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Grundlegung und Aufbau


der Ethik

Nadi den Vorlesungen über


„Praktische Philosophie“
aus dem Nachlaß herausgegeben von
FRANZISKA MAYER-HILLEBRAND

FELIX MEINER VERLAG


HAMBURG
PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 309

1952 Erste Auflage, erschienen im A. Francke Verlag, Bern


1977 Übernahme ind die Pholosophische Bibliothek als Band 309
1978 Unveränderter Nachdruck

Vorliegende Ausgabe: Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhalt­


lich mit der Ausgabe von 1978 identisches Exemplar. Wir bitten um Ver­
ständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der
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ISBN eBook: 978-3-7873-2585-6

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1978. Alle Rechte vorbehalten.


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IV Vorwort der Herausgeberin

Schrift „Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis“ nicht etwa eine


Ethik geben — das hat er in seinen nunmehr hier der Öffentlich­
keit vorgelegten Vorlesungen über „Praktische Philosophie“ ge­
tan —, sondern er führte nur „die psychologische Analyse des in
uns allen lebendigen sittlichen Bewußtseins 'bis zu den lebten
Erfahrungen (zurück), aus denen die Begriffe der in sich gerecht­
fertigten Gemütstätigkeiten (Wertungen und Bevorzugungen)
und daran anknüpfend unsere apriorischen Wert- und Vorzugs­
axiome entspringen“.
Die Veröffentlichung der Ethik-Vorlesungen hat lange auf sich
warten lassen, was einerseits durch die Auflösung der Brentano-
Gesellschaft in Prag im Jahre 1938 und die Flucht von
0. Kraus vor dem damals einsetjenden Terror nach England,
andererseits durch die Kriegs- und Nachkriegsereignisse bedingt
war. Doch hat während dieser Zeit A. K a s t i 1 in der Ab­
geschiedenheit des ihm als Wohnsitj zur Verfügung gestellten
Brentanohauses in Schönbühel a. D. die noch ungedruckten
Schriften geordnet und für einen künftigen Druck vorbereitet.
Um so eifriger widmete er sich seiner Lebensaufgabe, die
Lehren Brentanos zu bewahren, zu interpretieren und aus­
zubauen, je größere äußere Schwierigkeiten sich ihm entgegen­
stellten. Nach dem 1942 erfolgten Tode seines wissenschaftlichen
Weggefährten O. K r a u s und dem Verlust mehrerer hoffnungs­
voller Schüler alleingeblieben, hat er sich doch in seinem Streben
durch die Ungunst der Verhältnisse nicht entmutigen lassen.
Seiner unermüdlichen, auf gründlichster Kenntnis aller Einzel­
heiten der Brentanolehre fußenden Vorarbeit sowie dem ver­
ständnisvollen Entgegenkommen des Francke-Verlags
in Bern, der die Weiterführung der Gesamtausgabe der Bren­
tano-Werke in einer gewiß nicht leichten Zeit übernommen hat,
ist es zu verdanken, daß ich heute imstande bin, die Ethik
B r e n t a n o s der philosophisch interessierten Welt vorzulegen.
Der Inhalt des vorliegenden Bandes, mit welchem die Weiter­
führung eingeleitet wird, bilden Gedankengänge, die von
Brentano (wie aus seinen Briefen an A. Marty von Ok­
tober bis Dezember 1876 hervorgeht) im Wintersemester 1876
niedergeschrieben und während, seines Wirkens an der Univer-
Vorwort der Herausgeberin

Franz Brentano hat zu den Grundlagen der Ethik schon


in der 1889 erschienenen Abhandlung „Vom Ursprung sittlicher
Erkenntnis“ Stellung genommen, die ihre Entstehung einem am
23. Januar des gleichen Jahres in der Wiener Juristischen Ge­
sellschaft gehaltenen Vortrag verdankt. In zweiter und dritter
Auflage (1921 und 1934) wurde dann die kleine Schrift in der
nach dem Tode Brentanos von 0. Kraus und A. K a s t s 1
in Angriff genommenen Gesamtausgabe der Brentano-Werke
im Verlag F. Meiner in Leipzig herausgegeben. Sie erschien
damals mit einer Einleitung von O. Kraus, zusammen mit
einigen anderen 'kleineren Aufsätjen über Ethik.
Wie Kraus schreibt, hat diese kaum vierzig Seiten um­
fassende Abhandlung auf die moderne Werttheorie den größten
Einfluß geübt und auf sie gehen die meisten der seither er­
schienenen Werke über Ethik direkt oder indirekt zurück. Sie
stelle den bedeutendsten Fortschritt dar, den die Geschichte der
Ethik und Werttheorie seit dem griechischen Altertum zu ver­
zeichnen habe.
Schon G. E. Moore hatte sich über die 1902 erschienene
Übersetjung geäußert, daß sie die Grundlagen der Ethik weitaus
besser behandle als alle anderen ihm bekannten Werke: „It
would be difficult to exagerate the importance of this work.“
Doch blieb das kleine Buch in weiteren Kreisen ziemlich un­
bekannt und seine grundlegende Wichtigkeit wurde zumeist
übersehen. Aber auch jene, die seine Bedeutung erkannten,
empfanden doch ein dringendes Bedürfnis nach näherer Aus­
führung der in äußerst knappen Zügen skizzierten Theorie, daß
wir im Besitje eines unmittelbaren Maßstabes für „gut“ und
„schlecht“ sind.
Brentano wollte jedoch, wie Kraus bemerkt, in seiner-
Vorwort der Herausgeberin V

sität Wien (bis 1894) mehrmals — selbstverständlich nicht in


genau der gleichen Form — als Kolleg vorgetragen wurden. Das
Originalmanuskript befindet sich jetjt in den USA, wo Prof. J. C.
M. Brentano, der einzige Sohn des Philosophen, an der
Northwestern Universität in Evanston tätig ist. Es wurde dort­
hin vor kurzem von Oxford gebracht, wo die Bodleyan-Library
den aus Prag geretteten Schriften Unterstand und Sdnit} ge­
währt hatte.
Die vor Jahren in Prag angefertigten Kopien der Ethikvor­
lesung wurden von Kastil in den Sommermonaten 1941 und
1942 sowie nochmals 1943 und 1946 durchgesehen und redigiert,
wobei an manchen Stellen Ergänzungen aus K a s t i 1 s auf
Brentano zurückgehenden Vorlesungen und aus Arbeiten
von O. Kraus eingefügt wurden. Einiges wurde auch aus
mderen Schriften Brentanos aufgenommen. Doch bemerkt
Kastil auf einem beigefügten Blatt, daß das Manuskript einer
nochmaligen Bearbeitung bedürftig wäre. Diese Bearbeitung, die
Kastil selbst nicht mehr vornehmen konnte, habe ich, als mir
nach dem am 20. Juli 1950 erfolgten Tode K a s t i 1 s der
wissenschaftliche Nachlaß Franz Brentanos anvertraut
wurde, durchzuführen gesucht, mich dabei nach Möglichkeit in
den Geist des großen Meisters versenkend und den Intentionen
meines verehrten Lehrers A. K a s t i 1 s mich anpassend.
Das Manuskript wurde von der Vorlesungsform in Buchform
gebracht, die Anmerkungen wurden vermehrt und in den Text
auch einige Stellen aus dem Ethikkolleg F. Hillebrands
eingefügt, der in Wien mehrere Jahre lang Schüler Bren­
tanos gewesen war und bis zu dessen Tode mit ihm in Ver­
bindung blieb. Alle diese Ergänzungen sind durch entsprechende
Hinweise in den Anmerkungen kenntlich gemacht.
Ein Wegbereiter nicht nur für die Ethik, sondern für die
Grundgedanken Brentanos überhaupt, liegt uns in der
zusammenfassenden, kürzlich im Francke-Verlag erschienenen
Darstellung K a s t i 1 s, „Die Philosophie Franz Brentano s“,
vor. So kann ich mich in diesen einleitenden Worten kurz fassen.
Wenn wir die Entwicklung der Werttheorie überblicken, so
bieten sich uns die größten Gegensätze in den Vertretern und in
VI Vorwort der Herausgeberin

den Leugnern allgemein gültiger Prinzipien dar. Platon und


Protagoras — Thesis und Antithesis! Sehen wir aber näher
zu, so ergibt sich, daß wir uns nicht vorbehaltlos auf die eine
Seite stellen dürfen. Auch der radikale Skeptiker Protagoras
hatte insofern recht, als vom Subjekt ausgegangen werden muß,
also darin, daß man ohne Wertenden überhaupt nicht von
richtig und unrichtig sprechen könne. Aber für ihn ist der Wert
kein allgemein gültiger, der Mensch ist ja das Maß aller Dinge,
von seinem Erleben hängt es daher ab, was für ihn wertvoll ist.
Platon hat sich wiederum dadurch ein gar nicht hoch genug
einzuschätjendes Verdienst erworben, daß er einen solchen Re­
lativismus aufs schärfste bekämpfte. Aber er hat dafür ein
fiktives Reich der Ideen errichtet, das sich als widerspruchsvoll
und unhaltbar erweist. Durch die Geschichte der Philosophie und
Werttheorie zieht sich dieser Kampf, die Namen wechseln, die
Gedanken bleiben im wesentlichen die gleichen.
Eine Synthesis zwischen beiden Standpunkten erscheint jedoch
möglich: durch Festhaltung der Allgemeingültigkeit ethischer
Prinzipien, dabei aber Berufung auf einen Wertenden, auf den
in einem Erkenntnisakt sein Wertgefühl als richtig Erkennenden.
Nicht der Mensch als solcher wird so das „Maß aller Dinge“,
sondern der einsichtig urteilende Mensch, d. h. der
Erkennende.
Das ist der von Brentano klar analysierte Tatbestand,
bemerkt und andeutend beschrieben bereits von manchem seiner
Vorgänger. Die Lehre von der Evidenz und ihrem Analogon auf
emotionellem Gebiet gehört wohl zu Brentanos bedeutend­
sten Leistungen; selbst wenn wir ihm nichts anderes verdankten,
wäre er unter die größten Weisheitslehrer der Menschheit zu
zählen. Durch den Hinweis auf unser unmittelbares Erleben einer
als richtig charakterisierten Liebe bzw. eines als richtig charak­
terisierten Bevorzugens hat er die Ethik, ebenso wie zuvor die
Erkenntnistheorie durch den Hinweis auf die Evidenz gewisser
Urteile, auf eine neue und feste Basis gestellt.
Man hat die Evidenzlehre Brentanos mit dem Vorwurf
des Psychologismus treffen wollen, d. h. ihr vorgeworfen, daß
sie in unberechtigter Weise psychologische Feststellungen, näm-
Vorwort der Herausgeberin VII

lieh das Erlebnis eines Zustimmungsdranges, auf Erkenntnis­


theorie und Ethik übertrage und aus Tatsachen, denen nur ein­
malige Geltung zukomme, Normen mache. Dieser Vorwurf ver­
wechselt das Phänomen der Evidenz mit einem „Gefühl der
Überzeugung“.
Es gelingt mit Zugrundelegung des Evidenzkriteriums, eine
Werte- oder Gütertafel aufzustellen und Gebote bzw. Verbote
abzuleiten. Aber nur e i n Gebot gilt -unter allen Umständen:
Wähle das Beste unter dem Erreichbaren oder
in richtiger negativer Fassung: Entscheide dich bei deiner Wahl
niemals für etwas minder Gutes unter dem Erreichbaren. Alle
anderen Gebote und Verbote sind abgeleitete oder sekundäre
Regeln.
Auch das Problem der Willensfreiheit wird in dem vorliegen­
den Band eingehend 'behandelt, wobei Brentano zu der Auf­
fassung gelangt, daß nur die Determiniertheit die Freiheit des
Wollens und Handelns sichere.
So erwächst Brentanos Ethik als geschlossenes und har­
monisches Ganzes. Sie ist weder heteronom, indem sie ein
fremdes, noch autonom, indem sie das eigene Willensgebot als
verpflichtend anerkennt, sondern orthonom im Sinne eines
seiner selbst sicheren Bewußtseins der Richtigkeit der Liebe und
des Hasses. So füllt das vorliegende Werk die Lücken aus, welche
die Abhandlung „Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis“ noch
offengelassen hatte. Es bietet überdies im ersten Abschnitt eine
übersichtliche Gliederung früherer Versuche, die Ethik zu be­
gründen, und eine sehr geistvolle Kritik dieser Versuche.
Wenn sich aber auch die Ethik, wie Brentano zeigt, ohne
Metaphysik begründen läßt, so kann man sie doch ohne Meta­
physik nicht zu Ende führen. Nur das Bewußtsein von der
Existenz eines Schöpfers und Lenkers des zu immer höherer
Vollendung aufstrebenden Weltganzen ermöglicht eine optimi­
stische Lebensauffassung, die das Ringen nach Selbstvervoll­
kommnung sinnvoll erscheinen läßt.
Innsbruck, im März 1951.
FRANZISKA MAYER-HILLEBRAND
Inhaltsübersicht

Einleitung
§ 1. Theoretische und praktische Disziplinen............................. 1
§ 2. Begriff und Wert der Ethik................................................ 4
§ 3. Der Name „Praktische Philosophie“.................................. 6
§ 4. Die Aufgaben der Ethik...................................... 7

Erster Abschnitt
Von den Prinzipien der ethischen Erkenntnis
Vorbemerkungen über die Schwierigkeiten dieses Ab­
schnittes ................................................................... ... 15
I. Kapitel
Erkenntnisprinzipien als Gegenstand des Streites und der Untersuchung
§ 5. Es gibt unmittelbare Einsichten..................................................16
Man muß von Unbewiesenem ausgehen. Bedenken, die
sich hieran knüpfen. Widerlegung. Es gibt unmittelbare
Einsichten. Sie sind von zweifacher Gattung.
§ 6. Streitfragen über Erkenntnisprinzipien............................. 17
1. Zweifache Weise, wie Erkenntnisprinzipien Gegenstand
der Untersuchung werden können.
2. Erläuterung der Schwierigkeiten der Frage, von wel­
chen Sätjen ausgehend man zu Aufschlüssen über ein
gewisses Problem gelangt.
3. Erläuterung der Schwierigkeiten der Frage, ob Sä^e
unmittelbar evident seien. Wie kann es geschehen, daß
unmittelbar sicher scheint, was es nicht ist? Wie kann
es geschehen, daß einer leugnet, wovon ein anderer mit
Recht behauptet, daß er darüber unmittelbare Sicher­
heit habe?
§ 7. Ob die Möglichkeit des Zweifels den Wert der Evidenz
beeinträchtigt?.............................................................................. 22
§ 8. Rückblick auf dieses Kapitel . 23
X Inhaltsübersicht

II. Kapitel
Der Streit über die Prinzipien der ethischen Erkenntnis
§ 9. Autonome und heteronome Ethik. Ethischer Relativismus. 24
Drei Fälle der Anfechtung aufgestellter Prinzipien. Die
Verwirrung scheint hier größer als irgend sonst. Viele
■haben Prinzipien aufgestellt, aber bei jedem entstand
Streit über Evidenz oder Tragweite oder beides.
§ 10. Erläuterung des 1. Falles (Clarke) .. . 26
§ 11. Erläuterung des 2. Falles (Die Utilitarier) . . 27
§ 12.Erläuterung des 8. Falles (W ollaston).. 30
§ 13.Weitere Erläuterungen des 3. Falles (Kant)............................33
§ 14.Vervollständigung des von der Verwirrung entworfenen
Bildes............................................................................................. 40
Man streitet sogar darüber, ob die Prinzipien der ethischen
Erkenntnis Erkenntnisse oder Gefühle seien.
III. Kapitel
Sind die Prinzipien der Ethik Erkenntnisse oder Gefühle?
§ 15. Argumente für das eine und andere........................................ 42
A. Dafür, daß sie Erkenntnisse seien.
a) Erkenntnisprinzipien sind selbst Erkenntnisse.
b) Über Sittliches wird disputiert, über Gefühle läßt
sich nicht streiten.
c) Gefühle sind subjektiv, die ethischen Regeln aber
gelten für alle vernünftigen Wesen.
B. Dafür, daß sie Gefühle seien.
David Humes Ausführungen darüber. Er trägt
seine Theorie in strengerer Fassung in „A Treatise on
Human Nature“, in populärer in „Essays and Trea-
tises on several subjects“ vor.
1. Seine Analyse am Beispiele des Undanks. Er ist
weder eine wahrnehmbare Tatsache noch ein durch
den Verstand zu entdeckendes Verhältnis.
2. Das Urteil des Verstandes hat bei der sittlichen
Billigung nur vorbereitende Funktion.
3. Analogie von sittlicher und natürlicher Schönheit.
Hier wie dort ist die Billigung kein Verstandesakt.
4. Die Verhältnisse als solche, abgesehen von den an
sie geknüpften Gefühlen, entbehren der Güte.
5. Von den letzten Zwecken kann der Verstand nicht
Rechenschaft geben. Auch Tugend zählt unter diese.
6. Der subjektive Ursprung des Sittlichen im Gefühl
erklärt die Wandelbarkeit der ethischen Regeln im
Gegensatz zu den vom Verstände erkannten un­
wandelbaren logischen Regeln.
§ 16. Abwehr des Arguments: „Die Prinzipien der ethischen
Inhaltsübersicht XI

Erkenntnis müssen Erkenntnisse sein, weil über Ethisches


disputiert wird“............................................................................ 51
§17, Unmöglichke'lt, das Argument abzuwehren: Die Prin­
zipien der ethischen Erkenntnis müssen Erkenntnisse sein,
weil ja unter Prinzipien der Erkenntnis die unmittel­
baren Erkenntnisse. zu verstehen sind, aus denen die
anderen folgen............................................................ 53
§ 18. Nachweis, wie Humes’ Argumenten genügt wird, wenn
das Gefühl bei der Feststellung der Prinzipien der Ethik
nur irgendwie beteiligt ist......................................... 54
1. Wenn seine Argumente etwas beweisen, so höchstens,
daß die Prinzipien der ethischen Erkenntnis Erkennt­
nisse von Gefühlen sind.
2. Mängel seiner Psychologie lassen ihn diese Differenz
verkennen.
3. Für uns ergibt sich eine veränderte Fragestellung:
Sind die Prinzipien der Ethik Erkenntnisse von Ge­
fühlen? Bedeutsamkeit dieser scheinbar geringen Diffe­
renz.
§ 19. Untersuchung des Arguments: „Die Prinzipien -der ethi­
schen Erkenntnis können nicht Gefühle sein, weil das,
was gut und was schlecht ist, allen vernünftigen Wesen
dafür gelten muß“. Es scheint das Zugeständnis, welches
das vorige Argument zuließ, unmöglich zu machen. Ver­
legenheit, wie die Erkenntnis, wenn sie Gefühle zum
Objekt hat, die geforderte Allgemeingültigkeit des sitt­
lichen Geschmacks gewährleisten soll. Versuche, dieser
Verlegenheit zu begegnen.............................................. 59
1. durch Hinweis auf unseren göttlichen Urheber. Was'
er geschaffen, sei notwendig gut, und da er ins­
besondere auch Ursache unseres sittlichen Geschmacks
sei, so müsse dieser mit dem, was Gott billigt, über­
einstimmen.
Beides erweist sich als Sophisma. Auch liegt eine
petitio principii vor, da wir, um auch nur zu be­
haupten, daß Gott ein gutes Prinzip sei, zuerst wissen
müssen, was gut sei.
2. durch Hinweis darauf, daß der sittliche Geschmack in
der menschlichen Spezies allgemein sei. Aber
a) weder ist die Einheitlichkeit eine Tatsache, noch
b) würde sie ihn sanktionieren, denn es könnten ja
Spezies mit anderem sittlichen Geschmack in der
Mehrheit sein.
§ 20. Fortsetjung. Versuche, die Übereinstimmung aller ver­
nünftigen Wesen im moralischen Geschmack als sehr
wahrscheinlich, ja als gewiß darzutun..................... 65
I. Drei Argumente dafür:
1. Induktives Argument aus der Geschichte.
2. Deduktive Argumente aus dem psychologischen Gesetj .
der Liebe des Mittels und aus dem Kampf ums Dasein.
XII Inhaltsübersicht

3. Ausdehnung auf alle möglichen Arten vernünftiger


Wesen, gestützt auf die Gleichheit der Elemente und
Gesetje des Kosmos.
II. Ablehnung dieser Versuche.
1. Weder das induktive noch 2. die deduktiven Argu­
mente lassen Gleichheit des sittlichen Geschmacks beim
Menschengeschlechte erwarten. 3. Noch weniger bei
allen vernünftigen Wesen.
III. Auch würden diese Versuche, wenn sie selbst ge­
lungen wären, ihr Ziel verfehlen:
1. Allgemeinheit des sittlichen Geschmacks vermöchte ihn
noch nicht allgemein verbindlich zu machen.
2. In dieser Verlegenheit wollen manche die Forderung
nach Allgemeingültigkeit durch die nach Überein­
stimmung der jeweiligen Zeitgenossen ersehen. Voll­
kommene Unzulänglichkeit dieser Anpassungstheorie.
3. Andere verlangen Rücksicht auf die voraussichtliche
Geschmacksrichtung der nächsten Zukunft. Aber wie
sollte diese ohne sittliches Kriterium als Fortschritt
erkennbar sein?
IV. Kapitel
Sind die Erkenntnisprinzipien, auf welche sich die Ethik aufbaut,
synthetische Erkenntnisse a priori?
§ 21. Erläuterung des Begriffes „synthetische Erkenntnis
a priori“................................................................................... 74
1. Wie sich an diesen Gedanken vorzüglich eine Hoff­
nung zu knüpfen scheint.
2. Wenn auch nicht unter dem von Kant eingeführten
Namen hatten doch der Sache nach schon vor ihm
viele Philosophen solche Erkenntnisse angenommen.
3. Unter Korrektur der Kantischen Definition des
analytischen und des synthetischen Urteils, die schon
darum unzureichend sind, weil sie sich nur auf kate­
gorische Urteile beziehen, wäre der Begriff einer syn­
thetischen Erkenntnis a priori so zu bestimmen: All­
gemeine apodiktische Erkenntnisse, die weder etwas
leugnen, was widerstreitende Bestimmungen enthält,
noch solchen, bei denen dies der Fall ist, aequivalent
sind.
§ 22. Zwei Klassen von Ethikern, die synthetische Erkenntnisse
a priori zur Grundlage machen wollen.................................. 78
Die einen stellen viele, die anderen ein einziges solches
Prinzip auf.
1. Kritik der ersten,
2. Kritik der zweiten Gruppe.
§ 23. Es gibt im Bereiche unserer Erkenntnisse überhaupt keine
synthetischen a priori........... . .... 79
Inhaltsübersicht XIII

1. Doch können solche nicht von vornherein als un­


möglich bezeichnet werden.
2. Sie finden sich in keiner Erfahrung, auch Kant hat
keine gefunden, ja er gibt unbewußt durch die Art,
wie er sich darüber ausspricht, dagegen Zeugnis.
§ 24. Von dem Versuche, Kants Lehre von den synthetischen
Erkenntnissen a priori mit Darwins Gesetj der Ver­
erbung in Verbindung zu bringen............................... 84
V. Kapitel
Vom Begriff des richtigen Zweckes
§ 25. Auseinandersetjung mit von der unseren abweichenden
Definitionen der Ethik........................ 87
1. Unser Ergebnis: Die Prinzipien ethischer Erkenntnis
müssen entweder analytische Erkenntnisse a priori
oder Erfahrungen sein. Über den bestimmteren Aus­
gangspunkt können wir nur aus der Definition der
Ethik Aufschluß gewinnen.
2. Definitionen der Ethik, welche von der von uns ge­
gebenen abweichen.
3. Rechtfertigung unserer Definition. Nachweis, daß die
abweichenden Definitionen entweder dasselbe sagen
wollen, was die unsere deutlicher ausspricht, oder von
irrtümlichen Anschauungen beeinflußt sind (Brown,
Kant, Thomas v. A.).
4. Aus der Definition der Ethik folgt, daß wir mit der
Erklärung des Begriffes „richtiger Zweck“ beginnen
müssen.
§ 26. Klassifikation der Versuche, den Begriff „richtiger Zweck“
zu bestimmen.............................................................................. 94
I. Versuche, den richtigen Zweck durch Übereinstimmung
mit einer Regel zu definieren.
§ 27. Definition durch äußere Regeln (heteronome Ethik) . . 95
§ 28. Definition durch innere Regeln (autonome Ethik) ... 97
II. Versuche, den richtigen Zweck im Hinblick auf die
Natur der Gegenstände zu bestimmen.
§ 29. Welcher Art sind diese Gegenstände?............................ • 98
III. Versuche, welche bei der Bestimmung des richtigen
Zwecks von der des berechtigten Strebens ausgehen.
§ 30. A. Das Streben ausgezeichnet durch eine es be­
gleitende Folge................... . : •
1. wenn es den moralischen Sinn als gut affiziert
(H u t c h e s o n),
2. wenn es angenehme Billigungsgefühle erweckt
(H u m e),
3. wenn es-mit den normalen Regeln der Sympathie
übereinstimmt (A. Smith),
4. wenn es ästhetisches Wohlgefallen erweckt (Herbart).
XIV Inhaltsübersicht

§31 . Herbarts Lehre vom Sittlichen ab Sonderfall des


Schönen. Seine fünf praktischen Ideen................................. 107
§ 32. B. Definitionen des richtigen Zwecks durch innere Be­
stimmungen des Strebens............................ 111
1. Richtiger Zweck ist das Begehrbarste unter dem
Erreichbaren (M i 11).
2. Richtiger Zweck ist, was mit normaler Liebe vor­
gezogen wird.
3. Richtiger Zweck ist, was Gegenstand eines höheren,
d. h. die „verity“ der Güte besitzenden Strebens ist.
VI. Kapitel
Kritik der vorgeführten Bestimmungen über den richtigen Zweck
I. Kritik der Versuche, den richtigen Zweck durch Über­
einstimmung mit einer Regel festzustellen . . . 114
§ 33. Abwehr der Definitionen durch eine äußere Regel 115
§ 34. Abwehr der Definitionen durch eine innere Regel . 116
II. Kritik der Versuche, den richtigen Zweck direkt im
Hinblick auf die Natur gewisser Gegenstände zu be­
stimmen.
§ 35. Sie sind unzureichend, entweder weil sie der Frage,
warum ein solcher Gegenstand zu erstreben sei, Raum
geben oder weil sie mit fiktiven Objekten operieren . . 117
III. Prüfung der Definitionen des richtigen Zweckes, die
von der Bestimmung des berechtigten Strebens ausgehen.
A. solcher Definitionen, die den Vorzug des richtigen
Strebens in Momenten, die es begleiten, erblicken.
§ 36. Kritik der ersten drei (H u t c h e s o n, H u m e, Smith) 119
§ 37. Kritik der Definition Herbarts...................................... 121
1. Seiner Subsumption des sittlich Guten unter das
Schöne.
2. Seiner Bestimmung des Schönen. Seine Beweisversuche
für die These, daß es durchwegs in bloßen Verhält­
nissen bestehe, sind nicht gelungen.
Die These ist sogar falsch.
3. Herbart hat seine Behauptung, daß sich an die Vor­
stellung desselben Verhältnisses allgemein das gleiche
Geschmacksurteil knüpfe, nicht bewiesen.
4. Die Erfahrung widerlegt sie.
§ 38. Fortsetzung der Kritik Herbarts. Erörterung am Bei­
spiele der Idee des Rechtes. Grundfehler der Ethik Her­
ba r t s. Hinweis darauf, daß sie einen richtigen Kern
enthält . .... ................................................................ 127
I. a) Widerstreit mit den Tatsachen;
1. weder ist der Streit ästhetisch mißfällg,
2. noch begründet das Mißfallen am Streit allein
die Idee des Rechtes.
Inhaltsübersicht XV

3. Nicht alle positiven Rechtsregeln sind Recht.


b) Widerspruch mit Herbarts eigenen ästhetischen
Prinzipien.
II. Grundfehler der Ethik Herbarts. Hinweis auf
einen richtigen Kern.
§ 39. Kritik der Definitionen des richtigen Zweckes durch
innere Bestimmungen des Strebens............... 131
1. Richtiger Zweck = was der Erfahrene tatsächlich er­
strebt (J. S t. M i 11).
2. B e n et e s „Gefühl des Sollens“.
3. Cudworths „Essenz der Güte“.

VII. Kapitel
Neuer Versuch, die Ethik zu begründen
§ 40. Vom Ursprung des Begriffes des Guten und seiner Ana­
logie mit dem des Wahren....................................... 134
1. Jeder Begriff kann auf gewisse Phänomene, Erfahrun­
gen zurückgeführt werden.
2. Der Begriff des Guten stammt aus der inneren Wahr­
nehmung.
3. Analogie zum Begriff des Wahren. Dieser von Ari­
stoteles unzureichend bestimmt.
4. Der Begriff des Wahren wird im Hinblick auf die Er­
fahrung evidenten Urteilens gebildet.
§ 41. Wahrheit und Evidenz......................................................... 142
§ 42. Der Begriff des Guten stammt aus der Erfahrung als
richtig diarakterisierter Gemütstätigkeiten. Deren Ana­
logie zur Evidenz des Urteils.................................. 143
§ 43. Vom Begriff des Besseren.....................................................147
Er entstammt ebenfalls der inneren Wahrnehmung.
§ 44. Abschluß der Untersuchung (§ 19) darüber, wie der An­
teil des Gefühls an der ethischen Erkenntnis mit deren
Allgemeingültigkeit in Einklang stehe.................... 148

VIII. Kapitel
Einwände gegen die im vorigen Kapitel dargelegte Lehre von den
Prinzipien ethischer Erkenntnis. Antworten darauf
§ 45. „Bestreitung der Tatsächlichkeit als richtig charakteri­
sierter Gemütstätigkeiten“....................................... 153
§ 46. „Eine so einfache Tatsache hätte nicht so lange auf den
Entdecker zu warten gebraucht“.................... . 157
§ 47. „Wie konnte man in Unkenntnis dieser Prinzipien doch
zu richtigen ethischen Folgerungen gelangen“ .... 158
Diese Einwürfe entbehren der Berechtigung.
XVI Inhaltsübersicht

Zweiter Abschnitt
Vom höchsten praktischen Gut
I. Kapitel
Der Hedonismus
§48. Benthams Klassifikation der Güter und Übel . . . 165
Unterscheidung von einfachen und zusammengesetzten
Vergnügen und Leiden.
§ 49. Benthams Argumente für die Beschränkung der
Güter-Tafel auf die Lust:....................................... 171
Klare Begriffe der Moral und Gesetzgebung lassen sich
nur aus Erlebnissen von Lust und Unlust gewinnen und
nur Lust findet Verwendung als Lohn, nur Pein als
Strafe.
§ 50. Andere Hedoniker............................. 175
Im Altertum besonders E u d o x u s.
§51. Gründe, die gegen den Hedonismus sprechen........................ 177
Kant galt die Lust als Widerspiel der Sittlichkeit, aber
auch im Altertum wurde sie schon vielfach abgelehnt
(A n t i s t h e n e s), während sie Aristoteles wohl
als Gut, aber nicht als das einzige gelten ließ. Nur diese
Auffassung stimmt mit der Erfahrung überein und ent­
hält keinen Widerspruch.
§ 52. Abwehr der Argumente der Hedoniker................................. 180
Weder die Argumente des E u d o x u s noch die Ben­
thams erweisen sich als stichhältig.
II. Kapitel
Das Gute in aen eigenen psychischen Tätigkeiten
§ 53. Das Gute auf dem Gebiete der Urteilstätigkeit .... 183
Erkenntnis als solche ist liebenswert und Irrtum ein Übel.
§ 54. Das Gute auf dem Gebiete der Gemütstätigkeit . . . 185
Nicht nur die auf eine sinnliche Qualität gerichtete Lust
ist ein Gut, sondern es gibt auch höhere als richtig
charakterisierte Akte der Liebe.
§ 55. Das Gute auf dem Gebiete des Vorstellens........................188
Jede Vorstellung als Bereicherung des psychischen Lebens
ist ein Wert.
§ 56. Einwände gegen die These vom Werte jeglichen Vor­
stellens: ......................................................................... 189
1. In der Klasse des Vorstellens gibt es keinen Gegensatz,
bloße Vorstellungen sind weder richtig noch unrichtig.
2. Gewisse Vorstellungen erfüllen uns mit Widerwillen.
3. Die Vorstellungen des Schönen und Gefälligen heben
sich aus den übrigen heraus und ihnen stehen die des
Häßlichen gegenüber.
Inhaltsübersicht XVII

4. Es scheint, daß man das Häßliche nicht nur als rela­


tiven Begriff auffassen kann.
§ 57. Definition des Schönen und Häßlichen ....... 193
Schön nennen wir Vorstellungen von erheblichem Wert,
die auch tatsächlich Wohlgefallen erwecken. Vom Schönen
in der Kunst.
III. Kapitel
Das Gute außerhalb der eigenen psychischen Tätigkeit
§ 58. Nicht nur eigene psychische Tätigkeit ist liebbar und
liebenswert............................................................... 202
Fremder psychischer Tätigkeit kommt gleicher Wert zu.
§ 59. Gibt es Gutes, das nicht in psychischer Tätigkeit besteht? 206
Es scheint nicht, oder das Psychische ist doch von un­
gleich höherem Wert.
§ 60. Ist dasselbe gut für alle? . ................................................ 209
Nicht in dem Sinne, daß ein Gutes allen zukommen solle,
wohl aber, daß es für alle liebenswürdig sei.

IV. Kapitel
Von den Wertverhältnissen der Güter
§ 61. Aufzählung der Fälle unmittelbarer Erkenntnis des
Besseren...................................................... ...211
Sie fügen sich entweder der Summierungsregel ein oder
sind an qualitative Differenzen geknüpft. Es gibt auch ein
bonum progressionis.
§ 62. Fälle von Unerkennbarkeit des Vorzugs und solche von
Indifferenz....................................................................214
Nicht immer gibt sich von zwei Gütern das eine als das
liebenswertere kund. Dagegen läßt sich in gewissen
Fällen erkennen, daß kein Wertunterschied besteht. So
ist ein fremdes Gut ebenso wertvoll bzw. (wenn größer
oder höherstehend) wertvoller als das eigene.
§ 63. Wertverhältnisse der Vorstellungen...................................... 216
Gewisse Vorstellungen geben sich als wertvoller kund,
z. B. die reichere gegenüber der ärmeren.
V. Kapitel
Vom höchsten praktischen Gute
§ 64. Vom richtigen Wählen...................................... ....218
Es liegt vor, wenn das Beste unter dem Erreichbaren ge­
wählt wird.
§ 65. Vom höchsten praktischen Gut insbesondere........................222
Sein Bereich ist die ganze unserer vernünftigen Ein- .
Wirkung unterworfene Sphäre.
XVIII Inhaltsübersicht

§ 66. Über das Nützliche und Schädliche...................................... 225


Alle anderen „Güter“ sind sekundär, d. h. sie stehen im
Dienste des höchsten Zweckes und verdienen nur den
Namen des Nütjlichen oder Mittels zum höchsten Zweck.
§ 67. Stellung der Ethik zur Frage nach dem Dasein Gottes. 228
Eine richtige Ethik läßt sich zwar ohne Metaphysik auf­
bauen, aber die Bewertung des Nütjlichen hängt von der
Weltauffassung ab; sie kann nur vom theistischen Stand­
punkt optimistisch sein.

Dritter Abschnitt
Von der Freiheit des Willens
I. Kapitel
Freiheit im Sinne der Willenshemchaft
§ 68. Freiheit des actus a voluntate imperatus............................ 235
Es steht uns eine gewisse Macht zur Beherrschung des
äußeren Geschehens und zur Regelung unseres inneren
Lebens zu.
§ 69. Freiheit von Zwang und Freiheit im Sinne der Selbst­
bestimmung (Freiheit des actus elicitus voluntatis) . . 238
Unser Wollen unterliegt jedenfalls keinem Zwang und
auch Selbstbestimmung ist innerhalb gewisser Grenzen
möglich, d. h. wir sind nicht ganz und gar abhängig
von äußeren Umständen.
II. Kapitel
Der Determinismus-Indeterminismus-Streit
§ 70. Drei Fassungen der Lehre, daß der Wille frei von
innerer Notwendigkeit sei....................................... 240
1. Der Wille Ursache seiner selbst.
2. Der Wille ursachlos.
3. Der Wille zwar von Ursachen mitbestimmt, aber
keiner Notwendigkeit unterworfen.
Erstes Stück
Die Argumente der Indeterministen
§71 . A. Direkte Zeugnisse des Bewußtseins.............................. 242
1. Wir könnten auch anders handeln.
2. Wir handeln trotj gleich starker Motive pro und
contra.
3. Wir handeln in gleichen Situationen verschieden.
4. Die Entscheidung tritt häufig erst nach einiger Zeit
ein.
Inhaltsübersicht XIX

5. Beim Widerstand gegen eine Begierde zeigt sich


Ermüdung.
6. Die Opinio communis setjt Willensfreiheit voraus.
§ 72. B. Indirekte Zeugnisse der Erfahrung zugunsten des
Indeterminismus ............................................... 244
1. Die Unterscheidung von gut und schlecht würde
ihren Sinn verlieren.
2. Das Schuldbewußtsein spricht für die Willens­
freiheit.
3. Lob, Lohn, Tadel, Strafe erscheinen sinnlos.
Zweites Stück
Die Argumente der Deterministen
I. Kritik der indeterministischen Argumente:
§ 73. A. Kritik der sog. direkten Zeugnisse des Bewußtseins
für den Indeterminismus................... . 245
Sie sind alle nicht beweisend; entweder sind die Vor­
aussetzungen unhaltbar oder die Tatsachen entscheiden
durchaus nicht gegen den Determinismus.
§ 74. B. Kritik der indirekten Zeugnisse für den Indeterminis­
mus ................... 252
Ebenso wenig Beweiskraft kommt diesen zu; sie ver­
wechseln die Freiheit im actus imperatus mit der im
actus elicitus. Fatalismus und Determinismus sind
nicht identisch.
§ 75. II. A. Beweisversuche für den Determinismus .... 262
Die vorgebrachten Zeugnisse des Bewußtseins lassen sich
gegen den Indeterminismus kehren.
§ 76. II. B. Gegenvorwürfe der Deterministen gegen den In­
determinismus ........................................ .... 264
Auch die aus den indirekten Zeugnissen erhobenen Vor­
würfe fallen auf die Indeterministen zurück.
Drittes Stüde
Versuch, den Indeterminismus durch Unterscheidung einer extremen
von einer gemäßigten Form zu retten
§77. A. Die Erfahrungen, auf die sich der Determinismus
beruft, scheinen auch mit dem gemäßigten Inde­
terminismus verträglich.............. 266
§ 78. B. Die Gegenvorwürfe des Determinismus gegen den
Indeterminismus erweisen sich der gemäßigten Form
gegenüber als nicht stringent........................275
Viertes Stüde
Entscheidung für den Determinismus
§ 79. A. Vorgängige Unwahrscheinlichkeit des Indeterminismus 276
§ 80. B. Mangelnder Erklärungswert des Indeterminismus . 279
Indeterminismus ist die Lehre von der Unfreiheit des
Willens.
§81. C. Absurdität des Indeterminismus ........ 281
XX Inhaltsübersicht

Anhang zum Determinismus-Indeterminismus-Streit


Das Verhältnis beider zum Theismus
§ 82. I. Anklage des Indeterminismus gegen den Determinis­
mus: er widerspreche der Güte Gottes................................. 290
Dieser Vorwurf ist unberechtigt.
§ 83. II. Anklage des Determinismus gegen den Indeterminis­
mus: er widerspreche der göttlichen Allwissenheit . . . 293
Ergebnis der Untersuchung: Indeterminismus ist Atheis­
mus.
III. Kapitel
Drei weitere Bedeutungen der Willensfreiheit
§ 84. Macht über die bestimmenden Bedingungen künftigen
Wollens...................................................................................... 294
§ 85. Von der Wahlfreiheit.............................................................. 295
Wir besitzen sie in gewissen Grenzen.
§ 86. Von der sittlichen Freiheit im eminenten Sinne . . . 298
Es gibt einen Einfluß sittlicher Erkenntnis.

Vierter Abschnitt
Von der Sittlichkeit im allgemeinen
I. Kapitel
Von der Bedingtheit und Unbedingtheit der sittlichen Normen
§ 87. Die Unbedingtheit der Sittengebote...................................... 303
§ 88. Ausnahmen von ethischen Regeln........................................... 304
Solche kommen nur bei Regeln mittlerer Allgemeinheit
vor.
§ 89. Die allgemeinste Regel gilt ausnahmslos............................ 306
Sie ist eigentlich negativ zu fassen: Entscheide dich bei
der Wahl niemals für etwas minder Gutes unter dem
Erreichbaren.
II. Kapitel
Von dem Umfang der Sittlichkeit
§ 90. Von den Grenzen der Sittlichkeit........................................... 308
Verantwortlich sind wir nur, wenn Wahlfreiheit für
unsere Handlungen gegeben ist. Unser Handeln sollte
wenigstens virtuell auf das Beste gerichtet sein.
§91. Ist nur der Wille oder auch die Handlung sittlich gut
oder schlecht?............................................................... 310
Im eigentlichen Sinne sittlich ist der Wille allein, die
Handlung nur im übertragenen.
Inhaltsübersicht XXI

§ 92. Objektive und subjektive Sittlichkeit ........ 312


Subjektiv sittlich ist die Handlung, wenn sie sittlichem
Wollen entspringt, objektiv, wenn sie Nutjen stiftet.

III. Kapitel
Von den Gradunterschieden auf sittlichem Gebiet
§ 93. Gibt es Grade der Sittlichkeit?...........................................313
Die -Frage ist zu bejahen und ebenso gibt es Grade der
Unsittlichkeit.
§ 94. Gibt es sittlich indifferente Handlungen? ...... 315
Für -gewisse Fälle ist dies zu bejahen.
§ 95. Kann eine Handlung zugleich sittlich und unsittlich sein? 316
Die aktuelle Entscheidung kann von der virtuellen in
sittlicher Hinsicht verschieden sein.
§ 96. Pflicht und Rat .......................................................... 317
Als Pflicht ist die Durchschnittsleistung der Besten zu be­
zeichnen, als Rat, was noch darüber liegt.

IV. Kapitel
Vom irrenden und zweifelhaften Gewissen
§ 97. Begriff und Einteilung des Gewissens................................. 323
§ 98. Vom irrenden Gewissen......................................................... 323
Dem festüberzeugten Gewissen zu folgen ist Pflicht, auch
wenn es irrt, doch kann ein Irrtum unverschuldet sein
oder bei Überlegung behebbar.
§ 99. Vom zweifelhaften und vom perplexen Gewissen . . . 324
Man muß zwischen subjektiver und objektiver Sittlichkeit
unterscheiden, um die hier gegebenen Schwierigkeiten zu
lösen.
§ 100. Verfehlte Theorien über die möglichen Weisen, sich in
zweifelhaften Fällen eine Meinung über die Erlaubtheit
einer Handlung zu bilden ........... 326

Fünfter Abschnitt
Von den sittlichen Vorschriften im einzelnen
I. Kapitel
Vom Werte der sittlichen Vorschriften von mittlerer Allgemeinheit
§ 101. Unmöglichkeit individueller Vorschriften............................ 333
Wegen der Verschiedenheit der Umstände ist die Auf­
stellung von Vorschriften für jeden einzelnen Fall un- .
möglich.
XXII Inhaltsübersicht

§ 102. Von der Kosuistik...................................................................334


Vorteile derselben.
§ 103. Regeln von mittlerer Allgemeinheit..................................... 334
Sie gelten nur beschränkt.
§ 104. Wert der Regeln von mittlerer Allgemeinheit .... 335
Die Rücksicht auf das allgemeine Beste beschränkt ihre
Gültigkeit.

II. Kapitel
Von der hergebrachten Einteilung der sittlichen Gebote
§ 105. Die bemerkenswertesten der hergebrachten Grundein­
teilungen .................... 336
Die Vorschriften mittlerer Allgemeinheit und die ihnen
entsprechenden Pflichten wurden in verschiedener Weise
abgeleitet. Christliche Sittenlehre. Klassifikation der
Pflichten und Delikte von J. B e n t h a m.

III. Kapitel
Von der Verschiedenheit der Vorschriften bei grundverschiedener
Lage des Handelnden
§ 106. Prinzip der Klassifikation der Vorschriften....................... 342
Einteilung der Pflichten nach den Wirkungssphären in
fünf Klassen.

IV. Kapitel
Von den Rechts- und Liebespflichten
§ 107. Naturrecht und positives Recht.......................................... 349
Ersteres ist die Teilung der Verfügungssphären auf
Grund ethischer Erwägungen; ihm tritt das positive
Recht zur Seite. So ergeben sich drei Stufen der Rechts­
bildung: 1. Reines Naturrecht. 2. Positives Recht mit rein
sittlicher Sanktion. 3. Positives Recht mit äußerer Sank­
tion.
§ 108. Rechtspflichten und Liebespflichten..................................... 352
Rechtspflichten beziehen sich auf die Einhaltung der
Grenzen fremder Willenssphären, Liebespflichten ge­
bieten, innerhalb der eigenen Rechtssphäre dem höchsten
praktischen Gut gemäß zu verfügen.
§ 109. Der Vorrang der Rechtspflichten vor den Liebespflichten 356
§ 110. Untereinteilüng der Rechtspflichten..................................... 357
1. Durch positive Bestimmungen determiniert oder durch
die Natur vorgezeichnet.
2. Gegenüber einer physischen oder juristischen Person.
Inhaltsübersicht XXIII

V. Kapitel
Von den komplexen Delikten
§ 111. Delikte gegen das Eigentum. Ist Privateigentum ethisch
gerechtfertigt? ....................................... 361
Ein Mittelweg mit staatlicher Kontrolle des Privateigen­
tums schiene der Förderung des höchsten praktischen
Gutes am angemessensten.

Sechster Abschnitt
Von der Verwirklichung der sittlichen Vorschriften
I. Kapitel
Von den sittlichen Dispositionen
§ 112. Das Wesen der Tugend...................................... 369
Tugenden sind Dispositionen, die eine sittlich richtige
Wahl begünstigen, sie können durch Übung verbessert
werden.
§ 113. Einheit oder Vielheit der Tugenden? ....... 370
Offenbar eine Vielheit, die verschieden eingeteilt werden
kann.
§ 114. Entstehen und Vergehen der sittlichen Dispositionen . . 374
Eine Klasse der Tugenden verlangt zu ihrer Ausbildung
ein Lernen, eine zweite bildet sich aus durch Übung und
Beispiel, eine dritte durch Übung und körperliche Hygi­
ene.
§ 115. Ob Tugenden zugleich Untugenden sein können? . . . 375
In gewissem Sinne ist diese Frage zu bejahen, zuweilen
kann eine Tugend über Gebühr bevorzugt werden.
§ 116. Wert der Tugend, Unseligkeit des Lasters....................... 376

II. Kapitel
Von der ethischen Führung
§ 117. Von der Wichtigkeit der ethischen Führung ..... 378
§ 118. Von dem ersten und wichtigsten Teil der ethischen Füh­
rung, der sittlichen Wachsamkeit............................. 382
§ 119. Von der Meldung und Aufhebung der Gefahr .... 383
Erscheint eine Situation gefährlich, so weicht man ihr am
besten aus, sonst muß man sich, wenn sie unvermeidbar
ist, beizeiten auf sie vorbereiten und vorbeugende Maß­
nahmen ergreifen.
XXIV Inhaltsübersicht

§ 120. Sorge für die allgemeine Förderung der sittlichen Dis­


positionen .................................................................... 384
Hier kommen Erhaltung und Besserung der sittlichen
Dispositionen in Betracht (Wert des Vorbildes).
III. Kapitel
Von den auf Tugend gegründeten gesellschaftlichen Verbänden
§ 121. Von der Freundschaft.............................................................. 390
Aristoteles hat ihr eingehende Untersuchungen ge­
widmet, sie ist von hohem sittlichem Wert.
§ 122. Von der Ehe............................................................................ 391
Sie ist eine besondere Art der freundschaftlichen Be­
ziehung und gliedert die Gesellschaft auf natürliche
Weise.
§ 123. Vom Staate.............................................................................397
Uber Entstehung und Zweck des Staates wurden viele
Definitionen aufgestellt Er sollte so wie der einzelne dem
höchsten praktischen Gute dienen.
§ 124. Von der Religionsgemeinschaft oder der Kirche .... 402
Auch die Kirche ist ein gesellschaflieber Verband, der
wie kein anderer geeignet ist, das allgemeinste Beste
zu fördern.
GRUNDLEGUNG UND
AUFBAU DER ETHIK
Nach den Vorlesungen über „Praktische Philosophie"
Einleitung

I 1. Theoretische und praktische Disziplinen

Wer jemals die Antigone des Sophokles gelesen, dem ist


der herrliche Gesang unvergeßlich, in welchem der Chor der
Thebaner Greise die Macht des Menschen preisend erhebt.
„Vieles Gewaltige lebt und nichts ist gewaltiger als der Mensch.“
Der Dichter schildert ihn, wie er die Schranken des Meeres
bricht und den Orkanen Tro§ bietet; wie er pflügend die nie
ermattende Kraft der Erde unterwirft und zu jährlichem Tribut
verpflichtet; wie er die Fische des Meeres und die Vögel des
Himmels in seinen Netjen fängt; wie er in der Tiefe des Waldes
und auf der Höhe der Berge siegreich die wilden Tiere verfolgt
und dem Roß und dem mächtigen Stier den Nacken mit dem
Joch umschirrt. Dann wendet er den Blick zu Höherem. Er zeigt
den Menschen, wie er die Sprache ersinnt und so im Worte Ge­
danken und Wunsch in die Brust des anderen abschnellt, wie er
Staaten gründet und Gesetze gibt; wie er den himmlischen (den
astronomischen) Gewalten Trotj bietet, indem er sich gegen Frost
und Regen sicherstellt und schwerer Krankheit Meister wird. Je
nachdem er sich Gutes oder Arges zum Ziele setjt, wird er bald
zum Segen, bald zum Fluch für den weitesten Umkreis.
Worauf beruht diese Gewalt des Menschen, mit der keine
andere, welche die Erfahrung zeigt, sich messen kann? In nichts
anderem als im Wissen. An Schnelligkeit der Glieder, an
körperlicher Kraft, an natürlichen Waffen zum Angriff und zur
Verteidigung, an Schärfe der Sinne, an Reichtum der Instinkte
sind ihm andere lebende Wesen bei weitem überlegen, aber sein
Wissen gibt ihm Ersatz für alles und führt ihn zur Herrschaft.
Es war darum seine Macht auch nicht alle Zeit dieselbe. Die
2 Wissen ist Macht

Wissenschaft hat eine Geschichte. Allmählich hat sie sich aus


schwachen Keimen entwickelt und ihrem Wachstum entsprechend
dehnte sich die Macht des Menschen aus. So weist Bacon von
V e r u I a m darauf hin, wie noch in jüngster Zeit die Erfindung
des Kompasses und der Buchdruckerkunst das Kulturleben um­
gestaltet hat. Und von ihm stammt das oft zitierte Wort „Wissen
ist Macht“. Etwas früher hatte die Entdeckung des Schießpulvers
eine neue, die Kriegskunst umwälzende Waffe geliefert, und
nachher haben die Entdeckungen, welche sich auf die Kräfte des
Dampfes, der Wärme, der Elektrizität und auf die chemischen
Kräfte beziehen, den Menschen in einer Weise, die Bacons
kühnste Erwartungen übertrifft, zum Herrn der Natur erhoben.
„Wissen ist Macht“ — gilt dies von allem Wissen? Die
Frage ist zu bejahen. Keines ist, woran sich nicht unmittelbar
oder mittelbar ein praktischer Einfluß knüpfte. Charakteristisch
ist dafür ein Beispiel, dessen sich A. Condorcet (in seinem
„esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain“
1794) bedient. Untersuchungen, welche im Altertum Archi­
medes und Apollonius über Kegelschnitte angestellt
haben, hatten zunächst nur theoretisches Interesse, sie waren rein
mathematisch. Jahrhunderte später machte Kepler diese
Forschungen der Astronomie dienstbar, abermals zunächst nur
aus rein theoretischem Interesse. Aber von hier aus gewannen
sie praktischen Nutjen, indem die Fortschritte der Astronomie
sehr förderlich auf die Schiffahrt wirkten. Der Seemann, den
eine genaue Beobachtung der geographischen Länge und Breite
vor dem Schiffbruch rettet, verdankt so sein Leben Theorien,
welche zwanzig Jahrhunderte zuvor aus reinem Wissenstrieb
entsprungen waren.
Wir dürfen also sagen: Alles Wissen ist Macht. Wie kommt
es aber dann, daß von den wissenschaftlichen Disziplinen nur
die einen als praktische, die anderen als theoretische bezeichnet
werden? Beispiele theoretischer Disziplinen: Physik, Chemie,
Biologie, Psychologie; praktischer: Baukunst, Strategie, Politik,
Medizin.
Heben wir zunächst, um uns den Unterschied klarzumachen,
das beiden Gruppen Gemeinsame hervor. Jede ist eine Einheit,
Theoretische und praktische Disziplinen 3

eine Zusammenfassung von Erkenntnissen, die zusammengehören.


Es handelt sich nicht um willkürlich zusammengeraffte Wahr­
heiten, sondern um Klassen von Wahrheiten.
Jede Klassenbildung hat einen Zweck, dieser aber ist hier und
dort ein anderer. Bei den theoretischen erfolgt die Gruppen­
bildung lediglich im Interesse der besseren Erkenntnis. Diesem
wird am besten gedient, wenn man zu einer Wissenschaft
solche Wahrheiten zusammenfaßt, die innerlich verwandt sind (die
InioTrinri des Aristoteles). Man stellt die näher verwandten
enger zusammen, um so ein Bild ihres natürlichen Zusammen­
hanges zu gewinnen. Die Forschung gedeiht auf diese Weise am
besten. Sie bedarf der Arbeitsteilung und diese erfolgt den
Unterschieden der Begabungen entsprechend. Die Menschen sind
ja in dieser Hinsicht sehr verschieden. Der eine taugt besser
zur Beobachtung, der andere zu Abstraktion und Deduktion. Der
eine ist begabter zur Forschung auf psychischem, der andere zur
Forschung auf dem Gebiete der äußeren. Natur. Der eine ver­
sagt, weil ihm die Raumanschauung fehlt, beim einfachsten geo­
metrischen Problem, ist aber trefflich in psychologischer Beobach­
tung und Analyse, der andere zeigt sich außerstande, auch nur
die elementarsten Unterscheidungen auf dem Gebiete der Be­
wußtseinsphänomene zu machen, während er sich vielleicht auf
biologischem oder astronomischem Gebiete ausgezeichnet bewährt.
Diese Unterschiede der Begabungen und das Bedürfnis nach
Arbeitsteilung bestimmen also die Grenzen, nach denen die
Forschungsgebiete abgesondert werden, wenn es sich um reine
Theorie handelt, d. h. wenn das Wissen Selbstzweck: ist.
Ganz anders bei den sog. praktischen Disziplinen, die man mit
Aristoteles auch als Künste (itm) bezeichnen 'könnte. Hier
ist das leitende Prinzip der Zusammenordnung von Wahrheiten
zu einer und derselben Gruppe ein außerhalb des Gebietes der Er­
kenntnis liegender Zweck. Das menschliche Streben verfolgt hier
andere Ziele und zu deren Erreichung bedarf es oft einer bunten
Vielheit von Erkenntnissen, die innerlich gar wenig verwandt
sind. Ein Beispiel bietet, wie schon gesagt, die Baukunst, die das
ihrem Zwecke dienliche Wissen aus den verschiedensten Gebieten
der Forschung zusammenträgt, aus Mechanik, Akustik, Optik,
4 Jedes Streben dient einem Zweck

Chemie, Ästhetik, Gesellschaftskunde usw. Ein anderes bietet die


Medizin, wo anatomisches, physiologisches, botanisches, chemisches,
klimatologisches Wissen etc. sich unentbehrlich erweisen.
Wie die Rücksicht auf den Zweck der praktischen Disziplin
ihre Einheit gibt, so bestimmt sie auch den Unterschied der einen
von der anderen. Jede hat einen anderen Zweck: die Arznei­
kunst — Gesundheit, die Schiffbaukunst — das Schiff, die Feld-
herrnkunst — den Sieg, die Haushaltungskunst — den Wohl­
stand. Oft ist der Zweck der einen Kunst der anderen unter­
geordnet, d. h. er verhält sich zu ihr als Mittel, wie z. B. bei der
Kunst des Sattlers und der Reitkunst, bei der des Waffen­
schmiedes und des Fechters. In allen diesen Fällen erscheint die
zweite als herrschend, die erste als dienend. Sie hört auf das,
was jene fordert, und belehrt uns in bezug auf die Wahl der
Mittel, wodurch die Forderung sich erfüllen läßt, sie untersucht
aber nichts darüber, ob die Forderung selbst am Platje sei. So
ist sie jener untergeordnet wie ihr Zweck dem Zweck der
anderen.
Es kann aber eine Kunst oder praktische Disziplin, die einer
anderen übergeordnet ist, selbst einer dritten untergeordnet sein.
Beispiele: Gestikulation, Rhetorik, Staatskunst; Sattlerkunst,
Reitkunst, Feldherrrikunst, Staatskunst.
Aber das kann nicht ins Unendliche gehen. Bei jedem Streben
ist ein Zweck, der nicht wieder wegen eines anderen begehrt
wird, wäre doch sonst das Begehren eigentlich leer und ohne
allen Gegenstand. Die Metaphysik behandelt die Frage, ob die
Kette der Ursachen ins Unendliche gehe oder mit einer ersten
abschließen müsse. Aristoteles hält das zweite für ein­
leuchtend, meint aber, daß nicht alle dies erkennen, wogegen
es beim Zweck jedem offenbar sei.

f 2. Begriff und Wert der Ethik

Und wie ein letjter Zweck, so notwendig auch eine praktische


Disziplin, die nicht wieder einer solchen untergeordnet ist, die­
jenige nämlich, welche uns über den höchsten Zweck und
Begriff und Wert der Ethik 5

die Wahl der Mittel in bezug auf ihn belehrt. Man nennt sie
gewöhnlich die Ethik oder Moralphilosophie.
Offenbar ist sie die vornehmste von allen praktischen Diszipli­
nen und verhält sich zu ihnen wie die Kunst des Baumeisters zu
den Handlangerkünsten. Ihre Kenntnis ist für das Leben von
größter Wichtigkeit. Wer -den Zweck kennt, den er anzustreben
hat, gleicht einem Schüßen, der das Ziel schaut und sicher leichter
treffen wird als ein anderer, der nur aufs Geratewohl losdrückt.
An dieses Wissen haben diejenigen zu wenig gedacht, die
Zweifel daran aufwarfen, ob denn der Fortschritt der Wissen­
schaft der Menschheit wirklich zum Segen gereiche. Daß Wissen
Zuwachs an Macht bedeutet, wird nicht bestritten, aber dient
diese Macht den Menschen zum Heile? Ein Rousseau hat die
Frage verneint und über den sog. Fortschritt der Zivilisation
den Stab gebrochen. Der richtige Kern dieses Verdammungs-
urteils ist der: echten Segen bringt die Wissenschaft nur dann,
wenn die Menschen ausreichend ethisches Wissen besitzen. Doch
ist dieses noch vielfach zu gering und zu wenig verbreitet. Aller
Fortschritt der Technik aber kann zum Unheil ausschlagen, wenn
er nicht -unter der Leitung und Kontrolle der höchsten praktischen
Disziplin, der Ethik, steht.
Ist das ethische Wissen wichtig für alle Menschen, so bietet
es noch ein besonderes Interesse für den Juristen, wofern er mehr
als ein geistloser Paragraphenreiter werden will. Auch die
Jurisprudenz gehört zu den praktischen Disziplinen. Aber auch
die Entscheidungen des Staatsmannes sollten -durch ethisches
Wissen geleitet werden. Die Staatsgesetje sind Vorschriften für
das Handeln, die nach dem Urteil aller großen Denker im Hin­
blick auf dieselben Ziele festgestellt werden sollen, die auch der
einzelne bei seinem Handeln als höchste Zwecke zu verfolgen
hat. Darum bringt Aristoteles -die Untersuchungen über
das höchste Gut in die engste Beziehung zur Politik, so zwar,
daß er sie geradezu als ihr zugehörig betrachtet Er macht -darauf
aufmerksam, wie die vornehmsten praktischen Disziplinen sich
ihr -unterordnen, z. B. die Feldherrnkunst, die Redekunst, die
Ökonomik. Und um unter den Philosophen der Neuzeit nur
einen hervorragenden zu nennen: Jeremias Bentham. Er
6 Ethik als „praktische Philosophie“

läßt zwar Ethik und Legislation als zwei verschiedene Disziplinen


gelten, aber mit dem gleichen Ziele, nur in bezug auf Aus­
dehnung unterschieden. „Alle Handlungen, öffentliche wie pri­
vate, gehören zum Bereiche der Ethik. Sie ist eine Führerin, die
das Individuum gleichsam an ihrer Hand geleiten kann in allen
besonderen Lagen des Lebens und in allen Beziehungen zu
seinesgleichen. Die Gesetzgebung kann es nicht, und könnte sie
es, so wäre es gar nicht zu wünschen, daß sie beständig und un­
mittelbar in das Betragen der Menschen eingriffe .. . Die Gesetz­
gebung hat wohl dasselbe Zentrum wie die Ethik, aber sie hat
nicht dieselbe Peripherie.“1

f 3. Der Name „Praktische Philosophie”

Diese vornehmste aller praktischen Disziplinen trägt nach


einem Sprachgebrauch, der sich seit H e r b a r t bei uns eingebür­
gert hat, auch den Namen Praktische Philosophie.
Was will man mit dieser Bezeichnung sagen? Etwa, daß die
Ethik diejenige praktische Disziplin sei, welche zum Gebiet der
Philosophie gehöre, ähnlich wie Agrikultur oder Medizin zum
Gebiete der Naturwissenschaften? Das trifft zu, aber nicht aus­
schließlich für die Ethik. Gewiß ist ihre Beziehung zu den theo-
rethischen Zweigen der Philosophie, insbesondere zur Psycho­
logie, ähnlich innig wie bei jenen zur organischen Chemie und
Physiologie. Aber auch andere praktische Disziplinen gehören in
solcher Weise zum Gebiete der Philosophie, wie namentlich die
Ästhetik und die Logik. Jede hat die Aufgabe, einem besonderen
Ideal, einer eigentümlichen seelischen Vollkommenheit zu dienen.
Es gibt drei solcher, entsprechend den drei psychischen Grund­
klassen: Vorstellen, Urteilen und Interesse. Die eigentümliche
Vollkommenheit des Vorstellens ist die Schönheit, die des Ur­
teils die Wahrheit, die des Interesses (Liebens und Hassens) die
sittliche Güte. Das kann also der eigentliche und genügende
Grund, warum man gerade die Ethik „Praktische Philosophie“
nennt, nicht sein.
Der Name Philosophie kam auf als Ausdruck der Bescheiden­
Aufgaben der Ethik 7

heit, als die griechischen Sophisten den alten Namen „sophia“


durch den Mißbrauch, den sie als „Weisheitslehrer“ getrieben,
in Verruf gebracht hatten, ähnlich wie es in unseren Tagen fast
nötig wäre, den Namen Philosophie wieder a'bzuschaffen. Als
ein Weiser gilt uns der, welcher im Gegensatj zum oberflächlichen
Betrachter in die Tiefe und bis zu den letjten Prinzipien vor­
dringt, die mit ihrem Einfluß auf weite Gebiete, ja auf das
Universum sich erstrecken. Darum nannte schon Aristoteles
unter den theoretischen Disziplinen die Metaphysik „Weisheit“,
weil sie mit den letjten Gründen der Dinge sich 'beschäftigt, ob
ein schöpferischer Verstand und die Rücksicht auf einen die Welt
umfassenden, geordneten Plan es sei, welchem sie ihr Dasein
verdanken. Der Stellung der Metaphysik auf theoretischem Ge­
biete ist nun die der Ethik auf praktischem analog. Wie jene die
Erkenntnis der letjten Prinzipien des Seins und der Wahrheit,
so ist diese Erkenntnis der letjten Prinzipien des Handelns.
So hat man sie denn ebenfalls als Weisheit, aber als praktische
Weisheit bezeichnet: sie ist die praktische Philosophie.

§ 4. Die Aufgaben der Ethik

So wäre denn in nomineller Beziehung der Ausdruck erklärt,


nachdem schon zuvor in sachlicher der Begriff bestimmt worden
ist. Aber mit einer bloßen Definition ist nie ein anschauliches
Bild von der Natur und dem Charakter einer Disziplin gegeben.
Will man ein solches gewinnen, so muß man auf -die Mannig­
faltigkeit der Aufgaben blicken, welche sie einschließt. So gibt
es nur eine sehr blasse Ahnung vom Charakter der Mathematik,
wenn man sie als die Wissenschaft definiert, welche Größen zu
messen lehrt.
Um darum das Interesse für die Ethik noch mehr zu wecken —
ignoti nulla cupido —, sollen einige der hauptsächlichsten Auf­
gaben aufgezählt werden, was zugleich den Vorteil haben wird,
daß die Einteilung hervortritt, durch welche ich den Stoff zer­
legen und ordnen werde.
a) Vor allem -ist klar, daß die Ethik über die Zwecke
8 Aufgaben der Ethik

zu handeln hat, die um ihrer selbst willen er­


strebt zu werden verdienen. Es kann, wenn es mehrere
sind, vielleicht eine Kollision eintreten. Sie wird in diesem Falle
auch die relativen Werte festzustellen oder wenigstens gewisse
Anhaltspunkte, Anweisungen zum Vergleich zu bieten haben.
b) Weiters wird es ihre Aufgabe sein, die wichtigsten
Mittel zur Erreichung jener Zwecke, die Regeln
des Handelns, festzustellen, die sich daraus ergeben.
c) Werden aber solche Regeln nicht vielleicht ganz unnütj sein,
indem ihre Kenntnis doch nicht imstande sein wird, irgendeinen
Einfluß auf unser Handeln zu gewinnen? Dies nötigt zur Unter­
suchung über die Freiheit, die, wie sie auch immer enden
möge, sicher zum Ausschluß solcher Zweifel führt.
d) Aber wenn die Regeln nicht ohne Nutjen, so ist ihre Kennt­
nis doch nicht in jedem Falle von gleichem Einfluß. Mancher er­
kennt das Rechte und handelt im Widerspruch mit seiner Er­
kenntnis. Mit dem bloßen Wissen ist es nicht getan. Wissen ist
Macht, aber nicht für sich allein. Dazu gehört, daß auch noch
gewisse andere Dispositionen und Vorbedingungen erfüllt seien.
Was nütjt die Baukunst, wo es am Baumaterial fehlt, die Feld-
herrnkunst, wenn keine Soldaten vorhanden sind, die Kunst zu
schreiben oder zu malen, wenn die Hand gelähmt ist? Was so
im allgemeinen gilt, gilt auch vom ethischen Wissen. Wo die
ethische Erkenntnis gegeben ist, bleibt oft eine große Schwierig­
keit zurück, ihr zu folgen. Eingewurzelte Neigungen, mächtige
Affekte können zu entgegengesetzter Handlungsweise antreiben.
Je nach der Beschaffenheit der übrigen ethischen Dispositionen
wird darum die ethische Einsicht von sehr ungleichem Nut$en
sein. Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik
geht so weit, daß er aus dem Grunde eine große Zahl von
Menschen geradezu als ungeeignet zu Hörern der Ethik bezeich­
net, weil sie wegen ihrer mangelhaften ethischen Dispositionen
doch keinen Vorteil daraus ziehen würden. Ja, er macht dabei
die Bemerkung, die, wenn man ihr Glauben schenkte, viele
geradezu entmutigen müßte. In die Jugend setjt er kein Ver­
trauen, weil sie zu sehr von den Affekten hingerissen werde und
unter der Herrschaft der Leidenschaft stehe. Er sagt aber dann,
Ethische Dispositionen 9

es mache keinen Unterschied, ob einer zwar erwachsen, aber dem


Charakter nach noch immer ein unreifer Jüngling sei. Denn der
Mangel sei nicht das -unreife Alter als solches, sondern die Ab­
hängigkeit von der Leidenschaft im Leben und Streben. Ich
denke nun, und glücklicherweise zeugt auch die Erfahrung dafür,
daß unter Umständen das Umgekehrte der Fall sein kann. Mit
unreifen Jahren schon kann sich eine entwickelte sittliche Kraft
verbinden und auch der junge Mensch schon früh die Herrschaft
über sich selbst, wie sie dem Mann geziemt, erlangen.
Auf diesen Unterschied der ethischen Dispo­
sitionen wird die Ethik auch eingehend Rücksicht m nehmen
haben. Sie i s t eine praktische Disziplin, ihre Lehre will Macht
gewinnen. Sie wird es aber mehr und leichter bei tugendhaften
als bei lasterhaften und unvollkommenen ethischen Dispositionen.
Darum erwächst ihr hier eine doppelte Aufgabe:
Erstens zu untersuchen, worin die förderlichen und
worin die nachteiligen Dispositionen bestehen; wie sie
erworben, erhalten, verstärkt werden und wie sie abnehmen und
verschwinden.
Zweitens, in welcher Weise es etwa erreich­
bar ist, daß trotz der Unvollkommenheit der
ethischen Dispositionen ein richtiges Han­
deln erzielt wird. Wir sehen, wie die Eltern, welche
wahrhaft ihre Pflicht erfassen, ihre Kinder ethisch führen, wie
sie den Gefahren, denen sie ihre Tugend nicht gewachsen
glauben, vorbeugen usf. Wir sehen, wie der Staat gewisse Dinge
verbietet, nicht weil sie in sich selbst zu tadeln, sondern weil sie
eine Gefahr zu Unordnungen einschließen, Präventivmaßregeln
trifft, die, wenn sie nicht zu weit gehen und in unangenehmer
und unnötiger Weise die freie Bewegung beschränken, in keinem
geordneten Staate zu entbehren sind. So führt auch der einzelne
sich selbst. Jeder hat ethische Unvollkommenheiten. Die ethische
Führung ist von höchster Wichtigkeit und wer ihre Regeln nicht
kennt oder mißachtet, wird tausendfach von dem, was er als
richtigen Zweck erkannt, abfallen.
Einen sehr wichtigen Gegenstand der Ethik bilden auch die
geselligen Verbindungen, welche auf Tugend gegründet sind und
10 Ethische Zwecke anstrebende Verbände

in welchen die Kraft der einzelnen sich durch die Vereinigung


verstärkt und zu Leistungen führt, zu welchen der Isolierte nicht
fähig ist. Eine solche gesellige Verbindung ist schon die Freund­
schaft, wenigstens diejenige, die wahrhaft des Namens würdig
ist. Über sie handelt die antike Ethik mit Vorliebe. Alle sokrati-
schen Schulen haben Untersuchungen darüber angestellt, Ari­
stoteles hat ihr von den Büchern der Nikomachischen Ethik
nicht weniger als zwei gewidmet. Auch E p i k u r verweilte aus­
führlich dabei. Eine andere, aber der Freundschaft wesentlich
verwandte Verbindung ist die Ehe und Familie. Eine weitere
der Staat. Die enge Beziehung der Politik zur Ethik wurde schon
hervorgehoben. Wenn die Ethik sich allseitig und voll entwickelt,
so kann sie die ganze Staats- und Rechtsphilosophie in sich auf­
nehmen. Auch die religiöse Gemeinschaft, das, was man Kirche
nennt, gehört zu den ethische Zwecke verfolgenden geselligen
Verbänden. Hier entstehen wieder verschiedene Fragen, z. B.
ob es gut sei, daß sich religiöse Gemeinschaften bilden, sei es
schlechthin, sei es unter gewissen Umständen. Ferner in welche
Beziehung eine solche Gemeinschaft dann zum Staate zu treten
habe, ob er von ihr oder sie von ihm abhängig sein solle, ob die
Vereinigung oder die Trennung der geistlichen und weltlichen
Gewalt den höchsten Zielen der Menschheit förderlicher sei
u. dgl. mehr.
So stehen wir denn vor einer reichen Fülle von Problemen, und
schon durch deren Aufzählung, so allgemein sie gehalten war,
hoffe ich, ein wenig anschaulich gemacht zu haben, was Ethik ist.
e) Eine wichtige Untersuchung aber habe ich noch unerwähnt
gelassen. Und doch werden wir sie an die Spitje zu stellen haben,
wir werden uns vor allem ein Urteil über die Ausgangspunkte
moralischer Forschung, über die Grundlagen, auf denen ethische
Einsicht ruht, zu bilden haben. Denn hier herrscht große Ver­
wirrung, die Divergenz der Meinungen ist im ganzen Gebiet der
Ethik nirgends so groß wie in bezug auf die Prinzipien ethischer
Erkenntnis.
Es wäre gewiß auch erwünscht, in einer gedrängten histori­
schen Übersicht die Lehren der bedeutenderen Denker auf
ethischem Gebiete darzustellen. Es herrscht ja vielfach Uneinig­
Normwissenschaften 11

keit und bei einem solchen Zustand ist es nicht nur anregend,
sondern geradezu notwendig, die verschiedenen Lösungsversuche
kennenzulernen. Doch kann hier nur auf die wichtigsten Rich­
tungen eingegangen werden, wobei jeweils ein System für eine
ganze Gruppe ähnlicher zu stehen hat.
Noch eine Bemerkung über den besonderen Charakter der
„N ormwissenschafte n“, zu denen man auch die Ethik
zu rechnen pflegt.“ Vergleicht man mit einem Lehrbuch der
Physik etwa ein Handbuch der Baukunst oder der Hygiene oder
auch der Logik, so fällt sofort auf, daß hier nicht einfach gelehrt
wird, wie die Menschen wirklich bauen, welche Verhaltungs­
maßregeln man anzuwenden hat, um gesund zu bleiben oder
um richtig zu schließen, sondern wie gebaut werden soll, wie
man Kleidung, Lebensweise usw. einrichten soll oder wie man
schließen und beweisen soll. Gewiß werden auch in diesen Fällen
„Gesetje“ in dem Sinne verwendet, wie man von physikalischen
Gesehen zu sprechen pflegt (als Zusammenfassungen von Einzel­
tatsachen), aber auch sie dienen immer einem Sollen. Da nun
im gewöhnlichen Sprachgebrauch das Wort „Gesetj“ bald in der
einen, bald in der anderen Bedeutung verwendet wird, so hat
man, um diese Zweideutigkeit zu vermeiden, für diese zweite
Art von Gesehen den Ausdruck Normen und für die Wissen­
schaften, die aus solchen Normen bestehen, den Ausdruck norma­
tive oder Normwissenschaften eingeführt.
Wie kommt denn aber eine Wissenschaft dazu, Normen auf­
zustellen? Woher nehmen gewisse Disziplinen das Recht, Sä^e
von der Form: „Es soll so sein“ anstatt „Es ist so“ auszusprechen?
Es ist ja niemand da, der im eigentlichen Sinne befiehlt, denn
Ausdrücke, wie „die Logik befiehlt“, sind doch offenbar nur bild­
lich zu verstehen. Der Grund liegt darin, daß die Normen dieser
Wissenschaften die Bedingungen darstellen, unter denen ein ge­
wisser, selbstgewählter Zweck erreicht wird, z. B. in der Logik:
Wenn du richtig urteilen und dich vor Irrtümern schütjen willst,
so muß dein Schließen so und so vor sich gehen.
Man könnte den Imperativ auch vermeiden und durch die
hypothetische Form ersehen, er besagt nichts anderes als: Wenn
du das willst, mußt du so und so handeln. Der Imperativ (z. B.
12 Jede Normwinenschaft durch einen Zweck charakterisiert

in -der Logik) wird zur Selbstverständlichkeit, weil der Zweck,


das Richtige zu tun, d. h. hier richtig zu schließen, selbstverständ­
lich ist.
Demnach ist die Normwissenschaft im letzten
Grunde dadurch charakterisiert, daß sämt­
liche Erkenntnisse, aus denen sie besteht,
einem einzigen Zweck dienen. Der Zweck ist das
Band, das im übrigen vollständig Verschiedenes zusammenhält.
ERSTER ABSCHNITT

VON DEN PRINZIPIEN DER ETHISCHEN ERKENNTNIS


Ethik als Wissenschaft 15

Vorbemerkungen über die Schwierigkeiten dieses Abschnittes

Es sind schwierige Fragen, mit denen wir uns zu beschäftigen


haben, doch lassen sie sich weder umgehen noch verschieben.
Sonst müßten wir die wichtigsten Sätje auf Treu und Glauben
hinnehmen, was aber nicht Erkenntnisse gewinnen bzw. ver­
mitteln hieße. Unsere Aufgabe ist es ja, die Ethik als
Wissenschaft zu begründen.
Zum Trost mag es uns gereichen, daß Schwierigkeiten vielfach
etwas Anziehendes haben. Gelingt es uns, hindurchzukommen,
so bietet die Freude des Kontrastes einen schönen Gewinn; man
vergleicht das frühere Dunkel mit der gewonnenen Klarheit und
fühlt sich belohnt.
Damit wir dies erreichen, müssen wir aber behutsam und
methodisch vorgehen, Schritt für Schritt den Weg bahnend, denn
es wäre das Allerverkehrteste, angesichts eines schwierigen
Punktes zu sagen: Machen wir, daß wir rasch darüber hinweg­
kommen I So wenig wie ein Überschlagen der Blätter, bringt ein
Lesen ohne Verständnis in einem wissenschaftlich zusammen­
hängenden Buche wahrhaft vorwärts.
I. Kapitol

Inwiefern Erkenntnisprinzipien überhaupt Gegenstand


des Streites und der Untersuchung werden können

S 5. E» gibt unmittelbare Einsichten

Es ist unmöglich, in der Wissenschaft jede Behauptung, die


man aufstellt, zu beweisen. Denn jeder Beweis ruht auf gewissen
Voraussetzungen Beweist man diese, so wieder aus gewissen
Voraussetzungen. Aber ins Unendliche kann das nicht weiter­
gehen. Um diesen regressus in infinitum zu vermeiden, darf man
nicht etwa im Zirkel beweisen, denn es wäre ein solcher Beweis
nichts anderes als ein maskiertes „idem per idem“ (auch un­
maskiert kommt ein solches vor. Molière im „Eingebildeten
Kranken“ macht sich darüber lustig: „Mihi a docto doctore doman-
datur causam et rationem, quare opium facit dormire. Ad quod
respondeo: Quia est in eo virtus soporifica, cuius est natura
sensus assoupire“).
Man muß also von Unbewiesenem ausgehen, von unmittel­
baren Annahmen. Dies aber ist Gegenstand der Angriffe der
alten Skeptiker: Die ersten Annahmen seien willkürlich und somit
alle Beweise hinfällig. In der Tat fand selbst Blaise Pascal
(1625—1662) darin einen Übelstand. Es wäre das beste, meinte
er, wenn man jedes Wort definierte und jeden Satz bewiese.
Leider sei das unmöglich. Aber das Bedauern war ganz un­
gerechtfertigt. Schon der vergleichende Blick auf das, was beim
Definieren geschieht, hätte ihn belehren können. Wenn jemand
uns um die Bedeutung eines Wortes, das ihm nicht bekannt ist,
befragt, haben wir nicht immer ein gleichbedeutendes, aber ver­
ständlicheres Wort — das heißt ja eine Definition — zur Ver-
Unmittelbare Einsichten sind echte Erkenntnisprinzipien 17
fügung, aber zuweilen bedarf es dessen auch nicht, weil wir ihm
Dinge zeigen können, die durch den betreffenden Namen be­
zeichnet werden und ihn .auf diese Weise zum Verständnis des
Sinnes bringen. So ist es denn auch kein Verlust, wenn wir beim
Beweisen Sätje zugrunde legen, die nicht zu beweisen sind. Nur
dürfen es natürlich nicht willkürliche Annahmen sein, weil dann
alles darauf Gebaute ohne Halt wäre. Sie müssen unmittelbar
gesichert sein, d. h. Einsichten, die jede Möglichkeit des Irrtums
ausschließen.
Solche Sätje allein sind echte Erkenntnisprinzipien. Es gibt
ihrer zwei Klassen. Die einen sind Wahrnehmungen einzelner
Tatsachen, die anderen sind allgemeine Gesetze, und zwar solche
allgemeine Geseke, die man nicht auf Grund der Kenntnis sämt­
licher Einzeltatsachen einsieht, sondern auf Grund der Begriffe.
Zu jenen gehört es, wenn ich z. B. erkenne, daß ich jetjt etwas
sehe oder denke. Es mag falsch sein, an das Gesehene zu glauben,
ich mag träumen, es mag ein Irrtum sein, was ich denke, aber
daß ich sehe, daß ich denke, dessen bin ich unmittel­
bar gewiß.
Zu diesen gehört es, wenn ich urteile, daß zwei Dinge mehr
sind als ein Ding, oder daß etwas Rotes als solches nicht etwas
Grünes ist, oder daß es kein Dreieck mit vier Seiten geben kann
oder daß ein Ganzes nicht sein kann, wenn seine Teile nicht sind.
Solche unmittelbar sicheren Urteile also müssen allen Be­
weisen als Prinzipien zugrunde liegen.

j 8. Streitfragen Aber Erkenntnlsprlnzipien

1. Man sollte meinen, in betreff ihrer könnte gar kein Streit


entstehen. Weil unmittelbar sicher, sind sie ohne Schwierigkeit,
also jedem zugänglich. Sie sind Ausgangspunkte der Unter­
suchung; ist es da nicht paradox, daß sie gleichwohl den Gegen­
stand einer Untersuchung und Meinungsverschiedenheit abgeben
sollen? Wo sollte man denn bei diesem Streite anknüpfen, wenn
nicht bei ihnen selbst? Und doch wird um sie gestritten, und
zwar in zweifacher Weise:
18 Streit über die Erkenntnisprinzipien

a) man streitet darüber, von welchen Säijen man auszugehen


hat, um Aufschlüsse in einer vorliegenden Frage zu bekommen.
b) Und wenn solche Sätje vorliegen, so streitet man, ob sie
denn wirklich unmittelbar sicher seien.
2. (ad a) Das erste ist nicht schwer zu verstehen. Man denke
an einen einfachen mathematischen Lehrsatj, z. B. den Satj über
die Winkelsumme im Dreieck. Es gibt unzählige Prinzipien.
Welche werden uns zum Beweise dienlich sein?
So weit kann hier der Zweifel gehen, daß man nicht einmal
weiß, in welcher der beiden Klassen von Prinzipien man suchen
soll, unter den Wahrnehmungen oder unter den Axiomen, d. h.
den unmittelbar aus Begriffen einleuchtenden Sätjen. Diese Frage
tauchte z. B. bezüglich des allgemeinen Kausalgesetjes, des Ge-
setjes der Trägheit u. a. auf.
3. (ad b) Schwieriger begreiflich ist das zweite. Zunächst
scheint es geradezu undenkbar, wie in bezug auf unmittelbar
einleuchtende Wahrheiten ein Zweifel aufkommen kann, und,
wenn ein solcher aufkommen kann, was dann die Evidenz von
Urteilen für einen Wert haben soll.
Wir wollen jedes von beiden gesondert erörtern, nach dem
Descartes sehen Grundsatj, eine schwierige Frage in ihre
Teilfragen aufzulösen, um jede einzelne darin liegende Schwie­
rigkeit gesondert zu besiegen. Das „divide et impera“ gilt auch
in der Forschung.
Wir fragen also zuerst, wie es geschehen, kann, daß über un­
mittelbar Evidentes Meinungsverschiedenheiten aufkommen. Es
sind da wieder zwei Fälle zu unterscheiden.
«) Vor allem kommt es vor, daß einer etwas für unmittelbar
sicher hält, was es nicht ist. Wie dies möglich ist, sagt uns die
Psychologie, indem sie uns zeigt, daß unsere Urteile vielfach ge­
wohnheitsmäßigen Neigungen folgen. Es gibt sogar angeborene
Urteilsinstinkte. Dahin gehört der Trieb, allem zuzustimmen,
was wir sinnlich wahrnehmen. Wir glauben blind an das, was
wir sehen, hören, tasten, d. h. wir nehmen Farben, Töne, Hart
und Weich etc. für wirklich. Ja, dieser Glaube ist sogar ein
Bestandteil dieser Empfindungsakte selbst. Andere triebartige
Urteile sind das Ergebnis der Gewohnheit. Wir erwarten unter
Verwechslung von Einsicht und blindem Glauben 19

ähnlichen Umständen Ähnliches und sind dann verwundert,


wenn unsere Erwartung einmal durch die Erfahrung dementiert
wird. Dann müssen wir freilich unser Urteil berichtigen, aber
wenn uns jemand vorher gesagt hätte, daß unsere so zuversicht­
liche Überzeugung ein Irrtum sei, ja nur, daß sie der unmittel­
baren Sicherheit entbehre, hätten wir heftig widersprochen.
Solche Opposition mußte Columbus erleben, als sein Vor­
haben sich an dem Grundsatj, es könne keine Antipoden geben,
wie an einer undurchdringlichen Mauer stieß. Weil solche
instinktiven oder gewohnheitsmäßigen Urteile subjektiv völlig
überzeugt sein können, kann es geschehen, daß man sie mit evi­
denten verwechselt, denn dieses Moment haben sie ja mit ihnen
gemein.
ß) Auch der umgekehrte Fall kommt vor. Es leugnet der eine,
wovon der andere mit Recht behauptet, daß er darüber voll­
kommene Sicherheit besitje, d. h., daß sein Urteil unmittelbar
einsichtig sei. Auch hier sind wieder zwei Fälle zu unterscheiden,
ein einfacher und ein schwieriger zu erklärender.
Jener ist der Fall, wo es sich um die Wahrnehmung einzelner
Tatsachen handelt. Ich nehme etwas wahr, was ein anderer nicht
wahrnimmt. Ja, wenn man das Wort Wahrnehmung im strengen
Sinne nimmt, verhält es sich sogar immer so. Wahrnehmung in
diesem Sinne ist nur die innere Wahrnehmung, und diese ist
evident. Meine innere Wahrnehmung aber kann niemand mit
mir teilen, und so kann es leicht geschehen, daß mir hier einer
widerspricht.
Schwieriger liegt der Fall, wo es sich um die Annahme eines
allgemeinen Gesetjes handelt, das mir auf Grund der Begriffe
einleuchtet, d. h. um eine unmittelbar erkannte Wahrheit
a priori. Wie kommt es da zu einem Dissens? Solche Wahr­
heiten leuchten ja aus den Begriffen ein und an diesen haben
beide teil, es scheinen somit bei beiden die Bedingungen für den
Eintritt des einleuchtenden Urteils gegeben. Wieso also Streit?
So halten denn manche wirklich diesen Fall von vornherein für
ausgeschlossen. Es könne nicht der eine der Einsicht ermangeln,
die der andere besitjt, oder gar vom Gegenteil überzeugt sein.
Nur in Worten mag er das Gegenteil behaupten, nicht aber in
20 Begriffe als Veräusserung der Einsicht

Gedanken. So schon Aristoteles. Immerhin ist es nicht un­


denkbar, daß auch ein solches Prinzip bestritten werde. Denn
wenn ein Satj von der Art ist, daß er unmittelbar aus Begriffen
eingesehen werden kann, so ist damit noch nicht gesagt, daß
jeder diese Begriffe besitzt, d. h. zu denken vermag und auch
nicht, daß der Satj jedem, der die Begriffe denkt, auch wirklich
einleuchten müsse. Es kommt oft vor, daß wir Begriffe denken,
ohne ein Urteil zu fällen, ähnlich wie es geschehen kann, daß
wir von einem Schluß, der sich aus gewissen Prämissen ergibt,
diese Prämissen denken und doch den Schluß nicht ziehen. So
wenn wir unaufmerksam sind. Ich stelle z. B. zwei Gruppen von
Dingen vor, die eine aus sechs Dingen bestehend, die andere
aus zwei Hälften von je drei Dingen, und fälle doch kein Urteil
über deren Gleichheit in bezug auf Größe der Menge.
Ist der Grund für das Unterbleiben des Urteils hier eine
andere Richtung der Aufmerksamkeit, so ist in anderen Fällen
Ermüdung im Spiel. Auch andere Momente können das Ein­
treten des evidenten Urteils verhindern. So z. B. wenn ein
Scheinargument dagegen vorliegt. Das Urteil wird dann oft
suspendiert, ja unter Umständen tritt das entgegengesetjte an
seine Stelle. Gleichwohl bleibt der Satz ein solcher, dessen Wahr­
heit unmittelbar aus den Begriffen einleuchten kann. Und jede
Möglichkeit des Irrtums bleibt für den, der ihn evident urteilt,
ausgeschlossen; dann irrt natürlich auch der nicht, der, jenem
vertrauend, sich dessen Urteil in blinder Weise zu eigen macht.
Ein Beispiel für diesen Fall der Verdrängung durch Schein­
argumente ist es, daß sich manche sogar am Satj des Wider­
spruchs haben irremachen lassen. Wenn irgendein Gese§ un­
mittelbar einleuchtet, so dieses, und doch ist es, in alter und
neuer Zeit, schon bestritten worden. Zwar könnte einer meinen,
nur in Worten, nicht ernstlich im Denken habe dies geschehen
können, und oft mag das stimmen. Aber immer? Wie ist es denn,
wenn die Leugnung des Satjes gerade zum Grundsatj einer
Philosophenschule erhoben wurde? Das ist nämlich vorgekom­
men (Hegel). Hier liegt denn doch wohl ein Fall vor, wo man
durch Scheinargumente gefangen und geblendet ist. Zwei Bei­
spiele:
Argumente gegen den „Satj des Widerspruchs“ 21

Die Peripherie des Kreises hat so viel Punkte, als der Kreis
Radien hat, denn jeder Radius trifft sie in einem Punkte, und
es kann keinen Punkt in ihr geben, der nicht einen Radius be­
grenzte. Nun ist ein Kreis mit halbem Durchmesser halb so groß.
Ein konzentrischer Kreis mit dem halben Durchmesser hat aber
gleichviel Radien wie der mit dem doppelt so großen, worin er
sich befindet. Also scheint die halb so große Kreislinie nicht
weniger Punkte zu haben als die doppelt so große.
Eine andere solche Aporie stammt vom Eleaten Zeno
(ca. 520 v. Chr.) und will zeigen, daß es keine Bewegung geben
könne. Der fliegende Pfeil, woher kommt er? Aus dem Bogen
des Schüßen. Wohin gelangt er schließlich? Ans Ziel. Dazwischen
liegt eine Strecke von unbestimmter Länge, welche er in einer
Zeit von bestimmter Länge durchlaufen hat. In der halben Zeit
die halbe Strecke usw. Aber wie bringt er das zustande? Wann
bewegt er sich denn eigentlich? In der vergangenen Zeit nicht,
denn diese ist nicht mehr; in der Zukunft nicht, denn sie ist noch
nicht. Also nur in der Gegenwart. Aber diese ist nur ein Punkt,
und in einem Punkte kann er keine Strecke durchlaufen. Nun
sagen sich die Leute: es ist aber doch sicher, daß der Kreis mit
dem doppelten Durchmesser doppelt so groß ist; es ist doch
sicher, daß es Bewegung gibt. Also geben sie, besiegt von diesen
Paradoxien, zu, daß es Widersprechendes geben könne. Erst
wenn diese Scheinargumente wieder dem Gedächtnis entschwun­
den sind, wird von neuem Platj in ihrem Geiste für die ein­
leuchtende Zustimmung zum Satj des Widerspruchs. Wieder
unbefangen aufmerksam auf den Sinn der Worte erkennen sie:
es kann etwas nicht zugleich wahr und falsch sein.
Wie Unaufmerksamkeit, Müdigkeit und widersprechende
Scheinargumente verhindern können, daß das evidente Urteil
zustande komme, so auch die Gewohnheit. Man hat häufig die
Erfahrung gemacht, daß etwas unberechtigt fest und steif be­
hauptet und als unmittelbar einleuchtend hingestellt wird, was
sich als falsch erwies, und hegt nun Mißtrauen, auch wo es nicht
am Platje ist.
22 Die Urteilsevidenz verliert nicht ihren Wert,

{ 7. Ob die Möglichkeit des Zweifels den Wert der Evidenz


beeinträchtigt?

Wir verstehen jetjt, wie es zu einem Zweifel und zum Streite


über unmittelbar Evidentes kommen kann; aber vielleicht hat
gerade die Aufmerksamkeit auf diese Tatsache selbst wieder zu
einem neuen Zweifel geführt. Heißt denn diese Möglichkeit zu­
geben nicht soviel wie zugestehen, daß sich auch unmittelbar evi­
dente Urteile nicht als verläßliche Grundlage für die Wissen­
schaften erweisen? M. a. W. verliert denn durch diese Möglich­
keit die Urteilsevidenz nicht allen Wert?
Antwort: Warum sollte sie dies? Etwa darum, weil einer, der
ein Urteil mit Evidenz fällt, es als möglich zugeben müßte, daß
ein anderer das entgegengesetzte mit Evidenz fälle? Das wäre
allerdings schlimm und würde allen Unterschied von Wahr und
Falsch aufheben. Davon aber kann gar nicht die Rede sein.
Sehe ich etwas ein, so sehe ich auch ein, daß niemand das
Gegenteil einsehen kann. Wer gegenteilig urteilt, kann nur
blind urteilen.
Oder sollte die Wertlosigkeit der Urteilsevidenz sich daraus
ergeben, daß zuweilen blinde Urteile mit evidenten ver­
wechselt werden? Das kommt vor, hebt aber den Unterschied
zwischen evidenten und blinden Urteilen nicht auf; im Gegenteil,
denn ohne ihn könnte es ja auch gar nicht zu dieser Verwechslung
kommen. Um zu verstehen, was es heißt „ein evidentes Urteil“,
muß ich bereits evidente Urteile erlebt und von blinden unter­
schieden haben. Wer also derartige Bedenken hegt, verrät damit
nur, daß er sich nicht im klaren darüber ist, was es heißt, evident
urteilen. Es sind in der Tat Fehldeutungen hier nicht selten. So
scheinen manche die Evidenz für ein Merkmal am Urteil zu
halten, woran man erkenne, daß das betreffende Urteil wahr
sei. Wäre dem so, so hätte man immer zuerst festzustellen, ob
das Urteil dieses Merkmal aufweise, und schon dieses Feststellen
wäre ein Urteil. Um es als wahr zu erkennen, müßte man er­
kennen, daß es das Merkmal Evidenz hat, und um dies zu er­
kennen, bedürfte es wieder eines evidenten Urteils usw. in inf.
Auch die schon von Aristoteles als verkehrt erkannte
weil Zweifel und Verwedislungen vorkommen 23

Meinung verrät sich häufig in den Deutungen der Urteilsevidenz,


daß etwas erkennen und wahrnehmen, daß man es erkenne,
zwei verschiedene Akte seien.
Nein, so ist es nicht; das evidente Urteil ist selbst das
Erkennen und nicht das Maß für seine eigene Wahrheit —
dessen bedarf es nicht — sondern für die Wahrheit anderer
Urteile, die man nicht leugnen kann, ohne mit evidenten in
Widerspruch zu geraten.®

| 8. Rttdcblick auf dieses Kapitel

Werfen wir einen Rückblick auf das Gesagte. Es ist nicht mög­
lich, aber auch nicht nötig, alle Urteile zu beweisen. Es gibt un­
mittelbar einleuchtende, seien es evidente Wahrnehmungen, seien
es allgemeine Gesetje a priori, die unmittelbar aus den Begriffen
einleuchten. Solche Urteile können nicht falsch sein, wohl aber
kann es geschehen, daß 'blinde, weil subjektiv überzeugt, irr­
tümlich für evident gehalten werden.
Ohne evidente Urteile gäbe es keine Wissenschaft, sondern
bloß Anhäufungen von Regeln, welche die Gewohnheit sank­
tioniert. Daß es möglich ist, die Frage aufzuwerfen, ob ein vor­
liegendes Urteil evident sei, hindert nicht, evident zu urteilen
und auf dem absolut verläßlichen Fundament evidenter Urteile
Wissenschaften aufzubauen.
n. Kapitel

Der Streit über die Prinzipien ethischer Erkenntnis

{ 9. Autonome und heteronome Ethik- Ethischer Relativismus.


