30 Ebenda, S. 14.
31 Ebenda S. 15.
32
Matthew Tindal »Christianity äs old äs Creation; or, the Gospel a Republication of the
Religion of Nature«, London 1732.

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70 Klaus Bannach

Mit anderen Worten: wir haben bei Schelling einen doppelten Begriff
von natürlicher Theologie.
Natürliche Theologie meint einmal die vorchristliche Religionsge-
schichte, wie sie Schelling vor allem in den griechischen Mysterienreligio-
nen repräsentiert sieht und denen er umfangreiche Forschungen widmet.
Sie ist Gegenstand der Philosophie der Mythologie und notwendige Vor-
aussetzung der Offenbarung. Natürliche Theologie meint zum anderen
den Versuch, das Christentum als Sonderphänomen in eine allgemeine
Vernunftreligion einzuordnen. So wie es die Deisten tun. Diesen Versuch
bekämpft Schelling aufs schärfste, indem er in der Philosophie der Mytho-
logie bzw. der Philosophie der Offenbarung für das Recht und die Wich-
tigkeit der positiven Religion streitet.
Das Christentum ist seinem Wesen nach nun einmal eine geschichtli-
che Erscheinung und deshalb von einer Religion der Vernunft, wie sie die
Aufklärung verstanden hat, toto coelo verschieden. Auch das Verfahren
Kants in seiner Schrift Ȇber die Religion innerhalb der Grenzen der blo-
ßen Vernunft«, Religion vor den Angriffen der Aufklärungsphilosophie
auf sie durch ihre Umformung in Moral zu retten, wird den besonderen
geschichtlichen Erscheinungsformen des Religiösen in Mythologie und
Offenbarung nicht gerecht.
Man kommt nicht darum herum, von der prägenden Kraft des Jesus
von Nazareth auszugehen, wenn man entscheiden will, was wirkliche Re-
ligion ist. Deshalb darf man nicht von seiner Lehre ausgehen, wenn man
diese prägende Kraft fassen will. Jesus Christus muß als die Tatsache
schlechthin, als das »Objekt« verstanden werden, mit dem alle Geschichte
anhebt und in dem alle Geschichte enden wird.
Es ist für gegenwärtiges theologisches Problembewußtsein von nicht
zu überschätzender Bedeutung, daß Schelling als Naturphilosoph, der er
ja eigentlich ist, die Bedeutung des christlichen Glaubens gerade darin zu
erblicken scheint, daß der in Jesus Christus offenbare Gott der Ursprung
menschlicher Freiheit ist. Damit sind gewiß nicht alle Probleme gelöst, die
heute beim Thema »Natur« so bedrängend geworden sind. Aber es ist
eine Position markiert, hinter die wir nicht mehr zurückkönnen.

V. Der Prozeß des Christentums

Noch in anderer Hinsicht können wir hinter Schellingsche Einsichten


nicht zurück. Sie betreffen die Logik der Christentumsgeschichte, die
Schelling in den letzten Vorlesungen seiner Philosophie der Offenbarung
entwickelt.
Auch für das Christentum gilt, was für Geschichte allgemein gilt:
vergangene Ereignisse können nicht mehr ungeschehen gemacht werden.
Dies in seiner Bedeutung zu begreifen, dazu bedarf es noch keiner ge-

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Schellings Philosophie der Offenbarung 71