Drei Fälle der Anfechtung aulgestellter Prinzipien

In vielen Wissenschaften herrscht Streit über ihre Prinzipien,


nicht einmal die Mathematik sehen wir davon verschont, aber
nirgends tobt er heftiger als in der Ethik. Ja, so groß ist hier die
Meinungsverschiedenheit und die Verwirrung, daß viele glau­
ben, es gebe in der Vernunft gar keine natürliche Basis der Ethik.
Was Recht, was Unrecht, sittlich gut und sittlich schlecht sei,
werde lediglich durch positive Satzung bestimmt (zu welcher auch
die öffentliche Meinung zu zählen sei). So berichtet uns schon
Aristoteles, und wie er den Zustand zu seiner Zeit schil­
dert, so ist er heute nach mehr als zweitausend Jahren, und die­
selbe Folgerung aus der Verwirrung wird auch heute noch ge­
zogen, selbst von solchen, die sonst nicht zur Skepsis neigen.
Sehen wir uns das Chaos näher an, bei dessen Anblick so
viele jede Hoffnung sinken lassen. Welches sind denn die stritti­
gen Punkte? Ach, alles und mehr, als man für möglich halten
sollte, wird in Frage gestellt.
Man hat vor allem eine heteronome von einer autonomen
Ethik zu unterscheiden.4 Wird die Entscheidung über „gut“ und
„schlecht“ auf eine Autorität zurückgeführt, sieht man m. a. W.
das Kriterium der Sittlichkeit in einer positiven Gesetzgebung,
so ist das eine heteronome Ethik. Wird aber als entschei­
dende Instanz nicht ein positives Gesetj, sondern die eigene
moralische Einsicht herangezogen, so spricht man von auto­
nomer Ethik. Die heteronome Auffassung führt folgerichtig zu
Grundfragen hinsichtlich der ethischen Prinzipien 25

der Konsequenz, daß es überhaupt kein allgemein verpflichtendes


ethisches Gesetj gebe, sondern höchstens willkürliche Festsetzun­
gen. Die Skeptiker sagen, nichts sei wahr, die Subjektivisten
oder Relativisten, alles sei wahr, aber nur für den Urteilenden
selbst. Die letzteren berufen, sich vor allem auf die Unterschiede
in der sittlichen Auffassung zu verschiedenen Zeiten und bei ver­
schiedenen Völkern. Es geht also eigentlich um zwei große Ent­
scheidungen:
1. Gibt es überhaupt allgemein gültige Prinzipien für
unser sittliches Handeln oder sind die angenommenen Prin­
zipien willkürlich festgesetzt?
2. Welche Prinzipien — vorausgesetzt, daß es sie gibt
-—dürfen berechtigterweisezurGrundlegung
der Ethik herangezogen werden? Der absolute
Skeptizismus hat eigentlich im Kapitel über die ethischen Prin­
zipien keinen Platj, denn er anerkennt gar keine letjten Prin­
zipien. Diese Lehre hebt sich selbst auf, wie schon Aristote­
les bemerkte, denn wer nichts sicher erkennen kann, der kann
auch nicht erkennen, daß er nichts erkennen kann. Eine wichtigere
Rolle spielt der ethische Relativismus, auf den wir immer wieder
zurüdckommen werden.
Wir wollen uns zunächst mit der zweiten Frage- beschäftigen.
Natürlich sind, nachdem die größten Geister sich schon so
viele Jahrhunderte mit ethischen Untersuchungen befaßt haben,
schon mannigfache Prinzipien in Vorschlag gebracht worden,
1. aber bei den einen wird bestritten, daß sie unmittelbar
evident,
2. bei den anderen, daß sie wirklich zu ethischen Folgerungen
führten,
3. bei anderen endlich beides.
Wenn diese Vorwürfe stimmen, so ist auch den Vertretern
solcher Prinzipien eine wissenschaftliche Begründung der Ethik
nicht gelungen und der Standpunkt der Relativisten erscheint
berechtigt. Wir wollen zunächst diese Gruppen näher betrachten
und durch ein oder das andere Beispiel erläutern.
26 Clarkes Theorie von der Zurüdcführung

§ 10. Erläuterung des ersten Falles5 (Clarke)

Samuel Clarke (1675—1729), ein jüngerer Zeitgenosse


John Lockes, der für die deutsche Philosophie insbesondere
durch seinen interessanten Briefwechsel mit Leibniz Be­
deutung gewonnen hat, will gefunden haben, daß es sich in
der Ethik, ähnlich wie in der Mathematik, um Relationen handle.
An die Zahlen knüpft sich eine besondere Art von Relationen,
nämlich Größenverhältnisse. Es gibt aber noch andere; mit allen
Dingen, Handlungen und Personen sind gewisse Relationen mit­
gegeben, und zu diesen gehören die Verhältnisse der An­
gemessenheit und Unangemessenheit (fitness and unfitness of
application of different things one to another). Sie sind etwas
der geometrischen Kongruenz und Inkongruenz Analoges; mit
ihnen hat es die Ethik zu tun: „Alle absichtliche Bosheit und
Rechtsverletjung ist auf ethischem Gebiete dasselbe, wie wenn
jemand in der Natur die bestimmten Verhältnisse der Zahlen,
die demonstrierbaren Eigenschaften mathematischer Figuren
ändern, aus Licht Finsternis, aus Bitter Süß machen wollte.“
Nach diesen Relationen richtet sich selbst der Wille Gottes, und
der unsere soll sich darnach richten. Diese ethischen Relationen
erkennt die Vernunft aus den Begriffen gewisser Dinge als ewige,
allgemeingültige, schlechthin unwandelbare Wahrheiten. Ins­
besondere leuchten uns so gewisse Pflichten gegen Gott ein. Wir
schulden ihm wegen seiner Attribute Verehrung, Liebe, An­
betung. Der Charakter des Angemessenen, Passenden (der Kon­
gruenz) tritt bei diesen Akten schier noch deutlicher zutage als
die Kongruenz geometrischer Figuren, die wir aufeinanderlegen.
Ebenso gewisse Pflichten gegen unsere Mitmenschen, vor allem
Gerechtigkeit und Billigkeit. Man soll den Nächsten behandeln,
wie man selbst von ihm behandelt sein möchte. Es knüpft sich
eben an die gleiche Natur die gleiche Relation der Angemessen­
heit bzw. Unangemessenheit. Ungerechtigkeit im Handeln ist
dasselbe wie Widerspruch in der Theorie, eines so widervernünf­
tig wie das andere. Daher ist es für den Menschen unmöglich,
sich nicht ebenso zu schämen, wenn sie einer Ungerechtigkeit, wie
wenn sie eines Widerspruchs überführt werden. Ein solcher
der ethischen Prinzipien auf Relationen 27

Kongruenzsatj ergibt auch die Pflicht der Dankbarkeit für


empfangene Wohltaten. Es ist offenbar inkongruent, wenn Gutes
mit Bösem vergolten wird.8
Diese Anschauung von Clarke wurde von vielen geteilt,
aber andere haben sie bestritten. Sie können nichts von einer
solchen Relation der Kongruenz entdecken, ja sie können sich
nicht einmal vorstellen, was für eine Relation das sein soll. In
Wahrheit, wenn wir auf den Vergleich mit den kongruenten
geometrischen Figuren achten, so erscheint eine Art Gleichheits­
relation gemeint; aber wie soll dann die Pflicht der Liebe und
Anbetung der Gottheit auf einer solchen beruhen? Besteht zwi­
schen den göttlichen Attributen und dem Akte der Anbetung
Gleichheit?
Auch die Pflichten gegen unsere Nebenmenschen sollen auf
solchen Gleichheitsrelationen beruhen, und hier kann schon eher
von Gleichheit gesprochen werden, obwohl sie durchaus nicht in
allem und vollkommen gegeben ist. In Wahrheit sind aber auch
die Menschen gar sehr voneinander verschieden, so daß eher
eine ungleiche Behandlung Anspruch auf Kongruenz erheben
könnte. Aber ist diese Kongruenz mehr als ein bloßes Bild?
Warum soll es denn inkongruenter sein, Gutes mit Bösem als
Böses mit Gutem zu vergelten?

j 11. Erläuterung des zweiten Falles (Die Utilitarier)

Ich nehme die Erläuterung aus der Schule der Utili­


tarier.7 So nennen sich diejenigen Ethiker, welche lehren, daß
die Güte oder Schlechtigkeit einer Handlung davon abhängt, ob
sie die Glückseligkeit aller denkenden und fühlenden Wesen
fördert oder beeinträchtigt. Das Gesetj, das ihnen als ausnahms­
los gilt und von welchem sie alle speziellen Vorschriften ab­
leiten, ist daher, daß man als höchstes Ziel die Glückseligkeit
aller anstreben soll, ein Satj, der fast in allen ethischen Systemen
in irgendeiner Weise anerkannt wird, freilich nicht als unmittel­
bar einleuchtend. Auch die Utilitarier pflegen ihn nicht für un­
mittelbar einleuchtend auszugeben, vielmehr suchen sie ihn
28 Kritik

empirisch zu begründen, indem sie sich darauf stütjen, daß jeder­


mann (selbst die Asketen, die ihr Vergnügen darin suchen, sich
selbst zu quälen, nicht ausgenommen) sein eigenes Glück begehre.
Wie soll sich aber aus dieser Erfahrungstatsache das von ihnen
aufgestellte Gesetj ergeben?
Es liegen mehrfach Versuche einer Ableitung vor.
a) Auf Grund der Abhängigkeit des Glücks des einzelnen von
dem der Gesamtheit.
Kritik: Es gibt Fälle, wo dies nicht zutrifft, wo vielmehr beide
Interessen im Gegensatj zueinander stehen. Man denke an die
Standhaftigkeit im Martyrium, an die Tapferkeit des Soldaten,
überhaupt an jede Selbstaufopferung bis zum Tode. Die Fälle
des Regulus, Leonidas, Giordano Bruno, der
christlichen Märtyrer würden also zeigen, daß jenes vermeint­
liche ausnahmslose Gesetj nicht unbedingte Geltung hat, und
zwar gerade da nicht, wo wir die der Ausnahme entsprechenden
Handlungen am meisten zu bewundern pflegen.
b) Ein zweiter Versuch: „Jeder hat seine Glückseligkeit anzu­
streben, also alle die aller.“
Kritik: Wenn jeder nur seine Glückseligkeit über alles stellt,
so stellt eben keiner das Glück aller über alles. Das Argument
ist ein bloßer Paralogismus, worin das „alle“ wie „einer“ be­
handelt wird.
c) Ein dritter Versuch stütjt sich auf das Gesetj, daß man die
häufig in Anwendung gebrachten Mittel schließlich ohne Rück­
sicht auf ihren ursprünglichen Zweck liebgewinne und begehre,
so daß man z. B. einem anderen, dem man zunächst nur um des
Gegendienstes willen sich gefällig und nü^lich erwiesen, mit der
Zeit uneigennütjig diene. Diese Entwicklung sei naturgemäß, ein
solches Verhalten das natürlich richtige Verhalten des Menschen.
Kritik: 1. Was heißt hier „naturgemäß“? Soviel wie nach
Naturgesetjen? Nach solchen geschieht alles, Krankheit wie
Gesundheit, Erkenntnis wie Irrtum, tugendhaftes wie laster­
haftes Verhalten entsprechen Naturgesetjen.
2. Auch trifft die Behauptung nicht für alle zu. Viele sind und
bleiben Egoisten. Es wäre also das eine nicht mehr zu billigen als
das andere.
des utilitarischen Grundprinzips 29

3. Sagt man, die Umwandlung des Egoisten in den Altruisten


sei der gewöhnlichere Fall, so ist erstens nicht abzusehen, warum
das Gewöhnliche das Richtige, Bessere sein soll. Warum nennt
man dann ein minderwertiges Verhalten „ordinär“ und spricht
von einem besonders wertvollen als einem „außerordentlichen“?
Zweitens aber ist es sehr fraglich, ob der Fall wirklich der ge­
wöhnlichere ist.
4. Der Prozeß, auf den man sich beruft, ist die Folge der Enge
des Bewußtseins, welche uns verhindert oder es doch erschwert,
mehreres zu gleicher Zeit im Auge zu behalten. So wird über
dem gewohnheitsmäßig angewandten Mittel der Zweck ver­
gessen. Gewohnheitsmäßig entwickelt sich aber nicht nur
Altruismus aus ursprünglich egoistischen Trieben, sondern ebenso
auch die blinde und törichte Leidenschaft des Geizigen für das
Geld. Der Zweck wird ganz vergessen und was bloß Mittel sein
soll, wie wenn es selbst Zweck wäre, sinnlos begehrt.
Sagen die Utilitarier: Wir tadeln Geiz und loben Nächsten­
liebe, weil jener gemeinschädlich, diese nütjlich ist, so ist die
Antwort richtig, aber an dieser Stelle nicht am Platj, denn das
utilitarische oberste Gesetj soll ja nicht vorausgese^t, sondern
auf die erwähnte psychologische Tatsache zurückgeführt werden.
Die Antwort läuft also auf einen circulus vitiosus hinaus.
5. Außerdem ist zu sagen, daß wir bei den Utilitariern immer
wieder der schon gekennzeichneten Verwechslung von Gesetj im
Sinne von Naturgesetz mit Gesetj im Sinne eines Gebotes, einer
Regel richtigen Verhaltens begegnen. Was psychologisch gesetj-
mäßig ist, kann z. B. gegen die logischen Geseke verstoßen. So
ist es z. B. ein psychologisches Gesetj, daß wir zunächst allgemein
der äußeren Wahrnehmung vertrauen, aber dieses Vertrauen
bleibt unvernünftig und involviert einen Irrtum.
Sagt der Utilitarier daraufhin, er verstehe unter dem Natur­
gemäßen hier nicht alles, was nach Naturgesetjen geschieht, son­
dern, was einer natürlichen Vorschrift entspricht, so ist das eine
petitio principii. Die Naturgemäßheit im zweiten Sinne ist ja
eben erst zu beweisen.
d) Ein vierter Versuch beruft sich darauf, daß die große
Mehrzahl ein solches Verhalten immer billige. Allein
30 Wahrhaftigkeit als ethisches Grundprinzip

«) heißt das nicht den Begriff „sittlich“ entwürdigen und ver­


fälschen? Was die Mehrheit billigt, muß darum doch nicht
billigenswert sein.
ß) Auch ist diese Mehrheit gar nicht sichergestellt. Gar oft
opfert der einzelne dem Augenblick sein künftiges Glück.
Wie oft sind die Interessen der herrschenden, der Zahl nach
überlegenen Partei ungerecht.
y) Was die Mehrheit billigt, ist oft besser ihren Handlungen
als ihren Worten zu entnehmen; diese klingen altruistisch, jene
sind egoistisch.
e) Man nimmt den Glauben an Gott und seine vergeltende
Gerechtigkeit zu Hilfe, um das Gebot zu begründen (F e c h -
n e r). Allein:
<») damit wird das Motiv geändert.
ß) Woher weiß man, daß Gott es will? Um zu beurteilen, ob
ein Gebot wirklich von Gott gegeben sein könne, muß man be­
reits erkannt haben, was das gute, das ethisch richtige Verhalten
ist.
y) Beruft man sich auf göttliche Offenbarung, so bliebe, selbst
wenn diese als solche gesichert wäre, noch die Frage der Glaub­
würdigkeit des göttlichen Wortes offen, die selbst wieder nur auf
Grund ethischer Erkenntnis beantwortet werden könnte.

§ 12. Erläuterung des dritten Falles (Wollaston)

Ein älterer Zeitgenosse Clarkes ist Wollaston


(1659—1724). Er legt als einleuchtendes Prinzip denSatj zugrunde,
daß man nicht lügen dürfe. Hieraus glaubt er alle anderen ethi­
schen Gebote ableiten zu können. Eine Wahrheit könne nämlich
nicht nur durch Worte geleugnet werden, sondern auch durch
Handlungen. Eine Handlung, welche einen oder mehrere wahre
Sätje leugnet, ist notwendig schlecht. Und jede schlechte Hand­
lung, sei sie Werk oder Unterlassung, enthält die Leugnung
irgendwelcher Wahrheit. So sei z. B. die Verlegung eines Kon­
trakts die Leugnung, daß der Kontrakt geschlossen worden sei.
Nicht eine Leugnung in Worten, aber durch Handeln. Die
Kritik von Wollastons Lehre 31

Beraubung eines Reisenden ist eine Leugnung, daß, was ihm


genommen werde, sein sei.
Gut ist eine Handlung, deren Unterlassung im eben erklärten
Sinne schlecht sein würde oder deren Gegenteil schlecht ist.
Eine indifferente Handlung ist eine solche, die geübt oder
unterlassen werden kann ohne Widerspruch gegen irgendeine
Wahrheit.
Wollaston glaubt seine Theorie in schönstem Einklang
mit den Tatsachen. So mache sie z. B. begreiflich, wie die Morali­
tät der Menschen fortschreite: in Abhängigkeit vom Fortschritte
der Wissenschaft. Auch hebe sie keineswegs den Unterschied
zwischen Laster und moralischem Irrtum auf. Dieser ist da ge­
geben, wo man den falschen Satj, den man durch die Handlung
behauptet, für wahr hält. Die Handlung ist dann zwar schlecht,
aber der Handelnde ohne Schuld.8
Kritik, erstens der Evidenz des Prinzips: Der Satj,
daß man nicht lügen dürfe, soll nach Wollastons Lehre un­
mittelbar aus den Begriffen einleuchten. Wäre dem so, so müßte
er ausnahmslos gelten. Aber viele und bedeutende Männer
lehren das Gegenteil, indem sie Fälle anerkennen, wo es berech­
tigt ist, die Unwahrheit zu sagen. Platon bedient sich eines
solchen Beispieles. Ein Rasender hat bei mir ein Messer hinter­
legt und fordert es in einem Augenblick zurück, wo alles dafür
spricht, daß er damit einen Mord begehen will. Ist es unsittlich,
wenn ich leugne, daß ich es bei mir habe? Es kann vorkommen,
daß man ein anvertrautes Geheimnis, dessen Preisgabe schweren
Schaden bringen würde, nur durch eine Lüge wahren kann. Ist
sie auch dann unerlaubt? Es hat sehr edle und sittlich rigorose
Menschen gegeben, die nichts Unsittliches darin finden konnten.
Kritik, zweitens der Ableitung: Diese Tatsache spricht
sicher nicht dafür, daß das Prinzip von vornherein einleuchte;
aber angenommen, es sei evident, so genügt es doch nicht als
Basis der Moral. Zur Lüge gehört die Absicht zu täuschen. Sagt
einer eine Unwahrheit s o, daß sicher niemand dadurch getäuscht
wird, so ist sein Wort keine Lüge, und der Vorwurf, der einen
Lügner trifft, trifft nicht ihn (man denke an ein ironisches Lob
oder die Rede eines Schauspielers auf der Bühne). Wie aber soll
32 Wollastons Prinzip entbehrt der Evidenz

dann jede schlechte Handlung eine Lüge sein, wie Wollaston


will? Wenn einer durch seine Handlung sagt „Ich halte den
Kontrakt nicht“, so kann er doch nicht glauben, daß durch diese
Weigerung das Bestehen des Kontraktes bei anderen in Frage
gestellt werde. Eine Absicht zu täuschen, ist also bei ihm nicht
vorhanden. Napoleon, als man ihn an ein gegebenes Ver­
sprechen erinnerte, antwortete: Ich werde mich doch nicht zum
Sklaven meines eigenen Wortes machen! Im Bewußtsein der
Ohnmacht des zertretenen Rechtes verschmähte er jede Täu­
schung. Sein Benehmen war frecher Hohn, aber nicht Lüge.
Noch mehr, angenommen selbst, die Absicht zu täuschen, ge­
höre nicht zur Lüge, sondern bloß die bewußte Abweichung von
einer Wahrheit, so ist Wollastons Lehre noch immer ver­
fehlt. Was soll man darunter verstehen, wenn gesagt wird,
jemand leugne eine Wahrheit durch eine Handlung? Wolla­
ston wird sagen, er benehme sich so, wie er sich nur in dem
Falle zu benehmen hätte, wenn diese Wahrheit nicht bestände.
Wohl! Um also zu erkennen, ob einer eine Wahrheit durch eine
Handlung leugne, muß man zuvor wissen, wie er sich in der be­
treffenden Lage benehmen darf und wie nicht. M. a. W. man
muß wissen, was in dem Falle 'gut und was schlecht ist. Wenn ich
das aber schon wissen muß, um überhaupt das Prinzip Wolla­
stons anwenden zu können, so zeigt sich, daß dieses schlechter­
dings nutzlos ist. Es setjt ja die Erkenntnis voraus, die es uns
geben soll.
Fassen wir das gegen Wollastons Prinzip Gesagte zu­
sammen: Es entbehrt der Evidenz. Aber selbst wenn es einleuch­
tete, so eignete es sich doch nicht zur Grundlage der Ethik. Denn
es gibt viele schlechte Handlungen, denen keine Täuschungs­
absicht innewohnt. Man kann sie also nicht Lüge nennen. Will
man aber unter Lüge nichts anderes verstehen als bewußte Ab­
weichung von der Wahrheit, was soll es dann heißen „durch eine
Handlung lügen“? Man müßte unter Lüge nichts anderes ver­
stehen als Verkehrtheit einer Handlung, d. h. so handeln, wie
man nicht handeln soll. Dann allerdings ist W o 11 a s t o n s Sa§
unanfechtbar. „Handle so, wie du handeln sollst“, aber dann ist
er auch eine unfruchtbare Tautologie.
Kants Grundprinzip der Ethik 83

Wir haben also Wollastons Prinzip mit Recht als Beispiel


der dritten Gruppe von Prinzipien hingestellt, bei denen sowohl
die Evidenz als auch die Brauchbarkeit zu bestreiten ist. Als ein
weiteres Beispiel für den dritten Fall sei der Versuch von
Imanuel Kant angeführt.

} 13. Weitere Erläuterung des dritten Falles (Kant)

1. Kant (1724—1804) ist der dritte in der Reihe der be­


rühmten deutschen Philosophen. Vor ihm waren nur Leibniz
(1646—1716) und ChristianWolff (1679—1754) zu wirk­
lichem Ruhme gelangt. Der letjte steht heute nicht mehr sehr in
Ehren, obwohl er ehedem die deutschen Universitäten be­
herrschte, ja mit seinem Einfluß über Deutschland hinausreichte.
Kant, der anfangs ganz seiner Lehre folgte, ließ ihn, neben
Leibniz, als den zweitgrößten gelten. Er selbst aber über­
strahlt heute beide an Ruhm. Schon bei Lebzeiten rief seine
Philosophie eine mächtige Bewegung hervor. Auf ihn war
Schillers Epigramm gemünzt:
Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung
setjt; wenn Könige bauen, haben die Kärrner zu tun.
Schiller war sein enthusiastischer Bewunderer, und man hat
denn auch in seinen Dramen den Einfluß von Kants Moral­
prinzip nachweisen wollen. Goethe dagegen war seiner gan­
zen Natur nach ein entschiedener Gegner. Tabak und Kant-
s c h e Philosophie hätten beinahe den Freundschaftsbund mit
Schiller im Keime vernichtet. Wenn er gleichwohl da und
dort Kantsche Sätje gelten läßt, so tut er dies mit einer bei
jemandem, der sich nicht zu den Philosophen zählen kann, be­
greiflichen bescheidenen Unterordnung unter die damals vor­
herrschende Anschauung der Fachmänner. Wo er aber irgend-
einmal selbst zu spekulieren beginnt, da zeigt er sich als eines
ganz anderen Geistes Kind. Er ist entschieden Empiriker, für den
nur eine Philosophie möglich ist, die von Kant bekämpfte
empirische, mit der Kantischen in keiner Faser verwandt.
Anders als der reservierte Goethe verhielt sich Herder,
34 Der kategorische Imperativ

der ebensosehr abgestoßen, in heftiger Polemik gegen Kant auf­


trat und eben deshalb Schmähungen erfuhr. So groß aber war
die Begeisterung der Anhänger Kants, daß einer von ihnen,
Reinhold (1758—1823) die Prophezeiung wagte, in hundert
Jahren werde Kant wie C h r i s t us verehrt sein. Das ist nun
nicht eingetroffen, aber Kant gilt doch vielen als der
Aristoteles der neuzeitlichen Philosophie, ja als der
größte Philosoph, der je gelebt hat. Auch nach dem Zusammen­
bruch der deutschen idealistischen Systeme ist das Ansehen
Kants unerschüttert geblieben, und gerade die Naturforscher,
welche für jene nur Kopfschütteln, Spott und Verachtung übrig
hatten, liebten es, sich zu ihm zu bekennen und seinen Ruhm zu
verkünden. Heute freilich ist darin ein Wandel eingetreten. Die
Mehrzahl von ihnen lehnt Kant ab, doch dürfte man sich nicht
sehr von der Wahrheit entfernen, wenn man es nicht für wahr­
scheinlich hält, daß sie ihn lesen. Auch bei den Philosophen
herrscht nicht mehr Einmütigkeit in der Zustimmung, und es
hat sehr den Anschein, daß die Zahl der Gegner im Wachsen
begriffen ist. Doch wie immer die Zukunft über den wahren
Wert seiner Philosophie entscheiden möge, jedenfalls ist er
ein durch seine geistige Begabung und seine historische Stellung
hervorragender Denker.
2. Wir haben es hier nur mit seinem Versuche, der Ethik ein
festes Fundament zu legen, zu tun, d. h. mit seiner Lehre vom
kategorischen Imperativ. Was hat es damit für eine Bewandtnis?
Kant will uns ein formales Prinzip an die Hand geben, welches
uns als Kriterium dafür dient, ob eine uns vorgelegte Regel des
Verhaltens nicht bloß hypothetisch und für besondere Umstände,
sondern ganz universell und kategorisch gilt. Ein hypothetischer
Imperativ sagt uns, wie wir uns zu verhalten haben, was wir zu
tun oder zu unterlassen haben, wenn wir uns einen bestimmten
Zweck gesetjt haben; ein kategorischer Imperativ befiehlt
schlechthin. Er ist kein bedingtes, sondern ein absolutes „Du
sollst“. Wegen dieses allgemeinen verpflichtenden Charakters
aber muß solche Regel ein apriorisches Element enthalten und
dieses wieder kann seiner Meinung nach nicht im Inhalt des
Gebotes liegen, da aller Vorstellungsinhalt notwendig der
in seinen verschiedenen Fassungen 35

Erfahrung entnommen ist, sondern muß der Form des Satjes an­
gehören. Es handelt sich also darum, einen Satj zu formulieren,
der alles Inhaltliche abgestreift hat und als rein formales
Gesetj uns zum Kriterium dient, ob eine Maxime als kate­
gorischer Befehl gelten kann. Solche objektive Grundsätje nennt
Kant Maximen, den von ihm für das moralische Gebiet auf­
gestellten Grundsa^: „kategorischen Imperativ“ und gibt ihm
an verschiedenen Stellen seiner Schriften verschiedene Fassungen.
Zwei davon finden sich in der Metaphysik der Sitten, und zwar:
„Handle so, als ob die Maxime deines Handelns durch
deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetj werden sollte.“
und:
„Handle nach einer solchen Maxime, daß du zugleich
wollen kannst, daß sie allgemeines Gese$ werde.“
In der Kritik der reinen Vernunft aber lautet der kategorische
Imperativ so:
„Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit als
Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“
Wie sich Kant die Handhabung dieses formalen Kriteriums
vorstellt, um den schlechthin verpflichtenden Charakter einer
Regel abzuleiten, zeigt er selbst an einem Beispiel. Es stehe zur
Frage, ob man ein Gut, das einem ohne Schein oder sonstiges
Indizium anvertraut worden ist, für sich behalten dürfe. Das
gesunde moralische Gefühl sagt: Nein, und Kant sucht es da­
mit zu rechtfertigen, daß er zeigt, wie es im Lichte des kate­
gorischen Imperativs sich als verpflichtend ergebe, das Gut zu­
rückzustellen. Wäre die Maxime vielmehr die, daß man in
einem solchen Falle das anvertraute Gut behalten könne, so
könnte sie nicht als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gel­
ten. Sie würde nämlich, zum allgemeinen Gesetj erhoben, zu
einem Widerspruch führen und sich selbst aufheben. Denn wenn
dies allgemeiner Grundsatj wäre, daß man ein anvertrautes Gut
behalten dürfe, so würde niemand mehr einem anderen etwas
anvertrauen. Das Gesetj wäre also ohne Möglichkeit der
Anwendung, darum unausführbar, aufgehoben durch sich selbst.
Nur das, was wir aus reiner Achtung vor diesem formalen
Sittengesetj tun und lassen, aus reinem Pflichtbewußtsein (d. h.
36 Der kategorische Imperativ ein Vernunftprinzip

eben nach Kant soviel wie aus Respekt vor dem kategorischen
Imperativ), darf als sittlich gelten, nimmermehr aber, was aus
anderen Motiven, insbesondere aus Lust, geschieht. „Pflicht, du
erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was eine Ein­
schmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unter­
werfung verlangst und ein Gesetj aufstellst, welches sich selbst
wider Willen Verehrung (wenn auch nicht immer Befolgung)
erzwingt, vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich
im geheimen ihm entgegenwirken, welches ist der deiner wür­
dige Ursprung und wo findet man die Wurzel deiner edlen
Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz aus­
schlägt und von welcher Wurzel abzustammen, die unnachläß­
liche Bedingung desjenigen Wertes ist, den allein sich Menschen
selbst geben können?“ so lautet die große Frage, und die Ant­
wort darauf ist: Ihr Ursprung liegt in der Vernunft, welche die
Menschen über die Sinnenwelt erhebt. Wahrhaftig eine rigorose
Moral, die schroff allen natürlichen Antrieben den Krieg er­
klärt! Aber gerade diese Kühnheit und Strenge hat ihr be­
geisterte Anhänger zugeführt, und nicht bloß trockene Pflicht­
menschen, sondern selbst einen Friedrich Schiller!
Kant selbst findet gerade in dieser von allem Gefühlsmäßigen
losgelösten strengen Allgemeingültigkeit Anlaß zu höchster
Bewunderung. Am Schluß der Kritik der praktischen Vernunft
heißt es: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer
und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und
anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte
Himmel über mir und das moralische Gesetj in mir.“
3. Das darf uns freilich nicht bestechen und daran hindern
zu überprüfen, ob denn dieser berühmte kategorische Imperativ
als ein echtes Vernunftprinzip gelten darf.
Das Ergebnis dieser Prüfung wird, um dies gleich hier zu
sagen, ebenso negativ sein wie bei Wollaston, denn auch
dem Kantschen Prinzip fehlt sowohl die Evidenz als auch
die Tragweite, d. h. es lassen sich keine ethischen Folgerungen
aus ihm ableiten. Selbst Philosophen, die sonst Kant sehr
hoch stellen, wie z. B. M a n s e 1 (der nach Hamilton be­
deutendste Vertreter der sog. intuitiven Schule), erklären seinen
Kritik des kategorischen Imperativs 37

kategorischen Imperativ für eine philosophische Dichtung. Kein


Unbefangener wird zugeben, daß er ein solches Prinzip in
seinem Innern gegeben findet, und wäre es wirklich ein Faktum
der reinen Vernunft, so hätte Kant es sicher nicht erst zu
entdecken, sondern nur etwa von seiner wahren Natur und
seinem Ursprung die richtige Erklärung zu geben gebraucht.
Sollte aber der eine oder andere doch glauben, es sei un­
mittelbar evident, so handelt es sich um einen der auch sonst so
gewöhnlichen Fälle eines Dranges zur Zustimmung auf Grund
der Gewohnheit oder einer vorgefaßten Meinung. Übrigens zeigt
sich, daß die Leute, die sich zum kategorischen Imperativ be­
kennen, meist darunter etwas ganz anderes sich vorstellen, als
Kant gemeint hat.
4. Aber der kategorische Imperativ Kants ist nicht nur eine
Fiktion, er ist auch ganz unbrauchbar für die Ethik. Es läßt sich
kein ethisches Gesetj daraus ableiten, und die Ableitung, die
Kant selbst versucht hat, ist ihm, wie schon J. St. Mill be­
merkt hat, „grotesk mißlungen“.
a) Vor allem ist es ein Irrtum, daß ein Gesefj, das ohne
Anwendung bleibt, dadurch aufgehoben ist. Weder ein Natur­
gesetz noch ein Gesetj im Sinne einer Norm.
Es kommt nicht vor, daß sich ein Körper absolut ungestört
in gerader Richtung fortbewegt, aber gleichwohl ist es ein
Naturgesetj, daß ein bewegter Körper, wenn ungestört, sich
geradlinig mit gleichförmiger Geschwindigkeit in infinitum fort­
bewegen muß. Es bleibt. richtig, daß ein Billioneneck zur
Winkelsumme 2 Billionen minus 4 R hat, auch wenn es kein
solches Vieleck gibt.
Und das gleiche gilt denn auch von Gesehen im zweiten
Sinn. Ein Pönalgese^, das den Richter verpflichtet, für ein ge­
wisses Delikt eine bestimmte Strafe zu verhängen, ist nicht
dadurch aufgehoben, daß aus Furcht davor niemand ein solches
Delikt begeht, im Gegenteil, es erweist sich in diesem Falle erst
recht als wirksam. Dasselbe gilt von sittlichen Geboten. Nehmen
wir folgendes Beispiel. Es handle sich um die Frage, ob man
einem Räuber, der einen angefallen und nur gegen das
Versprechen eines Lösegeldes freigelassen hat, Wort zu halten
38 Kritik des kategorischen Imperativs

verpflichtet sei. Kant würde die Maxime „Ich brauche in einem


solchen Falle mein Wort nicht zu halten“, als gegen den kate­
gorischen Imperativ verstoßend, verwerflich finden, weil sonst
kein Räuber mehr auf ein solches Versprechen einginge. Aber
das Gesetj wäre auch hier wirksam wie dort das Pönalgesetj,
also nicht aufgehoben, und noch dazu recht glücklich wirksam,
wenn als Folge davon keine Erpressungen der Art mehr ver­
sucht würden.
b) Auch das ist ein Irrtum, daß das Gesetj ohne Anwendung
wäre, wenn es, zum allgemeinen Gesetj erhoben, sich gewisser­
maßen selbst aufheben würde. Kant meint, daß niemand unter
solchen Umständen einem etwas ohne Indizium anvertrauen
würde. Er übersieht dabei eine Menge von Dingen, die be­
achtet werden sollten. Es könnte gleichwohl jemand einem etwas
anvertrauen, im Glauben, es zurückzuerhalten. Zwar würde der
andere ihm das Anvertraute nicht darum zurückgeben, weil er
sich dazu verpflichtet fühlte, aber es könnten ja andere Motive
wirksam sein (es handle sich etwa um ein gestohlenes Gut, das
zurückgegeben wird, weil es dem Hehler gefährlich erscheint,
es länger zu behalten). Wie oft sind doch Versprechungen, Ver­
abredungen unter Menschen wirksam, die sich weder an Gesetje
noch an ihr Gewissen gebunden fühlen. (Verabredung zu ge­
meinsamem Diebstahl, Attentat etc.)
Dies widerlegt Kants Folgerung aus seinem Gesetje in der
Fassung, wo Gesetj den Sinn von Vorschrift, Norm hat. Aber
auch in der anderen Fassung, wo es soviel wie Naturgesetj, d. h.
allgemeine und notwendige Tatsache, bedeutet, ist die Folgerung
unstatthaft. Vielleicht kennt der Verleiher das Naturgesetj:
„Niemand gibt etwas ihm ohne Indiz Anvertrautes zurück“
nicht, so wie wir ja gar viele Naturgesetje nicht kennen. Oder,
wenn er es kennt, denkt er im gegebenen Falle nicht daran. Gar
vieles könnte dazu veranlassen. Man hat gefunden, daß in den
meisten Fällen Versprechen gehalten werden, und erwartet es
auch gewohnheitsmäßig in diesem. Oder es wurde einem etwas
abgeschmeichelt, oder man ist leichtgläubig und glaubt, weil
man gern glaubt etc.
Zudem: Wie steht es mit dem Fall, wo wirklich ein Schein
Ableitung unmoralischer Regeln aus ihm 39
ausgestellt wurde oder sonst Indizien vorhanden sind, aber
verlorengehen? Hier würde Kants Weise der Ableitung nicht
mehr statthaben können und doch bliebe das Vorenthalten des
anvertrauten Gutes nicht minder unmoralisch. Vielleicht gelänge
es seinem Scharfsinn, auch hier ein Argument zu ersinnen, aber
jedenfalls auf einem ganz anderen Wege. Und schon dies ist
inkonvenient und zeigt die Unnatürlichkeit der Erklärung, denn
der wesentlich gleiche moralische casus würde auch eine wesent­
lich gleiche Begründung erfordern.
c) Wie verfehlt Kants Deduktion ist, zeigt sich auch daran,
daß man ganz analog die lächerlichsten und ganz unmorali­
schen Regeln ableiten könnte. Ein Beispiel: Darf ich einem,
der mich zu bestechen sucht, willfahren? Antwort: Ja, denn
dächte ich die entgegengesetjte Maxime zum allgemeinen Natur­
gesetz erhoben, so würde niemand einen zu bestechen suchen,
folglich wäre das Gesetj ohne Anwendung, aufgehoben durch sich
selbst.
d) Eine treffende Bemerkung gegen den kategorischen Im­
perativ im Kantschen Sinne hat auch F. E. B e n e k e
(1798—1854) gemacht. Es fragte sich, wie man die geforderte All­
gemeinheit eigentlich verstehen soll, da es ja bekanntlich Grade
der Allgemeinheit gibt. Indem wir mehr und mehr von den
determinierenden Merkmalen weglassen, steigen wir zu höheren
Stufen der Allgemeinheit auf. Kant läßt uns ohne Direktive,
wie weit wir bei der Bildung von Maximen in der Ver­
allgemeinerung gehen sollen, ein störender Mangel, denn auf
verschiedenen Stufen stehenbleibend, kommen wir zu entgegen­
gesetzten Resultaten. Ein Beispiel: Mir ist von einem Freund
ein Geheimnis anvertraut worden. Es treten Umstände ein, wo
ich mir sage: wenn ich jetjt das gelobte Stillschweigen breche,
wende ich von meinem Freunde ein großes Unheil ab. Darf ich
es dann brechen? Versuchen wir uns darüber beim kategorischen
Imperativ Rat zu holen. Wir können dabei die allgemeine
Maxime zugrunde legen: Man soll ein anvertrautes Geheimnis
offenbaren, wenn dadurch demjenigen, der es uns anvertraut
hat, ein Unheil erspart wird. Wir können aber auch die noch
allgemeinere Maxime bilden: Man soll ein anvertrautes Geheim­
40 Von Kant als oberster Maßstab selbst aufgegeben

nis offenbaren. Beide geben entgegengesetzte Resultate. Nadi der


ersten ist die Preisgabe erlaubt, denn wenn diese Maxime
herrschte, werden die Leute nicht aufhören, einander Geheim­
nisse anzuvertrauen. Sie könnte also nach Kant ohne Wider­
spruch allgemeines Gesetz werden. Nicht ebenso die zweite. Aus
ihr folgte das Gegenteil, d. h. ich müßte unter allen Umständen,
selbst zum Verderben meines Freundes, Stillschweigen bewahren.
5. Um mit dem kategorischen Imperativ zu operieren, bedürfen
wir also eines Maßstabes für den Grad der erlaubten Ver­
allgemeinerung. Dazu müßte aber ein anderes Prinzip heran­
gezogen werden, womit der kategorische Imperativ den Rang
des obersten Prinzips einbüßte. Dahin wird Kant bei seinem
Bemühen, den kategorischen Imperativ zu rechtfertigen, auch tat­
sächlich gedrängt. Er tut dar, daß die Verallgemeinerung einer
Maxime unter Umständen der Gesamtheit, einschließlich mir
selbst, schädlich werden könne, wir also, wenn wir sie uns zum
allgemeinen Gesetz machen wollten, mit uns selbst in Wider­
spruch gerieten, da niemand sein eigenes Unglück wünschen
könne. Das klingt nun freilich ganz anders! Denn nicht schlecht­
weg komme ich so mit mir in Widerspruch, sondern nur, wenn
ich das allgemeine Beste will, mein Glück eingeschlossen. Es wird
also hier dem kategorischen Imperativ der Gedanke vorgesetjt:
jedem ist sein Glück lieb, er sieht aber ein, daß er es nur im
Einklang mit der Gesamtheit erreichen könne. Darum erachtet er
das Glück der Gesamtheit als höchstes Gut. Es erschiene also die
Glückseligkeit — nach Kant das Widerspiel der Sittlichkeit —
hier auf einmal als oberster Maßstab und der kategorische
Imperativ wird zu einem bloß hypothetischen. Ein vollkom­
mener Abfall Kants von sich selbst.

114. Vervollständigung des von der Verwirrung entworfenen Bildes

Ich denke, diese Erläuterungen genügen, um zu zeigen, wie


die von den angesehensten Ethikern aufgestellten Prinzipien auf
Zweifel und Widerspruch stoßen und wie bei den einen die
Evidenz, bei den anderen ihre Wirksamkeit, wiederum bei ande­
Uneinigkeit in bezug auf ethisches Grundprinzip 41

ren (und dazu gehören solche, die unter die berühmtesten zäh­
len) beides angefochten wird. Also auf solche Prinzipien, fragt
man noch heute, soll man die Ethik gründen? Und der Zweifel
betrifft nicht allein das einzelne Prinzip, sondern auch die Gat­
tung. A priori oder a posteriori, Axiom oder Wahrnehmung?
Kant und Clarke sind Aprioristen, die Utilitarier
Empiristen.
Damit ist aber noch nicht das Äußerste der denkbaren Un­
sicherheit und Uneinigkeit bezeichnet. Dies wäre nichts, was nicht
auch in anderen Wissenschaften zutage tritt, selbst in der
Mathematik, obwohl hier das Stimmenverhältnis ein großes
Übergewicht auf der einen Seite zeigt. Aber in der Ethik geht
der Zweifel noch weiter. Nicht bloß das ist strittig, ob im ein­
zelnen dies oder jenes mit Recht als Prinzip anzuerkennen ist
und ob die Prinzipien hier Axiome oder Wahrnehmungen sind,
sondern auch, ob sie Erkenntnisse oder Gefühle seien. Viele und
berühmte Denker sagen, für die Ethik stelle nicht das Erkennt­
nisvermögen, sondern das Gefühlsvermögen die Prinzipien fest.
So wäre denn das Bild der Zerrüttung der Hauptsache nach
gekennzeichnet. Die volle Vorstellung wäre freilich nur zu ge­
winnen, wenn wir alles im einzelnen durchmustern würden; aber
die Phantasie mag sich nun das bunte Gewirr leicht .ausmalen.
Von allen berührten Unterschieden ist der zuletjt erwähnte
der am tiefsten greifende. In bezug auf ihn müssen wir vor allem
ins klare zu kommen suchen.
III. Kapitel

Sind die Prinzipien der Ethik Erkenntnisse oder Gefühle?

S 15. Argumente für das eine und das andere

A. Argumente dafür, daß sie Erkenntnis se. seien.


1. Schon im Altertum ließen sich Stimmen zugunsten des
Gefühls vernehmen. Wenn wir H u m e glauben dürfen, wären
es sogar die meisten gewesen, aber er vertritt selbst diese Mei­
nung und die Voreingenommenheit dafür hat hier wohl sein
Urteil beeinflußt. Immerhin ist Tatsache, daß E p i k u r und
seine Anhänger die Gefühle von Lust und Unlust als Maß für
die Entscheidung über Gut und Böse angesehen haben.
In neuerer Zeit traten viele für das Gefühlsvermögen ein.
So L o c k e s einflußreicher Schüler Lord Shaftesbury
(1670—1713), ferner der Begründer der Nationalökonomie
Adam Smith (1723—1790) und, wie gesagt, der Skeptiker
David Hume (1711—1776). Auch J. Fr. Herbart
(1776—1841) gehört mit seiner weit verbreiteten Schule in ge­
wissem Sinne hierher und, von anderer Seite kommend, H. L o t z e
(1817—1880). Die ethischen Grundsätze, heißt es in dessen
„Mikrokosmos“, werden jederzeit in ganz anderer Weise ge­
billigt als die Wahrheiten der Erkenntnis. Sie sind Aussprüche
eines wertempfindlichen Gefühls.9
Ist dies nun nicht eine sehr paradoxe Lehre? Auf den ersten
Blick scheint vieles gegen sie zu sprechen.
a) Ja, man könnte fragen, ob sie nicht geradezu absurd sei.
Die ersten, unmittelbaren Annahmen einer Wissenschaft, was
sind sie anderes als jene Erkenntnisse, auf denen alle anderen
beruhen, die Prämissen aller Schlüsse, welche in dieser Wissen-
Argumente gegen die Gefühlstheorie 43
sdiaft gezogen werden? Diese Prämissen sind aber doch natür­
lich ebenso Urteile wie die Schlußsätze selbst, und wenn diese
sicher sein sollen, so müssen auch jene sichere Urteile sein,
Erkenntnisse. Wie läßt sich also die Absurdität der Behauptung
bestreiten, daß in der Ethik die ersten Prämissen nicht Erkennt­
nisse seien, sondern Gefühle?
b) Wir sagten, daß in der Ethik ein Streit über die Prinzipien
herrsche, daß die Meinungen über das, was als gut und was als
böse zu gelten habe, auseinandergehen; aber streiten läßt sich
doch nur, wo es sich um wahr oder falsch handelt, nicht aber
um solches, was Sache des Gefühls ist. „De gustibus non est
disputandum.“
c) Was wir als sittlich gut oder sittlich schlecht erachten, das
ist es, so nehmen wir an, für jedes vernünftige Wesen. Auch
für Gott, denn nur unter dieser Veräusserung hat der Glaube
an eine göttliche Gerechtigkeit, die das Gute lohne, das Böse
strafe, einen Sinn. Dann aber müssen die Grundlagen der
Moral durch die Vernunft bestimmt sein und eben darum sind
sie, wie jedes richtige Urteil über Wahr und Falsch, für alle
intelligenten Wesen dieselben. Ganz anders, wenn das Gefühl
die Grundlagen der Moral bestimmt, denn dann liegen sie zur
Gänze in der besonderen Struktur der menschlichen Spezies. So
unmöglich es ist, daß andere vernünftige Wesen eine andere
Logik haben, so sehr müßte es möglich sein, daß ihre Ethik der
unseren entgegengesetzt ist. Ähnlich wie einer Tierspezies wohl­
schmeckt, was eine andere als ekelhaft verschmäht. So wendet sich
der englische Moralphilosoph Richard Price (1723—1791)
gegen den Vertreter der Gefühlstheorie F. Hutcheson
(1694—1747) mit den Worten: „Nach dieser Lehre hätte der
Schöpfer dieselben Gefühle an die entgegengesetzten Handlungen
knüpfen können“, und dies genügt ihm, um sie zu verwerfen.
Auch Kant macht gegen H u m e mit allem Nachdruck die
Allgemeingültigkeit des Sittengesetzes geltend. Allgemeingültig,
also durch Vernunft. In der Tat, der Gedanke, daß bei der
einen Spezies Tugend sei, was bei der anderen Laster, scheint
untragbar, und mehr noch der Gedanke, daß der ethische Ge­
schmack Gottes im Gegensatz zu dem der vernünftigen Geschöpfe
44 Argumente für die Gefühlstheorie

stehe. Das gäbe dann eine schöne Überraschung beim Jüngsten


Gericht! Rechter Hand, linker Hand, alles vertauscht!
B. Argumente dafür, daß die Prinzipien der Ethik Gefühle
seien.
So betrachtet, scheint alles gegen die Gefühlstheorie zu sprechen,
aber es wäre voreilig, schon hier zu entscheiden, denn es sind
ja ihre Anhänger mit ihren Gründen noch gar nicht zu Wort
gekommen. Und diese Gründe sind von der Art, daß wohl
mancher, der eben noch vom Gegenteil überzeugt war, ge­
wonnen werden dürfte. Geben wir dem scharfsinnigsten Ver­
treter selbst das Wort.
David Hume hat die Frage an drei Stellen behandelt.
So schon in seinem ersten und gründlichsten Werke ,,A treatise
on human nature“. Freilich fand dieses, weil es so gründlich die
Untersuchung führte und an die Leser zu starke Anforderungen
stellte, nur wenig Anklang, und ohne sich darüber zu grämen,
machte sich Hume nüchternen Sinnes daran, es in eine leich­
tere, faßlichere Form umzugießen. So kamen die „Essays and
treatises on several subjects“ zustande, die durch ihren ele­
ganteren Stil und die populärere Fassung, die oft feinere Argu­
mente eliminierte, um sie durch Gleichnisse zu ersehen, viele
Leser fand und ihn rasch berühmt machte. Im letzten der vier
Bücher, das den Titel trägt „An enquiry concerning the
principles of morals“ heißt es im ersten Abschnitt:
„Kürzlich ist eine Kontroverse angeregt worden, die wohl unsere
Aufmerksamkeit verdient, nämlich über die Grundlagen der Moral,
ob sie aus der Vernunft (of reason) oder dem Gefühl (from sentiment)
abgeleitet seien, ob wir zu ihrer Kenntnis gelangen durch eine Kette
von Deduktionen und Induktionen oder durch ein unmittelbares
Gefühl; ob sie wie alle gesunden Annahmen, die sich auf Wahrheit
und Falschheit beziehen, für jedes vernünftige und intelligente Wesen
gleichlauten müssen oder ob sie wie der Geschmack für Schön und
Häßlich, ganz auf der besonderen Einrichtung der Natur der mensch­
lichen Spezies beruhen. Die alten Philosophen, obwohl sie öfters ver­
sichern, daß Tugend nichts anderes sei als Übereinstimmung mit der
Vernunft, scheinen doch im allgemeinen den Ursprung der Moral in
einem Geschmack oder Gefühl zu suchen. Unsere modernen Forscher
andererseits, obschon auch sie viel von der Schönheit der Tugend reden,
und von der Häßlichkeit des Lasters, haben sich doch gewöhnlich
Hume als Vertreter der Gefühlstheorie 45
Mühe gegeben-, von dem Unterschiede zwischen Gut und Böse durch
metaphysische Betrachtungen und durch Deduktionen aus den ab­
strakten Prinzipien der menschlichen Erkenntnis Rechenschaft zu
geben. Und solche Verwirrung herrschte bisher, daß man diesen
Gegensatj der Systeme (und mancher Systeme mit sich selbst) nicht
bemerkte, bis vor kurzem LordShaftesbury darauf -aufmerksam
machte.“
Daraufhin läßt H u m e in populärer Form die Argumente für
und gegen folgen und schließt mit einem Kompromiß:
„Die Argumente sind von jeder Seite so plausibel, daß ich glaube,
Gefühl und Vernunft konkurrieren fast bei allen unseren moralischen
Entscheidungen. Die Endentscheidung, welche Charaktere -und Hand­
lungen für liebenswürdig oder hassenswert, löblich oder tadelhaft erklärt,
welche ihnen das Zeichen der Billigung oder Verdammung aufdrückt, die
Moral zu einem praktischen Prinzip (das unsere Handlungen bestimmt)
und die Tugend zu einer Quelle unseres Glücks, das Laster zu einer
Quelle der Unseligkeit macht — diese Entscheidung hängt, glaube ich,
von einem inneren Sinn oder Gefühl ab, welches die Natur unserer
ganzen Spezies einpflanzte. Denn was anderes kann einen solchen Ein­
fluß haben? Kann doch der Verstand unmöglich aus sich und zum
voraus bestimmen, was unsere Liebe und was unseren Haß erwecken
müsse, und können doch seine Wahrheiten, wenn sie indifferent weder
Begierde noch Abscheu erwecken, nur die kühle Zustimmung des Ver­
standes bewirken, aber keinen Einfluß auf unser Betragen gewinnen.
Das kann nur, was durch seine edle Schönheit unser Herz ergreift, also
zum Gefühl spricht. Allein, damit das Gefühl sprechen könne, muß
oft der Weg durch vieles Raisonnement geebnet werden, Distinktionen
gemacht, Schlüsse gezogen, entfernte Vergleiche ausgeführt und kom­
plizierte Relationen untersucht werden. Der Einfluß des Verstandes ist
also ein vorbereitender, er hat den Gegenstand, über welchen das
Gefühl entscheiden soll, gehörig ins Licht zu setzen, wovon die Richtig­
keit der Entscheidung wesentlich bedingt ist. Ähnlich ist es bei manchen
Arten des Schönen. Schönheit zu fühlen, bedarf oft langwieriger, ver­
standesmäßiger Vorbereitung. Von der Art also ist die Moral.
Daher kommt es, daß über Gut und Böse disputiert wird und vor
Gericht nicht bloß über das Faktum, sondern auch über Schuld und
Nichtschuld mit langen Beweisführungen und Verstandesdeduktionen
verhandelt wird, als handelte es sich um geometrische Sätje oder physi­
kalische Theorien.“
Mit diesem Ausgleich gibt sich H u m e zunächst zufrieden,
doch ließ sein wissenschaftliches Gewissen mit diesem leichten
Manöver, in einer so wichtigen Prinzipienfrage die Entscheidung
zu umgehen, sich nicht auf die Dauer beschwichtigen. Er kommt
46 Humes Argumente

darum im Anhang noch einmal auf das Problem zurück und


stellt sich nun auf Grund von vielen Argumenten, die nicht
weniger gründlich als die im Werke über die menschliche Natur,
aber klarer gefaßt sind, entschieden auf die Seite der Gefühls­
theorie. Wir müssen uns damit auseinanderse^en.
1. Es ist leicht, sagt er hier, für eine falsche Hypothese einen Schein
von Richtigkeit zu erzeugen, solange sie sich ganz im allgemeinen
hält, Ausdrücke gebraucht, ohne sie zu definieren, und statt der Bei­
spiele der Vergleiche sich bedient. Solange alles in der Luft schwebt,
führt auch der Gegner seine Schläge, in die Luft. Dies zeigt sich nun in
besonderem Grade an jener Philosophie, welche die Bestimmung aller
moralischen Unterscheidungen der Vernunft allein ohne Mitwirkung
des Gefühls zuschreibt. Es ist unmöglich, dieser Hypothese in irgend­
einem einzelnen Fall auch nur einen verständlichen Sinn zu geben, was
immer für eine imponierende Gestalt sie auch anzunehmen weiß, wenn
sie in allgemeinen Deklamationen und Auseinandersetjungen sich er­
geht. Man prüfe z. B. das Verbrechen der Undankbarkeit, das da
vorliegt, wo wir auf der einen Seite ein kundgegebenes erkanntes
Wohlwollen nebst erzeigten guten Diensten und in Erwiderung dessen
auf der anderen Seite Übelwollen oder Gleichgültigkeit nebst
schlechten Diensten oder Vernachlässigung bemerken. Man zerlege alle
diese Umstände und erforsche mit seiner Vernunft allein, worin das
Mißverdienst oder die Tadelnswürdigkeit besteht; man wird damit nie
zu einem Resultat kommen. Worüber die Vernunft urteilt, das ist
entweder ein realer Vorgang bzw. eine Eigenschaft oder ein Verhält­
nis. Was ist es nun in unserem Falle, wo es sich um das Verbrechen,
das in der Undankbarkeit liegt, handelt?
A. Sagt man, was wir hier Verbrechen nennen, ist eine Tatsache,
so weise man sie auf. Wann ist sie, was ist sie, durch welchen Sinn
oder welches Vermögen wird sie wahrgenommen? Sie wohnt in dem
Geiste der Person, welche undankbar ist, diese muß sie also wahr­
nehmen, muß ein Bewußtsein von ihr haben; aber in dem Geiste dieser
Person ist nichts als Übelwollen oder Gleichgültigkeit. Man kann nicht
sagen, daß diese unter allen Umständen Verbrechen sind, sie sind es
nur dann, wenn sie auf Personen gerichtet sind, die uns vorher
Wohlwollen gezeigt und Liebesdienste erwiesen haben. Somit können
wir schließen, daß das Verbrechen der Undankbarkeit nicht eine be­
sondere einzelne Tatsache ist, sondern aus einer Komplikation von
Umständen sich ergibt, die, wenn sie dem Beschauer sich darstellt,
infolge der besonderen Verfassung und Bildung seines Geistes das
Gefühl der Mißbilligung in ihm erregt.
B. Vielleicht sagt man: Nein, das stellt die Sache nicht richtig dar.
Was man Verbrechen nennt, besteht nicht in einem besonderen Fak­
tum, über dessen Wirklichkeit wir durch das Erkenntnisvermögen ver­
für die Gefühlstheorie 47
sichert werden, sondern es besteht in gewissen moralischen Verhält­
nissen, welche der Verstand in ähnlicher Weise wie die Wahrheiten
der Geometrie und Algebra entdeckt. So viele Zeitgenossen. Aber ich
frage: was für Verhältnisse sollen das sein?
Erster Versuch, mit der Relation zwischen der einen und anderen
Person.
In dem oben dargelegten Falle sehe ich einmal Wohlwollen und
gute Dienste bei der einen, Übelwollen und schlechte Dienste bei der
anderen Person. Zwischen diesen Akten besteht ein Gegensag, liegt in
diesem Verhältnis das Verbrechen?
Aber Segen wir den Fall, jemand habe mir Übelwollen gezeigt und
Schaden zugefügt; ich aber wäre ihm gegenüber gleichgültig oder
gar wohlwollend und gefällig. Auch hier das Verhältnis des Gegen-
sages, und doch ist mein Betragen nicht mißfällig, ja unter Umständen
eher preiswürdig. Man drehe und wende die Sache, wie man will,
niemals läßt sich die Sittlichkeit auf eine Relation gründen; immer
bedarf es eines Appells an das Gefühl.
Zweiter Versuch, mit einer Relation zwischen den Teilen de»
Zustands der verbrecherischen Person.
Sagt man 2+3 = 10:2, so ist das ein vollkommen verständliches
Verhältnis. Ich begreife, daß 10, in zwei Teile mit gleichviel Einheiten
zerlegt, .in jedem dieser Teile so viele Einheiten ergibt als 2+3 zu­
sammengenommen. Allein, wenn man mit diesem Verhältnis der
Gleichheit dasjenige von verschiedenen im Geiste des Undankbaren
zu unterscheidenden Teilen in Parallele bringen will, so bekenne ich
mich für unfähig, dem zu folgen. Was für Teile sollen das sein und
welches soll das Verhältnis sein, das seine Unmoralität ergibt? Man
höre nur auf, sich allgemein und vage auszudrücken und gehe auf
diese Frage ein, so wird man leicht erkennen, daß auch dieser Versuch
nicht zum Ziele führt.
Dritter Versuch, mit der Relation der Handlung zu einer Regel.
Man sagt, die Moralität bestehe in einem Verhältnis der Handlung
zur Regel des Rechten. Man nennt die Handlung sittlich gut oder
schlecht, je nachdem sie damit übereinstimmt oder nicht.
Aber was ist denn unter dieser Regel des Rechten zu verstehen?
Wie wird sie festgestellt? Durch die Vernunft, wirst du sagen, welche
die sittlichen Verhältnisse der Handlungen untersucht. So werden denn
sittliche Verhältnisse bestimmt, indem man die Handlungen mit einer
Regel vergleicht, und diese Regel wird bestimmt, indem man die
sittlichen Verhältnisse der Handlungen in Erwägung zieht. Eine
schöne Art zu argumentieren! Schluß damit, rufst du, das alles ist
Metaphysik, und das ist gerade genug, den stärksten Verdacht zu
wecken, daß es falsch ist! Jawohl, antworte ich, das ist Metaphysik,
aber sie ist ganz und gar auf deiner Seite, der du eine abstruse
Hypothese aufgestellt hast, die sich nicht deutlich machen läßt, noch
48 Humes weitere Argumentation

auf irgendein konkretes Beispiel anwendbar ist. Die Hypothese, die


ich vertrete, ist dagegen sehr einfach. Sie besagt, daß die Sittlichkeit
durch unser Gefühl festgestellt wird. Sie definiert die Tugend als jene
Art geistiger Handlung oder Beschaffenheit, welche in dem, der sie
betrachtet, das angenehme Gefühl der Billigung erzeugt, während das
Laster das peinliche der Mißbilligung hervorruft. Dann betrete ich
den Erfahrungsweg, indem ich untersuche, was für Handlungen diesen
Einfluß ausüben. Ich achte auf alle Umstände, worin diese Hand­
lungen übereinstimmen und suche daraus einige allgemeine Bestim­
mungen über diese Gefühle zu gewinnen. Nennt einer das Metaphysik
und findet er hierin etwas Abstruses, so ist daraus nur zu entnehmen,
daß sein Kopf nicht dazu angetan ist, sich philosophischen Studien
hinzugeben.
2. Bisher habe ich den Gedankengang Humes fast wörtlich
wiedergegeben, das übrige soll wenigstens dem wesentlichen
Inhalte nach referiert werden.
Zunächst sucht H u m e eine scheinbare Ähnlichkeit zu zer­
stören, die dazu verleiten könnte, die Feststellung der morali­
schen Prinzipien der Vernunft zuzuschreiben. Wenn einer berät,
wie er sich verhalten, ob er in einer gewissen Lage seinem
Bruder oder seinem Wohltäter beistehen soll, so muß er von
diesen Beziehungen jede für sich, mit allen Umständen und Ver­
hältnissen, in welchen die Personen sich befinden, überdenken, um
das Übergewicht der Pflicht und Verbindlichkeit zu bestimmen.
Ist das nicht ähnlich, wie wenn einer das Verhältnis der
Quadrate über den Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks be­
stimmen will und zu diesem Zwecke die Natur dieser geometri­
schen Figur und das Verhältnis ihrer Teile untersucht? H u m e
antwortet: Der Unterschied ist wesentlich. Es schließt nämlich
der Mathematiker aus gegebenen Verhältnissen auf ein neues,
das von jenen abhängig ist; hingegen muß sich derjenige,
welcher eine moralische Frage zu entscheiden hat, bereits die
Kenntnis aller Verhältnisse verschafft haben und dann, erst
wenn er das Ganze vor sich hat, kann sein moralisches Urteil
(Wahl oder Billigung) erfolgen. Da wird kein neues Verhältnis
entdeckt, keine neue Tatsache dargetan, es werden vielmehr alle
Umstände, die bei dem Fall in Betracht kommen, als bekannt
vorausgesetjt, ehe wir eine billigende oder mißbilligende Ent­
scheidung treffen können. Bis zu diesem Punkte muß der Ver-
Ähnlichkeit zwischen natürlicher und sittlicher Schönheit 49
stand in Aktion sein und die moralische Entscheidung 'bleibt
noch in suspenso. Ist aber die Vorarbeit des Verstandes be­
endigt, dann folgt die Approbation oder Verwerfung, die nichts
anderes als ein Gefühl ist, indem nun der Geist durch die
Betrachtung des Ganzen einen neuen Eindruck von Liebe oder
Widerwillen, Achtung oder Verachtung, Billigung oder Miß­
billigung empfängt.
3. Diesem irreführenden Vergleich stellt H u m e alsbald einen
wahrhaft entsprechenden gegenüber, indem er auf die Ähn­
lichkeit zwischen sittlicher und natürlicher Schönheit verweist.
Alle natürliche Schönheit hängt von Verhältnissen der Teile
zueinander ab, doch wäre es ganz verkehrt, wenn einer daraus
schließen wollte, daß dieses Erfassen der Schönheit, so wie das
der Wahrheit geometrischer Sätje, reine Verstandessache sei.
Bei der Entscheidung über physische Schönheit liegen die Ver­
hältnisse bereits klar vor Augen und entsprechend ihrer Natur
und der unserer Organe fühlen wir uns davon im Gemüte an­
gezogen oder abgestoßen. Die Schönheit einer Säule offenbart
sich uns dadurch, daß an das Verhältnis von Basis, Schaft, Kapi­
tal, Fries, Architrav etc. ein angenehmes Gefühl sich knüpft.
Dieses, das Gefühl des geschmackbegabten Betrachters, nicht
sein Verstand, erfaßt die Säule als schön. Die Tätigkeit des
Mathematikers ist mit der Feststellung des gesuchten neuen Ver­
hältnisses erschöpft, Wohlgefallen oder Mißfallen, die Schönheit
des Kreises z. B. spielen dabei keine Rolle. Bei Euklid, der
die geometrischen Verhältnisse erforscht, ist von Schönheit nicht
die Rede.
Wie mit der physischen, so verhält es sich nun auch mit der
sittlichen Schönheit. Audi hier ist die Billigung oder Mißbilli­
gung nicht eine Verstandestätigkeit, sondern eine solche des
Gefühlsvermögens. Keine spekulative Behauptung, sondern ein
Gefühl.
4. Um es noch einleuchtender zu machen, daß die Sittlichkeit
nicht selbst ein besonderes Verhältnis ist, weist H u m e auf
Fälle hin, wo der Verstand dasselbe Verhältnis feststellt und
doch Sittlichkeit oder Unsittlichkeit nicht gegeben ist. So könnte
einer die sittliche Häßlichkeit des Undanks im Kontraste suchen.
50 Über die Güte des letzten Zweckes

Der Muttermörder Nero hat das Leben vernichtet, dem er das


seine verdankt. Aber ein junger Baum, der die Mutterpflanze
überwächst und zerstört, zeigt denselben Gegensatj von Leben
empfangen und rauben, aber Unbelebtes ist nie Gegenstand von
Liebe oder Haß, also auch nicht von Billigung und Mißbilligung.
5. Endlich noch ein Argument und wohl das wichtigste von
allen. Von den letjten Zwecken menschlichen Handelns gibt nie
die Vernunft Rechenschaft, sie empfehlen sich ausschließlich
unseren Gefühlen und Neigungen, ohne irgendwelche Abhängig­
keit von Verstandestätigkeiten. Man frage jemanden, warum er
körperliche Bewegung mache. Er wird antworten, um seine
Gesundheit zu erhalten. Fragt man weiter, warum er gesund
bleiben will, so sagt er, weil Krankheit schmerzlich sei. Geht
man noch weiter und fragt, warum er Schmerzen hasse, so kann
er keinen Grund dafür angeben. Die Freiheit von Schmerz ist
ihm eben ein letjter Zweck, und wird nicht auf etwas anderes
als Mittel bezogen. Es kann eben nicht immer wieder ein Ding
Grund dafür sein, warum ein anderes begehrt wird. Irgend
etwas muß um seiner selbst willen begehrenswert sein, indem
es unmittelbar zum Gefühl des Menschen und zu seinen Nei­
gungen stimmt. Unter unseren letzten Zwecken findet sich nun
auch die Tugend. Auch sie ist um ihrer selbst willen geliebt, sie
gewährt unmittelbare Befriedigung, ohne Rücksicht auf Lohn
und Strafe. Es muß also ein Gefühl in uns bereit sein, das
dadurch berührt wird, ein innerer Geschmack oder Schönheitssinn,
der Gut und Böse unterscheidet, indem er dem einen sich zu­
wendet und vom anderen abgestoßen wird.
6. So sind denn die Gebiete und Funktionen des Verstandes
und des Geschmacks leicht zu scheiden. Aus dem Verstände fließt
die Erkenntnis von Wahr und Falsch, aus dem Gefühlsvermögen
die von Schön und Häßlich, wozu auch das sittlich Schöne wie
das Gute, das sittlich Häßliche wie das Böse gehört. Ihr sub­
jektiver Ursprung macht, daß die Regeln der Billigung und
Mißbilligung nicht wie die Sätze des Verstandes ewig und
unveränderlich sind, selbst für den Willen des höchsten Wesens.
Sie stammen vielmehr in leijter Instanz von diesem Wesen her,
das jedem beseelten Geschöpf seine besondere Natur verliehen
entscheidet nur das Gefühl 51
und die verschiedenen Klassen und Ordnungen des Seins fest­
gestellt hat. So endet H u m e in seiner beliebten schelmischen
Weise. Er tut, als lehre er göttliche Sanktionen, während er
doch in Wahrheit sehr entfernt davon ist, mit den großen
Denkern der philosophischen Blütezeiten die theistische Welt­
anschauung zu teilen. Hume gelangt also zu dem Schluß: Wo
immer es sich bei ethischen Überlegungen um die Wahl der
Mittel handelt, dort entscheidet allein der Verstand (das Urteil).
Über die Güte des letjten Zweckes aber ist der Verstand unfähig
eine Entscheidung zu treffen.

f 16. Abwehr des Arguments: «Die Prinzipien der Ethik müssen


Erkenntnisse sein, weil über Ethisches disputiert wird"

So paradox die These klingt, daß die Prinzipien ethischer


Erkenntnis nicht selbst Erkenntnisse, sondern Gefühle seien, so
sind doch die dafür angeführten Gründe so schwerwiegend, daß
sie zur Annahme der Lehre geneigt machen. Ich ließ Hume
selbst den Anwalt seiner Lehre sein, zu der auch mancher andere
bedeutende Denker sich bekennt. Und wo er spricht, da spricht
ein klarer Kopf und ein scharfer Verstand. Nicht. ohne Grund
hat Kant seinen Scharfsinn vor dem aller anderen Philosophen
bewundert. Und in unserem Falle schlief Homer nicht! Eine
Fülle scharfsinniger Argumente hat er uns vorgelegt, und wer
immer seiner Beweisführung folgte, auf den können sie nicht
ohne Eindruck geblieben sein. Müssen wir uns nun aber wirk­
lich mit Hume dafür entscheiden, daß die Erkenntnisprinzipien
für die Ethik nicht Erkenntnisse, sondern Gefühle sind? Ehe
wir dies tun, wollen wir doch nochmals auf die Argumente zu­
rückkommen, die wir im Anfang für die entgegengesetjte Lehre
vorgebracht haben. Auch sie schienen beweisend, und wenn sie
es wirklich sind, dann ist, trotj allem Schein, Hume unmög­
lich im Recht. Wenn aber, was Hume sagte, beweisende Kraft
hat und seine Ansicht die richtige ist, so können unsere früheren
Argumente nur Scheinbeweise sein, Aporien, die bei näherer
Betrachtung sich lösen müssen.
52 Kritik eines Argumentes der Verstandestheorie

Das erste Argument war: Prinzip einer Erkenntnis heißt nichts


anderes als erste Erkenntnis, aus der jene folgt. Ist der Schluß-
sat$ ein Urteil, so müssen es auch die Prämissen sein. Es ist
also absurd, daß Gefühle die Prinzipien ethischer Erkenntnisse
seien.
Das zweite: Über Ethisches wird disputiert, aber über
Geschmackssachen läßt sich nicht streiten.
Doch wenn wir uns daran erinnern, was H u m e über den fal­
schen Vergleich zwischen ethischen und mathematischen Be­
ziehungen gesagt hat, so erkennen wir leicht, daß dieses zweite
Argument nicht zwingend ist. Auch hat H u m e schon darauf
Rücksicht genommen und ausgeführt, daß es nicht genüge. Um
zu erklären, wieso man über sittlich Gut und Schlecht dis­
putieren könne, sei es nicht nötig, daß die letzte Sentenz dar­
über, ob Handlungen und Charaktere preiswürdig oder tadelns­
wert seien, diejenige, welche ihnen das Zeichen der Billigung
oder Mißbilligung aufdrückte, vom Verstand gefällt werde. Die
Tatsache werde auch vom Standpunkt derjenigen begreiflich, die
jene letjte Sentenz als den Ausspruch eines Gefühls fassen, das
von der Natur unserer Spezies eingepflanzt sei, nur dürfe man
nicht so weit gehen, die Vernunft gänzlich von der Beteiligung
an ethischen Entscheidungen auszuschließen. Davon sei er weit
entfernt. Wenn die Vernunft nach seiner Lehre nicht die eigent­
liche Sentenz spreche, so habe sie doch einen vorbereitenden
Einfluß. „Ihr wird es zukommen, feine Unterscheidungen zu
machen, richtige Schlüsse zu ziehen, entfernte Vergleiche zu
bilden, die Fäden verwickelter Beziehungen zu verfolgen, all­
gemeine Gesetze aufzustellen und zu sichern und so den Gegen­
stand, über welchen das Gefühl entscheiden soll, gehörig ins
Licht zu setzen, wovon die Richtigkeit der Entscheidung wesent­
lich bedingt ist.“
Die Prinzipien ethischer Erkenntnisse müssen Erkenntnisse sein 53

# 17. Umnöglldikelt, das Argument abzuwehren: Die Prinzipien


der ethischen Erkenntnis müssen Erkenntnisse sein, weil ja unter
Prinzipien der Erkenntnis die unmittelbaren Erkenntnisse zu ver­
stehen sind, aus welchen die anderen folgen

So wäre das zweite Argument ‘beseitigt. Das erste widerlegt


er nicht. Offenbar ist es Hume nicht in den Sinn gekommen.
Können vielleicht wir es lösen? Es scheint nicht leicht. Wir
wollen es uns noch einmal vergegenwärtigen. Die ersten un­
mittelbaren Annahmen einer Wissenschaft, hieß es, sind die
ersten Erkenntnisse, aus welchen alle anderen erschlossen
werden. Schlüsse, deren Prämissen nicht Urteile wären, kann
es nicht geben, und sollen die Schlüsse sicher sein, so müssen die
Prämissen sichere Urteile sein. Dies in irgendeinem Fall leug­
nen und behaupten, bei irgendeiner Wissenschaft seien die Prin­
zipien Gefühle, ist also geradezu absurd. Ein bedenklicher Ein­
wand oder vielmehr ein solcher, der für ein Bedenken gar
keinen Raum mehr läßt. Er ist eben zwingend. Der Schein, den
der Einwand für sich hat, ist ein solcher, den kein Argument,
und käme es auch von einem Hume, zerstören kann. Er hat
die Klarheit der Evidenz.
Das Unrecht ist also auf Seiten Humes. Es muß in seinen
Argumenten etwas fehlen. Und in der Tat, es ist ihnen ganz
leicht zu begegnen, wenn man dieselbe Unterscheidung, die er
den Gegnern gegenüber machte, auf ihn anwendet. Er hatte
ihnen zugegeben, daß bei den Entscheidungen über Gut und
Böse der Verstand eine Rolle spiele, aber nicht als letjte Instanz,
nur als eine der Bedingungen dafür ließ er ihn gelten. Viel­
leicht ist es aber vielmehr so, daß das Gefühl nur irgendwie
beim Zustandekommen des sittlichen Urteils als Bedingung be­
teiligt ist. Und wirklich, mehr als das geht aus seinen Argumen­
ten nicht hervor. Es wird ihnen vollkommen genügt, wenn man
das Gefühl als eine Vorbedingung für die ersten Prinzipien der
Ethik betrachtet. Diese selbst sind nicht Gefühle, es bleibt viel­
mehr dabei, daß sie, wie die Prinzipien aller anderen Wissen­
schaften, Erkenntnisse sein müssen.
Daß Gefühle Bedingung einer Erkenntnis sein können, hat
54 Gefühle als Bedingungen

nichts Paradoxes an sich. Jede Erkenntnis hat gewisse Vor­


bedingungen, auch die unmittelbare, die sich in dieser Hinsicht
nur darin von der mittelbaren unterscheidet, daß ihre Vor­
bedingungen nicht selbst wieder Erkenntnisse sind. Dies gilt von
beiden Klassen unmittelbarer Erkenntnisse, die wir unter­
schieden haben, von den Axiomen sowohl als von den evidenten
Wahrnehmungen. Bei den Axiomen bilden gewisse Begriffe die
Bedingung, denn ein Axiom ist ein Urteil, das aus den Begriffen
einleuchtet, und damit uns etwas aus Begriffen einleuchte, müssen
wir im Besitje dieser Begriffe sein und sie tatsächlich denken.
Bei den evidenten Wahrnehmungen hinwiederum sind gewisse
Bewußtseinstätigkeiten die Bedingung, denn man kann zwar,
in äußerer Wahrnehmung, blind wahmehmen, was nicht ist
(Farben, Töne etc.), in innerer evident wahrnehmen aber läßt
sich nur, was tatsächlich i s t.
Wenn H u m e im Rechte ist mit seiner Definition der Tugend
als geistiger Handlung oder Beschaffenheit, welche in dem
Betrachter das angenehme Gefühl der Billigung erweckt, so ist
klar, daß derjenige, der eine Handlung als tugendhaft erkennt,
das Vorhandensein dieses Billigungsgefühles feststellen muß.
Es ist dann eben das Gefühl eine Vorbedingung für die sittliche
Erkenntnis. Wollte einer dagegen sagen, es sei selbst die
Erkenntnis, so ist dies eine Verwechslung, ähnlich wie wenn einer
meinte, die Axiome seien Vorstellungen von geraden Linien,
Winkeln etc., oder die ersten Prinzipien der Naturwissenschaft
seien Vorgänge in der Körperwelt.

f 18. Nachweis, wie Humes Argumenten genügt wird, wenn das


Gefühl bei der Feststellung der ethischen Prinzipien
nur irgendwie beteiligt ist

1. Sehen wir uns daraufhin nochmals Humes Argu­


mentation an.
Beginnen wir mit dem Vergleiche sittlicher Güte und körper­
licher Schönheit. Wie ist es mit dieser? Ein fühlloses Wesen
hätte von Schönheit keinen Begriff, denn sie ist nichts, was der
von Erkenntnissen 55

bloße Verstand entdeckte. Der Mathematiker spricht nicht von


der Schönheit der Kreisfigur. Schön besagt vielmehr eine Re­
lation der Vorstellung zu unserem Gefühl. Sie besagt, daß die
Vorstellung in eigentümlicher Weise Wohlgefallen erweckt.
Wenn dies auch bei der Tugend zutrifft, so folgt, daß der
Begriff des Guten uns ebenfalls erst aufgeht, wenn das Gefühl
der Billigung geweckt worden ist. Der Begriff besagt soviel
wie Relation zu einem solchen Gefühl. Dieses ist also Bedingung
für die Erkenntnis.
Dasselbe .aber folgt auch aus den anderen Argumenten, ins­
besondere aus dem eindrucksvollsten über die letjten Zwecke;
„Es scheint, daß von den letzten Zwecken menschlichen Handelns
nie die Vernunft Rechenschaft geben kann. Warum nennen wir
Gesundheit, Arbeit, Geld, Vergnügen Güter? Weil sie uns ge­
fallen, weil wir sie lieben. Freilich ist vieles, was uns so gefällt,
nur als Mittel beliebt, aber anderes und insbesondere die
Tugend selbst ist letzter Zweck, d. h. sie ist um ihrer selbst
willen, ohne Rücksicht auf Lohn und Strafe, begehrenswert. Sie
erweckt unmittelbar unsere Zuneigung.“ Daraus zieht H u m e
den Schluß, daß tugendhafte, d. h. sittlich gute Handlungen als
solche zu definieren sind, die an und für sich unser Wohlgefallen
erwecken. Was folgt daraus? Es folgt, daß für die letjten ethi­
schen Erkenntnisse, d. h. für die unmittelbaren Urteile darüber,
ob etwas gut oder böse sei, das Gefühlsvermögen Bedingung ist.
Eine gute Handlung und eine an und für sich wohlgefällige
Handlung besagt dasselbe. A priori, d. h. mit dem bloßen Ver­
stände aber kann man es einer Handlung nicht ansehen, daß
sie wohlgefällig ist. Das muß man erfahren haben.
Fragen wir weiter, in welcher Weise denn Gefühle die
Bedingungen für Erkenntnisse sein können, so ist zu sagen, als
Gegenstände der Erkenntnis. Die Unterscheidung von Gefühl
und Erkenntnis des Gefühls wird kaum Schwierigkeit bereiten.
Wir haben ja oft Erkenntnis von Gefühlen, ohne diese selbst
zu haben, wenn wir nämlich die Gefühle unserer Mitmenschen
erkennen. Wir wissen z. B., daß einer etwas haßt, was uns lieb
ist, oder daß solches, was uns indifferent ist, von einigen ge­
haßt, von anderen geliebt wird. Audi wenn wir uns erinnern,
56 Humes Irrtum erklärt sidi

selber früher ein gewisses Gefühl gehegt zu haben, das wir


jetzt nicht mehr haben, liegt ein solcher Fall vor. Vielleicht wird
die Unterscheidung noch deutlicher, wenn wir dabei ganz im
Gebiete des Urteils bleiben. Auch zwischen dem Fällen eines
Urteils und dem Erkennnen desselben ist zu unterscheiden.
Erkenne ich z. B., daß einer irrt, so ist sein Urteil zwar Gegen­
stand meiner Erkenntnis, aber ich teile es nicht. Es ist nicht mein
Urteil.
Wenn nun in diesen Fällen das Gefühl und die Erkenntnis,
welche das Gefühl zu ihrem Gegenstände hat, zu unterscheiden
sind, so auch dann, wenn ich selbst es bin, der beides hat, d. h.
es sind mein Gefühl und meine innere Wahrnehmung, die ich
davon habe, begrifflich zu unterscheiden. Freilich ist im letjten
Falle das Verhältnis ein besonders inniges. Die Erkenntnis
meines Gefühls, d. h. meine innere Wahrnehmung davon, ist
nicht ein zweiter Akt, der zum Gefühl hinzukäme, sie bilden
zusammen ein und denselben Akt. Das wird von den Philo­
sophen des Unbewußten verkannt. Sie meinen, es komme vor,
daß wir ein Bewußtsein von etwas haben, ohne dieses Bewußt­
sein innerlich wahrzunehmen, während sie korrekt nur sagen
dürften, es komme vor, daß wir es nicht deutlich erfassen.
So scheint denn in dem Streite die richtige Lösung gefunden.
Die Prinzipien der Ethik müssen, wie bei allen Wissenschaften
Erkenntnisse sein, Gefühle können es nicht sein. Wenn Gefühle
dabei beteiligt sind, so nur als Gegenstände der Erkenntnis.
M. a. W. Gefühle sind die Vorbedingungen der ethischen
Prinzipien.
Diese vorsichtige Fassung wird vielleicht nach allem Dar­
gelegten überraschen. Ist es denn nicht schon sicher, daß Gefühle
hier beteiligt sind? Aber so wahrscheinlich uns das geworden
sein mag, so wollen wir doch die Vorsicht nicht außer acht
lassen, denn alle Argumente, welche gegen die Gefühlstheorie
zu sprechen schienen, haben wir noch nicht erörtert. Erinnern
wir uns des Vorwurfs, den Kant erhob, daß nämlich unsere
sittliche Erkenntnis der allgemeinen Verbindlichkeit ermangeln
würde, wenn das Gefallen und Mißfallen zum Maßstab gemacht
werden dürfte. Wir glauben aber doch, daß das, was für uns
aus mangelhafter psychologischer Analyse 57

sittlich richtig ist, es für alle sein müsse, während Geschmädce


für verschiedene Spezies verschieden sind. Was es mit diesem
Argument für eine Bewandtnis habe, wird uns an späterer Stelle
beschäftigen. Ich erinnere nur daran, um die vorsichtige Aus­
druckweise zu motivieren, deren ich mich bei der Zusammen­
fassung unserer bisherigen Ergebnisse bediene.
2. Die Widerlegung eines Irrtums hat oft nicht die Kraft, zu
verhindern, daß er wiederkehre. Dabei denke ich nur an den
Fall, wo die Widerlegung wirklich gelungen ist, denn eine miß­
lungene Widerlegung ist keine. Die Geschichte der Wissen­
schaften, insbesondere der Philosophie, zeigt, daß widerlegte
Irrtümer doch häufig wieder auftauchen. Um dies zu verhindern,
empfiehlt es sich, die Motive des Irrtums aufzudedcen.
Bei H u m e liegen die Gründe der Täuschung in der Unvoll­
kommenheit seiner psychologischen Analyse. Seine deskriptive
Psychologie läßt viel zu wünschen übrig. Ich hebe als Momente,
die an seinem Irrtum beteiligt waren, hervor:
a) Die innige Verbindung von Gefühl und Wahrnehmung des
Gefühls, von der ich sprach, erschwert ihre Unterscheidung. Daß
Hume sie unterlassen und zwischen Gefühl und Erkenntnis des
Gefühls nicht scharf genug unterschieden hat, ist daraus zu
entnehmen, daß er ja offenbar gar nicht an unseren Einwand
denkt.
b) Dazu kommt seine höchst mangelhafte Klassifikation der
psychischen Tätigkeiten. Er unterscheidet prinzipiell eigentlich
nur „impressions“ und „ideas“, Empfindungen einerseits, Phan­
tasmen und Begriffe andererseits, als schwächere Kopien der
ersten. Fragt man, wo denn in dieser Einteilung die Gefühle
bleiben, so verweist er sie unter die impressions, wenigstens die­
jenigen, die man Affekte nennt. Er verwechselt also eine
Empfindung mit der Lust oder Unlust an ihr. Frägt man, wohin
denn das Wollen gehöre, so bekommt man überhaupt keine
Aufklärung. Vom Urteilen aber gibt er an verschiedenen Stellen
ganz verschiedene Bestimmungen. Manchmal spricht er so, als
gehöre ps zur Klasse der ideas, ein Urteil sei dann gegeben,
wenn gewisse Ideen sich so fest miteinander verknüpften, daß
die eine gar nicht mehr von der anderen zu lösen sei. Eine Art
58 Gefühl und Erkenntnis von Gefühl werden nicht unterschieden
festen Beharrens der Idee mache sie, sagt er an anderer Stelle,
zu einem Urteil. Und auch das ist nidit sein letjtes Wort in der
Sache, denn auch die Bemerkung findet sich bei ihm, daß das
Urteil eine Art Gefühl sei. Angesichts solcher Konfusion kann
es uns nicht mehr wundernehmen, wenn wir die einfache Unter­
scheidung zwischen einem Gefühl und der Erkenntnis des
Gefühls bei ihm vernachlässigt finden.
c) Dazu gesellt sich als weiteres Motiv der Verwechslung von
Gefühl und Erkenntnis des Gefühls, daß auch sonst vielfach
überhaupt Gefühl und Erkenntnis konfundiert werden, und zwar
darum, weil die Volkssprache für Urteile und Gefühle oft die­
selbe Bezeichnung hat. Sie spricht von Zustimmung oder Billigen
sowohl, wo der urteilende Verstand als wo Gefühl und Wille
eine Entscheidung treffen. (Ein Argument billigen!) Sie nennt
Lust und Unlust Gefühle, gestattet aber auch einem, der etwas
glaubt, ohne es beweisen zu können, zu sagen, er habe das
Gefühl, daß es sich so verhalte. Wer sich über die Eigenart des
Urteilens klar ist, den können solche Aequivokationen nicht
stören, aber sie können solchen gefährlich werden, welche die
grundlegenden Analysen der Psychologie noch nicht bewältigt
haben. Zu diesen aber ist H u m e selbst zu zählen.
3. Hat man sich alles das klargemacht, so erscheint die Sache
ganz einfach. An die Stelle des Streites darüber, ob die Prin­
zipien der ethischen Erkenntnis Erkenntnisse oder Gefühle seien,
kann nun die Frage treten, ob die Erkenntnisse, welche die
Prinzipien der Ethik sind, Gefühle zu ihrem Gegenstände haben.
Ich glaube, daß Hume, wenn man ihm diese präzise Fassung
vorgelegt hätte, seine Zustimmung nicht verweigert haben würde.
Er wäre damit einverstanden gewesen, seine These so zu modi­
fizieren: sie sind Erkenntnisse von Gefühlen. Seine
Grundidee, die Beteiligung des Gefühls, bliebe damit gewahrt,
und wahrscheinlich hätte er bekannt, gar nichts anderes gemeint
zu haben.
Wozu aber dann diese lange Untersuchung, wozu das Häufen
von Argumenten und Gegenargumenten, wenn sich schließlich
die ganze Differenz als so unbedeutend herausstellt? Ich ant­
worte: parvus error in principio, maximus in fine. Gewiß hätten
Die ethischen Prinzipien sind Erkenntnise von Gefühlen 59
wir uns die lange Untersuchung ersparen können, indem wir
gleich die nötige Unterscheidung vorgenommen hätten; aber
schon daß ein so scharfsinniger Denker wie Hum e sie nicht
zu machen verstand, zeigt, daß hier die Analyse unerläßlich ist.
Schließlich ist es bei sehr vielen und vielleicht gerade bei den
prinzipiellsten Fragen der Philosophie ebenso. Hat man die
Lösung, so scheint es, als hätte man sie immer schon gehabt, und
doch ist vielleicht eine Konfusion von jahrhundertelanger Dauer
vorangegangen und erst durch diese Analyse überwunden
worden. Das eigentümliche der philosophischen Begabung zeigt
sich in nichts deutlicher als darin, mit welchem Interesse der­
artige elementare Analysen aufgenommen werden.

§ 1®. Untersuchung des Arguments: „Die Prinzipien der ethischen


Erkenntnis können nicht Gefühle sein, weil das, was gut und schlecht
ist, allen vernünftigen Wesen dafür gelten mufi“

Drei Argumente waren gegen die Gefühlstheorie gerichtet:


a) Gefühle können nicht Erkenntnisprinzipien sein, weil sie
nicht selbst Erkenntnisse sind, während dies doch von den echten
Erkenntnisprinzipien gefordert ist.
b) Die Prinzipien der Ethik sind Gegenstand des Streites, aber
über Gefühls- und Geschmackssachen läßt sich nicht streiten.
Diese beiden sind durch unsere vermittelnde Lösung „nicht
Gefühle selbst, wohl aber Erkenntnisse von Gefühlen“, erledigt.
Wie aber verhält es sich mit dem dritten Argument, das gegen
die Gefühlstheorie gerichtet war?
c) Wir nehmen gemeiniglich an, daß das, was wir für gut und
für schlecht erachten, es für jedes vernünftige Wesen ist, von
welcher besonderen Art es auch sein möge; ja sogar für Gott.
Dieser Anspruch auf Allgemeinheit, d. h. hier auf Verbindlich­
keit für alle Arten vernünftiger Wesen, scheint aber nur dann
einen Sinn zu haben, wenn es sich um Vernunftswahrheiten
handelt. Es ist ausgeschlossen, daß für irgendwelche Wesen eine
andere Logik gelte als für uns, so zwar, daß der Satj des Wider­
spruchs oder der des ausgeschlossenen Dritten für ihren Ver­
60 Gefühlsmoral ist unvereinbar

stand durch das Gegenteil ersetjt werden müßte. Anders, wo es


sich um Gefühle handelt. Was gefällt oder mißfällt, lieb oder
unlieb ist, das hängt oft von der Konstitution der betreffenden
Spezies von Lebewesen ab. Verschiedene Arten differieren sehr
in ihren Geschmacksrichtungen. Wenn nun die Prinzipien der
Ethik Erkenntnisse von Gefühlen sind, so handelt es sich um
solche Zufälligkeiten unserer Artbeschaffenheit, und woher dann
der Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit? Läßt man diesen
aber fallen, so fehlt der Ethik ihre wahre Würde und Autorität.
Zumal wenn man bedenkt, daß dann andere Wesen, die von
höherem Range als wir sein mögen, und Gott selbst vielleicht das
Gegenteil billigen und mißbilligen.
Dieses Bedenken scheint von großem Gewicht. Wie ist ihm zu
begegnen? Ist es richtig, daß der Ethik die Allgemeingültigkeit
ihrer Grundsätze verlorengeht, wenn deren Objekt Gefühle sind?
H u m e selbst, der überzeugteste Vertreter der Gefühlsmoral,
ist nicht minder dieser Ansicht als diejenigen, die ihn angreifen.
Sie sehen in der Preisgabe der Allgemeingültigkeit eine unver­
meidliche Folgerung. „Ob die Grundlagen der Moral durch
Vernunft und Einsicht oder durch Gefühl bestimmt werden und
infolge davon gänzlich auf der besonderen Konstitution der
menschlichen Spezies beruhen, während im ersten Falle sie wie
jedes richtige Urteil über Wahr und Falsch, bei allen vernünfti­
gen Wesen dieselben sein würden...“ so faßt Hume gleich
von Anfang den Gegenstand der Kontroverse. (Unters, über die
Prinzipien der Moral, Kap. I.)
Ist es aber nicht auch richtig, daß mit dieser Allgemein­
gültigkeit der Ethik auch die höhere Würde und Autorität ver­
lorengeht, zumal ja die Möglichkeit nicht ausgeschlossen schiene,
daß Gott mißbilligt, was wir als sittlich gut billigen, ja daß
dieser Fall ebensoviel für sich hätte wie der, daß sein Urteil
mit unserem übereinstimmte? Richard Price, Thomas
Reid und Kant sind hier eines Sinnes, und das war ihnen
ein Grund, die Gefühlsmoral zu verwerfen. Mit Recht. Aller­
dings fehlt es nicht an Versuchen, die Heiligkeit und Würde der
Moral dennoch zu retten.
1. Versuch. Einige klammem sich an den Gedanken: Gott hat
mit Allgemeingültigkeit 61

uns so geschaffen. Da unsere Natur von ihm gewirkt ist, empfan­


gen die dieser Natur entsprechenden ethischen Gesetje eine Art
göttlicher Sanktion. H u m e, dem Atheisten, war es, da er diesen
Gedanken aussprach, natürlich nicht Emst damit, aber andere,
wie z. B. Adam Smith, dachten allen Ernstes so. Doch was
bei jenem ein Sophisma, ist bei diesen ein trügerischer Para-
logismus.
Wahr ist allerdings, daß, wenn Gott ist, die Konstitution jeder
Spezies, auch die menschliche, von ihm gegeben ist, und so auch
der ethische Geschmack, das sittliche Urteil, wenn sie von dieser
Konstitution abhängen. Aber was soll daraus folgen. Ist damit
daß unsere Konstitution von Gott stammt, das obige Argument
aus der Welt geschafft?
a) Vielleicht sagt einer: „Ein uns von Gott gegebener sittlicher
Geschmack ist gut.“ — Aber, wenn es Gott gibt, so ist alles von
ihm, Krankheit wie Gesundheit, Häßlichkeit wie Schönheit,
Blindheit wie scharfes Gesicht, Dummheit wie Weisheit. Und
doch stehen sie einander wie Übles und Gutes gegenüber. Oder
sollen wir denen beipflichten, die sagen, die göttliche Providenz
sei nicht so kleinlich, sich um alles zu kümmern, sie schaue nur
auf das Allgemeine? Eine lächerliche Verzerrung des Theismus!
Kein Sperling fällt vom Dach, kein Haar vom Haupte ohne
Gottes Wissen und Willen.
b) Vielleicht wendet man ein, es handle sich beim sittlichen
Geschmack um etwas ganz Besonderes. Ist die Weise, wie wir
billigen und mißbilligen, von Gott bestimmt, so billigt er diese
Weise, unsere Billigung steht also mit seiner im Einklang. —
Aber warum dann nicht dieses Argument auch auf das ästhe­
tische und das logische Gebiet übertragen? Da ist ein affektierter
Poet, sein Geschmack ist ihm von Gott gegeben, also ein dem
göttlichen Geschmack entsprechender, ein göttlicher Poet! Frei­
lich entstammt auch unser kritischer Geschmack, der den seinen
verurteilt, im letzten Grunde aus derselben Quelle, und wie
können dann zwei einander widerstreitende Gesdunäcke mit
einem und demselben dritten in Übereinstimmung sein? Oder
es macht einer einen Fehlschluß, fällt einem Sophisten in die
Falle und approbiert, wovon unsere Einsicht sagt, daß es Unsinn
62 Allgemeingültigkeit aus von Gott gegebener

ist. Auch er urteilt, wie er unter den gegebenen Umständen


infolge seiner „Konstitution“ urteilen muß. Es müßte einer also,
wenn dort, auch hier schließen, daß Gott selbst den Widersinn
approbiere. Niemand aber fällt es ein, einen solchen Schluß zu
ziehen.
Man sieht, wie verkehrt es ist, aus der Abhängigkeit unseres
sittlichen Geschmacks von unserer Konstitution und dieser von
Gott auf die Übereinstimmung der Weise, wie Gott billigt, mit
der unseren zu schließen. Was uns gefällt, könnte Gott miß­
fallen.
c) Vielleicht sagt einer, es bleibe doch dann wenigstens das
eine sicher: Wenn Gott uns den Geschmack gegeben, so müsse er
für uns passend sein, also geraten, daß wir ihm folgen. —
Auch das trifft nicht zu. Es gibt natürliche Instinkte, die zum
Verderben ihres Trägers drängen. Tierspezies, wo das Männ­
chen im Akt der Begattung stirbt, das Weibchen von den Jungen
gefressen wird. Der Instinkt mag dann, wie Darwin sagt,
dem Besten der Art dienen, nicht aber dem seines individuellen
Trägers. Und selbst jenes stimmt nicht"allgemein.
d) Wohlan, sagt man, wenn Gott auch nicht alles zum Wohle
des Individuums oder der Art gefügt hat, so hat er doch das
Ganze der Welt wohlgeordnet. — Aber das gilt, wenn Gott ist,
von allem gleichmäßig. Nicht nur von der Erkenntnis, sondern
auch vom Irrtum, vom Verbrechen ebenso wie von der Tugend.
Wenn also nur sein Anteil an der göttlichen Weltordnung unseren
sittlichen Geschmack sanktionierte, so hätte er vor der Freude
am Schändlichsten nichts voraus. In Rücksicht auf das Ganze mit
göttlicher Weisheit zugelassen, könnte er, an sich betrachtet, ganz
und gar verkehrt sein. Man erwäge auch folgendes. Wenn uns
ein uns innewohnendes ethisches Billigkeitsgefühl ein Antrieb
ist, dies zu tun, jenes zu unterlassen, so sind doch zugleich auch
andere Triebe in uns, die diesem Triebe widerstehen. Auch sie
sind von Gott, wie alles in der Welt. Sie sind so mächtig, daß
man die sittliche Kraft geradezu am Widerstande gegen sie
mißt, einen Sieg über sie heroisch, ja unter Umständen über­
menschlich nennt (neKov q xm äväeamov) und gerade hier die
höchste Bewunderung zollt. Und wie diese, so müssen alle Ver­
Veranlagung nicht erschließbar 63

suche, unsere Moralprinzipien durch Rekurs auf göttlichen


Ursprung zu rechtfertigen, mißlingen, denn sie bewegen sich in
einem logischen Zirkel. Wir haben von Gott keine unmittelbare
Erfahrung, wir erschließen ihn aus seinen Werken und legen ihm
die Attribute der Vollkommenheit bei, darunter auch das der
sittlichen Vollkommenheit. Um dies zu tun, müssen wir aber
bereits im Besitze eines Begriffes von sittlich Gutem sein und
müssen unabhängig vom Gottesgedanken Einsicht in die Prin­
zipien der Moral gewonnen haben. Es geht nicht an, einerseits
in Rücksicht auf die Güte Gottes zu vertrauen, daß das, was
wir 'gut finden, wirklich gut sei, und andererseits in Rücksicht auf
unser Gutfinden Gott Güte beizulegen.
So ist denn der erste Versuch mißlungen. Man kann aus
unserer Zugehörigkeit zur göttlichen Schöpfung nicht eine gött­
liche Autorität für unsere Moralprinzipien ableiten.
Ein zweiter Versuch erblickt das, was, solche Autorität ver­
leiht und unserem sittlichen Geschmack die allgemeine Verbind­
lichkeit gibt, darin, daß er allgemein sei in der ganzen mensch­
lichen Spezies, Die Menschheit, das „grande être“ Comtes
tritt als Autorität an die Stelle Gottes, ist sie doch im Vergleiche
zum einzelnen gewissermaßen unendlich.
Doch auch dieser Versuch ist untauglich.
a) Vor allem, ist denn diese allgemeine Übereinstimmung der
Menschen im sittlichen Geschmack eine Tatsache? Es wäre etwas
Auffallendes, da in anderen Beziehungen die Geschmacks­
unterschiede -beträchtlich sind. In Wahrheit fehlt die volle Ein­
mütigkeit auch hier, bei dem einen ist der sittliche Geschmack
stumpfer, beim anderen empfindlicher. Ja selbst an direkter
Gegensä^lichkeit fehlt es hier nicht. Die Gegensätje werden von
den Relativisten als Beweis dafür herangezogen, daß es über­
haupt keine allgemeinen ethischen Prinzipien .gibt. Bei den
Arabern muß die Tötung eines Verwandten von den Mitgliedern
der Sippe blutig gerächt werden. Wer das Gebot der Blutrache
nicht befolgt, gilt als sittlich verächtlich. Die Buddhisten und
die Christen verbieten die Rache und halten es für sittlich, daß
Haß mit Liebe vergolten werde. Bei gewissen Primitiven gilt
es als Pflicht der Kinder, ihre alten und hinfällig gewordenen
64 Es gibt keine allgemeine Übereinstimmung

Eltern umzubringen, während unsere Bauern ihnen ein Aus­


gedinge geben und sich in der Art der Versorgung der nicht
mehr arbeitsfähigen Alten an wohlwollende Gesetze und Ge­
bräuche halten. Was das Verhalten zum eigenen Volke und
Staate anlangt, so billigen die einen alles, was diesen nütjt, die
anderen aber stellen die Interessen umfassenderer Gemeinschaften
voran und muten der kleineren zu, ihre Selbständigkeit auf­
zugeben und sozusagen Selbstmord zu begehen. Die einen ver­
abscheuen jede Lüge, die anderen preisen den, der im Interesse
seiner Partei oder seines Vaterlandes erfolgreich zu lügen ver­
steht, als gesinnungstüchtig und patriotisch. Alle Tötung von
Tieren gilt den einen für frevelhaft, andere billigen es, daß
Tiere bei lebendigem Leibe seziert werden. Die einen ver­
urteilen den Selbstmord als feige Flucht aus dem Leben, die
anderen preisen ihn als heldenhaft. Die einen ächten jeden
Krieg als Massenmord, die anderen finden in ihm die höchste
Entfaltung männlicher Tugend und, weit entfernt, ewigen Frie­
den als einen Idealzustand gelten zu lassen, verdammen sie ihn
als entnervend und als Weg zum Niedergang.
Wie auf anderen Gebieten des Geschmacks herrscht also auch
beim sittlichen Geschmack nicht Harmonie unter den Menschen.
Insbesondere ist hier der Einfluß der Gewohnheit mächtig und
erzeugt extreme Unterschiede in bezug auf Gefallen und Miß­
fallen.
b) Doch wir wollen davon absehen und annehmen, die
Allgemeinheit des sittlichen Geschmacks in der menschlichen
Rasse dürfe als gesicherter gelten, als es nach diesen Beispielen
den Anschein hat. Würde diese Allgemeinheit ausreichen, dem
sittlichen Geschmack eine Sanktion zu verleihen, die ihm als
Sondergeschmack eines Individuums fehlte? Worin läge diese
Sanktion eigentlich? Es scheint, daß man dabei in der großen
Zahl derer, welche an derselben Geschmacksrichtung teilnehmen,
eine Bürgschaft dafür erblickt, daß es der richtige Geschmack
sei. Aber dann würde es wohl einen mächtigen Unterschied
ausmachen, ob diese Allgemeinheit des Geschmacks in der
Menschenspezies ihre Grenzen hat oder ob sie darüber hinaus­
geht und auf alle vernünftigen Wesen sich erstreckt. Wie, wenn
im sittlichen Geschmack 65

andere vernünftige Wesen unseren ethischen Geschmack nicht


teilen und diese von uns abweichende Spezies -die menschliche
an Zahl so übertrifft, daß die Gesamtzahl der Menschen sich zu
ihr verhält wie der einzelne Mensch zur ganzen Menschheit; in
welchem Lichte erschiene dann unser sittlicher Geschmack? Man
sieht, die verbindliche Kraft der Moralprinzipien und mit ihnen
die ganze Moral geriete ins Schwanken, wenn lediglich die
Majorität das Kriterium für den richtigen sittlichen Geschmack
abgeben würde.

} 20. Fortsetzung. Versuche, die Übereinstimmung aller vernünftigen


Spezies im moralischen Geschmack als sehr wahrscheinlich,
ja als gewifl darzutun

I. Man hat nun den Versuch unternommen darzutun, daß


es mit der Zeit zu einer allgemeinen Übereinstimmung im sitt­
lichen Geschmack der Menschen, ja über die vernünftigen Erd­
bewohner hinaus aller vernünftigen Bürger des Weltsystems
kommen müsse.
1. Zugegeben wird, daß zunächst nicht einmal innerhalb der
menschlichen Spezies Übereinstimmung herrscht, aber das ändere
sich im-Verlaufe der Geschichte und müsse sich, naturgese^lich
betrachtet, ändern, und zwar in der Richtung auf eine zu­
nehmende Angleichung hin. Die Menschen nähern sich mehr und
mehr einem Zustande, worin sie ausschließlich an dem Gefallen
finden, was das Glück der Gesamtheit fördert. So werde denn,
was sie als sittlich approbieren, im Verlaufe der Entwicklung
wirklich allgemein, und dieser einhellige Geschmack ist dann,
wegen seiner Allgemeinheit, der ideale, der richtige.
2. Warum soll es zu einer solchen allmählichen Harmoni­
sierung der anfänglich so differenten Geschmacksrichtungen
kommen? Vornehmlich aus zwei Gründen.
a) Nach dem Gesetj, daß man allmählich das Mittel unabhän­
gig vom Zwecke begehre. Man macht die Erfahrung, daß, was
allen nütjt, auch einem selber am besten dient, und liebt es darum
zunächst als Mittel zum eigenen Wohl, aber, nach dem er­
66 Übereinstimmung soll sich allmählich entwickeln

wähnten Gesetze, mit der Zeit ohne Rücksicht auf den eigenen
Vorteil um seiner selbst willen.
b) Der Kampf ums Dasein wirkt auch mit an dieser Harmoni­
sierung. Wer Leben und Eigentum nicht respektiert, wird ge­
henkt, wer sich der Allgemeinheit nütjlich erweist, wird ge­
fördert. So verschwinden mit der Zeit die Widerstrebenden, und
nur jene, die sich dem fortgeschritteneren Geschmack anpassen,
bleiben übrig, ähnlich wie auch aus der Tierwelt die schäd­
lichen Spezies immer mehr verschwinden, indes die nützlichen
sich ungehemmter vermehren. Mit anderen Worten, der Kampf
ums Dasein in der menschlichen Gesellschaft züchtet die utili-
tarischen Dispositionen.
3. Hienach scheint der Schluß gerechtfertigt, daß auch bei
eventuellen anderen Spezies sich allmählich derselbe ethische
Geschmack herausbilden müsse wie bei den Erdbewohnern, denn
a) das Kausalgesetz gilt allgemein,
b) der Bau der Welt besteht im letzten Grunde überall aus
denselben Elementen, wie die Spektralanalyse erkennen läßt,
c) und zu den allgemeinen Gesetzen aller denkbaren Arten
gehört auch der Kampf ums Dasein.
So muß es denn wie eine universelle Physik (vgl. Anm. 34),
die für alle Weltkörper gilt, auch eine universelle Ethik, neben
der Astrophysik auch eine Astroethik geben (G i z i z k y).
II. Bedenken gegen den Versuch, die allgemeine Übereinstim­
mung im sittlichen Geschmack wahrscheinlich zu machen.
Ist wirklich eine konstante Richtung der Geschmacksentwick­
lung zum utilitarischen Ziele hin beim menschlichen Geschlechte
wahrscheinlich oder mit Sicherheit zu erwarten? Man hat hiefür
teils induktiv, teils deduktiv argumentiert.
1. Wenden wir uns zunächst dem induktiven Beweise zu. Er
stützt sich auf das Zeugnis der Geschichte, die einen steten Fort­
schritt in dieser Richtung erkennen lasse. Stimmt das? Bis heute
ist das Ziel jedenfalls nicht erreicht, und da ist es denn wohl
fraglich, ob selbst, wenn eine Bewegung in dieser Richtung
merklich wäre, daraus geschlossen werden dürfte, daß das Ziel
jemals erreicht wird. Es könnte ja die Entwicklung auch in
einem gewissen Abstande vom Ziel zum Stillstand kommen,
Kritik dieser Behauptung 67

vielleicht nimmt die Geschwindigkeit des Prozesses immer mehr


ab, so daß er nie über eine gewisse Grenze hinausgelangen kann.
Aber angenommen, es würde einmal der Zustand voller
Geschmacksgleichheit erreicht, muß dann der Prozeß ein Ende
haben? Es könnte auch dann noch zu Weiterbildungen kommen,
Leute, die wir als sittlich hochstehend verehren, sind oft nicht
Utilitarier. Eine Welt voll glücklicher Spießer scheint ihnen
weniger wert als eine, wo viele leiden und dumm sind, aber
einige Auserlesene Helden der Tugend und Genies in wissen­
schaftlicher Forschung oder künstlerischer Schöpfung. Und könnte
es nicht auch zu Rückbildungen kommen? Die Ablösung des
Humanitätsideals durch das nationalistische, die schon Grill­
parzer kommen sah, galt ihm als Rückschritt, offenbar fand
er keinen Geschmack an der Verkündigung des Wohles der
eigenen Nation als höchstes sittliches Ziel. Vielleicht geht die
Rückbildung noch weiter, so daß auch in der Privatmoral der
Egoismus wieder als sakrales Prinzip zu Geltung kommt.
Vielleicht wird noch des öfteren ein Wechsel in der sittlichen
Geschmacksentwicklung erfolgen, ähnlich dem der Moden auf
ästhetischem Gebiete.
2. So scheint denn das induktive Argument, das Zeugnis der
Geschichte, keineswegs entscheidend. Wenden wir uns zum
deduktiven.
a) Das psychologische Gesetj der Liebe des Mittels genügt
nicht zum Beweise dafür, daß sich mit der Zeit alle Menschen in
der Liebe zum allgemeinen Besten vereinigen müßten, weil jeder
dieses zunächst im eigenen Interesse begehrenswert gefunden hat.
Es wird ja auch nicht jeder ein Geizhals, obwohl jeder den Wert,
den das Geld als Mittel zum Zweck hat, schätjen lernt.
b) Der Kampf ums Dasein erweist sich sonst nicht eben
egalisierend; im Gegenteil, er treibt, allgemein gesprochen, die
Unterschiede auseinander. Sollte er hier zur Gleichheit führen
müssen? Er wird eher auch hier Unterschiede erzeugen, wenn
einerseits die Ehrlichkeit, andererseits die Spitzbüberei ihre
Vorteile hat. „Ehrlich währt am längsten“ ist mehr ein frommer
Wunsch als eine Wahrheit in der Politik wie im sozialen Leben
überhaupt. Für die Erhaltung des einzelnen an und für sich
68 Weder deduktive noch induktive

scheint es vorteilhafter, die Disposition, sich im Dienste anderer


aufzuopfern, gar nicht aufkommen zu lassen, als sie zu züchten.
Jedenfalls ist es eine starke Übertreibung, daß die Galgen
wahrhaft auslesende Funktion haben, denn die kleinen Spi§-
buben hängt man, heißt es, die großen läßt man laufen.
3. Aber nehmen wir selbst an, es stünde beim Menschen die
Tatsache dieser Entwicklung zur Harmonie im Streben nach dem
Glücke der Gesamtheit fest, gäbe uns das ein logisches Recht zur
Übertragung auf andere Spezies und zur Erwartung einer Astro-
ethik? Es leuchtet durchaus nicht ein, daß eine solche Verall­
gemeinerung erlaubt ist.
ad 1. Die induktiven Argumente verlieren immer mehr an
Kraft, je weiter man das Erfahrungsgebiet hinter sich läßt.
Schon die Physik bezeugt das. Wenn ein Gesetj für die Fort­
pflanzung des Schalls in der Luft festgestellt ist, darf nicht ohne
weiteres angenommen werden, daß es auch für andere Medien,
z. B. für das Wasser, ebenso gilt. Es kommt eben auf die
Umstände an. So werden denn die, induktiven Argumente,
wenn wir solches, was an unserer eigenen Spezies erfahren wird,
auf uns ganz unbekannte Arten vernünftiger Wesen zu über­
tragen uns unterfangen, vollends zu vagen Analogien.
ad 2. Es müßten also hier die deduktiven Argumente allein,
die wir schon in der Anwendung auf unser Erfahrungsgebiet
mangelhaft gefunden haben, Sicherheit geben; aber das Gegen­
teil ist offenbar.
a) Die Gleichheit des Kausalgesetzes für alle Gebiete beweist
an sich noch nichts zugunsten der Annahme, ist sie doch schon
auf Erden buntester Mannigfaltigkeit nicht zuwider.
b) Ebensowenig beweist die Gleichheit der Elemente. Alle
Tiere sind aus den gleichen chemischen Stoffen zusammengesetzt,
aber wie verschieden ist ihr Geschmack in bezug auf ihre
Ernährung und wie sehr unterscheiden sie sich in ihren Dispo­
sitionen auch sonst.
c) Das psychologische Gesetj der Liebe des Mittels hängt mit
unserer menschlichen Schwäche zusammen, dürfte sich also bei
Wesen, die uns in Vernunfttätigkeit überlegen sind, weniger
wirksam erweisen. Aber selbst bei gleicher Geltung hier und
Argumente sind stichhältig 69

dort bietet es keine Gewähr endgültiger Harmonisierung des


sittlichen Geschmacks.
Es ist ein gewöhnlicher Fehler in der historischen Schule der
Ethiker, eine allgemeine Bewegung, wenn sie in gewisser ein­
deutiger Richtung verläuft, als auf ein erstrebenswertes Ziel
gerichtet anzusehen. Man denke an den Fall, wo in zwei
Ländern, deren Interessen auseinandergehen, jahrelang die
öffentliche Meinung auf Krieg hin dressiert wird. Die Bewegung
wird schließlich hier und dort eine allgemeine, und doch glaubt
jedes Land vom anderen, sein Ziel sei schlecht.
III. Wir stehen noch immer bei dem Versuche, die Gefühls­
theorie gegen den Vorwurf zu verteidigen, daß sie dem Anspruch
des ethischen Gesetjes, für alle vernünftigen Wesen verbindlich
zu sein, nicht genügen könne. Zu ihrer Verteidigung waren zwei
Versuche unternommen worden:
Der erste Versuch bestand in dem Hinweis auf unseren gött­
lichen Urheber. Was er geschaffen, sei notwendig gut, und da er
insbesondere auch Ursache unseres sittlichen Geschmacks sei, so
müsse dieser mit dem, was Gott selbst billigt, übereinstimmen.
Beides erwies sich als Sophisma. Auch lag eine petitio principii
vor, da wir, um auch nur zu behaupten, daß Gott ein gutes
Prinzip sei, zuerst wissen müssen, was gut ist.
Der.zweite Versuch erblickte die Sanktion unseres sittlichen
Geschmacks in dem Umstande, daß er in der menschlichen
Spezies allgemein sei. Nach Analogie sei dasselbe sogar von
allen denkbaren Arten vernünftiger Wesen vorauszusetjen. Diese
Allgemeinheit zu erweisen, versuchte man auf verschiedenen
Wegen, von denen uns keiner befriedigen konnte. Die Argu­
mentation erwies sich überall als mangelhaft. Wir wollen das
Problem nochmals aufnehmen, aber mit einer ganz anderen Art
der Betrachtung. Der ganze Versuch, die Sanktion des sittlichen
Geschmacks auf seine allgemeine Verbreitung zu gründen, ist
von vornherein verfehlt und wäre es auch dann, wenn diese
Allgemeinheit wirklich gesichert wäre, denn er leidet an einer
groben Äquivikation.
1. Was in den Angriffen gegen die Gefühlsmoralisten von
deren Gegnern vermißt worden war, ist die Allgemein-
70 Verwechslung von Allgemeingültigkeit und Allgemeinheit

gültigkeit des Sittengesetjes; was die eben erörterten. Ver­


suche aber erweisen wollten, war seine tatsächliche All­
gemeinheit. Das ist aber etwas ganz anderes. Etwas kann
allgemein gültig sein, ohne allgemein zu sein. So ist jedes
evidente Urteil, auch wenn nur ein einziger es fällt und alle
anderen der Einsicht entbehren, doch allgemeingültig. Es ist es,
so wahr es für den einzelnen gültig ist. Die Wahrheit ist eine
für alle. Es ist absurd, daß von dem, was ich einsehe, ein anderer
das Gegenteil einsehen könne. Es kann nicht dasselbe Urteil für
den einen wahr und für den anderen ein Irrtum sein, sondern
höchstens irrtümlich für einen solchen gehalten werden.
Umgekehrt sind, zeitweise wenigstens, gewisse Ansichten all­
gemein und doch falsch, und darum nicht bei allen gültig und
richtig, sondern bei keinem einzigen. Man denke nur an unser
ursprüngliches Vertrauen auf die äußere Wahrnehmung. Wir
nehmen alles, was uns sinnlich erscheint, für wirklich, nachträg­
lich aber stellt es sich heraus, daß kein Ding, das wirklich
existiert, so beschaffen ist wie die Gegenstände, die uns die
sinnliche Wahrnehmung vortäuscht.
Nun kann allerdings die Allgemeinheit in gewissen Fällen
Indizium der Gültigkeit und Richtigkeit sein, z. B. wenn bei
einem Morde alle Einwohner der Straße darin übereinstimmen,
wer der Täter sei. In anderen Fällen ist sie es aber nicht, und
so mag denn unter Umständen einer gegen alle die Wahrheit
auf seiner Seite haben. Es fällt darum keinem Vernünftigen
ein, die Wahrheit von Tatsachenbehauptungen oder Theorien
durch Abstimmung feststellen, zu wollen.
Wie verhält es sich nun mit der wirklichen oder vermeintlichen
Allgemeinheit des sittlichen Geschmacks? Offenbar bietet die
Allgemeinheit als solche noch keine Gewähr für einen inneren
Vorzug desselben, ebensowenig wie sie den Beweis für ein
mathematisches Gesetj überflüssig machen könnte. Ja, und darauf
legen die Gegner der Gefühlstheorie besonderen Nachdrude, es
fragt sich, ob, wenn der sittliche Geschmack in einem Gefühle
oder in der Erkenntnis eines Gefühls bestünde, dann überhaupt
von einem inneren Vorzug gegenüber denkbaren anderen
Geschmäcken die Rede sein könnte? Wir sagen doch auch nicht,
Übereinstimmung im Zeitgeschmack 71

wenn einem Saueres mehr zusagt als Süßes, der eine Geschmack
habe einen inneren Vorzug vor dem anderen, der eine sei be­
rechtigt, der andere nicht.
2. Perplex durch solche Schwierigkeiten, wollen manche der
Untersuchung eine neue Wendung geben. .Man dürfe, sagen sie,
für das Sittengesetj nicht Allgemeingültigkeit in solchem Aus­
maße in Anspruch nehmen, wie dies hier geschehen ist, man
dürfe nicht Gültigkeit für alle Orte und alle Zeiten fordern.
Es genügt für mich, daß in der Gesellschaft, in der ich lebe,
moralische Einstimmigkeit der Billigungsgefühle herrsche. Dar­
aus erkenne ich dann, was für jetjt das Richtige ist.
Ich würde diese Lehre kaum der Erwähnung wert erachten,
wenn sie nicht doch so weite Verbreitung gefunden hätte. Gilt
ja vielen als höchste Weisheit die Anpassung an das jeweils
Bestehende, wenn schon der Glaube an die Konstanz ethischer
Überzeugungen durch „die Geschichte aller Zeiten“ sich als
historisch unhaltbar erwiesen hat. Aber wenn nicht einmal die
Übereinstimmung aller Zeiten, wie wir dangelegt, genügen kann,
dem sog. sittlichen Geschmack die Weihe zu geben und seine
Würde zu retten, was soll man erst von dieser Einschränkung
sagen? Es ist schier unbegreiflich, wie man darauf verfallen
konnte, solches zu glauben. Diese Anpassung als solche, statt
unserem moralischen Gefühl die Sanktion zu geben, schiene
eher darnach angetan, es gänzlich zu erniedrigen. Wie soll
mir imponieren, wenn ich selber urteilsfähig bin, daß eine ge­
wisse Meinung gegenwärtig sehr verbreitet -ist? Wenn ich nun
aber (ohne Erniedrigung) selber anders zu urteilen mir erlaube,
warum soll es mich erniedrigen, anders zu fühlen als die
anderen? Ist denn Anpassung an die anderen schon an sich etwas
Wertvolles? Gewiß wird einer, der sich anpaßt, manchen
Anstoß nicht geben. Und wäre Sokrates so angepaßt ge­
wesen, so hätte er den Schirlingsbecher nicht getrunken. Aber
um solche Vorteile handelt es sich hier doch nicht. Der nicht­
angepaßte Sokrates ist es, in dem wir den moralisch Über­
legenen und dessen ethisches Fühlen und Urteilen wir als das
edlere und bessere verehren. So sprechen sich diejenigen, welche
zu dieser Auffassung sich bekennen, nur selber das Urteil. Sie
72 Audi Entwicklung des „Geschmacks“

verlangen, daß man jeden in Rücksicht auf das ethische Gefühl


und Urteil seiner Zeitgenossen beurteile und daß man selber
im Einklang mit diesen fühle und urteile; aber sie selbst sind
mit dem allgemeinen Urteile und Gefühle in Widerspruch.
Denn jetjt, wie jederzeit, fühlt und urteilt man nicht anders,
wenn es sich um fernvergangene Zeiten handelt, als wenn die
Gegenwart zur Beurteilung vorliegt. Nur etwas nachsichtiger
wird man gegen ein Verhalten sein, das dem ethischen Billi­
gungsgefühle für Gegenwärtiges widerspricht, wenn es sich um
längst überwundene Bildungsstufen handelt.
3. Dies drängt zu einer neuen Modifikation, die dem Vorwurf
entgehen möchte. Man sagt: der sittliche Fortschritt darf nicht
ausgeschaltet werden und darum der Blick nicht allzu eng auf
die Gegenwart beschränkt bleiben, sondern auch auf das sich
richten, was sich für die unmittelbar folgende Zeit als das all­
gemeine ethische Fühlen ankündigt. Wir erkennen ja oft, wohin
die Gegenwart steuert, und so denn au^i, was in der nächsten
Zukunft im Fühlen und Urteilen relativ vorherrschen wird.
Eine solche Einstellung mag dann dem Falle des Sokrates
gerechter werden. Man erkennt ihn als einen, der in der Rich­
tung, welche seine Zeit einzuschlagen begonnen hat, ihr um ein
Stüde vorausgekommen ist, und verehrt ihn darum.
Aber wie soll ich denn erkennen, was das allgemeine Fühlen
sein wird, und was für ein Kriterium soll ich anwenden, um zu
solchen Prophezeiungen Stellung zu nehmen? Ehe sie erfüllt
sind, wie soll ich wissen oder auch nur als wahrscheinlich er­
kennen, daß etwas eintrete, was es bisher in der Geschichte
nicht gegeben hat? Auch entfällt nun sogar das Moment der
Anpassung, und was soll dafür Ersatj bieten? Eine seltsame
Lehre! Man hätte sich darnach in seiner ethischen Einstellung
zu verhalten wie auf der Börse, wo es den Spielern ja darum
zu tun ist, nicht wie jetjt, sondern wie später die Kurse stehen
werden. Aber bei diesen Spielern ist die Rücksicht auf die
folgende Zeit dadurch gerechtfertigt, daß sie dann ihre Papiere
zur rechten Zeit wieder losschlagen können und schon den Vor-
satj haben, sie loszuschlagen. Soll Ähnliches auch in der Moral
am Platje sein? Dann aber natürlich nur für die Fälle, wo ich
in bestimmter Richtung nicht feststellbar 73

hoffen kann, die Zeit noch zu erleben, damit ich mich meiner
momentanen, dem heutigen Geschmack vorauseilenden ethischen
Überzeugung rechtzeitig mit Vorteil wieder entäußern kann.
Gestalten wie Sokrates aber wären aus diesem Grunde tro^
des unmittelbar folgenden Sieges eines ihnen günstigen Gefühls
immer noch zu verdammen. Nein, eine solche Moral, wenn sie
bei solcher äußersten Degradation überhaupt noch den Namen
verdient, kann heute nicht besser als gestern von einem hoch­
wertigen Manne gebilligt werden, und dasselbe wird für alle
kommenden Zeiten gelten. Nur Sklavenseelen möchten -daran
Gefallen finden.
Wollen wir solche Irrwege vermeiden, so müssen wir, scheint
es, auch das Zugeständnis, das wir Hum e zu machen geneigt
waren, zurückziehen. Es hat den Anschein, daß die Feststellung
der ersten ethischen Grundsätze ganz unabhängig von Gefühlen
erfolgen müsse, die Gesetje der Moral also reine Sache der
Erkenntnis durch Wahrnehmung und Verstand seien. Aber wie
soll die Erkenntnis das leisten? H u m e war überzeugt, daß sie
es in keiner Weise könne, weder a posteriori noch a priori.
Und in Ansehung des Erfahrungsweges, wenn nicht in der
früher angedeuteten Weise Gefühle zugezogen werden können,
ließ meine Untersuchung nicht wohl einen Zweifel übrig. Auch
bei dem a priori schien es so, aber hier könnte doch eher ein
Bedenken bleiben, zumal die Erkenntnisse a priori erst nach
H u m e zum Gegenstand neuartiger Erörterungen geworden
sind. Wenden wir uns also doch noch einmal dieser Möglichkeit
zu. Nachdem aus unserer Untersuchung jedenfalls das eine deut­
lich hervorgegangen ist, daß die Prinzipien der Ethik Erkennt­
nisse und nicht Gefühle sind, ist die Entscheidung zwischen
a priori und Erfahrung allein möglich geblieben und so wollen
wir denn die Untersuchung, ob die Moral auf Verstandes­
prinzipien sich begründen lasse, von neuem aufnehmen.
IV. Kapitel

Sind die Prinzipien, auf welche die Ethik sich aufbaut,


synthetische Erkenntnisse a priori?

§ 21. Erläuterung des Begriffes „synthetische Erkenntnis a priori“

1. Unsere Untersuchung hatte dargetan, daß die Prinzipien


ethischer Erkenntnis jedenfalls keine Gefühle sind. Ja noch mehr,
es schien, daß sie gänzlich unabhängig von den Gefühlen sein
müßten. Ihre Allgemeingültigkeit sollte davon abhängen. Wenn
nun dies, so schien Hum e genugsam gezeigt zu haben, daß auf
dem Wege der Erfahrung die Prinzipien der Ethik nicht gefun­
den werden könnten. Dieses Gebiet hatte er ja sorgsam durch­
mustert. Von dem Gebiet der apriorischen Erkenntnisse gilt
dies nur teilweise. Daß keine analytischen Urteile vorhanden
seien, welche eine geeignete Basis für die Ethik abgeben könnten,
hatte er Clarke gegenüber ausführlich zu erweisen gesucht.
Aber damit endete seine Untersuchung. Er glaubte, wie die
meisten vor ihm, alle apriorischen Erkenntnisse seien analytisch.
Erst nach ihm fand die Lehre, daß es synthetische Erkenntnisse
a priori gebe, zahlreiche und namhafte Vertreter. Auf diesem
Gebiete also scheint am meisten Hoffnung, die gesuchten Grund­
lagen zu finden.
2. In Wahrheit haben viele und bedeutende Ethiker in
synthetischen Erkenntnissen a priori die Prinzipien sehen wollen.
Der Name kam erst nach Hume auf, er führt sich auf Kant
zurück. Der Sache nach aber hat lange vor Kant schon Cicero
sich zu ihnen bekannt. Von Natur seien sie uns eingepflanzt.
Unter den neueren lehren sie viele Cartesianer (siehe darüber
Arnauld). Locke scheint sie im Auge zu haben bei seiner
Synthetische Urteile a priori in früherer Zeit 75
Polemik gegen die angeborenen Prinzipien der Moral. Unter
den Engländern R. Cudworth (1617—1688). Im Geiste
fänden sich vor allem Handeln gewisse moralische Wahrheiten
als Antizipationen der Moralität. Sie entspringen, sagt er, aus
einem lebendigen Prinzip in intellektuellen Wesen, vermöge
dessen diese in sich selbst eine natürliche Determination hätten,
einige Dinge zu tun, andere zu lassen.
Audi Wollastons Prinzip der Wahrhaftigkeit (vgl. S. 30)
ist synthetisch und wäre, wenn es wirklich von selbst einleuchtete,
eine synthetische Erkenntnis a priori. Nadi Hume und in
Reaktion zu ihm werden die Anhänger der synthetischen Er­
kenntnisse a priori als Basis der Ethik noch zahlreicher. Um
nur einige der berühmtesten Namen zu nennen, gehört hieher
Bischof Butler (1692—1732), der schon genannte Tho­
mas Reid (1710—1796) mit vielen, die ihm folgten, so wie in
Deutschland Kant und seine zahlreichen Anhänger.
3. Vor allem haben wir hier den Begriff der synthetischen
Erkenntnisse a priori zu erläutern. Erkenntnis ist ein Urteil.
Beginnen wir, obwohl es überflüssig scheinen könnte, mit der
Begriffsbestimmung des Urteils.
Ein Urteil liegt vor, wo Wahrheit im Sinne der Richtigkeit
oder Falschheit im Sinne des Irrtums gegeben ist. In jedem
Urteil wird entweder etwas als seiend anerkannt oder als nicht
seiend verworfen.
Erkenntnis ist ein sicheres Urteil, eine Einsicht, Aus­
drücke, die freilich nur für den verständlich sind, der die Eigen­
tümlichkeit gewisser Urteile in sich erfährt.
Zur Verdeutlichung und Vorbeugung einer Verwechslung, die
unter Umständen begangen wird, sei nur bemerkt, daß zwar
jede Erkenntnis ein wahres Urteil ist, aber nicht jedes wahre
Urteil eine Erkenntnis. Erkenntnis heißt auch nicht soviel wie
gewisses Urteil im Sinne subjektiver Überzeugung. Es gibt viel­
mehr Urteile, die wir fällen, ohne einem Zweifel Raum zu
geben, und die sich dann doch als Irrtümer herausstellen. Er­
kenntnisse sind dagegen als richtig charakterisierte Urteile.
Analytische und synthetische Urteile. Die Be­
zeichnungen stammen von Kant. Er wollte damit eine erschöp­
76 Kants synthetische Urteile a priori

fende Einteilung aller Urteile geben und erklärte sie so: ein
bejahendes Urteil ist analytisch, wenn das Prädikat im
Subjektsbegriffe eingeschlossen ist. Ein verneinendes, wenn das
Prädikat das kontradiktorische Gegenteil von etwas besagt, was
der Subjektsbegriff enthält. Synthetisch ist ein bejahendes Urteil,
bei welchem das Prädikat nicht im Subjektsbegriff eingeschlos­
sen ist, sondern ein neues Moment hinzubringt, und ein ver­
neinendes, bei welchem das Prädikat nicht das kontradiktorische
Gegenteil von etwas ausdrückt oder einschließt, was der Sub-
jektsbegriff enthält.
Dies sind Kants Bestimmungen, wenn wir sie etwas ent­
wickeln, denn in betreff des negativen Urteils hat er sich mit
einer kurzen Andeutung des entgegengesetzten Charakters des
Prädikats begnügt.
Von den analytischen sagt er, daß sie nur Erläuterungsurteile
seien und keine eigentliche Bereicherung der Erkenntnis enU
hielten.
Von den synthetischen, sie seien Erweiterungsurteile.
. Diese Erklärungen Kants decken sich jedoch nicht voll­
kommen mit dem, was er unter analytischen und synthetischen
Urteilen verstanden haben will. Sie sind nicht ausreichend für
seinen eigentlichen Zweck. Einige kurze Bemerkungen werden
genügen, dies ins volle Licht zu setzen. Kant unterscheidet
unter den Urteilen kategorische, hypothetische und disjunktive.
Eine Verbindung von Subjekt und Prädikat ist nur bei den
ersten gegeben, während 'bei den hypothetischen vielmehr eine
solche von Vordersatz und Nachsatj, bei den disjunktiven eine
Mehrheit gleichgestellter Glieder vorliegt. Achten wir auf die
eben gegebene Definition eines analytischen und eines syn­
thetischen Urteils, so sehen wir, daß da und dort von Subjekt
und Prädikat die Rede ist. Sie passen also wohl auf die erste
Klasse, die er unterscheidet, auf die hypothetischen und disjunk­
tiven, die er den kategorischen koordiniert, passen sie aber
offenbar nicht.
Noch mehr! Es gibt Behauptungen, die weder hypothetische
noch disjunktive Sätze sind und bei welchen ebenfalls keine
Verbindung von Subjekt und Prädikat sich findet. Es sind dies
Existentialurteile 77

die sog. Existentialsätje, an welche auch schon Kant und vor


ihm Hume gerührt hat. In der Logik werden sie aber ge­
wöhnlich, auch heute noch, wenig beachtet, obwohl sie aus ihrer
Beachtung viel Licht gewinnen könnte. (Beispiele: Es gibt einen
Baum. Es blitjt. Es fehlt an Geld.) Von diesen Existentialsätjen
wissen wir, daß K a n t sie zu den synthetischen Urteilen rechnen
zu können glaubte. Wie sonst bei kategorischen Urteilen ein
Prädikatsbegriff zum Subjektsbegriff, so komme hier der
Gegenstand zu unserem Begriffe synthetisch hinzu.
Das ist aber eine offenbare Unmöglichkeit. Wie -soll ich, was
außer meinem Geiste ist, mit einem meiner Begriffe so zu­
sammenbringen wie in anderen Fällen einen zweiten Begriff mit
einem ersten? Und kann nicht auch ein Existentialurteil falsch
sein? Wie nun, wo kein Gegenstand existiert? Wie kann ich ihn
meinem Begriff gesellen? Endlich, was gilt von negativen
Existentialsä^en? „Es gibt nicht eine Hitje von einer Million
Grad Fahrenheit.“ „Es gibt nicht einen Greif.“ „Es gibt nicht
ein Einhorn.“ Kant würde sagen, auch diese Sätje seien
synthetisch. Aber gilt das allgemein? „Es 'gibt nicht ein vier­
eckiges Dreieck.“ Ich glaube, der Tendenz nach wäre dieser Satj
ebenso analytisch zu nennen, wie „kein Dreieck ist viereckig“.
Und wiederum „wenn etwas dreieckig ist, so ist es nicht vier­
eckig“-, und wiederum „entweder ist ein gewisser Gegenstand
nicht dreieckig oder er ist nicht viereckig“.10
Wir müssen also, wenn die Einteilung der Behauptungen in
analytische und synthetische, wie Kant dies will, erschöpfend
sein soll, die Definitionen etwas anders fassen als er selbst. Und
zwar so: Analytisch sind alle negativen Urteile, die etwas
leugnen, was widerstreitende Bestimmungen enthält, und alle
affirmativen, die solchen negativen äquivalent sind (Kant selbst
sagt, der Satj des Widerspruchs sei das Prinzip aller analytischen
Urteile). Synthetisch aber sind alle Urteile, bei denen keines
von beiden statthat. (Ich zog es vor, statt von Widerspruch von
Widerstreit zu reden, weil nicht nur kontradiktorische, sondern
auch positive Gegensätje als unmöglich zu verwerfen sind.)
Wir verstehen jetyt den Unterschied zwischen der vor und
der nach Hume herrschenden Auffassung über Erkenntnisse
78 Ob es mehrere synthetische Prinzipien gibt

a priori. Vor ihm beschränkte man ihren Umfang so, wie dies
unserer Definition entspricht, nach ihm hielt man an dieser
Einschränkung nicht mehr allgemein fest. Wir verstehen aber
auch unseren speziellen Fall. Wenn Hume an Clarke und
anderen Kritik übte, dachte er an sie als solche, die auf Prin­
zipien bauen wollten, welche ihrer Meinung nach einen Wider­
streit verwerfen oder einer solchen Verwerfung äquivalent sind;
andere aber, wie Butler, Reid, Kant, denken an Prinzipien,
bei denen dies nicht der Fall ist und die dennoch unabhängig von
der Erfahrung feststehen sollen. Mit diesen also haben wir uns
zu beschäftigen.

f 22. Zwei Klassen von Ethiken»,


die synthetische Erkenntnisse a priori zur Grundlage machen wollen

Zwischen den Vertretern apriorischer Prinzipien ethischer


Erkenntnis fällt vor allem ein Unterschied auf: die einen
statuieren viele, die anderen ein einziges solches synthetisches
Prinzip. Zur ersten Gruppe gehören Cicero, die Carte-
sianer, Cudworth, die Schotten, zur zweiten Wolla­
ston und Kant.
1. Kritik der ersten Gruppe: Wenn solche Prinzipien a priori
einleuchten, so müssen sie absolut, ausnahmslos gelten. Sind ihrer
aber viele, so kann es geschehen, daß in gegebenem Falle eines
mit dem anderen in Konflikt gerät. Wie soll dann entschieden
werden? Sind sie einander gleichgestellt, so müßte die Entschei­
dung, indem sie dem einen entspricht, dem anderen zuwider ist,
zugleich richtig und unrichtig sein. Besteht aber eine Rang­
ordnung, so müßte das höchste schlechthin verbindlich und so
eigentlich das alleinige sein, das den Namen Prinzip verdient.
Eine solche Rangordnung hat man nicht aufgestellt, besser daher,
ja einzig richtig, nur ein Prinzip zugrunde zu legen, wie eben
Wollaston und Kant dies intendierten.
2. Kritik der zweiten Gruppe: Schon früher fanden wir die
Lehre Wollastons so wie die Kants an zwei Übeln kran­
kend, von denen jedes schon für sich allein verderblich scheint.
Analyse der synthetischen Urteile a priori 79

Das eine ist, daß es ihrem Prinzip an Evidenz mangelt, das


andere, daß sich daraus ethische Regeln nicht mit Sicherheit
ableiten lassen. Die von diesen Philosophen an die Spitje ge­
stellten Sä^e erfüllen also ihre Aufgabe nicht. Dürfen wir hoffen,
eine andere synthetische Einsicht a priori als Basis der Ethik
geeignet zu finden? Ich kann Voraussagen, daß solches Hoffen
eitel wäre. Ein Argument, das wir gegenüber Kants kate­
gorischem Imperativ gebrauchten, kehrt wieder. Er hätte nicht
so lange unentdedct bleiben können, nur etwa seine Eigenschaft
als synthetisches Prinzip a priori aufzuhellen wäre Kant noch
vorbehalten geblieben. Aber da nur der Name neu ist, der
Sache nach hingegen bedeutende Forscher bedachtsam nach einem
synthetischen Prinzip a priori für das Gebiet der Ethik Umschau
■gehalten hatten, so müßte wohl, falls es wirklich ein Grund­
prinzip dieser Art gäbe, beides schon lange gesichert sein, sowohl
sein Inhalt als sein Charakter als synthetische Erkenntnis
a priori.

f 23. Es gibt im Bereiche unserer Erkenntnisse


Oberhaupt keine synthetischen a priori

Noch mehr! Wir dürfen es als ausgemacht ansehen, daß sich


nicht bloß auf dem Gebiete der Ethik, sondern überhaupt im
ganzen Bereiche unserer Erkenntnis keine synthetische Erkennt­
nis a priori findet.
1. Um uns davon zu überzeugen, vergegenwärtigen wir uns,
was zu einer synthetischen Erkenntnis a priori gehören würde.
Sie müßte mehr sein als eine zuversichtliche Annahme, zu der
sich die Menschen gedrängt fühlen, ohne daß eine Erfahrung
dafür bürgte. Eine Annahme infolge blinden Dranges ist nicht
eine Erkenntnis, denn es fehlt ihr die Evidenz. Der Drang als
solcher rechtfertigt die Annahme nicht vor dem Richterstuhle der
Logik. Manche haben es daraufhin von vornherein für un­
möglich erklärt, daß es eine synthetische Erkenntnis a priori
gebe. Die Verwerfung von etwas, was sich selbst widerspricht,
leuchte natürlich aus dem Begriffe ein. Die analytischen Erkennt­
80 Es gibt keine synthetischen Erkenntnisse a priori

nisse seien bloß erläuternde Urteile, aber die synthetischen als


wahre, unsere Erkenntnis erweiternde Urteile, hätten nie ihre
Bürgschaft in den Begriffen, da sie diese vielmehr überschreiten.
Dieser Ausspruch, von vornherein gewagt, scheint mir aber mit
sich selbst im Widerspruch. Er ist ein synthetischer und wäre,
wenn in sich selbst gerechtfertigt, a priori. Das ist er aber nicht.
Zur Erläuterung mag folgende Überlegung dienen. Nach der
Ansicht der meisten Theisten ist Gott ein durch sich notwendiges
Wesen. Mit geringen Ausnahmen lassen die Philosophen keinen
absoluten Zufall gelten, sie lehren, daß alles, was ist, not­
wendig ist, sei es gewirkt, sei es unmittelbar. Gese^t nun, es
fände sich ein ausreichend befähigter Verstand im Besitje der
adäquaten Vorstellung Gottes, so würden ihm aus dieser ein­
leuchten, daß ihr Gegenstand existiert. Wäre dieses sein Urteil
„Gott ist“ ein analytisches zu nennen? Keineswegs, es ist keine
Leugnung von Widerstreitendem und kein affirmatives Äqui­
valent einer solchen; könnte also nichts anderes sein als eine
synthetische Erkenntnis a priori. Das haben viele übersehen.
Sie glaubten darum — und so insbesondere auch Des­
cartes — aus unserer Gottesvorstellung das Dasein Gottes
analytisch zu erkennen, indem sie sich des sog. ontologischen
Arguments bedienen: Gott ist definiert als ein ewiges, durch
sich notwendiges Wesen. Was im Begriffe eines Gegenstandes
klar und deutlich enthalten ist, kann mit Sicherheit davon aus­
gesagt werden. Nun ist im Begriffe Gottes ewige, notwendige
Existenz und Vollkommenheit enthalten. Ergo ist Gott. Man
übersah dabei den homonymen Gebrauch des „ist“. Der Satj
„A ist A“ besagt nicht, „Es gibt ein A, das A ist“, sondern er
leugnet bloß ein A, das nicht A ist. So besagt auch der Satj
„Ein Dreieck hat drei Seiten“ nur, daß es kein Dreieck geben
könne, das nicht drei Seiten hätte. Die Funktion des „ist“ deckt
sich hier nicht mit der, die das Wörtchen in Sätjen wie „Ein
Baum ist grün“ hat, wo allerdings die Existenz eines grünen
Baumes behauptet wird. So besagt denn auch in unserem Falle
der a priori einleuchtende Satj „Gott ist ein notwendig Exi­
stierendes“ nicht, daß es ein solches Wesen gibt, sondern daß
Gott nicht sein kann, ohne ein solches notwendig existierendes
Wie sind synthetische Erkenntnisse a priori möglich? 81

Wesen zu sein. Wäre der Satj als positiver einleuchtend, so wäre


er eine synthetische Erkenntnis a priori. Dasselbe gilt nach
allen jenen, die nicht an Gott glauben, aber andererseits die
Existenz der Welt nicht für einen bloßen Zufall halten. Sie
erklären die Atome für durch sich notwendige Dinge, womit
zugegeben wird, daß einem, der über deren adäquate Vorstellung
und die erforderliche Geisteskraft verfügte, ihr Dasein in einem
synthetischen Urteile a priori einleuchten würde.
2. Man darf also nicht so weit gehen, synthetische Erkennt­
nisse a priori überhaupt für unmöglich zu halten. Allerdings
findet sich keine in unserem Besiije. Niemand hat eine gefunden,
auch Kant nicht. Ja, dieser gibt durch die Weise, wie er sich
äußert, selbst dafür Zeugnis. Nachdem er sich nämlich ver­
gewissert zu haben glaubt, daß gewissen Sätjen dieser Charakter
zukomme, wirft er die Frage auf: „Wie sind synthetische
Erkenntnisse a priori möglich?“ und diese Frage ist sogar das
Grundproblem seiner berühmten Kritik der reinen Vernunft.
Was soll diese Frage? In welchem Sinne ist sie aufgeworfen?
a) Will Kant vielleicht wissen, welcher Natur ein Wesen
sein müsse, damit ihm eine Erkenntnis dieser Art zukommen
könne? Wenn die Frage so gemeint wäre, so würde Kant nach
etwas fragen, was sich für immer unserer Erkenntnis entzieht.
Oder ist es nicht offenbar, daß wir nicht einmal von den ana­
lytischen Erkenntnissen a priori in diesem Sinne uns Rechen­
schaft geben können? Haben wir denn einen wahren Einblick
in die Natur der Wesen, die urteilen, denken, wollen oder wie
immer psychischer Tätigkeiten fähig sind? Angenommen, es
handle sich um einen Vorgang im Gehirn; kennen wir dessen
inneres Wesen, so daß wir zu sagen vermöchten, wie es möglich
sei, daß ein solches Wesen empfinde, Lust oder Unlust fühle,
Urteile fälle und so insbesondere unter Umständen auch ana­
lytische? Nein, und in alle Ewigkeit werden wir hier vor einem
Geheimnis stehenbleiben, denn kein Wesen kennen wir so, daß
wir aus seiner Natur seine Tätigkeiten abzuleiten vermöchten.
Nicht einmal für die einfachsten mechanischen Vorgänge sind
wir dazu imstande, nicht für die Gravitation, nicht einmal für
die Bewegung durch Zug oder Stoß. Hätte Kant die Frage so
82 Kants Frage beweist, daß es

gemeint, so hätte er sie ebensogut auch für die analytischen


Erkenntnisse stellen können, wo er es unterließ. Sie wäre in
beiden Fällen unvernünftig gestellt gewesen.
b) Was ist dann aber der Sinn der Frage Kants, was be­
stimmt ihn, sie aufzuwerfen? Er sieht in den synthetischen
Erkenntnissen a priori offenbar ein Paradoxon, ein Rätsel, wie
er es angesichts der analytischen nicht findet. Diese scheinen ihm
in sich gerechtfertigt, vollkommen klar und selbstverständlich;
nicht so die synthetischen, denn bei diesen sieht man die all­
gemeine und notwendige Wahrheit nicht ein, und nur darum
wären sie den unmittelbaren analytischen Erkenntnissen gleich­
zustellen, daß ein natürlicher Drang sie ohne weiteres zu Über­
zeugungen macht und daß nachfolgende Erfahrungen damit im
Einklänge stehen. Der Kern der Frage ist also der: Wie kommt
es, daß ich so gewiß vertraue, da ich doch keine eigentliche Ein­
sicht habe? Die Überzeugung, wie immer stark, ist logisch nicht
gerechtfertigt; wie kommt es, daß nicht alsbald Erfahrungen so
vorgefaßten Überzeugungen widersprechen?
Wenn nun ohne Zweifel dieser Umstand es war, der Kant
zu seiner Frage bestimmte, so war ihr Anlaß kein anderer als
der Mangel an Evidenz. Der Drang, diesen Sätjen zuzustimmen,
mag von Natur gegeben und unüberwindlich sein, wie sonst nur
klarste Einsichten es sind, aber es fehlt die Einsicht und damit
ist nichts anderes gesagt, als daß es sich nicht um echte Erkennt­
nisse handeln kann. Kant bezeugt also durch das bloße Auf­
werfen der Grundfrage seiner Kritik, daß wir in Wahrheit
Erkenntnisse, die synthetisch und a priori wären, nicht besitjen.
c) Faktisch sind von den Sätjen, die er als synthetische
Erkenntnisse a priori anführt, alle diejenigen, die wirklich
synthetisch sind, nicht evident, solche aber, die evident sind, sind
es nur, weil sie analytische Erkenntnisse sind. Kant freilich
verkennt diesen ihren analytischen Charakter, weil ihm selbst
die Analyse nicht gelungen ist, und dies trübte bei ihm auch die
Einsicht in die Berechtigung dieser Urteile.
Beispiele der lebten Art sind die mathematischen Axiome.
Sie sind evident, und auch H u m e, so skeptisch er ist, ließ sie
als evident gelten, hielt sie aber für analytisch. Und mit Recht.
keine synthetischen Erkenntnisse a priori gibt 83
Oder ist der Satj 2 + 1 — 3 nicht analytisch? Liegt nicht die
Relation der Gleichheit mit den Fundamenten, 2 + 1 und 3,
gegeben vor, da das eine 1 +1 +1, das andere 1 + 1 + 1 ist? Und
ist also nicht der Begriff eines 2+1 und eines 3, welchen die
Relation der Gleichheit mangelte, sich selbst widersprechend?
Offenbar. Wenn Kant die Analyse mißlang, die so leicht und
einfach ist, so konnte ihm dies nur infolge der früher berührten
Fehlerhaftigkeit seiner Definition von analytischem und syn­
thetischem Urteil begegnen. Er suchte immer das Prädikat im
Subjektsbegriff, und wenn er es nicht fand, erklärte er das
Urteil für synthetisch. In dem Sa^ „2 ist kleiner als 3“ ist das
Prädikat nicht im Subjektsbegriff, aber doch ist es analytisch,
weil in den Begriffen 2 und 3 sich die Relation eines solchen
Größenverhältnisses deutlich erkennen läßt.
Die mathematischen Axiome also sind evident, aber nicht
synthetisch. Die anderen Beispiele aber, die K a nt anführt, sind
synthetisch, aber nicht unmittelbar evident. So der Satj „Jedem
Wechsel liegt etwas Bleibendes zugrunde“. Er ist vielleicht wahr,
aber evident so wenig, daß noch heute viele das Gegenteil
glauben. Unmittelbar absurd ist ihre Ansicht gewiß nicht. Ein
anderes Beispiel der Art ist der Satj, der uns schon im beson­
deren beschäftigte, der kategorische Imperativ. Kant sagt von
ihm, die Vernunft trete mit ihm gesetygebend auf. Sic volo sic
jubeo. Nicht mit Unrecht aber haben viele darauf bemerkt, er
hätte hinzufügen dürfen: sit pro ratione voluntas. Der Satj
leuchtet, weil nicht analytisch, nicht wahrhaft ein. Bestände also
wirklich ein Drang der Vernunft zu unmittelbarer Zustimmung,
so wäre diese Forderung der Natur unserer Vernunft nichts
weniger als eine vernünftige Forderung.
Resultat: Es gibt keine synthetischen Erkenntnisse a priori.
Auf solche ist also die Ethik nicht zu gründen.
84 Es gibt keine Vererbung von

5 24. Von dem Versuche, Kants Lehre von den synthetischen


Erkenntnissen a priori mit Darwins Gesetz der Vererbung
in Verbindung zu bringen

Der Untersuchung über die Lehre von den synthetischen


Erkenntnissen a priori kommt in unserer Zeit eine besondere
Wichtigkeit zu. Kants Ansehen ist ein sehr großes und dadurch
auch das Ansehen seiner Lehre. Sie zählt Anhänger auch in
Kreisen, wo man es zunächst am wenigsten erwarten sollte,
unter den Männern der entschiedensten Erfahrungswissen­
schaften. Allerdings pflegen diese die Lehren, die sie von ihm
annehmen, etwas zu modifizieren, damit sie den Anschauungen,
zu welchen sie auf anderen Wegen gelangt rind, völlig konform
werden, und bewundern bei Kant nur die annähernde Anti­
zipation. Aber schon sie erscheint ihnen etwas Großes.
So auch hier. Sie bringen die Lehre von den synthetischen
Erkenntnissen a priori mit einem Gesetje in Verbindung, welches
eine der wesentlichsten Grundlagen der Darwinschen
Hypothese ist, mit dem Gesetj der Vererbung. Infolge der Ver­
erbung besitzen die Menschen, wie sie heutzutage geboren
werden, einen Vorrat synthetischer Erkenntnisse unabhängig von
aller eigenen Erfahrung, also synthetische Erkenntnisse a priori.
Und nicht bloß apriorische Erkenntnisse besitzen sie so infolge
der Vererbung, sondern auch Vorstellungen (Begriffe), ähnlich
wie auch Kant solche annahm, die nicht unserer Erfahrung
entstammen.
Es lohnt sich der Mühe, etwas dabei zu verweilen, um zu
zeigen, einmal, daß diese Lehre von der Vererbung der Vor­
stellungen falsch ist; dann, daß diese angebliche Modifikation
der Kant sehen Lehre mit ihr gar keine wesentliche Verwandt­
schaft hat.
Nach dieser Vererbungslehre soll es möglich sein, Begriffe zu
denken, die man in keiner Weise, sei es im ganzen, sei es in
ihren Elementen, aus Erfahrungen, die man selbst gemacht hat,
schöpfen konnte. Es könne nämlich die persönliche Erfahrung
als Begriffsquelle durch Erfahrungen unserer Vorfahren ersetjt
werden.
Begriffen und Erkenntnissen 85
Diese Hypothese ist aber ganz fiktiv. Es läßt sich kein einziger
Begriff nachweisen, für den nicht in eigener Erfahrung, was
seine Elemente anlangt, die anschaulichen Grundlagen zu finden
wären. Wir besitzen keinen ohne selbst vorgenommene Abstrak­
tion. Wäre dem nicht so, vermöchten wir mit elementaren
Begriffen zu operieren, die wir keiner Anschauung entnommen
haben, so wäre nicht zu verstehen, warum z. B. einem Blind­
geborenen dauernd der Begriff der Farbe fehlt. Aber abgesehen
von dieser Unhaltbarkeit einer solchen Vererbungslehre ist zu
sagen, daß ihr alle tiefere Verwandtschaft mit der Kan t -
sehen fehlt. Er lehrt ja Begriffe, welche überhaupt in keiner
Erfahrung gegeben und aus keiner gewonnen sein sollen. Als
solcher gilt ihm z. B. der Begriff der Ursache.
Man könnte versuchen, der Vererbungstheorie eine etwas
andere Wendung zu geben, so zwar, daß wir nicht fertige
Begriffe und Erkenntnisse erben, wohl aber fertige Dispo­
sitionen.
Offenbar sind dann solche unmittelbare Erkenntnisse gemeint,
die ohne Vererbung der von Vorfahren erworbenen nicht eben­
falls unmittelbar einleuchten würden, denn sonst wäre die Hypo­
these ja ganz müßig. Und zwar müßte es sich um solche handeln,
wovon auch ohne Vererbung eine unmittelbare Erkenntnis der
Natur nach nicht unmöglich wäre, denn sonst hätte auch früher
niemand sie erlangt, um sie uns zu vererben.
Aber dann fehlte erstens wieder die Verwandtschaft mit
Kant; und weiter ergäbe sich die schwierige Frage, wie man
sich die vererbte Erkenntnis zu denken habe.
Wenn wir ein im Leben erworbenes Wissen erneut uns zum
Bewußtsein bringen, so kann dies in dreifacher Weise geschehen.
Entweder
1. wir erneuern auch die Begründung, oder
2. wir haben wenigstens eine deutliche Erinnerung daran, daß
wir früher einmal eine Begründung dafür eingesehen haben,
und hegen darum, wenngleich wir zur Zeit diese Begründung
uns nicht mehr wiederholen, eine vernünftige Überzeugung, daß
unser Urteil wahr ist. Endlich
8. wir erinnern uns dessen nicht mehr, aber es ist uns aus
86 Audi keine Vererbung von Dispositionen

dem früheren Wissen eine Neigung zur Zustimmung entstanden,


wie überhaupt Dispositionen zu ähnlichen Akten durch Gewöh­
nung sich bilden. Wir urteilen aus gewohnheitsmäßigem Drang.
Welchem Falle wäre nun eine von den Vorfahren dispo­
sitionell ererbte Überzeugung ähnlich? Nicht dem ersten, und
nicht dem zweiten, vielmehr dem dritten. Aber damit ist schon
gesagt, daß es sich nicht eigentlich um eine Erkenntnis
handeln würde. Ja, es könnte auf solche Weise und durch einen
gleich starken Drang sozusagen empfohlen, geradesogut Falsches
wie Wahres a priori für wahr gehalten werden (z. B. die Exi­
stenz von Gespenstern). Daß übrigens auch der dritte Fall nicht
vorkommt, geht schon daraus hervor, daß nicht einmal Asso­
ziationen sich vererben. Die Chinesen haben Vorfahren, die seit
Tausenden von Jahren Generation um Generation dieselbe
Sprache gesprochen haben, aber jeder Nachkomme mußte sie erst
von Grund aus neu erlernen.
So wahr es keine synthetischen Erkenntnisse a priori gibt, so
unmöglich ist es, daß die Prinzipien «ethischer Erkenntnis zu
ihnen zählen.
V. Kapitel

Vom Begriff des richtigen Zweckes

5 25. Auseinandersetzung mit von der unseren abweichenden


Definitionen der Ethik

1. Ein eigentümliches Ergebnis! In einer Art Kreislauf hat uns


der Weg der Untersuchung, zu der Hume uns angeregt hatte,
wieder auf denselben Punkt zurückgeführt, auf dem die Ethik
gestanden war, ehe er seine Einwürfe machte. Eine Zeitlang
waren wir geneigt, mit Hume Gefühle für die Prinzipien
ethischer Erkenntnis zu halten. Dann, als sich dies deutlich als
unmöglich herausstellte, da nur wieder Erkenntnisse Prinzipien
von Erkenntnissen sein können, ja gewichtige Gründe gegen jede
Beteiligung des Gefühls bei der Feststellung der ethischen Prin­
zipien zu sprechen schienen, hofften wir diese auf jenem Gebiete
der Erkenntnis entdecken zu können, von dem Hume noch
nichts wußte, welches aber nach ihm Gegenstand eifriger For­
schung geworden ist: auf dem Gebiete der synthetischen Erkennt­
nisse a priori. Aber siehe da! es stellte sich heraus, daß dieses
ganze Gebiet ein Land der Fabel ist, von welchem die Geo­
graphie nichts weiß. Im ganzen Bereiche menschlicher Erkenntnis
ist keine dieser Art zu finden.
Wir sind also wieder beim alten: was uns am meisten
wahrscheinlich schien, bleibt als einzige Möglichkeit zurück. Die
Prinzipien ethischer Erkenntnis müssen Erfahrungen oder
analytische Erkenntnisse a priori sein. Andere Prinzipien hat die
Ethik nicht, andere hat überhaupt keine Wissenschaft. Aber
eben darum ist die Möglichkeit noch über die Maßen weit, und
wir vermissen noch jeden Hinweis auf diese oder jene Begriffe
88 Ethik ist die Lehre von den höchsten Zwecken

oder auf diese oder jene Tatsache als Ausgangspunkt der ethi­
schen Beweisführung. Wir müssen also von vornherein und in
neuer Weise beginnen und ermitteln, wie wir Aufschlüsse
darüber erlangen können, von wo die ethische Forschung ihren
Ausgang zu nehmen habe.
Woher soll uns aber dieser Aufschluß kommen, wenn nicht
aus der Definition der Ethik selbst? Sie sagt uns ja, was eine
ethische Erkenntnis ist im Unterschiede von anderen Erkennt­
nissen. Wie haben wir die Ethik definiert? Wir sagten, sie sei
diejenige praktische Disziplin, welche uns über die höchsten
Zwecke und die Wahl der Mittel für sie zu belehren habe.
Von diesen Aufgaben ist offenbar die erste die frühere. Vor
allem also wird die Ethik zu bestimmen haben, welche Zwecke
mit Recht als die höchsten angestrebt werden. Während andere
praktische Disziplinen nur sagen, was ein richtiges Mittel zu
einem gegebenen Zweck ist, will sie uns vor allem sagen, was
ein richtiger Zweck ist und was nicht. Wenn aber die Fest­
stellung der richtigen Zwecke vor allem, Aufgabe der Ethik ist,
so wird sie mit einer Erklärung des Begriffs des rich­
tigen Zweckes beginnen müssen. Verlangt doch die Logik
seit Aristoteles von jeder Wissenschaft vor allem eine
Definition ihres Gegenstandes, sofern wenigstens der Begriff
nicht ohnehin klar und verständlich ist.
Und daran scheint es hier in der Tat zu fehlen. Was ein
richtiges Mittel ist, das versteht jeder; nämlich ein solches,
welches, wenn man sich seiner bedient, wirklich zu dem
betreffenden Zwecke führt. Was aber heißt „richtiger Zweck“?
2. Ehe ich in eine Untersuchung darüber eingehe, will ich nun
aber nicht länger verschweigen, daß nicht alle die Ethik in der­
selben Weise bestimmen, wie ich es getan habe. Unsere
Bestimmung ist wohl die ursprüngliche. Sie ist wesentlich die­
selbe, welche Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik
gab. Auch kehrt sie in ähnlicher Gestalt öfter in der Geschichte
der Philosophie wieder. Immerhin kamen im Verlaufe der Zei­
ten ganz andere Definitionen auf, so daß auch hierin die Ethiker
so wenig übereinstimmen wie in anderen Punkten.
So finden wir im Mittelalter die Definition, die Ethik sei die
Auieinandersetjung mit anderen Definitionen 89

Wissenschaft von der Sittlichkeit der menschlichen Handlungen.


Oder auch: Die Wissenschaft von den menschlichen Handlungen,
insofern sie auf Grund der obersten praktischen Prinzipien der
natürlichen Vernunft als gut und böse, recht oder unrecht er­
kannt werden (Definition der Thomisten).
Thomas Brown (1778—1820) erwähnt drei Fassungen
des ethischen Grundproblems: a) Worin besteht der tugendhafte
Charakter, die Sittlichkeit? b) Worin besteht die sittliche Ver­
pflichtung, gewisse Handlungen zu üben? c) Worin besteht das
Verdienst des Handelnden? Er selbst gibt einer vierten Fassung
den Vorzug: Was ist der Grund von sittlicher Billigung und
Mißbilligung?
Ein anderer englischer Moralist, Paley (1743—1805), defi­
niert die Moralphilosophie als die Wissenschaft, welche die
Menschen über ihre Pflicht und deren Gründe belehrt.
Kant gibt in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
ebenfalls eine Definition der Ethik. „Alle Vernunfterkenntnis“,
sagt er hier, „ist entweder material und betrachtet irgendein
Objekt oder formal und beschäftigt sich bloß mit der Form des
Verstandes und der Vernunft selbst und den allgemeinen
Regeln des Denkens überhaupt ohne Unterschied der Objekte...
Die formale Philosophie heißt Logik, die materielle, aber, welche
es mit bestimmten Gegenständen und Gesehen zu tun hat, denen
sie unterworfen sind, ist wiederum zweifach. Denn diese Gesetje
sind entweder Gesetje der Natur oder der Freiheit. Die Wissen­
schaft von den ersten heißt Physik, die der anderen ist die
Ethik; jene wird auch Naturlehre, diese Sittenlehre genannt.“
Die Gesetje der Ethik, bemerkt er weiter, seien Gesetje, nach
denen alles geschehen soll, die der Physik dagegen Gesetje, nach
denen alles wirklich geschieht.
Schließlich, obwohl der abweichenden Bestimmungen genug
aufgezählt wären, noch eine von dem uns zeitlich näher liegen­
den Herbart (1776—1841). Ihm ist Philosophie Bearbeitung
der Begriffe, und zwar dreifach: die Logik bearbeitet sie, um sie
deutlich zu machen, die Metaphysik, um sie begreiflich zu
machen, die Ästhetik, um sie durch Wertbestimmungen zu ergän­
zen. Zur Ästhetik gehört auch die Ethik. Das Schöne stellt etwas
90 Vorzüge der Zweckdefinition

Bleibendes von unleugbarem Werte dar, und darum gehört auch


das Sittliche zum Schönen. Es scheidet sich aber aus dem übrigen
Schönen als dasjenige heraus, was nicht bloß als eine Sache von
Wert besessen wird, sondern den unbedingten Wert der Person
selbst bestimmt. In dieser Definition tritt der eigentümliche
Standpunkt der Herbartschen Ethik deutlich zutage, doch
könnte sie auch einigen anderen, insbesondere der scholastischen,
nahegebracht werden, insofern auch H e r b a r t die Ethik als
Wissenschaft vom Sittlichen faßt. Mit unserer Bestimmung da­
gegen scheint die seinige so wenig als eine der vorgenannten
etwas gemein zu haben.
3. Ist eine von diesen Bestimmungen geeignet, uns an der
unseren irrezumachen? Über Begriffsbestimmungen ist im all­
gemeinen nicht zu streiten. Man kann ja nach Belieben mit
demselben Worte verschiedene Bedeutungen verbinden, doch
läßt sich in gewissen Fällen wohl ein Vorzug des einen Ge­
brauchs vor dem anderen dartun. So empfiehlt es sich, nicht
grundlos vom Hergebrachten abzu weidfen. Ferner bekommt der
Streit um eine Definition Sinn und festen Anhalt dann, wenn
die Streitenden darüber einig sind, daß dem Gegenstand ge­
wisse Eigentümlichkeiten zukommen, an denen nicht mehrere
teilhaben. So ist es in unserem Falle, und ich glaube, zeigen zu
können, daß unsere Definition den Vorzug verdient.
Vor allem hat sie, wie gesagt, den Vorzug, die ursprüngliche
zu sein. Geht sie doch bis auf Aristoteles zurück, der
zuerst die Ethik systematisch darlegte, und nie ist sie ganz
außer Gebrauch gekommen. Entscheidender aber ist ein anderes
Moment. Nur so verstanden ist sie die baumeisterliche Kunst,
die praktische Weisheit, welche unter den praktischen Disziplinen
eine ähnliche Stellung einnimmt, wie die Metaphysik unter den
theoretischen. Sie beschäftigt sich ja mit den ersten Gründen
des Handelns wie jene mit den ersten Gründen des Seins; denn
die Bestimmung des Zweckes bedingt die Bestimmung des Mittels.
Wenn nun andere sie anders definieren, z. B. sie sei die
Wissenschaft von der Sittlichkeit der Handlungen, so kann ihre
Definition nur richtig sein, wenn sie mit anderen Worten das­
selbe sagen wollen wie wir, also unter sittlichen Handlungen
Zurückweisung von Einwänden 91

solche verstehen, welche den richtigen oder doch für richtig


gehaltenen Zweck verfolgen. Doch hat dann unsere Definition
den Vorzug, deutlicher zu sein. Bei manchen Ethikern sind aber
weit bedeutendere Mängel im Spiele und gewisse irrige
Annahmen ein Hindernis, sich unserer Definition anzuschließen.
So soll nach Thomas Brown, der die Ethik lehren läßt,
was der Grund moralischer Billigung und Mißbilligung sei, es
nicht der Unterschied der Zwecke sein, der den wesentlichen
sittlichen Unterschied der Handlungen bestimmt; ja, er geht so
weit, zu sagen, daß es unter Umständen besser sei, die Verwirk­
lichung des minder Guten vorzuziehen, auch wenn mehr an
üblen als an guten Folgen davon zu erwarten sein sollte. Was
z. B. die Gerechtigkeit anlangt, so muß ihr unter allen Umstän­
den, was immer daraus erwüchse, Genüge geschehen. Fiat
justitia, pereat mundus! Er würde also wohl gegen unsere Defi­
nition protestieren. Aber mit Unrecht. Es ist ein Widerspruch,
zu sagen, das Wählen des minder Guten vor dem Besseren könne
sittlich besser sein. Wählen ist ja eine Art des Vorziehens und
„besser“ heißt nichts anderes als vorzüglich.
Man darf sich dagegen nicht auf den Mißkredit berufen, in
dem der Satj „Der Zweck heiligt die Mittel“ steht; denn er ver­
dient diese Verurteilung nur dann, wenn damit ein gewisser
Zweck ohne Berücksichtigung aller Umstände und der Folgen,
die sich an seine Verwirklichung knüpfen, gemeint ist. Sub-
summiert man unter Zweck die Gesamtheit der überblickbaren
Folgen, dann ist es sittlich richtig, um des besseren Zweckes
willen auch Mittel zu ergreifen, die an und für sich nicht
wünschenswert wären. Man denke an die schmerzlichen Me­
thoden, deren sich ein Arzt unter Umständen bedienen muß, um
die Heilung zu erreichen, oder an das Übel, das der Strafrichter
zufügen muß zum Sdiutje der Gesellschaft.
Aber nehmen wir selbst an, in irgendeinem Falle -sei es löblich,
ein minder Gutes zu verwirklichen; wann allein könnte dies der
Fall sein? Nur wenn der sittliche Charakter der betreffenden
Wahl so erhaben wäre, daß das Übergewicht des höheren Gutes,
das sie hintansetjt, daneben nicht mehr zur Geltung kommen
würde. Dann aber stünde die Erhabenheit jener Art zu wählen
92 Die eigene Glückseligkeit ist nicht immer

selbst mit auf der anderen Seite und, indem der Wählende sie in
Rechnung brächte, würde er sich doch sagen können, daß er das
Bessere dem minder Guten vorziehe.
Aus einem anderen Grunde würde Kant mit unserer De­
finition nicht einverstanden sein. Zwar bringt er selbst die Sitt­
lichkeit der Handlung in sehr nahe Beziehung zum richtigen
Zweck, indem er meint, der handle sittlich, welcher was als
Selbstzweck zu behandeln ist, nicht zum bloßen Mittel erniedrige.
(Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person
als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als
Zweck, nicht bloß als Mittel gebrauchst.) Gleichwohl geht ihm
der Begriff des richtigen Zweckes keineswegs in den der Sittlich­
keit ein; ja er verbietet, bei der Bestimmung des höchsten Prin­
zips für das Handeln auf Zwecke zu achten.
Wieder aus einem anderen Grunde würde der größte Philo­
soph des Mittelalters, Thomas von Aquin (1225—1274),
der auf die Ausbildung der Ethik, als das opus plane aureum,
viel Sorgfalt verwandte, sich weigern/ seine Bestimmung mit
der unseren zu vertauschen. Nadi ihm wie auch nach vielen
anderen Scholastikern kann man gar nicht unter letjten Zwecken
wählen, sondern nur unter Mitteln. Alle Menschen verfolgen
als einzigen letjten Zweck ihre Glückseligkeit. Einen anderen
Zweck können sie nicht anstreben. So unterscheiden sie sich nur
in der Wahl der Mittel, so daß der Ethik nur die Aufgabe zu­
fällt, uns über die unmittelbar zu dem allgemein angestrebten
Zweck führenden Mittel zu belehren.
Auch hier stütjt sich der Einwand auf eine verfehlte Grund­
anschauung. Es ist nicht richtig, daß immer die eigene Glück­
seligkeit als letzter Zweck angestrebt wird. Schon darum nicht,
weil der Wählende oft weiß oder zu wissen glaubt, daß er sie
nicht erreichen kann, so sehr sie zu wünschen wäre. (So wie man
ja auch nicht wollen kann, daß einem Flügel wachsen.) Man
könnte in solchen Fällen also höchstens einen Teil von ihr oder
einen ihr ähnlichen Zustand anstreben. Sagt jemand, dann sei
die Glückseligkeit gleichwohl letjter Zweck zu nennen, weil man
eben das erstrebt, was man unter den gegebenen Umständen
für ihren erreichbaren Teil oder das ihr Ähnlichste hält, also
höchster Zweck 93

doch die Glückseligkeit selbst als höchstes Gut im Auge behält


und mit Rücksicht auf dieses seine Wahl trifft, so ist zu er­
widern: Hier wird der Begriff Zweck verändert, denn unter
Zweck versteht man gemeiniglich soviel wie Erstrebtes, ein
ngaxvov fya&6v (Aristoteles). Darum sind auch jene Teile
oder Angleichungen der Glückseligkeit nicht eigentlich „Mittel“
zu nennen, denn darunter wird nur verstanden, was der Ver­
wirklichung des Zweckes dient. Man denke z. B. an den Fall,
wo man die Wahl zwischen Lust und Erkenntnis zu treffen hat.
Offenbar dient dabei nicht als Maß der Gedanke, was besser
geeignet ist, die Glückseligkeit zu verwirklichen. Oder man
denke an den Fall der Wahl zwischen einer augenblicklichen und
einer späteren größeren Lust, beide mögen als Teil der Glück­
seligkeit erscheinen, aber als Mittel wählt man sie nicht.
Noch mehr! Thomas sagt, daß verschiedene Menschen ihre
Glückseligkeit in Verschiedenes setjen, die einen in den Reichtum,
andere in die Erkenntnis, andere in Sinnenlust. Sie sind also
nur im Namen, nicht in der Sache einig und verfolgen offenbar
in letzter Instanz nicht ein Ziel, sondern verschiedene Güter um
ihrer selbst willen.
Auch wird die dem Altertum und Mittelalter geläufige Be­
stimmung des letjten Zieles als Glückseligkeit von Neueren viel­
fach angefochten. Nicht nur von Theologen wie F ene 1 on und
B o s s u e t, sondern auch von Philosophen. Wer sein Glück um
jeden Preis erkaufen wollte, gilt ihnen als verächtlicher Egoist.
Selbst Positivisten, wie Mill, Comte, B a i n, sind da, wie
H u m e in ähnlichem Falle sagte, zum Glück in ihrer Praxis
besser als in ihrer Theorie. Von den Idealisten gar nicht zu
reden. So offenkundig ist die Sache, daß Thomas selbst nicht
konsequent bleiben kann. Er wirft einmal die seltsame Frage
auf, wie man sich zu entscheiden hätte, wenn die Wahl zwischen
der eigenen ewigen Verdammnis und einer Verfehlung gegen
die Liebe zu Gott stünde, und antwortet: für das erste! Der
Fall scheint höchst paradox, denn wie sollte 'solches sittliches
Heldentum sich mit ewiger Verdammnis vereinen lassen? Aber
die Inkonsequenz, zu der sich Thomas gedrängt findet, verrät
das Unhaltbare dieser Lehre.
94 Bestimmung des Begriffes

4. So ist denn auch dieser Angriff gegen unsere Definition


abgewehrt, wir dürfen sie als die ursprüngliche und zugleich
tadellose festhalten, denn alle, die wesentliche Abweichungen
enthalten, beruhen auf Irrtümern, und die, bei denen dies nicht
der Fall ist, stehen ihr an Deutlichkeit nach. Sie charakterisiert
vor allen anderen unsere Disziplin und ihre wesentliche Aufgabe.
Wenn nun dies, so bleibt auch ein anderes, das wir früher
sagten, zu Recht bestehen, nämlich daß es uns nunmehr vor
allem obliegt, den Begriff des richtigen Zweckes er­
läuternd zu bestimmen.

| 26. Klassifikationen der Versuche, den Begriff .richtiger Zweck*


zu bestimmen

Wir haben schon auf das hingewiesen, worin hier die eigen­
tümliche Schwierigkeit liegt. Über den Begriff eines richtigen
untergeordneten Zweckes, d. h. eines solchen, welcher als Mittel
erstrebt wird, besteht weder Streit noch Uneinigkeit. Es ist klar,
was hier „richtig“ bedeutet. Aber beim höchsten Zweck kann man
von einer Richtigkeit in diesem Sinne nicht reden. Daher dann
mannigfach verschiedene Fassungen, die entweder ausdrücklich
oder wenigstens einschließlich in den Äußerungen der Moralisten
vorliegen. (Denn nach dem, was wir über die verschiedenen
Definitionen der Ethik bemerkten, ist es natürlich, daß der Be­
griff des richtigen Zweckes bei manchen nicht ausdrücklich her­
vorgehoben wird.)
Es scheint interessant und für die eigene Entscheidung förder­
lich, die hauptsächlichsten Auffassungen in rascher Übersicht
uns vorzuführen. (Wo die Bestimmung nicht ausdrücklich vor­
liegt, werden wir sie aus anderen ermitteln.)
Sie sind sehr zahlreich und verschiedenartig, so daß der Blick
sich in dem bunten Gewirre zu verlieren droht. Wir werden
darum gut daran tun, wenn wir sie, unter, gewisse allgemeine
Gesichtspunkte gebracht, in Gruppen zusammenfassen.
Es gibt in der Ethik ein Dreifaches, was in naher Beziehung
untereinander steht: die Gegenstände, die als richtige Zwecke
„richtiger Zwedc' 95

erstrebt werden, die berechtigten, d. h. auf richtige Zwecke


gerichteten Bestrebungen, und die Regeln, welche bestimmen,
welche Zwecke zu verfolgen seien und welche nicht. Wer eines
von den dreien kennt, kennt auch die übrigen, und es lassen
sich die Begriffe wechselseitig durcheinander 'bestimmen, d. h.
sie sind voneinander abhängig. Doch nur eine Ordnung der
Bestimmung wird natürlich und entsprechend, die anderen
werden Zirkelbestimmungen sein, die nichts erklären.
Tatsächlich sind alle drei Wege versucht worden. Die einen
bestimmen die Richtigkeit des Zweckes durch die Überein­
stimmung des Strebens nach gewissen Gegenständen mit einem
gewissen Gebot. Andere setjen die Definition des Begriffes
„höchster Zwedc“ aus Merkmalen zusammen, die an den er­
strebten Gegenständen selbst gefunden werden. Wieder andere
schlagen den mittleren Weg ein. Sie glauben an gewissen Be­
strebungen eine auszeichnende Eigentümlichkeit zu entdecken,
welche sie als berechtigt kennzeichnet, und bestimmen dann den
richtigen Zwedc als den Gegenstand eines solchen Strebens. Es
ergeben sich so drei Gruppen, von welchen jede wieder eine
Mannigfaltigkeit von Ansichten darbietet, ja selbst wieder in
Gruppen sich sondern läßt. Wir wollen sie so ordnen, daß wir
zunächst solche Begriffsbestimmungen des richtigen Zweckes an­
führen, welche von der Bestimmung der Regel ausgehen, dann
diejenigen, welche direkt den Begriff des richtigen Zweckes
geben wollen, endlich die, welche vorerst das Streben nach dem
richtigen Zweck von anderen Bestrebungen unterscheiden.
I. Versuche, den richtigen Zweck durch die Übereinstimmung
mit einer Regel zu definieren.

§ 27. Definition durch äußere Regeln (heteronome Ethik)

1. Hieher gehört die Ansicht derjenigen, welche sagen, der


Zweck sei richtig, wenn das Streben nach ihm dem Gebote Gottes
gemäß sei. Für diesen selbst aber gibt es keine Norm, was immer
Gott gebieten mag, es ist dadurch richtig, daß er es gebietet.
Geböte er selbst, ihn zu hassen, so wäre es richtig, ihn zu hassen
96 Definition des richtigen Zweckes durch äußere Regeln

Diese Willkür der göttlichen Gebote lehren die Nominalisten


wie Wilhelm v. Ockham (1270—1347). In neuerer Zeit
Crusius (1712—1776).
2. Andere lassen Gott aus dem Spiele und erklären den Zweck
für richtig, der dem Gebote des Herrschers, des Staates gemäß
ist. So Hobbes (1588—1679) vom Egoismus ausgehend.
3. Andere sagen: Jener Zweck ist richtig, welcher der öffent­
lichen Meinung in der bürgerlichen Gesellschaft entspricht.
Z. B. Sextus Empiricus (um 200 n. Ghr.). Vieles bestimmt
kein Staatsgesetj, wohl aber die Sitte. Ist ein Gesetj gegen die
öffentliche Meinung, so gilt oft der kühne Übertreter als Ver­
treter des wahren Rechtes, der Freiheit, des Fortschrittes zum
Besseren, als Heiliger und Märtyrer.
4. Der Zweck ist richtig, wenn das Streben so ist, daß die
Menschen oder doch die große Mehrzahl der Menschen es billigt
oder bei genügender Kenntnis der Umstände und Verhältnisse
billigen würde. So, scheint es, denkt J. Mill (1773—1836) und
gelegentlich auch J. S t. M i 11 (1806—1873), der seine Ableitung
des Utilitarismus aus dem Egoismus 'auf diese Weise vor dem
Vorwurf eines groben Paralogismus schüfen könnte. Ähnlich
auch ehe, welche den Zweck für richtig erklären, wenn das
Streben darnach den Konventionen der Menschen, ihren Ver­
einbarungen über Gesetze und sittliche Meinung gemäß ist. So
mit anderen. La Rochefoucauld (1603—1680) und
Mandeville (1670—1733), denen noch das eigentümlich ist,
daß sie zu zeigen suchen, daß keiner tut, was alle in dieser
Weise fordern. Alle handeln schlecht, Eitelkeit, Selbstsucht, Un­
keuschheit sind allgemein. Aber ®ie preisen das Gute in Worten
und suchen sich und anderen vorzulügen, daß sie es üben.
Diese vier stimmen nicht bloß darin überein, daß sie von
einer Regel ausgehen, sondern auch darin, daß diese eine von
außen gegebene (positive) Vorschrift ist.
Definition durch innere Regeln 97

f 28. Definition durch innere Regeln (autonome Ethik)

Andere gehen von einer von der Natur innerlich gegebenen


Regel, von einem apriorischen Vernunftgesetje aus. Ich will auch
hier die hauptsächlichsten Beispiele anführen, kann mich aber
um so kürzer fassen, als ich größtenteils nur bereits Bekanntes
m wiederholen habe.
1. Der Zweck ist richtig, wenn das Streben mit dem Gewissen
in Einklang steht, d. h. von einem eigentümlichen Vermögen,
welches gewissen allgemeinen moralischen Wahrheiten gemäß
reagiert, als gut erkannt, gutgeheißen wird. So Sokrates, die
christliche Ethik, insbesondere A b ä 1 a r d und Thomas
v. A q u i n, ferner Bischof Butler und Reid. In gewisser
Weise gehört auch Cudworth hieher.
2. Man muß wahrhaftig sein. Das ist ein einleuchtendes Ge­
bot. Der Zweck ist richtig, wenn das Streben diesem Gebote
entsprechend wahrhaftig ist (W o 11 a s t o n).
3. Der Zweck ist richtig, wenn die Handlung der apriorischen
Forderung der Vernunft, dem kategorischen Imperativ, ent­
spricht. Wie die Schotten nennt auch Kant diese apriorische
Forderung das Gewissen, doch lehrt er nicht eine Mehrzahl
solcher Gebote, sondern nur ein einziges. „Zwei Dinge erregen
meine Bewunderung: der gestirnte Himmel über mir und das
moralische Gesetj (Gewissen) in mir.“
4. Endlich müssen wir wohl einen Denker hieher rechnen, der
sonst keineswegs so wie Kant zu apriorischen Behauptungen
geneigt war. Ohne es als solches zu charakterisieren, legt er aber
seiner, Moral eine Art synthetisches Prinzip a priori zugrunde.
A. Comte (1798—1857) geht von dem Gedanken aus, die
Vernunft verlange Einheitlichkeit und Systematisierung des per­
sönlichen und sozialen Lebens. Richtig ist darum unter dem, was
um seiner selbst willen begehrbar ist, ein solcher Zweck, dessen
Erstrebung sich mit der Einheitlichkeit und Systematisierung des
persönlichen und sozialen Lebens verträgt.
Erläuterung der Ableitungsweise: egoistische und sympathische
Neigungen liegen in unserer Natur. Ursprünglich haben jene
das Übergewicht, aber Unordnung ist die Folge, denn bei ihnen
98 Comtes Lehre

steht die eine mit der anderen und Gegenwart mit Zukunft im
Widerspruch. Anders bei den sympathischen. Ursprünglich sehr
schwach, gewinnen sie doch durch Pflege an Stärke. Daher lautet
die Devise: vivre pour l’autrui! Indes behalten die egoistischen
Neigungen ihren Spielraum, wie z. B. bei der Nahrung und
nötigen Pflege des Körpers und Geistes, um anderen zu dienen.
So ist Einheit herzustellen.
Comte sucht seine Moral in einer Kirche zu verankern. Er
ist eine Art Religionsstifter, aber einer Religion ohne Gott. Das
scheint ihm kein Widerspruch, denn als wesentlich für die Re­
ligion erachtet er nur folgende Merkmale, erstens ein Dogma,
betreffend die Bestimmung und Pflicht des Menschen, zweitens
ein Gefühl, welches sich an dieses Dogma knüpft. Ein Vorteil
scheint es ihm, wenn sich dieses Gefühl auf ein konkretes Objekt
richtet, um ein Ideal, das Wirklichkeit hat, kristallisiert. Dieses
„Grand-être“ ist das Menschengeschlecht. Ihm kommt Unendlich­
keit zu, wir vermögen es wahrhaft zu lieben und schulden ihm
Dankbarkeit. Und dieses Ideal bietet, im Gegensatz zu dem Gott
der Theisten, noch den Vorteil, daß wir selbst es fördern können.
Es schließt alle empfindenden Wesen ein.
II. Versuche, den richtigen Zweck direkt im Hinblick auf die
Natur gewisser Gegenstände zu bestimmen.

f 29. Welcher Art sind diese Gegenstände?

Unserem Plane gemäß gehen wir jetjt zu jenen Begriffs­


bestimmungen des richtigen Zweckes über, welche direkt im Hin­
blick auf die Natur gewisser Gegenstände versucht werden.
1. Unter richtigem Zweck ist das höchste Maß von Gutem und
die möglichst große Freiheit von Üblem zu verstehen, die sich
unter gegebenen Umständen erreichen lassen. „Gut“ aber heißt
hier soviel wie „Lust“, „Übel“ soviel wie „Unlust“, die uns
persönlich zuteil wird. Eine andere Bedeutung sollen diese Worte
überhaupt nicht haben, wenn es sich um etwas in sich Gutes und
in sich Übles und nicht um bloß Nützliches und Schädliches
handelt. So J. Bentham (1748—1832).
Definition aus der Natur der Gegenstände 99

2. Audi andere bestimmen den richtigen. Zweck als das höchste


Maß von Gutem und die größte Freiheit von Üblem, die sich
unter gegebenen Umständen erreichen lassen; aber sie identifi­
zieren den Begriff Gut nicht mit Lust, Übel nicht mit Unlust.
Sie verstehen unter dem höchsten Maß von Gutem und der
größtmöglichen Freiheit von Üblem die höchste zu erreichende
persönliche Vollkommenheit. So z. B. Christian Wolff,
Schleiermacher (1768—1834).
Fragt man aber weiter, was Vollkommenheit sei, so zählen
sie eine Mannigfaltigkeit von Eigenschaften und Tätigkeiten auf,
so daß es schwer ist, einen einheitlichen Begriff festzustellen.
3. Für Platon ist der richtige Zweck die höchstmögliche
Teilnahme an der Idee des Guten, wobei unter Teilnahme soviel
wie Ähnlichkeit, Nachahmung zu verstehen ist. Der Idee des
Guten sich mehr und mehr zu verähnlichen, ist der richtige
Gegenstand unseres Strebens. Man könnte versucht sein, diese
Fassung zur ersten Klasse zu rechnen, soll doch die Idee des
Guten aus keiner Erfahrung, die wir in diesem Leben machen
können, zu gewinnen, uns vielmehr angeboren sein. Sie wird
zwar so zur Regel für unser Verhalten, doch ist die Verwandt­
schaft mit den früher erwähnten Auffassungen nicht so groß,
als es hienach scheinen könnte. Die Idee des Guten ist auch ein
Gegenstand, und zwar ein solcher, von dem wir die Vor­
stellung aus einem früheren Leben mitbringen. Und so ist denn
auch die Nachahmung der Idee etwas, was wir an Erfahrungs­
gegenständen gewahren. Wir erfassen diese als der Idee des
Guten Ähnliches. Es gehört somit die platonische Fassung wohl
zu denjenigen, welche den richtigen Zweck durch die erstrebten
Objekte definieren. Eine besondere Verwandtschaft hat sie mit
der folgenden Bestimmung, die sich auch historisch an sie an­
schließt.
4. Der richtige Zweck ist derjenige, welcher der der mensch­
lichen Natur eigentümliche ist. In der Natur gibt sich ein Streben
nach Zwecken zu erkennen. Im gewissen Maße schon in den un­
organischen Körpern (Kristallformen). Deutlicher noch wird das
Streben der Natur nach gewissen Zwecken in den lebenden
Wesen sichtbar. Und in dem Maße, in welchem diese Zwecke
100 Identifikation von „natürlicher“ und „richtiger“ Zweck

erreicht werden, liegt das Maß ihrer Vollkommenheit und Güte.


So ist der Vogel vollkommener als das Ei, und die fliegende
und singende Nachtigall als die, welche ruht und schweigt; der
regelmäßige Wuchs vollkommener als der verkrüppelte.
Von der Natur angestrebter Zweck und richtiger Zweck sind
identische Begriffe:
a) Von diesem Gesichtspunkte, welcher sich schon bei So­
krates und wiederum bei Platon zeigt, der glaubt, daß die
Natur im Hinblick auf die Idee des Guten und in Nachahmung
derselben gebildet sei, geht insbesondere Aristoteles aus.
Er findet die vornehmste Aufgabe in der Tätigkeit, und zwar
in den «ner Spezies eigentümlichen Tätigkeiten. So beim Men­
schen in dem theoretischen und praktischen vernünftigen Leben.
b) Manchmal spricht er aber so, als finde er den eigentlichen
Naturzweck des Menschen nicht in ihm, sondern in einem größeren
Ganzen. Er selbst genüge sich nicht, sei ein zoon politikon
(£ä>ov mXiiMov).
c) Andere, von ihm angeregt, finden den richtigen Zweck in
der Menschheit, und zwar nicht bloß in der gegenwärtig leben­
den, denn der Mensch ist nicht nur ein von Natur aus auf das
staatliche Zusammenleben angelegtes Wesen, sondern auch
eines mit geschichtlicher Entwicklung. (Trendelenburg
[1802—1872].)
d) In einer anderen Weise dehnte die S t o a den Gesichtskreis
aus, in Erwägung der einheitlichen Zusammenordnung aller
Dinge in der Welt zu einem Ganzen. Der Mensch ist ein
füSov xoapimokiimov. Der richtige Zweck ist das Wohl dieses
Ganzen. Es geht über unser eigenes Wohl. Hieraus folgt Ergebung
und Aufopferung eigener Vorteile im Interesse des Ganzen als
Pflicht. Nichtsdestoweniger liegt das höchste praktische Gut in
uns selbst. Was immer wir, so verfahrend, außer uns fördern
mögen, erreicht nicht den Wert dieses Verfahrens und Ver­
haltens selbst. Das höchste praktische Gut ist darum die Tugend.
(Vgl. die schönen Betrachtungen über die Stoa bei Ad. Smith.)
5. Der richtige Zweck ist die Anwendung der Dinge aufein­
ander in der Weise, daß sie zusammenpassen. Sagten die
vorigen, der von der Natur angestrebte Zweck sei der richtige
Bestimmung des richtigen Zweckes als berechtigtes Streben 101
Zweck, so sagen diese: der durch die Natur der Wahlgegen­
stände vorgezeichnete Zweck. Der vorzüglichste Vertreter dieser
Auffassung war wohl Samuel Clarke. Die Erinnerung an
ihn wird zur Verdeutlichung genügen. Clarke lehrte, daß in
der Natur der Dinge gewisse Relationen liegen. Das gleiche -gilt
für Handlungen und Personen, und unter den hier mitgegebenen
Relationen finden wir solche der Angemessenheit und Un­
angemessenheit. Aus diesen Gesichtspunkten leitet Clarke die
Verpflichtungen gegen Gott und ebenso gegen die Mitmenschen
ab. (Vgl. S. 26 f.) Zu den in ihrer Natur gelegenen Relationen
gehört auch ihre Eignung, aufeinander angewendet zu werden.
Die Verehrung zeigt in bezug auf Gott eine größere Kongruenz
als ein Dreieck in bezug auf ein anderes, das sich mit ihm deckt.
Hiemit sind die vornehmsten Fassungen der zweiten Klasse
erschöpft.
III. Versuche, welche bei der Bestimmung des richtigen
Zweckes von der des berechtigten Strebens ausgehen.

} 30. Dm Streben, ausgezeichnet durch eine es begleitende Folge

Wir kommen zur dritten Klasse von Versuchen, die wir im


allgemeinen als solche definiert haben, welche von der Be­
stimmung des berechtigten Strebens ausgehen. Bei gewissen Be­
strebungen glauben die Ethiker dieser Gruppe eine auszeichnende
Eigentümlichkeit zu entdecken, die sie als berechtigt kennzeichne,
und bestimmen darum den richtigen Zweck als Gegenstand eines
solchen Strebens.
Die Gruppe läßt sich wieder, ähnlich der ersten, in mehrere
zerlegen.
Die einen. finden nämlich die auszeichnende Eigentümlichkeit
in einer das berechtigte Streben begleitenden Folge. Diese soll
nach einigen eine Empfindung sein, nach anderen ein Ge­
fühl, welches das Streben in dem Strebenden selbst und in
dem unbeteiligten Zuschauer erweckt.
Andere wieder finden die auszeichnende Eigentümlichkeit nicht
in einer solchen Begleiterscheinung des Strebens, sondern in dem
Streben selbst.
102 Das richtige Streben ausgezeichnet

A. Zur ersten Klasse gehören vornehmlich folgende Bestim­


mungen des richtigen Zweckes.
1. Der Zweck ist richtig, wenn das Streben nach ihm den
moralischen Sinn als gut affiziert.
Diesen „moralischen Sinn“ denken sie sich ähnlich den äußeren
Sinnen. Der Verstand würde an den -körperlichen Dingen weder
Farbe noch Wärme etc. entdecken; aber die durch sie erweckte
Empfindung zeigt diese Phänomene. Ähnlich kann der Verstand
an dem Streben keine Eigenschaft „Güte“ entdecken, aber in der
Empfindung eines gewissen inneren Sinnes, des moralischen
Sinnes, erscheint es als gut. So insbesondere Hutcheson.
2. Weiter verbreitet ist die Ansicht, daß ein begleitendes Ge­
fühl es sei, welches das berechtigte Streben charakterisiere.
Der Zweck ist richtig, wenn das Streben gewisse an­
genehme Billigungsgefühle erweckt, nicht bloß beim Stre­
benden selbst, sondern auch bei anderen, die es gewahren. So
David Hume. Er will finden, daß diejenigen Bestrebungen,
Betätigungen und Eigenschaften, die darnach angetan sind, in
kleinerem oder größerem Kreise das Glück zu fördern, solche
Gefühle in uns hervorrufen, mögen wir selbst diesem Kreise
angehören oder nicht. Sie seien, schließt er daraus, ein Wohl­
gefallen an der zweckgemäßen Hinordnung zu einem solchen
Ziele.
3. Auch nach Adam Smith wär der richtige Zweck als ein
solcher zu definieren, dessen Erstrebung gewisse angenehme
Billigungsgefühle erweckt. Dem Wortlaut nach also dieselbe
Bestimmung wie bei Hum e. Aber die Übereinstimmung ist
nicht so groß, als sie scheint. Smith versteht das Billigungs­
gefühl wesentlich anders und führt es auf andere Quellen zu­
rück. In einer Stelle seines Werkes über die moralischen Gefühle
faßt er seine darauf bezügliche Lehre in folgenden Worten kurz
zusammen: „Meinem System zufolge entspringt das Billigungs­
gefühl aus vier Quellen, die in gewisser Hinsicht voneinander
verschieden sind. Zuerst sympathisieren wir mit den Trieb­
federn des Handelnden, zum andern teilen wir die Dankbarkeit
derer, welche die Folgen seiner Wohltätigkeit genießen, zum
dritten bemerken wir, daß sein Betragen den allgemeinen Regeln
durch eine Begleiterscheinung 103

gemäß sei, nach welchen diese beiden Sympathien sich gewöhn­


lich betätigen, und endlich gewährt die Betrachtung, daß solche
Handlungen. Teile eines sittlichen Systems ausmachen, das zur
Beförderung der Glückseligkeit sowohl des Individuums als der
Gesellschaft dient, ihnen eine Schönheit, die derjenigen, welche
wir einer wohleingerichteten Maschine beilegen, nicht un­
gleich ist.“
Das letzte Moment ist das, welches H u m e ausschließlich gel­
tend gemacht hatte. Smith, ohne ihm jeden Einfluß absprechen
zu wollen, erachtet es für den unbedeutendsten unter den vier
Faktoren. Die Erkenntnis dieses Nutens ist nicht die ursprüng­
liche Quelle unserer Billigung und Mißbilligung, doch mag sie
diese beleben und erhöhen. Die Gefühle sind anderer Art als
bei der Billigung eines wohleingerichteten Gebäudes. An die
Nützlichkeit der Gemütslage denken wir bei unserer Billigung
keineswegs zuerst. Ungleich gewichtiger sind die drei anderen
Elemente des Billigungsgefühls. Sie sind es, die ihm seinen
eigentümlichen Charakter geben. Ohne sie gibt es kein eigentlich
ethisches Gefühl, kein wahrhaft sittliches Richten. Unter ihnen
aber ragt wieder das dritte hervor, so daß man sagen darf, nach
S m i t h sei das Billigungsgefühl, welches über die Berechtigung
des Strebens entscheidet, eine gewisse Freude an der Über­
einstimmung dieses Strebens mit den allgemeinen Regeln, nach
welchen sich gewöhnlich die Sympathie betätigt.
Doch schwerlich wird dies genügen, die Ansicht von Smith,
die etwas kompliziert ist und häufig irrig aufgefaßt wird, voll­
kommen deutlich zu machen. Ich will darum seinen Ideengang
noch etwas näher erläutern.
a) Es ist eine Tatsache, daß wir mit anderen sympathisieren.
Das zeigt sich bei Freud und Leid und ist eine Folge davon,
daß wir uns die Lage dessen, der Leiden oder Freuden erfährt,
verbildlichen. Am klarsten und reinsten tritt die Sympathie zu­
tage, wo der, welcher sie fühlt, in keiner Weise von dem, was
dem anderen Freude oder Leid schafft, direkt berührt wird.
Nicht immer freilich vermögen wir uns die Lage des anderen
gleich volkommen zu verbildlichen und darum auch nicht
immer gleich zu sympathisieren. So überschreitet es z. B. unsere
104 A. Smiths Lehre

Phantasie, uns sinnliche Lust oder sinnlichen Schmerz des


anderen vollkommen anschaulich zu machen.
b) Bekanntlich freut es uns, wenn andere mit uns sympathi­
sieren. Es gewährt uns aber auch eine eigentümliche Freude,
wenn wir mit anderen sympathisieren können. Fühlen wir uns
durch jemandes Benehmen abgestoßen, so ist uns dieses Gefühl
der Antipathie selbst peinlich. Mit dieser Freude am Sympathi­
sieren hängt es zusammen, wenn wir das Verhalten eines
anderen als schicklich oder als verdienstlich billigen.
c) Das Betragen eines anderen schicklich finden, heißt
nichts anderes, als damit oder mit dessen Motiven sympathisieren
oder erkennen, daß man unter geeigneten Umständen damit
sympathisieren würde. (Ungeeignet z. B. der Fall, wo ich einen
Sohn trauernd dem Sarge seines Vaters folgen sehe, selber aber
eben erst das große Los gewonnen habe.)
Das Betragen eines anderen nicht bloß schicklich, sondern auch
verdienstlich finden, heißt eine doppelte Sympathie
fühlen, indem zu der eben erwähnten unmittelbaren noch eine
mittelbare hinzukommt. Dies wird geschehen, wenn das schick­
liche Betragen für einen Dritten wohltätige Folgen hat. Wir
sympathisieren dann auch mit der Freude dessen, der durch die
Handlung gefördert wird.
Was es heißt, etwas unschicklich und etwas mißverdienstlich
zu finden, ergibt sich hienach von selbst.
d) Dieses Schicklichfinden etc. ist bereits ein sittliches Richten
im eigentlichen Sinne. Es ist unser erstes sittliches Richten, dieses
findet also an fremdem Betragen und an fremden Charakteren
statt. Daher gibt es nach Smith keine Kenntnis eines Unter­
schiedes von ethisch Gutem und Schlechtem, wenn nicht eine Be­
obachtung fremden Tuns vorangegangen ist.
Dies sind die ersten zwei Quellen, die Smith anführt.
e) Die Natur lehrt diese Gerichtsbarkeit anerkennen, wenn sie
von anderen an uns geübt wird. Haben wir doch, wie jeder aus
Erfahrung weiß, eine Freude, wenn andere mit uns sympathi­
sieren, während ihre Antipathie uns schmerzt. Der Beifall
anderer erweckt in uns Zufriedenheit mit uns selbst, ihr Miß­
fallen beschämt und stört uns.
vom Billigungsgefühl 105

f) Aber damit dieser Gerichtshof wahre Autorität für uns


habe, darf er nicht auf Grund mangelhafter oder unrichtiger
Information oder auch, wie dies mehrfach geschieht, gegen die
natürlichen Regeln der Sympathie entscheiden. Gar manches ist,
was dazu verleitet. So ist es anerkanntermaßen verkehrt, wenn
man sich bei seiner Billigung nicht allein durch die Gesinnung,
sondern auch durch den Erfolg beeinflussen läßt. Dennoch ge­
schieht dies sehr häufig. Ebenso sollte es anerkanntermaßen
keinen Unterschied machen, ob Reiche oder Arme, Vornehme
oder Geringe es sind, deren Betragen wir richten. Aber wir
haben einen stärkeren Hang, mit den Fröhlichen zu sympathi­
sieren und daher mit denen, welche in Wohlstand und Ehren
sind. Daher prunkt man mit Reichtum, verhüllt sorgfältig seine
Armut. Auch der Unterschied der Stände hängt damit zusammen.
Wiederum veranlassen Mode und Gewohnheit, wie auf anderen
Gebieten so auch hier, wenigstens bis zu einem gewissen Um­
fang, regelwidrige und mißhellige Meinungen.
g) Wenn wir uns nun in solcher regelwidriger Weise von
anderen gerichtet sehen, so ist der Eindruck in uns nicht der
gleiche wie sonst. Unbegründetes Lob gewährt uns keine Be­
friedigung, und wiederum ist unbegründeter Tadel nicht ohne
Trost. Wir stellen uns vor, welche ganz andere Gesinnung die
Leute in Ansehung unseres Betragens hegen müßten, wenn sie
die Verhältnisse richtiger durchschauen und besonnener erwägen
würden. Wir stellen uns ins Licht eines unparteiischen, durch
nichts beirrten Beschauers, und da bleibt, wie auch immer regel­
widrig Lob und Tadel erteilt wird, in dem eilten Fall Scham
und Verwirrung, im anderen Freude nicht aus. So wohnt ein
höherer Richter in unserer Brust, wenn auch sein Ansehen im
Grunde von dem Ansehen des ersten herstammt.
Aber auch die Aussprüche des inneren Richters sind nicht
immer verläßlich. Wir neigen zur Parteilichkeit für uns. Zwei
Gelegenheiten bieten sich uns, unser Betragen im Lichte des un-,
parteiischen Zuschauers zu betrachten, vor und nach der Hand­
lung. In beiden sind wir parteiisch und unterliegen Selbst­
täuschungen.
h) Dagegen gibt es nur ein Mittel. Aus unseren Beobachtungen
106 Erläuterung von A. Smiths Lehre

an fremden Handlungen leiten wir allgemeine Regeln der Sitt­


lichkeit ab. Sind diese abstrahiert und durch das allgemeine
Gefühl der Menschen approbiert, so berufen wir uns oft auf sie
als Richtschnur für unsere Urteile. Insbesondere sind sie zur
Berichtigung der Täuschungen, die unsere Eigenliebe uns zu­
gezogen hat, oft sehr nützlich.
i) Die Achtung vor diesen allgemeinen Regeln ist nun nach
Smith das eigentliche sogenannte Pflichtgefühl. Wer ihnen
treu folgt, ist ein Mann von Grundsätzen und Ehre.
j) Um ihre Würde noch mehr zu erheben, erklärt man diese
sittlichen Regeln für Gebote der Gottheit. Mit Recht! Unsere
sittlichen Vermögen sind uns von Gott gegeben mit der Be­
stimmung, unser Verhalten im Leben zu leiten. Sie sollen offen­
bar die herrschenden Prinzipien, der menschlichen Natur sein.
Infolge dieser ihrer Stellung sind sie als göttliche Gebote an­
zusehen.
In dieser Deutung sehen wir uns bestärkt durch die Erfahrung,
daß dem guten bzw. schlechten Verhalten innere Belohnung
bzw. Pein folgt. Ferner dadurch, daß die Glückseligkeit der
Menschen, auf die doch die Absicht des Schöpfers gerichtet ist,
durch die Befolgung dieser Gebote gefördert wird. Auch findet
Tugend schon hier äußeren Lohn, wenn auch nicht so ausnahms­
los und hinreichend, daß nicht Raum für die Erwartung jen­
seitiger Vergeltung bliebe.
k) So gewinnen die sittlichen Gesetze einen neuen Grad von
Heiligkeit. Für den, der an Gott glaubt, ist die Achtung vor dem
Willen Gottes unzweifelhaft die höchste Richtschnur für sein
Betragen.
Wir verstehen jetjt, was Adam Smith als dritte Quelle
anführte und die hervorragende Bedeutung dieses Momentes.
Nach Smith ist der richtige Zweck derjenige, dessen Er-
strebung dadurch Wohlgefallen erweckt, daß sie mit den Regeln
übereinstimmt, nach denen gewöhnlich Sympathie sich betätigt.
4. Der Zweck ist richtig, wenn das darauf gerichtete Streben
ästhetisch wohlgefällt.M. a. W. wenn es schön ist. Das Sitt­
lichgute ist das Schöne auf dem Gebiete des Strebens. Schon bei
den Griechen war von sittlicher Schönheit die Rede. (Das „aga-
Nach Herbart gehört die Ethik zur Ästhetik 107

thon“ ein „kalon“. „Kalliston to dikaion“.) Auch unter den eng­


lischen Moralisten bedienen sich viele des Ausdrucks, doch mag
er von ihnen nicht ganz präzise verwendet worden sein. Im
eigentlichen Sinne ist schön zu nennen etwas, dessen Vorstellung
gefällt und wünschenswert ist. Bei H u m e scheint das Gefallen
mehr auf die Existenz der Handlung selbst zu gehen.
In strenger und Har bewußter Weise aber wird der ästhetische
Standpunkt in Her Barts Ethik eingehalten.

i 31. Herbart« Lehre vom Sittlichen als Sonderfall des Schönen

H e r b a r t unterordnet die Ethik der Ästhetik, will sie aber


damit nicht subjektiver Willkür überantworten. Nach ihm ist
der Zweck richtig, wenn das darauf gerichtete Streben schön ist,
diese Schönheit aber wird durch ein evidentes Geschmacksurteil
festgestellt.11
a) Nach seiner Lehre besitzt das Schöne und Häßliche, ins­
besondere seine Spielart das Löbliche und Schändliche, eine ur­
sprüngliche Evidenz, vermöge deren es klar ist, ohne gelernt
und bewiesen zu sein. Während das Angenehme nur in augen­
blicklichen Gefühlen gegenwärtig ist, aus welchen sich weiter
nichts ableiten läßt, gibt das Schöne, schärfer betrachtet, etwas
zu denken und stellt etwas Bleibendes von unleugbarem Werte
dar. Das Sittliche aber hebt sich aus dem übrigen Schönen als
dasjenige heraus, was nicht bloß als eine Sache von Wert be­
sessen wird, sondern den unbedingten Wert der Person selbst
bestimmt.
Weil die Ethik („praktische Philosophie“) ein besonderer Teil
der Ästhetik ist, hat der Ethiker dem sittlichen und unsittlichen
Verhalten der Menschen gegenüber den Standpunkt eines freien
Zuschauers einzunehmen. Er entwirft davon Zeichnungen der
verschiedenen Arten des gewollten Verhaltens, so zwar, daß
beim Betrachtenden über einiges Wollen ein unwillkürlicher Bei­
fall, über anderes ein unwillkürliches Mißfallen erweckt wird.
Eine Grundbestimmung beherrscht dabei den ästhetischen Ge­
schmack: Jeder Teil dessen, was als zusammengesetzt gefällt oder
108 Schönheit nach Herbart begründet in Verhältnissen

mißfällt, ist für sich genommen gleichgültig, die Schönheit liegt


nicht in den einzelnen Teilen, sondern in Verhältnissen. Das ist
nirgends deutlicher als in der Musik. Das Gefühl, das sich an
eine Terz oder Quint knüpft, vermag keiner der Töne, die darin
zusammenklingen, einzeln genommen, hervorzurufen. Ein Urteil
des Geschmacks gewinnt sein Objekt erst, wenn Verhältnisse
zwischen einer Mehrheit von Elementen vollendet vorgestellt
werden. M. a. W. die Materie ist ästhetisch gleichgültig, nur die
Form unterliegt der ästhetischen Beurteilung (formale Ästhetik).
Die Zeichnungen, die der Ethiker zu entwerfen hat, sind somit
solche von harmonischen und disharmonischen Verhältnissen,
wobei Willensakte bzw. Urteile die Elemente bilden. Einen Form­
begriff, welcher ein stets gleichbleibendes Urteil des Beifalls
erweckt und dadurch für alle künftigen Verhältnisse derselben
Elemente zum Muster wird, nennt Herbart eine Idee. Er
entwirft fünf praktische Ideen als Typen harmonischer Ver­
hältnisse in den Regsamkeiten des Willens: die Idee der Frei­
heit, die Idee der Vollkommenheit, die Idee des Wohlwollens,
die Idee des Rechtes und die Idee der Billigkeit. (Dazu kommen
dann noch fünf abgeleitete, gesellschaftliche Ideen.)
Die Idee der (inneren) Freiheit ist gegeben, wenn
der Wille der Einsicht entspricht, d. h. wenn beide einmütig be­
jahen oder verwerfen. „Erhebt sich in dem Vernunftwesen ein
Begehren oder Beschließen, sogleich stellt sich vor ihn das Bild
seines Begehrens oder Entschließens. Es erblicken und beurteilen
ist eines. Das Urteil schwebt über dem Willen; indem das Urteil
beharrt, schreitet der Wille zur Tat. Entweder nun hat die Per­
son wollend behauptet, was sie urteilend verschmäht, oder sie
hat wollend unterlassen, was sie urteilend vorschrieb, oder Wille
und Urteil haben einmütig bejaht oder einmütig verneint.“ Die
Einstimmigkeit erweckt ästhetisches Gefallen, das Gegenteil
Mißfallen.
Die Idee derVollkommenheit ergibt sich, wenn in
den Strebungen die Größenverhältnisse harmonieren. Da das
Schöne ein bloßer Formbegriff ist, so kommt der Wille für den
Ethiker nur seiner Form, nicht seiner Materie nach in Betracht.
Das heißt, von den Gegenständen muß abstrahiert werden. Ihre
Herbarts fünf praktische Ideen 109

Verhältnisse sind dem Willen nicht eigentümlich. Das Gewollte


muß weggedacht werden. Es bleiben, um ethische Verhältnisse
finden zu lassen, nur die Willensakte als bloße Strebungen zu­
rück.
Als Strebungen, sind die Willensakte alle einander gleich, aus­
genommen in Rücksicht auf ihre Stärke. Die Vollkommenheit ist
bloß quantitativ zu bestimmen. Im bloßen Größenverhältnis ge­
fällt das Stärkere neben dem Schwächeren. Umgekehrt mißfällt
das Schwächere neben dem Stärkeren. Dabei kommt das Größere
in dreifacher Hinsicht in Vergleich mit Kleinerem. Das Größere
in Willensstärke gefällt an den einzelnen Strebungen, in der
Summe die größere Mannigfaltigkeit der Strebungen, im System
das Zusammenwirken mehrerer Strebungen (derselben Person).
Diese beiden Ideen beruhen auf einer Harmonie der Elemente,
die beim Wollen des einzelnen gegeben sein kann. Drei weitere
ergeben sich, wenn die Strebungen verschiedener Personen in
ihrem gegenseitigen Verhältnis vorgestellt werden.
Hier begegnet uns vor allem die Idee des Wohl­
wollens. Wir stellen uns einen Willen vor, der sich direkt, um
ihrer selbst willen, nicht aus irgendwelchen egoistischen Motiven,
die Befriedigung eines fremden Willens zum Ziele setjt. Die
Vorstellung dieses Verhältnisses gefällt, die des gegenteiligen
Verhältnisses — die Idee des Übelwollens — mißfällt. Es ist
das häßlichste der Verhältnisse.
Diese Übereinstimmung des eigenen Willens mit einem fremden
ist .etwas anderes als die unwillkürlich nachempfindende, nach­
strebende Sympathie. Diese ist nur die Wiederholung derselben
Strebung, die ein anderer schon hatte. Ein solcher einfacher Zu­
stand ist kein Verhältnis. Es fehlt daher die Bedingung des Bei­
falls.
Man darf den Wert des Wohlwollens nicht abhängig vom
Werte des vorgestellten fremden Willens denken. Die Güte ist
darum Güte, weil sie unmittelbar und ohne Motiv dem fremden
Willen gut ist. Nur damit nicht von anderer Seite her Einspruch
erhoben werde und das Wohlwollen des innerlich Freien hemme,
ist es nötig, daß der vorgestellte fremde Wille tadellos gefunden
werde.
110 Fortsetzung über die fünf praktischen Ideen