schichtsphilosophischen Dialektik im Stile Hegels. Es genügt, begreiflich


zu machen, was geschehen ist. Denn Vergangenheit ist der Stoff, aus dem
die Gegenwart gemacht wird, sei's von Menschen, sei's von Gott.
»Die Geschichte ist die unwiderstehliche Autorität: ich möchte nicht sagen, wie Schiller
>sie ist das Weltgericht< wohl aber >ihre Urteile sind Gottes Urteilen Sie zurückzudrän-
gen ist so unmöglich, als den mächtigen Strom in seine Quelle zurückleiten oder den
erwachsenen Baum in seinen Keim zurückdrängen zu wollen«33
So weiß der Protestantismus von sich selbst, daß er geschichtlich gesehen
nur eine Übergangserscheinung ist. Das gilt im Prinzip auch für die katho-
lische Kirche. Nur bewahrt sie die geschichtliche Kontinuität der Jesus-
überlieferung auf. Ohne den Papst, sagt Schelling, ausdrücklich nur auf
ein geschichtliches Faktum hinweisend und ohne sich zur Plausibilität des
Dogmas äußernd, in dem dieses geschichtliche Faktum aufbewahrt ist,
ohne den Papst wäre Jesus Christus längst vergessen. Der Protestantismus
hat diesem Faktum und seiner Überlieferung, die im Katholizismus zu
sehr veräußerlicht war, das Prinzip der Verinnerlichung hinzugefügt: jeder
einzelne Christ müsse davon auch wirklich überzeugt sein, wenn er sich
zu Jesus Christus bekennt. Daraus sei jedoch im Laufe der Entwicklung
im Protestantismus das bloß subjektive Überzeugtsein, also die subjektive
Entschiedenheit geworden. Daß diese subjektive Entschiedenheit notwen-
diger Weise auch eine Außenseite in Ritual, Jahresfestkreis, Sakrament
und so weiter braucht, sei vergessen worden. Daher müsse der Protestan-
tismus, um sein Eigentliches zu bewahren, auf seine Überwindung aus-
sein, die nur zu einer neuen Gemeinsamkeit mit der christlichen Überliefe-
rung insgesamt in der Johanneischen Kirche führen kann. Schelling pro-
klamiert mit diesem Gedanken nicht einfach eine Forderung an die Kir-
che, wie das heute so oft gemacht wird, sondern argumentiert detailliert
exegetisch mit Joh 21,15 ff. Da geht es um die Rolle des Lieblings Jüngers
Johannes im Vergleich zu derjenigen des Petrus nach Jesu Weggang zum
Vater. Was bedeutet das in Jesu Antwort an Petrus? Was, daß
Johannes bleiben soll, bis Jesus wiederkommt? Gewöhnlich, so Schelling,
wird das verstanden als Hinweis darauf, daß Johannes nicht den
Märtyrertod wie Petrus erleiden wird. So z. B. Albrecht Bengel, der na-
mentlich genannt wird. Schelling wendet ein, das müsse im Zu-
sammenhang mit dem verstanden werden, und dann sei Jo-
hannes derjenige, der Jesu Wiederkunft ankündige. Endgestalt des Chri-
stentums ist daher die johanneische Kirche, die alle christlichen Überliefe-
rungsströme in sich integriert zur neuen Einheit des corpus christianum.
Diese Einheit ist eine eschatologische Realität, die Jesu Wiederkunft an-
kündigt.

33
Friedrich W. J. Schelling, Urfassung der Philosophie der Offenbarung, hg. Walter E. Ehr-
hardt, Hamburg, 1992, S. 697.

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Hegel hat in seiner Religionsphilosophie die christliche Kirche und


ihre Geschichte als die objektiv gewordene Form des Geistes dargestellt.
Dessen dialektischer Fortgang ist linear. Die göttliche Unendlichkeit ent-
läßt aus sich heraus alle Gestalten geschichtlicher Mächte und so alle
Gestalten in ihrer jeweiligen Endlichkeit. Es ist stets ein Mißverständnis
gewesen - oder wenn man so will: eine fabula proprie theologica —, als
werde damit der Unterschied zwischen dem Endlichen und dem Absolu-
ten eingeebnet. Aber Schellings Kritik an Hegel trifft, aus theologischer
Sicht, den Nagel auf den Kopf: die Vermittlung zwischen Endlichkeit und
Unendlichkeit wird bei Hegel zu einem notwendigen, weil vernünftig fort-
schreitenden Prozeß. Dagegen konzipiert Schelling die Vermittlung von
Unendlichkeit und Endlichkeit schon in den Weltaltern (1811) christolo-
gisch: Gott entschließt sich in Jesus Christus zur Welt, das Unendliche
entreißt sich seiner selbst, es macht einen Sprung. Dies war schon bei der
Schöpfung der Welt so. Daher ist Jesus Schöpfungsmittler. Und das wird
auch am Ende der Welt so sein. Dann wird Jesus Christus der Weltenrich-
ter sein, der sein Reich dem Vater zur Verherrlichung zurückgibt.

VI. Zur theologiegeschichtlichen Bedeutung von Schellings


Philosophie der Offenbarung

Die christologische Fassung der Beziehung zwischen dem Unendli-


chen und dem Endlichen ist wahrscheinlich das deutlichste Indiz für
Schellings Spätphilosophie. In dem »Entwurf der gesammten Philoso-
phie« (1804) spielt Christus noch keine Rolle. Erst in der Freiheitsschrift
aus dem Jahre 1809 wird Christus Mittelpunkt des Freiheitsprozesses. In
der Philosophie der Offenbarung ist Jesus Christus dann die der Welt
zugewandte Seite Gottes sowohl bei der Schöpfung als auch bei der Inkar-
nation. Und er wird es auch bei seiner Wiederkunft sein. Es ist wichtig,
daß man sich klarmacht, daß Schelling von der Vergangenheit her denkt.
Denn nur so wird verständlich, inwiefern die Inkarnation Gottes in Jesus
Christus die Neuschöpfung oder sogar die eigentliche Schöpfung des Seins
darstellt, nachdem der Mensch in seinem Sein als Naturwesen die »erste
Schöpfung« verdorben hat. Und damit für den Menschen oder für die
Menschheit die Freiheit, noch einmal neu zu beginnen und für diesen
Neubeginn Verantwortung zu tragen. Man darf daher nicht die Bedeu-
tung Jesu Christi für die Geschichte der Offenbarung auf das Auftreten
Jesu in Israel und seinen Tod beschränken, wie es Dietrich Korsch in
seiner Untersuchung »Der Grund der Freiheit« tut34. Dieses zentrale Er-

34
Dietrich Korsch, Der Grund der Freiheit. Eine Untersuchung zur Problemgeschichte der
positiven Philosophie und zur Systemfunktion des Christentums im Spätwerk F. W. J.
Scheliings, München 1980, S. 299.

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Schellings Philosophie der Offenbarung 73

eignis expliziert vielmehr, was für die Beziehung der endlichen Welt zu
dem unendlichen Gott immer schon gegolten hat und immer gelten wird.
Auch hier sind, wie stets bei Schelling, Seinsgrund (der Wille Gottes) und
Seinsvollzug (das Auftreten Jesu Christi als Hort der Freiheit) streng von-
einander zu unterscheiden. Diese Unterscheidung hat eine Schlüsselfunk-
tion in Schellings Denken. Sie ist es auch, die alle wirklichen oder durch
die Forschung bloß rekonstruierten Phasen in seinem Denken übergreift.
Sie ist es schließlich, die am ehesten eine theologiegeschichtliche Einord-
nung von Schellings Denken erlaubt, dessen Spuren man bei Schleierma-
cher und Kierkegaard, bei Tillich und Barth, wenn auch in je unterschied-
lichen Problemstellungen, finden kann.
Die Unterscheidung von Seinsgrund und Seinsvollzug hat eine lange
Tradition. Schelling weist in der Philosophie der Offenbarung selbst dar-
auf hin, indem er diese Unterscheidung mit der scholastischen Terminolo-
gie quid est und quod est dingfest macht. Sie kann mit Avicenna auch als
essentia und existentia oder mit Thomas' Erstlingsschrift auch als essentia
und esse unterschieden werden und meint immer das Gleiche, daß näm-
lich aus dem Wesen, dem quid eines Seienden dessen Dasein, also dessen
quod, unmittelbar folgt. »Unmittelbar« logisch verstanden, nicht zeitlich.
Vorausgesetzt, wir fassen die Wirklichkeit als System auf, wobei unter
System nichts anderes verstanden werden soll als ein Bündel von Ereig-
nissen oder Tatsachen, die so auf einander reagieren, daß der Endzustand
des Systems vom Anfangszustand unterschieden ist. Schelling sagt denn
auch gleich zu Beginn seiner Freiheitsschrift, daß es noch nicht der Sy-
stemgedanke als solcher ist, der Freiheit ausschließt. Schließlich könne
man die ganze Welt als System begreifen. Wohl aber wäre Freiheit ausge-
schlossen, wenn in der Weise des Neuplatonismus aus dem quid eines
Ereignisses oder einer Tatsache das quod von selbst folgte. Schelling
macht dies u. a. an der Liebe Gottes zu allen seinen Geschöpfen klar.
Wenn die Liebe Gottes zugleich deren Realität wäre, dann wäre sie so
unendlich wie Gott selbst unendlich ist. D. h. sie könnte als die göttliche
Liebe in einer endlichen Welt gar nicht in Erscheinung treten. Daher ist
die Liebe Gottes nur Realität, wenn Gott in ihr seinen Zorn überwindet
und sich so auf seine eigene Geschichte mit der Menschheit bezieht. Ab-
strakt formuliert: Mögliches wird nur dann wirklich, wenn es eigens ge-
wollt und weil gewollt, gesetzt wird. Das bedeutet nun aber - und das
ist das punctum saliens bei der Frage nach der theologiegeschichtlichen
Folge von Schellings Philosophie der Offenbarung —, daß die für das
Verständnis der reformatorischen Rechtfertigungstheologie so ungemein
wichtige Formel operari sequitur esse nicht mehr so ohne weiteres zu
halten ist bzw. sich die Frage stellt: was heißt hier »sequitur«? Im Bild:
ein guter Baum bringt nicht schon deshalb gute Früchte, weil er wächst
und gedeiht, sondern weil er als guter Baum die faulen oder verdorrten
Früchte abwirft und sich so tatsächlich als guter Baum erweist. Bei Schel-