Die I dee des Rechts. Es geschieht, daß mehrere Willen


in die gemeinsame Sinneswelt eingreifen und über denselben
Gegenstand in widersprechender Art verfügen wollen. Wissen
beide Willen, daß sie einander hindern, und verfolgen sie gleich­
wohl ihren Zweck, so will jeder die Verneinung des anderen.
Sie sind im Streit. Und Streit mißfällt. Wie soll nun das Miß­
fallen vermieden werden? Die praktische Weisung heißt Nach­
giebigkeit. Sie ergeht an beide streitenden Teile. Wird von jeder
Seite Nachgiebigkeit geübt, so überläßt jeder etwas dem anderen.
Das Überlassen, einmal geschehen, muß dem, der überlassen
hat, als Regel gelten, als eine Grenze, die er nicht überschreiten
darf. So ist zwischen beiden eine Rechtsgrenze aufgerichtet. Recht
ist Einstimmigkeit mehrerer Willen, als Regel gedacht, die dem
Streite vorbeugen soll. Es erhellt aus dieser Ableitung, daß das
Recht, seiner Materie nach, allemal positiv ist, denn es ist aus
willkürlicher Feststellung mehrerer zur Einstimmigkeit ge­
brachter Willen entsprungen. Immerhin ist es nicht gleichgültig,
wie die Rechtsgrenze gezogen wird, denn nicht jede ist gleich­
geeignet, den Streit zu meiden. Die zum Recht bestimmte Über­
einkunft hat deshalb Grade des Wertes, welche sich umgekehrt
verhalten wie die Stärke der Reizung zum Streite (das Reizende
sei übrigens, was es wolle).
Die Idee der Billigkeit. Die Tat, als Wohltat oder
Wehetat aufgefaßt, führt zur Idee der Billigkeit oder gebühren­
den Vergeltung.
1. Die Tat mißfällt als Störung des vorigen Zustandes. Dieses
Mißfallen gilt dem Verhältnis der neuen Lage zu der früheren,
ihr entgegengesetjten.
2. Hätte dieses Mißfallen die Kraft, auf die Tat zu wirken,
so würde diese Kraft in entgegengesetjter Richtung wirken und
die Tat durch Rückgang aufheben.
3. Da dem Mißfallen als solchem aber diese Kraft nicht eignet,
so bleibt nur Rückgang durch Vergleichung möglich.
Mit diesen fünf praktischen Ideen, die sich als Typen har­
monischer Verhältnisse in den Regsamkeiten des Willens er­
geben sollen, findet H e r b a r t die Reihe der sittlichen Elemente
geschlossen, da sich unter der Veräusserung, daß mehr als zwei
Richtige Zweck durch Eigentümlichkeit des Strebens charakterisiert 111
Willen mit oder ohne Absicht Zusammentreffen, die vorigen
Verhältnisse, wenn auch verschlungen, wiederholen.
Diese Veräusserung erfüllt sich im Staate, womit es zu ab­
geleiteten oder gesellschaftlichen Ideen kommt, wie sie jeder der
fünf elementaren Ideen entspringen, der Idee des Rechtes die
Rechtsgesellschaft, der Idee der Billigkeit die des
Lohnsystems, der Idee des Wohlwollens die des Ver­
waltungssystems (das durch zweckmäßige Verwaltung
der vorhandenen Mittel das größtmögliche Wohlsein der Ge­
sellschaft erstrebt), der Idee der Vollkommenheit die des
Kultursystems, der Idee der inneren Freiheit die der be­
seelten Gesellschaft (gemeinsame Folgsamkeit gegen
gemeinsame Einsicht, eine Gesellschaft, von einem Geiste be­
seelt. Eine Seele, die in allen lebt).
So erscheint in allen fünf Ideen der Charakter eines har­
monischen Verhältnisses gewahrt und damit Herbarts
Grundvoraussetjung erfüllt, daß sittliche Güte ihrem Wesen nach
Schönheit sei, Schönheit aber soviel wie harmonisches Verhältnis.

f 32. Definitionen des richtigen Zweckes durch


Innere Bestimmungen des Strebens

B. Es bleibt uns die Aufgabe, von den Fassungen des richtigen


Zweckes zu sprechen, wo die auszeichnende Eigentümlichkeit des
Strebens nicht in einer sich daran knüpfenden Folge gesucht
wird, sondern in ihm selbst. Hieher gehören folgende Be­
stimmungsversuche :
1. Der richtige Zweck ist das Begehrbarste unter dem,
was erreicht werden kann, daher das, was derjenige, der die
Wahlgegenstände genugsam durch Erfahrung kennt und auch
über seine eigene Lage zu ihnen wohlunterrichtet ist, tatsächlich
vorziehen wird. M. a. W. der richtige Zweck ist der Gegenstand
des siegreichen Begehrens bei dem, der von den Gegenständen
Erfahrung hat.
Diese Auffassung tritt stellenweise bei J. St. Mill zutage.
Er unterscheidet nicht zwischen „desirable“ im Sinne von be­
112 Verschiedene Fassungen dieser Eigentümlichkeit

gehrbar und von begehrenswert. Aber schon Sokrates lehrte


im Grunde Ähnliches, indem er behauptet, mit Wissen handle
keiner schlecht, und Tugend s e i Wissen.
2. Der Zweck ist richtig, wenn der Gegenstand von einer
richtigen, normalen Gemütsbewegung höher eingeschätjt
wird als jeder andere. Richtiger Zweck ist, was in normaler
Liebe vorgezogen wird. Eine solche richtige Wertschätzung
trägt im Gegensatz zu jeder unrichtigen den Charakter der
Pflicht, der sittlichen Notwendigkeit, des Sollens, dessen Be­
gründung darin liegt, daß es aus dem Grundwesen der Seele
stammt. So B e n e k e, dem sich im wesentlichen Überweg
(1826—1871) anschließt. Wir schälen die Werte der Dinge nach
der Steigerung und Herabstimmung, welche unsere psychische
Entwicklung durch sie erfährt. Sie kündigen sich als Gefühle
und Begehrungen an. Die Höhe der Steigerung ist durch die
Natur des Urvermögens bedingt, ferner durch die Anregungen
und endlich durch die Aneinanderbindungen (Assoziationen)
nach Grundgesetzen der menschlichen Entwicklung. Inwiefern
kraft dieser allgemeinen menschlichen Entwicklungsgesetze eine
Steigerung als eine höhere bedingt ist, insofern ist auch der
Wert des Gegenstandes, auf welchen durch sie geschäht wird
und auf den sie sich bezieht, allgemeingültig ein höherer. So
besteht hier eine für alle Menschen gültige praktische Norm.
Was nach der in der menschlichen Natur begründeten Norm
als das Höhere empfunden und begehrt wird, ist das moralisch
Geforderte. Es sind aber auch Störungen möglich, die dann zu
abweichenden Wertschätzungen führen. Im Gegensatz zu der ab­
weichenden kündigt sich die richtige mit dem Gefühl der Pflicht,
der sittlichen Notwendigkeit, des Sollens an.
3. Der schon genannte englische Moralist Cudworth, in
dessen ethischen Analysen manches Scholastische nachklingt, lehrt
über die Prinzipien: Der Mensch besitzt ein den Sinnen gegenüber
höheres Erkenntnisvermögen, dessen Objekt die unveränder­
lichen ewigen Essenzen und Naturen der Dinge und deren stets
gleichbleibende Relationen sind. Zu diesen Essenzen gehören
auch die moralischen Unterschiede von gut und schlecht. Sie
kommen gewissen Naturen zu, nämlich den Handlungen und
des als richtig erkannten Strebens 113

Seelen der Menschen. Sie wohnen ihnen als Eigenschaften inne,


bestehen aber auch schon a priori, als Antizipationen der Mo­
ralität im Geiste. Wenn unser Streben diese Essenz, diese
„verity“ der Güte hat, ist der Zweck, auf den es gerichtet ist,
als richtig erkennbar.
Hiemit möge diese Übersicht beschlossen sein. Nicht alle
Nuancen sind darin berücksichtigt, wohl aber alle tiefer greifen­
den Unterschiede, alle Gattungen und Arten; das Bild bleibt
bunt genug. Es fragt sich nun, wie wir uns zu diesen, so mannig­
faltigen Fassungen des Begriffes des richtigen Zweckes zu stellen
■haben. Können wir uns eine zu eigen machen und welche? In
welcher Gattung und Klasse wird die wahre Bestimmung zu
finden sein? Diese Fragen werden nur zu beantworten sein, wenn
wir die vorgeführten Fassungen einer kritischen Prüfung unter­
ziehen.
VI. Kapitel

Kritik der vorgeführten Bestimmungen


des richtigen Zweckes

Wie sollen wir vorgehen, um zu erkennen, ob eine der er­


wähnten Deutungen, die man dem Terminus „richtiger Zweck“
gegeben hat, treffend sei oder nicht?
Wir werden zunächst Bedingungen angeben, denen, wie nie­
mand bestreiten kann, die wahre Definition von „richtiger
Zweck“ entsprechen muß, und dann feststellen, ob sie sich bei
den gegebenen Begriffsbestimmungen erfüllt finden. Wenn nicht,
so sind diese zu verwerfen. Die Bedingungen sind:
1. Ist etwas als richtiger Zweck erkannt, so bleibt kein Pla§
mehr für die Frage: „Tue ich gut, handle ich vernünftig, wenn
ich ihn verfolge?“ Mit der Erkenntnis „Das ist der richtige
Zweck“ ist über das „Du tust gut, ihn zu verfolgen“ entschieden.
So haben wir denn bereits einen Maßstab in der Forderung: Der
Begriff des richtigen Zweckes darf nicht so gefaßt werden, daß,
angenommen es stehe etwas als solcher fest, noch eine derartige
Frage sich erheben könnte.
2. Ebenso berechtigt ist eine andere Forderung: Die Be­
stimmung des richtigen Zweckes darf nicht etwas voraussetjen,
was gar nicht existiert.
Durchmustern wir daraufhin die vorgeführten Ansichten, so
erkennen wir sie als ungenügend.
I. Kritik der Versuche, den richtigen Zweck durch Über­
einstimmung mit einer Regel festzustellen.
Unhaltbarkeit der Definitionen durch äußere Regel 115

f 33. Abwehr der Definitionen durch eine äufiere Regel

Zwei Gattungen von Begriffsbestimmungen, die von der Fest­


stellung einer Regel ausgehen, konnten wir unterscheiden. Die
ersten vier legten eine äußere zugrunde, und von diesen ent­
spricht keine der ersten Forderung.
ad 4. „Wenn das Streben so ist, daß es von allen Menschen
oder doch von der großen Mehrheit gebilligt wird.“
Warum? Halte ich doch auch sonst nicht alles für wahr, was
die Stimme der Mehrheit für sich hat!
ad 3. „Wenn das Streben der öffentlichen Meinung in der
bürgerlichen Gesellschaft gemäß ist."
Hier ist das Warum noch mehr am Platj. Vielleicht kann mein
Beispiel beitragen, die Meinung zu ändern. Dieser Gedanke ist
sogar das Hauptargument für die bürgerliche Freiheit. Experi­
mentieren, Beweglichkeit führt zum Fortschritt (vgl. J. S t. M i 11).
ad 2. „Wenn das Streben dem Gebote des Herrschers ge­
mäß ist.“
Warum? Weil er die Macht hat oder weil die Aufrecht­
erhaltung des Regimes vorteilhaft ist? Wäre dies selbst eine zu­
treffende Begründung, so fiele der richtige Zweck nur eben der
Sache nach damit zusammen, aber der Begriff als solcher bliebe
verschieden.
ad 1. „Wenn das Streben dem Gebote Gottes gemäß ist.“
Warum? Man sagt, weil er uns geschaffen habe und wir
darum sein Eigentum seien. Aber die Eigentumsfrage ist selbst
eine Spezialfrage der Ethik, und außerdem wäre zu untersuchen,
ob dem Produzenten ohne weiteres das Eigentumsrecht zukomme.
Ähnlich schließt jede andere Begründung das Zugeständnis
ein, daß die Begriffe „von Gott geboten“ und „richtiger Zweck“
nicht identisch sind.
116 Unhaltbarkeit der Definitionen durch innere Regel
$ 34. Abwehr der Definition dea richtigen Zweckes
durch eine innere Regel

Die zweite Gattung von Bestimmungen der ersten Klasse geht


von einer innerlich gegebenen Regel, von einer a prion-
Vernunftordnung aus. Vier Bestimmungen wurden vorgeführt.
Jedenfalls entsprechen die unter 2., 3. und 4. angeführten Be­
stimmungen nicht der zweiten Bedingung. Sie sollen ja alle zwar
a priori, aber nicht analytisch sein, während wir doch schon fest­
gestellt haben, daß es synthetische Erkenntnisse a priori über­
haupt nicht gibt. Die Regeln sind nicht nur nicht unmittelbar
evident, sondern auch ungeeignet, wahrhaft zu regeln. (Vgl. das
S. 30ff. gegen Wollaston sowie das S. 36ff. gegen Kants
Kategorischen Imperativ Gesagte.) Was die erste Bestimmung
„Stimme des Gewissens“ betrifft, so kommt es darauf an, was
man darunter versteht. Sollte eine Vernunftordnung a priori
gemeint sein, so unterliegt diese dem gleichen Einwand.
An dem Gesetje, das Comte wie eine unmittelbare Vernunft­
forderung zugrunde legt, man solle in einer Weise streben und
handeln, die mit der Einheitlichkeit und Systematisierung des
ganzen Lebens im Einklang steht, befremdet J. St. Mill nicht
bloß, daß das unmittelbar einleuchten, also ein Axiom sein soll,
er bestreitet sogar die Richtigkeit des Prinzips. Ob mit Recht,
wollen wir nicht untersuchen, zum mindesten ist sein Wider­
spruch ein Zeichen mehr dafür, daß das Gesetj nicht einleuchte.
Dies könnte es nur, wenn es analytisch wäre, d. h. wenn „rich­
tiger Zweck“ soviel hieße wie „Zweck, dessen Erstrebung mit
der Einheitlichkeit und Systematisierung des ganzen Lebens ver­
einbar ist“; aber wer wollte die Identität dieser Begriffe be­
haupten! Sie sind verschieden und lassen darum, wie auch die
schließliche Entscheidung ausfallen möge, zunächst wenigstens
die Frage zu: Soll ich so handeln?
So wäre denn, gleichsam in einem summarischen Verfahren,
die erste Klasse abgetan.
II. Kritik der Versuche, den richtigen Zweck direkt im Hin­
blick auf die Natur gewisser Gegenstände zu bestimmen.
Unhaltbarkeit der Definitionen durch Gegenstände 117
§ 35. Diese Versuche sind unzureichend, entweder weil sie der
Frage, warum ein solcher Gegenstand zu erstreben Ist, Raum geben
oder weil sie mit fiktiven Objekten operieren

Es waren der Hauptsache nach fünf; richtiger Zweck sollte


sein:
1. höchstes Maß von Lust, erreichbar größte Freiheit von Unlust,
2. größte erreichbare persönliche Vollkommenheit,
3. höchstmögliche Teilnahme an der Idee des Guten,
4. der eigentümliche Zwedc der menschlichen Natur,
5. die Anwendung der Dinge aufeinander, so daß sie zu­
sammenpassen.
Auch hier läßt die Anwendung unseres doppelten Maßstabes
leicht erkennen, daß keine dieser Bestimmungen zutrifft.
ad 5. Die fünfte Ansicht wurde schon zurückgewiesen. Bereits
H u m e hat zur Genüge dargetan, daß Relationen der Kon­
gruenz, wie Clarke sie in den Dingen und im Begriffe der
Dinge finden wollte, in Wahrheit nicht darin zu finden sind. So
entspricht die Deutung unserem zweiten Maßstab nicht. Dem­
selben Fehler unterliegt auch die dritte Bestimmung. Die Pla­
tonischen „Ideen“ sind allgemein preisgegeben.
Die andern drei genügen dem ersten Maßstabe nicht.
ad 1. Lust mag richtiger Zwedc sein, der Begriff aber ist ein
anderer, und darum ist die Frage am Platj, ob ich in allen Fällen
meine eigene höchste Lust anstreben soll, und dies wurde von
vielen Ethikern entschieden verneint.
ad 2. Audi der Begriff der eigenen Vollkommenheit deckt sich
nicht mit dem des richtigen Zweckes. Auch hier kann die Frage:
„Warum?“ sinnvoll gestellt werden, ja auch wohl die Frage
„Ob?“ Wer sein Leben für eine große Sache zum Opfer bringt,
hat dabei kaum seine eigene Vollkommenheit als letjtes Ziel im
Auge, bricht vielleicht vielmehr eine hoffnungsvolle Entwicklung
seines irdischen Daseins damit ab. Auch ist es ja strittig, worin
die Vollkommenheit des Menschen liegt.
ad 3. Teilnahme an der Idee des Guten. Abgesehen von
allem, was gegen die Ideen im Sinne Platons spricht, so be­
darf doch der Begriff des Guten erst der Klärung, insbesondere
118 Unhaltbarkeit der Definitionen durch Gegenstände

daraufhin, ob darin etwas von Zweck enthalten sei, was doch


der Fall sein müßte, wenn er mit dem des richtigen Zweckes
zusammenfiele. In den beiden vorangehenden Begriffsbestim­
mungen schien weder etwas von Zweck noch von Streben ent­
halten. Sie fallen auch nicht einem Teile nach damit zusammen.
ad 4. Probabler mutet die Bestimmung an, die den richtigen
Zweck mit dem „natürlichen Zweck der menschlichen Spezies“
identifiziert, mit dem, was die Natur im Menschen selbst an­
strebe. Aber nicht alle geben zu, daß in der Natur Zwecke ver­
folgt werden. Und wenn, warum sollten es die richtigen sein?
Schopenhauer leugnet es: Der Wille, den er in der Natur
gelten lassen will, soll ein blinder sein, und die Welt dement­
sprechend auch die schlechteste aller möglichen Welten. Und wie,
wenn der Manichäismus im Rechte sein sollte, der dem guten
Prinzip ein böses gegenüberstellt? (James Mill); wie, wenn
der Schöpfer der Natur selbst der Vollkommenheit entbehrte?
(J. S t. M i 11).
Wenn aber wirklich die Natur das Bestmögliche anstreben
sollte, wie vermöchten wir das zu erkennen, an welche Kriterien
soll sich unser Urteil darüber halten? Schon daß überhaupt zu­
nächst solche Zweifel aufkommen können, zeigt, daß der Be­
griff „Zweck, den die Natur im Menschen anstrebt“ nicht mit
dem Begriff „richtiger Zweck“ identisch ist, wie immer beide
schließlich der Sache nach Zusammentreffen mögen.
So ist denn auch von den Bestimmungen der zweiten Klasse
keine zu billigen. Und dasselbe gilt auch von jeder anderen, die
etwa hier noch versucht werden könnte, wenn nämlich Zweck so­
viel heißt wie Gegenstand eines Strebens. Dabei ist Streben im
eigentlichen Sinne genommen, nicht in jenem bildlichen, in dem
man etwa sich zu sagen erlaubt, der fallende Körper strebe dem
Mittelpunkte der Erde zu. Und wie der Begriff des Strebens aus
der eigenen inneren Erfahrung gewonnen ist, so muß dies insr
besondere auch vom Begriff des richtigen Zweckes gelten, der
ja nichts anderes besagt als das, was Gegenstand eines be­
rechtigten Strebens ist. Davon werden wir ausgehen müssen,
und dies tun in der Tat die Vertreter der dritten Klasse, denen
wir uns nunmehr zuwenden wollen.
Unhaltbarkeit der Charakterisierung durch Begleitmomente 119

III. Prüfung der Definitionen des richtigen Zweckes, welche


von der Bestimmung des berechtigten Strebens ausgehen.
A. Solche Definitionen, die den Vorzug des richtigen Strebens
in Begleitmomenten desselben erblicken.
Hier unterschieden wir zwei Gruppen, je nachdem die aus­
zeichnende Eigentümlichkeit des berechtigten Strebens in einer
es begleitenden Empfindung oder in einem begleitenden
Gefühl liegen soll. Als Vertreter dieser Lehren wurden
Hute h eso n, D. Hume, Adam Smith und H e r b a r t
genannt. Wir wollen uns zunächst mit den ersten drei beschäf­
tigen und dann ausführlicher mit der zu besonderem Ansehen
gekommenen Herbartschen Lehre.

5 30. Kritik der Definitionen von Hutcheson, D. Hume und A. Smith

1. Nach Hutcheson u. a. soll der Zweck dadurch als richtig


erkannt werden, daß das Streben darnach den. moralischen Sinn
affiziert. Dieser offenbare uns an dem Streben eine gewisse
Qualität „moralische Güte“.
Wie sollen wir das verstehen? Ist gemeint, daß uns die innere
Wahrnehmung, wie das Streben überhaupt, unter anderen Merk­
malen desselben auch das der Güte erkennen lasse? Dann würde
es sich allerdings nicht um ein bloßes Begleitmoment, sondern
um ein inneres Merkmal handeln, und die Lehre gehörte in die
Gruppe B dieser dritten Klasse. Es hat aber eher den Anschein,
daß eine das Streben notwendig begleitende sinnliche Empfin­
dung gemeint sei und Güte, ähnlich wie Farbe oder Ton, zu
den Sinnesqualitäten zählen solle, als Gegenstand eines be­
sonderen, des sog. moralischen Sinnes.
So verstanden genügt die Deutung keinem der beiden Maß­
stäbe. Eine Empfindung, die eine Qualität „moralische Güte“
zum Gegenstände hätte, gibt es gar nicht; es ist dies eine Er­
findung ad hoc.
Gäbe es aber einen solchen auf Moralqualität gerichteten Sinn,
so würde es von den Objekten dieser sinnlichen Empfindung
ebenso fraglich sein wie von den Farben oder Tönen, ob sie
120 Die Sanktion eine* Strebens kann weder

Wirklichkeit oder bloßer Schein seien. M. a. W. es könnte die


Güte des Strebens uns bloß vorgespiegelt sein, und die Frage
wäre berechtigt, warum wir so streben sollen.
2. Nicht eine das Streben begleitende sinnliche Empfindung,
sondern ein Gefühl offenbart uns nach H u m e die Richtigkeit
des Zweckes. Er erscheint als richtig, wenn das Streben gewisse
angenehme Billigungsgefühle erweckt, die, näher untersucht, sich
als das Wohlgefallen herausstellen, das wir an der zweck­
mäßigen Hinordnung zum Glücke engerer oder weiterer Kreise
haben, gleichviel, ob wir ihnen selbst angehören oder nicht. Auf
solche angenehme Billigungsgefühle beruft sich auch Adam
Smith. Sie sollen im wesentlichen in der Freude an der Über­
einstimmung des Strebens mit den allgemeinen Regeln bestehen,
nach welchen sich gewöhnlich die Sympathie betätigt.
Hier wie dort ist die Frage nach dem „Warum“ am Platte.
Soll die Annehmlichkeit als solche das Streben sanktionieren?
Sie mag als Motiv in die Waagschale fallen, aber es gibt doch
auch Annehmlichkeiten anderer Art und diese stehen oft auf der
entgegengesetzten Seite und erweisen sich als das stärkere Motiv.
Wenn H u m e erklärt, diese Billigungsgefühle seien der mensch­
lichen Spezies eigentümlich, so wird damit die Frage, warum
wir uns von ihnen leiten lassen sollen, nicht hinfällig. Wie, wenn
andere und vielleicht höhere Arten von Wesen diese mensch­
lichen Gefühle nicht teilten, sondern vielmehr das, was uns ge­
fällt, mißbilligten und dabei die Vernunft auf ihrer Seite hätten?
Oder ist sie wirklich auf der unseren? Die Frage ist am Platj
und dies genügt uns, die Definition abzulehnen. Dasselbe gilt
gegen Smith. Zumal er selbst verschiedene Regeln der Sym­
pathie unterscheidet und sehr allgemein verbreitete Regelwidrig­
keiten zugibt. Auch diese beruhen auf Gesehen der menschlichen
Natur. Warum dürfen sie nicht aufgenommen werden in die
Regeln der Sympathie? Warum z. B. nicht auch Parteilichkeit
für Reiche und Vornehme? Warum soll nicht unsere Neigung,
mit denen zu sympathisieren, die Erfolg haben, mitzählen?
Smith sagt zwar, anerkanntermaßen dürfen die Folgen keinen
Einfluß ausüben. Warum nicht? Vielleicht geht man irre in seinen
Sympathien, wenn man ihnen ohne Rücksicht auf die Folgen ihren
in einer sinnlichen Empfindung noch in einem Gefühl liegen 121

Lauf läßt. Üben aber die Folgen einen gesetzmäßigen Einfluß


auf unsere Sympathien, so liegt eben das Prinzip nicht in den
Gesetjen der Sympathie als solchen.
Hume aber, indem er es für nötig hielt, Zweckmäßigkeits­
gründe heranzuziehen, hat damit selbst zugegeben, daß die Frage
nach dem Warum offen bleibt, es sich also nicht um den wahren
Begriff des richtigen Zweckes handeln kann, wenn man ihn mit
dem des Wohlgefallen erweckenden Strebens gleichsetzt.

f 37. Kritik der Definition Herbaria

Prüfen wir, ob die Herbartsche Fassung beiden Maß­


stäben entspricht. Um es gleich vorwegzunehmen, sie entspricht
keinem von beiden.
1. a) Schon daß Herbart von einem Geschmacksurteil
spricht, ist eigentlich eine contradictio in adjecto. Er sagt selbst
und mit Recht: „Das Urteil ist kein Wille“. Wollen und Ur­
teilen sind zweierlei. Aber auch Fühlen ist kein Urteilen. Darin
liegt also, wenn man es wörtlich nimmt, schon ein Verstoß gegen
den zweiten Maßstab. Doch ist dieser Stoß der Kritik 'kein Stoß
ins Herz, und mit einer Modifikation wäre das Wesentliche der
Lehre zu retten.
b) Entscheidender ist, daß sie dem ersten Maßstab nicht ge­
nügt. Die Frage „Soll ich unbedingt schön streben?“ ist wohl am
Platze. Die Schönheit ist Sache der Erscheinung. Fast sieht es
nach Eitelkeit aus, so viel Gewicht auf die Erscheinung zu legen.
Ein gewisses Motiv mag sie abgeben, aber ein schlechthin maß­
gebendes? Das ist nicht abzusehen. Auch J h e r i n g in seinem
Kampf ums Recht erhebt Bedenken, und Lott12 in seiner Kritik
der Herb arischen Ethik spricht wesentlich denselben
Zweifel aus. H e r b a r t meint freilich, jedes Schöne stelle etwas
allezeit und unleugbar Wertvolles dar und das Sittliche scheide
sich aus dem übrigen Schönen als das heraus, was den un­
bedingten Wert der Person selbst bestimme. Aber wenn das
Schöne etwas von Wert darstellt, so in -bezug auf eine Er­
scheinung. Es kommt nicht darauf an, ob das Ding, das in Er-
122 Kritische Besprechung

scheinung tritt, wirklich ist, sondern nur darauf, daß die Vor­
stellung davon in uns erweckt wird und Wohlgefallen erregt.
Das würde auch vom Sittlichen gelten, wenn es im eigentlichen
Sinne, d. h. im selben Sinne, wie das künstlerisch Schöne zu dem
Schönen gehört, und dies ist Herbarts entschieden aus­
gesprochene Lehre: Der sittliche Geschmack, als Geschmack, ist
nicht verschieden vom poetischen, musikalischen, plastischen Ge­
schmack. Ihm ist die Ethik im eigentlichen Sinn ein Teil der
Ästhetik. Er vergleicht sie dem Generalbaß. Der einzige Unter­
schied ist, daß dort einfach Töne erklingen, „während hier Be­
griffe von Willensakten mit spekulativer Vorsicht zu bestimmen
sind, damit ihre Verhältnisse gleich jenen von Tönen in ab­
soluten Beifall und absolutes Mißfallen versehen“. Wäre die
Sittlichkeit in diesem Sinne Schönheit, so würde offenbar auch
sie etwas von Wert darstellen in bezug auf die Erscheinung. Und
es würde das Sittliche anderes Schöne nur etwa dadurch über­
treffen, daß es den Wert der Person, sagen wir der ganzen Per­
son, in bezug auf die Erscheinung bestimmt. Davon wäre aber doch
vielleicht noch ein anderer Wert, der ihr als solcher und nicht in
bezug auf die Erscheinung zukommt, zu unterscheiden. Es ist
schlechterdings zu leugnen, daß jede richtige Wertschätjung eine
ästhetische ist. Wenn H e r b a r t dieser Meinung ist, so verführt
ihn dazu eine Verwechslung von Begriffen. Er verwechselt das
Wohlgefallen an einer Sache auf Grund bloßer Vorstellung mit
dem Wohlgefallen an der Sache als Ursache der Vorstellung. Im
letzten Falle gefällt die Sache als Mittel, und so ist es beim
Schönen. Wenn man beim Schönen zu wählen hätte zwischen der
Erscheinung und der Wirklichkeit, d. h. der Existenz des Gegen­
standes, so wählte man die Erscheinung. Wenn man aber diese
Wahl beim Guten zu treffen hat, so wählt man umgekehrt. Eine
Mutter liebt das Glück ihres Kindes mehr als die Vorstellung
davon.
2. Schon hier also mußte ich einem Grundgedanken der H e r -
bartschen Ästhetik entgegentreten. Sie verkennt ihre
Schranken. Aber noch in einem anderen Punkte kann ich seine
Auffassung der Ästhetik nicht teilen. H e r b a r t läßt alle
Schönheit auf Verhältnissen beruhen. Seiner Meinung nach ist
der Lehre Herbarts 123

jeder Teil dessen, was als zusammengesetzt gefällt oder mißfällt,


einzeln für sich genommen gleichgültig. In der Musik z. B.
komme keinem der einzelnen Töne, deren Verhältnis ein Inter­
vall von musikalischer Geltung, etwa eine Quint, eine Terz
bildet, für sich allein auch nur das mindeste von dem Charakter
zu, welcher gewonnen wird, wenn sie zusammenklingen. Die
Materie ist also gleichgültig, nur die Form bestimmt das Ge­
schmacksurteil. Die vollendete Vorstellung des gleichen Ver­
hältnisses führt, wie der Grund seine Folge, bei allen vor­
stellenden Wesen das gleiche Urteil mit sich, und zwar zu jeder
Zeit, so auch unter allen begleitenden Umständen und in allen
Verbindungen und Verflechtungen.
Was für Gründe hat H e r b a r t für die Behauptung, daß
für die Schönheit nichts als Verhältnisse maßgebend seien? Etwa
nur die wenigen Beispiele, die er aus der Musik und anderen
Künsten anführt und induzierend verwendet? Keineswegs, viel­
mehr hängt seine Lehre mit der Bestimmung des Unterschiedes
zwischen dem bloß Angenehmen und dem Schönen zusammen.
Beim Gefühl von Lust und Schmerz kann das Gefühlte nicht vom
Gefühl abgesondert aufgefaßt werden. Das im Geschmacksurteil
Vorgestellte ist dagegen etwas, was auch rein theoretisch vor­
gestellt • werden kann. Das ist nach Herbart, was es vom
Angenehmen oder Unangenehmen unterscheidet. Wie ist es nun
denkbar, fragt er, daß das Vorgestellte, dem der Beifall oder
das Mißfallen gilt, sich auch rein theoretisch, also als ein Gleich­
gültiges, auffassen lasse? Nur so, daß das, was im Gechmacks-
urteile gefällt oder mißfällt, Verhältnisse sind, die durch eine
Mehrheit von Elementen gebildet werden, von denen jedes für
sich gleichgültig ist.
Aber diese Begründung scheint mir vom ersten Anfänge ver­
fehlt. Es ist falsch, daß Lust und Unlust kein Objekt haben
außer sich selbst. Die Psychologie erweist das Gegenteil. In
dieser Hinsicht ist das Wohlgefallen am einzelnen Ton nicht
verschieden von dem am Akkord. Es hat also auch das bloß
Angenehme Herbarts die Eigenschaft, die er hier dem rein
Schönen allein vindiziert. Auch das Gefühl, das nicht auf Zu­
sammengesetztes geht, hat nicht nur sich selbst zum Objekt, also
124 Schönheit liegt nicht nur in Verhältnissen

ist der Schluß daraus auf die Zusammensetzung gleichgültig. Es


folgt nicht, daß alle Schönheit in Verhältnissen liegt.
Die Erklärung genügt aber von keiner Seite. Wird denn nur
die Materie, nicht auch das Verhältnis Gegenstand theoretischer
Betrachtung? Offenbar auch das Verhältnis, wie soll also die
Gleichgültigkeit der Materie dienen, um diese theoretische Be­
trachtung begreiflich zu machen? Wenn ich unter Umständen das
Verhältnis ohne ästhetischen Genuß oder ästhetisches Mißfallen
vorstelle, so beweist dies, wenn es richtig ist, nur, daß in H er­
härt s Behauptungen noch etwas anderes unrichtig ist, nämlich,
daß sich ausnahmslos notwendig entweder ästhetischer Beifall
oder ästhetisches Mißfallen daran knüpft. So z. B. wo wissen­
schaftliche Interessen andere verdrängen. In keiner Weise läßt
sich aber die Gleichgültigkeit der Materie daraus erschließen.
Der Beweis dafür, daß nichts als Formen von Verhältnissen das
Geschmacksurteil bestimmen, ist also offenbar mißlungen.
Wie löst sich denn in Wahrheit die .Schwierigkeit Her­
ba r t s ? Antwort: Durch Berichtigung des Fehlers, den er begeht,
indem er von Geschmadcsurteilen spricht. Geschmack ist, wie ich
schon sagte, kein Urteil, und Urteil kein Geschmack. Aber das­
selbe ist Gegenstand von beiden. Für jeden, der Fühlen und
Urteilen als verschiedene Gattungen psychischer Beziehungen aus­
einanderhält, ist die Schwierigkeit von vornherein gar nicht vor­
handen.
Es ist die Behauptung aber nicht bloß unerwiesen, sondern
meines Erachtens offenbar falsch. Dieselbe Melodie, langsam
oder rasch, laut oder leise gespielt oder gesungen, z. B. die
Marseillaise pianissimo, das Lied der Zerline fortissimo, er­
wecken nicht dasselbe ästhetische Gefühl. Ähnlich Farben in
demselben Verhältnis heiler und dunkler, lebendiger und
schwächer.
3. Dies führt uns zu einem anderen Punkt der ästhetischen
Grundanschauung Herbarts, welche für seine Ethik höchst
wichtig, aber ebensowenig wie der frühere erwiesen oder haltbar
ist. Schon öfter wurde berührt, wie viel daran liege, daß die
ethischen Gesetje nicht bloß für die Menschen, sondern auch für
alle anderen vernünftigen Wesen als vorbildlich erkennbar sein
Herbarts ästhetischen Gesehen kommt nicht Allgemeingültigkeit zu 125
müssen. Für Humes und Smiths Lehren ergaben sich daraus
Schwierigkeiten. Wie steht es nun in dieser Beziehung mit der
Lehre H e r b a r t s, die alle sittliche Billigung als ästhetisches
Wohlgefallen an Verhältnissen faßt?
H e r b a r t behauptet entschieden, daß seine ethischen Gesetje
bei allen vorstellenden Wesen Geltung haben, wie überhaupt
die ästhetischen Gesetje.
Denn „vollendete Vorstellung des gleichen Verhältnisses führt
wie der Grund seine Folge bei allen vorstellenden Wesen das
gleiche Urteil mit sich, und zwar wie zu jeder Zeit so auch unter
allen begleitenden Umständen und in allen Verbindungen und
Verflechtungen“. Sein Beweis ist also dieser: Das Geschmacks­
urteil bezieht sich im Gegensat; zu dem Gefühl des Angenehmen
oder Unangenehmen auf einen vorgestellten Gegenstand, ge­
nauer gesagt, auf ein vorgestelltes Verhältnis. Das vorgestellte
Verhältnis erweckt meinen Beifall. Die Vorstellung des Ver­
hältnisses ist der Grund, der Beifall die Folge. Wo immer nun
derselbe Grund vorliegt, da tritt auch dieselbe Folge ein. Also
knüpft sich an die Vorstellung des gleichen Verhältnisses, wann,
unter welchen Umständen, in welchen Verbindungen und Ver­
flechtungen und ‘bei welchen vorstellenden Wesen immer sie auf­
treten mag, das gleiche Urteil.
Ist nun diese Argumentation richtig? — Nichts weniger als
das! Angenommen unser ästhetisches Wohlgefallen 'bezöge sich,
wie Herbart will, immer und ausschließlich auf die Form
von Verhältnissen, so würde daraus schlechterdings nicht folgen,
daß wer immer dieses Verhältnis vorstellt, dasselbe ästhetische
Wohlgefallen fühlen müsse. Ein Vergleich mit einem Schluß,
insbesondere mit einem Sophisma, wodurch einer gefangen wird,
diene zur Erläuterung. Das Sophisma führt ihn zum Irrtum. Die
Prämissen sind der Grand, die irrige Konklusion ist die Folge.
Wie nun? Wird jeder, welcher die Prämissen denkt, in die
Schlinge fallen? Nein, denn am tatsächlichen Zustandekommen
des Schlußurteils sind in jedem besondern Falle noch gewisse
Mitbedingungen beteiligt, und nur wenn diese alle wiederkehren,
wird auch der Schlußsatj wirklich ins Bewußtsein treten. Sonst
nicht. Zudem wird nicht einmal der Schluß aus richtigen Prin-
126 Es gefallen nicht immer die gleichen Verhältnisse

zipien immer gezogen. Seine unbedingte Gültigkeit liegt nicht


daran und folgt nicht daraus, daß er immer so gezogen wird,
denn er wird es nicht. Ähnlich auch in unserem Falle. Das Ver­
hältnis erweckt Beifall. Die Vorstellung des Verhältnisses ist der
Grund, der Beifall die Folge. Aber auch hier bedarf es, damit
dieser tatsächlich zustande komme, immer gewisser Mitbedingun­
gen. Unsere uns in ihren wesentlichsten Beziehungen verborgene
innere Natur macht es möglich, daß wir vorstellen, Vorgestelltes
anerkennen oder verwerfen und ebenso es schön oder unschön
finden, begehren oder fliehen. Wie im einzelnen Falle das eine
oder andere zustande kommt, vermag keiner zu erklären. Auch
gehen die Meinungen weit auseinander, insofern die einen
meinen, daß physiologische Prozesse dabei im Spiele sind, die
anderen nicht, und wiederum der eine sich die physiologischen
Prozesse anders geartet denkt als der andere.
Man sieht also klar, He rb art hat die Allgemeingültigkeit
seiner ästhetischen Urteile bei allen vorstellenden Wesen nicht er­
wiesen. Es bleibt also auch ihm gegenüber dasselbe Bedenken
aufrecht wie den anderen Ethikern gegenüber.
4. Ja noch mehr, nicht bloß hat er nicht bewiesen, daß sich an
die Vorstellung desselben Verhältnisses allgemein dasselbe Ge­
schmacksurteil knüpft; die Erfahrung zeigt das Gegenteil.
a) Wir wiesen schon darauf hin, da wir gegen die von ihm
behauptete Gleichgültigkeit der Materie stritten. Laut oder leise,
langsam oder rasch macht bei der Musik einen Unterschied hin­
sichtlich des ästhetischen Wohlgefallens, auch wenn alle Ver­
hältnisse gewahrt bleiben. Das „unter allen begleitenden Um­
ständen“ stimmt also nicht.
b) Noch mehr! Früheren Zeiten galten in der Musik gewisse
Tonverhältnisse für schön, die jetjt kein ästhetisches Wohl­
gefallen erwecken, und umgekehrt galt für unharmonisch, was
heute als wohlgefällig durchaus anerkannt ist. Die Tonarten
waren von den unserigen verschieden. Das Ohr mußte sich ge­
wöhnen und gewöhnte sich. Und auch in neuerer Zeit hat es
sich wieder umgewöhnt und gewöhnt sich noch immer um (Tann­
häuser — Tristan und Isolde — Nibelungentrilogie). Die Form
des Verhältnisses ist also keineswegs etwas, was zu jeder Zeit,
Herbaria Grundgedanken undurchführbai 127

unter allen Umtänden, bei allen vorstellenden Wesen den


gleichen Beifall oder das gleiche Mißfallen erweckt. Wir be­
sitzen also keine Garantie dafür, daß dies bei Verhältnissen,
welche nach H e r b a r t sittlichen Beifall hervorrufen, der Fall
sein wird. Das war aber das einzige, womit er ihre Gültigkeit
für alle vernünftigen Wesen zu begründen wußte. Sie ist sohin
auch durch seinen Versuch nicht gesichert, und der alte Einwand
gegen die Gefühlstheorie bleibt unerledigt.

$ 38. Fortsetzung der Kritik Herbarts (Erörterung am Beispiel der


Idee des Rechtes). Grundfehler seiner Ethik. Hinweis darauf, daö
sie einen richtigen Kern enthält

I. Wir können es uns nach dieser Kritik der ästhetischen


Grundanschauungen Herbarts ersparen, auf das einzelne
seiner Lehre einzugehen, zumal es sich uns hier ja nur um den
Begriff des richtigen Zweckes, wie er sich nach ihm herausstellt,
handelt. Immerhin mag es unsere allgemeine Kritik nicht un­
willkommen unterstützen, wenn wir wenigstens am Beispiel einer
seiner fünf „praktischen Ideen“ zeigen, daß sein Grundgedanke
im besonderen ganz undurchführbar ist. Es sei zu diesem Zwecke
die sog. Idee des Rechtes herausgegriffen.
a) Wie stimmt das, was H e r b a r t darüber sagt, zu den
Tatsachen?
1. Mißfällt der Streit ästhetisch?
a) Jhering in seinem berühmten „Der Kampf ums Recht“
widerspricht entschieden. Und in der Tat, daß der Streit viel­
mehr sehr wohl Gefallen erwecke, dafür sind schon alle Spiele,
bei denen „Gegenspieler“ mitwirken, ein überzeugender Beweis.
Schach, Kartenspiele. Am Boxen empfinden die Engländer solches
Vergnügen, daß wer, statt dem Kampfe als Zuseher zu folgen,
mit einem „Friede sei mit euch!“ die Streitenden trennen wollte,
sicher selbst in Kämpfe verwickelt würde.
b) Und ist dieses Gefallen am Streite etwa nicht ästhetischer
Natur? Warum wählen dann die Dichter mit Vorliebe den
Kampf der Achaier und Trojaner. Man denke auch an die
128 Streit z. B. mißfällt nicht immer

Gladiatorenkämpfe der Römer, die Stierkämpfe der Spanier. Sie


sind Schauspiele, wie blutig auch immer sie sein mögen. Und
diesen Schauspielen gesellt unsere Phantasie Schauspiele der
Natur, sie läßt uns Feuer und Wasser im Bilde streitender
Mächte erscheinen. Wir stehen ergriffen vor dem gewaltigen
Schauspiele der Meeresbrandung, und von alter Neigung unserer
Natur geleitet, fassen wir die Elemente nach Analogie unseres
Innern als wahrhaft streitende, die stürmen und den Sturm zu­
rückwerfen.
c) Allerdings ist auch Mißfallen an den Streit geknüpft und
es gilt das Wort „Selig sind die Friedfertigen“; aber dieses Miß­
fallen gilt nicht eigentlich dem Streit als solchem, sondern den
unter Umständen mißfälligen Motiven und, wohl noch häufiger,
den Folgen des Streites. So mögen immerhin einzelne Formen
des Streites uns abstoßen, aber vom Streit, ganz allgemein ge­
sprochen, läßt sich nicht sagen, daß er mißfällig sei.
2. Begründet das Mißfallen am Streite die Idee des Rechtes?
Ist es der einzige Zweck des Rechtes, dem Streite vorzubeugen?
a) Schon darum nicht, weil, wie eben gesagt, der Streit nicht
als solcher, sondern, wenn überhaupt, so aus anderen Gründen
mißfällt. Seine Beendigung kann also nicht letzter Zweck sein.
b) Das Recht ist nicht das einzige und nicht das wirksamste
Mittel zur Vermeidung oder Beendigung des Streites, zumal im
Wesen des Rechtes wohl die Rücksicht auf das allgemeine Wohl,
nicht aber auch Zwang gelegen ist. Das Wohlgefallen an der Be­
endigung des Streites müßte sich sonst auch einstellen, wenn sie
die Folge von Nachgiebigkeit, Feigheit, knechtischem Sinne ist.
Diese sind ja noch wirksamere Mittel gegen den Streit als das
Recht, und in ihrem Gefolge stellt sich nicht das Recht ein,
sondern eher Preisgabe des Rechtes.
c) Das Mißfallen an einer Verlegung des Rechtes müßte ver­
schwinden, wenn die Gefahr des Streites beseitigt ist; es könnte
Mißfallen nur etwa aus anderen Gründen bleiben, aber das
wäre dann nicht Mißfallen am Unrecht.
d) Auch der Gebrauch des Rechtes, ja seine Übung müßte
mißfallen, wenn Streit daraus entsteht und dieser mißfällt. Aber
Auflehnung gegen das Unrecht gefällt.
Streit ist nicht immer Unrecht 129
e) Und oft ist das Rechttun Ursache des Streites, so wenn
z. B. eine gerechte Entscheidung gegen Große dem Richter Ver­
folgungen von ihrer Seite zuzieht.
f) Gefällt das Recht nur wegen der Meldung des Streites, so
müßte der Streit mehr mißfallen als das Unrecht.
g) Auch Lott“ hebt hervor, die Weisung, keinen Streit zu
erheben, gehe an beide, wenn auch mehr an den, der zugestimmt.
(Aber, es scheint, mehr an den, dessen Nachgeben am wahr­
scheinlichsten und nachhaltigsten. Dieser aber ist nicht immer
der, welcher dem Rechte nach nachzugeben hätte. H e r b a r t
selbst sieht dies ein und spricht es aus, wo er die Willkürlichkeit
des Rechtes beschränkt.)
3. Nicht alle positiven Rechtsregeln, wenn sie auch den Streit
für immer verhüten mögen, sind Recht. Sie können ein schreien­
des Unrecht sein. Das positive Recht ist ein gemischter Begriff,
aus Recht im eigentlichen Sinne und Macht entstanden. Nach
H e r b a r t wäre alles Recht positiv, und damit entfällt der
Unterschied zwischen guten und schlechten Gesehen. Alle Gesetje
sind Sache der Übereinkunft oder der Macht, so oder so dem
Streite ein Ende zu machen. So sind alle Gesetje gut, wofern der
Streit durch sie niedergehalten wird, was den despotisch knech­
tenden oft ebensogut gelingt wie den humanen. Und wenn ein
Unterschied besteht, so ist es sehr fraglich, ob gerade die Ge­
setje dort am besten, wo am wenigsten Streit möglich ist; viel­
leicht ist dies vielmehr nur die Folge davon, daß diese Gesetje
schlecht, nämlich unbillig und knechtend sind. M. a. W. H er­
bat t s Theorie, konsequent festgehalten, läßt Macht vor Recht
gehen, denn jene hindert den Streit sicherer als dieses. Man
denke sich den Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) durch
einen Friedensschluß beendigt, der das französische Volk für
immer vernichtet hätte. Wäre es das Richtige? Nach Herbart-
sc h e m Prinzip wohl, denn es hätte die Kriegsgefahr endgültig
beseitigt; in Wahrheit könnte aber nur der extremste nationale
Egoismus so urteilen.
b) Wie stimmt, was Herbart über die Idee des Rechtes
sagt, zu seinen ästhetischen Prinzipien?
Was ist Gegenstand des Beifalls? Die Aufrichtung des Rechtes,
130 Herbarts Ideen keine Richtschnur

die Rechtsgrenze, oder das Rechttun? Nehmen wir das erste an.
Ist das Gefallen an der Rechtsgrenze ästhetisch? Sie soll gefallen
als Mittel zur Meidung des Streites, der Disharmonie. Aber das
Gefallen an etwas als Mittel ist doch kein ästhetisches zu nennen,
sonst wäre ja auch das an einer Geige, insofern sie Musik­
instrument ist, ein ästhetisches. Ja, in unseren Falle ist dies auch
noch aus einem anderen Grunde undenkbar, denn die Rechts­
grenze ist nicht Mittel zu einer Harmonie, sondern zur Negation
einer Disharmonie (T r e n d e 1 e n b u r g). Nehmen wir das
zweite an. Gegenstand des ästhetischen Gefallens sei das Recht­
tun, die Einhaltung der Rechtsgrenze als solcher. Hier ist die
Beziehung zum Streit noch entfernter. Übereinstimmung mit
einer zur Meidung von Disharmonie dienenden Regel ist nach
H e r b a r t das, was das Rechttun auszeichnet. Diese Regel
kann nicht selbst als Einstimmigkeit der Willen, sondern nur als
deren Folge gefaßt werden. Sie ist also nicht selbst ein Ver­
hältnis von Willen, also ist nach Herbarts Prinzip das Ge­
fallen daran kein ästhetisches.
II. Wie immer sorgfältig man auch die hier nicht im einzelnen
erörterten Ideen Herbarts durchmustern möge, man wird
darin keine brauchbare Richtschnur für unser Handeln finden
können. Eine Klarheit über den letjten Zweck ist daraus nicht
zu gewinnen. Das ist aber noch nicht der größte Fehler des
Systems. Es leidet auch noch an dem gleichen, den wir schon ari
den Schotten zu tadeln hatten. Wie diese eine Mehrheit von
Sittenregeln, so lehrt H e r b a r t fünf Ideen, und hier wie dort
soll jede absolut und schlechthin gelten. Nun läßt sich aber, wenn
aus einer Idee ein bestimmtes Verhalten, so aus einer anderen
ebensogut ein entgegengesetztes ableiten. Schon Trendel en -
b u r g hat bemerkt, aus der Idee der Vollkommenheit lasse sich
jede Tat rechtfertigen, aus der Idee der Billigkeit jede Unter­
lassung (um den Zustand nicht zu stören). Wie entscheiden, wenn
sich die Ideen so miteinander verflechten und einander so Wider­
streiten? H e r b a r t hat kein Mittel, uns darüber zu belehren,
welches Verhältnis den Vorzug verdient, denn die Vorstellung
gleichartiger Verhältnisse soll ein stets gleiches Urteil des Bei­
falls oder Mißfallens mit sich führen, in allen Verbindungen
für unser Handeln 131

und Verflechtungen. Also muß, wo zwei Ideen miteinander in


Konflikt treten, sowohl Beifall als Mißfallen sich einstellen,
m. a. W. die Handlung gut und schlecht sein. Wo kein einheit­
licher Maßstab zu Gebote steht, läßt sich nicht entscheiden, was
überwiegt. Es fehlt an einer höchsten Idee, welche den Konflikt
der vielen entschiede und löste.
Wir fanden in Herbarts Lehre manchen Anlaß zum
Widerspruch. Doch wäre es ungerecht, wollte ich nicht schon an
dieser Stelle andeuten, daß sie auch Anerkennung verdient, und
zwar nicht bloß als Produkt ernster Gedankenarbeit und um
ihrer, edlen Tendenz willen, sondern auch, weil sie einen rich­
tigen Kem enthält. H e r b a r t ist in einem Punkte der Wahr­
heit näher .gekommen als viele andere, nur ist dieser Wahrheits­
gehalt so sehr durch Irrtümliches überwuchert, daß das Samen­
korn der Wahrheit nicht aufgehen und sich zur Frucht entwickeln
konnte. Eben darum müssen wir uns erst durch weitere Unter­
suchungen zu größerer Klarheit durchringen, bis es möglich sein
wird, die Berechtigung dieses Zugeständnisses zu erweisen.
B. Kritik der Definitionen des richtigen Zweckes durch
innere Bestimmungen des Strebens.

j 39. J. St. Mill, Beneke, Cudworth

Wir wenden uns zur Kritik von Fassungen des richtigen


Zwecks, die nicht in einer Folge des berechtigten Strebens,
sondern in diesem selbst die auszeichnende Eigentümlichkeit
finden wollten, die es als solches erkennen läßt.
1. Das Begehrbarste unter dem Erreichbaren ist der richtige
Zweck, daher das, was derjenige erstrebt, der von den Gegen­
ständen sowohl als von den Mitteln, welche seine Lage bietet,
Erfahrung hat. Das tatsächliche Streben des Erfahrenen wird so
zum Maßstab. So drückt sich gelegentlich J. St. Mill aus, im
Altertum Sokrates. Auch in der neueren deutschen Philo­
sophie finden sich Äußerungen, die aus den Unterschieden der
Erkenntnis alle Unterschiede der Moral zu erklären suchten.
Dagegen ist erstens zu sagen, daß das Faktum nicht stimmt.
132 Kritik der Definitionen, nach denen

Scio meliora proboque, deterioria sequor. Dies wird insbesondere


deutlich, wo zwischen augenblicklichem Genuß und späterem
vollkommenerem und bleibendem Besitj des gleichen Gutes ge­
wählt wird. Der eine wählt so, der andere anders, ohne daß es
einem von ihnen an ausreichender Kenntnis der Wahlgegen­
stände und seiner eigenen Lage fehlen würde. Mill selbst hält
den Gedanken auch nicht konsequent fest. Wohl spricht er ge­
legentlich die Meinung aus, daß keiner, der edlere Genüsse
kenne und die Fähigkeit zu ihnen sich bewahrt habe, die nied­
rigeren vorziehe; andererseits spricht er davon, daß einer in
Fällen der Versuchung unterliege, mit dem Bewußtsein, das
Schlechtere zu wählen. Mill sucht daraufhin wieder mehr im
Bewußtsein als in dem wirklichen Verhalten einen Maßstab.
Wenn Sokrates die Tugend mit dem Wissen identifizierte,
so unterschätzte er die Macht der Gewohnheit und der Erziehung.
Mill selbst aber legt auf diese ein großes Gewicht, so zwar,
daß er ungeachtet seines Satzes, daß nur Lust „desirable“ sei, es
für möglich und tugendhaft erklärt, die ganze eigene Lust, das
ganze Selbst dem Wohle anderer aufzuopfern. Infolge ethischer
Gewöhnung könne man dazu gelangen, das Wohl der Gesamt­
heit stets im Auge zu haben.
Zweitens, angenommen der Satj, daß immer das Begehrbarste
unter dem, was erreichbar scheint, erstrebt werde, sei richtig,
so fällt doch der Begriff Begehrbarstes nicht mit dem Begriff
richtiger Zweck zusammen. Man muß also fragen, warum man
das Begehrbarste tatsächlich begehren soll.
2. B e n e k e sucht offenbar etwas, was bei Mill fehlt. Aber
indem er sich darum bemüht, es zu finden, kommt er zu nichts
weiter, als daß er gewisse Regungen als normal, sagen wir,
als gesunde Entwiddungsprodukte gekennzeichnet denkt. Was
nach der in der menschlichen Natur begründeten Norm als das
Höhere empfunden und begehrt werde, soll das moralisch Ge­
forderte sein. Warum? Ist es von vornherein sicher, daß die An­
lagen der menschlichen Natur auf das Gute gerichtet sind? B e -
n e k e sagt freilich weiter, es kündige sich die richtige Wert­
schätzung mit dem Gefühl des Sollens an, und wenn dem so ist,
so bleibt nicht weiter zu fragen: Soll ich? Aber was heißt „Ge-
der richtige Zweck im Streben selbst liegt 133

fühl des Sollens“? Und gibt es nicht Imperative verschiedener


Autoritäten? Es kommt darauf an, ob einer mit Recht sagt,
du sollst. B e n e k e meint, darum kündige sich die richtige Wert­
schätzung mit dem Gefühl des Sollens an, weil sie aus dem
Grundwesen der Seele stamme. Dies führt zu der Frage zurück,
wie wir denn dieses Grundwesen als auf das Gute gerichtet er­
kennen.
3. Wenn Benekes Äußerur^en Zweifel und Bedenken er­
regen, was sollen wir erst von Cudworths metaphysischer
Ausdrucksweise sagen? Was sollen wir unter seinem Streben,
das die Essenz, die „verity" der moralischen Güte in sich habe,
verstellen? Zum richtigen Zweck gehört doch jedenfalls, daß er
erreichbar sei. Wie soll das aus dem Streben zu erkennen sein?
So scheint denn auch von den Fassungen der dritten Gattung
keine befriedigend.
VII. Kapitel

Neuer Versuch, die Ethik zu begründen

§ 40. Vom Ursprung des Begriffes des Guten und seiner


Analogie zu dem des Wahren13

1. Das Ergebnis unseres geschichtlichen Rückblicks und seiner


Auswertung ist somit negativ. Wir sind also eigener Unter­
suchung nicht enthoben. Doch war er nicht umsonst. Wir finden
uns dadurch vorgeübt und, mehr noch, in gewisse Bahnen ge­
wiesen. Alles drängte dahin, in der dritten Gattung, d. h. in
jener Gruppe von ethischen Systemen, die vom berechtigten
Streben ausgehen, die Wahrheit zu suchen. Daß wir auch hier
nichts Haltbares finden konnten, war uns zunächst eine Ent­
täuschung, aber es kann uns nicht irremachen an dem Vertrauen,
daß wir uns auf der richtigen Spur befinden. Es ist nicht so wie
bei den anderen Klassen, wo wir erkannten, daß auch kein
fernerer Versuch gelingen könne. Und dieses Vertrauen wird
auch noch von anderer Seite bestätigt.
Wir sind nämlich bei unseren Betrachtungen auf etwas ge­
stoßen, was wir zweifellos als gültig festhalten können. Philo­
sophen, die sonst in ganz verschiedener Weise bei der Grund­
legung der Ethik zu Werke gingen, waren darin einig, daß der
richtige Zweck das Beste unterdemErreichbaren sei.
Wenn diese Definition noch ein Vorwurf trifft, so nur der der
Dunkelheit. Denn sicher decken sich die Begriffe. Wenn etwas,
was erstrebt wird, nicht erreichbar ist, so ist es gewiß kein rich­
tiger le^ter Zweck, mag es auch noch so gut sein. Umgekehrt,
wenn etwas, was erstrebt wird, nicht gut oder nicht besser als
das ist, was, damit es eintrete, unterbleibt oder aufgehoben wird,
Bestimmung des Begriffes „gut“ 135

so ist es kein richtiger le^ter Zweck, mag es auch erreichbar sein,


und je größer der Wertunterschied, um so weniger. Richtiger
letjter Zweck kann nur dasjenige sein, was an Wert alles andere
übertrifft, das Beste also, aber nur insoferne es erreichbar ist.
Was ist nun dunkel in dem Begriffe und macht, daß die De­
finition der Aufgabe, die jede Definition hat, nämlich einen
Namen zu erklären, nicht dient? Offenbar nur das „gut“ bzw.
das „besser“. Hier gingen denn auch die Bestimmungen, welche
die Philosophen gaben, weit auseinander, so daß sie zu den
verschiedensten Fassungen des richtigen letjten Zweckes führten.
Wie werden wir nun den Begriff des Guten zu bestimmen
■haben? Diese Frage ist die erste und vordringlichste, und von
ihrer Beantwortung hängt alles ab. Die Aufgabe der Bestimmung
eines Begriffes ist aufs engste verknüpft mit der Frage, woher
er gewonnen ist. Die Erklärung eines Terminus ist in letjter
Instanz der Hinweis auf gewisse Phänomene. Daher hat H u m e
bei seiner berühmten Untersuchung über den Begriff der Kau­
salität mit Recht die Frage nach dem Ursprung des Begriffes
herangezogen. Aus diesem Grunde schieden wir, als wir nicht
über die einfachere Bestimmung des Guten, sondern die des
letjten Zweckes handelten, die Ansichten schon in gewisser Weise
nach dem Ursprung.
2. Woher stammt der Begriff des Guten?
Außer den Erfahrungsbegriffen, lehren manche, gebe es ge­
wisse apriorische Ideen. Sie seien angeboren, dem Geiste vor
jeder Erfahrung eingeprägt. Aber eine solche Annahme ist
gänzlich unnötig. Für jeden allgemeinen Begriff lassen sich ge­
wisse konkrete Vorstellungen aufzeigen, aus welchen er oder
seine Bestandteile abstrahiert sind.
Welches sind diese für den Begriff des Guten? Stammt er
aus der inneren oder aus der äußeren Anschauung? Die äußere
Anschauung oder Wahrnehmung zeigt uns durchwegs lokalisierte
Qualitäten, in zeitlicher Dauer, also in Ruhe, oder in sei es
abruptem, sei es kontinuierlichem Wechsel begriffen. Hier
nehmen die Begriffe Farbiges, Tönendes, Warmes, Großes,
Kleines, räumlich Abstehendes etc. ihren Ursprung. Keiner
unserer Sinne aber liefert uns den Begriff des Guten. Es war
136 Analogie des Begriffes „gut“ zum Begriff „wahr“

eine verfehlte Auffassung zu meinen, daß es einen „moralischen


Sinn“ gebe.
Es muß also wohl der Begriff des Guten aus der inneren
Anschauung oder Wahrnehmung abstrahiert sein. Diese zeigt
uns nicht Lokalisiertes, nicht räumlich Ausgedehntes, sondern
psychische Vorgänge, Bewußtsein von etwas, d. h. wir nehmen
uns wahr als etwas zum Gegenstand habend. Und zwar können
wir etwas in dreifacher Weise zum Gegenstände haben, entweder
es bloß vorstellend oder auch es beurteilend oder auch ein Inter­
esse daran nehmend, nämlich fühlend und wollend.
3. Daß der Begriff des Guten der inneren Wahrnehmung ent­
stammt, dafür spricht auch die Analogie zum Begriff des Wahren.
Es scheinen diese Begriffe einander analog, und zwar nicht nur
im Inhalt, sondern auch ihrem’Ursprünge nach.
Der Begriff des Wahren stammt nun zweifellos aus der inne­
ren Wahrnehmung. Doch muß, damit dies ganz deutlich werde,
darauf aufmerksam gemacht werden, daß das Wort „wahr“ in
mehreren, wohl voneinander zu unterscheidenden Bedeutungen
verwendet wird. Schon Aristoteles hat auf diese Mehr­
deutigkeit geachtet Sie ist keine bloß zufällige, wie dies bei
der Namensgleichheit der Fall ist, vermöge deren im Deutschen
bald ein Vogelkäfig, bald ein Landmann ein Bauer genannt
wird, oder eine Augenkrankheit und wiederum ein Vogel beide
Star heißen. Vielmehr, sind die verschiedenen Bedeutungen des
Wortes „wahr“ miteinander ähnlich verwandt wie etwa die
verschiedenen Bedeutungen des Wortes „gesund“. Wir nennen
so bald den gesunden Leib, bald die gesunde Gesichtsfarbe, bald
nennen wir eine Speise, bald eine Gegend, bald eine uns ärztlich
verordnete Medizin, einen Spaziergang etc. gesund. Dieses Bei­
spiels hat sich Aristoteles selbst bedient, um zu zeigen, wie
bei mehrdeutigen Ausdrücken zuweilen eine gewisse Verwandt­
schaft, ein gewisser Zusammenhang der Bedeutungen besteht.
Alles, was hier gesund genannt wird, trägt nämlich diesen
Namen mit Rücksicht, im Hinblick auf die Gesundheit des Leibes.
Dieser ist es, was im eigentlichen Sinne gesund genannt wird,
alles andere nur in übertragenen Bedeutungen, die unterein­
ander differieren, indem nämlich die Beziehung, in welcher der
Wahr im eigentlichen Sinne ist nur ein Urteil 137

betreffende gesund genannte Gegenstand zum Leibe steht, selbst


eine andere und andere ist. Das eine also, weil es seine Gesund­
heit erkennen läßt, das andere, weil es sie fördert, erhält,
wiederherstellt etc.
Ähnlich die Ausdrücke „wahr“ und „falsch“. Sie sind mehr­
deutig durch verschiedenartige Beziehung zu etwas, dem im
eigentlichen Sinne diese Bezeichnungen zukommen.
Wir nennen zuweilen Vorstellungen wahr und falsch (falsch
z. B. Traumvorstellungen, Halluzinationen), wir nennen Ver­
mutungen, Besorgnisse, Hoffnungen etc. wahr und falsch. Wir
nennen aber auch äußere Dinge wahr und falsch (Ausdrücke,
Buchstaben, mannigfache Zeichen, Geld).
Welches ist nun hier das eine, wozu alles andere, indem es
wahr oder falsch genannt wird, in Beziehung gesetjt wird,
m. a. W. welches ist das im eigentlichen Sinne so Ge­
nannte?
Auch darauf hat schon Aristoteles die richtige Antwort
gegeben. Die Wahrheit im eigentlichen Sinne findet sich im
Urteilen. In bezug auf dessen Wahrheit oder Falschheit
führt alles andere diese Bezeichnung. Manches, weil es ein
wahres (falsches) Urteil ikundgibt (ein Ausspruch), anderes, weil
es ein solches hervorruft (wie z. B. eine Halluzination oder ein
verschriebenes Wort, ein Stück Kupfer, das wegen seines Glanzes
irrtümlich für Gold gehalten wird), anderes, weil es ein falsches
oder wahres Urteil zu erzeugen beabsichtigt, manches, weil einer,
der es für etwas hält, wahr oder falsch urteilt (ein wahrer Ge­
lehrter, ein falscher Freund).
Die Frage ist also die: Wann ist ein Urteil wahr, wann falsch
zu nennen? Da, wie der Satj des Widerspruchs besagt, jedes
Urteil entweder wahr oder falsch sein muß, erhellt, daß diese
Bestimmungen wesentlich mit der Natur des Urteils Zusammen­
hängen müssen, und so hat denn auch Aristoteles seine
Antwort im Hinblick auf seine eigene Auffassung von der Natur
des Urteils gegeben.
Er meinte, das Urteil bestehe wesentlich in einer Verflechtung
von Gedanken, es sei eine Zusammensetzung von Vorstellungen
und unterscheide sich eben dadurch vom bloßen behauptungs­
138 Definition der

losen Vorstellen. Wer den Begriff Rotes oder den Begriff Rundes
denkt, urteilt damit noch nicht, wohl aber, wer sie verbindet,
indem er sagt „Irgendein Rundes ist rot“.
Das Urteil sei jene besondere Synthese von Gedanken, worin
etwas mit etwas anderem für verbunden, für eines, oder aber
etwas von etwas anderem getrennt, geschieden gedacht wird
Halte man wirklich Verbundenes für verbunden, wirklich Ge­
trenntes für getrennt, so urteile man wahr, falsch dagegen, wenn
man sich urteilend entgegengesetzt wie die Dinge verhalte:
Paßt diese Definition auf alle wahren Urteile? Wenn ich von
einem Hund sage, er sei keine Katje, so besteht hier allerdings
ein Hund getrennt von einer Ka§e. Aber richtig ist auch das
Urteil, er sei kein Drache. Und ein solcher besteht weder mit
ihm vereint noch von ihm getrennt. Um auch diesen verneinen­
den Urteilen gerecht zu werden, wäre die Aristotelische
Definition wohl ein wenig abzuändern: Ein Urteil sei wahr,
müßte man sagen, wenn es einem Ding etwas zuspricht, was
damit vereinigt ist, oder abspricht, was nicht damit vereinigt ist.
Auf alle Urteile paßt die Definition aber auch dann nicht.
Denn manche Urteile sprechen einem Subjekt kein Prädikat zu
oder ab, sondern anerkennen oder verwerfen einfach etwas. Es
wird darin nicht geurteilt „Ein S ist P“ oder „Ein S ist nicht P“,
sondern einfach „Ein S ist“ oder „Ein S ist nicht“ (z. B. Gott ist.
Es gibt keine Gespenster). Diese prädikatlosen einfachen An­
erkennungen und Verwerfungen hat Aristoteles in seiner
Urteilslehre übersehen, für sie ist seine Definition von wahr
und falsch unbrauchbar. Wir bedürfen einer, die auf alle Urteile
anwendbar ist.
Man könnte, um zu einer einheitlichen Definition zu gelangen,
darauf verweisen, daß man auch Prädikationen in die Existen-
tialform bringen könne, indem man z. B. statt „Irgendein Mensch
ist krank“ oder „Irgendein Dreieck ist nicht rechtwinklig“ oder
„Kein Kreis hat ungleiche Radien“ sagt: „Ein kranker Mensch
ist“, „Ein nicht rechtwinkliges Dreieck ist“, „Ein Kreis mit un­
gleichen Radien ist nicht“. Es werde dann die auf einfache An­
erkennungen und Verwerfungen anwendbare Definition der
Wahrheit für alle Urteile passend sein: Ein anerkennendes Urteil
wahren Urteile 139

ist wahr, wenn sein Gegenstand existiert; ein verwerfendes,


wenn er nicht existiert.
Wer so spricht, sagt nichts Unrichtiges, aber klar wird da­
durch der Begriff nicht. Man müßte ja, diese Definition ernst
genommen, um das Urteil „A ist“ als wahr zu erkennen, vor­
her festgestellt haben, daß A existiert, d. h. man müßte das
Urteil „A ist“ schon als richtig erkannt haben, ehe man es gefällt
hat. Mit dieser Definition dreht man sich offenbar im Kreis und
wir brauchen eine andere.
4. Daß alles Bemühen um die Analyse eines Begriffes miß­
lingt, ist kein seltener Fall. Es kann gar nicht anders sein, wenn
der Begriff ein elementarer ist, denn was keine Merkmale hat,
läßt sich nicht zerlegen. So würde niemandem durch begriffliche
Zerlegung der Begriff Farbiges klarwerden, der nicht aus der
Anschauung von einzelnen Farbigen i'lyi abstrahiert hätte.
Vielleicht handelt es sich beim Sinn des Terminus wahr um eine
elementare Differenz von Urteilen, die nur durch Beispiele aus
unserer inneren Wahrnehmung verdeutlicht werden kann.
Dies setjt nun freilich voraus, daß die Wahrheit eines Urteils
ein Merkmal sei, das sich wahrnehmen lasse, und gerade dies
könnte einer bezweifeln. Man denke sich einen, der richtig
urteilt,- es gebe noch Exemplare einer gewissen Tierspezies.
Braucht sich an ihm, dem Urteilenden, etwas dadurch zu ändern,
daß, während er an seinem Urteil noch festhält, schon das letjte
Exemplar umgekommen und die ganze Spezies ausgestorben ist?
Und doch ist aus seinem wahren Urteil ein falsches geworden.
Ganz so -wird ein richtiges verwerfendes Urteil, z. B. „Es gibt
keinen Drachen“, nicht dadurch falsch, daß sich an ihm selbst
etwas ändert, sondern dadurch, daß der mit Recht geleugnete
Gegenstand zu existieren anfängt.
Es scheint also das wahre Urteil vom falschen als solches gar
nicht real verschieden. Ihr Unterschied ist nichts, was sich wahr­
nehmen und durch Beispiele aus der Wahrnehmung verdeut­
lichen läßt. Es scheint gar keine Anschauung zu geben, aus
welcher der Sinn des Wortes „wahr“ gewonnen sein könnte und
das Wort selbst sinnlos.
Um hier klar zu sehen, wird es nicht zu. umgehen sein, daß
140 Blinde und evidente,

wir uns in einer vollständigen Aufzählung aller der Momente


versuchen, nach denen Urteile in unserer inneren Wahrnehmung
variieren können. Dabei werden wir diejenigen, die ausnahms­
los allen Urteilen zukommen, ausschalten dürfen, denn in ihnen
kann der eigentümliche Charakter der Wahrheit nicht liegen.
Nun hat jeder, der über etwas urteilt, eine, wenn auch viel­
leicht nicht vollkommen bestimmte Vorstellung eines Dinges. Er
hat etwas zum Gegenstände seines Vorstellens und damit auch
seines Urteilens. So unterscheiden sich z. B. die beiden Urteile
„Es gibt Menschen“ und „Es gibt Fische“ im Gegenstände. Ur­
teile, die dasselbe zum Gegenstände haben, können aber in
anderer Hinsicht differieren. Der Gläubige und der Atheist
haben beide ein unendlich vollkommenes, schöpferisches Wesen
zum Gegenstände, aber jener urteilt der Qualität nach an­
erkennend, dieser verwerfend. Da es nun sowohl unter den
anerkennenden als unter den verwerfenden Urteilen wahre und
irrtümliche gibt, kann in der Urteilsqualität als solcher das Mo­
ment der Wahrheit nicht liegen.
Was wir beurteilen, beurteilen wir entweder als bloße Tat­
sache oder als eine Notwendigkeit. Diesen Unterschied nennt
man den der Modalität des Urteils und spricht im ersten Falle
von einem assertorischen, im zweiten von einem apodiktischen
Urteile. Auch darin kann die Wahrheit nicht liegen. Die Gegner
des Kolumbus haben apodiktisch geurteilt, daß es keine Anti­
poden geben könne, die Materialisten halten Dinge, die keinen
Raum einnehmen, für unmöglich, und beide irren ebenso wie
einer, der von an sich farbigen Körpern nicht gerade glaubt, daß
es sie geben müsse, aber doch, daß es tatsächlich solche gibt.
In der Urteilsqualität und Modalität finden wir also das aus­
zeichnende Moment des wahren vor dem falschen Urteile nicht.
Unsere Urteile weisen aber noch eine andere Art von Unter­
schieden auf. Vergleichen wir das Urteil der äußeren Wahr­
nehmung, das etwas Blaues oder etwas Tönendes anerkennt, mit
dem Urteil der inneren Wahrnehmung, worin wir uns selbst als
etwas Blaues sehend, als Töne hörend anerkennen. Beide sind
positiv, beide sind assertorisch; aber das zweite ist gegenüber
dem ersten durch eine elementare Differenz ausgezeichnet: es ist
assertorische und apodiktische Urteile 141

evident, einsichtig, während jenes der Einsicht entbehrt. Wenn


ich sehe, anerkenne ich das Farbige instinktiv und mit voller
Überzeugung, mache ich mir aber die Konsequenz dieses An­
erkennens klar, so sehe ich mich alsbald in Widersprüche mit
gewissen Tatsachen verwickelt und darüber belehrt, daß mein
Urteil falsch ist. Nicht ebenso das Urteil, daß ich Farbiges sehe.
Dieses ist von einer durch keine Argumentation zu widerlegenden
unmittelbaren Gewißheit. Es ist keine subjektive Überzeugung.
Eine solche 'könnte ein Irrtum sein. Es ist unfehlbar wahr. In
vielen meiner überzeugten Urteile mag ich mich täuschen. Ich
könnte, indem ich an einem bestimmten Ort zu stehen überzeugt
bin, in Wahrheit bloß träumen. Ein übermächtiges Wesen
könnte, wie Descartes dies ausdrückt, mich in ein unentrinn­
bares Netj von Irrtümern eingewoben haben, so daß alles, was
ich außer mir für -wirklich halte, bloßer Schein wäre, aber daß
ich selber bin, zweifle, denke, hoffe, sehe, höre, liebe, fürchte etc.,
darüber kann keine Allmacht mich täuschen. Ausgenommen die
Urteile der inneren Wahrnehmung, das sind die Anerkennungen
unserer eigenen psychischen Betätigung, unserer eigenen Bewußt­
seinsakte, gibt es kein positives Urteil von unmittelbarer Evidenz.
Nur unter den verneinenden Urteilen finden sich noch solche,
die unmittelbar einleuchten. So leuchtet uns ein, daß dasselbe
Ding nicht zugleich sein und nicht sein kann, genauer, daß ich
etwas nicht zur gleichen Zeit mit Recht anerkennen und ver­
werfen kann. Diese Einsichten haben vor denen der inneren
Wahrnehmung die Apodiktizität voraus. Was wir so verwerfen,
verwerfen wir als unmöglich. Hingegen bieten sie uns keine
positive Erkenntnis, sie lassen uns kein Ding als existierend er­
kennen, sie zeigen uns nicht, was ist, sondern nur, was un­
möglich ist.
Mit diesen beiden unmittelbaren Erkenntnissen, den asser­
torischen der Selbstwahrnehmung und den apodiktischen nega­
tiven, sind die Quellen erschöpft, aus denen unser Begriff des
Wahren gewonnen ist. Nur aus solchen Beispielen evidenter
Urteile ist er zu entnehmen. Auf sie muß man den, der verstehen
will, was das Wort „wahr“ besagt, verweisen. Aber keine Bered­
samkeit und kein analytischer Scharfsinn vermöchte einem dessen
142 Analyse des Wahrheitsbegriffes

Sinn beizubringen, der kein Beispiel eines evidenten Urteils er­


lebt hätte und darum außerstande wäre, damit andere Urteile
zu vergleichen, denen dieser Charakter fehlt.

f 41. Wahrheit und Evidenz

Liegt in dieser Urteilsevidenz nun wirklich das, was man die


Wahrheit eines Urteils nennt? Man könnte einwenden, daß gar
viele Urteile der Evidenz entbehren, ohne falsch zu sein. Es hat
einer einen mathematischen Lehrsatj dem Sinne nach wohl ver­
standen und, obwohl ihm der Beweis entfallen ist, glaubt er doch
weiter mit Überzeugtheit an ihn. Sein Urteil ist wahr, aber evi­
dent ist es jetjt nicht.
Ich wollte diesen Einwand nicht unberührt lassen, weil man­
cher, der sich die Sache schon klargemacht hatte, durch ihn wieder
daran irre geworden ist. Um ihn zu entkräften, möchte ich mich
eines Vergleiches bedienen. Es definiert einer den Namen gesund
und führt unter den den Begriff bildenden Merkmalen auch das
einer gewissen Bluttemperatur an. Wäre er dadurch widerlegt,
daß eine Medizin oder eine Speise ebenfalls gesund genannt
werden, ohne Blut zu enthalten? Offenbar nicht, denn diese
werden in einem anderen Sinn gesund genannt als der Leib,
nicht weil sie es selbst sind, sondern weil sie der Gesundheit
des Leibes dienen.
So wird auch ein blindes Urteil wahr genannt nicht im selben
Sinne des Wortes wie ein evidentes, nämlich nicht darum, weil
es selbst einleuchtet, sondern weil es sich aus eviden­
ten folgern läßt oder weil es mit unmittelbar
evidenten Urteilen zwar nicht auch die Evidenz ge­
mein hat, wohl aber in allen anderen Stücken, ins­
besondere in bezug auf den Gegenstand und
die Urteilsqualität übereinstimmt.
So schwierig den Philosophen die Analyse des Wahrheits­
begriffes gewesen ist und so oft sie dabei den richtigen Weg ver­
lassen haben, unbemerkt ist das Phänomen der Evidenz wohl
keinem der Großen unter ihnen geblieben. Macht es sich doch
und. des Phänomens der Evidenz 143

auch schon in den Bezeichnungen der Volkssprache bemerkbar.


Sie sind bildlich und recht charakteristisch, meist vom Sehen oder
vom Lichte hergenommen. Einleuchtend, evident (von videre),
einsichtig. Und verwandt auch das Bild für die nicht evidenten
als „blinder“ Urteile. Auch Philosophen greifen angesichts des
elementaren Charakters des Phänomens vielfach zu solchen bild­
lichen Umschreibungen. Descartes spricht von einem natür­
lichen Lichte, das er in Gegensatj zu natürlichen, aber dunklen
Glaubenstrieben stellt (lumen naturale, non impetus naturalis),
und Leibniz sagt von gewissen Wahrheiten, daß sie sich
„dans une manière lumineuse“ geltend machen. Doch, könnte
die wissenschaftliche Terminologie ohne solche Bilder aus­
kommen. Wichtiger wäre es, den Namen „Erkenntnis“ aus­
schließlich für evidente und evident aus solchen abgeleitete Ur­
teile zu verwenden, was leider vielfach nicht eingehalten wird.
Doch lassen wir diese Benennungsfragen beiseite. Über das Sach­
liche sind wir uns ja klargeworden. Nur ein evidentes Urteil
ist gesichert. Entbehrt ein Urteil dieses Charakters, dann müssen
wir versuchen, es durch Beweise zum Range eines evidenten zu
erheben, indem wir es aus evidenten ableiten. Es könnte, aber
überhaupt kein solches Beweisen und keine Wissenschaft geben,
wenn sich nicht unter unseren Urteilen solche von unmittelbarer
Evidenz fänden.
Mit der Evidenz ist dann ohne weiteres die Allgemeingültig­
keit des Urteils gegeben, denn es ist wohl denkbar, Entgegen­
gesetztes zu glauben, nicht aber zu erkennen.

§ 42. Der Begriff des Guten stammt aus der Erfahrung als richtig
charakterisierter GemUtstätlgkeiten
Deren Analogie zur Urteilsevidenz

Die vorausgegangenen Untersuchungen über den Begriff der


Wahrheit hatten für uns nur den Zweck, Licht auf den uns bisher
noch dunkel gebliebenen Begriff des Guten zu werfen. Ich meine
das Licht der Analogie, in welchem wir nunmehr in der Lage
sind, die Untersuchung darüber wieder aufzunehmen.
144 Audi der Begriff „gut“ stammt aus der inneren Wahrnehmung

Wie „wahr“ hat auch „gut“ mehrfache Bedeutung. Man spricht


von einem guten Willen, von einem guten Frühstück, von einem
guten Zeichen usw. Vom Guten als Objekt unseres Begehrens
und von der Güte dieses Begehrens selbst.
Auch unter den guten Objekten sind nicht alle gut im selben
Sinne. So wenn wir einen Vorrat von Waren einen Gütervorrat
nennen und wiederum die Erkenntnis einer wissenschaftlichen
Wahrheit ein hohes Gut.
Was die Mehrdeutigkeit der Güte der Objekte anlangt, so ist
sie leicht aufgeklärt. Manche davon nennen wir gut im Sinne der
Nützlichkeit, d. h. dessen, was ein Mittel ist zu einem guten
Zweck (Medizin für die Gesundheit).
Ein solcher Zweck kann selbst wieder nützlich, d. h. einem
höheren Zweck dienlich sein, schließlich aber kommen wir auf
solches, was wir gut nennen, nicht weil es zu anderem taugt,
sondern an und für sich. Von den verschiedenen Bedeutungen
des Wahren hat sich uns gezeigt, daß sie alle auf etwas hin­
weisen, was den Namen im eigentlichen Sinne trägt, nämlich auf
das wahre Urteil. Analog ist es bei der Mehrdeutigkeit des
Guten. Nennen wir ein Objekt gut, so geben wir ihm damit nicht
ein sachliches Prädikat, wie etwa wenn wir etwas rot oder rund
oder warm oder denkend nennen. Es verhält sich mit den Aus­
drücken gut und schlecht in dieser Beziehung ähnlich wie mit
existierend und nicht existierend. Wir wollen damit den Be­
stimmungen des betreffenden Dinges nicht eine weitere hinzu­
gesellen, sondern wir wollen sagen, wer ein gewisses Ding an­
erkenne, ein gewisses anderes verwerfe, urteile wahr. Auch wenn
wir gewisse Gegenstände gut, andere schlecht nennen, so sagen
wir damit nichts anderes als, wer jene liebe, diese hasse, verhalte
sich richtig. Die Quelle dieser Begriffe ist also die innere Wahr­
nehmung, denn nur in innerer Wahrnehmung erfassen wir uns
als etwas liebend oder hassend.
Aber kann sich uns denn auch wirklich ein Lieben oder Hassen
als richtig zeigen? Ist das eine reale Differenz an solchen Akten,
die sich wahrnehmen läßt?
Diese Frage kann uns nicht mehr in Verlegenheit bringen,
denn analog gestellt wie die Frage, ob ein wahres von einem
Es gibt ein instinktives und ein höheres Gefallen 145

falschen Urteil wahrnehmbar verschieden sei, findet sie auch eine


analoge Antwort.
Wir fanden unter unseren Urteilen durch Evidenz ausgezeich­
nete und solche, denen dieser Charakter fehlt. Ein blindes Urteil
mag mit einem evidenten in allen anderen Stücken überein­
stimmen, solange wir aber über etwas nicht mittelbar oder un­
mittelbar evident urteilen, können wir über seine Wahrheit oder
Falschheit nicht entscheiden. Für ein evidentes aber bedarf es
einer solchen Entscheidung nicht. Es ist als richtig charakterisiert.
Nur indem uns gewisse Urteile einleuchten, bekommt das Wort
„wahr“ einen Sinn. Ohne einen solchen Maßstab, ohne eine
solche Richtschnur für unser Urteilen, wie ihn allein das evidente
Urteil bietet, wäre keine Logik, keine Wissenschaft denkbar.
Es fehlte jeder Unterschied zwischen ursprünglichen oder an­
gewöhnten Glaubenstrieben und jenem höheren Teil unserer
intellektuellen Natur, der uns zu richtigen, einsichtigen Urteilen
determiniert, zwischen dumpfer, tierischer Erwartung aus In­
stinkt oder Gewohnheit und menschlicher Vernunft, die man
um dieses Vorzugs willen mit dem Lichte gegenüber der Finster­
nis, mit der Sehkraft gegenüber der Blindheit verglichen hat. Es
wäre tatsächlich jener Zustand realisiert, den die Skeptiker für
gegeben halten.
Einen analogen Unterschied zwischen un­
serem niederen und höheren Selbst zeigt uns
aber die innere Erfahrung auch für unser
Gefallen und Begehren. Unser Gefallen und Mißfallen ist
oft, ähnlich dem blinden Urteil, nur ein instinktiver, etwa in
der Anlage begründeter oder durch Gewohnheit entstandener
Trieb. So z. B. das Gefallen oder Mißfallen an gewissen Ge-
schmädcen oder Gerüchen und die Lust des Geizigen am An­
häufen des Geldes. Was diese ursprünglichen Instinkte anlangt,
so sind sie 'bei verschiedenen Spezies oft einander entgegengesetzt,
ja sogar bei verschiedenen Individuen derselben Spezies. Sind
nun aber derartige lustvolle oder .unlustvolle, triebartige Gefühle
die einzige Art von Gefallen und Mißfallen? Viele Psychologen
sprechen von keiner anderen. Sie übersehen, daß es auch eine
höhere Klasse von Gemütsbewegungen gibt. Andere aber haben
146 Das Analogon der Urteilsevidenz bei den Gemütsbi zungen
diese „höheren Gemütsbewegungen“ längst erkannt. So haben
wir z. B. von Natur aus ein Gefallen an klarer Einsicht und ein
Mißfallen an Unklarheit und Irrtum. Alle Menschen begehren
von Natur aus nach Wissen, sagt Aristoteles in den Ein­
gangsworten zu seiner Metaphysik. Dieses Begehren ist ein Bei­
spiel, das uns dient. Es ist ein Gefallen von einer
höheren Form von B e w u ß t s e i n s a k t e n und
bildet das Analogon zur Evidenz auf dem
Gebiete des Urteils. Uns Menschen, insoweit unser
seelisches Leben normal funktioniert (also nicht krankhaft ge­
stört oder durch Umwelteinflüsse vollständig verkümmert ist),
kommt diese höhere Form der Gemütstätigkeit allgemein zu.
Würde es Menschen oder eine andere Art von Lebewesen geben,
die dieser höheren Form des Urteilens und Wertens überhaupt
fähig ist und sich hierin entgegengesetjt verhielte, so würden wir,
nicht wie bei der Vorliebe für gewisse Empfindungsqualitäten
sagen, daß sie Geschmackssache ist (De gustibus non est dispu­
tandum), sondern erklären, ein solches Lieben und Hassen sei
grundverkehrt, die Spezies hasse, was unzweifelhaft gut, und
liebe, was schlecht sei. Warum hier so ganz anders? An der
Stärke des Dranges kann es nicht liegen, der ist unter Umständen
beim Gefallen an sinnlicher Lust gleich mächtig. Es liegt in
etwas ganz anderem. Dort bei den Gemeingefühlen ist der Drang
ein instinktiver Trieb, hier ist das natürliche Gefallen eine
höhere, als richtig charakterisierte Liebe. Indem wir diese
in uns finden, erkennen wir das Objekt nicht
bloß als geliebt und liebbar, sondern als lie­
benswert.
Diese Beispiele ließen sich vermehren. Doch wird an späterer
Stelle an uns die Aufgabe, eine Gütertafel zu entwerfen, heran­
treten, hier haben wir nicht den Umfang des Begriffs „gut“
zu erschöpfen, sondern nur Klarheit über den Inhalt zu ge­
winnen. Und diese ist jetjt erreicht. Wir nennen etwas
gut mit Rücksicht darauf, daß das darauf ge­
richtete Lieben als richtig charakterisiert
ist. Analog wie wir einen Gegenstand seiend
nennen, wenn das darauf gerichtete An-
Ursprung des Begriffes „besser“ 147

erkennen unmittelbar oder mittelbar evi­


dent ist.

J 43. Vom Begriff des Besseren

Doch ist die Frage nach den Prinzipien ethischer Erkenntnis


damit noch nicht erschöpft. Wir erkennen ja nicht nur, daß etwas
gut bzw. schlecht ist, sondern auch, daß etwas besser ist als ein
anderes. Hier aber verläßt uns die Analogie zur Richtigkeit
beim Urteil, denn was wahr ist, ist alles gleich wahr. Wie er­
kennen wir nun etwas als das Bessere? Und vor allem: was
heißt: „besser“?
Man hat folgende Antwort versucht: Wenn A ein Gut ist und
B ein Gut ist, dann ist die Summe A plus B mehr des Guten und
dies leuchte a priori ebenso ein, wie daß ein Seiendes plus einem
zweiten Seienden mehr von Seiendem sind. Und alles Bessere
sei ein solches Mehr des Guten und werde durch Addition er­
kannt.
Doch scheint diese Auskunft nicht befriedigend. Liegt denn
immer, wo wir etwas besser finden, ein bloß quantitativer Unter­
schied vor? Ergibt nicht auch die Qualität einen Wertunter­
schied? Und, abgesehen davon, heißt wirklich mehr des Guten
soviel wie besser? Dann müßte doch wohl mehr des Seienden so­
viel wie wahrer heißen! Woher der Unterschied?
Diese Frage weist uns auf eine Eigentümlichkeit des Gemüts­
lebens hin, an der das intellektuelle nicht teilhat. Wenn ich ein
Gut A mehr liebe als ein Gut B, so heißt das nicht, daß ich es
intensiver liebe, sondern daß ich es v o r z i e h e. Dieses Vor­
ziehen ist eine besondere Art der Klasse der Interessephänomene.
Es ist ein beziehentliches Lieben, in seiner Eigentümlichkeit
jedem aus der inneren Erfahrung bekannt und vom einfachen
Lieben unterschieden. Und mit der Besonderheit dieser Art des
Interesses hängt es zusammen, daß, während alles Wahre gleich
wahr ist, nicht alles Gute gleich gut ist. „Besser“ besagt nichts
anderes als das einem anderen gegenüber Vorzüglichere, d. h.
was diesem mit Recht vorgezogen werden kann.
148 Audi Akte des Vorziehens sind ah richtig charakterisiert

Wie aber erkennen wir die Vorzüglichkeit? Nicht als eine an


den Objekten haftende reale Bestimmung. Wie seiend nicht ein
Prädikat besagt, das zu anderen Prädikaten eines Dinges hinzu­
käme, so ist auch gut kein solches Prädikat. Und wie gut, so ist
auch besser keine reale Bestimmung. Wer etwas evident an­
erkennt, von dem sagen wir, er erkenne etwas als seiend; wer
etwas mit als richtig charakterisierter Liebe liebt und sich als
solchen richtig Liebenden wahrnimmt, von dem sagen wir, er
erkenne etwas als gut. So heißt denn auch etwas als besser er­
kennen nichts anderes, als sich als einen erkennen, der es mit
einer als richtig charakterisierten Bevorzugung vorzieht.
Es gibt nämlich unter den vorziehenden Akten des Liebens
ebenso wie unter den schlichten solche höherer und niederer
Ordnung. Manche Bevorzugungen erfolgen rein triebartig, blind,
während andere als richtig charakterisiert sind. Man liebt nicht
nur das Wissen, die Erkenntnis mit Recht, sondern man zieht sie
auch mit einer als richtig charakterisierten Bevorzugung dem
bloßen Glauben oder gar dem Irrtum vor. Auch hier ist das
Verhalten nicht dem Geschmack und Belieben anheimgestellt,
sondern es hat seine Norm an der als richtig charakterisierten
Bevorzugung, und ein dieser Bevorzugung entgegengesetztes
Verhalten ist unrichtig, ist verkehrt. So zieht z. B. auch, wer
Freude mit Erkenntnis bloßer Erkenntnis ohne Freude vorzieht,
richtig vor, und indem er sich als einen in als richtig charakteri­
sierter Weise Vorziehenden erkennt, erkennt er das Ganze dieser
Güter als besser gegenüber jedem der Teile für sich genommen.

§ 44. Abschluß der im § 19 begonnenen Untersuchung darüber,


wie der Anteil des Gefühls am Zustandekommen der ethischen
Erkenntnis mit deren Allgemeingültigkeit im Einklang stehe

1. Damit sind die Fragen beantwortet, die als Vorfragen zur


Frage nach dem richtigen Zweck bezeichnet wurden. Wir wissen
jetjt, was es heißt, etwas sei gut, wir wissen, was es heißt, etwas
sei besser als ein anderes. Jenes heißt, daß es mit Recht geliebt,
dieses daß es mit Recht vorgezogen werden könne. Indem wir
Die Prinzipien der Ethik sind Erkenntnise von Gefühlen 149

uns als etwas mit einer als richtig charakterisierten Liebe liebend
erkennen, erkennen wir es als gut; indem wir uns etwas mit
einer als richtig charakterisierten Bevorzugung vorziehend er­
kennen, erkennen wir es als besser.
Es erwies sich somit die Vermutung, daß die Prinzipien der
Ethik Erkenntnisse von Gefühlen seien, als richtig. Damit aber
sind wir auch der Lösung der Frage nahegekommen, wie der
Anteil des Gefühls am Zustandekommen der ethischen Grund­
erkenntnisse mit ihrer Gültigkeit für alle vernünftigen Wesen
zu vereinen sei.
Nur wer den Unterschied zwischen instinktiven, blinden und
als richtig charakterisierten Gemütstätigkeiten nicht bemerkt hat,
kann durch den Anteil des Gefühls die Allgemeingültigkeit der
Erkenntnis von Gutem und Schlechtem in Frage gestellt glauben.
Ein solcher ethischer Subjektivismus stünde auf gleicher Stufe
mit dem in bezug auf wahr und falsch. Wenn Protagoras,
der Sophist, den Satj aussprach, der Mensch sei das Maß der
Dinge, der seienden, daß sie sind, der nicht seienden, daß sie
nicht sind, so läßt dies erkennen, daß ihm der Unterschied
zwischen evidenten und blinden Urteilen nicht aufgegangen war.
Hat man diesen erfaßt, so erkennt man, daß von zwei einander
widersprechenden Urteilen unmöglich mehr als eines einsichtig
sein kann. Was der eine einsieht, mag einem andefen verborgen
bleiben, aber das Gegenteil kann 'keiner einsehen. Prota­
goras hat seinen Relativismus auch auf gut und schlecht aus­
gedehnt. Aber was vom evidenten Urteil gilt, gilt auch von der
als richtig charakterisierten Gemütstätigkeit. Erkenne ich mein
Lieben und Bevorzugen als richtig, so erkenne ich es auch als
unmöglich, daß einer das gegenteilige Verhalten als richtig er­
kenne. Von zwei einander entgegengesetjten Verhaltungsweisen
des Gemütes kann nur eine als richtig charakterisiert sein.
2. Diese Allgemeingültigkeit des Guten würde nun an sich
noch nicht erklären, wie wir dazu kommen, die Güte einer
ganzen Klasse von Objekten zu erkennen. Wenn sich nämlich ein
Akt als richtig charakterisierter Liebe nur auf ein konkretes, in
unserer Wahrnehmung vorliegendes Objekt bezöge, z. B. auf
einen bestimmten Erkenntnisakt, so wäre damit wohl gesagt.
150 Die als richtig erkannten Gemütstätigkeiten haben allg. Geltung
daß diese Erkenntnis für jedermann liebenswürdig sei, d. h. daß
wer immer sich richtig im Gemüte zu ihr verhielte, sie lieben
müßte. Nicht aber wäre damit ohne weiteres auch die Güte der
ganzen Klasse erkannt. Wenn wir aber Erkenntnis unter das an
sich Gute rechnen, so wollen wir damit offenbar sagen, nicht bloß
dieser betreffende konkrete Erkenntnisakt sei ein Gut, sondern
die Erkenntnis als solche. Wie kommen wir nun zu dieser all­
gemeinen Erkenntnis?
Darauf hat schon Aristoteles die richtige Antwort ge­
geben, indem er sagte, daß wie unsere Urteile auch unsere Ge­
mütstätigkeiten auf Allgemeines gerichtet sein könnten. Wir
zürnen, meinte er, zwar nur dem einzelnen Diebe, der uns be­
stohlen, dem einzelnen Sykophanten, der unsere Arglosigkeit ge­
täuscht hat, hassen aber Diebe und Sykophanten im allgemeinen.
In der Tat ist das bisher über die als richtig charakterisierten
Gemütstätigkeiten Gesagte noch dahin zu ergänzen, daß alle als
richtig charakterisierten Akte des Liebens und Bevorzugens in
dieser Weise allgemein, d. h. auf begrifflich gedachte Objekte
gerichtet sind. Indem wir z. B. Erkenntnis im allgemeinen oder,
was dasselbe sagt, indem wir den allgemeinen Begriff der Er­
kenntnis denken und dieser Begriff der Gemütstätigkeit zu­
grunde liegt, erweist sich diese als ein Analogon nicht der asser­
torischen, sondern der apodiktischen Erkenntnis. So wie die
Axiome durch das Denken allgemeiner Begriffe motiviert sind,
aus den Begriffen (ex terminis) einleuchten, so entspringen auch
die als richtig charakterisierten Akte des Interesses unmittelbar
aus allgemeinen Begriffen. Indem wir einen solchen Akt als
richtig charakterisierter Liebe in uns wahrnehmen, wird uns
darum mit einem Schlage, ohne Induktion besonderer Fälle, die
Güte der ganzen betreffenden Klasse klar. Der Unterschied
gegenüber den Fällen, wo wir auf Grund der allgemeinen Be­
griffe von 2 und 3 erkennen, daß 3 größer ist als 2, liegt nur
darin, daß die Veräusserungen bei einem ethischen Prinzip kom­
plizierter sind. Es müssen nicht nur die Begriffe der Dinge, die
wir als gut erkennen, uns gegeben sein, sondern auch die Er­
fahrung einer auf diese Gegenstände gerichteten, als richtig
charakterisierten Liebe. Wer dieser Erfahrung entbehrte, ver-
Die Begriffe „gut“ und „besser“ sind aus der Erfahrung gewonnen 151
möchte, auch wenn er einerseits über den Begriff des betreffenden
Dinges, z. B. den der Erkenntnis oder den der Freude, und
andererseits über den Begriff einer als richtig charakterisierten
Liebe verfügte, doch nicht zu erkennen, daß es Güter sind. Um
etwas als ein Gut,14 d. h. als liebenswürdig, zu erkennen, muß
man es selbst mit richtiger Liebe -geliebt haben.
3. Sind wir, könnte man fragen, mit dieser Lehre von den
Erkenntnisprinzipien der Ethik zu den Aprioristen oder zu den
Empiristen zu zählen?15
Bei der Beantwortung dieser Frage ist mehreres zu unter­
scheiden. Versteht einer unter Apriorismus hier, daß der Begriff
des Guten a priori sei und ebenso der des Besseren, so sind wir
von einem solchen Apriorismus weit entfernt. Der Begriff einer
als richtig charakterisierten Gemütstätigkeit stammt, wie alle
unsere elementaren Begriffe, aus einer Wahrnehmung, und zwar
aus der inneren Wahrnehmung von Akten dieser Art. Es gibt
überhaupt keine Apriorität auf dem Gebiete des Vorstellens, der
Unterschied zwischen empirischer und apriorischer Erkenntnis
gehört ganz dem Urteilsgebiete an, und zwar sind, wie wir schon
bei der Abwehr der sog. synthetischen Erkenntnisse a priori be­
merkt haben, nur Urteile, die aus den Begriffen einleuchten,
a priori.
Daß die Wahrnehmung als richtig charakterisierter Akte des
Interesses keine Erkenntnis a priori ist, bedarf keiner weiteren
Bemerkung. Wie aber verhält es sich mit allgemeinen Erkennt­
nissen, wie z. B. der, daß Freude als solche oder Erkenntnis als
solche ein Gut sei?
Daß sie nicht einfach aus den Begriffen einleuchten, sondern
als Prämissen der Erfahrung einer auf diese Objekte im all­
gemeinen gerichteten als richtig charakterisierten Liebe bedürfen,
wurde schon oben bemerkt. Es handelt sich also eigentlich um
einen Schluß, wovon diese Erfahrung die eine Prämisse ist,
während die andere in der analytischen Erkenntnis bestellt, daß
von einander entgegengesetzten Gemütstätigkeiten nur eine als
richtig charakterisiert sein kann.
Die letzte Quelle unserer Erkenntnis von Gutem und Besserem
aber sind jedenfalls innere Wahrnehmungen als richtig charakte-
152 Formaler Charakter des bisher Gesagten

risierter, auf allgemeine Gegenstände gerichteter Akte des Lie­


bens und Bevorzugens, und mit Rücksicht darauf haben wir uns
als den empirischen Richtungen zugehörig zu bekennen.
4. So viel hier von den Prinzipien ethischer Erkenntnis. Wir
haben diese aber zunächst nur im allgemeinen erörtert, sozusagen
von der formalen Seite, denn was das Inhaltliche betrifft, so be­
schränkte ich mich bisher auf Beispiele. Es wird in der Folge
unsere Aufgabe sein, die Fälle, in denen wir auf Grund von
Akten eines als richtig charakterisierten Interesses etwas als gut
oder besser als ein anderes erkennen, so vollständig als möglich
uns vorzuführen. Erst wenn das Fundament in dieser Weise ge­
legt ist, läßt sich der Bau der Ethik in logisch zwingender Weise
aufrichten.
Doch seien zunächst noch einige Einwände vorweggenommen,
die gegen unsere Auffassung von ethischen Erkenntnisprinzipien
erhoben werden könnten.
VIII. Kapitel

Einwände gegen die im vorigen Kapitel dargelegte Lehre


von den Prinzipien ethischer Erkenntnis
und Antworten darauf

$ 45. .Bestreitung der Tatsächlichkeit als richtig charakterisierter


GemOtstätigkeiten''

1. Die vorgetragene Lehre beruht auf der Annahme einer aus­


zeichnenden Eigentümlichkeit gewisser Akte des Interesses, ana­
log der Einsicht beim apodiktischen Urteil. Wie wenn nun aber
einer diese Eigentümlichkeit bestreitet? Wie kann man ihn
widerlegen? Es scheint eine Abwehr dagegen nicht möglich und
es fragt sich, ob damit nicht dem ganzen ethischen System der
Boden entzogen würde.
2. Die bezeichnete Eigentümlichkeit wäre, wird behauptet, ein
vollständiges Novum, wie aber könnte dies sein, wenn die
Eigentümlichkeit Tatsache wäre? Man müßte sie dann doch wohl
längst schon bemerkt haben. Einfachheit ist der Theorie nicht ab­
zusprechen, aber gerade darum hätte sie nicht auf uns warten
müssen, um gefunden zu werden, wenn sie in den Tatsachen be­
gründet wäre.
3. Noch aus einem anderen Grunde ist, sagen andere, eine
solche Lehre über die ethischen Prinzipien bedenklich. Wenn
einer die Prinzipien nicht kennt, wie soll er zu Schlüssen ge­
langen? Soll man etwa alle bisherige Ethik in Abrede stellen?
Oder erkennt man sie an? Wie aber erklärt sich dann, daß die
Menschen schon vorher zu richtigen Resultaten gelangt sind?
Ist das ein Zufall oder eine wunderbare prästabilierte Har­
monie?
154 Innerer Widerspruch des Relativismus

Antwort: ad 1. Die Erfahrung zeigt unmittelbar die aus­


zeichnende Eigentümlichkeit gewisser Akte des Liebens und Be­
vorzugens; mit Recht kann sie also nicht geleugnet werden.
Damit ist alles gegeben, was nötig ist, um auf sicherem Grunde
zu bauen. Wenn das Fundament nur mit Unrecht angezweifelt
wird, so kann uns das nicht beirren.
So könnte auch das Auszeichnende der Evidenz geleugnet wer­
den und wurde und wird geleugnet, d. h. es wurde bestritten,
daß sie die Wahrheit garantiert. Freilich sind die Leugner meist
so inkonsequent, keine Skeptiker sein zu wollen. Sie möchten
gleichwohl unter unseren Urteilen wahre und falsche unter­
schieden wissen, und fragt man sie, was denn den Unterschied
ausmache, so sagen sie, es sei die allgemeine Übereinstimmung
im Urteilen. Wo diese bestehe, sei das Urteil wahr zu nennen,
wo sie fehle, falsch. Fragt man weiter, woran man denn diese
Übereinstimmung erkenne, so wissen sie nichts zu sagen oder
verwickeln sich in einen Zirkel. Auch wäre die allgemeine Über­
einstimmung, selbst wo sie bestünde und feststellbar wäre, doch
kein Ersatj für Einsicht. Konsequenter sind darum die alten
Skeptiker mit ihrer Lehre von der Willkürlichkeit der Prin­
zipien. Aber konsequent sind auch sie nicht, kein Skeptiker kann
es sein. Denn wenn es keine Einsicht gibt, so auch nicht die in
die Unmöglichkeit der Erkenntnis. Nicht einmal die Behauptung
wäre berechtigt, daß die Prinzipien willkürlich seien, ja jede
Aussage über etwas wäre ein Abfall von der Grundthese. Darum
fand schon Aristoteles es als das einzig einem Skeptiker
Angemessene, sich schweigend zu verhalten, womit er dann natür­
lich auch der Möglichkeit beraubt ist, den Skeptizismus zu lehren.
Es gibt aber, wie gesagt, unter ctaien, welche den Unterschied
zwischen evidenten und blinden Urteilen nicht anerkennen, auch
solche, die gleichwohl nicht Skeptiker sein wollen. Auch weisen
sie die Zumutung zurück, daß sie die Übereinstimmung der
Urteilenden zum Kriterium der Wahrheit machen wollten. Fragt
man dann, was sie unter einem wahren Urteil verstehen und
was unter einem falschen, so bleibt ihnen keine Antwort als:
Das Urteil „A ist“ ist wahr, wenn ich A anerkenne, ohne einen
Zweifel zu hegen; das Urteil „A ist nicht“ ist wahr, wenn ich
Psydiologismus 155

A verwerfe, ohne einen Zweifel zu hegen. Falsch nennen sie ein


Urteil, das dem ihren entgegengesetjt ist. Wer an Gott glaubt,
sagt der Atheist, urteilt falsch. Wer Gott leugnet, sagt der
Theist, urteilt falsch.
Natürlich können nach dieser Lehre entgegengesetzte Urteile
beide falsch sein, womit der Satj des Widerspruchs aufgehoben
und der extreme Skeptizismus erreicht ist. Audi muß man fragen,
ob es auf diesem Standpunkt einen Sinn hat, etwas beweisen zu
wollen. Nadi der üblichen Auffassung heißt beweisen, ein Urteil
aus evidenten Urteilen ableiten. Für den, der keinerlei evidente
Urteile kennt, fällt somit der Unterschied von Urteilen, die eines
Beweises bedürfen und nicht bedürfen, weg. Es bliebe also nur
der zwischen Urteilen, die überzeugt, und solchen, die mit
Zweifel gefällt werden; aber was heißt hier Zweifel? Woran
wird gezweifelt? Daran, daß das Urteil gefällt wird, oder daran,
daß es wahr ist? Offenbar bedeutet Zweifel das letztere. Dann
aber ist die Definition des wahren Urteils als eines solchen, das
man fällt, ohne an seiner Wahrheit zu zweifeln, unbrauchbar,
weil der Begriff des Zweifels bereits den des wahren Urteils
voraussetjt.
In neuerer Zeit ist die Lehre von der Evidenz und ihrem
Analogon auf dem Gebiete der Gemütstätigkeiten als „Psycho-
logismus“ bezeichnet worden. Husserl, der Begründer der
Phänomenologie, hat diesen Namen geprägt. Die Psychologisten
fassen die Evidenz als „Gefühl der Überzeugung“ auf. Aber
ein Gefühl der Überzeugung könne die Wahrheit des betreffen­
den Urteils nicht verbürgen und führe zum Relativismus, weil
jedes Urteil, das mit diesem geheimnisvollen Evidenzgefühl aus­
gestattet ist, wahr wäre und daher bei anderen Wesen Urteile,
die unseren „evidenten“ entgegengesetzt sind, diesen Bewußt­
seinsindex tragen könnten. Es ist jedoch eine gänzliche Ver­
kehrung des Phänomens der Evidenz, wenn man sie als ein
„Gefühl der Überzeugung“ bezeichnet. Überzeugt ist jeder naive
Mensch von der Wahrheit der äußeren Wahrnehmung, d. h. er
verlegt das, was er sieht, hört und tastet, mit Selbstverständlich­
keit in die Außenwelt, aber es fehlt ihm die innere Einsicht.
Drang zur Zustimmung ist kein Erkennen.18
156 Konsequenzen des ethischen Relativismus

Indem man diejenigen, welche zunächst den eigentümlichen


Unterschied zwischen evidenten und blinden Urteilen nicht zu
bemerken vermochten, auf die Tragweite dieses Übersehens auf­
merksam macht, schafft man, wie die Erfahrung zeigt, eine Be­
dingung dafür, daß sie den Unterschied zugeben. Es ist dies
leicht verständlich. Um nämlich zu verstehen, was wir mit dem
Hinweis auf diese Konsequenz meinen, müssen sie selbst wieder­
holt von der Unterscheidung Gebrauch machen, denn darauf zielt
ja die ganze Diskussion ab. Ähnlich kann man denn auch ver­
fahren, wo es sich um die Unterscheidung zwischen blinden und
als richtig charakterisierten Interessephänomenen handelt. Man
lege vor allem Beispiele von als richtig charakterisiertem und
blindem Lieben und Bevorzugen vor. Ist dies zunächst ohne
Frucht, so mache man die Tragweite der Leugnung klar.
Wie beim Urteil mit der Leugnung der Evidenz der Unter­
schied von wahr und falsch und die Allgemeinheit, d. h. Über­
einstimmung der Urteilenden, 'kein Ersa§ sein können, so fällt
hier mit der Leugnung der als richtig charakterisierten Liebe und
Bevorzugung der Unterschied von liebenswürdig, vorzugswürdig
und liebbar, vorziehbar weg, zwischen dem, was faktisch begehrt
wird, und dem, was begehrenswert ist. Der Versuch, die All­
gemeinheit der Liebe und Bevorzugung in unserer menschlichen
Spezies als das Unterscheidende geltend zu machen, führt, wie
wir früher schon erkannt haben, nicht zum Ziel. Ein solches
psychologisches Gesetj, daß alle gewisse Objekte lieben, andere
hassen, wäre ja kein Gesetj im Sinne der Ethik.
Wenn im vorigen Falle überhaupt keine Erkenntnis, so wäre
in diesem keine ethische Erkenntnis möglich. Es blieben nur
etwa gewisse Grundsätze der Psychologie des Begehrens übrig.
Wer sich damit begnügt, mit dem ist nicht zu streiten; nur soll
er dann nicht von Ethik reden und durch den äquivoken Ge­
brauch dieses Terminus Verwirrung stiften.
Richtige Genifitstätigkeiten hätten längst entdeckt werden müssen 157

5 46. «Eine so einfache Tatsache hatte nicht so lange


auf den Entdecker zu warten gehabt*

ad 2. Daß eine auszeichnende Eigentümlichkeit so lange un­


bemerkt geblieben, daß eine so einfache Wahrheit nicht längst
festgestellt worden sei, mag dem unwahrscheinlich Vorkommen,
der die Geschichte der Philosophie nicht kennt. Wer sie kennt,
für den hat der Einwand kein besonderes Gewicht In gar vielen
Fällen haben die Philosophen bis 'zur Stunde das Einfachste
übersehen, sogar wenn an dieses Übersehen die befremdlichsten
Konsequenzen sich knüpfen mußten. Selbst auf Gebieten, wo sie
am eifrigsten tätig waren. So gaben sie sich mit der Logik mehr
ab als mit der Ethik, und viele meinen, hier volle Sicherheit und
Vollständigkeit erreicht zu haben. Und doch läßt sich zeigen,
daß auch die Logiker große Verstöße begangen und wesentliche
Probleme übersehen haben.
Beispiele: Noch heute ist eine falsche Auffassung vom Wesen
des Urteils, als bestünde es in einer Synthese von Begriffen,
schier allgemein. Noch heute wird der negative Charakter der
sog. allgemein bejahenden Aussage verkannt. Auch werden
Worte wie Existenz, Möglichkeit, Gesetj wegen ihres substanti­
vischen Aussehens für echte Namen gehalten, was viele vergeb­
liche Bemühungen zur Folge hatte, die zugehörigen Begriffe an­
zugeben und zu analysieren, während es sich in Wahrheit über­
haupt nicht um Namen, sondern bloß um mitbedeutende Zeichen
handelt. Zu den seltsamsten Mängeln aber zählt wohl das völlige
Übersehen der Urteilsevidenz in zahlreichen Lehrbüchern der
Logik.
Die Tatsache, daß eine gewisse Eigentümlichkeit allgemein
verkannt oder übersehen wurde, beweist also keineswegs etwas
gegen ihr Vorhandensein, sondern belegt nur die Schwierigkeit,
die es hat, das innerlich Wahrgenommene zu bemerken und be­
grifflich festzuhalten.
Aber ist denn die Lehre von der Urteilsevidenz und ihrem
Analogon auf dem Gebiete der Gemütstätigkeit wirklich neu?
In gewissem Sinne wohl, aber nicht so, daß nicht viele schon
Ähnliches behauptet hätten. Man kann nicht sagen, daß die von
158 Vorläufer der Evidenzlehre

uns hervorgehobene Eigentümlichkeit ganz unbemerkt geblieben


war, sondern nur etwa, daß sie nicht erschöpfend analysiert
wurde und daß sich bei der Bestimmung derselben irrige Mei­
nungen einmengten.
Allgemein wird gut im Sinne des in sich Wertvollen von gut
im Sinne des Nützlichen unterschieden. Wertvoll aber wird mit
Werten, in Verbindung gebracht und von diesem nicht verkannt,
daß es ein Interessephänomen ist. Auch wird dem Liebbaren das
Liebenswürdige gegenübergestellt, ähnlich wie man beim Urteil
unterscheidet, ob etwas geglaubt wird, und ob es den Glauben
verdient. Ja, man spricht ausdrücklich von sittlich Richtigem und
Unrichtigem. Aristoteles spricht von ö$t)ä>a und ö™ ös^cüo
öeiysaßa ; ja er geht weiter und findet jenes in einer besonderen Art
des Begehrens, die er ßovlrjoia im Gegensat} zu snißv^ia nennt,
gegeben. Jenes sei auf ein ov aya&fo gerichtet, dieses auf ein
tpaivopevov äya&ör.
Aber auch in der Gewissensstimme, welche die christliche Ethik
annimmt und die viele Philosophen als das entscheidende Mo­
ment ansehen, tritt uns die Erkenntnis entgegen, daß es ein
Liebens- und Hassenswertes, d. h. Gutes und Schlechtes gibt.
Ja, wir werden nicht fehlgehen, wenn wir auch den „inneren
Geschmack“ von D a v i d H u m e und den „moralischen In­
stinkt“ von Leibniz auf Werterkenntnis zurückführen, wenn
auch getrübt durch Vermengung von instinktivem und einsichts­
vollem Lieben.17

$ 47. »Wie konnte man in Unkenntnis dieser Prinzipien doch


zu richtigen ethischen Erkenntnissen gelangen?“

ad 3. a) Wie stellen wir uns zu allem, was den Menschen bis­


her für gut und böse gegolten hatte? Wollen wir eine ganz neue
Ethik aufstellen? Keineswegs, es wird sich vielmehr zeigen, daß
unsere Prinzipien, wenn auch im einzelnen zu mancher Be­
richtigung, im wesentlichen zur Rechtfertigung der als sittlich
anerkannten Gebote führen werden.
Sind also die anderen zur Erkenntnis der Schlüsse ohne die
Die bisherigen ethischen Gesetje werden nicht aufgegeben 159

Prämissen gelangt? Welcher Zufall oder welche wunderbare


prästabilierte Harmonie! Antwort: Keines von beiden, denn auch
bei ihren Ergebnissen waren die gleichen Prämissen wirksam,
wenn auch nicht ausdrücklich als solche erkannt. Es findet sich
vieles in unserem Erkenntnisschatje und wird in neuen Erkennt­
nissen fruchtbar, ohne daß wir uns den Prozeß deutlich zum
Bewußtsein bringen. Jahrhunderte schon hatten die Menschen
richtige Schlüsse gezogen, ohne sich reflektierend ihr Verfahren
und die Prinzipien, welche die formelle Gültigkeit der Folge­
rungen ‘bedingen, klar und deutlich zu machen. Ja, als Platon
zuerst darüber reflektierte, begegnete es ihm, daß er eine ganz
falsche Theorie aufstellte. Er meinte, man habe es bei jedem
Schluß mit einem Prozeß der Wiedererinnerung zu tun. Was
man auf Erden wahrnehme und erfahre, rufe Erkenntnisse ins
Gedächtnis zurück, die wir durch unmittelbare Schau in einem
vorirdischen Leben erworben hätten. Und wenn man heute noch
einen, der sich nicht explizit mit Logik beschäftigt hat, auf­
fordert, die Prämissen eines Schlusses, den er eben gezogen hat,
anzugeben, so wird er es gewöhnlich nicht zustande bringen,
sondern ganz falsche Angaben machen. Ebenso wenn man ihn
einen Begriff, der ihm in der Anwendung ganz geläufig ist, de­
finieren läßt. Man sieht: Denken und richtiges Beschreiben des
Denkprözesses sind zweierlei. Es kommt sogar bei den Mathe­
matikern vor, daß sie bei ihren Beweisen sich nicht genügend
Rechenschaft über die darin zur Anwendung gebrachten Grund-
sätje geben. Daher der Streit über die Grundlagen der Mathe­
matik.
So gelingt z. B. ein Beweis für den Satj „Die Gerade ist die
kürzeste Linie zwischen zwei Punkten“ nur auf Grund der An­
nahme, daß es zwischen zwei Punkten nur eine einzige
geben kann.18 Aber der Anwendung dieses Satjes
Mathematiker zumeist keine Aufmerksamkeit,
nicht unmittelbar ein, sondern erst wenn man gründe
legt, „Gleiche Richtungen, in gleicher Weise ver
gleiche Richtungen“. Doch nirgends findet
den Prinzipien angeführt, ja es fehlt nicht
welche sich einbilden, bei ihren geometri
160 Die ethischen Prinzipien wurden befolgt,

Richtungsbegriffes gar nicht zu bedürfen. Erst auf Umwegen muß


man ihnen begreiflich machen, daß sie ihn nötig haben. Am
zweckmäßigsten wird man dabei an das fast von allen ohne
weiteres gemachte Zugeständnis anknüpfen können, daß wir
keine speziellen Begriffe von absoluten Orten besitzen, sondern
durchwegs auf relative Ortsbestimmungen angewiesen sind. Das
aber heißt nichts anderes, als daß wir nur Begriffe von räum­
lichen Abständen und ihren Unterschieden in bezug auf Größe
und Richtung besitjen.
Ähnlich sind denn auch ethische Prinzipien wirksam, über die
man sich nicht im einzelnen Rechenschaft zu geben vermag. Ohne
daß sie ihnen vollkommen deutlich geworden wären, sind sie
doch bei Laien und Philosophen nachweisbar und ihre Spuren
verraten sich mannigfach. Wer ist z. B., der nicht die Freude,
wenn es nicht gerade die Freude an Schlechtem wäre, für etwas
evident Gutes zu erklären Bedenken trüge? Aber auch dem
inneren Wert der Erkenntnis verschließen sie sich nicht. Ja,
manche Philosophen haben gerade diese als das vornehmste Gut
über alle anderen Güter emporgehoben, doch erkannten sie dabei
auch jedem Tugendakt einen gewissen inneren Wert zu, und
andere sahen in solchen das Höchste der Güter.
Wenden wir uns zu den Prinzipien des Vorziehens. Wie oft
wird dem Prinzip der Summierung19 Rechnung getragen? Wer
leugnet, daß das Maß des Glücks des ganzen Lebens, nicht das des
Augenblicks, in Betracht kommt? Selbst E p i k u r mußte das
zugeben, wenn auch nicht recht im Einklang mit seiner eigenen
Lehre. Und Aristoteles galt das Wohl des ganzen Volkes
als höherer Zweck als das eigene. Auch in dem Verlangen nach
persönlicher Unsterblichkeit zeigt sich die Wirkung dieses Vor­
zugsprinzips. So sagte Helmholtz (in einem Vortrage über
die Entstehung des Planetensystems): „Es kann der einzelne,
wenn was wir erringen, das Leben unserer Nachkommen ver­
edeln wird, den Gedanken, daß der Faden seines eigenen Be­
wußtseins einst abreißen wird, ohne Furcht ertragen. Aber mit
dem Gedanken an eine endliche Vernichtung des Geschlechtes der
Lebenden und damit aller Früchte des Strebens aller vergange­
nen Generationen konnten auch Männer von so freier und großer
aber nicht klar erkannt 161

Gesinnung wie Lessing und David Strauß sich nicht


versöhnen.“ Wenn sich nun naturwissenschaftlich ergibt, daß die
Erde einmal unfähig sein wird, lebende Wesen zu beherbergen,
so kehrt, meint er, das Bedürfnis nach persönlicher Fortdauer
unabweislich wieder und man fühlt sich gedrängt, Umschau zu
halten, wo sich etwa eine Möglichkeit dafür erschließe.
Auch die Volksreligionen werden den Prinzipien richtiger
Bevorzugung gerecht. Wenn das Christentum die Weisung gibt,
den Nächsten zu lieben wie sich selbst, so lehrt es, daß bei richti­
ger Bevorzugung das gleiche Gut, sei es eigenes oder fremdes,
mit gleichem Gewichte in die Waage falle. Daraus folgt dann
die unterordnende Hingabe des einzelnen an das kollektive
Ganze. Auch in dem Gebote „Liebe Gott über alles“ wird davon
die Anwendung gemacht, denn man denkt sich Gott als Inbegriff
alles Guten in unendlicher Steigerung.
So erweisen sich denn die von uns genannten Prinzipien als
wirksam, und dies erklärt zum Teil wenigstens die anfänglich so
paradox anmutende Übereinstimmung im Ergebnis.
b) Aber selbst wenn die richtigen Erkenntnisprinzipien in den
Menschen nicht wirksam gewesen wären oder in weit geringerem
Umfange, hätte es zu einer wenigstens äußerlich ähnlichen Ent­
wicklung kommen können. Es wirken nämlich auch andere Kräfte
in dieser Richtung. Viele ethische Maximen sind auf logisch und
ethisch unzulängliche Weise zustande gekommen. Sie stammen
aus niederen Trieben, aus selbstischen Gelüsten, und auch die Um­
bildung, die sie in der Richtung auf das Ganze wohl im Laufe
der Geschichte erfahren haben, ist durchaus nicht immer auf
Grund höherer Einsicht erfolgt. Der Drang der Gewohnheit hat
dazu geführt. Die Utilitarier heben mit Recht hervor, schon der
Egoismus empfehle es, sich anderen gefällig zu erweisen, und
ein solches Verfahren, fort und fort geübt, führe dann schließlich
zu einer für den ursprünglichen Zweck uneinsichtigen, also
blinden Gewohnheit. Die sog. Enge des Bewußtseins ist bei
diesem Prozeß mitbeteiligt, sie gestattet uns nämlich nicht, bei
dem, was zunächst in Frage kommt, den ferneren und lebten
Zweck immer deutlich im Auge zu behalten.
So konnte es im Laufe der Geschichte oft sich ereignen, daß
162 Audi die Gewohnheit erklärt manche Übereinstimmungen

ein Übermächtiger Schwache sich egoistisch unterwarf und sie


unter dem Einfluß der Gewohnheit zu willigen Knechten erzog.
Und in ihren Sklavenseelen wirkte dann der Befehl des Herrn
wie ein treibendes „Du sollst“, als wäre es auf Grund einer
unmittelbaren Einsicht in die Berechtigung der Gebote. Bei jeder
Verlegung des Befehls fühlten sie sich innerlich gequält wie
wohldressierte Hunde. Hatte ein solcher Gewaltiger sich viele
unterworfen, so gab er schon aus Egoismus Gebote, welche dem
Bestände seiner Herde förderlich waren. Diese Gebote wurden
ihnen zur zweiten Natur. So wurde die Rücksicht auf das Ganze
etwas, wozu sie sich gedrängt fanden. Und auf der anderen
Seite mochte der Gewalthaber selbst dann mit der Zeit das
Wohl seiner Herde gewohnheitsmäßig lieben, so daß er sich
sogar dafür aufopferte wie der Geizige für seine Schätje. Bei
diesem ganzen Prozeß brauchten ethische Erkenntnisse keinen
Einfluß zu üben. Aber man versteht, wie die Entwicklung bei
Ergebnissen anlangt, die inhaltlich mit richtigen ethischen Ge­
boten übereinstimmen.
Der Prozeß hat seine Analogie auf intellektuellem Gebiete.
Ein Beispiel: Wir glauben alle von der ersten Kindheit an an
eine uns umgebende Außenwelt, die wir zunächst ganz mit den
Gegenständen unserer sinnlichen Wahrnehmung identifizieren.
Mit der Zeit gelangen wir dazu, an diesem Bilde einige Korrek­
turen vorzunehmen, aber der Glaube an die Existenz einer
körperlichen Welt bleibt aufrecht. Dabei geht es sehr wenig
logisch zu. Wir sind von Instinkt und Gewohnheit in unseren
Urteilen über die Ursachen unserer wechselnden sinnlichen Wahr­
nehmungen geführt. Und doch käme eine Induktion, nach den
Grundsätjen der Währscheinlichkeitslehre vollzogen, im wesent­
lichen zum selben Ergebnis.
So scheint denn auch die dritte Schwierigkeit befriedigend
gelöst. Übrigens bestünde sie nicht für uns allein, sondern für
jedes ethische System. Denn so Entgegengesetjtes die Philosophen
über die Prinzipien ethischer Erkenntnis vorbringen, so stimmen
sie doch alle in bezug auf spezielle Sätje, Gebote und Verbote,
überein.
ZWEITER ABSCHNITT

VOM HOECHSTEN PRAKTISCHEN GUT


I. Kapitel

Der Hedonismus20

§ 48. Benthams Klassifikation der Güter und Übel

Die erste Anwendung, die wir von den Ergebnissen der Unter­
suchung über die Prinzipien der ethischen Erkenntnis zu machen
haben, betrifft die noch immer nicht beantwortete Frage nach
dem richtigen Zweck unseres Handelns. Wir wissen, daß er in
dem Besten, das für uns erreichbar ist, bestehen muß; wir wissen,
was „gut“, was „besser“ heißt und wie man etwas als gut und
als besser erkennt. Wir werden aber auch noch zu prüfen haben,
worin im einzelnen der richtige Zweck besteht. Um dies fest­
zustellen, müssen wir untersuchen:
1. Was für Güter und Übel es gibt, d. h. wir haben eine sog.
Gütertafel und ihr Gegenstück zu entwerfen und dabei ins­
besondere festzustellen, ob als Güter und Übel nur solches, was
im Bereiche der eigenen Seelentätigkeiten liegt, in Betracht
komme, oder auch außerhalb dieser Gelegenes.
2. Wir werden die Güter und Übel zur Bestimmung ihres
Wertverhältnisses miteinander m vergleichen haben. Dabei sind
die Gesetje des richtigen Vorziehens so vollständig als möglich
aufzustellen.
3. Dann werden wir vom höchsten Gute zu sprechen haben,
vom höchsten Gute schlechthin und vom höchsten praktischen
Gute.
4. Diese letjte Frage erfordert ein Eingeben auch auf das
Nützliche und Schädliche, wovon einige der wichtigsten Klassen
namhaft zu machen sein werden.
Es gibt Moralphilosophen, die sich gar nicht mit der Güter-
166 Benthams Einteilung der einfachen Vergnügen

lehre befaßt haben. Die es aber taten, schritten zumeist sofort


zur Feststellung des höchsten Gutes, ohne sich auf eine Klassi­
fikation der Güter überhaupt einzulassen. Doch ist leicht zu er­
kennen, daß ohne eine solche die Frage nach dem höchsten Gute
sich nicht gründlich behandeln läßt, denn unter diesem wird ja
das zu verstehen sein, was unter den Gütern das Beste ist.
Jeremy Bentham (vgl. S. 98) ist es fast allein, der hier eine
rühmliche Ausnahme macht. Schon in seinem ältesten ethischen
Werke „Introduction to the principles of morals and législation“
gibt er eine ausführliche Klassifikation sowohl der Güter als der
Übel. Mit unbedeutenden Änderungen kehrt sie in den von
Dumont nach Benthams Handschriften redigierten „Traité
de la législation civile et pénale“ und abermals, und zwar genau
in der ursprünglichen Fassung, in seinem nach seinem Tode ver­
öffentlichten Werk „Déontologie“ wieder (herausg. von John
B o w r i n g).
Bentham sagt, daß er zu seiner Klassifikation auf Grund
einer Analyse der menschlichen Natur gelangt sei, unterläßt es
aber, diese mitzuteilen. Da aber, wie wir schon hörten, für ihn
das in sich Gute soviel 'besagt wie Lust und Freiheit von Schmerz,
das in sich Schlechte das Gegenteil, so enthält seine Klassifikation
nichts als Fälle von Lust und Schmerz.
Vor allem teilt Bentham die Eindrücke, die uns als freudig
oder schmerzlich interessieren, in einfache und zusammengesetjte
ein. Einfach sind sie, wenn man sie nicht weiter zerlegen kann,
zusammengesetjt, wenn in ihnen eine Mehrheit von (einfachen)
Vergnügen oder (einfachen) Schmerzen oder von beiden zugleich
gegeben ist. Was uns dazu bestimmt, mehrere Vergnügen als
e i n komplexes Vergnügen anzusehen, ist ihr Ursprung aus der
Tätigkeit einer und derselben Ursache. Es kommt also alles auf
die Klassifikation der einfachen Vergnügen und Leiden an.
A. Einfache Vergnügen:
1. Vergnügen der Sinne (des Geschmacks, Geruchs, Gesichts,
Gehörs, Gefühls; diejenigen, welche aus der geschlechtlichen
Organisation entspringen; das Wohlgefühl der Gesundheit; end­
lich der Reiz der Neuheit).
2. Vergnügen des Reichtums, d. i. am Besitze einer Sache, die
auf Grund verschiedener Fälle von Lust 167
ein Mittel des Genusses und der Sicherheit ist. Es ist am leb­
haftesten im Augenblicke des Erwerbes.
3. Vergnügen der Geschicklichkeit. Wer selbst ein Instrument
spielt, hat dabei ein Vergnügen anderer Art, als wenn er einen
anderen spielen hörte. Es äußert sich bei überwundener Schwie­
rigkeit, bei ausgebildeter Fertigkeit. Hieher scheint Bentham
auch die Freude über eine eigene wissenschaftliche Entdeckung
zu zählen, das Heureka des Archimedes.
4. Vergnügen der Freundschaft, geknüpft an die Überzeugung,
daß man jemandes Wohlwollen besitje und infolgedessen von
ihm gute Dienste erwarten dürfe.
5. Vergnügen des guten Rufes, geknüpft an die Überzeugung
von der Achtung und vom Wohlwollen weiterer Kreise, von
denen infolgedessen im gegebenen Falle gute Dienste zu er­
warten seien.
6. Vergnügen der Macht, d. h. der Herrschaft über andere,
im Bewußtsein der Mittel, über die anderen durch ihre Besorg­
nisse und Hoffnungen verfügen zu können.
7. Vergnügen der Frömmigkeit, infolge der Überzeugung,
Gottes Gunst teilhaftig zu sein oder zu werden und so in diesem
oder jenem Leben besonderer Gnade gewürdigt zu sein.
8. Vergnügen des Wohlwollens, m. a. W. der Sympathie oder
der sozialen Neigungen. Wir genießen sie im Gedanken an das
Glück uns lieber Menschen. Die Kraft dieser Neigungen kann
sich auf einen engeren oder weiteren Kreis, ja auf die ganze
Menschheit erstrecken. Auch auf Tiere kann unser Wohlwollen
sich richten.
9. Vergnügen des Übelwollens, m. a. W. der zürnenden
Leidenschaften, der Antipathie, der antisozialen Neigungen. Sie
entspringen aus dem Anblick oder aus der Vorstellung der Men­
schen oder Tiere, die wir hassen.
10. Vergnügen des Gedächtnisses. Wenn wir ein Vergnügen
genossen haben, unter Umständen auch, wenn wir eine Pein er­
litten haben, lieben wir, sie uns in der Erinnerung auszumalen.
Diese Vergnügen sind so mannigfaltig wie das, woran wir uns
erinnern. (Die Gedächtniselemente können dabei eine veränderte
und verschönernde Anordnung erfahren.)
168 Die zusammengesetzten Vergnügen

11. Vergnügen der Einbildungskraft. Neue Ideen in Künsten


und Wissenschaften, welche die Wißbegierde interessieren, sind
Vergnügen für die Einbildungskraft, die dadurch das Feld ihrer
Genüsse erweitert sieht.
12. Vergnügen der Hoffnung, beim Gedanken an ein kommen­
des und erwartetes Vergnügen.
13. Vergnügen der Assoziation. Gewisse Gegenstände, die an
und für sich kein Vergnügen gewähren würden, sind im Geiste
mit angenehmen Objekten verknüpft und nehmen so teil an der
Annehmlichkeit.
14. Vergnügen der Erleichterung oder Befreiung. Sie sind auf
Leiden begründet. Hört ein Schmerz, den wir erleiden, auf oder
läßt er nach, so ist dies eine Lust und oft eine lebhafte. Diese
Vergnügen sind so mannigfach wie die Leiden, aus welchen sie
hervorgehen. (Sokrates im Phädon. Ä s o p s Fabel.)
Diese 14 Elemente bilden nach Bentham das gesamte Ma­
terial unserer Genüsse. Alle anderen sind aus ihnen zusammen­
gesetzt, doch bedarf es der Aufmerksamkeit und Übung, um im
einzelnen Fall die Bestandteile herauszuanalysieren. Dumont:
„Das Vergnügen, das uns der Anblick einer ländlichen Gegend
gewährt, setjt sich zusammen aus den Vergnügen der Sinne, der
Einbildungskraft und der Sympathie. Die Mannigfaltigkeit der
Gegenstände, die Blumen, Farben, die schönen Baumformen, die
Mischung von Licht und Schatten erfreuen das Auge, dem Ohre
schmeichelt der Gesang der Vögel, das Murmeln der Quelle, das
leise Rauschen der Blätter im Winde. Die Luft, erfüllt mit dem
Dufte frischer Vegetation, führt dem Geruchssinn angenehme
Empfindungen zu, während ihre Reinheit und Leichtigkeit den
Umlauf des Blutes beschleunigt und die Bewegung erleichtert.
Einbildungskraft undWohlwollen verschönern noch die Szene, in­
dem sie in uns die Vorstellungen von Reichtum, Überfluß, üppiger
Fruchtbarkeit erwecken. Die Unschuld und das stille Glück der
Vögel, der Herden, Haustiere kontrastieren angenehm mit der
Erinnerung an die Mühen und Aufregungen unseres städtischen
Lebens. Wir schreiben der ländlichen Bevölkerung all die Ge­
nüsse zu, die uns durch die Neuheit dieses Erlebens zuteil
werden. Endlich mehrt das Dankgefühl gegen das höchste Wesen,
Benthams Einteilung der einfachen Leiden 169
das wir als den Urheber aller dieser Wohltaten verehren, unser
Vertrauen und unsere Bewunderung.“
B. Einfache Leiden.
1. Leiden der Entbehrung und Beraubung, wo der Mangel
oder der Entfall eines Vergnügens uns Kummer bereitet. Vor­
nehmlich drei Modifikationen:
a) Pein des Verlangens, d. h. des unbefriedigten Verlangens
(wenn die Furcht, ein gewünschtes Vergnügen nicht zu erlangen,
die Hoffnung überwiegt).
b) Pein der Enttäuschung, bei plötjlicher Zerstörung einer zu­
versichtlich gehegten Erwartung.
c) Pein des Bedauerns bei eintretendem Verlust, wozu auch die
Enttäuschung gehört in bezug auf ein Gut, das wir zu besitzen
geglaubt hatten. (Die Pein der Langweile geht nicht auf dieses
oder jenes Objekt im einzelnen, sondern auf den Mangel an
angenehmen Gefühlen überhaupt zurück.)
2. Schmerzen der Sinne. B e n t h a m unterscheidet neun Arten:
Hunger, Durst, schlechter Geschmack, schlechter Geruch, peinliche
Gefühls-(Tast-) Eindrücke, Gehörs-, Gesichtseindrücke, die uns,
unabhängig von jeder Assoziation, beleidigen; übergroße Hitje
oder Kälte; Krankheiten aller Art, endlich geistige oder körper­
liche Ermüdung.
3. Pein der Ungeschicklichkeit. Bei fruchtlosen Versuchen oder
beschwerlichen Anstrengungen beim Gebrauche der verschieden­
artigen Mittel, die dem Vergnügen oder Bedürfnis dienen.
4. Pein der Feindschaft, wenn wir uns Gegenstand des Übel­
wollens einer Person glauben und Schlimmes von ihr zu erwarten
haben.
5. Pein des schlechten Rufes (auch Pein der Unehre oder der
populären Sanktion), wenn jemand glaubt, er sei Gegenstand des
Übelwollens oder Mißfallens der ihn umgebenden Welt oder sei
in Gefahr, sich solches zuzuriehen.
6. Die Leiden der Frömmigkeit, entspringend aus der Furcht,
das höchste Wesen beleidigt zu haben und sich in diesem oder
jenem Leben seine Strafe zuzuriehen (hegt man sie begründet,
so spricht man von Gottesfurcht; hegt man sie unbegründet, von
abergläubischer Besorgnis).
170 Die zusammengesetzten Leiden

7. Leiden des Wohlwollens, der Sympathie, der sozialen Nei­


gungen beim Anblick oder Gedanken an das Leid von Neben­
menschen oder Tieren.
8. Leiden des Übelwollens, der Antipathie, der antisozialen
Neigungen: der Schmerz beim Gedanken an das Glück solcher,
die man haßt.
9. Leiden des Gedächtnisses.
10. Leiden der Einbildungskraft.
11. Leiden der Furcht.
12. Leiden der Assoziation.
Die unter 9. bis 12. aufgezählten Leiden sind das genaue
Gegenteil der Vergnügen dieses Namens.
Ähnlich wie die einfachen Freuden se^en sich die einfachen
Leiden zusammen und werden als ein komplexes Leiden be­
trachtet, wenn eine Ursache viele hervorruft. Sie sind mit Hilfe
des Katalogs zu analysieren (z. B. Exil, Gefängnis, Konfiskation).
Auch enthalten die beiden Kataloge vereint die Mittel zur Ana­
lyse gemischter Gefühle, die weder reine Leiden noch reine
Freuden sind.
Dies ist die Klassifikation der Güter und Übel bei B e n t h a m
(nur ohne Eingehen auf die vielen und detaillierten Unter­
einteilungen bei ihm).
Man bemerkt, daß einigen Arten von Vergnügen keine ent­
sprechende Pein gegenübergestellt ist. So dem des Reichtums
bzw. Erwerbes, dem Vergnügen der Macht. Die entsprechenden
Nummern fehlen und ebenso ist innerhalb der Pein der Sinne
weder den Vergnügen der Neuheit noch denen, die auf der ge­
schlechtlichen Organisation beruhen, eine Art von Pein entgegen­
gestellt. Dies mit Absicht. Das Entbehren von Reichtum und
Macht über andere ist, sagt B e n t h a m, kein positives Leiden,
außer in Fällen der Entreißung oder getäuschten Erwartung. Er
erklärt ausdrücklich, nicht jedem Vergnügen entspreche ein Leid.
Man bemerkt ferner, daß die Güter und Übel, die Vergnügen
und Leiden, welche B e n t h a m aufzählt, fast alle rein persön­
liche sind, nur die des Wohlwollens und Übelwollens haben
einen Bezug auf andere (NB. nicht das Wohlergehen bzw. Übel­
ergehen anderer bezeichnet B e n t h a m als ein Gut oder Übel,
Nur Lust und Unlust liegen der Moral und Gesetzgebung zugrunde 171

sondern das Bewußtsein davon, den Glauben daran oder viel­


mehr das Vergnügen bzw. die Unlust an dem Glauben).

§ 49. Bentham« Argumente für die Beschränkung


der Gütertafel auf Lust

1. Die Klassifikation ist merkwürdig, nicht nur als erster ein­


gehender Versuch, eine Gütertafel zu entwerfen, sondern auch
wegen der scharfsinnigen und sorgfältigen Durchbildung als
Frucht langen Nachdenkens eines der bedeutendsten philo­
sophischen Köpfe. Namentlich aber auch wegen der konsequenten
Anwendung, die B e n t h a m davon macht. Sein ganzes be­
rühmtes System der Legislation ist darauf begründet, welche das
Entzücken, das J. St. Mill in seiner Selbstbiographie darüber
äußert, durchaus rechtfertigt. Die Kenntnis der Leiden und Ver­
gnügen gilt ihm als das Prinzip aller klaren Gedanken in Sachen
der Moral und Gesetzgebung. Tugend, Laster, Unschuld, Ver­
brechen, Lohn-, Strafsystem — um was handelt es sich bei ihnen
allen? Nur um Lust und Unlust, sagt B e n t h a m, und um nichts
anderes. Jedes Raisonnement in Sachen der Moral und Gesetz­
gebung, das sich nicht in die einfachen Worte Pein und Ver­
gnügen übersetjen läßt, ist unklar und sophistisch und nichts kann
daraus gewonnen werden. „Will man z. B. das Gebiet der De­
likte erforschen, diesen großen, die ganze Gesetzgebung be­
herrschenden Gegenstand, so ist das Studium, im Grunde ge­
nommen, nichts anderes als ein vergleichendes Abwägen, ein
Kalkül von Leiden und Vergnügen. Gilt die Untersuchung dem
Bösen, das in einer gewissen Handlung liegt, so gilt sie eben dem
Leiden, welches daraus für diesen oder jenen erwachsen ist; gilt
sie dem Motiv des Delinquenten, so heißt das, man forscht nach
dem Reiz, den ein gewisses Vergnügen auf ihn übt und der ihn
dazu führte, das Verbrechen zu begehen. Wiederum, wenn man
nach dem commodum fragt, nach dem Vorteil, welcher aus dem
Verbrechen erwächst, so heißt das soviel wie nach dem Erwerbe
eines Vergnügens fragen, das die Folge davon war. Und handelt
es sich um die gesetzliche Strafe, die aufzuerlegen ist, so heißt
172 Bentham identifiziert Lust und Gut

dies wiederum soviel wie welches Leiden der Schuldige zu dulden


auferlegt bekommen soll. So ist denn die vorstehende Theorie
der Leiden und Vergnügen die Grundlage dieser ganzen Wissen­
schaft.“
Indem B en t h a m selbst eine so großartige Anwendung der
Prinzipien macht und ein Gebäude aufführt, welches sicher viel
wohnlicher und nutzbarer ist, als was vor und nach ihm über
Fragen des Rechtes philosophiert wurde, scheint er zu der alten
eine neue Bewährung zu fügen.
2. So sicher es nun aber ist, daß für den Ethiker und Gesetz­
geber Benthams Kataloge von Lust und Leiden nicht ohne
Vorteil sind, so fragt sich doch, ob sie die Bedeutung haben, die
er selbst ihnen zuschrieb. Das wird natürlich davon abhängen,
ob wirklich sowohl der Grundgedanke als auch die psychologische
Analyse, auf welcher die Ausarbeitung der Kataloge beruht und
die uns B e n t h a m leider vorenthält, fehlerlos sind.
Der Grundgedanke ist: Alle Lust ist in sich selbst ein Gut und
nichts anderes als Lust ist ein solches. Aller Schmerz und nichts
als Schmerz ist in sich selbst ein Übel. Man sollte also, statt die
Lust ist ein Gut, der Schmerz ist ein Übel, vielmehr sagen: die
Lust ist das Gute, der Schmerz das Übel. Trifft das nicht zu,
so hat offenbar Benthams Klassifikation als Klassifikation der
Güter und Übel große Lücken. Und noch mehr, auch als Katalog
der Vergnügen und Leiden würde die Tafel dann zu mancher
Korrektur Anlaß geben. So z. B. zu einer solchen seiner De­
finition des Vergnügens der Hoffnung als eines solchen, das
beim Gedanken an ein kommendes und erwartetes Vergnügen
erwachse.
Wäre freilich B e n t h a m mit seiner Behauptung, daß die
Begriffe Lust und Gut identisch seien, im Rechte, so ergäbe sich
dann alles andere ganz einfach; aber wir erkannten dies schon
an früherer Stelle als unrichtig; und mehr noch, wir haben auch
bereits gelegentlich festgestellt, daß die Begriffe nicht einmal
konvertibel seien. So ist Einsicht ein Gut, aber nicht selbst Lust,
und andererseits zwar Schadenfreude eine Lust, aber kein Gut.
3. Solche Bedenken sind schon anderen gekommen; ja sie sind
auch schon B e n t h a m selbst bekannt gewesen, aber er wider­
Argumente dafür 173
spricht energisch. Wenn man diese Grundlage aufgebe, meint er,
komme Unklarheit in alles. Die Gesetzgebung werde dann zur
Sache der Sympathie und Antipathie, d. h. der Laune und Will­
kür preisgegeben, der Imagination, dem Geschmack, der variiert,
hier so, dort entgegengesetzt ist. An die Stelle eines festen und
einheitlichen Prinzips in der Staatskunst trete die Vernichtung
jedes Prinzips, die Anarchie der Ideen. Daran mögen Schön­
geister, oberflächliche Literaten, Leute, die sich im Denken nach
der Mode richten und nicht von sachlichen Gründen leiten lassen,
Gefallen finden; der Philosoph kann sich damit nicht befreunden.
Ohne solche Prinzipienlosigkeit, wie viele Torheiten der Re­
gierungen wären vermieden worden! Da ist, sagt er, eine Re­
gierung, welche alle ihre Gedanken auf Handel und Reichtum
richtet und im ganzen Staat nur eine große Fabrik, in den Bür­
gern nichts anderes als Werkzeuge der Produktion sieht und sich
kein Gewissen daraus macht, die einzelnen zu quälen, wenn nur
der Nationalreichtum dadurch zunimmt. Zölle, Wechselbanken,
der Staatsscha^ absorbieren ihre Gedanken. Sie bleibt gleich­
gültig gegen eine Menge von Leiden, die sie heilen könnte, nur
darauf bedacht, daß recht viele Werkzeuge des Genusses pro­
duziert werden, während sie ohne Unterlaß der Möglichkeit zu
genießen Hindernisse in den Weg stellt. Andere wieder suchen
das öffentliche Glück nur in Macht und Ruhm. Voll Verachtung
gegen solche Staaten, die in friedlicher Stille glücklich zu sein
verstehen, bedürfen sie fortwährender Intrigen, Kabinettsver­
handlungen, Kriege und Eroberungen. Sie ziehen nicht in Be­
tracht, aus wieviel Leid sich dieser Ruhm zusammensetzt und
wieviel Schlachtopfer diese blutigen Triumphe vorbereiten
mußten. Über dem Glanz des Sieges, der Erwerbung einer Pro­
vinz verschließen sie ihren Blick der trostlosen Lage des Landes
und verkennen das wahre Ziel einer guten Regierung, das Glück
des Volkes. Andere wieder achten nicht darauf, ob der Staat
gut verwaltet ist, ob die Gesetze Gut und Leben schützen; worum
es ihnen allein zu tun ist, ist politische Freiheit, die möglichst
gleiche Verteilung der politischen Macht. Überall, wo sie nicht
die ihnen genehme Form der Regierung finden, sehen sie nichts
als Sklaverei. Und wenn die vorgeblichen Sklaven sich dabei
174 Fortsetjung von Benthams Argumenten,

wohl fühlen und gar nicht nach einer Änderung ihres Zustandes
Verlangen tragen, so verachten sie und schmähen sie sie darum.
In ihrem Fanatismus wären sie bereit, das ganze Glück des
Volkes in einem Bürgerkriege aufs Spiel zu setjen, um die Macht
denen in die Hände zu geben, die sich ihrer infolge eines Zu­
standes unbesiegbarer Unwissenheit gar nicht anders als zu
ihrem eigenen Verderb bedienen könnten. „Da hat man“,
schließt er, „einige Beispiele von Phantasien, die in der Politik
an die Stelle des richtigen Strebens nach dem allgemeinen Glück
zu treten pflegen, man denkt nicht daran, daß alles das nur als
Mittel und nur das Glück allein in sich selbst von Wert ist.“
Es liegt gewiß viel Wahres in dieser freimütigen Kritik, und
unschwer ließen sich die Phrasen, mit denen falsche Ziele von
den Staatsmännern drapiert werden, noch durch neue Beispiele
von seither aufgekommenen vermehren. (Dasselbe gilt dann
aber nach B en th am s Meinung von allem, was nicht Lust ist.
Ihm stehen ja Einsicht, Gerechtigkeit, gute Sitten und Religion
auf der gleichen Linie wie Reichtum, Macht, Freiheit und Gleich­
heit.)
4. Seiner Bemerkung, daß eine Gesetzgebung, die sich nicht von
der Rücksicht auf das Glück des Volkes leiten läßt, auf den Irr­
weg von Sympathie und Antipathie und damit der Willkür ge­
raten müsse, fügt er aber eine Warnung vor einem Mißver­
ständnis bei: in gewissem Sinne dürfen, ja sollen Sympathie und
Antipathie bei der Gesetzgebung maßgebend sein, nämlich so,
daß der Gesetzgeber nicht seine, sondern die der Völker berück­
sichtigt. Sollte man es glauben, daß es Monarchen gegeben hat,
die es vorzogen, Provinzen zu verlieren oder Ströme Blutes zu
vergießen, als die besondere Empfindlichkeit eines Volkes zu
schonen, eine an sich unschuldige Gewohnheit zu dulden, ein
altes Vorurteil auf sich beruhen zu lassen, eine gewisse Tracht,
gewisse Formeln von Gebeten zu wahren? Josef II., ein Fürst,
aufgeklärt, beseelt von der Begierde nach dem Glück seiner
Untertanen, unternahm es, in seinen Staaten alles zu reformieren
und — empörte alle gegen sich. Am Vorabend seines Todes, da
er auf alle Kümmernisse seiner Regierungszeit zurückblickte,
äußerte er, man solle auf sein Grab schreiben, daß er bei allen
daß nur Lust ein Gut, nur Pein ein Übel sei 175
seinen Unternehmungen unglücklich gewesen. Man hätte aber
besser, zur Belehrung der Nachwelt, daraufschreiben sollen, er
habe niemals die Kunst verstanden, den Neigungen, Lieb­
habereien und der Empfindlichkeit der Menschen Rechnung zu
tragen. Selbst wo Bizarrerie und Aberglauben schädlich wirken,
sind sie ein Faktor, mit dem gerechnet werden muß. Und nur
in voller Würdigung der Rücksicht, welche dieser Faktor ver­
dient, darf man sich der Hoffnung auf Änderung und Besserung
hingeben. Dies also ist die richtige Weise, wie die Sympathie
bei der Gesetzgebung mit maßgebend werden darf. Sie fließt
aber aus dem Grundprinzip. Alle anderen Weisen führen zur
Willkür und öffnen jeder Torheit die Türe.
5. Ein deutliches Zeichen für die Richtigkeit seines Prinzips
erblickt B e n th a m darin, daß nur Lust als Lohn, nur Pein als
Strafe Verwendung finden. Und zwar, könnte einer hinzufügen,
jede Art Pein. So zählt z. B. auch der edle Schmerz beim Anblick
der erschütternden Folgen einer Übeltat zu den Strafen, und die
Lust der Rache haben eine Herodias und eine Esther sich als Lohn
ausbedungen.
Dies sind also die Gründe, warum B e n th am, wenn er auch
nicht geradezu die Begriffe von Lust und Gut identifiziert, so
doch nur Lust als in sich liebenswert zu erkennen glaubt.

§ 50. Andere Hedoniker

B e n t h a m steht in der neueren Zeit nicht allein. Wenn auch


kein anderer Philosoph einen so eingehenden Katalog der Arten
von Lust entworfen hat, so lassen doch viele andere ebenfalls
nur die eigene Lust als in sich Gutes gelten. Besonders in der
empirischen Schule begegnen wir dieser Lehre häufig (so auch
bei F e c h n e r). Und Kant, der selbst eine ganz andere Mo­
tivierung des Handelns fordert, erklärt doch, daß vom empi­
rischen Standpunkt kein anderes Gut ausfindig zu machen sei.
Auch im Altertum war der Hedonismus vertreten. Nicht nur
durch E p i k u r, der sagt, er wisse nichts zu nennen, was gut
sei, wenn nicht die Lust, auch in der aufsteigenden Periode der
176 Andere Hedoniker

griechischen Philosophie. Und hier wären zu nennen nicht nur


ein Aristippos, der, Sophist und Lebemann, an Fürstenhöfen
den Genüssen lebte, sondern auch der ehrenhafte E u d o x u s,
der Astronom und Schüler Platons. Aristoteles, der die
Wichtigkeit der Untersuchung über die Lust für die Ethik wohl
erkannte und ihr eine ausführliche Erörterung widmete, hat uns
dessen Gründe mitgeteilt (im 10. Buche der Nikomachischen
Ethik).
1. Die Lust, sagt Eudoxus, ist das Gute, und dies gehe
aus der Tatsache hervor, daß alle, Vernünftige und Unvernünf­
tige, nach Lust streben. Wie jedes Wesen seine Nahrung zu
finden weiß, so auch, was ihm gut ist. So muß denn, was allen
gut ist und wonach alle streben, das Gute schlechthin sein.
2. Nicht minder deutlich ergibt sich dies auch daraus, daß
die Unlust von allen geflohen wird und allen als das gilt, was
man zu fliehen hat. Also muß das Gegenteil an sich begehrens­
wert sein.
3. Eudoxus will nicht bestreiten, daß auch anderes begehrt
werde als Lust, auch anderes geflohen als Unlust; aber nicht an
und für sich. Das eigentlich Gute aber begehrt man nicht um
eines anderen willen; von der Lust fragt niemand, zu welchem
Zwecke man nach ihr verlange.
4. Endlich weist er darauf hin, daß jedes Gut durch eine
Zugabe von Lust noch wertvoller werde, selbst Enthaltsamkeit
und Gerechtigkeit. Es muß also, was da hinzukommt, ein Gutes
sein, da Gutes nur durch Gutes verbessert werden kann.
Zu dem letzten Argument bemerkte schon Aristoteles,
es beweise nicht mehr, als daß die Lust ein Gut neben anderen
sei. Doch war der Gedanke des Eudoxus wohl der, daß ge­
rechtes Handeln, wenn es nicht mit Freude erfolgt, vielmehr
geradezu ungern, nicht preiswürdig sei; somit liege das Gute
auch hier eigentlich in der Lustkomponente.
Aristoteles meint, seine Lehre habe darum besonders
Eindruck gemacht, weil Eudoxus ein trefflicher Charakter
war, so daß viele mehr dadurch als durch die Argumente be­
stimmt wurden. Dasselbe ist auch von B e n t h a m und anderen
neuzeitlichen Hedonikern zu sagen.
Argumente gegen den Hedonismus 177
Und nicht bloß für einzig begehrenswert halten viele die
eigene Lust, sondern auch für einzig begehrbar. Es sei letjten
Endes unmöglich, anderes als die eigene Lust anzustreben.

$ 51. Gründe, die gegen den Hedonismus sprechen

1. So vielfach und so energisch die Lehre, daß eigene Lust das


ausschließliche Gute sei, vertreten wird, so geht es doch auch in
dieser Frage wie in allen, mit welchen sich die Philosophie befaßt.
Andere widersprechen, ja manche schließen sie völlig vom Ge­
biete des Guten aus. Kant galt die Rücksicht auf eigene Lust
geradezu als das Widerspiel der Sittlichkeit. „Gut“ habe zwei
Bedeutungen, einmal besage es soviel wie Wohl im Gegensatj
zu Wehe; dann wieder soviel wie sittlich im Gegensatj zu un­
sittlich; aber zwischen beiden bestehe keine Verwandtschaft. In
keiner Weise dürfe Lust unser Handeln als Motiv bestimmen,
sondern nur die Achtung vor dem kategorischen Imperativ. (In
der Anwendung und Auslegung desselben kommt Kant freilich
zu dem Ergebnis, daß die Lust anderer von uns anzustreben sei,
nur nicht die eigene. Höchst seltsam! Denn wenn fremde Lust
erstrebenswert ist, so doch nicht deshalb, weil sie fremd, sondern
weil sie Lust ist. Das ist aber auch die eigene.)
2. Der Gegensatj gegen den Hedonismus ist nicht erst neueren
Datums. Antisthenes, ein Mitschüler des Aristippo s,
erklärte die Lust geradezu für ein Übel (päUov navsUiv yo&eitiv).
Diogenes fand das Gute nur in der Bedürfnislosigkeit. Christ­
liche Asketen wehrten die Antriebe der Lust als teuflisch ab.
So hatte schon Aristoteles extreme Gegensätze vor sich,
und es ist interessant zu sehen, wie er sich zu ihnen stellt. Er
billigt keines von beiden.
a) Er verwirft die Ansicht des Eu doxus (mit der, wie wir
gesehen haben, die Benthams sich deckt), daß nichts ein Gut
sei als eigene Lust. Die Lust ist nicht das Gute. „Viele Dinge
würden uns sehr lieb und angelegen sein, auch wenn sie keine
Lust brächten, wie Sehen, sich Erinnern, Wissen, tugendhaft
Handeln. Und dagegen darf man nicht einwenden, daß sich an
178 Nadi Aristoteles ist Lust nicht das einzige Gut

diese Tätigkeiten notwendig Lust knüpfe; denn auch, wenn diese


wegfiele, würden wir sie noch wünschen.“ (Nik. X, 2.)
b) Er tritt aber auch denen entgegen, welche die Lust gar
nicht zu den Gütern zählen wollen. Es liege wahre Kraft in dem
Argumente, daß alles ihr zustrebe und das Gegenteil fliehe.
Wenn einer es nicht gelten ließe, würde er schwer etwas von
größerer Sicherheit bieten können. Auch in dem Argument von
der Wertsteigerung durch den Zusatj von Lust sei etwas Rich­
tiges, es zeige, daß sie ein Gut, aber keines beweise, daß sie
das Gut sei.
Doch macht er auch hier noch eine Unterscheidung. Es frage
sich, worauf die Lust sich beziehe. Lust an Schlechtem sei kein
Gut, sondern schlecht und schädlich, und Lust an Niedrigem,
Kindischem, Tierischem jedenfalls von geringem Wert. „Nie­
mand würde wohl in der Art zu leben wünschen, daß er das
ganze Leben hindurch den Verstand eines Kindes hätte und sich
höchlichst freute an Dingen, woran Kinder Freude haben. Und
ebenso möchte wohl niemand sich freuen, eine Schandtat zu ver­
üben, auch wenn niemals ein Leid daraus erfolgen sollte.“
(Nik. X, 2.)
Dagegen sei die Lust, die an eine edle Tätigkeit sich 'knüpft,
ein echtes Gut.
3. Was Aristoteles vorbringt, steht mit unseren eigenen
früheren Bemerkungen im Einklang und entspricht, wie ich nicht
zweifle, der Wahrheit.
a) Das Kriterium, das wir in der Voruntersuchung klarzulegen
versucht haben, zeigt entschieden, daß die Lust nicht von dem
Bereiche des Guten auszuschließen ist. Die Freude im Wohltun
ist z. B. eine Freude, die mit als richtig charakterisierter Liebe
geliebt wird. Ein Wesen, welches die Freude haßte und Trauer
liebte, verhielte sich verkehrt.
b) Das Kriterium gewährleistet aber auch andere Güter. So
schönes Vorstellen, Einsicht, edles Wollen. Wenn Philosophen
der empirischen Schule sagten, die Lust sei das Gute, ja wenn
man sagt, sie sei nicht bloß das einzig Liebenswerte, sondern
auch sogar das einzig Liebbare, so sagen sie dies nicht im Ein­
klang, sondern im Gegensatj zu dem, was die Erfahrung zeigt.
Die Erfahrung bestätigt diese Lehre 179
Zum mindesten ist das eine klar: manches, was ursprünglich nur
als Mittel zum Lustgewinn geliebt worden, wird uns mit der Zeit
an sich lieb. Dem Geizigen ist das Geld an sich lieb geworden,
und wenn er zwischen seinen Geldsäcken verhungert, so war
beim Erwerb gewiß nicht Lust das treibende Motiv. Sie ist es
auch für den Märtyrer nicht, der den Scheiterhaufen besteigt, als
Zeuge der Wahrheit, und der vielleicht nicht einmal im Glauben
an eine jenseitige Vergeltung sich selbst zum Opfer für seine
Ideale bringt.
c) Ja, noch mehr, die These steht nicht nur in Widerspruch
mit der Erfahrung, sie widerspricht sich selbst. Lust empfinden,
Freude empfinden ist ein emotioneller Akt, ein Gefallen oder
Lieben, es hat immer ein Objekt, ist notwendig Lust an etwas,
was wir wahrnehmen oder vorstellen. So hat z. B. die sinnliche
Lust eine gewisse lokalisierte Sinnesqualität zum Objekt. Wäre
nun nichts anderes als Lust liebbar, so würde dies besagen, daß
jedes Lieben ein Lieben zum Gegenstände habe; das geliebte
Lieben müßte aber wieder auf ein Lieben gerichtet sein und so
ins Unendliche! Nein, damit es überhaupt Lust geben könne,
muß noch anderes als Lust liebbar sein.
Daraus folgt dann aber weiter, daß Lust nicht allein liebens­
wert ist. Sonst wäre sie ja Wohlgefallen an etwas, was keiner
Liebe, also keines Wohlgefallens wert ist. Und in diesem Falle
schiene sie kaum liebenswert. Es drohte also überhaupt nichts
liebenswert zu sein.
Wenn also die Lust ein Gut ist, dann gibt es auch noch andere
Güter außer ihr.
d) Sie ist darum nicht das Gute; aber auch darum ist sie es
nicht, weil nicht jede Lust ein Gut ist. Aristoteles sagt
ganz mit Recht, man müsse gute und schlechte Lust unter­
scheiden, je nachdem, woran sie haftet. Freude am Leide eines
Wohltäters ist nicht wahrhaft liebenswert.
180 Die Argumente der Hedoniker

j 52. Abwehr der Argumente der Hedoniker

Wenn wir, so vorbereitet, auf die zugunsten des Hedonismus


vorgebrachten Gründe zurückblidcen, so erkennen wir, daß sie
entweder gar nichts beweisen oder nicht mehr, als daß Lust zu
den Gütern zählt.
1. B e n t h a m s Gründe sind zum Teil praktischer Natur. So
a) der Hinweis darauf, daß sonst alles unklar und Sympathie
und Antipathie und jeder Phrase Tür und Tor geöffnet werde.
Angenommen, solche unerwünschte Folgen träten ein, so wäre
dies doch kein Beweis. Ebenso könnte man die Notwendigkeit
begründen, alle ethischen und rechtsphilosophischen Fragen durch
positives Gesetj zu entscheiden oder durch Berufung auf mensch­
liche und göttliche Autorität zu erledigen. Spekulation, könnte
einer sagen, eröffne der Willkür Tür und Tor. Und in der Tat
zeigt die Geschichte der freien Vernunftforschung vielfach Fehler
und Verwirrung, endlosen Streit und nicht beruhigten Zweifel.
Ja man könnte vorziehen, auch Prozesse nicht durch Gründe zu
entscheiden, sondern einem Gottesgerichte anheimzustellen, wie
einst Otto der Große durch Zweikampf entscheiden ließ, ob die
Enkel erben sollten. Dies tut man nun heute nicht mehr, aber
ganz ist die Neigung zu gewaltsamer Entscheidung theoretischer
Fragen nicht aus der Welt verschwunden. Sie verrät sich z. B.
in der Klage positiver Theologen gegen die philosophische, ja
gegen die geschichtliche Forschung in der Exegese.
Die Philosophie verwirft das Kriterium einer von außen er­
folgenden Entscheidung, sie beruft sich auf die Vernunft, und
verständige Theologen geben ihr recht, denn sie erkennen, daß
ohne solche dem ganzen kirchlichen Lehrgebäude die tragfähige
Basis fehlt. So sehen wir uns denn auch in der Frage, ob es
außer der eigenen Lust noch anderes in sich Gutes gebe, auf Ver­
nunftkriterien verwiesen. Die Schwierigkeiten sind hier nicht
anders als bei allen anderen Prinzipienfragen, und der Ver­
ständige wird speziell auch zugeben, daß ohne ein solches Kri­
terium nicht einmal die Lust als gut zu erkennen wäre.
b) Wenn sich B e n t h a m weiter darauf beruft, daß nur Lust
und Leid als Lohn und Strafe in Betracht kämen, so ist es frag-
sind unstichhältig 181
lieh, ob das zutrifft. Liegt nicht auch darin eine Belohnung, daß
man jemandem zuliebe eine Idee, an der ihm rein sachlich, ohne
Rücksicht auf Lustgewinn, viel liegt, verwirklichen hilft? Hätte
man Aischylos, statt ihn zu krönen, zum Lohne den Aeropag
belassen, so wäre er in Athen geblieben. Wie anderwärts darf
die enge Beziehung zwischen Lust und Gegenstand der Liebe
die klare Unterscheidung nicht trüben. Die Verwirklichung des
Geliebten mag von Lust begleitet sein, aber nicht dies ist ihr
Zweck, und so geschieht es, daß einer, um sein Ideal zu erreichen,
auch das Opfer des eigenen Lebens nicht scheut.
Auch bei der Strafe stimmt es nicht. Selbst wenn sie aus­
schließlich im Zufügen von Leid bestünde, bewiese dies nichts
gegen die Existenz anderer Übel. Auch Dummheit und sittliche
Schlechtigkeit sind solche, aber man fügt sie dem Täter nicht zu,
weil sie verabscheuenswert sind, und weil der Strafzweck, der
Schutj der Gesellschaft, eben im Leiden ein erfahrungsmäßig
erprobtes Abschreckungsmittel zur Verfügung hat. Wer aber
auf dem Standpunkte der Vergeltungstheorie stünde, müßte doch
zugeben, daß die Vergeltung vor allem darin liegt, daß das
Gegenteil von dem verwirklicht wird, was dem Täter lieb ist,
und zwar so, daß er ein Bewußtsein davon hat. Nachdem er;
was er- liebte und wollte, über berechtigte Schranken hinaus zu
verwirklichen anstrebte, sieht er jetjt das Gegenteil eingetreten.
(Thomas v. A.) Dies ist allerdings mit Schmerz verbunden,
aber die Strafe besteht nicht ausschließlich darin.
2. Ähnlich widerlegen sich die Argumente des E u d o x u s.
ad 1. Schon Aristoteles sagte: daß alle, Vernünftige und
Unvernünftige, nach Lust verlangen, beweise nicht, daß Lust
das Gute, sondern höchstens, daß sie ein Gut sei; und auch
dies eigentlich nicht scharf. Nur unwahrscheinlich mag es sein,
daß alle und immer solches, was nicht begehrenswert sei, be­
gehren. Wer aber die Erfahrung genauer beachte, werde an dem
„alle“ sowohl als dem „einzig und allein“ eine Einschränkung
anbringen müssen. Lust werde weder immer noch ausschließlich
erstrebt.
ad 2. Selbst wenn jede Pein geflohen würde, folgte daraus
nicht schon die Güte jeder Lust. So wie der einen Gesundheit
182 Die Güterlehre ist nicht auf Lust und Unlust einzuschränken

viele Krankheiten gegenüberstehen, so kann aus verschiedenen


Gründen der Charakter des Guten mangeln. Es ist aber gar nicht
jedes Leid schlecht. Ein edler Schmerz ist Gegenstand einer als
richtig charakterisierten Liebe.
ad 3. Gewiß wird Freude um ihrer selbst willen erstrebt, aber
dies besagt noch nicht, daß sie erstrebenswert ist. Die Frage:
Zu welchem Zwecke freust du dich? mag lächerlich sein; nicht
aber die Frage: Wie kannst du dich am Leide deines Wohltäters
freuen?
ad 4. Es ist falsch, den Wert- eines Gegenstandes, statt in ihm
selbst, in der darauf gerichteten Lust zu suchen. Wenn es die
Freude an der Gerechtigkeit wäre, die dieser den Wert verleiht,
so müßte Freude an Ungerechtigkeit auch diese wertvoll machen.
Man denke auch an den Fall, wo wir über eine Ungerechtigkeit,
die wir nicht verhindern können, trauern. Die Liebe zur
Gerechtigkeit äußert sich hier als Schmerz.
Man darf mit der höheren Gemütsbewegung, sei sie Freude, sei
sie Leid, nicht die sinnlichen Lust- und Schmerzgefühle ver­
wechseln, die sich als Redundanz an jene knüpfen und ihnen
den sog. Affektcharakter geben.
So weist denn die Lehre der Hedoniker große Lücken auf,
und es kann darum die Güterlehre nicht mit der Untersuchung
über Lust und Unlust als abgeschlossen gelten.
II. Kapitel

Das Gute in den eigenen psychischen Tätigkeiten

§ 53, Das Gute auf dem Gebiete der Urteilstätigkeit

Wir haben, als wir uns mit der wesentlichsten Einteilung


unserer psychischen Tätigkeiten beschäftigten, den sachlich be­
deutsamsten Einteilungsgrund in der Art der Objektsbeziehung
gefunden und demgemäß drei psychische Grundklassen unter­
schieden: Vorstellen, Urteilen und Gemütstätigkeit.
Die Erfahrung zeigt nun, wie ebenfalls schon gelegentlich von
uns bemerkt wurde, in jeder dieser drei Klassen solches, was in
sich wertvoll, ein Gut im eigentlichen Sinne des Wortes ist. Be­
ginnen wir die Aufstellung der Gütertafel mit der Klasse der
Urteile.
1. Schon Aristoteles hat, wie bereits mehrfach bemerkt,
die Erkenntnis in die Gütertafel aufgenommen und dafür in
alter und neuer Zeit Zustimmung gefunden. In der Tat, wenn
jemand die Frage stellen sollte, warum uns die Erkenntnis lieber
sei als der Irrtum, so erschiene uns dies nicht minder lächerlich,
als wenn er fragte, warum wir uns lieber freuen als Schmerz
zu leiden. Nur etwa darüber mag ein Zweifel aufkommen, ob
Erkenntnis im Range höher stehe als Freude. Es ist eben auch
die Liebe zur Erkenntnis als richtig charakterisiert.
Dies schließt nicht aus, daß unter Umständen eine Erkenntnis
uns schmerzlich ist, weil sie uns von solchem Kenntnis gibt, was
uns Leid bereitet. Aber in sich selbst betrachtet, bleibt sie ein Gut.
Ein um so größeres, je wichtiger sie ist, je allgemeiner und
durchdringender, je größer der Umfang der Dinge, auf die sie
Licht wirft, in je schwierigere Fragen sie Licht bringt und eine
184 Die Erkenntnis ist ein Gut,

je reichere Quelle sie für die Entdeckung neuer Wahrheiten er­


öffnet. Grundlegende Erkenntnisse, wie das Newtonsche Gravi-
tationsgesetj, sind wertvoller als die Erkenntnis der Eigenschaften
einer besonderen Art von Pflanzen oder Mineralien. Doch stehen
auch diese im Werte über ganz konkreten Kenntnissen.
Auch die Qualität, ob nämlich bejahend oder verneinend,
macht einen Wertunterschied aus. Darum steht z. B. die Mathe­
matik als ein System analytischer und darum rein negativer Er­
kenntnisse im Range unter den Naturwissenschaften, deren Sätje
von Dingen gelten, die wir als existierend erkennen. Die sog.
angewandte Mathematik gehört, sofern sie sich auf die Körper­
welt bezieht, selbst zu den Naturwissenschaften. Es hängt aber
der Wert einer Erkenntnis auch von dem ihres Gegenstandes ab.
Das gibt wieder der Psychologie, die sich mit unsem seelischen
Zuständen und Vorgängen beschäftigt, einen höheren Rang, als
ihn die Naturwissenschaften einnehmen. Und unter beiden Ge­
sichtspunkten, dem der Allgemeinheit sowohl als dem der Voll­
kommenheit des Gegenstandes, steht die Metaphysik, die sich mit
den gemeinsamen Gesehen für alles Seiende und seiner ersten,
göttlichen Ursache befaßt, an höchster Stelle.
2. Wie die Erkenntnis ein Gut ist, so ist der Irrtum als solcher
ein Übel, und er ist dies natürlich in dem Maße, als die ihm
gegenüberstehende Erkenntnis ein Gut ist und je weiter er von
der Wahrheit abirrt. Was dieser näherkommt, gewinnt schon
einen gewissen Wert als Annäherung an die Wahrheit.
Ein reines Übel aber kann man keinen Irrtum nennen, denn
als urteilendes Verhalten schließt er ein Vorstellen ein und jedes
Vorstellen als solches ist, wie wir später zeigen wollen, selbst
ein Gut. Ein Irrender steht höher im Werte als ein Urteilsloser
und darum des Irrtums Unfähiger, aber dem Gute ist das Übel
einer Disharmonie gesellt, denn das irrende Urteil anerkennt
oder verwirft im Widerspruch zu dem, was evident ist.
3. Weil die Erkenntnis ein Gut und ein hohes Gut ist, ist auch
die Forschung wertvoll. Schon das erste Nachdenken und Wege­
bahnen, nicht nur die Sophia, auch die Philosophia ist ein Gut.
Lessing ist sogar so weit gegangen, zu sagen, wenn er zu
wählen hätte zwischen der vollen, abschließenden Wahrheit und
der Irrtum ein Übel 185
der Forschung, so würde er diese vorziehen. Was ihm dabei
Richtiges vorschwebte, war wohl, daß Erkennen doppelt beseligt
nach Unklarheit und Irrtum, wie Gesundheit nach Krankheit.
Und wenn auch die Freude an der voll enthüllten Wahrheit am
höchsten ist, so ist die an der Forschung dauernder. Damit ein
Glück anhalte, bedarf es des Fortschrittes und Wechsels. So setjt
sich auch der Genuß beim Spiele aus Hoffnung und Enttäuschung,
Anstrengung und Sieg zusammen. Bei alledem ist aber die
Forschung doch nur darum wertvoll, weil sie Erkenntnis bringt.
Es müßte wohl ein Forscher wenig vom Glück begünstigt sein,
um nicht erfahren zu haben, daß es süßer ist zu finden, als zu
suchen. Das Ziel ist mehr als der Weg.

$ 54. Das Gute auf dem Gebiete der GemUtstatigkeit

1. Dieses Gebiet umfaßt noch mannigfaltiger verschiedene


Tätigkeiten als das des Urteils. Bei diesem ergeben sich Unter­
schiede dem Objekte nach, wozu insbesondere auch der von sinn­
lichem und noetischem Urteil gehört; ferner Unterschiede der
Urteilsqualität (Anerkennen und Verwerfen), der Unterschied
von thetischem und prädikativem Urteil, von blindem und
evidentem, von motiviertem und unmotiviertem, die Unterschiede
in der Modalität, ob assertorisch oder apodiktisch und schließlich
die Temporal unterschiede, ob nämlich etwas als gegenwärtig
oder als vergangen bzw. künftig beurteilt wird. Allen diesen
Verschiedenheiten entsprechen analoge auf dem Gebiete des
Gemütes. Auch hier finden sich Differenzen dem Objekte nach,
wozu insbesondere auch die voii sinnlich und noetisch gehören,
solche der Qualität nach Lieben und Hassen, ferner der Unter­
schied von blind und als richtig charakterisiert, der von motiviert
und unmotiviert. Dazu gesellen sich aber noch andere, je nach
der Lage, in welcher der Liebende sich zu dem, was er liebt,
befindlich glaubt. Es sind die Unterschiede von Freude, Trauer,
Sehnsucht, Hoffnung, Wille. Die günstigste Lage ist die Freude.
Sie hat das Eigentümliche, daß sie die Betätigung der Liebe ist
im Glauben, das, was man liebt, sei verwirklicht.
186 Audi auf dem Gebiete der Gemütstätigkeit

2. Unser Kriterium läßt uns nun auf beiden Gebieten der


Gemütstätigkeit, unter den sinnlichen sowohl als unter den noeti-
schen Akten, solches erkennen, was ein Gut ist.
Die sinnliche Lust ist ein Empfindungsakt, gerichtet auf eine
gewisse sinnliche, lokalisierte Qualität, der im sekundären Be­
wußtsein nicht nur den Charakter des Vorstellens und An­
erkennens, sondern auch den des intensiven Liebens hat. Es ist
dieses Lieben nun zwar an und für sich rein instinktiv, blind;
wohl aber gehört es zu den Gegenständen, die, wenn wir sie
im allgemeinen vorstellen, eine als richtig charakterisierte Liebe
motivieren. M. a. W. Lust ist etwas in sich Gutes. Ihr Gegen-
saty, das intensive, sinnliche Hassen, das wir Schmerz nennen,
ist Gegenstand eines als richtig charakterisierten Hasses, m. a. W.
sinnlicher Schmerz ist ein Übel. Es stehen aber diese Akte
blinden, instinktiven Liebens nicht an höchster Stelle unter dem
Guten unserer Gemütstätigkeit. Es hat eine solche blinde Sinnes-
lust ohne Hinzutreten anderer Güter etwas Minderwertiges
gegenüber einer geistigen Freude. Wer wollte den Genuß beim
Rauchen einer guten Zigarre mit dem Genuß, mit der edlen
Freude beim Anhören einer Beethovenschen Symphonie
oder beim Anblick einer Raphaelischen Madonna21 ver­
gleichen?! Dazu kommt noch, daß durch die Gewöhnung an sie
die Empfänglichkeit für höhere Genüsse verkümmert. Ein Instru­
ment, auf dem zu allen Stunden triviale Tanzmusik gehämmert
wird, vermag die reinen und erhabenen Melodien einer Beet­
hovenschen Tondichtung nicht wiederzugeben.
3. Unter den noetischen Gemütstätigkeiten sind wiederum
blinde und als richtig charakterisierte zu unterscheiden. Und hier
und dort ist in sich Gutes zu finden. So ist auch eine blinde, rein
gewohnheitsmäßige Freude, eine blinde Trauer, die eine als
Gutes, die andere als Übles zu erkennen, abgesehen von dem,
was sie zum Gegenstände hat. Hingegen sind alle als richtig
charakterisierten Gemütstätigkeiten in sich gut. Es gilt dies von
Liebe und Haß in allen Formen. So ist z. B. auch ein edler
Schmerz, wie der über den Sieg des Unrechts, das Verkanntsein
der Wahrheit, in sich wertvoll. Er ist ein Gut als Haß des
Hassenswerten, doch haftet dem Haß in allen seinen Formen
gibt es in sich Gutes 187
dem Lieben gegenüber etwas Minderwertiges an. Schon darum
hat Schopenhauer unrecht, wenn er das Mitleid unter allen
Gemütstätigkeiten am höchsten stellt. Nietzsche, in dessen
Schriften, bei allen Mängeln in der Begründung und Konsequenz,
immer wieder treffliche Einfälle aufblitjen, hat darin richtiger
gesehen.
4. Wenn blinde 'Sinnliche Lust auch ein niedriges Gut ist, so
ist sie doch nicht Lust am Schlechten. Und selbst einer solchen
wohnt, eben weil sie Lust ist, noch immer Gutes inne. Ein Übel
ist Freude an Schlechtem als unrichtige Gemütstätigkeit. Wer
wollte wohl ein Nero sein und die Lust der Grausamkeit in
vollen Zügen aus blutigem Becher schlürfen. Da gilt wirklich:
fcölZw paveleiv $ „Niemand wünscht sich“, sagt Aristo­
teles, „in der Art zu leben, daß er immer den Verstand eines
Kindes behielte und sich höchlichst freute an kindischen Dingen.
Und ebenso möchte wohl niemand sich freuen, eine Schandtat
zu üben, auch wenn ihm kein Leid daraus erwüchse.“
5. Wenn die Liebe dort, wo sie im Glauben an die Wirklich­
keit des Geliebten sich betätigt, den Charakter der Freude hat
und dadurch höheren Wert besitjt, so ergibt sich doch, von einer
anderen Seite betrachtet, eine neue Vorbedingung des Wertes
als erforderlich. Ist nämlich der Glaube ein irriger, so mindert
sich der Wert der Freude. Ich möchte mich nicht bloß nicht
freuen am Unglück meines Vaters, sondern auch nicht Freude
genießen in einem irrtümlichen Glauben an Großtaten des Ver­
standes oder der Tugend, die ich vollbracht zu haben mir ein­
bilde. Obwohl hier die Liebe eine richtige ist, ist doch die Form
der Freude nicht die richtige. Ich wäre in einem solchen Falle
dankbar für eine Aufklärung, die meine Freude verschwinden
ließe (immerhin liegt der eigentliche Fehler hier im Urteil, das
Geliebte verdient die Liebe, nur eben nicht ebenso die An­
erkennung als wirklich).
6. So ist denn die richtige Gemütstätigkeit in allen ihren
Formen ein Gut, wenn auch unter Umständen kein ungemischtes;
die unrichtige ein Übel, aber eines mit Beimischung von Gutem,
wenn sie den Charakter des Liebens und besonders, wenn sie den
der Freude hat. Als reines Übel aber kann nicht einmal der un­
188 Jede Vorstellung ist ein Gut

richtige Haß gelten. Ist doch auch er eine psychische Betätigung


und schließt als solche ein Vorstellen ein, denn auch von der
Klasse des Vorstellens gilt, daß sie Gutes in mannigfacher Ab­
stufung enthält. Ihr wollen wir uns jetjt zuwenden.

$ 55. Das Gute auf dem Gebiete des Vorstellens

Von den drei Klassen von Bewußtseinstätigkeiten haben wir


bisher Urteil und Gemüt unter dem Gesichtspunkte der Güter­
tafel in Betracht gezogen. Es bleibt noch die fundamentale Klasse
des Vorstellens auf das etwa in ihr sich findende Gute zu unter
suchen. Sicher ist, daß wir irgendwelche Vorstellungen, manch
sogar in hohem Grade lieben. Am Sehen, Hören freut sich sehe
das Kind. Wir lesen die Werke der Dichter, betrachten Gemäld
hören Musik, und alles dies, weil wir uns an den uns dabei g
botenen Vorstellungen erfreuen. Ob das, was sie zum Gege
stände haben, in Wahrheit existiere oder nicht, ficht uns ni ,
an. Es genügt uns der Besitj der Vorstellungen solcher Dir ,
um uns daran zu erfreuen. Ist nun diese Freude am Vorste n
eine berechtigte? Ohne Zweifel zählen auch die Vorstellur n
zu dem in sich Wertvollen, und zwar, wage ich zu behauj n,
jede Vorstellung an und für sich betrachtet. Damit soll : ht
gesagt sein, daß nicht manche wegzuwünschen sei, aber i it,
weil sie selbst ohne Wert wäre, sondern weil sie einer and :n,
interessanteren und lustvolleren, den Platj verlegt. Denn ser
Bewußtsein ist von einer gewissen Enge, wir können nidi :ur
gleichen Zeit über ein gewisses Maß hinaus viele und heteri :ne
Vorstellungen beherbergen, geschweige denn ihnen Aufmerl m-
keit und gleiches Interesse zuwenden. Auch sonst kann ein er-
weilen bei einer Vorstellung unerwünscht sein, wenn sie ni lieh
instinktiv oder assoziativ Widerwillen erweckt. Doch von sc icn
Folgen und Nebenumständen abgesehen und an und für sic be­
trachtet, ist das Vorstellen ein Gut und als solches erker ar.
Ohne Frage würde jedermann, wenn er zwischen dem Zus ide
der Bewußtlosigkeit und dem Besitje irgendwelcher Vorstelh en
zu wählen hätte, auch die ärmlichste begrüßen und die leb en
als Bereicherung unseres Lebens 189
Dinge nicht beneiden. So erscheint jede Vorstellung als eine
Bereicherung des Lebens von Wert. Denken wir uns ein ideales
Wesen (Gott), so können wir ihm nicht jedes Urteil und jedes
Lieben zuschreiben, wohl aber müssen wir ihm unbedingt jede
denkbare Vorstellung zuerkennen.

} 56. Einwände gegen die These vom Werte jeglichen Vorstellens

1. Sie mag manchen schon wegen des Gegensatjes zu dem, was


wir in den beiden anderen Klassen fanden, befremdlich anmuten.
Aber der Unterschied ist begreiflich:
a) Es fehlt in der Klasse des Vorstellens an einem Gegensatje,
wie er dort besteht. Das Urteil differenziert sich in Anerkennen
und Verwerfen, die Gemütstätigkeit (das Interesse) in Lieben
und Hassen. Damit hängt es zusammen, daß immer nur eines
von beiden richtig sein kann, ja daß dort überhaupt ein Unter­
schied von richtig und unrichtig, d. h. von wahr und falsch bzw.
von gut und schlecht besteht. Aber bloße Vorstellungen sind
weder richtig noch unrichtig. Spricht man gleichwohl von un­
richtigen Vorstellungen, so ist damit gemeint nicht das Vor­
stellen selbst, sondern ein Urteil, welches das vorgestellte Merkmal
einem Dinge zuspricht, dem es nicht zukommt, oder es ist an die
Unrichtigkeit einer Verbindung dieser Vorstellung mit einem
bestimmten Worte gedacht, was wiederum darauf hinausläuft,
daß einer, der dieses gebraucht, unrichtig über den üblichen
Sprachgebrauch urteilt. In solchem übertragenen Sinne könnte
man auch von sittlich schlechten Vorstellungen sprechen, etwa
mit Rücksicht darauf, daß in ihnen eine gewisse Gefahr der
Verführung zu unsittlichem Begehren und Handeln liege.
b) Die Klasse des Vorstellens ist die fundamentale Klasse.
Dem Urteil liegt ein Vorstellen zugrunde, mit besonderen Akten
der Gemütstätigkeit, wie z. B. der Hoffnung, Furcht, Traurigkeit,
Freude, verbinden sich aber außer Vorstellungen auch Urteile.
In Folge davon sahen wir es geschehen, daß ein Akt der Liebe
oder des Hasses fehlerhaft erscheint, weil das zugrunde liegende
Urteil ein Irrtum ist. So bei einer törichten Hoffnung etc. Beim
190 Zurückweisung der Einwände gegen die Behauptung,

Vorstellen ist, eben wegen seines fundamentalen Charakters,


dergleichen nicht möglich.
2. Ein zweiter Einwand gegen die Behauptung, daß jedes Vor­
stellen etwas Gutes sei: Wir hassen doch gewisse Vorstellungen,
sie erfüllen uns mit Widerwillen, erwecken uns Unlust.
Antwort: Aber es handelt sich dabei nicht um einen als richtig
charakterisierten Haß, sondern, wie schon oben bemerkt, um
instinktive oder gewohnheitsmäßige Abneigungen, die teils auf
besonderer Veranlagung, teils auf assoziativen Verbindungen
beruhen. Über den Unwert entschiede nur ein als richtig charak­
terisierter Haß.
3. Die Vorstellung des Gefälligen und des Schönen heben
sich aus den anderen Vorstellungen heraus. Diese scheinen da­
durch ausgezeichnet zu sein, daß sie mit einer als richtig charak­
terisierten Liebe geliebt werden, d. h. gut sind; aber dann sind
eben nicht alle Vorstellungen in sich wertvoll.
Noch mehr! Dem Schönen steht entgegen das Häßliche. Was
ist nun dieses, wenn nicht dasjenige, dessen Vorstellung mit
einem als richtig charakterisierten Haß gehaßt wird? Also sind
gewisse Vorstellungen schlecht.
Antwort: Dieser Einwand ist wohl am bedeutsamsten. Worauf
aber beruht er? Auf einer Definition des Schönen und Häßlichen,
für die viel zu sprechen scheint. Das Schöne wurde hier definiert
als das, dessen Vorstellung mit einer als richtig charakterisierten
Liebe geliebt werden könne; das Häßliche als das Gegenteil,
d. h. als das, was mit einem als richtig charakterisierten Haß
gehaßt werden kann (exakter gesprochen, nicht seine Vorstellung,
sondern die durch seine Einwirkung auf die Sinne [und Phan­
tasie] in uns wachgerufene Vorstellung, sein Anblick, sein An­
hören).
Ist dagegen die Liebe zu einer Vorstellung nicht als richtig
bzw. unrichtig charakterisiert, so spricht man statt von Schönem
bloß von Angenehmem oder Unangenehmem.
Wie wäre der Unterschied anders zu begreifen?
Auch Kant und H e r b a r t würden wohl dieser Definition
des Schönen zustimmen. Denn wenn sie nicht nur die Allgemein­
heit, sondern auch die „Notwendigkeit“ des Gefallens als das
jedes Vorstellen sei ein Gut 191
bezeichnen, was das Schöne vom bloß Angenehmen unterscheidet,
so scheint das auf die auszeichnende Besonderheit des als richtig
Charakterisierten zu zielen. Ich sage „zu zielen“, -denn so wie
der Gedanke dort gefaßt ist, ist er falsch. Gerade auch beim
Schönen und Häßlichen gehen Geschmack und Urteil auseinander.
Die Verwechslung von notwendig und richtig ist bei diesen
Philosophen, wie bei vielen anderen, häufig. Aber in dem
Streben, zwischen dem Schönen und dem einfach tatsächlich Ge­
fallenden einen Unterschied zu statuieren, suchen sie bei jenem
dem Gefühle das Bewußtsein der allgemeinen und notwendigen
Berechtigung zu gesellen, und darin liegt ein Zeichen, daß sie
auf die Eigentümlichkeit des als richtig charakterisierten Wohl­
gefallens abzielten.
Wenn wir nun diese Definition annehmen, so scheint sich als
Folge unserer Untersuchung allerdings die Inkonvenienz zu er­
geben, daß dem Schönen 'kein Häßliches entgegensteht, indem
jedes Vorstellen in gewissem Maße schön ist. Dagegen bliebe es
immer noch unrichtig, daß jeder Unterschied zwischen dem
S ch ö n e n und dem Gefälligen aufgehoben würde. Viel­
mehr blieben beide Begriffe dem Inhalt und Umfang nach ver­
schieden.
a) Dem Inhalt nach; denn tatsächlich und gemeiniglich den
Menschen wohlgefallen heißt etwas anderes als ein als richtig
charakterisiertes Wohlgefallen erregen können (jenes enthält
nicht den Begriff „als richtig charakterisiert“, dieses nicht das
„wirklich erregend“).
b) Dem Umfang nach: das Gebiet dessen, was tatsächlich
Wohlgefallen erregt, ist enger. Manches ist tatsächlich gleich­
gültig, manches geradezu mißfällig. (So gehört es ja auch zum
Begriffe „mit richtigem Urteil anerkannt werden können“ nicht,
daß jemand tatsächlich so anerkenne, ja nicht einmal, daß
jemand dazu disponiert sei.)
c) Noch mehr. Selbst wenn wir nur von Dingen sprechen, deren
Vorstellungen tatsächlich gefallen, zeigt sich, daß das Schöne
und das Gefällige sich nicht ganz decken. Denn die Gradunter­
schiede des tatsächlichen Gefallens entsprechen nicht denen des
Schönen. Diese sind allgemein gültig, aber bei verschiedenen
192 Unterschied von schön und häßlich

Menschen begegnen wir entgegengesetzten Bevorzugungen des


Geschmacks. Es fällt also notwendig bei einem der Streitenden
das Gefälligere nicht mit dem Schöneren zusammen.
d) Und noch mehr! Es kommt bei einem und demselben
Menschen vor, daß von zwei Erscheinungen die eine ihm ver­
möge seiner Organisation oder erworbener Gewohnheit etc.
mehr Lust gewährt, während er der anderen den Vorzug der
Schönheit zugestehen muß. So mag er z. B. eine Erscheinung des
Gesichtssinnes als die schönere anerkennen, ein als richtig charak­
terisiertes Gefallen an ihr haben, während er an eine solche des
Tastsinnes mehr Lust geknüpft findet.
4. So bliebe denn, wenn wir das schöne Vorstellen mit dem,
was Gegenstand eines als richtig charakterisierten Gefallens sein
kann, identifizieren, nur die Schwierigkeit, vom Unterschiede des
Schönen und Häßlichen Rechenschaft zu geben.
Man könnte sich zu helfen suchen, indem man vom Begriffe
des Schönen Ähnliches wie von dem des Großen sagt. Groß
nennen wir etwas im weiteren und im engeren Sinne. In jenem
ist jeder Mensch groß, denn jeder Körper hat eine gewisse
Größe; in diesem sind nur gewisse Menschen groß, d. h. sie
ragen über die Durchschnittsgröße hervor. Wenn wir von
großen Menschen sprechen, so meinen wir es gewöhnlich s o.
Ähnlich, könnte man sagen, sei es auch mit dem Worte schön.
Auch Schönheit werde bald im weiteren, bald im engeren Sinne
ausgesagt. In diesem besage es eine Auszeichnung vor anderem,
und dies sei der gewöhnliche Sprachgebrauch. So verstanden ist
dann nicht jede Vorstellung eine Vorstellung von Schönem.
Das Häßliche wäre dann auch ein relativer Begriff. In sich
betrachtet, wäre sein Gegensatz zum Schönen nur wie der von
klein zu groß. Häßlich wäre kein positiver Gegensatz zum
Schönen, sondern nur ein relativer Mangel. Die häßlich ge­
nannte Vorstellung wäre nicht eigentlich ein Übel, sondern nur
etwas, was wegen der Enge des Bewußtseins der Vorstellung
des Schönen hinderlich ist und uns darum mißfällt.
Definition des Schönen und Häßlichen 193
f 57. Definition des Schönen und Häßlichen
Vom Schönen in der Kunst

Es scheinen aber auch diese Definitionen nicht ganz passend,


wenn man das treffen will, was gemeiniglich mit schön und häß­
lich gemeint ist. Die gewöhnliche Auffassung ist die, daß das
Häßliche geradezu ein Übel sei. Man könnte erwidern, dies sei
eine Folge von Konfusion. Pflege man doch auch den Unterschied
von Wohlgefallen und als richtig charakterisiertem Wohlgefallen
sich nicht klarzumachen. So verwechsle man das Mißfällige mit
dem, was mit Recht mißfällig ist. Überhaupt seien die Begriffe
schön und häßlich schwankend und verschwommen. Zuweilen
werde jede Vorstellung, an die sich Wohlgefallen knüpft, schön
genannt (schön warm; es riecht schön etc.).
1. Das alles ist zweifellos wahr, dennoch läßt sich vielleicht
eine Definition des Schönen und Häßlichen geben, die mit dem
gewöhnlichen Gebrauche der Worte besser übereinstimmt als die
vorerwähnte. Wenn man sagt „schön warm“, „es schmeckt schön“
u. dgl., so fühlt man dies als eine Unregelmäßigkeit. Dagegen
hat die Berücksichtigung des tatsächlichen Gefallens oder Miß­
fallens allgemein und regelmäßig so viel Einfluß, daß niemand
etwas schön nennen wird, dessen Vorstellung allgemein ein —
wenn auch ganz instinktives und nicht als richtig charakterisiertes
— Gefühl der Unlust hervorruft, das neben sich ein Gefallen
gar nicht aufkommen läßt oder es zu keinem irgendwie be­
deutenderen Genuß gelangen läßt. Schön nennt man im gewöhn­
lichen Leben das, wovon die Erscheinung um ihrer selbst willen
den gewöhnlichen Erscheinungen mit einer richtigen Liebe vor­
gezogen werden kann und was in der Art sich darstellt, daß dem
wohldisponierten Menschen, d. h. dem mit gutem Geschmack
begabten, faktisch Liebe und Freude in besonders hohem Maße
erweckt wird. Dazu aber gehört außer dem Werte der Vor­
stellung die Erfüllung noch mannigfaltiger anderer Bedingungen.
So hat der Begriff des Schönen bzw. Häßlichen im gewöhn­
lichen Leben auch eine Beziehung auf das tatsächliche Gefallen
und Mißfallen und entsprechend auch das Häßliche eine Be­
ziehung insbesondere auf das tatsächlich Mißfällige.
194 Mißfälliges ist zu vermeiden, erhöht aber

2. Und wie verhält es sich mit den schönen Künsten? Wir


konnten sagen, schön nenne man im gewöhnlichen Leben das,
wovon die Vorstellung um ihrer selbst willen den gewöhnlichen
Vorstellungen mit richtiger Bevorzugung vorgezogen werden
könne, wobei der Genuß der Betrachtung nicht durch tatsächliche,
wie auch immer nicht als richtig charakterisierte Unlust an der
Vorstellung zerstört oder wenigstens gestört werde. Fällt bei
dem Schönen, das die Künstler anstreben, jede Beziehung auf
das tatsächliche, wenn auch nicht als richtig charakterisierte
Wohlgefallen oder Mißfallen weg? Keineswegs. Nicht bloß Vor­
stellungen von besonderem Wert, sondern auch das als richtig
charakterisierte Wohlgefallen an ihnen will er in hohem Maße
erwecken.
Daher sucht der Künstler alles Mißfällige möglichst zu ver­
meiden, damit es den Genuß nicht störe. Wo er aber etwas, an
dessen Vorstellung sich Mißfallen knüpft, verwendet, so tut er
es, um daraus ein stärkeres Wohlgefallen hervorgehen zu lassen.
So z. B. wenn der Musiker Disharmonien sich auflösen läßt. Das
Interesse wird gespannt, die an und für sich schon angenehme
Harmonie wird noch angenehmer als Lösung von etwas, was nur
als Vorbereitung auf sie sich künstlerisch rechtfertigen läßt. Oder
aber die Harmonie wird angenehmer wegen der Koinzidenz
verschiedener Tongänge, von welchen der eine durch den anderen
hindurchschimmert. Noch deutlicher ist dies bei der Disharmonie,
weil hier die Mehrheit merklicher, dann aber in Folge davon
auch in den harmonischen Stellen begreiflicher wird. Auch so ist
das, was an sich Disharmonie wäre, es nicht an der betreffenden
Stelle der Melodie.
Es ist Tatsache, daß das Angenehme im Momente des Er­
langens ganz besonders Lust gewährt, namentlich, wenn Un­
angenehmes vorherging. Mit der Zeit nutjt sich das Gefühl
sozusagen ab. Daher ist in der Kunst ein Wechsel von un­
angenehmen und angenehmen Momenten am Platj. Besonders
spielen die schwankenden Gefühle von Furcht und Hoffnung
eine Rolle (Hum e), die befriedigte Freude höchstens als Krone.
Denn ewige Spannung, welche zu gar keiner befriedigenden
Lösung führt, würde zur Marter werden.
durch Kontrast den Wert des Gefälligen 195
Ähnliches finden wir ja auch auf dem Gebiete wissenschaft­
licher Forschung. Lessing und andere nach ihm erklärten, wie
schon erwähnt, daß sie dem vollen Besitze der Wahrheit das
Streben nach ihr vorzögen. Ein paradoxes Bekenntnis, denn wer
so gesinnt ist, möchte man sagen, besäße wohl kaum das echte
Streben nach der Wahrheit. Sicher ist die Erkenntnis das höhere
Gut, aber die Freude bei der schrittweisen Annäherung, das Er­
regende der Wechselfälle von Hoffnung, Enttäuschung, An­
strengung, teilweisem Erfolg usw. erneuert sich immer wieder,
so daß die Freude an der Forschung länger lebendig erhalten
wird als die an der vollendeten, abschließenden Entdeckung,
obwohl diese im ersten Momente gewiß von allen die höchste ist.
Aus solchen und verwandten Rücksichten also wird vom
Künstler wohl auch Mißfälliges oder minder Gefälliges absicht­
lich eingemengt, sonst aber gemieden.
3. Aber noch mehr; der Künstler wird nicht bloß das tatsäch­
lich Mißfällige meiden, sondern andererseits auch mit Vorliebe
solches wählen, was tatsächlich Wohlgefallen erzeugt, und wäre
es sogar blindes, instinktives oder einzig und allein auf Gewohn­
heit beruhendes Wohlgefallen. Wenn also z. B. an eine Farbe
mehr als an eine andere ein solches Wohlgefallen sich knüpft,
so kann dies ein Grund werden, ihr vor der anderen den Vorzug
zu geben. Daß wirklich die Künstler solche Rücksicht walten
lassen, ist außer Zweifel. Doch tun sie es in verschiedenem Maße.
Es gibt Kunstwerke, welche eine größere Fülle von eigentlicher
Schönheit bieten und andere, welche ein größeres Wohlgefallen
erwecken. (Strenge, gehaltsreiche — weiche, gefällige Kunst.)
Diese Rücksicht übt der Künstler mit Berechtigung. Er soll
darauf ausgehen, beides zu vereinigen. Und warum? Ist auch
die Erregung blinder Lust an Vorstellungen Ziel der schönen
Künste? Das kann kaum behauptet werden. Vielmehr ist das,
worauf sie ausgehen, nur die Vollkommenheit der Vorstellung
und der möglichst hohe Grad als richtig charakterisierten Wohl­
gefallens an ihr. Was soll also das Herbeiziehen von instink­
tivem und anderem blindem Wohlgefallen an gewissen Vor­
stellungen? Antwort: sehr viel! Es soll zur Erhöhung des als
richtig charakterisierten Wohlgefallens dienen. Und diesen Ein­
196 Gefühle fördern und hemmen sich gegenseitig

fluß kann es in ähnlicher Weise erlangen, wie ein gleichzeitiges


instinktives Mißfallen störend werden kann.
Eine sehr merkwürdige und künstlerisch wichtige Tatsache ist
diese gegenseitige Förderung und Behinderung der Gefühle.
Durch irgend etwas in heitere Stimmung verseht, freut man sich
an vielem, wovon man sonst nicht oder nur schwach angesprochen
werden würde. Umgekehrt sieht der traurig Gestimmte alles, wie
man zu sagen pflegt, von der traurigen Seite. So hebt ©ine Lust
die Disposition für anderes Wohlgefallen.
Unbedingt gilt dies allerdings nicht. Manchmal wird vielmehr
die Aufmerksamkeit abgelenkt. Man denke an einen Knaben,
der beim Lernen durch einen neu erworbenen Hund oder Vogel
im Zimmer abgelenkt wird oder durch das Vergnügen an einem
lustigen Stück, das der Leiermann im Hofe zu spielen begonnen
hat. Aber in anderen Fällen stört ein Vergnügen das andere
nicht in gleicher Weise. Es 'können vielmehr mehrere freudige
Gegenstände so in Beziehung zueinander stehen, daß leicht eine
einheitliche Aufmerksamkeit sie zusammenfaßt, und dabei wächst
die Freude an jedem. Man vergleiche, was Aristoteles über
den Wohlgeruch in einem Speisesaale sagt, der die Eßlust er­
höhen soll. Rosenduft würde ablenken, Bratengeruch aber stimu­
liert. Doch findet er in gewissen Fällen auch jenen zulässig,
wenn nämlich auf Grund von Gewohnheit eine Assoziation sich
gebildet hat. So wächst auch, wenn wir bei einer und derselben
Person Tugend und Anmut sich verknüpft finden, das Wohl­
gefallen an beiden. Und ebenso, wenn schöne dichterische Bilder
in schönen Versen und entsprechenden Metren ausgesprochen
werden. An Goethes Bemerkung, um den Wert eines Ge­
dichtes zu erkennen, sollte es einmal in Prosa überseht werden,
ist richtig, daß ein solches Verfahren uns zu einer aufklärenden
Analyse des Motivs unseres Gefallens verhilft. Ist von zwei
Freuden, die wir so an mehreren Vorstellungen haben können,
nur die eine Freude an einer Vorstellung von etwas, was durch
Schönheit ausgezeichnet ist, somit eine als richtig charakterisierte
Freude, die andere dagegen eine blinde Lust, so liegt doch auch
die Vorführung dieses instinktiv gefälligen Gegenstandes im
künstlerischen Interesse.
Zusammenfassung über die Aufgaben der Ästhetik 197
4. Aus dem Gesagten ergeben sich einige Aufschlüsse über die
Aufgaben der Ästhetik. Wenn diese Kunstlehre sein, d. h. den
Künstler belehren, ja auch nur ein Kunstwerk analysieren und
aus seinen Motiven verständlich machen will, so hat sie weit
mehr zu tun, als bloß die Gesetje darzulegen, nach denen sich
das höhere Maß eigentlicher Schönheit bestimmt. Sie wird auch
von denen handeln müssen, die das tatsächliche größere Wohl­
gefallen am Schönen, ja überhaupt alles tatsächliche Wohl­
gefallen an gewissen Vorstellungen bestimmen. Also auch die
Gesetje des instinktiven Wohlgefallens. Ferner die Geseke der
Gewohnheit, die bei als richtig charakterisiertem wie blindem
Wohlgefallen einen großen Einfluß üben. So bedeutend erweist
sich dieser, daß manche Philosophen geradezu alle Schönheit von
der Gewohnheit bestimmt dachten (z. B. regelmäßige Gesichts­
züge, weil sie einen Durchschnitt darstellen, ähnlich gewisse
Proportionen der Glieder usw.). Nadi dem früher Dargelegten
ist dies gewiß nicht richtig; aber unleugbar ist es immerhin, daß
die Geseke der Gewohnheit so wie auch manches andere psycho­
logische Gese$, das an und für sich 'kein Gesetj der Schönheit
ist, wesentlich mit zu Rate gezogen werden müssen, um das hohe
Wohlgefallen, das eine schöne Erscheinung mehr als andere
erregt, begreiflich zu machen.
5. Doch bleiben wir bei der Frage, die der eigentliche Gegen­
stand unserer gegenwärtigen Erörterung ist. Wir verstehen,
glaube ich, aus dem Gesagten, warum der Künstler nicht bloß
das Mißfällige von seinem Kunstwerk ausschließt, sondern auch
das, dessen Vorstellung blindes Gefallen erregt, hereinzieht, um
das Schöne eindrucksvoller zu machen.
Dieselbe Absicht führt ihn aber gerne noch weiter. Er liebt es
auch noch, über das gesamte Gebiet der Freude am Vorstellen
noch hinauszugreifen, um irgendwelches andere Wohlgefallen zu
ähnlichen Dienstleistungen herbeizuziehen. Sogar durch ein­
geflochtene Schmeichelei, sei es dem einzelnen, sei es einem Volk
gegenüber, kann der Künstler das ästhetische Wohlgefallen zu
heben versuchen. Redensarten wie „einem schöne Sachen sagen“,
„mit tausend schönen Worten“ deuten darauf hin. Was Miß­
fallen erwecken würde, daran rührt er lieber nicht, auch wenn
198 Heranziehung verschiedener Mittel

sich dieses nicht auf ein Vorstellen bezieht. Eine Satire wird von
dem Betroffenen selten schön empfunden, und, wenn das gesamte
Publikum beleidigt wird, von niemandem. (Mißfallen der Blau­
strümpfe an Molière, der bösen Sieben an Shakespeare. Ein alter
Mann, der am Leben hängt, findet kein Gefallen an Kunst­
werken, die ans Sterben erinnern.)
Indem der Künstler dem Rechnung trägt, kann er doch noch in
wahrhaft künstlerischer Absicht und nach Regeln handeln, die
ästhetisch maßgebend sind.
6. Anders, wenn das Schöne dem tatsächlich Gefälligen ge­
opfert oder das Wohlgefallen an den Vorstellungen höheren
Wertes der Lust an niederen Vorstellungen oder anderen Inter­
essen untergeordnet wird. Leider ist auch dies oft der Fall. So,
wenn sich die Kunst in den Dienst der Sinnlichkeit stellt. Sie
hört dann auf, schöne Kunst zu sein, und sinkt auf die Rang­
stufe einer Kochkunst herab, die darauf ausgeht, in raffinierter
Weise dem Gaumen Vergnügen zu bereiten. Ähnlich ist es, wenn
das Hauptwohlgefallen an einem lobenden Gedichte den darin
enthaltenen Schmeicheleien gilt. Es ist dann kein ästhetisches.
Platon nennt die Kochkunst eine Schmeichelkunst. Wo eine
edle Kunst auf ähnliche niedere Ziele abgestellt ist, ist der Tadel
aber weit berechtigter. Ja, durch die Entwürdigung dessen, was
zu Höherem berufen ist, wird sie den, der das Schöne wirklich
liebt, geradezu widerlich anmuten. Aber auch sog. Tendenz-
stüdce sind, obwohl ethisch von größerem Werte als die eben
erwähnten Werke, den wahren Zielen der Kunst entfremdet.
7. Auch wendet die Kunst sich da von ihrer eigentlichen Auf­
gabe ab, wo sie sich in sog. Parforcetouren ergeht und überhaupt,
wo das Werk die Aufmerksamkeit statt auf die Schönheit des
Vorgestellten auf die Meisterschaft des Künstlers konzentriert.
Es mag hier ein Wohlgefallen, auch ein berechtigtes, erweckt
werden, aber es ist kein Wohlgefallen am Schönen.
In jedem Zweige der Kunst werden solche Fehler begangen.
Da ist ein Dichter, der die künstlichsten Reime und Assonanzen
ineinanderflicht und eine erstaunliche Herrschaft über die
Sprache bekundet, aber weder die Vorstellung dessen, wovon er
spricht, noch das Gefühl, das sich auf die Vorstellung bezieht,
zur Hebung des Wohlgefallens 199
wird dadurch gefördert. Da ist ein Musiker, der Ausbrüche ver­
zweifelter Traurigkeit oder wilder Rachelust einer Koloratur­
sängerin in den Mund legt, die uns mit ihren gewandten, hüpfen­
den und trillernden Tönen aus aller ernsten Stimmung bringt.
Da ist ein Maler, der, um seine Meisterschaft zu zeigen, im Über­
maße die Linearperspektive in Anwendung bringt (Man­
te g n a). Da ist ein Architekt, der den Turm einer Kirche, statt
senkrecht, schief in die Luft baut, kühn bis zur äußersten Grenze
schreitend, die nach den Gesehen des Gleichgewichtes noch statt­
haft ist. Da ist ein Meister der Tanzkunst, der nicht den min­
desten Sinn für die in der Bewegung zu erreichende Schönheit
hat, um deretwillen Terpsychore wirklich einer Stelle unter den
Musen würdig ist. Die gewaltsamsten Verrenkungen von Armen
und Beinen gelten ihm als höchster Triumph seiner Kunst. Und
das Publikum ist barbarisch genug, an solcher Menschenquälerei
Wohlgefallen zu finden. Ob es freilich bloß das Wohlgefallen an
der Gelenkigkeit und meisterhaften Beherrschung der Glieder
ist, das in diesem Falle für den Mangel an ästhetisch Anziehen­
dem Ersatj bietet, dürfte bezweifelt werden. Wenn aber, so ist
es auch dann wie in den vorerwähnten Fällen nur ein Abfall von
der wahren Bestimmung der Kunst und ist es immer und in
jedem Falle, auch wenn es sich um -so bedeutende Meister wie
Mantegna oder Mozart handelt.
Auch beim Porträt geschieht es häufig, daß das Wohlgefallen
daran vorzüglich der Meisterschaft des Künstlers gilt. Dies dort,
wo nichts als die Ähnlichkeit gewertet wird. Aristoteles
erklärt sich das Vergnügen an dieser aus der Verwandtschaft des
Vergleichens mit der Denktätigkeit beim Schließen. Auch das
wäre kein ästhetisches Wohlgefallen, aber die Erklärung genügt
kaum. Zwei ähnliche Gegenstände der Natur, z. B. zwei Augen,
zwei Hände, zwei Beine zu vergleichen gewährt nicht die Lust,
die ein gelungenes Porträt bereitet. Es ist vielmehr das Wohl­
gefallen an der Virtuosität. „Wie natürlich das gemacht ist!“
Das Wohlgefallen und die Bewunderung sind gerechtfertigt,
aber sie sind -kein Wohlgefallen am Schönen, sondern an der
Meisterschaft.
Einer -meiner Freunde, ein Künstler, sagte mir in dem Be­
200 Schönheit und Wert

wußtsein, in wievieler Beziehung alle Schönheit der Kunstgebilde


hinter der in der Natur zurückbleibt, es sei ihm oft ein Rätsel,
wie die große Freude der Menschen an den Kunstwerken sich
begreifen lasse. Er glaubte schließlich die Lösung in ihrer Eitel­
keit zu finden. Sie seien stolz auf die Schönheit als das Werk
von Menschenhand. Das wäre so etwas wie das Wohlgefallen
an der Meisterschaft, das, was der Künstler anstreben soll, ist
es aber nicht, denn dieser feiert seinen höchsten Triumph, wenn
der ein Werk Genießende über der Schönheit den Künstler, ja
sich selbst vergißt.22
8. Blicken wir auf das zurück, was wir auf den letjten Einwand
zu antworten hatten. Er glaubte die These, daß jede Vorstellung
in sich wertvoll sei, im Widerspruch damit, daß es auch häßliche
gibt. Aber es war durchaus nicht meine Absicht, die Begriffe
Schönheit und Wert der Vorstellung zu identifizieren. Nicht nur
schöne Vorstellungen gefallen mit Recht. Schönheit ist der engere
Begriff. Schön nennen wir Vorstellungen von so erheblichem
Werte, daß sie ein besonders hohes Maß von Wohlgefallen recht­
fertigen. Es genügt auch nicht, daß sie ein hohes Wohlgefallen
verdienen, sie müssen, um schön zu sein, uns in solcher Weise
dargeboten werden, daß dieses Wohlgefallen auch tatsächlich
erweckt wird. Damit dies geschehe, sind minderwertige, störende
Vorstellungen fernzuhalten, vor allem aber darf Unlust, auch
blinde, sich nicht einmischen, außer sie hebe durch den Kontrast
die Freude am Wertvollen. Es gehört zu den Feinheiten des
künstlerischen Schaffens, Unlust nur dort zu verwenden, wo sie
diesen Dienst leistet, blindes Wohlgefallen aber nicht um seiner
selbst willen, sondern nur zur Unterstütjung des ästhetischen
Genusses heranzuziehen. Wie dies im einzelnen geschehe, gehört
in die Ästhetik. Hier war es uns nur darum zu tun, die Zu­
gehörigkeit des Vorstellens überhaupt zu dem in sich Guten fest­
zustellen, und dieses Bestandstück der Gütertafel gegen Ein­
wände zu schütjen, von denen durch die Klärung des Begriffes
des Schönen nun auch der letjte erledigt ist. Auf die Wertver­
hältnisse der Vorstellungen näher einzugehen, wird später am
Platje sein, dort, wo wir von den Gesetjen des richtigen Vor­
ziehens überhaupt handeln werden.
sind nicht identische Begriffe 201