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74 Klaus Bannach

ling selbst tritt dieses Problem in seiner Schärfe noch nicht auf, und zwar
deshalb nicht, weil in der durch Jesus Christus bewirkten Versöhnung
zwischen dem unendlichen Gott und dem endlichen Menschen die Frei-
heit herrscht, von seinen Möglichkeiten freien Gebrauch zu machen und
so ein guter Baum zu werden. Theologisch formuliert: Freiheit ist nur
möglich im Geltungsbereich der Herrschaft Christi. In Schellings Begrif-
fen: Freiheit ist nur möglich in einem System, das weder endlich sein muß
noch unendlich sein muß, sondern das sein kann, was es ist. Schelling
kann daher in einem Atemzug zwei scheinbar völlig verschiedene Aussa-
gen machen, um Freiheit in dieser Welt zu charakterisieren.
»Die meisten Menschen scheuen sich vor der Freiheit, wie sie sich vor der Magie, vor
allem Unerklärbaren, und besonders vor der Geisterwelt scheuen. Die Freiheit ist die
wahre, eigentliche Geistererscheinung; darum wirft ihre Erscheinung den Menschen
vor sich nieder; die Welt beugt sich ihr. Aber wie wenige wissen mit diesem zarten
Geheimniß umzugehen; darum sehen wir, daß die, die in den Fall kommen, dieses
Götterrechts zu gebrauchen, wie Rasende werden, und von dem Wahnsinn der Willkür
ergriffen in denjenigen Handlungen die Freiheit zu bewähren suchen, denen alles Ge-
präge innerer Nothwendigkeit fehlt, und die darum die zufälligsten sind. Nothwendig-
keit ist das Innere der Freiheit; darum läßt sich von der wahrhaft freien Handlung kein
Grund angeben; sie ist so, weil sie so ist, sie ist schlechthin, ist unbedingt und darum
nothwendig. Aber als solche ist die Freiheit nicht von dieser Welt«35.

SUMMARY

Schelling's Philosophy of Revelation has seldom been read äs a theological book, al-
though Schelling uses to a large extent biblical material. This is probably due to the fact that
the book has survived until 1993 only äs reportatio of the famous lecture given by Schelling
in 1841/42 in Berlin. Since W. E. Ehrhardt has published 1993 the original text, it is much
more visible that Schelling aimed at a christologically founded theory of human freedom.
That God became a human being in Christ means that mankind is set free from all blind
forces of nature. It seems to be important to remind of that fact today äs the relation of
mankind to nature is object of debate in almost all sciences.

35
Friedrich W. J. Schelling, »Über den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt« in:
Ausgewählte Schriften, Band 4, hg. Manfred Frank, Frankfurt, 1985, S. 135.

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