Es bleibt also -dabei, daß jedes Vorstellen in sich selbst etwas


Gutes ist und daß durch jede Erweiterung des Vorstellungs­
lebens das Gute in uns vermehrt wird. Und da allen anderen
psychischen Tätigkeiten Vorstellungen zugrunde liegen, ergibt
sich schon daraus, daß jede psychische Tätigkeit etwas Gutes ist
HI. Kapitel

Das Gute außerhalb der eigenen psychischen Tätigkeit

§ 58. Nicht nur eigene psychische Tätigkeit ist liebbar


und liebenswert

1. Ist nur eigene psychische Tätigkeit liebenswürdig oder noch


anderes? Viele behaupten, nur eigene, alles andere nur als
Mittel. Ja, sie gehen weiter: nicht bloß sei nur eigene psychische
Tätigkeit liebenswürdig, sondern es sei gar nicht möglich, etwas
anderes als sie um seiner selbst willen zu lieben. Natürlich ge­
hören zu ihnen alle, welche behaupten, nur eigene Lust sei gut
und fähig, geliebt zu werden. Aber zu ihnen gesellen sich andere,
indem sie sagen: nur eigene Vollkommenheit.
Was sollen wir erwidern? Eines ist sicher: wenn es richtig
wäre, daß nur eigene psychische Tätigkeit geliebt werden könne,
so belügt sich die ganze Welt, denn das Gegenteil wird fort und
fort versichert.
Und wenn beides richtig wäre, sowohl daß nur Eigenes ge­
liebt werden könne als auch, daß nur Eigenes wert sei, geliebt
zu werden, so lögen die Leute einander vor, daß sie liebten,
was der Liebe nicht wert, und begehrten, was nicht begehrens­
wert, d. h. sie 'klagten sich mit solcher Lüge eines unrichtigen
Verhaltens in Lieben und Begehren an.
Schon das erste scheint eine harte Behauptung. Doch hat es
Philosophen gegeben, die nicht davor zurückschreckten: Mande­
ville, La Rochefoucaud, Nietzsche („das schöne
germanische Raubtier“), Darwinismus. Das zweite aber
scheint ganz und gar unglaublich, es ist so sehr allen Neigungen
der Menschen entgegen, daß selbst die eben genannten Denker
Nicht nur eigene psychische Tätigkeit ist liebbar und liebenswert 203
vielleicht Bedenken tragen würden, solche Konsequenzen zu
ziehen. Doch wer weiß, ob nicht ein kecker Forscher lieber auch
dieses Zugeständnis machte, als seine Hauptthese fallen ließe.
Und er könnte sich die Tatsache allenfalls so zurechtlegen: man
scheue eine Selbstanklage nicht unbedingt, insbesondere dann
nicht, wenn sie dem, vor dem wir uns anklagen, zu schmeicheln
und ihn zu verpflichten scheine. (W o 1 s e y und andere Staats­
männer gegenüber ihren Monarchen. M e d e a gegenüber Ja­
son.) Ein anderer 'könnte die Sache anders wenden: man halte
irrigerweise das Schlechte für gut.
2. Das alles erscheint indessen ziemlich gesucht, und wir
werden gut tun, nach Gründen zu fragen, ehe wir eine Lehre
annehmen, die zu so paradoxen Konsequenzen führt. Die Be­
gründung ist bei verschiedenen verschieden.
Manche verfahren deduktiv. Sie gehen von dem Satje aus,
daß alles Sein im tiefsten Grunde nichts anderes sei als Streben
nach Selbsterhaltung. Wie nun alles Tun aus dem Sein ent­
springe, so aus diesem egoistischen Streben.
Andere, und zwar die meisten, berufen sich auf die Erfahrung.
Aber gerade diese scheint unzweideutig gegen die Lehre zu
zeugen, so daß hier Ähnliches wie früher in betreff des Hedonis­
mus gilt. Zeigen wir dies in den einzelnen Punkten:
a) Vor allem ist es sicher unwahr, daß nur eigene psychische
Tätigkeiten geliebt werden können. Menschen opfern sich für
andere auf, der Freund für den Freund, die Mutter für ihr Kind,
der Patriot für sein Vaterland, der Schwärmer für seine Idee.
Diese Tatsachen sind so unleugbar, daß aufrichtige Männer, in
deren System die entgegengesetzte Ansicht begründet wäre, sich
ihnen nicht auf die Dauer verschließen konnten (man vergleiche
Hutchesons treffliche Bemerkungen darüber). Mill, der
ursprünglich nur eigene Lust für liebbar hielt und immer der
Meinung blieb, daß im Anfänge des Seelenlebens nur sie Gegen­
stand der Liebe sein könne, gab doch später zu, daß man im
Verlaufe der Entwicklung des Seelenlebens zur Nächstenliebe
gelange, wie — sagte er — der Geizige zur Liebe des Geldes.
Man liebe aber den Nächsten und dessen Lust eigentlich doch
nur um der eigenen willen. Ob dies nun im besonderen richtig
204 Liebbarkeit künftiger Lust

sei, geht uns hier nichts an; genug, daß selbst von dieser Seite
ein Zeugnis gegen die Lehre, nur Eigenes sei liebbar, vorliegt.
b) Vielleicht dient aber folgende Betrachtung noch mehr dazu,
die Tatsache ins Licht zu setjen. Ich frage: Wenn man behauptet,
nur Eigenes, d. h. die eigene psychische Tätigkeit, sei fähig,
geliebt zu werden — wie ist dies zu verstehen? Meint man, nur
die des Augenblicks oder auch künftige? Kaum einer dürfte die
zukünftige ausschließen wollen. So lehren auch die Hedoniker,
z. B. Ep i k u r, auch unsere 'künftige Lust könne geliebt werden;
man opfere in der Tat mit Rücksicht auf sie eine geringere Lust
der Gegenwart. Aber sehr viele unter den Hedonikern sind, wie
E p i k u r selbst, Materialisten. Auf diesem' Standpunkt bedeutet
nun der beständige Stoffwechsel des Gehirns einen beständigen
Wechsel des Trägers der psychischen Funktionen. Was in etlichen
Jahren nach gewöhnlicher Sprechweise Ich genannt wird, das ist
jetjt dem Stoffe nach außer mir und ohne Widerspruch könnte es
mir, ebenso zusammengesetzt, jetjt von außen gegenüberstehen.
Und siehe! dieser Glaube hebt die Liebe nicht auf. Etwa bloß
darum, weil diese hedonistischen Materialisten — wie der
Materialismus in psychologischen Dingen in der Tat vielfach
roh und oberflächlich zu verfahren pflegt — die Konsequenzen
nicht überdacht haben, so daß jener Glaube nicht Einfluß ge­
winnen konnte? Aber man mache sie darauf aufmerksam: Sie
werden nicht minder für ihre Zukunft Sorge tragen, ob sie aber
ihren Materialismus aufgeben werden, scheint mir sehr fraglich.
So zeigt sich denn, wie der Mensch in der Tat fähig ist, außer
der eigenen auch fremde psychische Tätigkeit zu lieben.
Vielleicht wendet einer ein: Wenn auch streng genommen
mein künftiges Ich nicht ganz dasselbe ist wie das gegenwärtige,
so liegt doch hier ein besonderer Fall, eine ganz besondere Ähn­
lichkeit vor, so daß es praktisch als dasselbe gelten kann. Es
bliebe somit doch die Beschränkung der Liebe auf die eigene
gegenwärtige und künftige Tätigkeit faktisch bestehen.
Antwort: a) Mit Unrecht wird diese weitgehende Ähnlichkeit
behauptet. Der Mann ist dem Knaben viel unähnlicher als dieser
anderen Knaben.
ß ) Wie immer ähnlich, die Ichsdiranke wäre gefallen. Eine
Nicht nur eigene psychische Tätigkeit ist liebenswürdig 205

Ähnlichkeit aber kann allmählich abnehmen, und so ist keine


bestimmte Stelle mehr anzugeben, die schlechterdings unüber­
schreitbar wäre.
So ist es denn unrichtig, daß nur eigene psychische Tätigkeit
liebbar sei. Sie ist aber auch nicht allein liebenswürdig.
a) Niemand nimmt es ernsthaft als eine Selbstanklage, wenn
einer bekennt, sich für fremdes Glück zu interessieren. Ja, wir
rühmen uns selbst auch vor Dritten der Selbstaufopferung für
andere, und dies zuweilen gar nicht der Wahrheit gemäß, aus
Eitelkeit. Wie wäre dies begreiflich, wenn Fremdes gar nicht
zum Guten gehörte? Und doch verwundert sich niemand über
solches Rühmen, man bewundert vielmehr die Selbstaufopferung.
Und in der Tat! Wenn wir so vorziehen und wählen, daß wir
ein kleineres eigenes Gut opfern zum unvergleichlich größeren
Nutjen anderer und weiterer Kreise, so trägt diese Gemütstätig­
keit, wenn irgendeine, den Charakter der Richtigkeit.
b) Auch hier läßt sich die Sache verdeutlichen, wenn man fragt,
ob nur eigenes Gegenwärtiges oder auch die eigene Zukunft
liebenswürdig sein soll. Und kaum dürfte sich einer finden, der
nicht auch diese einbezöge. Wäre ■ doch sonst möglichste Kurz­
sichtigkeit im Handeln das Ideal. Oder vielmehr, alles Streben
und Handeln wäre Torheit, da es ja immer auf die Zukunft
gerichtet ist und sicher nicht dieses Zukünftige als Mittel für
Gegenwärtiges erstrebt wird. Somit läßt sich das frühere Argu­
ment für die Möglichkeit einer unegoistischen Liebe auch für die
Richtigkeit einer solchen verwerten.
Es ist also Fremdes nicht nur liebbar, sondern liebenswürdig.
Selbst B e n t h a m gibt zu, daß Lust an fremdem Glück vor­
komme und ein Gut sei. Freilich gibt es nach ihm keine Selbst­
aufopferung, aber wenn einmal zugestanden wird, daß wir auch
fremdes Glück lieben können, so wird doch wohl nicht mehr
geleugnet werden können, daß es auch Fälle gibt, wo ein gewisses
fremdes Glück einem, sagen wir viel kleineren, eigenen vor­
gezogen und dieses geopfert wird. Und so schlagend wird dies,
wie oben ausgeführt, durch die Tatsachen bewiesen, daß hier
selbst Mill von B e n t ha m abfiel.
Natürlich gilt das Gesagte für die Güter in allen Gattungen
206 Untersuchung, ob nur psychische Tätigkeit

psychischer Tätigkeit, und ähnlich auch für die Übel. Auch andere
Güter als Lust sind liebbar und liebenswert und in gleicher
Weise eigene wie fremde.

§ 59. Gibt es Gutes, das nicht in einer psychischen Tätigkeit besteht?

Was wir bisher von Gütern kennenlernten, waren eigene und


fremde psychische Tätigkeiten. Es fragt sich, ob auch anderes
gut in sich sei, oder ob alles, was wir gut nennen, es nur um
jener psychischen Güter willen sei. Fassen wir die allgemeine
Frage spezieller:
1. Ist auch eine tugendhafte Disposition vorzüglicher als das
Gegenteil? Wir bewundern und lieben Personen sogar mehr
wegen ihres Charakters als um der einzelnen sittlichen Handlung
willen. Diese wird von uns geschäht, insofern in ihr der sittliche
Charakter zutage tritt. „Ethik“ kommt von (Sitte, Brauch),
„tugendhaft“ von Tüchtigkeit (taugen). Ist also das Dispositionelle
nicht auch in sich wertvoll? Oder nur wegen der Tätigkeiten, die
daraus resultieren? '
2. Sind Pflanzen um ihrer selbst willen — an und für sich —
liebenswürdig, etwas in sich Gutes zu nennen? Ist die Voll­
kommenheit ihrer Organisation in sich wertvoll?
3. Ist jedes Ding ein Gut, von der allfälligen Nämlichkeit ganz
abgesehen?
Auch hierüber sind die Ansichten geteilt. Viele verneinen den
inneren Wert von Nichtpsychischem. Man sei, sagen sie, nicht
einmal imstande, irgendeinen der genannten Gegenstände um
seiner selbst willen zu lieben. Andere bejahen die Frage. Wie
sollen wir entscheiden?
Eines ist leicht zu bestimmen. Man geht zu weit, wenn man
leugnet, daß anderes als psychische Tätigkeiten überhaupt ge­
liebt werde. Der Geizige liebt das Geld unmotiviert.
Schwieriger zu entscheiden ist die Frage, ob etwas davon in
sich liebenswürdig sei.
Man möchte sagen: Nein!
a) Wenn fremde psychische Tätigkeit um ihrer selbst willen
gut in sich sei 207
liebenswürdig ist, so ist es immer eine solche, die auch für den,
der sie übt, liebenswürdig ist. Analog also müßte es bei dem
Wesen der Pflanze sein. Aber für diese selbst ist ihre Natur
nicht mit einer richtigen Liebe liebbar, da sie ja überhaupt keiner
Liebe fähig ist. Also ist sie nicht im Interesse ihrer selbst,
sondern nur in unserem Interesse, d. h. als Mittel, zu lieben. Der
Wert der Pflanze liegt nicht in ihrem Wesen selbst.
b) Wenn mancher dennoch geneigt ist, sie zu dem in sich
Wertvollen zu zählen, so könnte man diese Versuchung daraus
erklären, daß sich bei dem, was uns als Mittel liebenswürdig
ist, leicht eine enge Assoziation mit dem an sich Liebenswürdigen
und der gerechtfertigten Liebe bilde, die uns dann dazu ver­
leite, das bloß als Mittel Gute als in sich gut anzusehen.
Doch ist es wohl von einigem Gewichte, daß die bedeutendsten
Philosophen in ihrer Mehrheit den Kreis des in sich Wertvollen
weiter ziehen. Platon nahm jedes positive Sein für eine Nach­
ahmung der Idee des Guten. Auch Aristoteles und die
bedeutendsten Philosophen des Mittelalters dachten so. Und
wiederum Leibniz, der in seiner Korrespondenz mit Wolff
sagt, die Vollkommenheit sei ein Grad der positiven Realität
oder, was auf dasselbe hinausläuft, der affirmativen Erkennbar­
keit (intelligibilitas affirmativa), so zwar, daß das vollkommener
ist, woran mehr Dinge sich finden, die der Beachtung wert sind
(notatu dignae). An Leibniz schließt sich wesentlich Pierre
Janet an. Gut sei jede Aktivität, besonders die intensive,
und ferner die Harmonie der Teile, Einheit in der Vielheit.
Beides faßt er in dem Satj zusammen: „Le bien d’un être consiste
dans le développement harmonieux de ses facultés.“ Die Frage
ist für die Theodizee von Wichtigkeit. Wäre nur psychische
Tätigkeit in sich gut, so ergäbe sich die Aporie, warum Gott
nicht, aller Mittel sich entschlagend, sämtliche psychische Wesen
von Anfang an gleich in den vollkommensten Zustand verseht
hat, alles erkennend, nur richtig liebend, höchste Freude ge­
nießend. Aber gerade an solchen metaphysischen Erwägungen
erkennt man, daß die Beschränkung des Guten auf Psychisches
nicht haltbar ist. Es fehlte alle Entwicklung der Welt. Sie würde,
einem schlechten Drama gleich, in lauter Episoden zerfallen.
208 Psychische Güter übertreffen jedenfalls

Die ursächlichen Beziehungen und Verknüpfungen scheinen eben


mit zum Guten zu gehören.
Das Argument contra aber, näher besehen, erweist sich als
unkräftig. Es stütjt sich auf den Satj, daß alles, was liebens­
würdig ist, es im eigenen oder fremden Interesse sei. Was aber
heißt „im eigenen oder fremden Interesse“? Heißt es soviel wie
„als Mittel zu gewisser eigener oder fremder psychischer Tätig­
keit“, so ist es eine petitio principii. Ist aber gemeint, das Gute
sei Gegenstand berechtigten Interesses, also an die Existenz von
solchen gebunden, die eines solchen Interesses fähig sind, so liegt
ein Mißverständnis vor. In der Güte eines Gegenstandes liegt
die objektive Bedingung dafür, daß ein eventuell darauf ge­
richtetes Lieben richtig sei. Nicht aber ist damit etwas darüber
ausgesagt, ob jemand vorhanden sei, der ein solches Interesse
hegen könne. Die Analogie mit dem Wahren im Sinne der
Existenz wird das sofort klarmachen. Sagt man, wahr besage,
daß etwas in einem richtigen anerkennenden Urteil beurteilt
werden könne, so ist damit nicht gesagt, daß es einen solchen
geben müsse. Was ist, bliebe bestehen, auch wenn niemand wäre,
der es anerkennte.
Mit demselben Rechte wie oben könnte man ja auch so argu­
mentieren: Wenn von den Eigenschaften eines anderen Menschen
für mich eine wahr ist, so ist es eine solche, welche auch für
den wahr ist, der sie hat. Es müßte also auch bei den Pflanzen
so sein. Aber für die Pflanzen sind sie nicht wahr, denn sie
haben ja -keine Fähigkeit, etwas anzuerkennen. Also haben die
Eigenschaften einer Pflanze für uns 'keine Wahrheit. Ein offen­
bares Sophisma!
c) Ich sagte, für den Metaphysiker sei die Frage von höchster
Bedeutung, und wenn wir hier als Metaphysiker darauf ein­
gingen, so dürften wir eine gründlichere Untersuchung nicht
umgehen. Nicht ebenso wichtig ist die Frage für den Ethiker.
Denn praktisch führen hier die entgegengesetzten Ansichten zu
denselben Konsequenzen.
Ob man annimmt, daß z. B. tugendhafte Dispositionen in sich
selbst vorzüglicher seien als die entgegengesetjten oder nur in
Hinordnung zu den Akten, — jedenfalls sind die Akte von
alle physischen an Wert 209
überwiegendem Werte und darum der Wert der Disposition
wegen des Guten, das daraus hervorgeht, das praktisch Wichtigere.
Ebenso ist es für -die Ethik irrelevant, ob die pflanzlichen und
die tierischen Organismen, als solche wertvoll sind oder nur als
nutzbringend und als Vorbedingungen ästhetischen Genusses.
Was schließlich die Kräfte der leblosen Natur anlangt, so
können wir ihr Maß in der physischen Welt nicht mehren oder
mindern. Ob sie in sich Wert haben oder bloß als Mittel, ist
also auch hier ethisch nicht von Belang.
Je mehr man also die Sache betrachtet, um so mehr findet man,
daß in der Sphäre unseres Einflusses die psychischen Güter eine
solche Stellung und Bedeutung haben, daß neben ihnen der
eventuelle innere Wert von Physischem außer Rechnung bleibt.
Wir schließen also hier unsere Untersuchung über die Gattun­
gen der Güter. Fassen wir zusammen:
In sich Gutes fanden, wir sowohl in eigener als in fremder
psychischer Tätigkeit: jedes Vorstellen ist ein solches, auf dem
Gebiete des Urteils ist es die Erkenntnis, auf dem der Gemüts­
tätigkeit die gerechtfertigte Liebe und die Freude am Guten.

§ 60. Ist dasselbe gut für alle?

Ehe wir zur Untersuchung über die Wertverhältnisse der Güter


übergehen, noch eine Zwischenfrage: Ist dasselbe gut für alle?
Ehe man sie beantwortet, muß man sich verdeutlichen, wie sie
gemeint ist. Sie kann zweifach verstanden werden:
a) Ist es liebenswürdig, daß ein in sich Gutes allen zukomme?
b) Ist es für alle liebenswürdig, daß'es sei?
Im ersten Sinne ist sie zu verneinen, im zweiten zu bejahen.
So ist es für ein Pferd gut, vier Beine zu haben, für einen
Menschen aber zwei; für einen Mann, einen echt männlichen
Charakter zu haben, für eine Frau, einen echt weiblichen. Da­
gegen ist es für Männer und Frauen gut, wenn ein Mann einen
echt männlichen und eine Frau einen echt weiblichen Charakter
hat. (Ich rede von gut nicht im Sinne von nütjlich, sondern von
in sich gut.)
210 Dasselbe ist gut für alle

Diese Entscheidung ergibt sich einfach aus dem Voraus­


gegangenen. Wir sahen ja, daß nicht bloß eigene, sondern auch
fremde Vollkommenheit zu lieben ist. Was aber die Vollkommen­
heit von Pflanzen und andere physische Vollkommenheiten an­
geht, so ist es noch leichter zu erkennen, daß hier der Unter­
schied der Personen, welche lieben, nicht einen Unterschied von
Richtigkeit und Unrichtigkeit der Liebe zur Folge haben kann.
Also, wie dasselbe wahr für alle ist, so ist dasselbe auch gut
für alle. Und hierin liegt die Möglichkeit des Friedens aller
derer, die das Gute wollen. „Friede den Menschen auf Erden,
die eines guten Willens sind“, singen die Engel mit Recht in
den Weihnachtstagen (freilich vorausgesetjt, daß die Menschen
außer dem guten Willen auch Verstand haben).
IV. Kapitel

Von den Wertverhältnissen der Güter

§ Sl. Aufzahlung der Fälle unmittelbarer Erkenntnis des Besseren

Aus dem, was wir bereits über den Begriff des Besseren ge­
sagt haben, war ersichtlich, daß wir es bei der unmittelbaren Er­
kenntnis von Wertverhältnissen, vermöge deren ein Gut größer
erscheint als ein anderes, immer mit Fällen als richtig charakteri­
sierter Bevorzugung zu tun haben. Wir wollen diese nun über­
sichtlich, so vollständig als möglich, aufzählen.
1. Der Fall, wo wir etwas Gutes und als Gutes Erkanntes
etwas Schlechtem und als Schlechtes Erkanntem vorziehen, z. B.
Freude dem Leid, Erkenntnis dem Irrtum. Beides sind deutliche
Fälle als richtig charakterisierten Vorziehens.
2. Der Fall, wo wir zwischen dem Bestand eines Gutes und
dem Mangel daran vergleichend, jenen vorziehen. Ebenso wird
mit Recht vorgezogen, daß Schlechtes nicht sei, wenn wir den
Fall, daß es sei, damit vergleichen.
Unter diesen Fall gehören:
a) der Fall, wo wir ein Gutes rein für sich dem gleichen Guten
mit Beimischung von Schlechtem vorziehen; dagegen ein Schlechtes
mit Beimischung von Gutem diesem Schlechten rein für ,sich.
b) der Fall, wo wir das ganze Gute einem Teil des Guten,
dagegen einen Teil des Schlechten dem ganzen Schlechten vor­
ziehen. Summierungsregel (vgl. Anm. 18).
Schon Aristoteles hat bemerkt, daß -bei Gutem die Summe
immer besser sei als der einzelne Summand. Ein solcher Fall von
Summierung liegt auch vor bei längerer Dauer. Die gleiche
212 Fälle einer als richtig charakterisierten

Freude, wenn sie eine Stunde währt, ist besser, als wenn sie im
Augenblick schon erlischt.
E p i k u r hat das bestritten, um uns über den Tod zu trösten.
Aber wie gedankenlos! Dann wäre ja auch die Pein einer
Stunde nicht schlechter als die eines Augenblicks und ein ganzes
Leben voll Freude mit einem einzigen Augenblick der Pein nicht
vorzuziehen einem ganzen Leben der Pein mit einem einzigen
Augenblick der Freude. Aber gerade E p i k u r lehrt davon das
Gegenteil.
Zu den Fällen der Wertsteigerung durch Summierung gehören
auch die des Gradunterschiedes. Ist von zwei sonst gleichen
Freuden die eine intensiver, so ist sie die bessere, und wiederum
ist der intensivere Schmerz das größere Übel. (Es hängt dies
damit zusammen, daß eigentliche Intensität nur auf dem Gebiete
der sinnlichen Empfindungen und Affekte gefunden wird und
hier auf dem Maße der Dichtigkeit in der Erfüllung des Sinnes-
raumes beruht.)
3. Ein dem vorigen Fall sehr verwandter ist der, wo ein Gutes
einem anderen Guten vorgezogen wird, welches zwar nicht einen
Teil von ihm bildet, aber einem seiner Teile gleich ist. Ähnlich
ergibt sich, wenn zu einem Schlechten ein anderes Schlechtes
hinzugefügt wird, ein größeres Übel. So erscheint es z. B. als
besser, wenn einer etwas Gutes nicht nur vorstellt, sondern
auch liebt. Die Summe der psychischen Beziehungen ergibt ein
größeres Gut.
4. Ein Fall als richtig charakterisierter Bevorzugung ist es
auch, wenn wir von zwei einander gleichwertigen Gütern das
wahrscheinlichere vorziehen. Schon B e n t h a m hat darauf hin­
gewiesen. Dagegen war es ein Irrtum, wenn er glaubte, daß die
zeitliche Nähe, abgesehen von der Wahrscheinlichkeit, ähnlich
wie die größere Intensität oder längere Dauer, den Wert eines
Gutes zu steigern vermöge. So kann es geschehen, daß auf der
einen Seite ein größeres, aber minder wahrscheinliches Gut, auf
der anderen ein kleineres, aber wahrscheinlicher erreichbares
konkurrieren, dann kommt bei der richtigen Bevorzugung die
Wahrscheinlichkeit in Betracht. Wenn A dreimal besser ist als B,
Bevorzugung 213
aber B zehnmal mehr Chancen hat, verwirklicht zu werden, so
ist es richtig, B vorzuziehen.
Audi dieser Fall läßt sich dem Summierungsprinzip unter­
ordnen, denn wo ein Gut mehr Wahrscheinlichkeit bietet, wird
es im Durchschnitt der Fälle auch in größerer Anzahl verwirk­
licht werden.
5. Es gibt aber auch Fälle des als richtig charakterisierten Be­
vorzugens, wo das Bessere nicht die größere Summe ist, sondern
wo der Vorzug sich an eine qualitative Differenz 'knüpft. So
zeigt sich z. B. beim Erkennen die positive Erkenntnis unter
sonst gleichen Umständen als wertvoller als die negative. So sehr
es einen Vorzug der Geometrie bedeutet, daß sie uns allgemeine
Gesetje erkennen läßt, so wäre doch ihr Wert wesentlich herab­
gesetzt, wenn es sich herausstellte, daß es gar keine räumlich aus­
gedehnten Dinge gebe, daß also die geometrischen Sätje kein
Anwendungsgebiet haben.
6. Ein analoger Fall ist es, wenn wir unter den Gemüts­
bewegungen diejenigen, die ein Lieben sind, solchen gegenüber
vorziehen, die ein Hassen sind. Auch davon war schon bei der
Aufstellung der Gütertafel die Rede. Es handelt sich da offenbar
um besondere Fälle als richtig charakterisierten Bevorzugens.
7. Nicht ganz derselbe, aber ein verwandter Fall liegt vor, wo
die Lust am Guten mit der Lust am Schlechten und wiederum
der Schmerz über Schlechtes mit der Unlust an Gutem zum Ver­
gleich stehen. Die Lust am Schlechten ist als Lust ein Gut und
nur zugleich als unrichtige Gemütstätigkeit etwas Schlechtes. Sie
ist überwiegend schlecht, aber kein reines Übel. Indem wir sie
als schlecht verabscheuen, üben wir keinen einfachen Akt des
Hasses, sondern einen Akt der Bevorzugung, worin die Freiheit
von dem einen Schlechten den Vorzug vor dem Besitj des anderen
Guten erhält. Durch diese als richtig charakterisierte Bevor­
zugung ist der Abscheu vor der Freude am Schlechten gerecht­
fertigt. Wir sagen uns, lieber keine Lust als Lust an Schlechtem.
Wenden wir uns zu dem anderen Fall. Wie steht es um die
als richtig charakterisierte Unlust an Schlechtem? Auch hier liegt
eine als richtig charakterisierte Bevorzugung vor. Es handelt
sich um Fälle wie den, wo es uns schmerzlich ist, daß die Un-
214 In anderen Fällen ist ein Vorzug nicht erkennbar 215
schuld unterdrückt wird. Oder um den Fall der Reue, wo wir, aber erkennen, ob dieser Akt der Einricht oder jener der Liebe
auf unser früheres Leben zurückblickend, beim Bewußtsein einer das Bessere sei?
schlechten Handlung Leid empfinden. Unsere Lage ist hier dem Manche sind hier schnell fertig mit dem Urteil. Jeder Akt
früher erwähnten Falle von Freude an Schlechtem entgegen­ edler Liebe, sagen sie, sei in sich selbst ein so hohes Gut, daß
gesetzt. Ein solcher Schmerz über Schlechtes gefällt überwiegend, er besser sei als alle wissenschaftliche Erkenntnis. Aber dies ist
aber nicht rein. Es ist kein reines Gut. Ein reines Gut wäre die nicht bloß nicht sicher, sondern geradezu absurd. Der einzelne
edle Freude beim Anblick des Gegenteils von dem, worüber man Fall edler Liebe, so wertvoll er immer sein mag, bleibt doch ein
jetjt zu trauern Grund hat. So gibt denn mit Recht Descartes endliches Gut. Ein gewisses endliches Gut ist aber auch jede Ein­
den Rat, lieber in äquivalenter Weise seine Aufmerksamkeit sicht, und wenn ich dieselbe endliche Größe in beliebiger Menge
dem Guten zuzuwenden. zu sich selbst addiere, so muß die Summe jedes gegebene Maß
8. Zu den Fällen als richtig charakterisierter Bevorzugung, die von Wert einmal übersteigen.
sich ebenfalls nicht dem Summierungsprinzip unterordnen lassen, Platon und Aristoteles stellten umgekehrt die Akte
zählt auch der folgende: Wenn wir uns einen Prozeß vorstellen, der Erkenntnis höher als die der Tugend. Auch dies ist un­
der von Gutem zu Schlechtem oder von größerem Guten zu ge­ berechtigt. Man sieht schon an dem Gegensatj der Meinungen,
ringerem Guten führt und ihn mit dem in umgekehrter Richtung daß hier das Kriterium versagt. Aber das beweist nichts gegen
verlaufenden vergleichen, so scheint uns dieser als der vorzüg­ die früher klargestellten Fälle, wo wir einer als richtig charak­
liche. Und dies auch dann, wenn die Summe des Guten hier und terisierten Bevorzugung fähig sind. Wie so vielfach auf psychi­
dort die gleiche wäre. Auch diese Bevorzugung ist als richtig schem Gebiete, sind uns auch hier eigentliche Maßbestimmungen
charakterisiert. Man kann in diesem Sinne von einem bonum nicht möglich. Wo aber die innere Vorzüglichkeit nicht ausfindig
progressionis und einem malum regressus sprechen. zu machen ist, da scheidet sie auch für die Berücksichtigung aus,
sie ist so gut wie nicht vorhanden. (Wir werden bei der Erörte­
rung des höchsten praktischen Gutes diese Lücke als praktisch
§ 62. Falle von Unerkennbarkeit des Vorzuges bedeutungslos erkennen.)
und solche von Indifferenz Ebensowenig vermögen wir im einzelnen Falle immer zu er­
kennen, ob eine gewisse Erkenntnis wertvoller sei als eine be­
Wie verhält es sich, wenn Güter verschiedener Klassen zum stimmte Lust. Es sind ja nicht alle Erkenntnisse einander gleich­
Vergleiche stehen? Darüber herrscht Streit, vor allem der be­ wertig. Hingegen bietet sich uns hier in der als richtig charakte­
rühmte Streit über die Superiorität von Lust oder Erkenntnis risierten Bevorzugung ein Kriterium allgemeinerer Art. Wenn
und von Erkenntnis und richtiger Liebe. Es fragt sich, wie man wir den Begriff blinder Lust und den Begriff einer Erkenntnis
die Klassen vergleichen soll. Offenbar müßte, damit eine Über­ im allgemeinen haben, so sagt uns eine als richtig charakterisierte
legenheit der einen Klasse vor der anderen sichergestellt werde, Bevorzugung, daß es besser sei, auf jede blinde Lust als auf
nicht ein beliebiges Phänomen der einen mit einem beliebigen jede Erkenntnis zu verzichten.
der anderen in Vergleich gezogen werden, sondern, da in jeder 2. Wohl zu unterscheiden von den Fällen, wo uns eine als
solche höheren und niederen Ranges sich finden, vielmehr die richtig charakterisierte Bevorzugung fehlt und wir darum nicht
höchsten miteinander verglichen werden. erkennen, ob ein Wertunterschied vorliege, sind diejenigen, wo
Was ergibt sich so etwa für das Wertverhältnis von Einsicht wir, eines mit dem anderen vergleichend, feststellen, daß keiner
und richtiger Liebe? Jedes von beiden ist ein Gut, wie läßt sich besteht. So erkennen wir es als irrelevant, ob es sich um einen
216 Richtige Liebe und Bevorzugung

Wert handelt, der zum eigenen Ich gehört, oder zu einem solchen
an einem fremden Ich. Wir erkannten es schon als einen Irrtum,
daß nur Eigenes liebenswürdig oder gar liebbar sei; es wäre
aber auch ein Irrtum, d. h. hier ein unrichtiges Vorziehen, wenn
wir ein Gutes deswegen höher einschä^ten, weil es ein eigenes
ist. Das ist eine fundamentale Erkenntnis für die Ethik. In ihrem
Lichte zeigt sich, daß Egoismus und Altruismus keineswegs die
entscheidenden Gegensätze sind. Keiner von beiden ist schon an
sich das Richtige. Richtig allein ist, zu lieben und
zu bevorzugen nach dem Maße des wahren
Wertes, dem größeren Gute also den Vorzug vor dem kleine­
ren zu geben, auch wenn es sich zeigen sollte, daß wir dann
selbst leer ausgehen, aber auch, wenn es sich zeigen sollte, daß
das größere Gut das unsere ist. Die volle Bedeutung dieses
Satjes wird erst klarwerden, wenn wir uns im nächsten Kapitel
der Frage nach dem höchsten praktischen Gute zuwenden.

j 63. WertverhMtniMe der Vorstellungen

Vorher seien hier schließlich noch die Gesetze als richtig charak­
terisierten Vorziehens in bezug auf das Gebiet des Vorstellens
angeführt, von denen ich oben sagte, daß sie für die Ästhetik
grundlegend sind.
1. Die reichere Vorstellung ist wertvoller als die ärmere. Da­
mit hängt unter anderem der ästhetische Vorzug der Phantasie­
vorstellungen vor den begrifflichen zusammen. Sie enthalten
immer mehr an Vorstellungen.
2. Die Vorstellung des Psychischen ist wertvoller als die von
Physischem. Damit hängt zusammen, daß unter allen Künsten
die Dichtkunst am höchsten steht, denn keine vermag in solchem
Maße seelisches Leben darzustellen. Wenn auch die Musik un­
mittelbarer zu wirken scheint, so spricht diese doch neben unseren
höheren Kräften auch das affektive Leben an, das im Sinnlichen
wurzelt.
3. Die Vorstellung des Besseren, Edleren, überhaupt des Wert­
volleren, ist selbst wertvoller.
richtet sich nach dem Maß des wahren Wertes 217

4. Die eigentliche Vorstellung von etwas ist wertvoller als


die bloße Surrogatvorstellung.
5. Die distinkte Vorstellung ist an und für sich wertvoller als
die konfuse.
6. Unter den zusammengesetzten Vorstellungen sind die an­
schaulichen wertvoller als die prädikativen Vorstellungsver­
knüpfungen.
V. Kapitel

Vom höchsten praktischen Gut

j 84. Vom richtigen Wählen

1. Bisher war vom richtigen Lieben und Bevorzugen die Rede.


Ein solches kann sich auch auf etwas beziehen, was außerhalb
unserer Macht liegt, so daß es sich dabei gar nicht darum handelt,
etwas zu verwirklichen oder hintanzuhalten. Gleichwohl geben
wir auch unter solchen Gegenständen den einen vor den anderen
den Vorzug. Das Vorziehen hat dann sozusagen theoretischen
Charakter. Die Ethik aber ist die höchste unter den praktischen
Disziplinen. Sie fordert von uns ein Handeln oder Unterlassen
und wendet sich mit ihren Geboten und Verboten nicht schlecht­
hin an unser Lieben, Hassen, Vorziehen, sondern speziell an
unser Wollen und Wählen.
Verdeutlichen wir uns den Unterschied zwischen Vorziehen
und Wählen. Vorziehen ist der allgemeinere Begriff. Das Wählen
ist ein Vorziehen, aber nicht alles Vorziehen ein Wählen. Damit
es ein Wählen sei, müssen zwei Momente hinzukommen:
a) es muß ein Entscheiden sein,
b) es muß auf etwas gerichtet sein, was wir selbst zu voll­
bringen haben und kraft unseres Begehrens vollbringen können.
ad a) Unter den Gemütstätigkeiten gibt es, bei aller wesentlichen
Verwandtschaft ihres Grundzuges, der immer ein Lieben oder
ein Hassen ist, viele Nuancen. Sie sind spezifische Unterschiede
innerhalb der Gattung, und zu ihnen gehört u. a. auch der von
einfachem Lieben und Vorziehen, und wiederum der von exklu­
sivem und nicht exklusivem. Damit ist folgendes gemeint: Ich
kann Dinge, die miteinander unvereinbar sind, beide lieben.
Wollen ist ein entscheidendes Wünschen 219
Z. B. rechnen und dichten. Die eine Liebe schließt die andere
nicht aus. Dagegen kann ich mich im einzelnen Falle nur für
eines von beiden entscheiden. Diese Entscheidungsakte sind nicht
miteinander vereinbar.
Auch unter den Wünschen gibt es solche entscheidende. Ich
kann z. B. entschieden wünschen, daß morgen schönes Wetter sei.
Das Entscheiden ist also nicht immer ein Wollen, wohl aber ist
jedes Wollen ein Entcheiden.
ad b) Was macht nun das Eigentümliche des Wollens aus?
Beim Wollen handelt es sich, wie schon gesagt, immer um etwas,
was wir selbst zu vollbringen haben. Wir 'können darum nur
wollen, was in unserer Macht liegt oder wovon wir dies wenig­
stens ernstlich glauben. Darin liegt der Unterschied vom
Wünschen, auch vom entscheidenden Wünschen.
Wir können das Wollen also definieren als ein entscheidendes
Wünschen, das etwas von uns selbst zu Verwirklichendes zum
Gegenstand hat und von uns als Wirkung unseres Begehrens
überzeugt erwartet wird. Es ist m. a. W. ein Wunsch, für den wir
uns entschieden haben und an dessen Realisierbarkeit durch
unser Eingreifen wir glauben.
Das Wollen ist also kein elementares Phänomen in dem Sinne
etwa wie Lieben oder Anerkennen oder Rotes oder Ort. Diese
lassen keine Analyse zu, weil sie selbst schon letjte Elemente
sind. Hingegen ist der Begriff des Wollens kompliziert, er ent­
hält eine Mehrheit von Elementen, die man im einzelnen auch ver­
schiedenen Phänomenen entnehmen könnte. So den des Liebens,
des überzeugten Urteilens, des bevorzugenden Liebens, des Ver­
wirklichens. Indem ich darauf hinweise, möchte ich aber nicht das
Mißverständnis aufkommen lassen, daß jemand, ohne das
spezielle Phänomen erfahren zu haben, durch die Definition zu
einer anschaulichen Vorstellung davon gelangen könnte. Das ist
keineswegs der Fall.
Es besteht da ein bemerkenswerter Unterschied gegenüber dem
Urteilen. Hat man sich nur einmal den Begriff des Anerkennens
und des Verwerfens klargemacht, so kann man sich jedes be­
liebige Urteil, was immer es zum Gegenstände habe, vorstellen.
Nur um ein assertorisch evidentes oder ein apodiktisches Urteil
220 Eine Entscheidung ist richtig

sich vorzustellen, bedarf es wieder spezieller Erfahrung. Hat man


aber alle Elemente, so fällt einem die anschauliche Vorstellung
eines aus ihnen sich zusammensetjenden Urteilens nicht schwer.
Anders beim Wollen. Hätte sich jemand auch noch so häufig
liebend oder hassend betätigt, so würde doch für ihn, wenn er
nie etwas gewollt hätte, aus der hier gegebenen Analyse das
Phänomen des Wollens in seiner eigentümlichen Natur nicht
vollkommen klargeworden sein. Aber das spricht keineswegs für
dessen elementaren Charakter. Auch bei den Mischfarben und
Akkorden ist es nicht anders. Und insbesondere würde man irren,
wenn man darin eine Besonderheit des Wollens vor anderen
Phänomenen der Klasse der Gemüts tätigkeiten vermutete. Das
Lieben und Hassen, obwohl allen gemeinsam, hat immer wieder
eine andere Färbung. Wer nur Gefühle der Freude und Trauer
erlebt hätte, dem würde durch eine zergliedernde Definition des
Hoffens oder Fürchtens deren Eigentümlichkeit nicht anschaulich
werden, ja es gilt sogar hinsichtlich der verschiedenen Arten der
Freude dasselbe. Die Freude des guten Gewissens und die Lust
bei angenehmer Erwärmung, die Freude beim Anblick eines
schönen Gemäldes und die Lust am Wohlgeschmack einer Speise
sind nicht bloß quantitativ, sondern qualitativ verschieden, und
ohne eine spezielle Erfahrung würde die Angabe des besonderen
Objekts nicht zu einer vollkommen entsprechenden Vorstellung
uns verhelfen.
Wollte man wegen solcher spezifischer Unterschiede, die das
Interessephänomen aufweisen kann, statt einer einheitlichen
Klasse zwei, Fühlen und Wollen, unterscheiden, so wäre diese
Klassifikation bei weitem nicht ausreichend. Es wäre ähnlich, als
wollte einer die einheitliche Klasse Farbe leugnen, weil es
spezifisch verschiedene Farben gibt.
Soll man noch weiter Wollen und Wählen unterscheiden? Wie
wir es definieren, fällt beides zusammen. Doch wer hier noch
unterscheiden wollte, mag von Wählen sprechen, wo die Bevor­
zugung positive Gegensätze zum Gegenstände hat, von Wollen
aber, wo es sich bloß um Sein oder Nichtsein eines Gegenstandes
handelt.23
2. Wann ist eine Entscheidung auf den richtigen Zweck ge­
bei Wahl des Besten unter dem Erreichbaren 221
richtet? Die Antwort lautet: wenn das Beste unter dem Erreich­
baren gewählt wird. Wir wollen uns einen Idealfall konstruieren,
um zu verdeutlichen, wie das geschehen kann.
a) Zuerst muß in einem solchen Fall von dem, der die Wahl
zu treffen hat, untersucht werden, wie weit sich der Bereich, der
seiner Einwirkung zugänglich ist, erstreckt. Das heißt, er muß
sich über den Umfang des von ihm Beeinflußbaren klarwerden.
Dasu gehört nicht nur ein Überblick über die unmittelbaren,
sondern auch über die weiteren Folgen der in Betracht kommen­
den Wahlentscheidungen. Hiebei spielt natürlich seine bisherige
Erfahrung eine wesentliche Rolle. Sein Urteil hat hier nur An­
spruch auf eine gewisse Wahrscheinlichkeit, die größer oder
geringer sein kann, nie aber voller Sicherheit gleichkommt.
b) Hierauf hat er zu untersuchen, was von diesen Folgen als
Gutes oder Übles sich darstellt.
Ist ein Überblick darüber gewonnen, so muß ein vergleichendes
Werten stattfinden, d. h. er muß sich fragen, was von den ein­
ander ausschließenden Werten bzw. Unwerten das Bessere bzw.
Schlechtere sei. Bei diesen Bevorzugungen kommt, wie wir schon
festgestellt haben, der Unterschied, ob es sich um Eigenes oder
Fremdes handelt, nicht in Betracht. Es ist ja z. B. die Freude,
die Erkenntnis als solche als ein Gut erkannt worden, und das
größere Ausmaß solcher Güter als dem kleineren gegenüber
vorzuziehen. Aber von eigen oder fremd war dabei nicht die
Rede. Aus dieser Wertvergleichung muß sich dann ergeben, was
im Bereiche unserer Macht das Beste, d. h. was im gegebenen
Falle das höchste praktische Gut ist. Dieses ist dann zu wählen,
und nur diese Wahl ist die richtige.
Es geht also in diesem Idealfalle der Wahlentscheidung ein
Bevorzugen voraus, das selbst noch kein Wählen ist. Und nicht
nur dies. Das richtige Bevorzugen des Besten unter dem Erreidi­
baren wird auch zum Motiv der Entscheidung. Nur wenn diese
als richtig charakterisierte Bevorzugung die Wahlentscheidung
determiniert, d. h. wenn sie ihr Motiv ist, kann diese als sittlich
richtig gelten.
Natürlich ist der hier als Idealfall konstruierte Fall nicht
immer gegeben, wo wir eine Entscheidung treffen. Sehr häufig
222 Der Bereich des höchsten praktischen Gutes

trifft es sich vielmehr, daß dasjenige, was mit einer als richtig
charakterisierten Bevorzugung vorgezogen wird, nicht auch prak­
tisch bevorzugt wird. M. a. W. die als richtig charakterisierte
Bevorzugung hat nicht die Kraft, die Willensentscheidung zu
determinieren, vielmehr steht sie in Konflikt mit einer entgegen-
gesetjten blinden, affektiven, sei es instinktiven, sei es gewohn­
heitsmäßigen Bevorzugung, die schließlich den Sieg davonträgt.
Wir sagen dann, die richtige Bevorzugung sei im Kampfe mit
der blinden unterlegen. Der Fall hat Verwandtschaft mit dem
auf dem Urteilsgebiete, wo blinde Vorurteile einsichtige Gründe
verdrängen.

§ 65. Vom höchsten praktischen Gute Insbesondere

1. Aus dem, was wir über die Fälle als richtig charakterisierten
Bevorzugens gesagt haben, ergibt sich der wichtige Satj, daß der
Bereich des höchsten praktischen Gutes die ganze unserer ver­
nünftigen Einwirkung unterworfene Sphäre ist. Nicht allein das
eigene Selbst, die Familie, der Staat, sondern die ganze gegen­
wärtige Lebewelt, ja Zeiten ferner Zukunft können dabei in
Betracht kommen. Das alles folgt aus dem Satj, daß mehr des
Guten besser sei als weniger. Das Gute in diesem weiten Kreise
nach Möglichkeit zu fördern, das ist offenbar der richtige Lebens­
zweck, zu dem jede Handlung geordnet sein soll. Das ist das
eine und höchste, durch den Verstand erkennbare Gebot, von
dem alle anderen abhängen.
Dieses Gute, das wir verwirklichen sollen, ist nach den vorher­
gegangenen Analysen: das größtmöglichste Maß von seelischen
Gütern bei allen in unsere Einflußsphäre fallenden beseelten
Wesen. Das ist in quantitativer wie qualitativer Hinsicht zu ver­
stehen. Und da man einen, der diese Güter in hohem Maße be-
sitjt, einen Glücklichen nennt, so kann man das höchste praktische
Gut auch als das höchstmögliche Glück des weitesten, unserer
Einwirkung zugänglichen Kreises von Lebewesen definieren.
Damit ist ein oberstes Sittengesetz aufgestellt, das
weder von der Bevorzugung des Eigenen noch des Fremden
umfaßt die unserer Einwirkung unterworfene Sphäre 223

ausgeht, weder von der ausschließlichen Schälung noch Gering­


schätzung der Lust, also weder Altruismus noch Egoismus, weder
Hedonismus noch Asketismus zu nennen ist. Will man dieses
unser Prinzip ein utilitarisdies (Nütjlichkeitsprinzip) nennen, so
steht dem nichts im Wege. Sich so nützlich als möglich zu machen
und so vielen so nützlich als möglich, das heißt ja, das Beste
unter dem Erreichbaren anstreben.
Diese Grundthese der Ethik, stets das Beste anzustreben, d. h.
es zu lieben, zu fördern und ihm zu dienen, stimmt in seiner
vollen Objektivität in bezug auf den Unterschied von Eigenem
und Fremdem mit dem Grundsatj der christlichen Ethik überein:
Liebe Gott, das höchste Gut, über alles und deinen Nächsten wie
dich selbst.
2. Doch könnten gegen diese Lehre Einwände erhoben werden.
a) Könnte einer sagen, unser Prinzip stelle an den Menschen
übermenschliche Anforderungen und sei schon darum unberechtigt.
b) Es führe ins Uferlose. Die Erfahrung habe gezeigt, daß
diejenigen, die immer das Glück der Menschheit im Munde
führen, darüber die Sorge für den ihnen nächsten Kreis vernach­
lässigen. Und wer in die nebelhaften Fernen der Zukunft den
Blick richtet, verliert dabei das Unmittelbare und Nächstliegende
aus den Augen.
c) Ja, man hat in dem Gebote, für das größte Glück der
größten Zahl zu sorgen, geradezu einen inneren Widerspruch er­
blicken wollen. So sagt Cassel in einer 1899 erschienenen
Abhandlung: „Dieser Satj enthält dieselbe Sinnlosigkeit wie
jeder Satj, der in dieser Weise versucht, zwei Superlative zu­
sammenzufassen. Bei jedem Maximalproblem muß die Aufgabe
sein, die Bedingungen zu finden, unter welchen eine bestimmte
Variable ihren größtmöglichen Wert besitjt, und es wäre ganz
sinnlos, etwa tausend Mark in einer Gesellschaft so verteilen
zu wollen, daß so viele Personen wie möglich soviel Geld als
möglich bekommen.“
Ich glaube aber, daß keiner dieser Einwände stichhältig ist.
Der letjte ist so durchsichtig falsch, daß ich seiner gar nicht Er­
wähnung getan hätte, wenn sich nicht viele von ihm hätten
imponieren lassen.
224 Abwehr der Einwände gegen das

ad c) Worin soll die Sinnlosigkeit liegen? Wenn ich tausend


Mark in einer der Zahl nach bestimmten, z. B. in einer zehn-
gliedrigen Gesellschaft verteilen soll, so ist die Frage, wie viele
zu beteilen sind, allerdings überflüssig, weil sie ja bereits be­
antwortet ist. Dagegen ist es noch immer möglich, jedem einzel­
nen mehr oder weniger zu geben, und ich gebe jedem einzelnen
soviel, als unter diesen Umständen möglich ist, wenn ich jedem
hundert Mark gebe. Es kann sich aber einer auch sehr wohl die
Aufgabe stellen, nicht tausend Mark oder hunderttausend Mark,
sondern soviel, als ihm zu erwerben möglich ist, und nicht unter
zehn oder tausend Menschen, sondern unter soviel Menschen, als
er auffinden kann, nach irgendeinem Modus zu verteilen. Und
nichts anderes besagt unser Prinzip: Man soll soviel des Guten,
als einem erreichbar ist, unter soviel Personen, als erreichbar
sind, verbreiten.24
ad a) Man sagt, man dürfe vom menschlichen Willen nicht
mehr verlangen, als was er leisten kann, und verwirft daraufhin
das Gebot voller Selbsthingabe an die Verwirklichung des ethi­
schen Zieles als „zu streng“. Selbst der Gerechte, so heißt es,
fehlt siebenmal im Tage. Auch dies ist ein unbegründetes Be­
denken. Ein Vergleich mag dies verdeutlichen. Kein Mensch ist
imstande, jeden Irrtum zu vermeiden. Aber ob vermeidlich oder
unvermeidlich, jeder Irrtum bleibt ein Urteil, wie es nicht sein
soll, und der logischen Norm entgegen. So wenig nun hier die
Logik durch die Denkschwäche, so wenig wird dort die Ethik
durch die Willensschwäche sich abhalten lassen dürfen, vom
Menschen zu fordern, daß er das erkannte Bessere vorziehe und
also das höchste praktische Gut nichts anderem hintanse^e.
ad b) Dieser Einwand, daß die Lehre zur Vernachlässigung des
eigenen Wohles und des nächsten Kreises führe, beruht auf
einem Mißverständnis. Man muß sich wohl hüten, aus dem Prin­
zip der Nächstenliebe die Folgerung zu ziehen, daß jeder für
jeden anderen ebenso sorgen müsse wie für sich selbst. Das
würde, weit entfernt, das allgemeine Beste zu fördern, es viel­
mehr wesentlich beeinträchtigen. Es ergibt sich dies daraus, daß
jeder zu sich selbst eine andere Stellung hat als zu allen anderen,
und unter diesen wieder den einen mehr, den andern weniger
Prinzip des höchsten praktischen Gutes 225

zu fördern in der Lage ist. Wenn Menschen auf dem Mars leben
sollten, so kann und soll der Erdbewohner ihnen ebenso Gutes
wünschen, aber nicht ebenso Gutes für sie erstreben als für sich
und seine irdischen Genossen. So begegnet man denn auch in
jeder vernünftigen Moral der Mahnung, sich zunächst um sich
selbst zu kümmern. Jeder kehre vor der eigenen Tür. Überall
wird auch die Forderung erhoben, zunächst für die eigene
Familie, für das eigene Volk zu sorgen. Wenn wir uns später
mit dem Unterschiede der sog. Rechts- und Liebespflichten be­
schäftigen, wird uns der Grund dafür noch deutlicher werden.
Es handelt sich dabei um die richtige Teilung der Arbeit im
Interesse des höchsten praktischen Gutes.
So ist denn die Selbstsonge durchaus berechtigt, nur muß sie
in den Dienst des höchsten praktischen Gutes gestellt sein. Dann
ist sie auch nicht Egoismus, d. h. jener Subjektivismus, der sich
bei seinen Entscheidungen nicht durch den Wert des Gutes,
sondern durch den Eigenbesitj bestimmen läßt. Nein, dem Egois­
mus als dem rücksichtslosen Streben nach eigenem Vorteil, un­
bekümmert um fremde Not und fremdes Leid, macht das Prinzip
des Vorranges der Selbstsorge gar kein Zugeständnis. Doch dar­
über mehr in der „Pflichtenlehre“.25
Als Träger psychischen Lebens sind auch die Tiere in den
Bereich unserer sittlichen Bedachtnahme einzubeziehen. Auch das
wird von den Utilitariern anerkannt, mit dem richtigen Beisatz
daß diese Rücksicht nicht in gleichem Maße uns obliegt wie die
auf unsere Mitmenschen. Sie begründen den Unterschied damit,
daß die Tiere an Lust und Schmerz nicht im gleichen Grade
Anteil hätten wie die Menschen. Auf unserem Standpunkt kommt
zu diesem graduellen Unterschiede noch und vor allem die Rück­
sicht auf die anderen Güterarten, deren eben der Mensch vor den
Tieren teilhaftig ist.

$ 66. Uber das Nützliche und das Schädliche

Auch darüber müssen wir sprechen, denn der größere Teil


unseres Einflusses zur Hervorbringung der vornehmsten Güter
226 Aufzählung der für den einzelnen

ist ja ein nur mittelbarer. Darum bezieht sich auch die Pflichten­
lehre vorwiegend auf das Nützliche und Schädliche. Wenn wir
daraufhin z. B. den mosaischen Dekalog ansehen, so finden wir,
daß darin hauptsächlich von solchem die Rede ist, was als
Mittel für Güter oder Übel dient (nicht töten, kein falsches
Zeugnis geben, nicht stehlen u. a.). Dasselbe gilt von anderen
ethischen Gesetzgebungen. So ist denn die Lehre von den Nütjlidi-
keiten und Schädlichkeiten für die Pflichtenlehre wichtig. Immer­
hin wollen wir nur kurz bei diesem Punkte verweilen, schon
darum, weil, was hier zu sagen wäre, in der Hauptsache ohnedies
als bekannt vorausgesetzt werden darf.
Das Nützliche und Schädliche ist teils unserem Einfluß unter­
worfen, teils ihm entzogen (Jahreszeiten, Wetter). Wir bleiben
bei jenem, da es sich uns um das höchste praktische Gut
handelt.
Das Nützliche und Schädliche, das wir verwirklichen können,
ist teils solches, was mit Sicherheit, teils solches, was mit Wahr­
scheinlichkeit die guten und schlechten Folgen erwarten läßt. Im
letjten Falle ist es im einzelnen eigentlich oft gar nicht nützlich
bzw. schädlich, wohl aber im allgemeinen. Darum ist es im ein­
zelnen Falle nach dem unserer Voraussicht entsprechenden Wahr­
scheinlichkeitsbruch zu beurteilen. Verspricht etwas, was uns
zweckdienlich scheint, seinen Erfolg mit der Wahrscheinlichkeit %,
so werden wir im Durchschnitt richtig fahren, wenn wir es jedes­
mal so behandeln, als verspräche es % des betreffenden Guten
mit Sicherheit.
Nütjlich bzw. schädlich ist ferner etwas entweder für eine
bestimmte Person oder für einen bestimmten Komplex von Per­
sonen (z. B. für einen Staat) oder für einen unbestimmten Kreis.
Ebenso ist der Nutzen oder Schaden selbst entweder ein be­
stimmter oder unbestimmter.
Als vorzüglich nützliche Güter für den einzelnen sind an­
zusehen:
1. persönliche.
a) physische. Das vegetative Leben, Gesundheit, Körperkraft,
Vorzüge des Geschlechts, Alters, körperliche Fähigkeiten, Schön­
heit.
□ütjlidien Güter 227
b) psychische. Gute intellektuelle und Gemütsdispositionen,
Gedächtnis, Beobachtungsgabe, Abstraktionsvermögen, positive
Kenntnisse, ästhetischer Geschmack, ethische Tugenden.
2. sachlicher Besitj teils an solchem, was unentbehrlich (Lebens­
erfordernis), teils an solchem, was Annehmlichkeiten schafft und
uns Mittel zur Förderung guter Bestrebungen verleiht.
3. gesellschaftliche Beziehungen.
a) gute Dispositionen der Gesellschaft in sich. Sie sind eine
Art unkörperlicher Besitj. Es kommt ja gar viel darauf an, in
welche Gesellschaft man hineingeboren oder hineingelangt ist.
Zahllose gute Dienste und Förderungen, die man von Jugend
auf erfährt, hängen damit zusammen.
a ) Vor allem kommt dabei das kulturelle Niveau der Gesell­
schaft in Betracht, die in ihr herrschende ethische und intellek­
tuelle Bildung, die in ihr wirksamen künstlerischen Kräfte, be­
sonders die Tugend der Gerechtigkeit. Trägt die Gesellschaft, in
der wir leben müssen, den Unterschieden der Menschen in ge­
rechter Weise Rechnung? Sichern z. B. ihre sittlichen An­
schauungen den Frauen eine geachtete Stellung? Die Art, wie
dies geschieht, gehört zu den zuverlässigsten Maßstäben zur Be­
urteilung der kulturellen Höhe (Monogamie).
ß) Güter der Ordnung und Sicherheit, wie eine gute Gesetj-
gebung sie bietet. Schutj der Früchte ehrlicher Arbeit vor Aus­
beutung. Frieden nach außen und Frieden im Innern (nationaler,
konfessioneller Frieden, friedliches Zusammenarbeiten der
Klassen).
Dies alles sind gute Dispositionen der Gesellschaft an und für
sich. Um ihretwillen hat Platon gesagt, er danke Gott, daß er
als Hellene auf die Welt gekommen sei, nicht als Barbar.
b) Gute Dispositionen der Gesellschaft in bezug auf uns.
a) Liebe, Freundschaft, die wir finden.
ß) Ehre, Ansehen, die uns zuteil werden.
f) Die besondere Stellung, die andere durch ihre ethischen
Verpflichtungen uns gegenüber haben. Die Freiheit, deren wir uns
erfreuen. Der einzelne ist Bürger, Gatte, hat Eltern, Kinder,
Rang, Stand. Hat die Gesellschaft, in der wir leben, ein deut­
liches Bedürfnis nach den Werten, die wir ihr dank unseren
228 Da» Nützliche richtet »ich nach dem

Gaben bieten können? Was ist der Künstler, wenn niemand nach
seinem Werke Verlangen trägt? Selbst in bezug auf das, was
ihnen am meisten nottut, ermangeln die Menschen oft der Ein­
sicht, und verlangen darum nicht darnach. So sehen sich ihre
wahren Wohltäter oft zu einem Märtyrerleben verurteilt. Was
täte gewissen Zeiten mehr not als Erlösung vom Übel des
Nationalitätenhaders? Aber das hindert nicht, daß die Schürer
des Hasses als Patrioten gefeiert und die Prediger von Vernunft
und Gerechtigkeit als Verräter verfemt werden.

$ 67. Stellung der Ethik zur Frage nach dem Dasein Gottes

Unter den Nützlichkeiten oder sekundären Gütern habe ich


auch das vegetative Leben und die leibliche Gesundheit auf­
gezählt. Ich hatte dabei natürlich im Auge, daß es die Bedingun­
gen für die Güter des Bewußtseins seien. Dabei machte ich still­
schweigend die Voraussetjung, daß wir von der Fortsetzung des
Lebens, des einzelnen und der gesamten Menschheit, mehr Gutes
als Übles erwarten dürfen. Wäre es anders, so müßte das Leben
ja vielmehr als Schädlichkeit gelten. Wie soll man entscheiden,
ob diese Voraussetzung zutrifft? Auf Grund der Gegenwart und
des Stückchens Vergangenheit, das sich menschliche Geschichte
nennt? So versuchen es viele und kommen dabei zu entgegen­
gesetzten Ergebnissen, je nach persönlicher Erfahrung und nach
ihrem Temperament. Nicht wenige sind Pessimisten, ja gerade
in Zeiten hoher intellektueller Bildung hat der Pessimismus
überhandgenommen. Im Altertum war in einer unserem Auf-
klärung&zeitalter ähnlichen Periode unter den Philosophen der
Selbstmord epidemisch; und man darf doch wohl annehmen, daß
diese mehr als andere über den Sinn des Lebens nachzudenken
pflegen. Auch unsere Zeit hat ihre Dichter und Denker des Welt­
schmerzes. Noch stehen manche im Banne Schopenhauers,
dessen Weltanschauung, was ihre Wirkung auf Gemüt und
Energie betrifft, das Prädikat der denkbar schlechtesten, das er
selbst der Welt gibt, verdient. Und blicken wir von diesem
Atheisten hinüber zu den Christen, denken nicht auch sie pessi­
Zweck der Welt 229
mistisch? Vielen von ihnen gilt die Erde als Tal der Tränen.
Und würde man ihnen nicht energischer, als es tatsächlich ge­
schieht, widersprechen, wenn die Erfahrung sehr dawider wäre?
Hält man dem Pessimismus entgegen, daß doch die Selbstmorde
viel seltener sind, als man nach ihm erwarten sollte, so ist zu
antworten: die Natur hat eben dafür gesorgt, daß solche lebens­
feindliche Gedanken durch einen mächtigen Instinkt im Zaum
gehalten werden. Daß es aber vernünftig ist, dem Selbst­
erhaltungstrieb nachzugeben, ist damit nicht gesagt.
Aber nehmen wir selbst an, die Erfahrung spreche zugunsten
des Optimismus, die Weltgeschichte weise mehr Freude als Leid
auf, mehr Erkenntnis als Aberglauben, mehr Zufriedenheit als
ungestillte Sehnsucht, mehr Tugend als Laster, mehr Liebe als
Haß — die Frage, wie wir uns im Leben einzurichten haben,
hängt doch wohl hauptsächlich davon ab, was von der Zukunft
zu erwarten ist. Das gilt für den einzelnen wie für die Gesamt­
heit. Wer sich unheilbar krank weiß und mit einem nahen Ende
rechnen muß, dem zeigen sich auch seine Pflichten verändert. Was
wichtig schien, verliert sein Interesse, was in der Feme schien,
gewinnt aktuelle Bedeutung. Ähnlich ein Geschlecht, das, wie
z. B. die ersten Christen, in der unmittelbaren Erwartung des
Weitendes lebt. Sie konnten nicht Pläne auf lange Sicht machen.
Schon eine Ehe zu schließen, schien den Konsequenten nicht mehr
am Platj. In der Tat, eine Ethik des Wirkens ist dann nicht mehr
angemessen, Fortschrittsideale verlieren allen Sinn.
Ein Abschluß winkt nun aber auch der ganzen menschlichen
Geschichte, denn die Erde wird nicht immer lebenden Wesen
Wohnstatt bleiben. Helmholtz hat, wie schon erwähnt, ein­
mal die Bemerkung gemacht, daß ein freudiges Aufgehen in der
Sorge um künftige Geschlechter sich vielleicht mit dem Verzichte
auf persönliche Unsterblichkeit, nimmermehr aber mit dem Ge­
danken an das unvermeidliche Ende des ganzen Menschen­
geschlechtes abfinden könne. Auf die ernste Frage „Was dann?“
bedarf es einer Antwort für den, der sein Leben in den Dienst
des Fortschrittes stellen will. Diese aber setjt voraus, daß er zu
der Frage nach dem Zweck der Welt Stellung nimmt, was
wiederum die Frage nach ihrer ersten Ursache einschließt.
230 Keine theistische Moral, aber Abhängigkeit

Hier ist der Punkt, wo die Ethik genötigt ist, an die Meta­
physik sich zu wenden. Hier scheiden sich die Wege, je nachdem
die Antwort auf die Frage nach dem Dasein Gottes ausfällt, um
dann entweder in der Richtung lebensfreudigen Bejahens weiter­
zugehen oder aber in Resignation und Nirwana zu münden.
Ehe ich diesen Gedanken weiter verfolge, ein Wort zur Er­
innerung an schon früher Gesagtes, was einem Mißverständnis
zuvorkommen wollte. Wenn ich die Ethik von der Stellung, die
man zur Gottesfrage einnimmt, abhängig mache, so will ich
damit die frühere Behauptung, daß ihre Erkenntnisprinzipien
vom Theismus-Atheismus-Streite nicht berührt werden, nicht
abschwächen oder gar widerrufen. Daß es nur eine theistische
Moral geben könne oder gar keine, ist falsch. Was gut und was
besser als ein anderes sei, wird von uns unabhängig von allen
metaphysischen Überlegungen erkannt. Nicht ebenso aber, was
nützlich und schädlich ist, d. h. was dem erreichbar Besten förder­
lich oder abträglich ist. Und so denn auch nicht die Frage nach
dem Nutjen des Lebens.
Die natürliche philosophische Erkenntnis reicht aus zum Auf­
bau der richtigen Ethik. Und wenn einer, der nicht an eine Reli­
gion als geoffenbarte Wahrheit, ja auch nicht an Gott glaubt,
daneben ein übler Patron ist, so ist er es auf eigene Rechnung.
Es gibt unter den Ungläubigen und unter den Atheisten sehr edle
Menschen. Wer schlecht handelt, darf dafür den Vernunftgebrauch
nicht verantwortlich machen, denn nicht, weil er der Vernunft
folgt, sondern weil er ihr nicht folgt, ist er zu tadeln.
Aber wenn dieselben Prinzipien für den Atheisten ebenso zu
erkennen sind wie für den Theisten, die Konsequenzen daraus
ändern sich, je nachdem der eine oder der andere recht hat.28
Der konsequente Atheist ist Pessimist: die Welt ist aus blinder
Notwendigkeit entstanden, was zweckmäßig in ihr scheint, ist
bloßer Schein und richtiger glücklicher Zufall als Zweck zu
nennen, denn niemand ist, der ihr Sinn und Ziel geben könnte.
Ich sage, der konsequente Atheist; es gibt freilich viele inkonse­
quente, die Optimisten sein wollen. Aber ein solcher Optimismus
ohne Gott ist keine Weltanschauung der Einsicht, sondern des
blinden Lebenstriebes, und verdient den Hohn Sch open-
der Bewertung des Nützlichen von der Weltanschauung 231

Hauers, der hier an Folgerichtigkeit entschieden über den


illusionistischen Atheisten und ihrem Bekenntnis zu den Idealen
des Fortschrittes steht. Sie sind ebenso durch einen blinden
Instinkt beherrscht wie diejenigen, die in der Erkenntnistheorie
vornehm alles „Transzendente“ leugnen und dabei an die Dinge
glauben, weil sie sie greifen.
Wie sieht dagegen der konsequente Theist die Welt? Er
glaubt an eine schöpferische Ursache der Welt, die ein unend­
lich vollkommener Verstand und Wille ist. Darin findet er die
Gewähr, daß alles, wie es vernünftigem Urgrund entstammt,
auch auf vernünftige Ziele angelegt ist. Insbesondere läßt sich
dartun, daß auf theistischem Standpunkte eine überwiegende
Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß unser seelisches Leben mit
dem leiblichen Tode nicht ein Ende nimmt. Das Korrelat zum
Theismus ist die Überzeugung von der persönlichen Fortdauer
über das irdische Leben hinaus.
Damit schwindet die Hemmung, von der Helmholtz
sprach. Die Menschheitsgeschichte mag mit der Erde, ja lange
vor deren Untergang ein Ende finden; aber die wahre Geschichte
ist doch die Geschichte der Seelen. Sie überdauern in der von
göttlicher Weisheit geleiteten Welt den Planeten. Und so sieht
denn der Theist sein Leben unter ein Gesetj der Verantwortung
gestellt, das im Ewigen wurzelt. Er weiß, daß er, indem er
wirkt, im Dienste einer Entwicklung steht, für die es nie ein
Ende geben wird. Ich habe diesen Gedanken einmal in folgen­
dem Dialoge ausgesprochen:
Du sagst: „Es muß die Welt die beste sein,
Das Beste wählt der Beste, wenn er schafft.“
Ein anderer: „Nicht die beste ist sie, nein!
Sonst wäre sie das Maß von Gottes Kraft.“
O hört ihr beiden, die ihr also streitet:
Ist denn die Welt? Nein, werdend überschreitet
Sie alles Guten Maß und endlos fern
Strebt sie von Ähnlichkeit zu Ähnlichkeit
Zum unerreichbar hohen Bild des Herrn.
DRITTER ABSCHNITT

VON DER FREIHEIT DES WILLENS


I. Kapitel

Von der Freiheit im Sinne der Willensherrschaft

§ 68. Freiheit des actus a voluntate imperatus

1. Wir haben ethische Einsichten, wir erkennen, was das Gute


und was das Beste unter dem uns Erreichbaren ist; haben wir
aber auch die Macht, der Einsicht zu folgen, sind wir frei? Die
Kenntnis des ethisch Richtigen, der sittlichen Regeln genügt nicht
zum sittlichen Verhalten. Dazu gehört auch, daß wir so veranlagt
sind, daß diese Erkenntnis für unser Handeln maßgebend
werden kann. Darum die Frage: Sind wir frei?
Schon David H um e beklagte, daß in dieser Frage infolge
der Vieldeutigkeit des Wortes „Freiheit“ eine arge Verwirrung
herrsche, und in der Tat sind hier verschiedene Begriffe zu unter­
scheiden, die selbst von großen Philosophen wie Locke, ja
Platon und Aristoteles nicht genügend auseinander­
gehalten wurden.
Vor allem müssen wir unterscheiden den Willensakt selbst
(actus elicitus voluntatis) von der gewollten Wirkung oder Folge
desselben (actus a voluntate imperatus). Jener ist stets ein
psychisches Verhalten, dieser unter Umständen etwas Physisches.
Der Unterschied scheint deutlich genug, gleichwohl werden die
beiden Begriffe häufig vermengt. Spinoza begegnete es, daß
er infolge dieser Verwechslung Des c ar t es’ Urteilslehre miß­
verstand, als hätte dieser das judicium für ein veile gehalten,
während er nur der Meinung war, jedes Urteil werde auf Grund
einer Wahl zwischen Ja und Nein gefällt.
2. Fragen wir zunächst nach der Freiheit in bezug
auf den actus imperatus. Das heißt: Kann ich tun,
was ich will?
236 Freiheit des Handelns entsprechend dem Wollen

In der Antwort ist fast alle Welt einig: Wir können vielfach,
was wir wollen, und können das Entgegengesetjte, wenn wir
das Entgegengesetjte wollen. Andererseits sind auch alle einig
darüber, daß wir vielfach nicht tun können, was wir gern tun
möchten. Wir besitzen also die Freiheit zu tun, was wir wollen,
eben nur innerhalb gewisser Grenzen. Und zwar ist das Im­
perium des Willens ein doppeltes:
A. Nadi außen, und zwar
a) über die Glieder unseres Leibes. Es wird beschränkt durch
positiven Zwang, z. B. wenn wir bei gebundenen Beinen mar­
schieren wollten, kann aber auch durch Übung gesteigert werden
(Turnen, Schwimmen, Klavierspielen, Radfahren, Tanzen).
b) über die Kräfte der äußeren Natur.
c) über die Kräfte anderer Menschen.
B. nach innen
a) Beherrschung der Gedanken, beim Sichbesinnen, Nach­
denken (zum Nachdenken gehört einerseits das Aufsuchen,
andererseits das Festhalten von Gedanken). Es liegt auch in
unserer Willensmacht, unter Umständen Gedanken zu ver­
scheuchen, sei es durch bloße Willensanstrengung, sei es unter
Anwendung geeigneter Mittel.
Wenn gewisse Religionen gebieten, etwas zu glauben, und
verbieten, Zweifel zu hegen, so rechnen sie mit dieser Macht des
Willens über unser urteilendes Verhalten.
Wer in solcher positiver und negativer Beherrschung seiner
Gedanken sich eine größere Macht erworben hat, ist besser zum
Denker und Forscher geeignet. Doch nicht immer gelingt das er­
wünschte Festhalten oder Verdrängen. (Themistokles sagt
zum Mnemotechniker: „Lehre mich lieber die Kunst des Ver­
gessens.“) Quälende Erinnerungen kehren immer wieder. Daß das
Aufsuchen eines Gedankens zuweilen mißlingt, zeigt sich auch
einem fleißigen Studenten nicht selten beim Examen. Das Fest­
halten wird erschwert, ja unter Umständen unmöglich gemacht
durch Ermüdung. Man vermag dann nicht mehr aufmerksam zu
sein, sich zu konzentrieren.
b) Herrschaft über die Affekte, sei es, sie anzufachen, sei
es, sie zu unterdrücken.
besteht innerhalb gewisser Grenzen 237
Wir vermögen sie anzufachen, wie in anderen so in uns.
So z. B. uns zornig oder mutig zu machen. Das geschieht teils
direkt, indem wir uns entsprechende Vorstellungen vorführen,
Monologe halten, uns in eine Sache „hineinreden“; teils indirekt,
indem wir z. B. durch Gebärden des Zorns, öl ins Feuer gießend,
wirklich zornig werden, wir können uns ein Mütchen antrinken
(James-Langesche Affekttheorie). Ein indirektes Ver­
fahren ist es auch z. B., wenn wir den Reiz einer Arbeit, die
weder Verstand noch Phantasie befriedigt, durch Aussicht auf
Belohnung erhöhen.
Wir unterdrücken aber auch Gefühle und Affekte, teils
direkt, teils indirekt.
Direkt dadurch, daß wir ablenkende und widerstreitende Ge­
danken aufsuchen' und dadurch solche, welche den zu unter­
drückenden Affekt nähren, verdrängen. Monologe spielen auch
hier eine Rolle. So suchen wir uns im Unglück die tröstlichen
Seiten unserer Lage zu vergegenwärtigen. Wir wirken der Über­
macht einer Leidenschaft entgegen, indem wir anderes auf­
suchen, was das Interesse fesselt. Selbst sinnliche Lust und sinn­
licher Schmerz lassen sich ausschalten oder mildern durch die
Überlegung, daß es sich um blinde Instinkte handelt, daß die
völlige Hingabe an solche etwas Unwürdiges hat, und durch die
Ablenkung des Interesses auf höhere Werte. Es ist ähnlich, wie
wenn wir den instinktiven sinnlichen Glauben an die Wirklich­
keit alles dessen, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, durch
logische Reflexion korrigieren. Es bleibt zwar dort wie hier der
instinktive Drang, aber er verliert das Beherrschende.
Indirekt. Viele empfehlen die Unterdrückung durch Askese.
Doch bedarf dies der Vorsicht. Auch im Entsagen gebietet die
Vernunft das Maßhalten. Es ist im allgemeinen nicht zu billigen,
es in der Askese so weit zu treiben, daß die natürlichen Kräfte
geschwächt werden. Es läßt sich der Zustand des Greises zwar
künstlich herstellen, aber nicht ohne daß darunter auch die
Energie für das Gute leidet. Große Schwäche entzieht uns gerade­
zu die Herrschaft über Vorstellungen und Affekte, führt zu
Delirien und Halluzinationen. Mens sana in corpore sano. Also
vielmehr Kräftigung des Nervensystems durch Vermeidung von
238 Der Wille ist frei von Zwang und in gewissen Grenzen

Schädlichkeiten. Es hat mit der Askese eine ähnliche Bewandtnis


wie mit der Beschränkung der Freiheit in despotischen Staaten,
hier wie dort leidet leicht die Fähigkeit zum Guten.
Der Askese vorzuziehen scheinen mir andere Mittel. Vor allem
das Fliehen der Gelegenheit zu Ausbrüchen des Affekts. Diese
Flucht ist unter Umständen die sicherste Waffe. Ein kluger Feld­
herr stellt sich feindlicher Übermacht nicht auf ungünstigem
Terrain. Ein anderes empfehlenswertes Mittel besteht in der
Unterdrückung der Äußerungen des Affekts. Beherrscht
man die äußeren Gebärden des Zornes, so dämpft das auch die
Flamme des Unmutes. Man drücke den Zornigen in einen Stuhl,
und er beruhigt sich; äußerliches Emporhalten des Kummervollen
richtet auch innerlich sein Gemüt empor.
So kommt uns denn fraglos eine gewisse Macht zu, teils zur
Beherrschung äußeren Geschehens, teils zur Regelung unseres
eigenen seelischen Lebens. Mit Unrecht legen manche Philo­
sophen, wie z. B. die Stoiker, nur auf die zweite Gewicht, indem
sie lehren, daß nichts in unsere Gewalt gegeben sei als unsere
Gedanken und Wünsche, und daß es darum nur gelte, die Herr­
schaft über diese zu üben und zu festigen. Nein, auch nach außen
hin bedarf, wer dem höchsten praktischen Gute dienen will,
eines gewissen Machtbereiches. Das ist der Sinn des Privat­
eigentums. Doch richtig bleibt: Der schönste Sieg ist der über
uns selbst. Wer sich nicht selbst zu beherrschen vermag, ist ein
Sklave, und säße er auf dem Thron eines orientalischen Despoten.
Einem solchen Sklaven seiner Lüste ist aber 'besser auch keine
Macht nach außen zu wünschen, denn er würde sie mehr zum
Bösen als zum Guten gebrauchen. Soviel von der Freiheit des
actus imperatus: sie steht uns in gewissen Grenzen zu Gebote.

$ 69. Von der Freiheit vom Zwang und der Freiheit im Sinne der
Selbstbestimmung (Freiheit des actus ellcltus voluntatls)

1. Wie steht es mit dem Wollen selbst, mit dem actus elicitus
voluntatis?
Auch diese Frage hat mehrfachen Sinn.
kommt ihm Selbstbestimmung zu 239

Erstens spricht man von Freiheit und meint damit das


Fehlen von Zwang. Daß diese Freiheit dem Willen zu­
komme, ist außer Zweifel. Unser Tun mag einem Zwang unter­
liegen, aber zum Wollen selbst kann man streng genommen nicht
gezwungen werden, denn das würde heißen, daß einer etwas
gegen seinen Willen wolle. Solche Nötigung ist denn auch kaum
von jemandem behauptet worden. Gleichwohl wurde dies solchen,
die in ganz anderem Sinne eine Notwendigkeit des Wollens
lehren, zur Last gelegt, indem man ihnen, den sog. Determini­
sten, vorwerfen zu dürfen glaubte, daß sie unser Wollen unter
Zwang selten.
Richtig ist bloß, daß wir unter Umständen, in einer uns auf-
gezwungenen Lage, entgegen unseren sonstigen Neigungen und
Gewohnheiten zu entscheiden uns bestimmt finden. Es ist dies
dann zwar nicht ein Wollen gegen unseren Willen, wohl aber
gegen den Vorsatj, d. h. gegen ein früheres Wollen.
2. Freiheit im Sinne der Selbstbestimmung.
Auch sie kommt, in gewissem Maße, unserem Willen zu, d. h.
wir sind nicht ganz und gar durch äußere Umstände bestimmt,
derart, daß unser Selbst nicht Mitursache wäre, vielmehr bleibt
dieses immer mitbestimmender Faktor. Daraus erklärt es sich,
daß verschiedene Menschen sich unter gleichen Umständen ent-
gegengesetjt entscheiden. Unsere intellektuellen und emotionellen
Dispositionen, unsere erworbenen und übernommenen Erfahrun­
gen behalten immer ihre Rolle unter den Ursachen. Damit ist
nicht gesagt, daß uns äußere Umstände nicht beeinflussen, es
handelt sich eben hier um ein Mehr oder Weniger. Auf der
Folter, im Gefängnis, durch tagelangen Entzug von Nahrung
und Schlaf ist die Freiheit der Selbstbestimmung sehr heräb-
gesetjt.
Auch die Freiheit in diesem Sinne hat wenig Gegner. Heftig
umstritten aber ist die Freiheit in einem weiteren Sinne, mit
dem wir uns im folgenden ausführlich zu beschäftigen haben
werden.
n. Kapitel

Der Determlnismus-Indetermlnlsmus-Strelt

f 70. Drei FaMungen der Lehre, dall der Wille


frei von innerer Notwendigkeit sei

1. In einer dritten Bedeutung sprechen von Freiheit des


Willens diejenigen, die sagen, unsere Willensakte treten nicht,
wie alles andere psychische und physische Geschehen, mit Not­
wendigkeit ein. Sie seien nicht durch Ursachen de­
terminiert.
Was ist damit gemeint?
a) Manche wollen damit sagen, daß der Wille Ursache seiner
selbst sei. „Ich will, weil ich will.“
b) Andere definieren sie so, daß der Wille überhaupt keine
Ursachen habe, weder in mir noch außer mir.
c) Eine dritte Gruppe wieder behauptet, daß er zwar Ursachen
habe, aber nicht solche, auf welche hin die Wirkung mit Not­
wendigkeit (unausbleiblich) sich einstellt. Es können die Um­
stände gegeben sein, die einen bestimmten Willensakt unmittel­
bar zur Folge haben könnten, ohne Hinzutritt weiterer Bedin­
gungen, und der Willensakt erfolgt doch nicht, und wenn er
eingetreten ist, so mußte er doch nicht eintreten. Er verhält sich
darin anders als etwa ein Körper, für dessen Bewegung in be­
stimmter Richtung und Geschwindigkeit alle Bedingungen ge­
geben sind. Dieser muß sich zu bewegen beginnen, der Wille
aber tritt auf die zureichenden Antezedentien bald ein, bald
nicht ein.
Dies sind die drei möglichen Bedeutungen von Freiheit des
Willens von Notwendigkeit. Wie steht es damit?
Verschiedene Stellungnahme zur Determiniertheit des Willens 241

2. Wille Ursache seiner selbst. „Ich will, weil ich will“ heißt
entweder Freiheit von äußerem Zwang oder ist Unsinn. Man
muß sich hüten, den Willen zu einer Person zu machen, zu einer
Seele in der Seele. Die Seele will, ebenso wie die Seele denkt.
Die Frage kann also nur sein, ob der Wille überhaupt keine
Ursachen hat oder doch 'keine determinierenden. Und darüber
ist der berühmte Streit der Deterministen und Indeterministen
entbrannt. Er zog sich durch die Jahrhunderte hin. Spuren davon
zeigen sich schon bei Aristoteles, doch mag, da das Pro­
blem bei ihm noch nicht deutlich ausgesprochen vorliegt, fraglich
erscheinen, auf welcher Seite er steht. Auch in der Folge läßt
sich die Grenze zwischen beiden Lagern nicht immer zuverlässig
ziehen, weil die Gegner in diesem Streite vielfach aneinander
vorbeireden, indem sie, sich selbst und den anderen unbe­
merkt, in andere Bedeutungen von Freiheit abgleiten. Klare
Vertreter des Determinismus sind z. B. Spinoza, Leibniz,
DavidHume, J. St. Mill, A. B a i n, Spencer, unter
den deutschen Philosophen Schopenhauer, Herbart,
Trendelenburg, Fechner. Indeterministen sind z. B.
Descartes, die schottische Schule, insbesondere Thomas
Reid und Hamilton. Doch wird, wie gesagt, oft der Frage­
punkt verschoben. So ist nicht bloß von Platon und Aristo­
teles nicht ganz klar, wohin sie zu zählen sind, auch bei
Locke und vielen anderen ist das Problem nicht klar genug
aufgefaßt, um die Zuordnung zu der einen oder anderen Gruppe
sicherzustellen. Auch -Kant ist von solcher Konfusion nicht
freizusprechen. (Antinomie: auf phänomenalem Gebiete Not­
wendigkeit, im „Noumenon“ Freiheit.) Doch wäre es verfehlt,
den Streit als bloßen Wortstreit abzutun; es bleiben Argumente
genug, hüben und drüben, welche die Sache treffen oder doch
auf sie zielen.
Wir wollen darum zunächst beide Teile mit ihren wichtigsten
Argumenten zu Worte 'kommen lassen, und zwar zunächst die
Indeterministen, weil ihre Ansicht als die volkstümlichere und
ältere gelten darf.
242 Direkte Zeugnisse des Bewußtseins

Erstes Stüde: Die Argumente der Indeterministen

§ 71. A. Direkte Zeugnisse des Bewußtseins

Die Indeterministen berufen sich vor allem auf gewisse direkte


Zeugnisse des Bewußtseins:
1. Die unmittelbare Wahrnehmung lasse erkennen, daß wir in
wachem, gesundem Zustande auch anders handeln könnten, als
wir tatsächlich handeln. Dies scheint Descarte s’ Ansicht zu
sein.
2. Die Erfahrung lehrt, daß wir in Fällen handeln, wo voll­
kommen gleich starke Motive nach entgegengese^ten Seiten
ziehen. Wäre der Willensakt notwendiges Ergebnis der Motive,
so könnte in solchen Fällen gar keine Entscheidung erfolgen.
Sind pro und kontra die Motive im Gleichgewichte, so findet bei
notwendig wirkenden Kräften kein Ausschlag nach der einen
Seite statt. Es ist, wie wenn ein Körper von gleich starken
Kräften in entgegengesetzte Richtungen gezogen wird, er bleibt
in Ruhe, weil die auf ihn wirkenden Kräfte einander aufheben.
Beim Willen aber zeigt die Erfahrung das Gegenteil, hier hindert
Gleichgewicht der Motive das Zustandekommen einer Ent­
scheidung nicht, und zwar darum nicht, weil diese in Freiheit
erfolgt.
Im scholastischen Indeterminismus-Streite sind Gegner des De­
terminismus auf einen Vergleich verfallen, mit dem sie diesen
lächerlich zu machen suchten. Man denke sich einen hungrigen
Esel zwischen zwei Heubündel gestellt, die gleich groß, gleich
gut ihm in die Nase duften, so daß kein Grund dafür vorhanden
ist, warum er eher nach dem einen als nach dem anderen haschen
sollte. Nach deterministischer Auffassung könnte er zu keiner
Entscheidung kommen und müßte trotj seines Hungers und Über­
flusses zwischen beiden Heubündeln verhungern. Nach dem Namen
des Philosophen, JeanBuridan, der sich im 14. Jahrhundert
mit dem Problem der Willensfreiheit beschäftigte, ist dieser bei­
spielhafte Esel als asinus Buridanus in die Geschichte der Philo­
sophie eingegangen. Wie diesem Unglückstier müßte es, im
Ernst gesprochen, auch uns Menschen ergehen in jedem Falle,
Berufung auf die direkte Erfahrung 243
wo gleich starke Gründe etwas ratsam und nicht ratsam er­
scheinen lassen, wir müßten für immer unentschlossen bleiben,
wovon aber die Erfahrung ganz unzweideutig das Gegenteil
zeigt. Es wird auch bei Gleichgewicht der Beweggründe eine
Entscheidung getroffen.
3. Wir machen die Erfahrung, daß wir bisweilen unter ganz
gleichen Umständen entgegengesetzt handeln, heute so, morgen
anders. Auch dies sei ein Beweis gegen die notwendige Wirk­
samkeit der Motive. Von Gleichheit der Umstände ist hier natür­
lich nicht bloß mit Rücksicht auf die äußeren Faktoren die Rede,
auch psychisch kann eine solche Gleichheit vorliegen, indem die
Wahlobjekte die gleichen sind und die gleichen Gründe erwogen
werden.
4. Eine weitere Bestätigung der Freiheit scheint den Indetermi­
nisten die Erfahrung, daß bei der Wahl zwischen zwei Möglich­
keiten die Entscheidung häufig erst nach länger dauerndem Kon­
flikt eintritt. Wäre sie notwendig mit dem stärkeren Motiv
gegeben, so müßte sie im selben Augenblick erfolgen, wo das
Motiv ins Bewußtsein tritt. Eine notwendig wirkende Ursache
wirkt, sobald sie wirken kann. Wohl aber mag ein freier Wille,
nachdem er sich anfangs durch ein gewisses Motiv nicht hat
bestimmen lassen, nachher ihm doch folgen, obwohl dieses sich
ganz gleichgeblieben ist. Eine solche Unentschiedenheit, während
welcher der Kampf der Motive fortdauert, ohne daß sich deren
Stärke ändert, und das schließliche Eintreten der Entscheidung
beweisen, daß diese nur eine freie sein kann.
5. Beim Widerstande gegen eine Begierde bin ich mir einer
Anstrengung bewußt, und dauert der Kraftaufwand lange, so
fühle ich mich durch ihn erschöpft, ähnlich wie bei andauernder
körperlicher Anstrengung. Dies könnte nicht sein, wenn der
Wille durch die stärkere Begierde determiniert wäre. Damit die
schwerer belastete Schale sinke, braucht sich die Waage nicht
anzustrengen. Wenn unser Wille nicht frei wäre, so müßte der
Vergleich mit der Waage zutreffen, d. h. wie bei ihr das schwerer
wiegende Gewicht, so müßte bei ihm das stärkere Motiv sofort
und ohne Anstrengung den Ausschlag geben.
6. Schließlich wird die sog. opinio communis als unmittelbares
244 Berufung auf indirekte Zeugnisse der Erfahrung
Zeugnis angeführt. Wir alle glauben bei uns und anderen an
die Willensfreiheit. Erst durch philosophische Spekulationen ist
die entgegengesetjte Meinung aufgekommen.27
Soviel von den sog. unmittelbaren Zeugnissen des Bewußt­
seins, auf die sich die Indeterministen berufen.

§ TL. B. Indirekte Zeugnisse der Erfahrung zugunsten des


Indeterminismus

1. Wir unterscheiden moralisch Gutes und Schlechtes. Diese


Unterscheidung ist uns von Natur gegeben, angeboren, und mit
ihr das Bewußtsein der Verpflichtung, das eine zu tun, das
andere zu lassen. Die Voraussetzung dafür ist die Freiheit. Nur
im Bewußtsein frei zu sein, kann man sich verpflichtet fühlen.
Im Sollen ist das Können, die Freiheit, eingeschlossen. Du kannst,
denn du sollst, sagt Kant mit Recht.
2. Dem Determinismus zufolge aber wäre in jedem Falle nur
eben dieses eine Handeln möglich, d. h. es handelte jeder so gut
und so schlecht, als er 'kann. Wenn aber einer so gut handelt,
als er kann, wie sollte er darob zu loben, und wenn einer so
schlecht handelt, als er kann, wie sollte er darob zu tadeln sein?
In Wahrheit fühlen wir uns aber, wenn wir Böses getan haben,
schuldig, strafwürdig und, wenn gestraft, gerecht behandelt. Ja,
wir selbst bestrafen uns, indem wir uns der Reue hingeben.
Dieses Schuldbewußtsein, diese Erkenntnis der Verantwortlich­
keit entfällt, wenn wir uns sagen müssen, daß wir gar nicht
anders handeln konnten.
3. Gegenüber moralischen Verfehlungen der anderen über­
kommt uns das Gefühl der Indignation, der Empörung über ihre
Schlechtigkeit. Warum bezieht sich ein solches Gefühl nur auf
das moralische Übel, nicht auch auf andere, wie Krankheit, Irr­
tum, Dummheit? Warum hegen wir es nur erwachsenen Menschen,
nicht auch unmündigen Kindern oder Tieren gegenüber? Offen­
bar, weil wir uns für frei halten, nicht aber unvernünftige
Wesen, und weil wir diese Freiheit nur beim Willen vorfinden,
nicht ebenso aber beim Urteilen und Erkennen.
Vorwürfe gegen den Determinismus 245
Man bemerkt leicht, daß in diesen Argumenten der Indetermi­
nisten zugleich Vorwürfe gegen den Determinismus enthalten
sind, dessen Lehre ihnen nicht nur falsch, sondern auch verderb­
lich erscheint.
a) der Vorwurf, daß sie den Unterschied von Gut und Böse
aufhebe;
b) der Vorwurf, daß sie Lob, Tadel, Strafe sinnlos mache;
c) und endlich, wiederholt ausgesprochen, der Vorwurf, daß
Determinismus auf Fatalismus hinauslaufe, der alle Regsamkeit
und Strebsamkeit ertötet. Tatenlos die Hände in den Schoß zu
legen, wäre seine praktische Konsequenz, aber kein Determinist
hält sich daran. Auch der überzeugteste entrüstet sich über sitt­
liche Verworfenheit, teilt das Verlangen nach Vergeltung, ver­
schließt sich nicht dem Gefühl der Reue, faßt Vorsätje und legt
so Zeugnis ab gegen seine eigene Theorie.

Zweites Stüde: Die Argumente der Deterministen

I. Kritik der indeterministischen Argumente


Durch alle diese Argumente fühlen sich die Deterministen
nicht besiegt. Alle angeblichen Erfahrungen, sagen sie, sind als
Zeugnisse für den Indeterminismus unbrauchbar, alle Vorwürfe,
die darin gegen den Determinismus erhoben werden, unberech­
tigt. Ja, sie gehen aus der Verteidigung alsbald zum Angriff
über, denn sie glauben sich imstande, nicht nur für die eigene
Lehre auf jede nur denkbare Art den Erfahrungsbeweis zu er­
bringen, sondern die ihnen gemachten Vorwürfe gegen den In­
determinismus zu kehren.

J 73. I. A. Kritik der sogenannten direkten Zeugnisse


des Bewußtseins für den Indeterminismus

Es wird im folgenden in einem teilweise direkt geführten Ge­


spräch zwischen Indeterministen und Deterministen letzteren
Gelegenheit gegeben, zu den erhobenen Anwürfen Stellung zu
nehmen.
246 Kritik der direkten

1. Indet.: „Wir haben das Bewußtsein, auch das Gegenteil


von dem tun zu können, was wir tatsächlich wollen.“
Det.: „Sehr wohl, das geben wir zu. Wir geben sogar zu, daß
wir wirklich oft das Gegenteil von dem tun könnten, was wir
jetjt tun; nämlich, wenn wir es wollten. Ich kann die Hand
heben, wenn ich es will, so wie ich sie eben gesenkt habe, da
ich es wollte. Aber nicht darum handelt es sich in unserem Streite.
Wir fragen nicht nach der Freiheit, etwas zu tun, was wir wollen,
sondern nach der, etwas zu wollen. Euer Argument verwechselt
den actus imperatus mit dem actus elicitus.“
Indet.: „Ich kann aber doch auch wollen, was mir beliebt.“
Det.: „Das bestreitet niemand; du hast aber etwas anderes
behauptet, nämlich, daß du auch wollen kannst, was du jetjt
nicht willst.“
Indet.: „Und diese Behauptung halte ich auch aufrecht und
will sie dir auf der Stelle beweisen. Sage mir nur, was ich wollen
soll, und du wirst sehen, daß ich es geradeso gut wollen kann
wie das, was ich soeben gewollt habe.“
Det.: „Das kannst du freilich, denn durch meinen Auftrag sind
jetjt die Umstände, unter denen du eine Wahl triffst, etwas
verändert. Es handelt sich aber jetjt nicht darum, ob man unter
anderen Umständen anders wollen könne, sondern unter den­
selben.“
Indet.: „Auch ohne solche Änderung könnte ich es, denn mein
unmittelbares Bewußtsein sagt mir, daß ich hic et nunc auch
anders kann.“
Det.: „Das sagt dir dein unmittelbares Bewußtsein? D. h. du
bildest dir ein, das innerlich wahrzunehmen. Aber du täuschest
dich, denn wahrnehmen läßt sich nur, was wirklich ist, nicht was
bloß möglich ist. Eine Möglichkeit erkennt man, indem man sie
aus der Wirklichkeit erschließt. Aus welcher Wirklichkeit aber
willst du erschlossen haben, daß du hic et nunc das Gegenteil
wollen könntest? Du wolltest ja in Wirklichkeit nur das eine
und nicht das andere. Wenn du jetjt das Gegenteil willst, so
haben sich die Umstände geändert. Du willst mir je^t zeigen,
daß du auch das Gegenteil wollen kannst.“
2. Es gibt, sagen die Indeterministen, Fälle, wo ohne jedes
Erfahrungszeugnisse des Indeterminismus 247

Übergewicht eines der Motive dennoch eine Entscheidung er­


folgt. Die Gründe für und wider sind gleich stark, 'keines zieht
uns mehr an, und doch wählen wir das eine und nicht das
andere. So ist denn die Wahl offenbar nicht notwendig determi­
niert.
Audi diese vermeintliche Erfahrung imponiert den Determini­
sten nicht, sie finden das Argument fehlerhaft, und zwar mehr­
fach:
a) Weil es zuviel beweisen würde, nämlich auch die Freiheit
der Tiere, welche die Indeterministen ja gar nicht behaupten
wollen. „Audi bei den Tieren“, so sagen die Deterministen,
„könnte ja bei Gleichheit der Gegenmotive keine Entscheidung
erfolgen; es ist aber noch nie ein Esel zwischen zwei gleichen
Heubündeln verhungert. Sollen wir also auch dem Esel Willens­
freiheit zugestehen? Warum tut ihr das nicht oder nur bei Kon­
struktion eines unmöglichen Beispiels wie eben des asinus Buri-
danus? Weil ihr selbst das Argument als untauglich erkennt;
aber dann taugt es für die Menschen ebensowenig wie für die
Esel.“
b) „Und zwar darum nicht, weil die ganze Voraussetjung
imaginär ist. Niemals kommt ein solches Gleichgewicht bei
Motiven für einander entgegengesetjte Entscheidungen vor. Das
ist so' unannehmbar, wie etwa die Behauptung, es werde ein
völlig gleichmäßiger Kegel, auf die Spitje gestellt, eine Zeitlang
im Gleichgewichte auf einer Fläche stehenbleiben. Absurd ist es
nicht, aber unendlich unwahrscheinlich, und darum kann man
ruhig sagen: So etwas kommt nicht vor.“
So hat denn Leibniz, der Determinist, auf das Argument
von Buridans Esel sehr richtig die Antwort gegeben: Wäre
ein solcher Fall verwirklicht, so müßte der Esel allerdings ver­
hungern; aber was würde dazugehören? Nicht bloß die völlige
Gleichheit der beiden Bündel, auch die seiner Augen, seiner
beiden Nasenlöcher, ja noch mehr! Der ganze Esel müßte sym­
metrisch gebaut sein. Und selbst damit noch nicht genug, das
ganze Weltall müßte durch eine Vertikale, die den Esel der
Mitte nach durchschneidet, in zwei absolut gleiche Hälften zer­
legt werden, wie eine Ellipse durch ihre Mittellinie.28
248 Kritik der direkten

Indessen lassen sich die Indeterministen nicht so leicht ab­


weisen. Bei den Tieren, gaben sie zu, wird sich ein solcher Fall
idealen Gleichgewichtes nicht ereignen, aber beim Menschen
komme so etwas vor.28 Beweis dafür, daß oft einer sagt: „Es ist
mir ganz gleichgültig“, und dann doch eine Wahl trifft, die also
nicht als determiniert gelten darf.
Der Determinist wird darauf antworten: „Ihr irrt, wenn ihr
aus diesem ,Es ist mir gleich“ auf faktisches psychisches Gleich­
gewicht schließt. Was wirklich gegeben ist, ist bloße Unmerk-
lichkeit der Unterschiede. Darum ist die Entscheidung unter
solchen Umständen auch nicht eigentlich ein Wählen zu nennen,
denn von einem solchen spricht man besser dort, wo ein Über­
gewicht deutlich erkennbar ist. Es geben hier Differenzen den
Ausschlag, deren sich der Wollende nicht bewußt ist, oder die
zu geringfügig sind, um ein vernünftiges Motiv abzugeben. (Man
kann ja auch einmal eine Entscheidung an den Knöpfen abzählen.)
Das Verhalten der Menschen in solchen Fällen ist je nach
ihrem Temperament verschieden. Der eine gibt leichter, der
andere schwerer den Versuch auf, ein vernünftiges Übergewicht
festzustellen. Die Unentschiedenheit kann zu einem habituellen
Fehler werden. Ein Fabius Cunctator sucht ein vernünf­
tiges Pro und Kontra auch dort noch, wo gar nichts mehr aus­
zumachen ist, während andere rascher einer Laune folgen und
resolut zugreifen.“
3. Die Indeterministen berufen sich darauf, daß wir uns bei
Wiederkehr der gleichen Umstände nicht ebenso entscheiden wie
das vorige Mal.
Antwort des Deterministen: „Wiederkehr genau der gleichen
Umstände gibt es nicht. Die absolute Gleichheit zweier zeitlich
getrennter Lagen ist ebenso imaginär wie die Gleichheit im
vorigen Argument. Die Seele kehrt, wenn sie einmal tätig ge­
wesen ist, nie mehr ganz in den früheren Zustand zurück. Nichts
geht ja spurlos an ihr vorüber, von jedem Tun bleiben sog.
Engramme zurück, Veränderungen der Sinnessubstanz und des
aus sämtlichen Assoziationen gebildeten „Hintergrundes“, von
dem sich jede neue Tätigkeit abhebt. Weil die Vergangenheit
in jeden folgenden psychischen Zustand hinein wirkt, trifft das
Erfahrungszeugnisse des Indeterminismus 249

Ich niemals als ganz das gleiche, das es ehedem war, eine
wiederholte oder neue Entscheidung.“30
Noch weniger können sich die Indeterministen darauf berufen,
daß verschiedene Individuen unter gleichen Umständen sich ent-
gegengesetjt entscheiden. Wären die Umstände selbst gleich, so
sind es die Wählenden doch nicht; und auch die Annahme
gleicher Umstände für mehrere Wählende ist imaginär. Audi
kommt es nicht auf die äußeren Umstände allein an, sondern
darauf, in welchem Lichte einer die Dinge sieht und wie sie
ihn anregen. Das aber hängt von tausend Faktoren ab, die sich
in keinem Menschen genau so zusammenfinden wie in einem
anderen.
4. Die Indeterministen weisen auf den oft länger dauernden
Konflikt der Motive für und gegen eine bestimmte Entscheidung
hin. Wenngleich eines davon überwiegt, entscheiden wir uns doch
nicht sogleich dafür, sondern oft erst nach geraumer Zeit. Gäbe,
wie bei der Waage das schwerere Gewicht, in der Seele das
stärkere Motiv den Ausschlag, so könnte ein solches Schwanken
nicht Platj greifen.
Der Determinist wird entgegnen: „Bleiben wir beim Beispiel
der Waage. Es spricht nicht gegen uns. Auch sie schwankt, wenn
sie fein konstruiert ist, und mit ihrem Schwanken ist die De­
termination durch die Gewichte wohl vereinbar. Wenn nämlich
das eine nur um sehr wenig schwerer ist als das andere, so kann
der leiseste Impuls von außen eine Bewegung zur Folge haben.
Es tritt ein Oszillieren ein. Allerlei Imponderabilien üben Ein­
fluß und wechseln darin miteinander ab. Je feiner die Waage
gebaut ist, um so leichter wird das Spiel der Gewichte durch
solche störende Faktoren kompliziert, und um so sorgfältiger
sind die Vorkehrungen, die man dagegen trifft. Man stellt die
Waage auf einen Pfeiler, der vom Gebäude unabhängig ist,
u. dgl. So bietet denn die Waage ein ganz gutes Bild von dem,
was auf psychischem Gebiete geschieht, wenn ein sog. Motiven-
konflikt die Entscheidung verzögert. Hier ist das Auf- und Ab­
treten neuer Impulse noch leichter denkbar. Beständig fließen
Vorstellungen zu und ab und damit verdrängt ein Motiv das
andere, solange keines von beträchtlichem Obergewicht vor­
250 Kritik der direkten

handen ist. Der Fall liegt also nicht so, wie ihn die Indetermini-
sten darstellen. Nicht bei unveränderten Motiven findet ein
Zögern statt, um schließlich spontan vom Entschluß abgelöst zu
werden; die Motive bleiben gar nicht gleich, ihre relative Stärke
ändert sich, immer wieder gehen dem Überlegenden neue Ge­
danken durch den Kopf, entdeckt er neue Seiten an den Wahl­
gegenständen, neue Bedenken werden in ihm wach, neue Aus­
sichten eröffnen sich, das Alte erscheint in neuem Lichte, d. h.
unser Urteil darüber ändert sich. Und wenn wir schließlich durch
ein Motiv bestimmt werden, das schon anfangs da war und
damals nicht den Ausschlag gab, so ist es inzwischen relativ ein
anderes geworden, weil eben die Gegenmotive näher erwogen
worden sind und an Gewicht verloren haben. Vielleicht bewirkt
schließlich nur die Erkenntnis die Entscheidung, daß keines
besser als das andere ist und doch eine Wahl getroffen werden
muß. Diese erfolgt aber dann nicht indeterminiert, sondern auf
Grund unmerklicher Differenzen, ähnlich wie einer, der im Nebel
den Weg verloren hat, aufs Geratewohl eine Richtung einschlägt.“
Nebenbei bemerkt: Man lasse sich nicht durch die Äquivoka-
tion irreführen: „Motiv“ bedeutet in den folgenden zwei Sät$en
nicht dasselbe: „Gewinnsucht war das Motiv der Tat“, „Das
Motiv der Furcht war zu schwach, um seinen Willen zu determi­
nieren“. Im ersten Satj bedeutet „Motiv" etwas, was faktisch,
wenn auch nicht allein, sondern im Zusammenwirken mit allen
anderen Faktoren den Willensakt gewirkt hat. Im zweiten Satj
bedeutet „Motiv“ dagegen etwas, was zwar unter anderen Um­
ständen, im Zusammenwirken mit ihnen, den Willensakt deter­
miniert hätte, aber im gegebenen Falle der dazu erforderlichen
Mitbedingungen entbehrte. Nur indem man die zweite mit der
ersten Bedeutung verwechselt, kommt man dazu zu sagen, der
Wille sei nicht durch die Motive determiniert worden.
5. Die Indeterministen glauben, es spreche für sie, daß unser
Wille zuweilen einer heftigen Begierde energisch und beharrlich
Widerstand leiste, von diesem Kampfe erschöpft aber innehalte,
um nach einer Pause den Widerstand von neuem aufzunehmen.
Man will aus dem einen wie anderen schließen, daß er nicht
durch die Motive determiniert sei.
Erfahrungszeugnisse des Indeterminismus 251
Antwort des Deterministen: „Audi dies ist keine richtige Dar­
stellung der Tatsachen. Was ist hier unter dem Willen, der den
Motiven Widerstand leiste und dadurch seine Freiheit dokumen­
tiere, gemeint? Das Willensvermögen? Das ist kein Ding und
kann nicht wirken, also auch nicht Widerstand leisten. Es ist
eine bloße Möglichkeit. Der Willensakt? Der kann nicht kämpfen,
da er ja erst zustande kommen soll und noch nicht vorhanden ist.
Nein, nicht der Wille 'kämpft gegen die Motive, sondern ein
Motiv kämpft gegen das andere, z. B. eine blinde Begierde gegen
eine als richtig charakterisierte Bevorzugung, kurzsichtige Leiden­
schaft gegen bedachtsame Abschabung echter Güter, Pflicht­
bewußtsein gegen Trägheit. Es ist wieder wie bei der Waage;
nicht diese kämpft gegen die Gewichte, sondern ein Gewicht
gegen das andere.
Richtig ist nur, daß wir uns gerne mit einem der Motive, mit
einer der einander widerstreitenden Neigungen identifizieren.
Wir sagen dann: Ich habe meine Leidenschaft, meinen Schmerz
überwunden, wo es genauer heißen sollte: Meine Neigung zur
Pflicht hat meinen Hang zum Vergnügen oder meine Wehleidig­
keit überwunden. Und noch besser ausgedrückt (denn Abstrakta
sind Fiktionen): Ein Teil meines Ich hat über einen anderen
Teil meines Ich den Sieg errungen. Denn mein Pflichtbewußtsein
ist genau so m e i n Pflichtbewußtsein wie meine Genußsucht oder
Empfindsamkeit oder Trägheit meine sind. Es schmeichelt uns
nur eben mehr, uns mit dem Teil von uns zu identifizieren, der
schätjenswerter ist. Doch können auch andere Gesichtspunkte für
diese pars pro toto maßgebend sein. Wir heben aus der Fülle
unserer Neigungen diejenigen heraus, die zu stärkeren Gewohn­
heiten geworden sind, sich in der Mehrzahl der Entscheidungen
wirksam erweisen, und finden in ihnen unser „wahres Ich“. Es
ist sozusagen dasjenige, was am meisten Bestand in uns hat.
Man hat auch auf die Ermüdung und Erschöpfung, die der
Wille im Motivenkampf erfahre, hingewiesen, aber ich muß ge­
stehen, daß ich nicht begreife, wie das für seine Freiheit sprechen
soll. Auch ist gar nicht richtig, daß das Wollen erschöpfend
wirkt, jedenfalls nicht unmittelbar. Richtig ist bloß, daß sich an
das Wollen, wie an jedes höhere Interessephänomen Affekte mit
252 Kritik der indirekten

sinnlichen Redundanzen knüpfen, und diese sind es, die die


Nerven erschöpfen.
6. Schließlich wurde noch die opinio communis angeführt, von
der die Willensfreiheit allgemein angenommen werde. Die
eigentliche und wahre Meinung der Menschen ist aber aus ihren
Handlungen viel besser zu erkennen als aus ihren Worten, gerade
auf psychischem Gebiet. Betrachtet man die opinio communis
unter dem Gesichtspunkt des Benehmens der Menschen, so sehen
wir, daß genau das Gegenteil darin enthalten ist. Wir sehen,
daß wir mit der größten Sicherheit uns vorauszusagen getrauen,
wie Menschen, die wir näher kennen, unter bestimmten Um­
ständen handeln werden. Was will das sagen? Wir bilden uns
aus unseren Erfahrungen ein Urteil über den Charakter des
Menschen und sind überzeugt, daß auch die künftigen Hand­
lungen von seinen Dispositionen geleitet werden. Darum ist das
Verhalten der Menschen deterministisch eingestellt, selbst wenn
sie Vorkämpfer für die Willensfreiheit sind.“31
So fühlen sich denn die Deterministen durchaus gewappnet
gegen die Argumente der Gegner. Alle diese Berufungen auf das
Zeugnis des unmittelbaren Bewußtseins schlugen fehl. Entweder
sind die Veräusserungen imaginär oder die Tatsachen enthalten
nichts, was gegen den Determinismus entschiede.

§ 74.1. B. Kritik der indirekten Zeugnisse fttr den Indeterminismus

Auf diese Zeugnisse wird besonderes Gewicht gelegt, weil sie


schwere Vorwürfe gegen den Determinismus enthalten: er soll
die Moral und jede ihr dienende Einrichtung sinnlos machen.
1. Nur vom Standpunkte des Indeterminismus, hieß es, also
unter Veräusserung der Freiheit, hat die Unterscheidung von
sittlich Gutem und Bösem Berechtigung; dieser Unterschied ist
aber unzweifelhaft, denn wir besten ein ursprüngliches Bewußt­
sein davon, das uns angeboren ist.
Die Deterministen weisen demgegenüber darauf hin, daß doch
auch in ihren Reihen Denker sich finden mit dem zartesten Unter­
scheidungsvermögen für das, was sittlich richtig und unrichtig
Erfahrungszeugnisse des Indeterminismus 253
ist. Man denke an einen Leibniz, Spinoza, J. St. Mill,
F e c h n e r. Audi stehen manche religiöse Sekten von großer
sittlicher Strenge entschieden auf deterministischem Standpunkte,
wie z. B. die Calvinisten, Puritaner, Independenten. Ist das nun
nichts anderes als Mangel an Konsequenz?
Keineswegs, es ist durchaus gerechtfertigt. Audi für den De­
terministen hat die Unterscheidung von sittlich Gutem und
Schlechtem ihren guten Sinn. Die Inkonsequenz läge sonst ebenso
auf Seiten der Indeterministen, denn diese tragen kein Bedenken,
einen Unterschied von Gütern und Übeln auf Gebieten gelten
zu lassen, wo auch sie nicht Freiheit von Notwendigkeit an­
nehmen. Auch ihnen gilt z. B. die Erkenntnis als ein Gut, der
Irrtum als ein Übel. Doch macht -der Indeterminist geltend:
„Schon in dem Bewußtsein des Sollens liegt die Freiheit. Du
kannst, denn du sollst.“ Der Determinist wird erwidern: „Um
dem Einwand zu begegnen, muß man sich nur klarmachen, was
Sollen heißt. Da zeigt sich, daß das ,Du sollst' nichts anderes
besagt als: Wenn du dich anders entscheidest, entscheidest du
dich unrichtig. Es ist das ,Du sollst* eine Regel des richtigen
Verhaltens. Ähnlich findet sich ein solches Sollen auch ander­
wärts, z. B. in der Logik für unser Urteil. Die logische Richtig­
keit eines Schlusses besagt, daß er ist, wie er sein soll. Nur ist
das Sollen auf den anderen Gebieten ein bedingtes, während es
in der Ethik, wie wir uns schon früher klargemacht haben, ein
unbedingtes ist“ (vgl. Anmerkung 24).
So ist denn die Frage, wie wir das ethische „Du sollst“ er­
kennen, ganz dieselbe Frage, wie wir erkennen, daß ein Wollen,
ein Vorziehen richtig ist. Die Antwort darauf haben wir bereits
gegeben. Schließt nun dieses ethische Sollen immer ein Können
ein? Bei den anderen „Du sollst“ ist dies nicht der Fall. Sonst
gäbe es keinen logischen Fehlschluß. Warum also hier? Das
„Du sollst“ ist doch kein „Du mußt“. Dennoch läßt sich nicht
leugnen, daß in dem ethischen „Du sollst“ faktisch ein „Du
kannst“ steckt, nämlich ein Können im Sinne der Freiheit des
actus imperatus. Das sittlich Gebotene muß ein Werk von der
Art sein, daß es an meinem Willen liegt, ob es wird oder nicht,
und nur insofern hat das Können mit der Richtigkeit des Wollens
254 Kritik der indirekten

etwas zu tun. Nur vom Willensakt kann man im eigentlichen


Sinne sagen, er sei gut oder schlecht. Die Übertragung auf die
Handlung hat nur einen Sinn, wenn man sie als eine dem
Willensakt entsprechende Folge auffaßt, d. h. also, wenn Frei­
heit im actus imperatus besteht. In diesem Sinne ist den In­
deterministen zuzugeben, daß Freiheit die Bedingung der Sitt­
lichkeit ist, denn wenn eine ganz andere als die intendierte
Handlung entstehen könnte, so kann die Handlung offenbar
weder moralisch gut noch schlecht genannt werden. Aber auf die
Freiheit im actus elicitus hat das Argument gar keine An­
wendung.32
Offenbar hat auch Kant nicht genugsam zwischen der Frei­
heit im Sinne des actus imperatus und des actus elicitus unter­
schieden. Sein Ausspruch, nicht Liebe, sondern nur Handlungen
könne man gebieten, ist dafür bezeichnend. Liebe kann man nur
dort nicht gebieten, wo einer auch dann etwas nicht lieben
könnte, wenn er es wollte.
Was schließlich die Berufung darauf anlangt, daß uns die
Unterscheidung von Gut und Böse angeboren sei, so haben wir
schon erkannt, daß dies nicht zutrifft, und haben uns die wahre
Quelle von Gut und Böse klargemacht.
2. Die Indeterministen finden von dem Standpunkte, daß jede
Willensentscheidung mit Notwendigkeit erfolge, kein Schuld­
gefühl, kein Bewußtsein der Verantwortlichkeit, keinen sittlichen
Vorwurf gerechtfertigt. Wie kann man einen wegen einer un­
richtigen Willensentscheidung tadeln oder gar strafen, wenn er
sich unter den gegebenen Umständen gar nicht anders entscheiden
konnte!
Antwort des Deterministen: „Wir kritisieren und tadeln doch
auch auf Gebieten, wo niemand Indeterminist sein will. So tadeln
wir einen schlechten Maler, einen schalen Dichter, einen lang­
weiligen Redner, auch wenn wir wissen, daß sie es nicht besser
treffen. So tadeln wir auch einen wegen eines Denk- oder Be­
obachtungsfehlers, ohne dem menschlichen Urteil Freiheit zu­
zusprechen. Wir tadeln sie, weil wir aus den mißratenen Werken
auf Mängel in ihren Dispositionen schließen. Jene mißfallen und
diese mißfallen als Quelle der mißfälligen Produkte. Ja, uns selbst
Erfahrungszeugnisse des Indeterminismus 255
tadeln wir und schämen uns, wenn uns ein Denkfehler nadigewie-
sen wurde. Audi wenn wir jemand einer unrichtigen Willens­
entscheidung wegen tadeln, so zielt dies auf seine Dispositionen,
auf seinen moralisch mangelhaften Charakter, als Quelle seines
schlechten Wollens und Handelns. Und er selbst, indem er sich
schuldig fühlt und bekennt, klagt sich damit seiner sittlichen
Schwäche an. Weil er ein so unvollkommener Charakter ist,
mußte er unter den gegebenen Umständen unterliegen. Das liegt
im Schuldbewußtsein und Selbstvorwurf; mit indeterministischer
Freiheit hat es nichts zu tun.“
3. Der Indeterminist wendet ein: „Wenn sich jemand wegen
eines Fehlschlusses oder schlechter Beobachtung ungünstiger
intellektueller Dispositionen zeiht, da ein Gescheiterer vor
solchem Mißlingen bewahrt geblieben wäre, so hat doch weder
er selbst noch ein anderer den Wunsch, daß man ihn dafür
bestrafe. Warum verhält sich dies auf moralischem Gebiet
anders? Das hängt mit dem von jeder anderen Art von Übel
grundverschiedenen Charakter des moralisch Schlechten zusammen.
Darum ruft dieses nicht wie andere menschliche Mängel Mitleid
oder Spott hervor, sondern Entrüstung, den Wunsch, daß der
Böse leide, und Befriedigung, wenn ihn Leid trifft, oder, wenn
dieser Wunsch sich nicht erfüllt sieht, die Hoffnung und das Ver­
langen, daß ihm im Jenseits gerechte Vergeltung bevorstehe.
Wie lebhaft dieses Verlangen ist, erhellt daraus, daß die meisten
Religionen jenseitige Strafen, sogar ewige, lehren. Es entspricht
dies ganz dem natürlichen Gefühl, und diesem geben denn auch
die Philosophen selbst Zeugnis. In Kant war es so mächtig,
daß er darauf den Glauben an die Vorsehung und an ein
künftiges Leben zu gründen wagte, im Widerspruch mit seinen
theoretischen Lehren.“
Antwort des Deterministen: „Es .ist zuzugeben, daß das mora­
lisch Schlechte einen 'besonderen Charakter hat; wie sollte es auch
anders sein, da der Wille doch etwas anderes ist als Urteil und
Phantasietätigkeit? Es ist eben das Übel auf jenem Gebiete, von
dem mehr als von allen anderen der Wert der Person abhängt.
Tugend, edle Gesinnung stehen höher als intellektuelle und
künstlerische Gaben; Laster und niedere Gesinnung tiefer als
256 Lohn und Strafe

Urteilsschwäche und falscher Geschmack. Aber Folgerungen zu­


gunsten des Indeterminismus knüpfen sich daran nicht.“
Vor allem ist schon dagegen Einspruch zu erheben, daß sitt­
liche Mängel und moralische Verderbtheit nicht Gegenstände
berechtigten Mitleides sind. Wenn die Indeterministen so ein­
gestellt sein sollten, so spräche dies gegen sie, die Deterministen
sind gegenteiliger Meinung. Sie fordern Mitleid auch mit dem
sittlich schlecht Veranlagten und Demut von dem, der sich sittlich
überlegen weiß. Ein konsequenter Determinist wird sich fragen:
Was wäre unter Umständen wie die, unter welchen dieser
Schuldige aufgewachsen ist, aus mir selber geworden? Was aber
den Schein anlangt, als wäre Strafe vom deterministischen Stand­
punkte aus nicht gerechtfertigt, so schwindet er, sobald man sich
klargemacht hat, warum gestraft wird. Allerdings haben manche
Deterministen gemeint, sie aufgeben zu müssen, im Zusammen­
hang mit gewissen Begebenheiten der Moralstatistik, und das
war natürlich Wasser auf die Mühle der Indeterministen. Aber
man darf wohl annehmen, daß jene zu wenig über den Sinn von
Lohn und Strafe nachgedacht haben.
Man spricht von Lohn und Strafe in verschiedenem Sinne.33
Im uneigentlichen Sinne meint man damit die natürlichen guten
und schlimmen Folgen, die sich auf allen Gebieten an unser Tun
und Lassen knüpfen. Es lohnt und rächt sich alles, sagt man in
diesem Sinne. Ein Talent findet Bewunderung, Dummheit bringt
sich selbst in Mißgeschick, und so hat auch das Wollen solche
natürliche Folgen: die Pein des schlechten Gewissens, das
quälende Gefühl, welches das Bewußtsein sittlicher Minder­
wertigkeit begleitet, die üble Gewohnheit, die aus wiederholten
Verfehlungen sich bildet. Der einzelne Akt ist ein Ring an einer
Kette, die zur Sklavenfessel werden kann. Es entwickeln sich
Leidenschaften, die immer neue Begierden hervortreiben, schwie­
riger und schwieriger zu befriedigen und zu unterdrücken. Ferner
das Mißfallen unserer Mitmenschen, besonders der sittlich Hoch­
stehenden, das Mißtrauen, dem der Schlechte begegnet, der üble
Leumund, der ihm vorangeht und nachfolgt. Allerdings gibt es
genug Fälle, wo eine solche Bestrafung nicht einzutreten scheint,
wo der Tüchtige und Tugendhafte untergeht und der Minder­
Strafe 257
wertige und Schlechte triumphiert. Doch erklärt sich dieser Schein
zum Teil aus unserer mangelnden Einsicht, zum Teil aus der
Beschränktheit des überschauten Zeitraumes.
Im eigentlichen Sinne aber spricht man von Strafe und Lohn,
wo jemandem etwas Übles oder etwas Gutes in einer vernünftig
motivierten Absicht zugefügt wird. Diese hat immer eine Be­
ziehung auf den Willen oder das Handeln, die gebessert werden
sollen, sei es beim Bestraften selbst, sei es bei anderen Personen
(bessernde und exemplarische Strafe).
Noch in einer anderen Weise lassen sich zwei Arten von
Strafe unterscheiden:
a) Strafe, die entfallen würde, wenn es offenbar ist, daß
nicht aus unsittlichem Wollen gefehlt wurde, vielmehr aus
edlen Motiven, nur eben in unverschuldetem Irrtum.
b) Strafe, die auch in solchen Fällen zu verhängen ist. Die
erste ist die bessernde Strafe im engeren Sinne, auf Besserung
des Wollens und Handelns abzielend. Sie findet Anwendung in
der Erziehung im edleren und eigentlichen Sinne des Wortes.
Der Erzieher sucht die Anziehungskraft des als besser Er­
kannten durch ein anderweitiges Motiv zu unterstützen und
so die Dispositionen zu bessern. So strafen Eltern ihre Kinder,
wogegen-Mißhandlung, bloß um dem Zorn Luft zu machen,
barbarische Roheit ist.. Die zweite ist die schützende Strafe, auf
Besserung der Leistung gerichtet. Sie findet Anwendung bei der
Dressur der Tiere und überhaupt dort, wo keine Begriffe von
moralisch Schlechtem und Rechtswidrigem eine Rolle spielen.
Man will hier ein Motiv schaffen, nicht das als besser Erkannte
dem als schlechter Erkannten vorzuziehen, sondern das wirklich
Bessere dem wirklich Schlechteren, auch für den Fall, daß
irrtümlich das Schlechtere für das Bessere gehalten wurde oder
überhaupt keine Bewertung von Gut und Schlecht vorhanden ist.
Dieses Motiv soll die Scheu vor dem als Strafe drohenden Übel
sein. So straft der Staat auch dort, wo keine Aussicht auf Er­
ziehung sich öffnet. Schutj des Ganzen ist dabei sein Zweck.
Wer in der einen oder anderen Weise vernünftig strafend ein
Übel zufügt, zielt damit auf ein größeres Gut ab; sonst fehlte
den Menschen das Recht, ein Übel zu setjen, Leid oder' Tod zu
258 Schuldgefühl und Strafwürdigkeit

verhängen. Das gilt, wie vom einzelnen, auch vom Staate, denn
dieser ist dazu da, dem Übel zu steuern, nicht aber die Menschen
tyrannisch in Furcht und Schrecken zu halten. Diese Andeutungen
über den Sinn der Strafe werden genügen, um erkennen zu
lassen, daß sie mit dem Determinismus durchaus im Einklang
steht. Es soll ja der Gedanke an das drohende Übel der Strafe
den Willen zu richtiger Wahl determinieren.
Wenn einer nach dem Gesagten noch immer fragen sollte:
Wie kann man jemanden tadeln oder strafen, wenn er nicht
anders konnte? so verriete er, daß er noch immer nicht gelernt
hat, zwischen Freiheit des Wollens und Freiheit des Handelns
zu unterscheiden. Ohne die zweite, d. h. wenn ihm die Macht
fehlte, das Verlangte durchzuführen, selbst wenn er es gewollt
hätte, ist sein Wille allerdings nicht zu tadeln; m i t ihr aber
wohl, wenn er sich unrichtig entschieden hat.
Wie Strafe mit dem Determinismus vereinbar ist, so natürlich
auch das Bewußtsein der Verantwortlichkeit. Darunter ist zu ver­
stehen:
a) Im weiteren Sinne die Überzeugung, daß mit der betreffen­
den Tat ein Fall gegeben ist, wo Strafe berechtigt ist. Dieses
Verantwortungsbewußtsein kann auch einer haben, der aus Irr­
tum fehlte, sobald er den Irrtum erkannt hat. Nicht ebenso das
Schuldbewußtsein, denn wer, von edlen Motiven bewegt, nur
eben aus Irrtum gefehlt hat, darf sich ja sagen, das Beste an­
gestrebt zu haben.
b) Im engeren Sinne die Erkenntnis, daß ein Fall gerechter
Strafe vorliegt. Und hier sind auch das Gefühl der Schuldbarkeit
und das Bewußtsein, durch Schuld des Willens Strafe verdient
zu haben, Selbstvorwurf und Reue am Platj.
Aber weder im einen noch im anderen Fall ist zur Erklärung
Indeterminismus heranzuziehen. Das Bewußtsein sittlichen Ver­
schuldens, die Erkenntnis der Strafwürdigkeit entfernen sich
ebensowenig vom Boden des Determinismus wie die ihnen zu­
grunde liegende Unterscheidung zwischen sittlich Gutem und
Schlechtem.
Doch die Indeterministen geben sich mit alledem nicht zu­
frieden. Sie wollen das Gesagte nur von der Zweckstrafe
ist durchaus vereinbar mit Determinismus 259
gelten lassen. Man irre sich aber, wenn man glaube, daß das
Verlangen nach Strafe in der bloßen Einsicht ihrer Nützlichkeit
seinen Grund habe. Das unmittelbare Bewußtsein lehre deutlich,
daß oft durchaus kein solches Motiv im Spiele ist. Es knüpft sich
vielmehr an den Abscheu vor dem sittlich Schlechten, das eben
eine von allen anderen Übeln grundverschiedene Art des
Schlechten darstellt. Recht schlagend 'zeigten dies die Fälle, wo
der unbefriedigte Gerechtigkeitssinn in dem Gedanken an eine
jenseitige Vergeltung, den der Böse, über welchen ich mich ent­
rüste, vielleicht nicht teilt oder um den er sich jedenfalls nicht
kümmert, seinen Trost findet. Nicht aus Nütjlichkeitserwägungen,
sondern aus bloßem innerem Abscheu vor dem Schlechten ver­
lange das empörte Sittlichkeitsgefühl die Strafe als reine
Vergeltung.
Antwort des Deterministen: „Man beruft sich hier auf den sog.
Vergeltungstrieb. Doch entbehrt dieser, wie stark er auch sich
geltend machen mag, als blinder Instinkt der sittlichen Be­
rechtigung. Vernünftig ist das Mißfallen, der Abscheu vor dem
Bösen, aber das Verlangen nach und die Freude an der Ge-
sellung von Leid und Schuld ist an sich ein blinder Trieb. Dieser
mag, wie andere Instinkte, zweckmäßig sein, weil er, ehe noch
vernünftige Überlegung auf das Strafen verfallen war, schon
dazu verhalf, daß gestraft wurde; aber an sich ist der Rache­
trieb kein edles Gefühl, zählt vielmehr zu den niedrigen Leiden­
schaften der menschlichen Seele. Und wie er schon einer ratio­
nalen Rechtfertigung der Strafinstitution vorangeht, so begegnet
er uns auch als eine ihrer Folgen. Hat es sich nämlich einmal als
zweckmäßig herausgestellt, .daß regelmäßig Strafe verhängt
werde, sei es um zu bessern, sei es um abzuschrecken, so kann
sich eine Gewohnheit bilden, Strafe auch dort zu verlangen, wo’
sie keinem berechtigtem Zwecke dient, nämlich wie der Geizige
das Geld liebt ohne Rücksicht auf das, wozu es nützlich ist. Be­
rechtigt ist ein solches Verlangen aber nicht zu nennen.“
Noch mehr ist zu sagen. Angenommen, es wäre nicht nur das
Mißfallen am sittlich Schlechten berechtigt, sondern auch Ver­
geltungstrieb, losgelöst von aller Rücksicht auf Zweckmäßigkeit
der Strafe, und die rein vindikative Strafe wäre-sittlich zu billi­
260 Alle Argumente gegen den Determinismus

gen, wäre das ein Grund, sich am Determinismus irremachen


zu lassen? Keineswegs, ein Beweis für die Freiheit liegt nicht
darin. Angenommen, es gäbe Wesen, für welche die Anziehungs­
kraft des Schlechten so mächtig ist, daß sie immer, bei jeder
Wahl, dem Schlechteren den Vorzug geben. Der dem sittlich
Schlechten eigentümliche innere Abscheu und unsere Empörung
würden sich auch gegen sie richten, wie Mill, der solche
Teufels wesen fingiert hat, selbst treffend bemerkt. Und wenn
sich an den sittlichen Abscheu ein gerechtfertigtes Verlangen
nach Vindikation knüpft, so auch hier. Wir würden auch diese
zum Bösen determinierten Wesen entsprechend dem Maße ihrer
Schlechtigkeit gezüchtigt sehen wollen, während wir den ihnen
entgegengesetjten tugendhaften Wesen Glück und Seligkeit
wünschen würden.
Was aber den Gedanken jenseitiger Vergeltung anlangt, so
können wir Kant zustimmen, wenn er den Theismus nur mit
dem Vertrauen vereinbar findet, daß im großen und ganzen die
Entwicklung der Welt jener Harmonie von Tugend und Glück,
Laster und Leid zustrebt, die wir, bloß auf den gegenwärtigen
Zustand blickend, oft sehr vermissen. Denn wenn ein heiliger
Wille lebt, in dessen unendlicher Gewalt das Ganze der Welt
wurzelt und ruht, so wird er auch das Übel und insbesondere
das sittlich Böse nur zulassen, sofern und wie es das Ganze
fördert, mag auch unserem Willen dieser Zusammenhang viel­
fach verborgen bleiben. Selbst wenn es Mächte gäbe, die, soviel
an ihnen liegt, nur das Böse wollten, sie wären in einer vom
göttlichen Verstand und Willen gelenkten Welt nur, wie
Mephisto, ein Teil von jener Kraft, „die stets das Böse will
und stets das Gute schafft“.
Doch kehren wir zu menschlichen Begriffen und Maßstäben
zurück. Wenn wir strafen, so leitet uns nicht der Gedanke an
ein Gut, das in der Harmonie von Schuld und Leid liegen mag,
sondern der an den Nu^en, den Strafe dadurch stiften kann, daß
sie bessert und abschreckt. Und diesen Nutjen erzielt sie um so
sicherer, je stärker der Gedanke an sie den Willen des Menschen
zu motivieren vermag. Strafe ist daher mit Determinismus
durchaus vereinbar.
erweisen sidi als unstichhältig 261
4. Unrichtig ist es auch, zwischen Determinismus und Fatalis­
mus nicht zu unterscheiden.
Der Fatalismus ist von zweifacher Art:
a) Der reine oder asiatische Fatalismus, der Fatalismus des
Ödipus behauptet, daß unser Tun und Lassen gar nicht von
unserem Willen abhängt. Welche auch immer unsere Neigungen
seien, eine höhere Gewalt oder ein blindes Verhängnis wird,
mächtiger als sie, uns nötigen zu handeln, nicht wie es unseren
Neigungen entspricht, sondern wie wir zum Handeln prädesti­
niert sind. Unsere Liebe zum Guten, unsere Abneigung gegen
das Schlechte sind ohne Einfluß. Sie mögen in sich selbst tugend­
haft sein, aber es ist nutjlos, sie zu nähren, da sie doch keinen
Einfluß auf unser Verhalten ausüben.
b) Die andere Art von Fatalismus, der modifizierte Fatalismus,
wie wir ihn nennen wollen, anerkennt die Abhängigkeit unserer
Handlungen von unserem Willen, die Determination unseres
Willens durch die vereinigte Wirksamkeit der Motive, die ihrer­
seits in unseren Neigungen wurzeln, in dem, was man unseren
Charakter nennt. Aber, fügt er bei, dieser Charakter selbst ist
kein Produkt unserer Wahl und er ist uns ein für allemal ge­
geben. Wir sind für ihn nicht verantwortlich und eben auch
darum nicht für die Handlungen, die er uns vollbringen läßt.
Ihn zu'ändern wäre vergebliches Bemühen. Diese Lehre hat in
neuerer Zeit Schopenhauer vertreten, und sie paßt in der
Tat trefflich in das Bild seiner schlechtesten aller möglichen
Welten.
Im Gegensatj zu diesen beiden Systemen denkt der Determi­
nismus nicht nur unser Betragen, sondern auch unseren Charakter
zum Teile von unserem Willen abhängig. Wir vermögen ihn
durch Anwendung geeigneter Mittel zu verbessern. Das stimmt
mit des Aristoteles Wort zusammen, daß Gewohnheit uns
zur zweiten Natur werden könne, und dieser hat hier viel
richtiger gesehen als Schopenhauer. Wenn der Charakter
eines Menschen, so wie er ist, diesen zum Bösen determiniert, so
ist dies ein Grund, ihn in einer bessere Motive schaffenden
Weise zu beeinflussen und so nach und nach von jener Not­
wendigkeit durch eine wünschenswertere Notwendigkeit zu be­
262 Beweise für den Determinismus

freien. So anerkennt der Determinist mit der Gestaltbarkeit des


Charakters zugleich die sittliche Pflicht, an seiner Vervollkomm­
nung zu arbeiten. In bezug auf jene beiden Formen des Fatalis­
mus mag der Vorwurf, daß er alle Regsamkeit und Strebsamkeit
ertöte, berechtigt sein, den Determinismus trifft er nicht.

f 15. II. A. Bewelsversuche für den Determinismus

Die Argumente der Indeterministen haben sich als nicht stich­


hältig, ihre Vorwürfe als ungerechtfertigt erwiesen. Aber die
Deterministen geben sich mit der Kritik nicht zufrieden, sie
wollen positive Beweise für die eigene Auffassung erbringen.
Das Zeugnis der Erfahrung, auf das sich ihre Gegner mit so
wenig Glüdc berufen hatten, nehmen sie für sich in Anspruch.
Schon das spreche für den Determinismus, daß überall
sonst notwendige Verursachung sichergestellt sei. Das Kausal­
gesetz findet nicht nur in der äußeren Natur, der unbelebten und
belebten, nirgendwo eine Ausnahme,34 auch nicht auf psychischem
Gebiete. Einzig und allein beim Willen soll Freiheit sich finden.
Schon dies spricht dafür, daß in Wahrheit auch er keine Aus­
nahme mache. Und was so von vornherein höchst wahrscheinlich
ist, findet sich durch die besondere Erfahrung auf dem Gebiete
des Willens denn auch aufs kräftigste bestätigt.
1. Die innere Wahrnehmung zeigt mir in jedem Falle einer
Willensentscheidung, daß ich durch Motive dazu bestimmt bin;
wo aber eine Determination durch Motive, dort ein notwendiges
Bestimmtwerden und nichts von indeterministischer Freiheit.
Thomas Reid meinte freilich, man müsse Motive und Ur­
sachen scheiden, denn Motive könnten zwar antreiben zum
Handeln, nicht aber selber handeln. Allein war das mehr als ein
Sophisma? Wenn die Motive zum Handeln treiben, so wirken
sie doch offenbar mit, und was anderes ist dieses Mitwirken als
ein zusammen mit anderen Faktoren Determinieren? So sind
sie denn, eben als Motive, wirkende Ursachen des Willens.
2. Die Beobachtung ergibt, daß wir, wenn Motive einander
entgegenstehen, immer durch das stärkere bestimmt werden. Es
aus der Erfahrung 263
ist so wie bei der Waage, wo das Übergewicht auf der einen
Seite entscheidet. Steht die Wahl zwischen einem Talerstück
und zwei Talerstücken, so wählt jeder die beiden. Und wenn
ein Weinkenner zu wählen -hat zwischen einem Johannisberger
und einem gewöhnlichen Pfälzer, so greift er zu jenem, außer
es spräche ein besonderer Grund für die entgegengesetzte Be­
vorzugung.
3. Jedermann macht an seinen eigenen Willensentscheidungen
die Beobachtung, daß er unter gleichen Umständen gleichartige
Entschlüsse faßt, und vermag daraufhin ein zuverlässiges Urteil
über sein eigenes künftiges Verhalten sich zu bilden.
4. Wir können aber auch voraussagen, was für Entschlüsse
andere unter gewissen Umständen fassen, werden, und um so
genauer^ je besser wir aus früheren Erfahrungen mit ihren An­
schauungen, Neigungen und Gewohnheiten vertraut sind. Ist
diese Kenntnis umfassend und gründlich genug, so nähert sich
die Zuverlässigkeit unserer Erwartungen der Sicherheit, mit der
wir, auf Grund unserer Kenntnis der physikalischen und chemi­
schen Gesetje Vorgänge in der äußeren Natur voraussagen. Irren
wir aber bei solchen Erwartungen, so sagen wir nicht, der über­
raschende Entschluß sei zufällig eingetreten, sondern wir hätten
uns über die Stärke eines der in Betracht kommenden Motive,
über den Charakter des vorschnell Beurteilten, über dessen Emp­
fänglichkeit für jenen Reiz getäuscht. Die Fälle, in denen die
Willensakte zu unsicher erscheinen, um mit Zuversicht voraus­
gesagt werden zu können, sind gerade diejenigen, bei welchen
unsere Kenntnis der Einflüsse, welche als Ursachen wirken, so
unvollständig ist, daß gleich unzureichende Daten die gleiche
Unsicherheit auch in die Voraussagen des Astronomen und in
die des Chemikers bringen würden.
5. Endlich verifizieren die Deterministen ihre Ansicht durch
die Ergebnisse statistischer Untersuchungen, die man an Gruppen
von Menschen angestellt hat und ständig fortführt, Gruppen, die
zahlreich genug sind, um die Einflüsse auszuschließen, welche
nur auf eine kleine Zahl einwirken, auf einer breiten Staffel
aber sich gegenseitig neutralisieren und in summa das Gesamt­
ergebnis ungefähr als das zurücklassen, was es gewesen wäre,
264 Die Vorwürfe der Indeterministen

wenn die Willensakte der ganzen Masse einzig und allein durch
die allen Individuen gemeinsamen Ursachen beeinflußt worden
wären. Solche Beobachtungen ergeben eine Gleichförmigkeit, die
der auf physischem Gebiete beobachteten nicht nachsteht. Em
Beispiel: Auf den Postämtern in London und Paris ist beobachtet
worden, daß jährlich gleich viel Briefe ohne Adresse aufgegeben
werden. So erwartet der Staat unter ähnlichen Umständen von
der gleich großen Bevölkerung den gleichen Ertrag an Steuern,
die gleiche Zahl von Eheschließungen, Geburten, Verbrechen
usw.
Das also sind die Gründe, um derentwillen die Deterministen
wie in der äußeren Natur und sonst auf psychischem Gebiete,
so auch bei den menschlichen Willensakten einen notwendigen
Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen annehmen.

$ 76. n. B. Gegenvorwttrfe der Deterministen


gegen den Indeterminismus

So sind denn die Deterministen davon überzeugt, daß man


sie durch keinerlei Berufung auf Erfahrung widerlegen könne.
Diese spreche vielmehr für sie, und die Waffe, deren der Gegner
sich bediente, sei ihm aus den Händen geschlagen und siegreich
gegen ihn selbst gekehrt. Aber auch durch den Vorwurf, de­
struktiv zu wirken, fühlt sich der Determinismus nicht getroffen,
ja er macht sich anheischig, ihn auf den Gegner zurückfallen zu
lassen.
1. Es wurde gesagt, daß der Determinismus den Unterschied
sittlich guter und schlechter Handlungen aufhebe; gerade um­
gekehrt tut dies der Indeterminismus. Eine Handlung wird gut
oder böse genannt mit Rücksicht auf ihre Motive. Ist der Wille
nicht durch Motive bestimmt, so kann er weder sittlich noch un­
sittlich sein.
2. Es wurde gesagt, daß vom Standpunkte des Determinismus
Strafe sinnlos sei, eine der gesellschaftlichen Ordnung sehr ge­
fährliche Konsequenz. In Wahrheit ist es vielmehr der Indeter­
minismus, der sie unberechtigt erscheinen läßt. Als bloße Rache
fallen auf sie selbst zurück 265
entbehrte Strafe der sittlichen Berechtigung; nur der Nutyen,
den sie, sei es für den Täter selbst, sei es für die Allgemeinheit,
stiftet, kann sie rechtfertigen. Dieser Nutjen aber beruht ganz
auf seiner motivierenden Kraft und diese wird vom Indetermi­
nismus negiert.
3. Dem Determinismus wurde vorgeworfen, daß er im Grunde
Fatalismus sei und als solcher jede Regsamkeit des Willens,
jedes Streben zum Besseren lähme. Audi dieser Vorwurf fällt
auf den Ankläger zurück.
a) Wer nicht glaubt, -daß sein Wille durch Motive bestimmt
werde und das notwendige Ergebnis der Umstände und der
inneren, vornehmlich durch vorangegangene Übung ausgebildeten
Dispositionen ist, hat keinen vernünftigen Grund, der Gelegen­
heit zum Bösen aus dem Wege zu gehen, an seinem Charakter
durch Bildung guter Gewohnheiten und Veredelung seiner natür­
lichen Neigungen zu arbeiten. Warum die Gelegenheit fliehen?
Warum an den eigenen Dispositionen arbeiten, wenn nicht jene
als äußere, diese als innere Ursachen unsere Willensentscheidun­
gen -bestimmen? So ist es nicht der Determinismus, sondern der
Indeterminimus, der zu moralischer Trägheit führt. Indem er
lehrt, daß es nicht in unserer Macht liegt, den Willen zu beein­
flussen, hält er uns ab von jeder Bemühung um Selbsterziehung.
Wir werden unvorbereitet die Stunde der Versuchung heran­
kommen lassen und ihr erliegen.
b) Noch in einer anderen Weise zeigt sich, wie der Indetermi­
nismus, wenn er konsequent sein wollte, unser Streben und unsere
Kraft lähmen müßte.
Wenn das Geschehen in der äußeren Natur nicht nach not­
wendigen Gesetzen verliefe, dürfte man dann mit Zuversicht
damit rechnen? Wäre es möglich, daß wir unter Benutyung der
Naturgesetze die gewaltigen Werke der Technik vollbrächten?
In keiner Weise! Nur unser Wissen um die Gesetye gibt uns
solche Macht und mit dem Maße dieses Wissens wächst auch sie.
In Ohnmacht aber stünden wir den Phänomenen des Willens
gegenüber, wenn sich diese nicht nach notwendigen Gesetyen
vollzögen. Wir würden solche Gesetye weder erkennen noch uns
ihrer zur Erreichung unserer Ziele bedienen können. Keine noch
266 Nicht Determinismus — Indeterminismus führt zum Fatalismus

so lange Bekanntschaft mit einem Menschen böte uns eine Ge­


währ für sein künftiges Verhalten. Die bisherige Erfahrung
wäre ja nur Zufall. Weder beruhte die Übereinstimmung der
beobachteten Fälle auf einer bleibenden Ursache, noch hätte sich
in der entstandenen Gewohnheit ein mitbestimmendes Prinzip
gebildet. Versprechungen, die ich machte oder erhielt, böten
keinen Anhalt, denn die Rücksicht auf eine gegebene Zusage
würde ebensowenig wie Gewohnheit ein bestimmender Grund
für das weitere Verhalten sein. Mit der Möglichkeit vernünftiger
Erwartungen über unser gegenseitiges Verhalten entfiele aber
alsbald jedes geordnete Beisammensein. Die ganze menschliche
Gesellschaft wäre zerstört, kein auf Dauer berechnetes Unter­
nehmen möglich, die mächtigste Kraft auf Erden, der mensch­
liche Wille, unberechenbar geworden und darum alles so in
Zweifel und Dunkel gehüllt, daß niemand einen Plan entwerfen
könnte, nicht einmal für sich allein, geschweige denn einen, der
Mitarbeiter zu seiner Durchführung erforderte.
So scheint denn nicht der Determinismus, sondern der Indeter­
minismus zu einer Art Fatalismus zu führen oder doch zu gleichen
verderblichen Konsequenzen wie dieser. Machtlos über die äußere
Welt, machtlos über das eigene zukünftige Wollen, müßte der
konsequente Indeterminist müßig dem Schicksal c. tgegensehen.

Drittes Stück: Versuch, den Indeterminismus durch die Unter­


scheidung einer gemäßigten von einer extremen Form zu retten

§ "H. A. Die Erfahrungen, auf die sich der Determinismus beruft,


scheinen auch mit dem gemäßigten Indeterminismus verträglich
Wir haben die Erfahrungsargumente des Determinismus
kennengelernt, und gewiß, sie waren wert, gehört zu werden.
Mächtig scheinen sie sowohl, wo sie die Argumente der Gegner
zerstören, als wo sie die eigenen Lehren begründen wollen.
Waren sie aber auch in beiden Beziehungen gleich erfolgreich?
Gegen die Kritik der indeterministischen Beweisversuche ist
kaum mehr etwas einzuwenden. Sie hat selbst die beliebtesten
Argumente als unhaltbar erkennen lassen. Die Verteidigung
Gemäßigter Indeterminismus 267
konnte dagegen nicht aufkommen. Aber anders verhält es sich,
wo der Determinismus die Lehre der Gegner nicht nur als un­
bewiesen, sondern geradezu als falsch und die eigene als wahr
erweisen will. Hier scheint er seinerseits in denselben Fehler zu
verfallen, den er an den Indeterministen rügen durfte. Er scheint
Lehren zu widerlegen, die nicht mit der gegnerischen identisch
sind, sondern nur etwa mit einer unvollkommenen Form der­
selben.
Was ist die Lehre der Indeterministen?
1. Lehren sie, daß der Wille überhaupt keine Motive habe?
Nein, soweit sie nur einigermaßen Psychologen sind, lehren sie
das Gegenteil; nur daß er keine nötigenden Motive habe, ist
ihre These.
2. Lehren sie, daß jedes Motiv dem anderen an Kraft und
Bedeutung gleich sei? Nein, jeder, der überhaupt Motive an­
erkennt, gibt zu, daß das eine mehr, das andere minder gewichtig
sei. Nehmen wir an, die einfachen Motive wären alle gleich (was
sicher nicht der Fall ist), so bliebe doch die Annahme eines
Unterschiedes in der Kraft der Motive notwendig für den Fall,
wo mehrere Motive vereinigt gegeben sind.
Ebenso geben sie zu, daß gleiche Motive bei verschieden
disponierten Seelen von verschiedenem Gewichte sind.
Nur eine Nötigung schlechthin leugnen sie, das Übergewicht
des einen Motivs über das andere bedinge vielmehr nur eine
größere Wahrscheinlichkeit und verrate sich dadurch, daß es
durchschnittlich häufiger bestimmend wird als das gegenteilige.
Ähnlich wie beim Würfeln; nur hier bloß subjektive, dort zu­
gleich objektive Wahrscheinlichkeit, d. h. im ersten Falle nur
mangelnde Kenntnis dessen, was beim einzelnen Wurfe de­
terminiert.
So kann auch nach den Indeterministen durch das steigende
Mißverhältnis der Motive die Entscheidung mehr oder minder
wahrscheinlich, ja moralische Notwendigkeit werden (Aristo­
teles: Ein lasterhaftes Leben macht in gewisser Weise unfrei).
3. Lehren sie eine Notwendigkeit in keinem Fall des Wollens?
Doch! Sie haben schon von altersher Fälle unterschieden, wo
Freiheit, und solche, wo Notwendigkeit bestehe.
268 Argumente des gemäßigten Determinismus

a) Nicht frei ist der Wille nach ihnen, wo ein Motiv allein
wirkt und kein anderes ihm entgegensteht. Es determiniert dann
wirklich und notwendig. Hier kann von Wählen und darum auch
von Freiheit nidit die Rede sein.
b) Aber auch nicht jedes Wählen ist frei. So erfolgt z. B. die
Wahl notwendig, wenn auf der einen Seite ein Motiv A und
auf der anderen Seite das gleiche Motiv A in Verbindung mit B
wirkt, allgemein ausgedrückt, wo von den Gütern, zwischen
denen gewählt wird, das eine das andere einschließt. (Ein
Taler — zwei Taler.)
c) Frei hingegen wird gewählt, wo ein Motiv gegen das gleich
starke steht. Dabei ist die Stärke der Motive an der Erfahrung
zu messen, man nennt gleich stark solche Motive, die im Kampf
mit einem und demselben anderen Motiv gleich häufig über­
wiegen. Wenn ein Motiv A, mit C in Konkurrenz getreten,
ebensooft den Sieg davonträgt wie ein Motiv B, wenn es mit C
in Konkurrenz tritt, so sind sie beide als gleich stark zu bewerten.
Tritt aber einmal ein Fall ein, wo A mit B konkurriert, so
stehen zwei gleich starke Motive, zwei gleich gewichtige ein­
ander gegenüber; dann erfolgt die Wahl frei.
d) Zweifelhaft erscheint die Freiheit der Wahl, wo bloß Lust
und auf sie gegründete Gewohnheiten in Betracht kommen.
e) Hingegen soll sicher Freiheit bestehen, wo zwischen dem,
was sittlich gut ist (xalöv/, und dem, was angenehm und vorteil­
haft ist (i)3v), gewählt wird. Hier könne am wenigsten, wie bei
der Waage, von sich einschließenden Gewichten gesprochen
werden.
f) Steht die Wahl nur zwischen zwei xala, so determiniert mit
Notwendigkeit das größere Gut.
Durch diese Mäßigung ihres Standpunktes glauben die In­
deterministen sich behaupten zu können, denn, sagen sie, alle
Erfahrungen, auf die sich der Determinismus beruft, seien auch
mit dem gemäßigten Indeterminismus verträglich, beweisen also
nicht mehr für den einen als für den anderen. Wir wollen dies
im einzelnen an Hand der Beweisversuche der Deterministen
prüfen.
ad 1. sagen die Indeterministen: „Gewiß zeigt uns die innere
Kritik derselben 269
Wahrnehmung in jedem Falle, daß wir durch Motive bestimmt
sind, nicht aber, daß wir durch sie notwendig bestimmt sind.“
Vielleicht antwortet der Determinist, daß wir die Nötigung
unmittelbar wahrnehmen. Aber diese Antwort wäre unrichtig.
Man kann hier ähnlich argumentieren, wie früher die Determini­
sten selbst argumentiert haben. So wenig den Indeterministen
das Anderskönnen wahrnehmbar sein kann, so wenig den De­
terministen das Nichtanderskönnen. Wahrnehmen lassen sich
nur konkrete Tatsachen, nicht aber Möglichkeiten, Unmöglich­
keiten, Notwendigkeiten.
ad 2. Der Determinist stütjte sich auf die Erfahrung, daß bei
der Konkurrenz der Motive immer das stärkere obsiege. Ist das
wirklich festgestellt? Um deutlich zu machen, wer da im Rechte
ist, muß man vor allem verstehen, was mit dem Worte „das
stärkere Motiv“ gemeint ist.
a) Ist das jenes, das mehr Macht hat, den Willen zu bewegen?
Reid deutet es so und sucht damit das Argument ins Lächer­
liche zu ziehen. „Woher wissen wir“, fragt er, „welches Motiv
mehr Macht hat, den Willen zu bewegen? Ihr selbst sagt es: Nur
durch das Zeugnis seines definitiven Übergewichtes. Und somit
läuft eure angebliche Erfahrungstatsache, die gegen uns ent­
scheiden soll, auf nichts hinaus als darauf, daß die Motive über­
wiegen, welche die überwiegenden sind.“ Da hätten wir also
eine leere Tautologie, die selbstverständlich unter jeder Hypo­
these richtig ist. Der Fehler wäre ganz ähnlich dem, den manche
Indeterministen begingen, wenn sie sagten: „Ich kann, was ich
will; also ...“
b) Was sagen dagegen die Deterministen? Ein guter Teil von
ihnen antwortet: „Ihr mißdeutet unsere Worte. Wenn wir sagen,
die Erfahrung lehre, daß immer das stärkere Motiv überwiege,
so meinen wir nicht das stärkere in bezug auf den Willen,
sondern das stärkere in bezug auf Lust und Unlust, welche uns
die Wahlgegenstände gewähren.“
Aber die Indeterministen geben sich mit dieser Antwort nicht
zufrieden. „Was meint ihr“, fragen sie, „eine Lust oder Unlust,
die wir fühlen, während wir wählen, oder eine solche, die wir
als Folge der Wahl durch das Eintreten des Gewählten zu er­
270 Fortsetjung der Kritik der Argumente

warten haben?“ Sagt man das erste, so scheint man unter der
größeren Lust oder Unlust eigentlich nur eine Betätigung der
größeren Liebe oder des größeren Hasses, der größeren Begierde
oder der größeren Abneigung zu verstehen, d. h. eine Betätigung
des Bevorzugens, wie es das Wählen selbst ist. Und dann aller
dings ist es selbstverständlich, daß man wählt, was man bevorzugt.
Aber ob dieses Wählen determiniert sei oder nicht, darüber ist
mit diesem tautologischen Sa$e nichts ausgesagt. Sagt einer aber
das zweite — und faktisch scheint dies gemeint —, so ist das
zwar nicht mehr tautologisch, aber stimmt es zu der Erfahrung?
Keineswegs, es wird durch sie widerlegt. Ich brauche da nur
an schon Gesagtes zu erinnern. Wir haben festgestellt, daß man
nicht nur Lust liebt, sondern auch anderes Gute, wie Wissen,
Tugend und außer eigenen Gütern auch fremde, und daß man
das eigene Gut für das anderer zu opfern vermag. Und was in
solchen Fällen edler Aufopferung, findet auch in dem des Geizi­
gen statt, wo das, was zunächst nur Mittel war, allmählich um
seiner selbst willen geliebt wird. Auch kommt es vor, daß man,
zwischen Lust und Unlust wählend, zu der geringeren, aber
zeitlich näher liegenden Lust sich wendet und dadurch seine
Zukunft einem unvergleichlichen Elend aussetjt. Übrigens könnte
die Erfahrung schon darum nicht zeigen, daß immer die größere
Lust den Vorzug erhält, weil es oft unmöglich ist, das Maß
einer Lust relativ zu einer anderen genau zu bestimmen, zumal
wenn sie qualitativ verschieden sind. Alles dies wurde schon
früher erörtert, darum will ich jetjt nicht mehr ausführlich dabei
verweilen, sondern nur noch auf das Zeugnis eines so entschiede­
nen Deterministen wie J. St. Mill verweisen. Er spricht sich
darüber folgendermaßen aus: „Wenn man sagt, der Wille sei
durch Motive bestimmt, so versteht man unter Motiv nicht immer
oder nicht allein die Vorwegnahme einer Lust oder Unlust...
Es ist gewiß, daß wir durch den Einfluß der Ideenassoziation
allmählich dahinkommen, die Mittel zu wünschen, ohne an den
Zweck zu denken; die Handlung selbst wird zu einem Gegen­
stand des Verlangens und wird ausgeführt, ohne daß sie auf
irgendein anderes Motiv bezogen wird als auf sich selbst. So
weit kann noch immer der Einwurf gemacht werden, daß, da
des -gemäßigten Indeterminismus 271
uns die Handlung durch Ideenassoziation angenehm geworden
ist, wir so wie vorher durch die Vorwegnahme der Lust bewegt
werden zu handeln. Aber wenn wir auch dies zugeben, so ist
die Sache damit nicht zu Ende. So wie wir bei der Bildung von
Gewohnheiten fortschreiten und uns gewöhnen, eine besondere
Handlung oder Handlungsweise zu wollen, weil sie angenehm
ist, so werden wir sie zuletjt auch noch ohne jede Beziehung auf
ihr Angenehmsein wollen. Obgleich wir wegen einer Verände­
rung in uns oder in unseren Umständen 'kein Vergnügen mehr
an der Handlung oder vielmehr in der Antizipation eines ihr
folgenden Vergnügens finden, so wünschen wir die Handlung
doch immer noch und begehen sie folglich. In dieser Weise
geschieht es, daß die Gewohnheit, in der gewählten Bahn be­
harren zu wollen, den moralischen Helden auch dann nicht ver­
läßt, wenn der Lohn, den er ohne Zweifel in dem Bewußtsein
des Rechttuns findet, wie reell er auch sein mag, alles andere,
nur kein Äquivalent für die Leiden ist, welche er erduldet, oder
für die Wünsche, denen er vielleicht entsagt.“ (II. Log. d. Geistes­
wissenschaften, Kap. über Freiheit und Notwendigkeit, § 4.)
Wir begegnen hier einer Ansicht Mills, die uns auch früher
einmal beschäftigte, nämlich daß alles Wollen und Begehren
ursprünglich egoistisch sei und daß alles uninteressierte Wollen
sich durch Assoziation und Gewohnheit aus ihm entwickle. Diese
Ansicht ist vielleicht nicht zu billigen, doch wir mögen sie hier
dahingestellt sein lassen, sehen wir doch, daß Mill trotjdem
aufs entschiedenste es als der Erfahrung widersprechend ver­
wirft, daß bei der uninteressierten Liebe eine kleinere Lust
über eine größere den Sieg davontrage.
c) Andere haben darum die Sache anders gewendet. Nein,
sagen sie, wenn wir lehren, die Erfahrung zeige immer einen
Sieg des stärkeren Motivs über das schwächere, meinen wir nicht
das stärkere in bezug auf Lust und Unlust oder auf irgend etwas
anderes, sondern wir meinen allerdings „in bezug auf den
Willen“, aber in jene mißliche Tautologie, die Reid uns vor­
wirft, geraten wir damit durchaus nicht. Sein Vorwurf ist un­
schwer zurückzuweisen. Auch die Indeterministen unterscheiden
ja stärkere und schwächere Motive. Was meinen sie damit? Sie
272 Fortsetjung der Kritik der Argumente

verstehen unter den stärkeren Motiven solche, die mehr geeignet


sind, den Willen zu bewegen, und die ihn darum auch öfter,
leichter, wahrscheinlicher bestimmen, obwohl nicht immer not­
wendig. Wohlan, auch wir Deterministen nennen dasjenige
Motiv, das mehr geeignet ist, den Willen zu bewegen, das
stärkere Motiv. Das braucht keine leere Tautologie zu sein. Wenn
wir sagen, es bestimme immer das stärkere Motiv den Willen,
so wollen wir damit nur die Tatsache ausdrücken, daß dieses
Motiv dasjenige ist, das bei vollständiger Wiederkehr der Um­
stände den Willen immer und notwendig bewegt. So J. S t. M i 11
in seiner Schrift gegen Hamilton: „Wir sagen ohne Ab­
geschmacktheit, daß von zwei Gewichten, die auf die entgegen-
gesetjten Schalen der Waage gelegt werden, das schwere das
leichtere in die Höhe heben werde. Indes verstehen wir unter
dem schwereren, von dem wir sprechen, nichts anderes als das­
jenige, welches das andere in die Höhe hebt. Und dennoch ist
unsere Behauptung nicht sinnlos. Sie besagt, daß in vielen oder
in den meisten Fällen ein Gewicht das andere in die Höhe hebt,
und dieses ist dann immer dasselbe, nicht bald das
eine, bald das andere. Ähnlich wäre es auch hier, wenn auch das
.stärkere Motiv* nichts anderes hieße als dasjenige, das über­
wiegt, keine leere Tautologie, wenn nur eben immer ein Motiv
da ist, das überwiegt, und wenn dieses, das heute überwiegt,
unter den gleichen Umständen auch morgen und jederzeit über­
wiegen wird.“
In der Tat ist diese Bemerkung richtig. Die Behauptung, daß
dasjenige Motiv, welches in bezug auf den Willen das stärkere,
d. h. ihn zu bewegen geeigneter ist, ihn immer bewege, hat einen
guten Sinn. Aber ebenso klar dürfte sein, daß man nicht dies in
der versuchten Weise durch Erfahrung konstatieren kann. Aus
einer einzelnen Beobachtung läßt sich nicht entnehmen, ob das
stärkere Motiv im gegebenen Falle überwiegt. Auch nicht aus
mehreren Beobachtungen, wenn man sie in verschiedenen Lagen
anstellt. Vielmehr muß, um auch nur für eine einzelne Art von
Wahl die Erkenntnis zu gewinnen, das Experiment unter
gleichen Bedingungen hinreichend oft wiederholt werden. Dann
erst ist zu erkennen, ob wirklich das Motiv nicht bloß öfter den
des gemäßigten Indeterminismus 273
Sieg über die anderen davonträgt, sondern immer. Das gilt
nicht nur für Lust und Unlust, sondern auch für andere Arten
von Motiven.
Wir sehen, die Induktion ist jetjt eine viel schwierigere und
kompliziertere geworden. Und so ist denn in der Tat strittig,
ob immer das Motiv, das sich früher als das stärkere erwiesen,
unter den gleichen Umständen wieder den Willen determinieren
werde. Die Indeterministen behaupten das Gegenteil. Sie sagen,
die Beobachtung zeige, daß wir in gleichen Fällen entgegen-
gesetjt wählen, und sie sagen es mit einem gewissen Schein von
Berechtigung. Freilich konnten sie es nicht beweisen, weil sie
nie eine wahre volle Gleichheit der Bedingungen feststellen
konnten. Aber das können dann auch die Deterministen nicht.
Nur daß die Fälle ähnlich sind, läßt sich jeweils mit Sicherheit
sagen. Und in diesen ähnlichen Fällen ist, wie die Erfahrung
zeigt, dann nicht durchaus immer dasselbe entscheidend, sondern
nur meistens. Und das geben ja auch die Indeterministen zu.
Somit ist das zweite Argument zugunsten des Determinismus,
daß nämlich schlechthin ausnahmslos das stärkere Motiv über­
wiege, nicht beweisend.
ad 3. Wir kommen zum dritten Argument, das der Determinis­
mus für sich geltend machte, dem Hinweis auf die Regelmäßig­
keit bei uns selber sowie bei den uns Bekannten und auf die
Ergebnisse der Kriminalstatistik.
a) Daß diese letjte mit dem Indeterminismus nicht unvereinbar
wäre, hat schon Quételet bemerkt.35 Er meinte, da die
Statistik auf einer großen Häufung von Fällen beruht, so wäre
es dem Gesetj der Wahrscheinlichkeit entgegen, wenn un­
zusammenhängende Zufälligkeiten sich nicht ausglichen. Als
solche seien aber auch die Einflüsse der Freiheit zu betrachten.
Es scheine damit die beobachtete und durch Statistik fixierte
Regelmäßigkeit auch verständlich, wenn wir statt mit einer not­
wendigen Determination der Willensentscheidungen bloß mit
einer größeren oder geringeren Freiheit rechneten, wie dies die
Indeterministen tun. Nur drückt sich Quételet nicht eben
glücklich aus. Ein verständiger Indeterminist dürfte seine Äuße­
rung ebensowenig billigen wie der Determinist, indem sie die
274 Fortsetjung der Kritik der Argumente

Freiheit als eine besondere Ursache neben den Motiven, welche


notwendig wirken, erscheinen läßt. So ist es jedesfalls nicht,
vielmehr würde der gesamte vorgängige psychische Zustand —
oder ein bedeutender Teil davon — als freie, d. h. nicht determi­
nierende Ursache der Entscheidung zu betrachten sein. Aber,
indem man diesen Fehler eliminiert und nur mit den gemäßigten
Indeterministen schwächere und stärkere Motive unterscheidet,
d. h. solche, die mit weniger, und solche, die mit mehr Leichtig­
keit und Wahrscheinlichkeit den Willen bestimmen, bleibt es
gleichwohl wahr, daß die Statistik unter Annahme der Freiheit
dieselben Resultate liefern wird wie unter der der notwendigen
Determiniertheit des Willens.86
Wir sehen also, daß bei sehr ausgedehnten Gruppen, die in
ähnlichen Verhältnissen beobachtet werden, nach der Lehre von
der Freiheit, ebenso wie nach der der Notwendigkeit, eine
Gleichförmigkeit der Resultate mit Sicherheit zu erwarten ist.
b) Wie mit den Ergebnissen der Statistik ist es auch mit dem
Vorauswissen der Willenserscheinungen bei den uns Vertrauten.
Auch bei bester Bekanntschaft sehen wir unsere Erwartungen
über ihr künftiges Verhalten zuweilen enttäuscht. Nur in ge­
wissen Fällen urteilen wir hier mit Ausschluß jedes Zweifels,
wir sagen dann, wir hätten eine zwar nicht mathematische, aber
eine moralische Sicherheit. Und eine solche gestehen auch die
Indeterministen zu.
c) Ebenso auch bei uns selbst. Wir beobachten ein vielfach
gleichförmiges Handeln in ähnlichen Fällen, aber auch hier hat
unsere Voraussicht keine volle Sicherheit, sondern bald größere,
bald geringere Wahrscheinlichkeit, und nur infolge der Kenntnis
einer außerordentlichen Stärke gewisser Motive kommt es zu
einer fast vollkommenen Sicherheit der Voraussicht.
Vielleicht antworten die Deterministen: „Wenn alle die Er­
fahrungen von Regelmäßigkeit des Geschehens hier beim Willen
nicht ausreichen, die Notwendigkeit zu beweisen, dann müßte
man sich eigentlich auch für das Gebiet der körperlichen Natur
den Indeterminismus offenhalten. Denn die Argumente, die dort
zugunsten der Notwendigkeit sprechen, sind auch nicht kräftiger.“
Antwort: „Wäre dem so, dann dürfte man in der Tat auch
des gemäßigten Indeterminismus 275

dort nicht sagen, der Determinismus sei bewiesen. Aber so ist


es nicht. Die Verhältnisse liegen auf dem Gebiete des körper­
lichen Geschehens anders. Hier sind wir nämlich imstande, die Er­
scheinungen zu isolieren und völlig gleiche Fälle wiederholt zu
beobachten. Und zwar nicht bloß zwei oder drei, sondern un­
endlich viele, indem wir ja kontinuierliches Geschehen beobachten.
Wäre hier eine Abweichung von dem Gesetj, z. B. der Gravita­
tion fallender Körper oder der Trägheit überhaupt möglich und
käme sie gleichwohl in keinem einzigen Fall vor, so hieße das,
sie komme unter unendlich vielen Fällen nicht ein einzigesmal
vor, und das besagt unendliche Wahrscheinlichkeit, sog. physische
Unmöglichkeit.“
Freilich läßt sich in dieser Weise die Notwendigkeit des Ge­
schehens zunächst nur bei einfachen Fällen feststellen, bei kom­
plizierteren sind wir meist nicht imstande, eine so entscheidende
Untersuchung direkt zu machen. Aber wenn wir für jedes einzelne
isoliert die Notwendigkeit nachgewiesen haben, können wir dar­
aus auf die Notwendigkeit einer aus ihrer vereinten Betätigung
hervorgehenden Wirkung schließen.

f 78. B. Die Gegenvonvürfe des Determinismus gegen den


Indeterminismus erweisen sich der gemäßigten Form desselben
gegenüber als nicht stringent

So wären denn die Erfahrungsbeweise, die der Determinismus


zu seinen Gunsten und gegen den Indeterminismus vorgebracht
hat, weder beweisend für den Determinismus noch schlagend
gegen den Indeterminismus, wenigstens nicht gegen dessen ge­
mäßigte Form. Es bleiben nun noch die Vorwürfe zurüde-
zuweisen, welche den Indeterministen gemacht worden sind, was
nach dem Gesagten jetjt mit wenigen Worten getan ist.
1. Es wurde dem Indeterminismus vorgeworfen, daß er, da
er überhaupt keine Motive für den Willen anerkenne, den Unter­
schied von sittlichem und unsittlichem Wollen eliminiere, denn
dieser beruht ja auf dem Unterschied der Motive.
Doch der gemäßigte Indeterminismus läßt Motive gelten.
276 Ober die Gegenvorwürfe des Determinismus

2. Es wurde gesagt, daß auf indeterministischem Standpunkt


Strafe keine vernünftige Maßnahme wäre, weil sie ja durch
Motive der Furcht abschredcen wolle.
Aber auch der Indeterminist schreibt diesen Motiven, wenn
auch keine notwendige, so doch mehr oder weniger große Wahr­
scheinlichkeit der Wirksamkeit zu.
3. Es wurde gegen den Indeterminismus gesagt, daß nach ihm
die sog. Gelegenheit zu unsittlichen Handlungen ohne Einfluß
wäre, also nicht gemieden zu werden brauchte; ferner, daß die
Gewohnheiten und Dispositionen keine Macht üben könnten, und
daß es darum zwecklos wäre, sich um deren Bildung zu bemühen.
Auch dies trifft den gemäßigten Indeterminismus nicht, denn er
spricht ja diesen Faktoren zwar eine notwendige, nicht ebenso
aber eine wahrscheinliche Wirksamkeit ab. Und so ist auch ins­
besondere der Vorwurf unberechtigt, daß auf seinem Standpunkt
keines Menschen Verhalten berechenbar wäre. Die Rechnung
wird nur eben wegen der großen Komplikation sowohl als wegen
eines gewissen Spielraumes der Freiheit nicht völlige Sicherheit
bieten.

Viertes Stüde: Entscheidung für den Determinismus37

f 79. A. Vorgängige Unwahrscheinlichkeit des Indeterminismus

1. Wir sahen Deterministen und Indeterministen bestrebt, auf


Grund der Erfahrung die Freiheitsfrage zu ihren Gunsten zu
entscheiden. Mit allen Waffen des Scharfsinns wird der Streit
ausgefochten. Doch das Ende scheint wieder, daß kein Teil den
Sieg für sich in Anspruch nehmen dürfe. Die Deterministen
drangen eine Zeitlang mächtig vor, aber schließlich sehen sie
sich von den Indeterministen in ihre alte Stellung zurückgeworfen.
Ähnlich war es vorher den Indeterministen ergangen. Glücklich
vielleicht in der Verteidigung, können auch sie den Sieg nicht
behaupten.
Indessen kann man schon auf Grund des bisherigen Standes
in diesem Kampfe sagen, daß die Position der Indeterministen
die schwächere ist.
Vorgängige Unwahrscheinlichkeit des Indeterminismus 277

2. Sie haben kein einziges Argument für sich. Selbst wenn


also die Angriffe des Determinismus keine Entscheidung brachten,
so fehlt es doch an jedem vernünftigen Grund, eine solche Aus­
nahme zu konzedieren, wie sie der Indeterminismus in Anspruch
nimmt. Denn um eine Ausnahme höchst sonderlicher Art handelt
es sich offenbar. Es soll ja beim Wollen gegen alle Analogie mit
der Erfahrung auf allen anderen Gebieten ein Geschehen ge­
geben sein, das nicht notwendig determiniert ist.
a) Überall sonst, auf physischem und auf psychischem Gebiete,
wird mit dem notwendigen Zusammenhang alles Geschehens
gerechnet. Je allgemeiner nun ein Gesetj ist, um so unwahrschein­
licher erscheint eine Ausnahme. Was z. B. von allen Atomarten
gilt, das wird, können wir erwarten, auch von einer neu ent­
deckten gelten.
b) Ja, noch mehr, nicht Hoß die Analogie mit anderen Er­
fahrungsgebieten, auch die Erfahrungen auf dem Gebiete des
Wollens selbst sprechen für den Determinismus. Allerdings sehen
wir die Induktion nicht vollkommen durchführbar. Es gibt Wahl­
entscheidungen, wo keine eigentliche Messung der Motive mög­
lich ist. Aber soweit ihre Stärke meßbar ist, zeigt sich auch die
Wahlentscheidung durchgängig determiniert. Ausnahmen konn­
ten daher einzig und allein auf dem Gebiete angenommen
werden, das der Messung nicht zugänglich ist. Dies hat ent­
schieden etwas Bedenkliches. Es bleibt so die Induktion, die sonst
überall zur Annahme notwendigen Zusammenhanges geführt
hat, nicht ohne eine gewisse Kraft.
c) Einfachheit ist immer, was eine Hypothese empfiehlt.
Caeteris paribus ist sie gegenüber der komplizierteren die wahr­
scheinlichere, und zwar wächst die Unwahrscheinlichkeit im geo­
metrischen Verhältnis zur Komplikation. Vergleichen wir unter
diesem Gesichtspunkte die deterministische mit der indetermini­
stischen Annahme, so ist die zweite in großem Nachteil, denn
groß ist ihre Komplikation. Wo der Determinist mit einer ein­
fachen Annahme auskommt, macht sie viele. Ich erinnere nur
an die sechs Gesetze, die wir aufzählten, wonach bald Ent­
scheidungen mit Freiheit erfolgen sollen, bald ohne solche. Diese
Komplikation fällt ins Gewicht, denn keines dieser Gesetje läßt
278 Vorgängige Unwahrscheinlichkeit des Indeterminismus

sich aus einem anderen ableiten und ebensowenig sie alle aus
einem siebenten.
d) Überhaupt ist der Indeterminismus schon darum als un­
gerechtfertigt komplizierte und daher unwahrscheinliche An­
nahme anzusehen, weil die von ihm angenommenen objektiven
Chancen willkürlich erfunden sind. Er will die Unsicherheit der
Voraussagen daraus erklären, daß eben in manchen Fällen kein
notwendiger Zusammenhang zwischen den Ereignissen bestehe,
also der absolute Zufall Spielraum habe. Aber die Unsicherheit
unserer Voraussagen über menschliches Verhalten hat schon
ihren genügenden Erklärungsgrund in der Ungenauigkeit unserer
Kenntnis, und diese ist ein Faktum, das außer Zweifel steht.
Fällt es einem Meteorologen ein, zur Erklärung der Mangel­
haftigkeit seiner Prognosen absoluten Zufall anzunehmen? Es
genügt ihm der Hinweis darauf, daß die Erscheinungen sehr
kompliziert sind und daß ihm nicht alle Daten, von denen das
Wetter abhängt, zugänglich sind. Wozu also die Annahme ob­
jektiven Zufalls, welcher nicht nur hier, sondern auch sonst
nirgends in der Welt konstatiert ist? Wenn es Newtons
Hypothese, als er die Bewegung der Gestirne durch das Gesetj
der Gravitation erklärte, besonders empfahl, daß dieses Prinzip
schon anderwärts gesichert war, so muß der entgegengese^te
Umstand hier besonders vorsichtig machen. Wenn irgendwo, so
scheint der Grundsatz „entia non sunt multiplicanda praeter
necessitatem“ hier verlebt.
Vielleicht sagte einer, es liege in der Natur der Sache, daß
die objektiven Chancen, d. h. das Hineinspielen des Zufalls,
nicht zu konstatieren sind, selbst wenn sie existieren. Durchaus
nicht! Wenn wirklich solche objektive Chancen und so viele
eigentümliche Gesetze gegeben sind, so wäre es von vornherein
ebenso denkbar, ja geradezu als wahrscheinlich zu erwarten,
daß derartiges an irgendwelchen Erfahrungen sich konstatieren
ließe, z. B. ein Gesetj, daß ein gewisser Faktor, wo immer er zu
gegebenen Bedingungen hinzukäme, das Eintreten und Nicht­
eintreten ihrer gewöhnlichen Folgen gleich wahrscheinlich mache
u. dgl. Daß nun trotjdem ein solcher nirgends zu greifen ist,
spricht in hohem Maße gegen die Wirklichkeit.
Der Indeterminismus erklärt die Willensfreiheit nicht 279

$ 80. B. Mangelnder ErklBrungswert des Indeterminismus

So ist denn die Indeterminismus-Hypothese von vornherein


sehr unwahrscheinlich. Nun könnte einer sagen, auch vorgängig
sehr unwahrscheinliche Hypothesen können gesichert werden,
wenn sie gewisse Tatsachen unendlich leichter erklären als alle
anderen denkbaren Hypothesen. Aber gerade an solchen Tat­
sachen, für welche der Indeterminismus die Erklärung böte, fehlt
es ganz. Alles, worauf er sich berief, hat sich als Illusion heraus­
gestellt. Ich erinnere hier nur an dasjenige Moment, das bei dem
ganzen Streit das Wesentliche ist: Der Indeterminismus soll er­
klären, worin die Freiheit des Menschen, wenn er Wahlentschei­
dungen trifft, besteht. Darum nennt er sich ja geradezu die
Lehre von der Freiheit des Willens.
Aber gerade das erklärt er nicht nur nicht, sondern er ist
vielmehr ein Widerspiel der Freiheit. Wann sagt man denn,
einer sei frei? Wenn er eine gewisse Macht hat, und den Freieren
nennen wir den, der mehr Macht hat. Wir sprechen ferner von
Freiheit, wo in demjenigen, der handelt, ein solcher Zustand
vorausgesetjt werden darf, daß er für seine Handlungsweise
verantwortlich gemacht werden kann, d. h. daß es vernünftig
ist, ihn darob zu tadeln oder zu loben, dafür zu strafen oder zu
belohnen. Wenn nun diese Macht des Menschen und diese Ver­
antwortlichkeit vom Standpunkte des Indeterminismus aus als
gemehrt erscheint, so verdient er den Namen einer Freiheitslehre,
wenn nicht, so verdient er ihn nicht. Verfolgen wir diesen Ge­
danken. Wäre der extreme Indeterminismus im Rechte, so er­
folgten die Willensentscheidungen ursachlos. Es lägen also die
Ursachen weder für eine sittlich richtige noch für eine sittlich
unrichtige Entscheidung in uns selbst, wir wären nur sozusagen
ihr Schauplatj. Das Wollen ereignete sich zwar an unserer Seele,
aber außer jedem kausalen Zusammenhang mit unserem Cha­
rakter. Es könnte ein Mensch von den allerbesten Tendenzen
beseelt sein, aber ob daraufhin der richtige oder ein sittlich un­
richtiger Willensakt sich einstellen wird, bliebe ein glücklicher
bzw. unglücklicher Zufall. Selbst beim edelsten Charakter und
reiner Liebe zum Guten könnte es doch zu einer verbrecherischen
280 Indeterminismus ist die Lehre von der Unfreiheit des Willens

Willensentscheidung kommen, und diesem unverschuldeten Zu­


fall hätte es der Unglückliche zuzuschreiben, daß er auf einmal
vor dem Strafrichter steht.
Stellen wir uns aber auf den Standpunkt des gemäßigten
Indeterminismus, so ist klar, daß auch er der Freiheit in diesem
Sinn weit weniger gerecht wird als der Determinismus. Er läßt
ja den Zufall in die Willensentscheidungen hineinspielen, im
selben Maße, als er die Notwendigkeit eliminiert, und beschränkt
damit unsere Macht. Er läßt zwar der Persönlichkeit, d. h. dem
Charakter des Wählenden die Rolle eines bei der Willens­
entscheidung mitwirkenden Prinzips, aber in gewissem Sinne
kann ich nichts dafür und kann auch nichts dazutun, wenn ich
jetjt die eine und nicht die entgegengesetjte Entscheidung treffe'.
Das Prinzip in mir ist das gleiche für den Fall, daß die Wahl
richtig, wie für den Fall, daß sie unrichtig ausfällt. Somit ver­
diene ich, sofern das Prinzip in mir liegt, eigentlich in keinem
der beiden Fälle mehr Lob oder Tadel. Nur das Wollen selbst
verdiente sie; ich aber wäre, wie schon gesagt, nicht der Täter,
sondern nur der Schauplatj der Tat.
So zeigt sich denn der ganze Indeterminismus in einer höchst
seltsamen Täuschung befangen. Es liegt ihm daran, den Einfluß
eines fremden Prinzips aufzuheben. Auch nicht als frühere Ur­
sache soll etwas anderes als wir selbst für unser Wollen ent­
scheidend sein. Und er stellt zu diesem Behufe eine Theorie
auf, welche den eigenen Einfluß aufhebt oder doch beschränkt.
Er will die Freiheit sichern, und mindert, ja zerstört sie, indem
er uns der Macht entäußert. Wenn also hier überhaupt von
Freiheit und Unfreiheit gesprochen werden soll, so muß man
sagen: Der Indeterminismus ist die Lehre von
der Unfreiheit des Willens. Er beschränkt zwar
unsere Macht nicht durch eine fremde Macht, aber er setjt ihr
eine natürliche Schranke, die der Determinismus nicht kennt,
und zwar dadurch, daß er beim Willen das Reich des Zufalls
beginnen läßt.
Absurdität des Indeterminismus 281
I 81. C. Absurdität des Indeterminismus

So hat denn der Indeterminismus weder genügenden Er­


klärungswert noch ausreichende vorgängige Wahrscheinlichkeit.
Es fehlt nur noch, daß er direkt Absurdes enthalte. Und in der
Tat kann ihm auch dieser Vorwurf nicht erspart werden, weder
seiner extremen noch seiner gemäßigten Form. Es schließt näm­
lich sowohl die These, daß der Wille keine Ursachen habe, als
auch die, daß er keine determinierenden Ursachen habe, die
Annahme absoluten Zufalls ein, und diese widerspricht sich
selbst, wie im folgenden nachgewiesen werden soll.
1. Auch wer am durchgängigen Kausalzusammenhang alles
Geschehens nicht zweifelt, gebraucht zuweilen das Wort „zu­
fällig“. Er will damit sagen, daß etwas nicht beabsichtigt sei
oder daß zwei zeitlich zusammentreffende Ereignisse nicht in
unmittelbarem Kausalverhältnisse stehen. Von solchem populären
Gebrauche des Wortes Zufall ist der philosophische zu unter­
scheiden. Wenn der Philosoph fragt, ob es Zufälliges geben
könne, so meint er damit etwas, was weder unmittelbar not­
wendig ist wie Gott, noch mittelbar notwendig, d. h. durch Ver­
ursachung notwendig gemacht.
Was aber verursacht oder gewirkt heißt, das bedarf hier
einiger Erläuterung, damit wir für die folgende Untersuchung
gerüstet sind.
Unsere Begriffe sind teils einfache, teils zusanunengese^te. Die
einfachen und damit alle Elemente der zusammengesetzten sind
durch Abstraktion aus Anschauungen gewonnen, sei es aus der
sog. äußeren oder sinnlichen, sei es aus der inneren Wahr­
nehmung. Angeboren ist uns kein Begriff. Bedarf einer der
Klärung und Verdeutlichung, so wird diese bei einem zusammen­
gesetzten Begriffe durch Angabe seiner Elemente, bei einem ein­
fachen aber dadurch erreicht, daß man Beispiele von An­
schauungsvorstellungen gibt, aus denen er abstrahiert ist. Er­
weist sich ein solcher Nachweis als unmöglich, so kann man
sicher sein, daß das zu erklärende Wort gar nicht zu denen
gehört, die einen Begriff bedeuten.
Gibt es nun irgendwelche Wahrnehmungen, denen wir einen
282 Humes Analyse des Kausalbegriffes

Begriff Ursache oder Wirkung bzw. Wirkendes oder Gewirktes


unmittelbar entnehmen können?
Manche glauben diese Begriffe aus der sinnlichen Anschauung
abstrahiert zu haben. Sie meinen, unter Umständen Verursachung
unmittelbar wahrzunehmen, z. B. beim Anblick eines unter Axt­
schlägen fallenden Baumes oder einer Billardkugel, die durch Stoß
in Bewegung gerät. Doch David Hum e hat darauf aufmerk­
sam gemacht, daß dies eine Täuschung sei. Was wir in solchen
Fällen unmittelbar gewahren, ist ein bloßes zeitliches Aneinander­
grenzen, ein post hoc, nicht aber ein propter hoc. Es müßte also,
falls es sich um einen elementaren Begriff handelt, sein Ursprung
auf dem Gebiete der inneren Wahrnehmung gesucht werden. Das
hat H u m e in der Tat getan, aber ohne ihn zu finden, und hat
auf dieses Mißlingen hin den Kausalbegriff als einen echten
Begriff preisgeben zu müssen geglaubt. Er bestreitet zwar nicht,
daß wir uns etwas dabei denken, wenn wir einen Vorgang B
die Wirkung eines Vorganges A nennen, aber eine eigentliche
Aussage machen wir damit weder über das A noch über das B,
sondern vielmehr über uns selbst. Wir wollen damit, meint er,
nichts anderes sagen, als daß wir schon zu wiederholten Malen
B auf A folgen sahen und nun bei abermaliger Wiederkehr des
A das B erwarten. Eine logische Berechtigung komme solchen
Erwartungen aber nicht zu, sie seien nicht das Ergebnis ver­
nünftiger Erwägungen, sondern der Gewohnheit. H u m e hat
daraus weittragende skeptische Konsequenzen gegen alle Wissen­
schaften gezogen, in denen Kausalgesetje eine Rolle spielen
sollen. Doch nicht dabei haben wir hier zu verweilen; von
Wichtigkeit ist vielmehr die Frage, ob H u m e denn auch gründ­
lich genug nach dem Ursprung des Kausalbegriffes in der inne­
ren Wahrnehmung sich umgesehen hat.
Denn daß er in der äußeren nicht vorliegt, darin müssen wir
ihm beistimmen. Auch in der inneren aber haben manche an
falschen Orten gesucht. Sie dachten an Fälle, wo wir einen ver­
gessenen Namen durch Anstrengung unseres Willens uns wieder
ins Gedächtnis rufen, oder an die willkürliche Bewegung unserer
Glieder. Auch hier ist uns unmittelbar nur ein post hoc gegeben.
Besonders leicht ist dies für den zuletzt erwähnten Fall zu er­
Wahrnehmbarkeit einer Verursachung 283

kennen, denn das, was der Wille unmittelbar in Bewegung setjt,


ist nicht das sichtbare Glied, wie z. B. die Hand, zu diesem
Effekt kommt es vielmehr erst durch eine ganze Kette physio­
logischer Antezedentien, deren erstes ein Vorgang im Gehirn
ist, den wir nicht wahrnehmen.
Doch dies gilt nicht für alle innerlich wahrgenommenen Zu­
sammenhänge. Wenn wir einen Schluß ziehen, so denken wir
zugleich die Prämissen, wir sind uns aber nicht etwa bloß
dieses zeitlichen Zusammenhanges bewußt, sondern nehmen
wahr, daß wir das Schlußurteil fällen, weil wir die Prämissen­
urteile fällen. Wir nehmen das Denken des Schlußsatzes als durch
das Denken der Prämissen motiviert wahr. Ein anderes Beispiel
unmittelbaren Gewahrens eines Gewirktwerdens ist es, wenn wir
etwas um eines Zweckes willen, als Mittel dazu, wollen. Das
eine Wollen ist durch das andere gewirkt und erscheint als ge­
wirktes in unmittelbarer Wahrnehmung. Wir haben nicht erst
nötig, den Kausalbegriff anderswoher zu entnehmen, um ihn
hier anzuwenden, finden uns vielmehr hier an einer der Quellen,
aus denen er entspringt. Diese Beispiele ließen sich vermehren,
genügen aber für unsere Aufgabe. Sie zeigen deutlich genug, daß
sich Ursache nicht, wie H u m e meinte, mit zeitlichem Antezedens
deckt, wäre doch sonst auch die Nacht Ursache des Tages und
der Goldglanz, aus dem wir auf den Goldklang schließen, Ur­
sache desselben zu nennen. Von dem so gewonnenen Begriffe
machen wir dann auch in zahllosen Fällen Gebrauch, wo wir ein
Gewirktwerden nicht ebenso unmittelbar wahrnehmen können,
aber gleichwohl von seiner Anwendbarkeit vernünftig überzeugt
sind. Es sind dies Fälle,, wo es sich darum handelt, eine gewisse
Regelmäßigkeit oder Komplikation, die uns sonst sehr unwahr­
scheinlich erscheinen, als gesetzmäßig zu begreifen. Indem wir
einen Vorgang A als Ursache eines Vorgangs B deuten, erachten
wir den zweiten als unter den gegebenen Umständen durch A
notwendig gemacht. Wir sagen, B m u ß hic et nunc sein, weil
es von A gewirkt ist.
Man sieht, der gemäßigte Indeterminismus widerspricht sich,
wenn er die Motive Ursachen des Willens nennt, die ihn hervor­
rufen können, aber nicht müssen. So etwas ist nur denkbar, wenn
284 Der Indeterminismus schließt

zu einem gewissen Ereignis mehrere Ursachen Zusammenwirken


müßten, von denen aber im gegebenen Falle eine oder mehrere
fehlen. Dann kann, ja muß die Wirkung ausbleiben, wenn nicht
Ersatj eintritt. Mit Indeterminismus hat das nichts zu tun, denn
bei diesem handelt es sich um die Behauptung, daß für einen
bestimmten Willensakt alle Bedingungen vollzählig gegeben sein
können und er dennoch ausbleiben, ja statt seiner der gegen­
teilige sich einstellen könne bzw. wenn jener eingetreten ist,
doch ebensogut dieser hätte eintreten können. Es ist leicht zu
zeigen, daß dann überhaupt nicht sinngemäß von Ursachen ge­
sprochen werden könnte.
Nehmen wir den ersten Fall: Alle Antezedentien liegen vor,
alle Motive und was sonst an Mitbedingungen erforderlich ist,
aber die Entscheidung bleibt aus; wie kann man dann die Motive
ihre Ursachen nennen? Nehmen wir an, unter den gegebenen
Umständen trete nicht die Willensentscheidung ein, für welche
die Motive gegeben sind, sondern eine ihr engegengesetjte, so
erklärt sich diese doch nicht aus den Antezedentien, die vielmehr
geeignet wären, das Eintreten der gegenteiligen zu erklären. Es er­
scheint also die tatsächlich erfolgte ohne jede erklärende Ursache.
Wenn dem so ist, so gilt aber dasselbe auch für den Fall, wo
der Willensakt, für den alle Antezedentien vorlagen, nicht
ausgeblieben, sondern zustande gekommen ist. Mit welchem Recht
kann man ihn durch die Motive verursacht nennen, wenn man
für möglich hält, daß ebensogut das Gegenteil hätte geschehen
können? Es bliebe ja noch immer zu erklären, warum das Gegen­
teil nicht eingetreten ist. Seine sog. Ursachen böten dafür keine
Erklärung.
Man widerspricht sich also, wenn man einerseits Motive Ur­
sachen des Wollens sein läßt, anderseits aber ihnen notwendige
Wirksamkeit abspricht. Man macht in einem Atem, was man zur
Erklärung anruft, zur Erklärung untauglich.
Vielleicht sagen die Indeterministen, wir hätten hier ihre
Meinung nicht richtig oder doch nicht vollständig wiedergegeben.
Es fehle in unserer Därstellung etwas Wesentliches. Der nicht
notwendig durch seine Ursachen determinierte Effekt könne nach
ihnen keineswegs ebensogut eintreten als ausbleiben, sondern es
einen inneren Widerspruch in sich 285
spreche eine größere Wahrscheinlichkeit für das erste. Dieses
Zugeständnis charakterisiere ja den gemäßigten Indeterminis­
mus. Die beiden Fälle sollen nicht gleich wahrscheinlich sein,
sondern der eine übertreffe den anderen an Wahrscheinlichkeit,
nur geradezu Notwendigkeit dürfe ihm nicht zugestanden werden.
Allein, das ist eine durchaus ungerechtfertigte Ausrede. Was
berechtigt denn, müssen wir fragen, hier von ungleichen Chancen
zu sprechen? Dies dürfte man doch nur dann, wenn der Fall
des Eintretens eine Zusammensetjung aus mehr gleich möglichen
Fällen darstellte als der des Ausbleibens. Aber was sollen denn
hier die in Vergleich zu ziehenden gleich möglichen Fälle sein?
Es ist nichts dergleichen auszudenken. Man sieht sich auch hier
wieder vor Behauptungen, die entweder widersprechend sind
oder überhaupt jedes greifbaren Sinnes entbehren.
Was unzweifelhaft feststeht, ist aber folgendes: indem hier
ein Geschehen gelehrt wird, das nicht notwendig determiniert
ist, wird etwas absolut Zufälliges gelehrt. Von diesem aber läßt
sich zeigen, daß es einen inneren Widerspruch einschließt.
2. Da der Begriff einer nicht determinierenden Ursache sich
selbst widerspricht, bleibt dem Indeterminismus nur die extreme
Form, welche die Willensentscheidungen ursachlos erfolgen läßt.
Die gemäßigte Form scheidet aus. Ist nun die Annahme eines
ursachlosen Geschehens unmittelbar widersprechend? Worin läge
der Widerspruch? Widerspricht schon die Annahme, daß etwas
ist, der Leugnung, daß es verursacht ist? Es leuchtet dies nicht
unmittelbar ein, und so haben denn auch so bedeutende Denker
wie Aristoteles und Leibniz kein Bedenken getragen,
ein Seiendes zu lehren, das keine Ursache habe, nämlich Gott,
der keiner bedürfe, da er vielmehr unmittelbar notwendig sei.
Wohl aber geben sie zu, daß alles, was nicht unmittelbar not­
wendig ist, verursacht sein müsse, sonst wäre es absolut zufällig,
und solches anzunehmen sei absurd.
Wenn sie darin im Recht sind, so obliegt uns zur völligen
Widerlegung des Indeterminismus nur noch der Nachweis dieser
Absurdität, denn er muß, da er solches anerkennt, was weder
unmittelbar notwendig noch verursacht ist, absoluten Zufall
gelten lassen.
286 Der Indeterminismus schließt

Der Sat}, daß alles, was ist, notwendig ist, gehört zu den am
wenigsten bestrittenen in der ganzen Philosophie. Immerhin
fehlt es, wie das Beispiel der Indeterministen zeigt, nicht an
solchen, die ihm keine Allgemeingültigkeit zugestehen wollen.
Und manche glauben nicht nur wie sie an ein zufälliges „Sidi-
Ereignen“, sondern sogar an zufälligen Bestand von Ewigkeit
her. E p i k u r glaubte auch an zufälliges Geschehen in der leb­
losen Natur, und J. St. Mill, den wir, was den Willen an­
langt, als entschiedenen Deterministen kennengelernt haben,
hielt Zufälligkeit der Ereignisse in fernabliegenden Räumen
und Zeiten nicht für ausgeschlossen. Zu denen, die an
Zufälliges von Ewigkeit her glauben, gehörte im Altertum
Demokritos, in neuerer Zeit viele Materialisten, während
Kant und Schopenhauer den Satj, daß alles einen zu­
reichenden Grund haben müsse, auf die Phänomene einschränk­
ten, das Ding an sich aber davon ausnehmen wollten.
Der eben erwähnten Formulierung bedient sich Leibniz,
denn sein berühmtes Prinzip des zureichenden Grundes will nichts
anderes besagen, als daß alles, was ist, notwendig und jeder
objektive Zufall ausgeschlossen ist. Und mit ihm stimmt, wie
gesagt, die überwiegende Mehrzahl der Philosophen überein.
Fragt man aber, woher sie denn das Vertrauen in die aus­
nahmslose Gültigkeit dieses Satzes schöpfen, so gehen die Ant­
worten weit auseinander.
Aristoteles begnügte sich damit zu sagen, niemand werde
so unvernünftig sein, zu behaupten, daß unter völlig gleichen
Umständen Entgegengesetztes eintreten könne; aber das ist, wie
wir eben sahen, geschichtlich unrichtig. Leibniz meinte, der
Satj leuchte ein wie alle analytischen Urteile, weil, wer ihn
leugnet, sich in einen Widerspruch verwickle. Er hat aber einen
solchen Widerspruch nicht deutlich erkennbar zu machen gewußt.
Ja, Kant sprach von vornherein jedem solchen Nachweis das
Gelingen ab. Ein Widerspruch bestände, wenn einer umgekehrt
bestreiten wollte, daß etwas, was notwendig ist, existiere; nicht
aber scheint sich ebenso unmittelbar zu widersprechen, wer etwas
für existierend, nicht aber für notwendig hält. Andererseits hat
Kant den Sa§ zwar für a priori gehalten, nicht aber für ana­
einen inneren Widerspruch in sich 287
lytisch. Aber die nach ihm aller Erfahrungswissenschaft, ja auch
der Mathematik zugrunde liegenden synthetischen Erkenntnisse
a priori wären, da sie weder evident noch beweisbar sein sollen,
statt Erkenntnisse richtiger Vorurteile zu nennen, und wenn der
Satj vom ausgeschlossenen Zufall zu ihnen gehörte, so wäre
auch er ein solches blindes Vorurteil.
In Wahrheit ist der Satj aber ein analytisches Urteil, d. h. ein
solches, das aus Begriffen einleuchtet, nur bedürfen diese Begriffe,
damit der Widerspruch deutlich in Erscheinung trete, einer
gewissen Analyse, wie dies ja auch bei allen mathematischen
Lehrsätjen der Fall ist.
Diese Analyse geht davon aus, daß „etwas ist“ dasselbe be­
sagt wie „etwas ist gegenwärtig“, so wie alles, was war, gegen­
wärtig war, und alles, was sein wird, gegenwärtig sein wird.
Ferner ist alles, was ist, mit allem anderen, was ist, zugleich
und nur der zeitliche Unterschied besteht, daß von dem, was
gegenwärtig ist, das eine eben beginnt, das andere dauert, das
dritte endigt. M. a. W. es ist entweder Anfang eines zeitlichen
Verlaufes oder Ende eines solchen oder es ist eine innere Grenze
eines Verlaufes, welche das, was davon -bereits verlaufen ist, mit
dem, was von ihm erst verlaufen wird, verbindet.
Wir haben es in jedem Falle, auch wo wir von einem „un­
veränderten Fortbestand“ reden, genau betrachtet, mit einem
kontinuierlichen zeitlichen Wechsel zu tun. Ohne einen solchen
hätte ja die Unterscheidung von kürzerer und längerer Dauer
keinen Sinn. Der kontinuierliche Zusammenhang braucht aber
nicht nach beiden Richtungen der Zeit zu bestehen. Es muß nicht
ein solcher Verlauf sein, der sowohl nach der Seite der Ver­
gangenheit vorbestanden hat als nach der Seite der Zukunft fort­
bestehen wird. Beide Richtungen zugleich aber können nicht
fehlen, der eine oder der andere Zusammenhang muß gewahrt
sein. M. a. W. es ist unmöglich, daß etwas im selben Augenblick
abrupt anfange und ende. Wohl aber kann, was je^t abrupt
anfängt, in einem späteren Augenblick abrupt enden. Und ebenso
kann, was jetjt abrupt endet, in einem früheren Augenblick
abrupt angefangen haben. Immer aber finden wir zwischen Be­
ginn und Ende eine Zwischenzeit. Wir können uns diese beliebig
288 Der Indeterminismus schließt
klein denken, sie bleibt doch immer ein endlich großes Kon­
tinuum und läßt als solches ins Unendliche Momente unter­
scheiden, welche solche infinitesimalen Wechsel gewesen sind
oder sein werden.
Ist nun ein solcher infinitesimaler zeitlicher Wechsel, der jedem
Seienden zukommen muß, mit zufälliger Existenz vereinbar?
Wir wollen uns das an einem anschaulichen Beispiel klar­
zumachen suchen. Nehmen wir an, daß auf einer schwarzen
Tafel absolut zufällig ein weißer Punkt entstehen könnte. Was
wäre wahrscheinlicher, daß er eine Zeitlang beharrt oder schon
in einem beliebig von uns herausgegriffenen Momente wieder
verschwunden wäre?
Da er etwas absolut Zufälliges ist, besteht keine Notwendig­
keit dafür, daß er sei oder bleibe. Das Gegenteil wäre mit
gleicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, ja man müßte es sogar
mit weitaus größerer Wahrscheinlichkeit erwarten. Denn der Fall
liegt nicht so einfach, als bestünden bloß zwei Möglichkeiten, näm­
lich die, daß in einem beliebig von uns herausgegriffenen Momente
der weiße Punkt oder überhaupt nichts sei, es könnte ja statt
dessen ein beliebig anders gefärbter diese Stelle einnehmen. Der
entgegengesetjten Möglichkeiten wären viele, und da sie alle
gleich zufällig und keine den geringsten Vorzug vor der anderen
hätte, wäre es von vornherein sogar sehr unwahrscheinlich, daß
dieser zufällig entstandene weiße Punkt sein zufälliges Sein auch
nur die geringste endliche Zeit behaupten würde.
M. a. W. für jeden einzelnen Moment eines absolut Zufälligen
wäre ein abrupter Wechsel zwischen Bestand und Nichtbestand
zum mindesten ebenso wahrscheinlich wie sein Beharren im Sein.
Das ist aber das strikte Gegenteil von dem, was wir früher
für alles Existierende schlechthin festgestellt haben, daß es näm­
lich mindestens eine noch so kleine Zeit lang von abruptem
Wechsel frei bleiben muß, denn zwei Momente abrupten Wechsels
können nicht unmittelbar einander folgen. Sie müssen durch eine
Zeitlänge, innerhalb der kein Wechsel stattgefunden hat, von­
einander getrennt sein, und diese läßt ins Unendliche Momente
unterscheiden.
Noch einfacher läßt sich das Dargelegte so ausdrücken:
einen inneren Widerspruch in sidi 289

Von allem, was ist, ist es für jeden beliebigen Zeitpunkt wahr­
scheinlicher, daß es nicht abrupt wechselt; von allem, was zufällig
ist, ist es für jeden beliebigen Zeitpunkt wahrscheinlicher, daß
es abrupt wechselt. M. a. W. in der Annahme eines absolut Zu­
fälligen liegen zwei einander widersprechende Behauptungen.
Die eine lautet: In jedem Zeitpunkte kann ebenso leicht, ja
leichter ein abrupter Wechsel als ein Fortbestand statthaben. Die
andere: Ein abrupter Wechsel muß unvergleichlich seltener statt­
haben als ein kontinuierlicher Anschluß von vor und nach.
Mit dem Nachweise der Unmöglichkeit absoluten Zufalls ist
dann ohne weiteres das allgemeine Kausalgesetz gegeben, welches
besagt, daß alles, was nicht unmittelbar notwendig ist, verursacht
sein muß.
Wir könnten mit diesem Nachweise der logischen Unmög­
lichkeit jeder Art von Indeterminismus die Erörterung dieser
Theorie abschließen. Doch möchte ich nicht unterlassen, anhangs­
weise noch einen Blick auf das' Verhältnis der beiden Parteien
im Determinismus-Indeterminismus-Streite zum philosophischen
Theismus zu werfen.
Anhang

Das Verhältnis des Determinismus und des


Indeterminismus zum Theismus38

Beide Theorien begegnen sich darin, daß sie dem Gegner den
gleichen Vorwurf machen, seine Lehre sei mit der theistischen
Weltanschauung unvereinbar.

} 82. I. Anklage des Indeterminismus gegen den Determinismus:


er widerspreche der Güte Gottes

Wenn alles Wollen notwendig ist, so auch das sündhafte. Wie


aber konnte das unendlich vollkommene Wesen Geschöpfe her­
vorbringen, die mit Notwendigkeit sündigen? Es widerspricht
dies dem Gottesbegriff. Denn das nach notwendigen Gesehen
erfolgende schlechte Wollen erfolgt nach Naturgesetzen, d. h.
wenn es einen Gott gibt, nach göttlichen Gesetzen. Aber ein un­
endlich vollkommenes Wesen kann nicht Gesetje geben, die
Schlechtes fordern.
Diese Form mag der Einwand zuweilen haben, er ist dann
aber durchsichtig verfehlt. Es wird dabei der Doppelsinn von
„Gesetj“ verkannt. Darunter können Normen, Vorschriften, Ge­
bote verstanden werden. So wenn von logischen oder ethischen
Gesetzen gesprochen wird.
Einen anderen Sinn hat das Wort, wenn von mathematischen
oder physikalischen oder psychologischen Gesetzen usw. die Rede
ist. Hier besagt es nicht wie dort „es soll so sein“, sondern „es
muß so sein“.
Wenn Gott Wesen erschaffen hat, so verhalten sich diese
Determinismus ist mit Theismus vereinbar 291

selbstverständlich nach Naturgesetzen, d. h. ob sie erkennen oder


irren, ob sie sich sittlich richtig oder unsittlich entscheiden, sie ur­
teilen und entscheiden sich mit Notwendigkeit. Aber man darf
nicht sagen, daß Gott ihnen eine unrichtige Logik oder eine
falsche Ethik vorgeschrieben habe, daß er Irrtümer und unsitt­
liches Wählen, als wären sie logisch bzw. ethisch richtig, geboten
habe. Ebensowenig- es seiner Allwissenheit widerspricht, daß
Geschöpfe falsch urteilen, ebensowenig seiner Heiligkeit, daß sie
unrichtig wählen.
Aber widerspricht nicht schon das seiner Vollkommenheit, daß
er Wesen so geschaffen hat, daß sie sich unter gegebenen Um­
ständen so verirren müssen?
Angenommen, es widerspräche ihr, so läge doch der gleiche
Widerspruch gegen den Theismus auch auf Seite des Indetermi­
nismus vor. Die Indeterministen wollen ja nicht völlige Kausal-
losigkeit des Willens lehren, sondern gestehen zu, daß es auch
für das Wollen Naturgesetze gebe und daß daraufhin für gewisse
Fälle eine der beiden Entscheidungen mit viel größerer Wahr­
scheinlichkeit zu erwarten sei als die andere. Nun, soll es der
Heiligkeit Gottes nicht auch widersprechen, Wesen geschaffen zu
haben, die unter Umständen mit hoher Wahrscheinlichkeit in
Sünde fallen werden? Man denke, es gebe auch in der äußeren
Natur ein nicht vollkommen determiniertes Geschehen. Wäre
nun einer, der ein indeterminiertes Feuer legte, kein Brand­
stifter zu nennen? Er sah doch das Unheil, das er anzurichten
im Begriffe war, wenn auch nicht mit Sicherheit, so doch mit
Wahrscheinlichkeit voraus!
Determinismus und Indeterminismus stehen also vor derselben
Schwierigkeit, und entweder ist der Theismus auch mit dem
Determinismus vereinbar oder mit keinem von beiden.
Wie steht es aber damit in Wahrheit? Wie ist es mit Gottes
Vollkommenheit zu vereinen, daß er Geseke in die seelische
Natur gelegt hat, die unter Umständen mit Sicherheit oder
Wahrscheinlichkeit sittlich schlechte Willensentscheidungen er­
warten lassen? Die Antwort darauf scheint mir nicht unmöglich.
Vor allem handelt es sich ja nicht um letzte, spezielle Geseke.
Ebensowenig es ein elementares Gesetz gibt, daß der Mensch
292 Determinismus ist mit Theismus vereinbar
unter gewissen Umständen ein unrichtiges Urteil fällt, ebenso­
wenig gibt es ein elementares Gesetj, daß er unter gewissen Um­
ständen unsittlich sich entscheidet Vielmehr handelt es sich hier
und dort immer um ein kompliziertes Zusammenwirken von
Kräften, die unter anderen Umständen und in anderer Verbin­
dung Erkenntnis und tugendhaftes Wählen bewirken. Es ist nicht
so, als ob es teuflische Wesen gebe, die immer, d. h. unter allen
denkbaren Umständen, das Schlechte wollen. Wer an solche
glaubt, hat es allerdings schwer, sie einem vollkommenen
Schöpfer zuzuschreiben.
Doch vielleicht wendet man ein: Wenn das Böse zugestandener­
maßen nach Naturgesetjen vor sich geht, so ist es doch im lebten
Grunde von Gott gewollt. Wie aber kann der sittlich Vollkom­
mene Böses wollen?
Antwort: 1. bestünde die gleiche Schwierigkeit auch für den
Indeterminismus.
2. Auch wenn Gott den verbrecherischen Willen des Menschen
will, so will er doch nicht dasselbe wie dieser. Der menschliche
Wille ist sein Objekt, aber er ist nicht mit ihm identisch. Der
Mensch hat dann gewählt, was er als das Schlechtere erkannte;
Gott hat gewählt, was dem vollkommenen Ganzen an der rich­
tigen Stelle dient. Denn gewiß ist alles, was geschieht, also auch
das Böse in der Welt, von Gott gewollt; aber nicht als letjter
Zweck, sondern weil es zu dem Werke beiträgt, das seine Weis­
heit als das richtige erkannt hat. So haben es die großen Theisten
immer aufgefaßt. Irren sie darin, so irrt eben der Theismus.
Aber dann ist er unhaltbar für beide Standpunkte, für den In­
determinismus ebenso wie für den Determinismus. Es wird aber
keinem endlichen Verstand gelingen nachzuweisen, daß sich das
Übel in der Welt nicht für einen, der das Weltgeschehen in
seinem ganzen Verlaufe zu durchschauen vermöchte, rechtfertigen
ließe.
Indeterminismus widerspricht der göttlichen Allwissenheit 293
I 83. n. Anklage de» Determinlimus gegen den Indeterminismus:
er widerspreche der göttlichen Allwissenheit

Zur göttlichen Vollkommenheit gehört, daß Gott jegliches er­


kenne, nicht nur alle Wahrheit, die aus Begriffen einleuchtet,
sondern auch alles bloß Tatsächliche. Und von diesem nicht nur,
was ist, sondern auch was war und was sein wird. Sohin auch
unsere, sei es determinierten, sei es indeterminierten Willens­
akte. Wie aber soll Gott die letzteren erkennen?
Etwas Selbstverständliches sind sie nicht, sie sollen vielmehr,
weil nicht notwendig determiniert, sowohl der absoluten Not­
wendigkeit als auch der relativen Notwendigkeit ermangeln. So­
mit bleiben nur zwei Fälle denkbar: entweder erkennt Gott sie,
weil sie der Grund für seine Erkenntnis sind; oder er erkennt
sich als ihren Grund. Beides ist ausgeschlossen.
1. Sie können nicht der Grund für Gottes Erkenntnis sein.
Vor allem dann nicht, wenn sie erst in der Zukunft liegen, also
noch nicht sind und wirken können. Könnten sie aber wirken,
so doch nicht auf Gott, der ja, weil unmittelbar notwendig,
durch nichts bedingt sein und keiner Einwirkung unterliegen
kann.
2. Aber Gott vermöchte die indeterminierten Willensakte auch
nicht dadurch zu erkennen, daß er sich selbst als den sie not­
wendig machenden Grund erkennt, denn sie haben ja keine Ur­
sache, die sie mit Notwendigkeit bewirkt.
Gott könnte sie also nur etwa erraten, aber dann wäre auch
dieses Erraten ein Zufall, so wie sie selbst und im selben Maße
wie sie. Nun gehört aber Gottes Erkennen zu seinem Wesen,
und dieses wäre selbst vom Zufall infiziert. M. a. W. Gottes
Wissen von ihnen wäre nur um den Preis seiner unmittelbaren
Notwendigkeit zu retten, und auch dann kein eigentliches Wis­
sen, sondern ein zufällig richtiges Glauben.
Wir können somit unserer ersten Formel „Indeterminismus ist
die Lehre von der Unfreiheit des Willens“ die zweite hinzu­
fügen „Indeterminismus ist Atheismus“.
III. Kapitel

Drei weitere Bedeutungen von Willensfreiheit

§ 84. Macht über die bestimmenden Bedingungen künftigen Wollens

Die Freiheitsfrage ist eine mehrfache, d. h. es gibt noch wei­


tere Bedeutungen von Willensfreiheit. Manches von dem, was
noch hiehergehört, läßt sich aber kurz erledigen, weil es ge­
legentlich schon bei Erörterung des Indeterminismus-Streites er­
wähnt wurde. Der Anlaß dazu war, daß die Indeterministen
einige Fälle tatsächlicher Freiheit mit der von ihnen fingierten
vermengten. So waren wir, um sie zu widerlegen, genötigt, auf
die von ihnen vernachlässigten Unterscheidungen aufmerksam
zu machen. Immerhin seien die drei wichtigsten der noch in
Betracht kommenden Bedeutungen von Willensfreiheit hier
explizit behandelt.
Man fragt zuweilen, ob wir bloß durch unsere Neigungen
Ursache unserer Willensentscheidungen sind oder auch Macht
über die Ursachen unseres Wollens haben. Es
handelt sich dabei, wie man sieht, eigentlich um Fälle von Frei­
heit des actus a voluntate imperatus, und zwar um die Macht,
Gewolltes, das auf psychischem Gebiete liegt, zu verwirklichen.
Die Frage läuft darauf hinaus, ob ich meinen künftigen Willen
nach Vorsätzen einrichten kann. Kann ich, wie ich urteilen will,
auch wollen wollen? Die Frage mag paradox klingen, aber wenn
damit gemeint ist, ob wir unter Umständen Einfluß auf unsere
künftigen Willensakte haben, so ist sie vernünftig gestellt und
nicht zu verneinen.
Natürlich ist meine Macht über mein künftiges Wollen keine
unmittelbare, sie bezieht sich zunächst auf gewisse, jetjt schon
Wahlfreiheit 295
zu verwirklichende Bedingungen dafür. Ich kann unter Umstän­
den heute schon vorbeugen, daß die künftige Entscheidung pflicht­
widrig ausfalle, indem ich „die Brücken hinter mir abbreche“
oder mich im Täglichen und Kleinen für das Künftige und
Größere vorübe und dafür rüste. Diese Macht hat in gewissem
Umfange jeder normale Mensch und sie ist weit entfernt, mit
dem Indeterminismus zusammenzufallen, vielmehr nur auf dem
Boden des Determinismus verständlich.

f 85. Von der Wahlfreiheit

Wir haben festgestellt, daß einiges um seiner selbst willen,


anderes aber wegen seiner Folgen, als Mittel zu einem Zwecke
geliebt wird. Zuweilen mag es geschehen, daß der Gedanke an
die Folgen unmittelbar auftaucht, sobald an den Gegenstand ge­
dacht wird, doch ist dies nicht immer der Fall, zumal wenn die
Folgen entferntere sind und noch keine wiederholte Erfahrung
eine starke Assoziation geknüpft hat. Aber auch, wo wir etwas
um seiner selbst willen lieben und wo wir unter mehreren sol­
chen Objekten uns zu entscheiden haben, können diese eine be­
deutende Verwicklung zeigen. Auf beiden Seiten liegt eine Zu­
sammensetzung von Verschiedenem vor, wovon jedes im ein­
zelnen geliebt oder gehaßt wird und davon wird dann das eine
mehr, das andere weniger Gegenstand der Aufmerksamkeit. Es
macht darum einen wichtigen Unterschied aus, ob wir nach dem
augenblicklichen Impulse handeln oder zunächst den Blick auf die
Einzelheiten in dem, was unmittelbar vorliegt und auf die Kon­
sequenzen richten; ob wir sofort blindlings zugreifen oder zu­
erst vergleichend abmessen und überlegen.
Wer unter gegebenen Umständen die Macht hat, statt dem
augenblicklichen Triebe nachzugeben, die Entscheidung zunächst
zunickzuhalten, dem schreiben wir Wahlfreiheit zu.
Aristoteles hat 'besonders diese im Auge, wenn er von
jener Freiheit spricht, die den erwachsenen Menschen vom Kinde
und vom Tiere unterscheidet. Beraten und Wählen steht nach
ihm im engsten Zusammenhänge, und in der Tat ist ein mehr
296 Verwechslung der Wahlfreiheit

oder weniger blindes Zugreifen, auch wenn eines aus mehreren


herausgegriffen wird, nicht eigentlich ein Wählen zu nennen.
Daß wir diese Freiheit in gewissen Grenzen besitzen, steht
außer Zweifel. Audi sie gehört zur libertas actus imperati und
ist ein Spezialfall von besonderer Wichtigkeit. Diese Macht zu
überlegen, ehe wir uns entscheiden, gehört zu den wertvollsten
Vorzügen des Menschen, und die Erzieher erachten es darum für
eine ihrer wichtigsten Aufgaben, dem Zögling dieses beratende
Wählen zur Gewohnheit zu machen. Niemand erscheint un­
erzogener als ein solcher, der sich im Reden und Tun, in Mienen
und Gebärden immer bloß dem augenblicklichen Impulse hingibt.
Doch nicht unter allen Umständen kommt uns diese Wahl­
freiheit zu. So hindert z. B. ein Zustand heftiger leidenschaft­
licher Erregung das Überlegen. Man spricht dann von gemin­
derter Verantwortlichkeit und meint damit, daß ein Handeln in
solchem Zustande nicht ohne weiteres auf sittliche Minderwertig­
keit schließen läßt. Es wird ja in einem solchen Falle auch der
Vernünftige und Gute unrichtig handeln, von der Leidenschaft
überwältigt und außerstand gesetzt, an manches, was wesentlich
in Betracht käme, zu denken. Es ist sozusagen ein guter, ja der
beste Teil unseres Selbst bei der Handlung ausgeschaltet. Nur
etwa dafür kann der Erregte verantwortlich sein, daß er in die­
sen Zustand geraten ist, ähnlich wie es auch unter den Fällen
von Unwissenheit verschuldete gibt.
Ich sagte schon, daß Aristoteles diese Freiheit als beson­
ders wichtig hervorgehoben hat; nur glaubte er dieses Beraten
auf die Wahl der Mittel beschränkt, wogegen es eine Wahl
zwischen letzten Zwecken nicht geben soll. Es hängt dies damit
zusammen, daß Aristoteles nur, einen letzten Zweck an­
erkennt, die sog. Eudaimonie. Unsere früheren Ausführungen
haben dies berichtigt, es gibt mehrfach in sich Liebenswürdiges
und unser beratendes Wählen kann es vergleichend in Betracht
ziehen. (Ähnlich verhält es sich auch beim theoretischen Denken.
Wir untersuchen nicht nur, was mittelbar zu erkennen ist, son­
dern fragen uns auch nach den unmittelbaren Einsichten und
insbesondere darnach, welche davon wohl tbei einer speziellen
Untersuchung, die wir in Angriff genommen haben, als richtige
mit der indeterministischen Freiheit 297
Ausgangspunkte zu dienen haben. Man geht z. B. auf unmittel­
bare Wahrnehmungen zurück oder auf Gedäditnisdaten oder auf
Axiome.)
Indem wir solche lebten Zwecke miteinander vergleichen, ihren
relativen Wert ermessen, stellen wir schon solche zur Wahlfrei­
heit gehörige Überlegungen an, es braucht sich also nicht immer
nur um Ursachen und Wirkungen, um Mittel und Zwecke zu
handeln, und doch liegt ein vermitteltes Erkennen des Vor­
zuges vor.
Auch die Wahlfreiheit hat man nicht selten mit der indeter­
ministischen verwechselt, und eben darum hatten wir inzidentell
schon Anlaß, ihrer beim Determinismus-Indeterminismus-Streite
Erwähnung zu tun. Oder ist dies nicht eine Verwechslung, hat
die Wahlfreiheit doch vielleicht etwas mit Indeterminismus zu
tun? Aristoteles sagte, man berate nicht über Notwendiges,
so z. B. nicht darüber, ob das Quadrat über der Hypothenuse
gleich sein solle der Summe der Quadrate über den beiden
Katheten, ebenso nicht über Vergangenes. Allein das ist etwas
ganz anderes als indeterministische Freiheit. Notwendiges Ge­
schehen heißt hier nichts anderes als solches, was nicht in unsere
Macht gegeben ist, was unabhängig davon ist, ob wir es wollen
oder nicht. Es handelt sich um eine Grenze unserer Macht, um
Beschränkung der libertas actus a voluntate imperati.
Noch in einer anderen Weise hat man versucht, einen Zusam­
menhang von Wahlfreiheit und Indeterminismus zu konstruieren.
Es handle sich bei ihr darum, daß zwischen dem gegenwärtigen
Moment und der definitiven Entscheidung ein Intervall eingelegt
werde. Darum dürfe diese, obwohl schon die Bedingungen für sie
gegeben sind, doch nicht sofort eintreten. Dies aber ist Indeter­
minismus. Man pflegt hier von libertas exercitii zu sprechen.
Antwort: Bei demjenigen, der sich in einem Zustand befindet,
wo er die Entscheidung noch hinausschieben kann, sind eben noch
nicht alle Bedingungen für ihr Eintreten gegeben, vielmehr
liegen die Umstände so, daß mit Notwendigkeit statt des Ent­
schlusses, der in der endgültigen Wahl selbst bestünde, der Ent­
schluß, noch zu überlegen, eintritt, und auch dieser nicht in­
determiniert. Indem er aber determiniert zustande kommt, hin­
298 Bewußtsein der Vorzüglichkeit

dert er notwendig das sofortige Eintreten der Entscheidung. Ein


Intervall im Sinne eines Kausalvakuums ist es nicht.

§ 86. Von der sittlichen Freiheit im eminenten Sinne

Gehört zu den unseren Willen bestimmenden Kräften auch die


sittliche Erkenntnis? Das ist unter allen Freiheitsfragen die für
die Ethik wichtigste. Kann die Einsicht, daß unter Wahlgegen­
ständen einer der beste ist, die Entscheidung beeinflussen oder
sind wir außerstande, dem Werte der Objekte bei der Wahl
Rechnung zu tragen? Kant hat das so formuliert: Besitjen wir
die Fähigkeit, aus Rücksicht auf den kategorischen Imperativ zu
handeln oder werden wir einzig und allein von empirischen Mo­
tiven (Lust und Unlust) angezogen und getrieben? (Bei Kant
mit Indeterminismus konfundiert.)
Eine extrem optimistische Lehre darüber ist die Sokra-
tische. Mit dem Wissen vom Guten sei auch schon die Tugend
gegeben. Ja, er definiert diese geradezu als das Wissen vom
Guten, womit gesagt ist, daß nie jemand das als verwerflich
Erkannte mit Bewußtsein und Willen verwirkliche. Die Erkennt­
nis des Guten galt also Sokrates nicht als eines der Motive
für den Willen, sondern als das Motiv, das schlechthin den Aus­
schlag gibt. Aber eben diese Folgerung zeigt den Irrtum. Solchem
Optimismus widerspricht die Erfahrung und sie stimmt besser
zu dem „scio meliora proboque, deteriora sequor“. Aber der
Sokratischen Übertreibung liegt doch der richtige Ge­
danke zugrunde, daß dem Guten eine Anziehungskraft auf unser
Gemüt zukommt. Es ist, wie wir in früheren Darlegungen fest­
gestellt haben, nicht nur liebenswürdig, sondern auch liebbar,
würden wir doch sonst seiner Liebenswürdigkeit gar nicht inne
werden.
Zum Guten gehört aber auch das Vorziehen des Vorzüglichen.
Wie wir am Wissen uns freuen, so auch an dem als richtig
charakterisierten Lieben und Vorziehen. Daß dieses Bewußtsein
der Vorzüglichkeit des einen Verhaltens vor dem anderen zum
Motiv für unsere sittliche Wahl werden kann, ist darum sehr
ist häufig Motiv der Wahl 299
begreiflich. Freilich ist diese motivierende Kraft der Erkenntnis
des Guten und Vorzüglichen bei den Menschen ungleich stark.
Wo sie so mächtig ist, daß sie sich allen Gegenmotiven gegen­
über durdisetjt, und wo dieses durch die Erkenntnis der Vorzüg­
lichkeit motivierte Wählen einem Menschen habituell geworden
ist, dort sprechen wir von sittlicher Freiheit im eminenten Sinne
und im Gegensatz dazu von der Knechtschaft des moralisch
Schwachen und Verderbten. In diesem Sinne sagte schon
St. Augustinus, wahre Freiheit herrsche da, wo die Liebe
zum erkannten Guten, die cupiditas boni, zum bestimmenden
Grunde für den Willen geworden ist. Und weit entfernt davon,
wie Kant damit den Indeterminismus zu vermengen, spricht er
vielmehr von der Freiheit des göttlichen Willens als von der
beata necessitas boni.
Um diese sittliche Freiheit im eminenten Sinne festzustellen,
haben wir die Freiheitsfrage aufgegriffen; denn wenn wir ihrer
entbehrten, wenn die Erkenntnis des sittlich Richtigen keine
motivierende Kraft besäße, so hätte es ja keinen Sinn, sich um
ethische Einsichten zu bemühen. Je wichtiger aber dieser Begriff
der sittlichen Freiheit sich darstellt, desto gerechtfertigter wird
die sorgfältige Untersuchung der verschiedenen Bedeutungen von
Willensfreiheit erscheinen, die uns so lange beschäftigt hat.
VIERTER ABSCHNITT

VON DER SITTLICHKEIT IM ALLGEMEINEN


I. Kapitel

Von der Bedingtheit und Unbedingtheit


der sittlichen Normen

§ 87. Die Unbedingtheit der Sittengebote

1. Die Untersuchungen über die Willensfreiheit haben nicht


zur Annahme des Indeterminismus, wohl aber in mehrfachem
Sinne zur Anerkennung der Freiheit geführt. Insbesondere zur
Anerkennung der Wahlfreiheit und ebenso zur Anerkennung
der Freiheit in dem Sinne, daß die Erkenntnis der Vorzüglich­
keit einen Einfluß auf unser Vorziehen und Wählen gewinnen
kann. So ist es wohl nicht nutjlos, solche Regeln für das Vor­
ziehen und Wählen aufzustellen.
Sie knüpfen an die Erörterungen über das Gute und Vorzüg­
liche an. Wer das Wertverhältnis der Güter und Übel kennt
und die Ursachen und Wirkungen, die damit verknüpft sind,
ferner den Bereich seiner Macht, der hätte der Substanz nach
auch die Regeln des Vorziehens. Nur noch ihre Formung brauchte
hinzuzutreten.
Diese Regeln werden auch Sittengesetze genannt, sind
aber nicht psychologische Gesetje, sondern „Gesetze“ im Sinne
von Vorschriften, so wie die logischen Normen oder sonst die
Regeln einer Kunst oder eines Handwerks. Nach psychologischen
Gesetjen verläuft unser ganzes seelisches Leben, mögen wir uns
dabei richtig oder unrichtig verhalten. Auch was die Logik als
Irrtum verwirft, tritt mit psychologischer Gesetjlichkeit ein. Aber
die Regeln der Ethik wie die der Logik sagen uns nicht, was sein
muß, sondern, was sein soll, hierin nicht anders als sonstige
Kunstregeln.
304 Die ethischen Gebote gelten unbedingt
2. Doch ein Unterschied besteht gegenüber den Regeln aller
anderen Künste. Während diese nämlich bloß hypothetische Vor­
schriften sind, sind die der Ethik absolute. Ihre Imperative sind
kategorisch. Der Unterschied kommt daher, daß die anderen
Künste entweder nur zu etwas Nütjlichem anweisen (Medizin zur
Gesundheit, Baukunst zur Wohnung) und sich um die an sich
begehrenswerten Zwecke nicht kümmern, oder, wenn sie sich
direkt auf in sich Gutes beziehen, doch das Wertverhältnis dieses
Guten zu anderen Gütern unberücksichtigt lassen. Sie können
mit anderen in Konflikt geraten und dadurch nichtig werden.
Dies gilt selbst von den Regeln der Logik. Auch sie sind hypo­
thetisch. Indem die Logik Regeln für das richtige Urteilen auf­
stellt, nimmt sie keine Rücksicht darauf, ob dadurch nicht ein
Gebot der Nächstenliebe, der Dankbarkeit, der Pietät verletjt
und damit ein höheres Gut als das der strengen Wahrheit be­
einträchtigt werden kann. Die Ethik aber zieht alles in Betracht
und weicht darum etwas ab von den Regeln, die die Logik für
unsere Beurteilung der Mitmenschen aufstellt. Sie fordert, daß
wir jeden für gut halten bis zum Beweise des Gegenteils (nur
nicht mit völliger Zuversicht), wogegen die Logik ein größeres
Maß von Mißtrauen gerechtfertigt findet und von vomeherein
keinen Unterschied zwischen den beiden Hypothesen der Güte
und Schlechtigkeit gelten läßt, sondern erst Beweise für das eine
oder das andere verlangt. Die Ethik, wie gesagt, modifiziert das.
Sie gebietet als le^te Instanz und unbedingt.

f 88. Aufnahmen von ethischen Regeln

Gegen die hier behauptete Unbedingtheit der ethischen Nor­


men liegt jedoch ein Einwand nahe: Wie kann es dann zu einer
Kollision von Pflichten kommen, wie sie doch wohl unleugbar
unter Umständen eintritt?
Antwort: Eine solche ist nur möglich, wo die kollidierenden
Regeln entweder mit stillschweigender Voraussetzung gewisser
Annahmen oder unter Abstraktion von gewissen Umständen auf­
gestellt sind. Bei genauer Fassung, welche der Möglichkeit solcher
Ausnahmen gibt es nur für ethische Regeln mittlerer Allgemeinheit 305
Komplikationen Rechnung trägt, ist eine Kollision ausgeschlossen.
Ähnlich werden ja selbst physikalische Gesetje in Abstraktion
von konkreten Umständen formuliert, so z. B. das Gesetj der
Trägheit, so daß es nur isolierte Körper in Betracht zieht. Man
muß hinzudenken: wenn keine Störung durch einen anderen
Körper erfolgt, ähnlich wie etwa bei der Vorschrift, daß ein
Student täglich einige Stunden dem Studium widmen soll, zu
ergänzen ist: wenn nicht Krankheit ihm hinderlich ist oder zu­
fällige Umstände ihn anderweitig gebieterisch in Anspruch
nehmen.
Ja, so mannigfach ist die Komplikation der Umstände, daß
fast bei jedem ethischen Gesetj solche Beschränkungen zu machen
sind. Sie sind so selbstverständlich, daß es unnötig ist, sie aus­
drücklich hinzuzufügen. So kann man sagen, daß die Mehrzahl
der ethischen Normen in gewissem Sinne ebenfalls hypothetisch
sind, aber in einem anderen Sinne als die Regeln jeder anderen
Kunstlehre. Diese gelten für ihr Ziel unbedingt, aber ihr Ziel
ist bedingt. In ihnen heben andere Regeln der Kunst das Hypo­
thetische nicht auf, denn es bleibt immer vorausgesetjt, daß das
Ziel tatsächlich gewollt wird. „Wenn du ein festes Haus bauen,
wenn du gesund bleiben, wenn du dich in einem bestimmten
Wissensbereiche unterrichten willst etc. etc.“
In der Ethik liefern andere Vorschriften das Mittel, die
hypothetische, weil allgemein gehaltene Vorschrift im einzelnen
Fall als kräftig oder unkräftig darzutun. Wäre die Ethik ins
Unendliche ausgebildet, so wären freilich alle Regeln, die jetjt
in einem einzelnen Fall konkurrieren, zu einer einzigen, ganz
konkreten Regel verwachsen, die ausnahmslos gilt. Doch ist eine
solche Ausbildung praktisch nicht durchführbar, denn niemals
werden sich so viele Regeln aufstellen lassen, daß damit die ins
Unendliche gehenden möglichen Komplikationen der Umstände
erschöpft sind.
Ist aber für einen vollkommen analysierten Fall die konkrete
Regel gefunden, so gilt sie absolut und jede Kollision mit einer
anderen ist ausgeschlossen.
306 Ausnahmslos gilt: Entscheide dich bei deiner Wahl

§ 89. Die allgemeinste Regel gilt ausnahmslos

Wie verhält es sich aber mit den nicht ganz individualisierten


Regeln? Gibt es keine allgemeine ethische Norm der Bevor­
zugung, die ausnahmslos gilt? Kant glaubte eine solche in
seinem „kategorischen Imperativ“ gefunden zu haben, doch
haben wir diesen als inhaltsleer und unanwendbar erkannt. Da­
gegen wird niemand das Gebot „Bevorzuge richtig“ in Zweifel
ziehen können. Es leuchtet analytisch ein. Obwohl das richtige
Bevorzugen nicht selbst schon das höchste Gut ist, so gilt doch
ausnahmslos, daß man das Vorzüglichere vorziehen soll, und
unsere vorangegangenen Untersuchungen haben auch schon da­
für gesorgt, daß dieser Imperativ nicht inhaltsleer bleibe. Das
jeweils Vorzügliche besteht in dem Besten des weite­
sten Kreises, auf den wir einwirken können, und dieses
wieder besagt nichts anderes als das höchste Maß von psychi­
schen Gütern und die möglichste Freiheit von psychischen Übeln
in diesem Kreise.
Oder sollte auch dieses Gebot nicht immer verbindlich sein?
Man könnte einwenden, daß es ja gar nicht möglich sei, zu jeder
Zeit an das höchste praktische Gut zu denken, geschweige denn
es beim Handeln in Betracht zu ziehen. Dann aber wäre kein
einziger Satj der Ethik, außer den ganz konkreten, ausnahmslos
gültig.
Antwort: Schon scholastische Moralisten haben da eine Klärung
gebracht, indem sie darauf aufmerksam machten, daß man ein
Gebot als positives oder als negatives deuten könne. Kein posi­
tives aber verlange in jedem Augenblick Erfüllung. In diesem
Sinne gilt keines von irgendwelcher Allgemeinheit ausnahmslos.
Selbst der Satj: „Liebe Gott über alles und deinen Nächsten wie
dich selbst.“ Sonst dürfte man ja nicht einmal schlafen, weil man
dabei nicht aktuell an Gott oder die Mitmenschen denken kann.
Hingegen gilt ihnen als ausnahmslos: „Du sollst dich n i e gegen
das, was Gott verlangt, entscheiden“, „Du sollst nie irgendeine
Lust höher stellen als die Erfüllung der Gebote Gottes und
deines Gewissens“.
Die Unterscheidung ist berechtigt und so ist denn in der Tat
niemals für etwas minder Gutes unter dem Erreichbaren 307

der Satj: „Wähle das Beste unter dem Erreichbaren“, negativ


zu deuten im Sinne von: „Entscheide dich bei dei­
ner Wahl niemals für etwas minder Gutes
unter dem Erreichbare n.“ Dasselbe gilt von dem Satj:
„Wähle richtig.“ Positiv ist nicht zu fordern, daß einer immer
richtig wolle, da man ja nicht einmal fordern kann, daß er über­
haupt immer wolle.
Nach dem Gesagten gelten von den ethischen Regeln sowohl
die allgemeinste als auch die ganz konkreten ausnahmslos und
unbedingt, nur die von mittlerer Allgemeinheit bedingt. Und
dies erklärt sich ganz einfach: die allgemeinste Regel gibt das
Ziel an, alle anderen sind Regeln für das, was dem Ziele dient,
und sie formulieren diese Mittel zum Ziele entweder mit einem
gewissen Grade von Unbestimmtheit oder aber ganz bestimmt.
II. Kapitel

Von dem Umfang der Sittlichkeit

§ 90. Von den Grenzen der Slttlldikelt

1. Indem man an die Akte des Wollens und Wählens den


Maßstab der ethischen Regeln anlegt, bezeichnet man sie als
sittlich oder unsittlich; aber wie und wann darf man ihn an­
legen? Bei den Tieren nie, bei Kindern auch nicht, bei Erwachse­
nen nicht immer. Jedes Lieben, jedes Wählen ist gut oder
schlecht (richtig oder unrichtig), aber nicht jedes sittlich oder
unsittlich. Wo ist die Grenze des Sittlichen und womit hängt sie
zusammen? Darüber fehlt es bei vielen an Klarheit.
Manche haben gesagt, man habe actiones hominis und actiones
humanae zu unterscheiden. Jene, was immer von Menschen ge­
schieht, diese, was in spezifisch menschlicher Weise geschieht,
nämlich aus Überlegung, aus vernünftiger Erwägung der Wahl­
gegenstände und der Umstände, nicht aber, was einer hin­
gerissen durch die erstbeste Erregung (motus primo primi volun-
tatis) tut. Darum scheidet auch aus, was im Schlaf oder im
Wahnsinn geschieht oder was reine Reflexbewegung ist, was
einer, ohne daß sich sein vernünftiges Urteil hierhin oder dorthin
neigt, instinktiv oder gewohnheitsmäßig tut.
Die actiones humanae allein, also das, was nach unserer früher
(S. 295) gegebenen Definition mit Wahlfreiheit erfolgt, seien
sittlich zu nennen.
2. Sicher sind wir bloß für sie verantwortlich; aber die Frage
ist, ob sie alle entweder sittlich oder unsittlich sind. Wenn
ich zwischen dem Besuche des Theaters oder Konzerthauses zu
wählen habe, verdient meine Entscheidung diese Prädikate? Eine
Das höchste praktische Gut muß letjtes Ziel sein 309
actio humana ist sie wohl, doch wer spricht hier von sittlich
oder unsittlich?
Vielleicht sagt man: Sooft bei einer Wahl das höchste prak­
tische Gut, also das Beste unter dem Erreichbaren, in Berück­
sichtigung gezogen wird und in dieser Hinsicht etwas als das
Bessere sich zu erkennen gibt.
Aber es fragt sich, in welcher Weise das höchste praktische
Gut zu berücksichtigen ist; genügt die bloß negative Rücksicht
oder bedarf es der positiven, d. h. handle ich unsittlich bloß,
wenn ich ihm entgegenhandle, obwohl ich daran denke, nicht
aber, wenn ich gar nicht daran denke, oder bin ich verpflichtet,
daran zu denken?
Man könnte hier dialektisch pro und kontra argumentieren.
Etwa so: Wie soll eine stete positive Rücksichtnahme auf das
höchste praktische Gut zu verlangen sein, wenn es doch gar
nicht möglich ist, jederzeit daran zu denken?
Andererseits, es scheint doch sehr gefährlich, wenn nicht immer
daran gedacht wird, also die Forderung, daß dies geschehe, doch
nicht zu umgehen.
Die richtige Antwort ist wohl die: Sicher wird ein sittlich
Gebildeter nicht unterlassen, des öfteren an das höchste prak­
tische Gut bzw. an solches, was er ein für alle Male als eine
notwendige Bedingung dafür erkannt hat, zu denken, und wenn
er es auch nicht bei jeder Entscheidung tut und tun kann, so
gehört es doch zu einem vollkommenen ethischen Verhalten, daß
wenigstens virtuell all unser Handeln auf das Beste gerichtet
sei. Ich sage „virtuell“, denn eine Absicht kann mit Leichtig­
keit eine ganze Kette von Unternehmungen beherrschen und
gleichsam beseelen.30 Nicht aktuell hat man immer an das höchste
praktische Gut zu denken, das wäre nicht nur oft unmöglich,
sondern, wo es möglich ist, sogar unter Umständen störend und
darum schädlich. Wohl aber soll und kann man sich so verhalten,
wie man sich überhaupt vernünftigerweise verhält, so man ein
Ziel erreichen will. Man entwirft einen Plan und geht dann
nach diesem vor. Man macht, um der auf das höchste praktische
Gut gerichteten Absicht zu dienen, einen Lebensplan, und da
das Leben aus Tagen besteht, einen geordneten Tagesplan, an
310 Der Wille allein ist

dem man dann unentwegt festhält. Nur so gewinnt das Leben


eine edle Einheit. Jede Stunde wird erhöht durch das hohe Ziel,
jeder Augenblick ethisiert durch den Zusammenhang. Und ob­
wohl jetjt die Forderung nicht mehr so überspannt ist, so wird
sogar Vorzüglicheres auf diesem Wege erreicht, als wenn man
ständig das letjte Ziel im Auge behielte. Würde doch ein be­
ständiges aktuelles Denken an das Ziel unmöglich machen, die
Aufmerksamkeit ausreichend auf das Nächstliegende zu richten,
und die ganze Tätigkeit würde darunter leiden.

§ 91. Ist nur der Wille oder auch die Handlung


sittlich gut oder sÄIecM'i

Dafür, daß nur dem Wollen, nicht dem Handeln diese Prädi­
kate zukommen, führen manche an:
1. Oft sieht sich der Mensch außerstande, was er will, durch­
zuführen, so daß die gewollte Handlung unterbleibt; dennoch
findet kein Abstrich am Maße seiner Sittlichkeit statt, sein Wille
bleibt lobenswert, als hätte er gehandelt.
2. Andererseits entfällt bei gleicher Handlung der sittliche
Charakter mit dem sittlichen Wollen. So wenn einer etwas an
und für sich Ersprießliches in schlechter Absicht tut.
So zeige sich die Handlung an und für sich als sittlich in­
different. Eine Theorie, aus der die mittelalterlichen Sekten der
Beguinen und Beguarden ganz ungeheuerliche Folgerungen ge­
zogen haben. Man dürfe sich also, argumentierten sie, jede Aus­
schreitung erlauben, da doch die Sittlichkeit nur im Inneren läge.
Ihr Inneres bleibe dabei rein und mit Gott verbunden. (Homo
potest libere corpori concedere quidquid placet. Se in actibus
exercere virtutem est hominis imperfecti.)
Das Sophisma ist freilich recht durchsichtig. Es stütjt sich auf
zwei absurde Fiktionen, einerseits auf die Annahme, daß ein
psychischer Akt bei Änderung seines Objekts noch derselbe
bleiben könne, andererseits auf die Behandlung von Leib und
Seele, als wären es zwei wollende Individuen.
Hinwiederum hat man zugunsten der Sittlichkeit der Hand­
im eigentlichen Sinne sittlich 311
lungen geltend gemacht, daß diesen sittlicher Charakter auch
dann zuerkannt wird, wenn der Wille gar nicht mit dem Besten
unter dem Erreichbaren beschäftigt war, wofern nur eben das
betreffende Unternehmen überhaupt in sittlicher Absicht ein­
geleitet wurde.
Wie entscheidet sich die Aporie? Sehr einfach: im eigentlichen
Sinne sittlich (gut oder schlecht) ist nur der Wille allein, die
Handlung nur insofern sie von einem sittlichen Willen geleitet
ist. Sie wird also sittlich in übertragener Bedeutung genannt,
nämlich in bezug auf den Willen, so wie auch das „wahr“ in
verschiedenem Sinne ausgesagt wird, aber, wenn nicht vom Ur­
teil selbst, so doch mit Bezug auf dieses, und das „gesund“,
wenn nicht vom Leibe selbst, so doch mit Bezug auf den im
eigentlichen Sinne gesund genannten Leib. Zu einer Addition
von sittlich im uneigentlichen zu sittlich im eigentlichen Sinne
aber kann es natürlich nicht kommen. Entfällt der Wille, so
entfällt damit nicht ein Summand, der mit einem anderen, der
Sittlichkeit der Handlung, zusammen das Gesamtmaß der Sitt­
lichkeit des betreffenden Verhaltens steigern könnte, sondern
es entfällt die Bedingung für die sog. Sittlichkeit der Handlung.
3. Diese in so übertragenem Sinne sittlich zu nennen, verwehrt
das erste der aufgezählten Argumente keineswegs. Mehr ver­
langen aber auch die anderen nicht. Gegen die Sittlichkeit des
Willens im eigentlichen Sinne verschlägt auch der Hinweis dar­
auf nichts, daß Handlungen, bei denen der Wille nicht mit dem
Besten beschäftigt war, noch als sittlich gelten können, denn solche
Handlungen sind dann eben von einem vorhergegangenen Willen,
der in Wahrheit darauf gerichtet war, geleitet.
Noch weniger ergeben sich jene Konsequenzen der Sektierer.
Die Sittlichkeit des Wollens wird allerdings nicht durch eine
vor dem Wollen gegebene Sittlichkeit der Handlung bestimmt,
sondern umgekehrt, wohl aber ist sie bedingt durch die un­
abhängig vom Willen gegebene Nützlichkeit der Handlung, d. h.
ihre förderliche Wirkung auf das höchste praktische Gut. Es ist
darum nicht möglich, mit sittlich reinem Willen sich jedwede
Handlung zu erlauben.
312 Es gibt objektive und subjektive Sittlichkeit

$ 92. Objektive und subjektive Sittlichkeit

1. Mit dem eben Gesagten streiften wir schon diese Unter­


scheidung. Man macht sie sowohl beim ,Willen als auch beim
Handeln. Subjektiv sittlich ist die Handlung, welche und insofern
sie aus sittlichem Wollen entspringt. Ihre objektive Sittlichkeit
aber ist nichts anderes als jene Nützlichkeitsbeziehung zum
Besten, von welcher zum großen Teile die Sittlichkeit des Wollens
abhängt, während umgekehrt wieder von dieser die subjektive
Sittlichkeit der Handlung abhängig ist.
Es wählt also subjektiv sittlich, wer etwas darum wählt, weil
er es für das dem höchsten praktischen Gute Ersprießlichere
hält, objektiv sittlich aber ist der Wille, indem er tatsäch­
lichen Nutzen dafür stiftet. Findet die Wahl aus anderen
Motiven statt, so kann sie objektiv sittlich sein, nicht aber sub­
jektiv. Es kann ja etwas aus verschiedenen Gründen bevorzugt
werden, und so kommt es denn vor, daß es tatsächlich um anderer
Gründe willen bevorzugt wird, als es bevorzugt zu werden ver­
dient.
Auch der umgekehrte Fall kann eintreten: subjektive Sittlich­
keit ohne objektive. So beim Irrtum. Ich will zwar das Beste,
meine aber mit Unrecht, daß das Mittel, dessen ich mich bediene,
wirklich dazu sich eigne, oder ich habe mich in der Abschätzung
der in Betracht kommenden Güter gegeneinander geirrt.
2. Auf dem Unterschiede zwischen objektiver und subjektiver
Sittlichkeit beruht die Unterscheidung wahrer und falscher
Tugendakte. Die wahren bestimmt die subjektive Sittlichkeit,
die falschen sind bloß objektiv sittlich. Schon Platon spricht
davon: Echt ist nur die Tugend des Weisen, die anderen sind
enthaltsam aus Unenthaltsantkeit, tapfer aus Feigheit. Neben
den fünf Arten falscher Tapferkeit (aus Ehrbegierde, aus Angst
vor Schande, aus Unkenntnis der Gefahr, aus Routine, aus
hitzigem Temperament) ist nur eine wahr, die Tapferkeit i‘a
tov staMov.
III. Kapitel

Von den Gradunterschieden auf sittlichem Gebiete

} 93. Gibt es solche?

1. Die Stoiker haben es bestritten. Alle Tugend einerseits,


alle Untugend andererseits galt ihnen als eine. Wertunter­
schiede anerkennen sie hier nicht. Die Tat ist ja nicht als solche
gut, sondern nur insofern sie aus der rechten Gesinnung hervor­
geht. Diese aber besteht darin, daß das Gute, d. h. die Tugend,
über alles geschäht wird. Will man eine Mehrheit von Tugenden,
etwa die sog. vier Kardinaltugenden, so trennt man, was in
Wirklichkeit eines ist. In jeder Handlung des Weisen sind sie
alle zusammen vorhanden, weil sie eben nur ein Ausdruck seiner
Wertschä^ung der Tugend über alles sind. So zeigt ein wahrhaft
Tugendhafter in jeder Handlung gleichmäßig seine Vollkommen­
heit, und wer in einem Falle nicht aus Hochschä^ung der Tugend
handelt, tut es niemals.
Ebenso gleichmäßig offenbart sich die Untugend in jeder un­
sittlichen Handlung. Es ist eben die tugendhafte Disposition eine
Eigenschaft wie die Geradheit einer Linie, die auch kein Mehr
und Minder zuläßt. Es gibt wohl Unterschiede in der Annähe­
rung an die Gerade, aber auch die ihr nahe gekommene krumme
gehört doch ganz und gar in den Bereich der krummen Linien
und hat nichts von Geradheit an sich.
Indessen vermochten die Stoiker selbst nicht an dieser strengen
Auffassung dauernd festzuhalten, ja die Bedenken dagegen
wurden so mächtig, daß sie schließlich bei dem Ergebnis an­
langten, daß es eine vollkommene Tugend überhaupt nicht gebe.
Nicht in schlechte und gute teilten sie fürderhin die Menschen
314 Es gibt Grade der objektiven

ein, sondern in schlechte und fortsdireitende (p r o k o p t o n te s).


2. Wie sollen wir die Frage entscheiden? Um klar su sehen,
werfen wir sie getrennt für objektive und subjektive Sittlichkeit
auf. Die objektive hat zweifellos Grade, nämlich je nach der
Nützlichkeit für das höchste praktische Gut. Aber auch bei der
subjektiven sind sie vernünftigerweise nicht zu leugnen. Eine
gute Handlung, die aus größerer Liebe zum höchsten praktischen
Gute entspringt, ist sittlicher, eine schlechte, in der sich ein
größerer Mangel an solcher Liebe oder gar Haß des Guten ver­
rät, ist unsittlicher. Darum wird mehr geschäht:
a) wenn eine Handlung freudig geübt wird, denn dies deutet
auf eine stärkere Neigung zum Guten (Aristoteles);
b) wenn die richtige Wahl ohne das geringste Zögern und
ohne Schwanken getroffen wird, sobald einmal erkannt ist, was
das Bessere sei (dieses Moment hebt Aristoteles hervor,
wo er von der Tapferkeit spricht);
c) wenn dem edlen Motiv kein anderes beigesellt ist, wenn
das Gute gewählt wird ohne sinnlichen, egoistischen Mitantrieb.
Man erinnere sich der Schilderung, die Platon vom ideal
Gerechten entworfen hat: ohne Unrecht getan zu haben, steht er
im Rufe größter Ungerechtigkeit, damit er erprobt werde in der
Gerechtigkeit. Aber er läßt sich nicht wankend machen, weder
durch den bösen Ruf noch durch schreckliche Drohungen. Auch
gepeinigt, gefoltert, gefesselt und mit glühenden Eisen geblendet
und zuletzt, nachdem er alles erduldet, mit einem Speere durch­
bohrt, bleibt er dem Erkannten unwandelbar treu bis in den
Tod, dem Scheine nach ein Ungerechter sein Leben lang, in
Wahrheit ein Gerechter.
Zu demselben Ideal bekannten sich auch die sog. Propheten,
welche im jüdischen Volke die Träger einer erleuchteten morali­
schen Gesinnung waren. Und im höchsten Maße der Stifter des
Christentums. Nietzsche hat unrecht, wenn er immer wieder
das sittliche Empfinden der Griechen gegen die jüdisch-christ­
liche Moral auszuspielen sucht, diese als die Moral der Schwäche,
weil der Nächstenliebe und des Mitleides, jene als die rücksichts­
loser Herrschbegier; diese als Sklaven-, jene als Herrenmoral.
Er denkt dabei zu einseitig an gewisse Sophisten, aber ein
wie der subjektiven Sittlichkeit 315
Sokrates, Platon, ein Aristoteles dachten ganz
anders, und sie haben doch wohl mehr ein Recht darauf, als die
Blüte des griechischen Geistes zu gelten.
d) Als sittlicher erachten wir ferner eine Handlung, wo der
Wahl des Vorzüglichen größere Gegenreize gegenüberstanden,
wo größere Opfer gebracht werden mußten. (Man kann auch die
Umstände kombinieren. So spricht man von Opferbereitschaft,
wo einer das Opfer ohne Zögern und Schwanken bringt, von
Opferfreudigkeit, wo er es mit Freude tut.)
e) Wo nur ein kleines Übergewicht zugunsten des allgemeinen
Besten ausreicht, die stärksten Gegenreize und Versuchungen zu
überwinden.
f) Wo nur eine schwache Chance besteht, das höchste praktische
Gut zu fördern, während es andererseits sicher ist, daß dies
nicht ohne große persönliche Opfer gelingen könne.
Umgekehrt erachten wir eine Handlung für besonders schlecht:
a) wo sie ohne jeden Skrupel, ja freudig erfolgt;
b) bei frivoler Bereitschaft, wo ohne Zögern dem eigenen Vor­
teil, sobald er als solcher erkannt ist, das höhere Gut geopfert
wird;
c) wo Mitantriebe zum Guten, wie Furcht vor Schande, natür­
licher Ekel etc., überwunden werden;
d) wo der persönliche Vorteil sehr gering ist, ein Judaslohn;
e) und f) wo ein großes Übergewicht in bezug auf das all­
gemeine Beste vorliegt und gleichwohl das geringe persönliche
Opfer nicht gebracht wird.

} 94. Gibt es sittlich indifferente Handlungen?

Wenn es Grade der Sittlichkeit gibt, gibt es auch einen Null­


punkt im Sinne vollkommener Indifferenz? Auch darüber sind
die Meinungen verschieden, doch kann es leicht zu einer Ver­
ständigung kommen, wenn man die gebotenen Unterscheidungen
macht. Man hat die Frage für objektive und subjektive Sittlich­
keit gesondert zu erörtern.
Bei der objektiven fragt es sich weiter, ob es in specie oder
316 Im allgemeinen ist jede Handlung sittlich oder unsittlich

in individuo indifferente Handlungen gebe. In specie indifferente


sind möglich, da eine Handlung unter Umständen nützlich, unter
anderen schädlich sein kann, so zwar, daß sich im Durchschnitt
die Fälle von Nutzen und Schaden ausgleichen. Aber nur, wenn
man eine Handlung so in gewisser Abstraktion von den Um­
ständen betrachtet, kann man sagen, sie sei indifferent. Die
einzelne Handlung für sich genommen wird immer entweder
nützlicher oder schädlicher sein, sie ist, was die objektive Sittlich­
keit anlangt, nicht indifferent.
Wie verhält es sich mit der subjektiven Sittlichkeit? In specie
kann es hier indifferente Handlungen geben, denn es kann ja
eine Handlung bald aus dem, bald aus jenem Motiv begangen
werden, und so mag es geschehen, daß sie im Durchschnitt ebenso
häufig aus sittlichen wie aus unsittlichen Beweggründen erfolgt.
Wie aber in individuo? Kann man jemals, bei genauer Kenntnis
des Seelenzustandes eines Handelnden, sagen, seine Wahl sei
sittlich indifferent? In zwei Fällen mag dem so sein: erstens
dort, wo überhaupt nicht an das höchste praktische Gut gedacht
wurde, auch nicht virtuell, ohne daß dieses Nichtdarandenken
ein sittlicher Fehler war; zweitens, wo wir außerstande sind zu
erkennen, welche von den möglichen Entscheidungen das höchste
praktische Gut mehr fördert, sei es in concreto, sei es im Durch­
schnitt der Fälle. Sonst ist eine Handlung immer entweder sitt­
lich oder unsittlich.

$ 95. Kann eine Handlung zugleich sittlich und unsittlich sein?

Wenn mit der Frage gemeint wäre, ob eine Handlung bald


sittlich, bald unsittlich sein könne, so wäre sie natürlich zu be­
jahen, aber dies ist nicht ihr Sinn.
Sie wäre zu bejahen, wenn es mehrere voneinander un­
abhängige, absolut gültige sittliche Vorschriften gäbe, denn dann
wären Kollisionen unvermeidlich. Das ist aber nicht der Fall.
Nur ein einziges Gesetz gilt, wie sich uns ergeben hat, un­
beschränkt und unter allen Umständen: das Beste des weitesten
Kreises zu fördern. Und darum kann es gar nicht zu einer eigent-
Untersdiied zwischen virtueller und aktueller Entscheidung 317

liehen Pflichtenkollision kommen, höchstens zu einem subjektiven


Zweifel, was unter gegebenen Umständen das Vorzüglichere ist.
Doch auch auf unserem Standpunkte läßt sich in gewissem
Sinne sagen, daß eine konkrete Handlung zugleich beides sein
könne, nämlich mit Bezug auf den Untersdiied zwischen ihrer
virtuellen und ihrer aktuellen Leistung.
Ein Beispiel: Ein Arzt verursacht durch falsche Behandlung
den Tod eines Kranken, er ist zum mindesten mitschuldig daran.
Allerdings hat er sich in diesem Falle alle erdenkliche Mühe
gegeben; aber während seiner Studienzeit war ihm die Sorge
für seine „Verbindung“ wichtiger, und so ist er nur eben zufällig
bei den Examen durchgerutscht. Hier ist die virtuelle Ent­
scheidung zu tadeln, die aktuelle nicht Ein anderes Beispiel:
Es kann einer, der in Notwehr einen tötet, momentan schuldlos
sein; aber vielleicht liegt sein Verschulden weiter zurück. Viel­
leicht hat er ihn früher mutwillig gereizt.
Es kann auch umgekehrt die aktuelle Entscheidung zu tadeln
sein, die virtuelle zu loben. Einer weiß, daß er in einer an­
gekündigten politischen Versammlung sich einsetjen würde, er
weiß aber auch, daß er sich bei solchen Gelegenheiten immer
wieder zu beleidigender Heftigkeit und liebloser Kritik hin­
reißen läßt. Weil die Sache wichtig ist, geht er doch hin und
verfällt faktisch wieder in denselben Fehler.

f 96. Pflicht und Bat

1. Der landläufige Begriff des Sittlichen wechselt etwas.


Manche sprechen von Unsittlichkeit nur in groben Fällen offen­
kundiger Hintansetjung des höchsten praktischen Gutes, und
entsprechend auch von Sittlichkeit. Wir schlossen uns der Auf­
fassung des fortgeschrittensten Gefühls an, wonach wenigstens
virtuell stets die Rücksicht auf das allgemein Beste leitend sein
soll. Dient einer der Wahlgegenstände diesem mehr, so ist es
sittliche Pflicht, ihm sich zuzuwenden. Hat aber vielleicht doch
das Sollen nicht -in allen Fällen den gleichen rigorosen Sinn? Ist
nicht doch ein weiterer und ein strengerer Sinn von „sittlich“
318 Verschiedene Bedeutungen

zu unterscheiden, und insbesondere von „unsittlich“? Oder sollen


wir jede Bevorzugung, die nicht die unter den gegebenen Um­
ständen beste ist, schlechtweg als unsittlich verurteilen und dabei
nur etwa Grade der Unsittlichkeit gelten lassen?
Manche haben so gelehrt, so z. B. die Calvinisten. Eine harte
Lehre! Wer wäre darnach nicht überwiegend unsittlich? Die
gemeine Ansicht billigt solche Strenge nicht, und der milderen
Auffassung neigen sich auch manche zu, denen ein wohlaus­
gebildetes sittliches Empfinden nicht abzusprechen ist. Viele
Theologen der katholischen Kirche lassen neben den Forderungen
der Pflicht auch Raum für das, was bloß zu raten sei. Sie be­
gegnen sich dabei mit dem Urteile so manches Philosophen. So
weist z. B. J. St. Mill lobend auf die katholische Lehre von
den evangelischen Räten (Armut, Keuschheit, Gehorsam) hin.
Worin besteht aber der Unterschied von Pflicht und Rat, und
wo liegt die Grenze zwischen beiden? Auch darüber gehen die
Ansichten auseinander. Ich kann sie hier nicht alle in Betracht
ziehen, aber die wichtigsten seien angeführt.
a) Man hat gesagt, was notwendig zum letzten Ziele ist, das
sei Pflicht; wodurch es leichter und sicherer erreichbar ist, Rat.
Zwar sei die ewige Seligkeit für alle das Ziel, aber von ihr
seien Grade zu unterscheiden. Wer den höchsten erreichen wolle,
müsse mehr tun, als was die Pflicht gebietet, er müsse auch den
evangelischen Räten folgen. Da für uns als letztes Ziel das „Beste
unter dem Erreichbaren“ gilt, ist dieser Versuch einer Begriffs­
bestimmung des Unterschiedes von Pflicht und Rat nicht an­
wendbar.
b) In neuerer Zeit versuchte man es so: Rat sei das, was man
keinem einzelnen zur Pflicht machen kann, sondern nur der
Gesamtheit. Z. B. zu heiraten.
Allein die Gesamtheit wird hier fiktiv wie eine Person be­
handelt. Wer sich klar ausdrücken will, wird sagen müssen, das
allgemeine Beste erheische nicht, daß jeder heirate, wohl aber
die Mehrzahl. Ist es aber darum für jeden einzelnen bloßer Rat?
Das folgt wohl nicht, es kann für einen bestimmten Menschen
vielmehr Pflicht sein, eine Ehe einzugehen, da seiner Lage gemäß
auf diese Weise das allgemeine Beste durch ihn mehr als durch
von Pflicht und Rat 319
sein Verweilen im ledigen Stande gefördert würde. Ist dem nicht
so, so ist zu heiraten auch für ihn nicht einmal sittlicher Rat.
c) J. St. Mill (in dem Büchlein über Comte und die
positive Philosophie, S. 152) meint, Pflicht sei bloß, einander
nicht zu schädigen und, falls wir jemandem versprochen haben,
ihm zu nützen, dieses Versprechen zu halten. Alles Gute darüber
hinaus sei bloßer Rat.
Das scheint denn doch zu wenig! Sollte es nicht Pflicht sein,
einem beizuspringen, den man, ohne sich selbst zu gefährden,
vor dem Ertrinken retten kann? Oder: Ein talentvoller Mann
vertrödelt sein Leben. Verdient er keinen sittlichen Vorwurf?
Wird das höchste praktische Gut dadurch weniger geschädigt,
als wenn einer Äpfel vom Baume des Nachbarn stiehlt?
d) Mill modifiziert selbst seine Bemerkungen darüber, indem
er hinzufügt, in bezug auf die Förderung unserer Mitmenschen
sei unsere Pflicht nur das Gebräuchliche, das was dem üblichen
Durchschnitt entspricht. Was darüber hinausgeht, sei bloßer Rat.
Darum werde, wer mehr leistet, zwar gelobt, aber niemand
getadelt, wenn er dieses Plus nicht auf sich nimmt. Damit wird
der Durchschnittsmensch zum Maß gemacht.
Doch auch dieser Rekurs auf den Durchschnitt und Gebrauch
scheint bedenklich. Wie wenn die Menschen im Durchschnitt
sittlich schlecht wären (oi ntciaroi xaxoi) ? Ist dann nur das Wenige
Pflicht, das diesem niedrigen Durchschnitt entspricht? Mill
meint allerdings, dank dem moralischen Fortschritte dehne sich
der Bereich der Pflicht immer mehr aus, so daß eine Tugend,
die früher selten war, allgemein wird, und dann werde, was
vordem Sache des Rates (verdienstlich) war, pflichtgemäß. Etwas
Richtiges ist auch daran, aber wird nun etwa ein sittlich Ge­
bildeter, in eine Gesellschaft von niedrigerem Niveau gekommen,
ohne Selbstvorwurf auf dieses hinabsteigen dürfen? (Z. B. Be­
amte bestechen, Trinkgelder aus öffentlichen Mitteln annehmen,
stundenlang im Kaffeehause sitjen.) Und könnte man dann über­
haupt noch von einem sittlichen Fortschritt sprechen, bliebe nicht
vielmehr, da mit der Zeit auch die Höhe der sittlichen Anforde­
rungen sich änderte, auch das Maß der Pflichterfüllung und
Pflichtverletzung zu allen Zeiten dasselbe? Es scheint wirklich.
320 Verschiedene Bedeutungen

daß man dann gar kein Recht hätte, sittliche und unsittliche
Zeitläufte zu unterscheiden.
2. Eine bessere Lösung scheint mir, den Unterschied von Pflicht
und Rat in Verbindung mit den oben dargelegten Gradunter­
schieden des Sittlichen zu bringen.
Darnach wäre „Pflicht“ nur, überhaupt das Beste zu bevor­
zugen, und diese scheint erfüllt, auch wenn die Wahl des er­
kannten Besten nicht freudig, nicht ohne Zögern, nicht ohne die
Unterstützung fremder Antriebe erfolgt. Sittlich richtig und
pflichtgemäß ist unser Verhalten, auch wenn wir dabei keine
harte Probe zu bestehen haben. Kommt nun auch das Fehlende
hinzu, so ist offenbar ein höheres Maß von Sittlichkeit gegeben;
wo dieses aber nicht gegeben ist, soll man dies tadeln, soll man
auch nur den Mangel hervorheben, statt einfach das Verdienst­
liche der Pflichterfüllung gelten zu lassen überall dort, wo sie
gegeben ist?
Es ist dies mehr als eine bloße Frage des sittlichen Urteils.
Es handelt sich dabei nicht bloß darum, ob das Verhalten richtig
war oder nicht, sondern vielmehr um etwas, was schon in das
Kapitel „sittliche Führung“ gehört. Zu dieser ethischen Führung,
die auch der Erwachsene noch durch seine Mitmenschen erfährt
und die jeder seinerseits anderen zuteil werden lassen kann,
zählen nun auch Lob und Tadel, die wir aussprechen, ebenso
aber auch, was wir uns und anderen als Aufgabe stellen, was
wir von uns selbst und von ihnen fordern. Es wäre wenig weise,
diese Forderungen sofort und allseits in der strengsten Fassung
zu formulieren. Ein allzu rigoroses Gebot wird nicht freudig,
sondern mit Widerstreben befolgt, was der Bildung der sittlichen
Gesamtdisposition abträglich ist. Ein allzu straff gespannter
Bogen bricht. Durch solche Härte wird das ganze Gebiet der
Pflicht odios. So ist denn vernünftigerweise zu unterscheiden
zwischen dem, was das sittliche Ideal ist, und dem, was ein
besonnener Erzieher von einzelnen fordern wird.
3. Erinnern wir uns in diesem Lichte der oben erwähnten Ab­
stufungen im einzelnen:
Es ist gewiß ein ideales Verhalten, wenn die sittlich richtige
Wahl ohne Beimischung fremder Antriebe getroffen wird, und
von Pflicht und Rat 321
man kann sagen, das Gute um des Guten willen zu tun, sei
Pflicht. Aber für jeden? Audi dieses Gebot ist relativ, man hat
zu berücksichtigen, ob damit im einzelnen Falle nicht mehr
Schaden als Nufjen gestiftet wird. Einem sittlich noch Ungeübten
gegenüber kann der Verzicht auf unterstütjende, außersittliche
Motive wenig zweckmäßig sein. Aber auch bei weiter Fort­
geschrittenen ist nicht jede Pflicht in gleicher Weise ohne solche
Hilfen erfüllbar. Man muß da die Gesamtheit des Guten, das
einer zu leisten hat, wie eine Einheit betrachten und mit Rück­
sicht auf dieses Ganze Unvollkommeneres zulassen um des Voll­
kommeneren willen.
Ähnliches gilt von der Pflicht, das Gute ohne Zögern zu tun.
Man wird, wenn einer erst nach einem Kampfe sich dazu ent­
schließt, sein Verhalten nicht als pflichtwidrig tadeln. Es wäre
höchst unweise, diesen Mangel hervorzuheben, denn es würde
nur beschämen, vielleicht erbittern und die weitere Pflicht­
erfüllung erschweren. Mit Rücksicht darauf wird das Gebot, das
Gute ohne Zögern zu tun, vorsichtiger formuliert, nicht als
schroffe Pflicht, sondern „als Rat“; ja, man wird sich unter Um­
ständen sogar hüten, es auch nur als Rat auszusprechen, sondern,
statt das Schwanken zu bemängeln, vielmehr den endlichen Sieg,
der es aufhob, um so mehr als lobenswert hervorheben.
Wie verhält es sich mit den Fällen, wo starke Gegensätze zum
richtigen Verhalten dazu führten, daß ein sonst sittlich guter
Mensch der Versuchung unterlag? Seine Pflicht hat er verlebt,
das ist klar. Man kann nicht sagen, es sei nur ratsam gewesen,
das Gegenteil zu tun, nein, dies wäre das einzig Richtige ge­
wesen. Ratsam aber ist es in solchen Fällen, künftig die Gefahr
solcher Versuchung zu meiden. Während es sonst gilt, die Ge­
legenheit zum Guten aufzusuchen, weicht man ihr hier besser
aus. Wo aber die Probe unvermeidlich ist, da wird der ethische
Führer sich hüten, durch schroffe Formulierung der Pflicht zu
entmutigen. Er wird eher sagen, es wäre verzeihlich, hier zu unter­
liegen; aber um so höher zu stellen sei der, der auch in solchem
Falle nicht unterliegt.
Immerhin ist auch dann noch eine Unterscheidung am Platj.
Es kann sich in dem Abweich en vom sittlichen Ideale eine
322 Pflicht ist, was der Durchschnitt der Besten tut

Schwäche verraten, die Tadel verdient; es gibt aber auch Fälle,


wo ein Verhalten Charakterstärke beweist und gleichwohl hinter
dem denkbar Besten zurückbleibt. Es hat z. B. einer an seinem
Feinde nicht Rache genommen, obschon starke Antriebe und
günstige Gelegenheit dazu da waren, das erlittene Böse mit
Bösem zu vergelten, aber er hat sich noch nicht dazu auf­
geschwungen, die sich bietende Gelegenheit, dem Feinde eine
Wohltat zu erweisen, zu benütjen. Sein Verzicht auf Rache bleibt
lobenswert genug und es wäre unweise, ihn zu tadeln. Wie
immer man erkennt, daß er hier eine Möglichkeit, Gutes zu tun,
ungenutzt gelassen, also unrichtig sich verhalten hat, so wird
man doch vorziehen, hier nicht eine Pflicht zu formulieren,
sondern bloß einen Rat auszusprechen.
Wie stellt sich nach dem Gesagten unsere Auffassung vom
Unterschiede zwischen Pflicht und Rat dar?
Auch wir können zustimmen, wenn man sagt, Pflicht sei, was
Durchschnitt und Mitte im menschlichen Verhalten bilde, aber
wir denken dabei nicht wie Mill an die große Masse der
Menschen, sondern an die Besten unter ihnen und sagen, was
von diesen Besten der Durchschnitt tut, das ist Pflicht, was aber
noch darüber liegt, ist bloßer Rat.
Später wird noch ein klareres Wort dazu zu sagen sein, wenn
wir von der Bildung der sittlichen Dispositionen zu handeln
haben werden.
IV. Kapitel

Vom irrenden und vom zweifelhaften Gewissen

} 97. Begriff und Einteilung des Gewissens

Das Vermögen zum praktischen Urteil, ob etwas als sittlich


gut zu wählen oder als sittlich schlecht zu meiden sei, nennt man
unser Gewissen. Doch wird das Wort auch noch in einem engeren
Sinne gebraucht, nämlich für das Bewußtsein, daß eine von uns
selbst begangene Handlung sittlich richtig oder unrichtig gewesen
sei, also für ein Urteil in concreto, das man bildlich als „Aus­
spruch des Gewissens (im ersten Sinne)“ bezeichnen kann. Je
nachdem dieser „Ausspruch“ billigend oder mißbilligend lautet,
spricht man von einem guten oder von einem schlechten Ge­
wissen. (T h o m a s v. A.: applicatio legis naturalis ad facienda.)
Unterscheidungen liegen nahe. Das Gewissen im Sinne dieses
Urteils über eine bestimmte Handlung oder Unterlassung ist
entweder richtig oder irrig. Es ist ferner entweder fest überzeugt
oder zweifelhaft. Im zweiten Falle schwankt man, ob man etwas
für sittlich statthaft halten soll oder nicht.40

J 98. Vom irrenden Gewissen

Dem richtigen, fest überzeugten Gewissen zu folgen, ist selbst­


verständlich Pflicht; wie aber steht es mit dem irrigen, zweifel­
haften? Erkennen wir, daß jemand geirrt hat, aber mit fester
Überzeugung, so müssen wir ihm zubilligen, daß es sittlich war,
nach dieser Überzeugung zu handeln. Seine Entscheidung ist
schuldlos, wenigstens mit Rücksicht auf die gleichzeitigen Um-
324 Es ist Pflicht, dem festüberzeugten Gewissen zu folgen
stände, und ein Tadel könnte ihn nur etwa treffen, wenn er
durch einen vorausgegangenen Willensakt seinen Irrtum selbst
verschuldet hätte. Eine Handlung gegen das fest überzeugte Ge­
wissen würde dem verschuldeten Irrtum nur eine weitere Schuld
hinzufügen.
Vielleicht wendet man dagegen ein, es sei doch schädlich, den
Ausspruch eines irrenden Gewissens in die Tat umzusetjen, das
Schädliche zu unterlassen aber sei Pflicht, und somit pflichtwidrig,
dem irrenden Gewissen zu folgen. Man habe vielmehr, wie
immer es überzeugt sein möge, doch dagegen zu handeln.
Antwort: Dieser Einwand gleicht dem Rate, eine Sache nur
dort zu suchen, wo sie ist. Es fehlt ja die Erkenntnis, daß der
betreffende Gewissensspruch irrig ist.
Immerhin bedarf der Satj von der Schuldlosigkeit einer dem
fest überzeugten irrigen Gewissen gemäßen Handlung doch eines
Zusat;es. Man muß die Art beachten, wie die Überzeugung zu­
stande gekommen ist. Es gibt Fälle, von denen man sagen muß,
daß bei einigem Nachdenken der Irrtum zu erkennen und zu
berichtigen gewesen wäre. Nicht jeder Irrtum ist unzerstörbar,
und nur der unzerstörbare macht, daß keine neue Schuld hinzu­
tritt. Aber es gibt eben auch eine Pflicht der sittlichen Urteils­
bildung, von der freilich viele, die sonst gerne von allgemeiner
Bildung sprechen, nicht viel zu wissen scheinen. Unter den sog.
geistreichen Leuten sind nicht wenige moralisch schwachsinnig.
Um so mehr Mühe hat man auf die Bildung des sittlichen Urteils
zu wenden, als das Gewissen leicht durch Leidenschaften getrübt
wird. Die Sophistik der Leidenschaften ist kein unwichtiges
Kapitel der Logik. Wer daraus zu lernen versteht, wird es nicht
unterlassen, von Zeit zu Zeit auch seine sittlichen Überzeugungen
auf Vorurteile hin zu revidieren.

f 99. Vom zweifelhaften und vom perplexen Gewissen

Bisher ist alles klar, wie aber, wenn es sich um Gewissens­


zweifel handelt?
Sehen wir von der Frage ab, ob ein Ausspruch des Gewissens
Zweifel können sich nur auf die objektive Sittlichkeit beziehen 325
richtig oder unrichtig sei, und fassen wir nur den Fall ins Auge,
wo einer handeln soll, sich aber tatsächlich im Zweifel über die
Erlaubtheit oder Unerlaubtheit einer Handlung befindet. Darf
er in einer solchen Lage überhaupt eine Wahl treffen?
Die Meinungen sind auch hierüber geteilt. Die einen sagen „ Ja! “,
sonst drohe äußerste Beschränkung, denn wie überhaupt dem
menschlichen Urteil nur selten volle Sicherheit beschieden ist, so
am wenigsten in moralischen Dingen. Aristoteles gesteht
darum der Ethik eine weniger exakte Beweisführung zu als etwa
der Mathematik. Nur soweit die Materie es gestatte, sei hier
begriffliche Schärfe zu verlangen. Mehr als Wahrscheinlichkeit
lasse sich nicht erzielen.
Die anderen sagen „Nein!“, aus schlechtem Gewissen könne
man nicht gut handeln.
Auch hier löst sich, glaube ich, die Schwierigkeit durch Unter­
scheiden. Auf die subjektive Sittlichkeit darf sich der Zweifel
nicht beziehen, sondern nur auf die objektive. Ob die Handlung
mehr Nutjen als Schaden stiften werde, ist höchstens mit Wahr­
scheinlichkeit vorherzusagen und oft nicht mit beträchtlich über­
wiegender. Ist es aber sicher, daß keine größere zu erzielen
ist, oder daß wir keine Zeit zu langem Überlegen haben, sondern
sofort handeln müssen, dann ist die subjektive Sittlichkeit der
vermutlich nütjlicheren Handlung völlig gesichert. Man handelt
dann tro§ mangelnder objektiver Sicherheit doch vollkommen
überzeugt sittlich.
Ja, selbst wenn von keiner der möglichen Entscheidungen
wahrscheinlicher ist, daß sie die anderen an Nützlichkeit über­
treffe, wohl aber sicher, daß eine getroffen werden muß, damit
das höchste praktische Gut nicht zu Schaden komme, so steht die
subjektive Sittlichkeit für jede beliebige von ihnen außer Zweifel.
Schon Descartes hat dies ausgesprochen. „Auch wo die
Wahrscheinlichkeit für mehreres die gleiche ist, hat man sich
doch zu einem zu entschließen und es dann für die Frage der
Ausführung nicht mehr als zweifelhaft, sondern als wahr und
gewiß zu nehmen, weil die Regel, nach der wir so handeln,
richtig ist.“ Ein Beispiel: Ich werde in einer wichtigen Sache zu
einer bestimmten Stunde erwartet. Die Zeit reicht gerade für
326 Verschiedene Auffassungen

den kürzesten von sechs Wegen, ich kann diesen aber nicht unter
ihnen ausfindig machen. So setje ich mich, einen einschlagend,
mit 5/6 Wahrscheinlichkeit der Gefahr des Irrtums aus. Da ich
aber gehen muß, habe ich die Sicherheit, subjektiv ohne Vor­
wurf zu sein.
Übrigens wird, wer so handelt, im Durchschnitt der Fälle da­
mit auch objektiv sittlich handeln.
Immerhin kommen auch Fälle vor, wo einer aus Unvernunft
nicht zu dieser Sicherheit über die subjektive Sittlichkeit seines
Handelns gelangt. Sein Gewissen ist perplex. Was immer sich
als Möglichkeit darstellt, alles scheint verkehrt. Möge er so, möge
er anders, möge er überhaupt nicht handeln, immer, glaubt er,
hätte er sich einen Vorwurf zu machen. Aber am Platj ist ein
solcher Vorwurf gewiß nicht, denn in Wahrheit ist sein Handeln
wie sein Nichthandeln von keinem auf die Sittlichkeit bezüg­
lichen Entschluß bestimmt und darum sittlich indifferent.

$ 100. Verfehlte Theorien über die möglichen Welsen, sich in


zweifelhaften Fällen eine Meinung über die Erlaubtheit einer
Handlung zu bilden

1. Ältere Moralphilosophen, insbesondere aber Moraltheo­


logen, haben sich vielfach mit folgender Frage beschäftigt. Es
befindet sich einer im Zweifel darüber, ob eine gewisse Hand­
lung erlaubt sei oder nicht. Er weiß nicht, ob es ein Gesetj gibt,
das sie verbietet; aber die Möglichkeit, daß ein solches bestehe,
scheint ihm nicht ausgeschlossen und er fühlt sich dadurch be­
unruhigt. Wie soll er sich in einem solchen Falle verhalten?
Blickt man auf die Praxis, so zeigt sich, daß die Leute sich
verschieden verhalten. Die einen halten sich in einem solchen
Falle ebenso für gebunden, als hätten sie das Gesetj klar er­
kannt. Sie sagen sich: Auf keinen Fall darf ich mich der Gefahr
einer Pflichtverletjung aussetjen, ich darf darum, wo nur die
leiseste Vermutung für ein Verbot spricht, es nicht tun. Die
anderen sagen: Was ich nicht weiß, macht mir nicht heiß! Kein
Gesetj besteht für mich, solange ich dieses nicht mit Sicherheit
hinsichtlich der Erlaubtheit einer Handlung 327
erkenne; ich erlaube mir also das, was mir besser paßt, und werde
es mir auch in Hinkunft solange gestatten, als ich nicht sicher
bin, daß es sittlich unerlaubt ist.
Im ersten Falle spricht man von einem skrupulösen, im zweiten
von einem laxen Gewissen.
2. Auch die Theorie hat sich dieser Frage bemächtigt und je
nach der Stellungnahme dazu verschiedene Systeme ausgebildet.
a) Der Rigorismus oder absolute Tutiorismus. Er sagt: In je­
dem Falle ist im Sinne des vermuteten Gesetjes zu entscheiden,
auch wenn nur eine ganz geringe Wahrscheinlichkeit dafür spricht
und weit gewichtigere, nur eben nicht vollkommen entscheidende
Gründe auf Seite der Freiheit stehen.
b) Gemilderter Tutiorismus. Man darf nur dann zugunsten
der Freiheit entscheiden, wenn eine ganz überwiegende Wahr­
scheinlichkeit für sie spricht und die für das Gesetj verschwin­
dend klein ist.
c) Probabiliorismus. Zugunsten des Gesetjes ist zu entschei­
den, wenn die entgegengese^te Wahrscheinlichkeit nicht bedeu­
tend überwiegt.
d) Aequiprobalilismus: Man darf zugunsten der Freiheit ent­
scheiden, wenn ebensoviel oder nahezu gleich viel für sie wie
gegen sie spricht.
e) Gemäßigter Probalilismus lehrt Freiheit auch in den Fällen,
wo die Wahrscheinlichkeit viel stärker für das Gesetj spricht,
nur nicht so, daß, was dagegen spricht, zu voller Bedeutungs­
losigkeit herabsinkt. Ein solcher Fall scheint ihnen gegeben, wo
zwar die Mehrheit der Juristen oder Moralisten für das Gesetj
spricht, aber eine bedeutende Autorität dagegen.
f) Laxismus: Man ist nicht gebunden, solange die Verpflich­
tung nicht streng erwiesen ist. (Die Vertreter dieser Auffassung
gehen sehr weit. Selbst wenn es mir erwiesen scheint, daß ein
Verbot bestehe, aber eine einzige Autorität dies bestreitet, darf
ich mir sagen: „Ich kann ebensogut irren wie er“ und mich für
die Freiheit entscheiden.)
3. In dieser Klassifikation sind die Ausdrücke vielfach nicht
scharf umgrenzt, abgesehen vom absoluten Tutiorismus und
Laxismus, so daß neben diesen beiden eigentlich nicht nur vier
328 Bei jeder Beurteilung einer Handlung

Systeme, sondern eine unübersehbare Mannigfaltigkeit mit un­


merklichen Übergängen besteht. Welches System ist nun das
richtige?
Nadi meiner Meinung sind alle falsch. Alle? Wie ist das mög­
lich, bleibt denn da noch ein Spielraum für andere Lösungen?
Antwort: Die Fragestellung selbst ist verfehlt. Sie stellt Gesetj
und Freiheit einander gegenüber, aber so ist die Lage nicht. In
jedem Falle sind wir an ein Gese§ gebunden, nämlich an jenes
allgemeinste Gesetj: Wähle das Beste, d. h. das, was unter dem
Erreichbaren das höchste praktische Gut am meisten zu fördern
verspricht. Der Zweifel bezieht sich also immer nur auf die
Umstände, auf die Frage, ob dieses oder jenes Verhalten wahr­
scheinlicher den größeren Nutjen nach sich ziehen werde. Wäre
eines davon sicher nütjlicher, so wäre es Gesetj. Man darf dann
weder sagen, daß auch das minder wahrscheinlich Nütjliche vor­
gezogen werden dürfe, noch, daß immer das wahrscheinlicher
Nütjliche vorgezogen werden müsse. Das erste nicht, denn auch
bei gleichem Nutjen hüben und drüben, wenn sie mit verschie­
dener Wahrscheinlichkeit in Aussicht stehen, ist die Wahl zwischen
den Chancen aequivalent einer Wahl von Gütern ungleichen
Wertes. Das zweite nicht, weil vielleicht der größere Nutjen in
ungewisserer Aussicht steht.
Das Richtige ist wohl, so zu handeln, daß sich, wenn immer
so gehandelt würde, im ganzen der größere Nutjen ergäbe. Hat
man dafür zunächst nur Wahrscheinlichkeit, so genügt dies, um
sofort mit Sicherheit erkennen zu lassen, daß die Handlung sitt­
lich ist, und so ist denn sie das Gesetj für den gegebenen Fall.
4. Sind also alle diese „Systeme“ unbrauchbar, so ist doch die
Frage berechtigt, wie man überhaupt auf diesen Irrweg geraten
konnte. Zwei Fehler spielen dabei eine Rolle.
a) Die meisten, welche an der Ausbildung dieser Systeme ar­
beiteten, betrachten die Freiheit vom Gesetj irrtümlich als ein
Gut, aber sie ist das Gegenteil. Ein Gut ist die sittliche Handlung
und die Erkenntnis, daß diese indirekt auch die nütjlichste ist. Es
verhält sich auch beim Urteil und seiner Bindung an die logi­
schen Regeln nicht anders. Wie sollte da Freiheit ein Gut sein,
wäre sie doch Freiheit zum Unsinn!
ist vom Prinzip des höchsten praktischen Gutes auszugehen 329

b) Der zweite Fehler war der, daß man dabei nicht von dem
sittlichen Grundgesetz dem Satj des höchsten praktischen Gutes,
ausgegangen ist, sondern mit einer ursprünglichen Vielheit von
Vorschriften gerechnet hat, indem man positive Gesetze, staat­
liche, kirchliche, religiöse behandelte, als wären sie letjte Gesetze.
Ein solches Gesetj kann schlecht formuliert sein, so daß es unter
gewissen Umständen statt zur Wohltat zur Plage wird. Dann
ist natürlich Befreiung davon wünschenswert. Aber bei einem
echten logischen oder ethischen Gesetj ist das ein Ungedanke.
Übrigens hat die Wahrheit selbst zu Korrekturen an diesen
Systemen genötigt und Eklektiker aufkommen lassen, die sich
aus jedem das heraussuchten, was ihnen brauchbar schien, wobei
sie der Tragweite falscher Entscheidungen Rechnung trugen.
Auch päpstliche Entscheidungen haben da eingegriffen und sind
mit Weisheit gefällt worden, wie es denn überhaupt die Stärke
Roms gegenüber der orientalischen Kirche ausmacht, daß seine
Entscheidungen sich nicht auf spekulative Grundsätje festlegten,
sondern auf die Abwehr extravaganter Folgesätje beschränkten.
FÜNFTER ABSCHNITT

VON DEN SITTLICHEN VORSCHRIFTEN


IM EINZELNEN
I. Kapitel

Vom Werte der sittlichen Vorschriften


von mittlerer Allgemeinheit

j 101. Unmöglichkeit individueller Vonchrltten

Wir haben eine Vorschrift, die allgemein gilt, kennengelernt,


eine solche für das ganze Gebiet unseres Handelns: Das Beste
des weitesten unserer Einwirkung zugänglichen Kreises niemals
nachzuse^en, ja aktuell oder virtuell uns immer von der Rück­
sicht auf dieses höchste praktische Gut leiten zu lassen. Wir
haben auch bereits bemerkt, daß noch andere Vorschriften be­
stehen, von geringerer Allgemeinheit, ja, ganz individuelle für
den einzelnen Fall.
Diese Vorschriften ergeben sich aus der Verschiedenheit der
Umstände, worin ich mich befinde, denn je nach diesen ist bald
diese, bald jene Handlungsweise dem Besten des weitesten
Kreises dienlich. Aber diese individuellen Regeln kann, wie schon
gesagt, die Ethik nicht geben. Ein Buch, das sie umfaßte, müßte
größer sein als die größte Bibliothek. Auf solche Individuali­
sierung muß die Ethik also verzichten, sie kann sich aber doch
auch wiederum nicht an jener einen und allgemeinsten Regel
genügen lassen, so daß dem Handelnden in jedem einzelnen
Falle die ganze Arbeit der Ableitung der individuellen Vor­
schrift aus jener überlassen bliebe.
334 Regeln von mittlerer Allgemeinheit

§ 102. Von der Kasuistik

Allerdings wird dem einen diese Ableitung leichter, dem an­


deren schwerer fallen, und für das Gelingen wird der Grad der
Übung darin von wesentlicher Bedeutung sein. Darum hat man
in den Moralsdiulen Wert darauf gelegt, die Schüler in dem
Geschäfte dieser Ableitung durch die sog. Kasuistik zu üben. Es
gibt eine ethische und eine juristische Kasuistik und beide sind
nützlich, haben aber auch ihre Gefahren. Manche bilden sich ein,
es sei dadurch die Wirklichkeit zu erschöpfen und, hierauf sich
verlassend, sind sie geneigt, wenn ein neuer Fall, von einer ge­
wissen Ähnlichkeit mit früheren, vorliegt, ihn über denselben
Leisten zu schlagen. Um diesem Übelstande zu begegnen, hat man

§ 103. Regeln von mittlerer Allgemeinheit

aufgestellt, abgeleitet aus der allgemeinsten, unter Berücksichti­


gung der am häufigsten maßgebend werdenden Umstände.
Solche Regeln von mittlerer Allgemeinheit werden teils als
Vorschriften für alle, teils als solche für bestimmte Klassen
(Standespflichten) formuliert. Von ausnahmsloser Allgemeinheit
sind aber auch die an alle gerichteten nicht, denn es können
Kollisionen zwischen ihnen sich ergeben, und bei solchen muß
dann der Blick auf die allgemeinste Regel entscheiden. Die
Heilige Schrift bietet schöne Anwendungen davon. Da stehen
einander Jesus und die Pharisäer gegenüber, diese
Kasuisten durch und durch, Jesus aber will von ihren vielen
kleinen Regeln nichts wissen, und wenn sie ihm mit der Frage
kommen: „Darf man am Sabbath dies und jenes tun?“, so ant­
wortet er: „Ist der Mensch da wegen des Sabbathes oder der
Sabbath wegen des Menschen?“ Als man ihn aber einmal ge­
radezu um das höchste Gebot befragte, gab er zur Antwort:
„Liebe Gott über alles und den Nächsten wie dich selbst! An
diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetj.“
können modifiziert werden 335

J 104. Wert dieser Regeln von mittlerer Allgemeinheit

Die Rücksicht auf das allgemeine Beste beschränkt den Wert


der einzelnen Regel, hebt ihn aber nicht auf. Weil die Regel für
die Mehrzahl der Fälle richtig ist, werde ich, wenn ich mich nach
ihr richte, in der Mehrzahl der Fälle richtig verfahren, auch
wenn es mir an der Zeit dafür fehlt, das unter den gegebenen
Umständen erreichbare Beste zu untersuchen. Für den Fall der
Kollision selbst aber und wo ich noch Zeit habe, Überlegungen
anzustellen, wird mir die Arbeit durch den Besitj solcher Regeln
mittlerer Allgemeinheit vereinfacht. Es obliegt mir dann oft nur
mehr, wenige Rücksichten vergleichend in Betracht zu ziehen.
n. Kapitel

Von .der hergebrachten Einteilung der sittlichen Gebote

f 105. Die bemerkenswertesten der hergebrachten Grundeintellnngen

Jeder Vorschrift von mittlerer Allgemeinheit entspricht eine


Klasse von Pflichten. Innerhalb dieser bestehen wieder Klassen
von abgestufter Allgemeinheit. Es erwächst die Aufgabe, diese
sachgemäß zu bilden.
Über die Art der Ausführung dieser Aufgabe sind die Ethiker
nicht einig. Einige Beispiele:
Das älteste Schema für die Klassifikation der Pflichten ist das
der vier Kardinaltugenden: prudentia, fortitudo, temperantia,
justitia. Sie wurden schon von Platon unterschieden und seiner
praktischen Ethik und Staatslehre zugrunde gelegt. Später hat
die Kirche diese Einteilung übernommen und auch manche Philo­
sophen, wie z. B. Alexander Bain. Die neueren christ­
lichen Moralisten halten sich an die Einteilung: Pflichten gegen
Gott, gegen andere, gegen sich selbst. Manche, insbesondere
theologische Moralisten, legen die zehn Gebote, den mosaischen
Dekalog, zugrunde.
Was die an erster Stelle erwähnte Einteilung betrifft, so han­
delt es sich dabei zunächst um eine solche der Tugenden,
wobei stillschweigend vorausgesetzt wird, daß die Einteilung der
Pflichten der der Tugenden, d. h. der guten Dispositionen, ent­
sprechen müsse, was aber von vornherein keineswegs sicher ist,
ja bei näherer Überlegung sich uns geradezu als falsch heraus­
stellen wird. Aber Tugenden sind ethische Dispositionen, dort
sich bewährend, wo starke Gegenmotive (Versuchungen) vorhan­
den sind. Aber Pflichten müssen nicht immer auf Gegenmotive
Die wichtigsten Grundeinteilungen 337

stoßen. Kant hat dies wohl gemeint, indem er annahm, daß


pflichtgemäßes Handeln immer mit Schwierigkeiten verbunden
sei. Es kann aber pflichtgemäßes Handeln gewiß auch von vorn­
herein freudig erfolgen.41
Anders verhält es sich mit der zweiten Einteilung, doch hat
man auch gegen sie Bedenken erhoben, nämlich gegen das erste
Glied und wohl nicht ohne Grund. Hat man wirklich Pflichten
gegen Gott im selben Sinne wie gegen sich selbst und gegen
andere? Etwa die Pflicht, Gott nicht zu schädigen, Gott zu för­
dern? Beides ist ein Ungedanke. Gott kann weder Gutes noch
Böses widerfahren. Es fehlt also die rechte Koordination der
Einteilungsglieder.
Sagt man, es sei Pflicht, Gott zu lieben, Gott zu ehren, so ist
dies nicht eine Pflicht gegen ihn in dem erläuterten Sinne, son­
dern eher eine solche gegen uns selbst, da ja die richtige Liebe
und Bevorzugung und so denn auch die Liebe zu Gott als dem
höchsten Gute Güter sind, die in unserer Seele selbst verwirk­
licht werden. Gott ist für uns kein praktisches Gut, wohl aber
ist ein solches die Liebe zu Gott, die über alles andere zu gehen
hat. Diese ist Pflicht, aber sie ist nicht eine Pflicht gegen Gott.
Auch könne man von der Bezeigung der Ehrfurcht gegen Gott,
von Lobpreisung seiner Vollkommenheit, von der Vermeidung
unehrerbietiger Reden über Gott, von der Verbreitung der Er­
kenntnis von ihm sagen, sie seien nicht nur Pflichten gegen uns
selbst, sondern zugleich auch gegen den Nebenmenschen, indem
dieser durch ein dieser Pflicht gemäßes Verhalten dazu geführt
wird, edle Gefühle in bezug auf das höchste und liebenswerteste
Wesen zu hegen.
Die beiden Endglieder der angeführten Einteilung hat auch
Jeremias Bentham in seiner Klassifikation der Pflichten
festgehalten. Er unterscheidet:
a) Pflichten gegen sich selbst, insofern die Glückseligkeit eines
jeden von seinem eigenen Betragen abhängt. Ihnen entspricht die
Tugend der Klugheit (prudentia);
b) gegen andere, insofern ein anderer durch mein Verhalten
in seinen Interessen affiziert, gefördert oder geschädigt wird.
Dieses Glück des Nächsten kann auf zweifache Weise berück­
338 Einteilung der sittlichen Gebote,

sichtigt werden: negativ, indem ich vermeide, es zu beeinträchti­


gen (Rechtschaffenheit): positiv, indem ich strebe, es zu fördern
(Wohltätigkeit im weitesten Sinne des Wortes). Beides zusam­
men können wir als die Tugend der Gerechtigkeit — justitia —
bezeichnen.
Auch bei B e n t h a m findet sich also eine Koordination von
Pflichten und Tugenden, doch, da die Pflichten hier für die
Tugenden maßgebend gemacht werden, ist dies für unsere Frage
nicht so störend.
Auch gegen Tiere haben wir Pflichten. B e n t h a m subsumiert
sie seiner zweiten Klasse, während andere diese als eine beson­
dere Klasse von Pflichten unterschieden haben. Pierrejanet
z. B., der auch am Begriff „Pflicht gegen Gott“ festhält, kommt
so zu einer viergliedrigen Einteilung.
Die Untereinteilung B e n t h a m s ist offenbar eine solche in
Gebote und Verbote. Diese finden wir auch bei anderen, und
manche stellen sie an die Spitje.
Versuche zur Klassifikation der Pflichten sind noch mannig­
fache gemacht worden, aber um eine wirklich rationelle Eintei­
lung hat sich unter den wissenschaftlichen Ethikem wohl keiner
so ernstlich bemüht wie B e n t h a m. Er hatte dabei Zwecke der
Jurisprudenz im Auge. Reine Philosophen sind der Frage meist
ganz aus dem Wege gegangen, als handle es sich dabei nicht um
eine eines Philosophen würdige Aufgabe. Ausnahmen machen in
neuerer Zeit etwa Locke, Leibniz, Mill, aber diese waren
ja alle zugleich Politiker, und von ihren Vorgängern im Alter­
tum, Platon und Aristoteles, gilt dasselbe.
B e n t h a m macht auf die Korrelativität von Vorschrift und
Delikt aufmerksam und gibt die Vorschriften in der Klassifika­
tion der Delikte.42
Auch ihm gilt das Beste des weitesten Kreises als das letjte
Prinzip. Doch wirkt die ihm eigentümliche Fassung (größtmög­
liches Maß von Lust mit dem geringsten von Schmerz) dieses
Besten beeinträchtigend auf seine Klassifikation ein.
Da wo er am eingehendsten von der Sache handelt, denkt er
als den weitesten Kreis den Staat, dessen Wohl die Gesetjgebung
zu dienen hat. Auch das entspricht nicht ganz dem Zweck einer
Einteilung der Delikte nach Bentham 339
Klassifikation, die an unserem Grundprinzip orientiert wäre,
doch stört es nicht erheblich, weil der Staat nach Benthams
Forderung dem Wohle aller gewidmet sein soll. Nichts kann der
Gemeinschaft schaden oder nütyen, was nicht einem oder mehre­
ren Individuen in dieser Gemeinschaft Nutjen oder Schaden
brächte. Das mag ein banaler Gedanke scheinen, aber es tut ge­
rade heute wieder not, ihn auszusprechen, denn es fehlt nicht an
solchen, die Staat und Individuen trennen wollen, indem sie den
Staat wie einen eigenen Organismus ansehen, wie ein Überding,
das sein besonderes, außerhalb des Glücks der einzelnen ge­
legenes Wohl und Wehe habe.
Die durch ein Delikt geschädigten Individuen sind entweder
angebbar oder nicht angebbar.
Wenn sie angebbar sind, so ist das geschädigte Individuum
entweder der Delinquent selber oder irgendein anderer.
Wenn sie nicht angebbar sind, so befinden sie sich entweder
innerhalb eines bestimmten Kreises im Staate eingeschlossen, sie
sind in einer gewissen Stellung, gehören einem bestimmten Be­
rufe oder einem gewissen Distrikt an; oder aber sie sind ohne
eine solche speziellere Zugehörigkeit nur ganz unbestimmt unter
den Individuen, welche den Staat Zusammensein, verbreitet.
Diese Disjunktion ist vollständig und ergibt
vier Klassen von Delikten:
1. Privatdelikte, d. h. solche, die in erster Instanz angebbare
Individuen betreffen, verschieden vom Delinquenten.
2. Persönliche Delikte oder Delikte gegen sich selbst. Das sind
Akte, die in erster Instanz den Delinquenten selbst schädigen und
keinen anderen, außer eben in Konsequenz des Übels, das er sich
selbst zufügt. (Ein Familienvater ruiniert durch Exzesse gegen
die eigene Gesundheit vielleicht auch seine Familie.)
3. Halböffentliche Delikte, das sind solche, welche Personen
schädigen können, die nicht angebbar sind, aber eingeschlossen
in einen kleineren Kreis als den Staat, wie z. B. in einer Han­
delsgesellschaft, einer religiösen Gemeinde. Das Delikt richtet
sich also gegen einen Teil der Gemeinschaft.
4. Delikte, welche eine unbestimmte Zahl nicht angebbarer
340 Untereinteilung der Delikte

Individuen schädigen oder mit mehr oder minder großer Gefahr


bedrohen, ohne daß einer mehr als ein anderer zunächst dieser
Gefahr ausgesetjt scheint. Das sind die öffentlichen Delikte oder
Delikte gegen den Staat.
Untereinteilung
Diese viergliedrige Einteilung kreuzt sich mit einer anderen
vier- (bzw. sechsgliedrigen) Einteilung, indem Bentham die
Delikte auch nach den Momenten unterscheidet, in bezug auf
welche die Personen Schaden leiden. Das Glück der Menschen ist
ja mehrfach bedingt. Es hängt ab vom Zustande der Person und
von den äußeren Objekten, die sie umgeben. Daher sind zweierlei
Schädigungen möglich: Es kann einer durch ein Delikt leiden,
indem er in seiner Person verlebt wird oder indem er in
etwas geschädigt wird, wozu er in bestimmten Beziehungen steht.
Das sind entweder Sachen oder selbst wieder Personen,
Sachen, von denen er als seinem Eigentum Gebrauch macht,
Personen, von denen er Vorteile zieht, weil sie ihm gewisse
Dienste zu leisten bereit sind.
Diese Dienstbereitschaft kann verschiedene Gründe haben. Sie
gründet sich entweder einfach auf die allgemeinen Bande,
welche die Menschen verbinden, oder auf solche, die mehr im
Besonderen gewisse Individuen einander nahebringen.
Diese engeren Verbindungen bilden eine Art fiktiven und un­
körperlichen Eigentums, das man Kondition nennt. (Stellung zum
Gatten, Kind, Angestellten, Berufskollegen, Parteigenossen etc.)
Was die auf die allgemeine Verbindung unter den Menschen
gegründete Bereitschaft, einander Dienste zu leisten, betrifft, so
ist sie das, was man Wohlwollen nennt. Sie ist eine Gunst
und die Chance, sie zu erlangen, bildet ebenfalls eine Art fik­
tives Eigentum, nämlich die sog. Ehre (Reputation). Sie ist so­
zusagen ein Kapital, eine Gewähr, freie und unentgeltliche
Dienste, die vom Wohlwollen abhängen, zu erlangen.
Ein Mensch kann nur geschädigt werden durch Akte, die ihn
in einem der vier angegebenen Punkte affizieren, woraus sich
vier Arten von Privatdelikten, ja, unter Zuzählung gewisser
komplexer Fälle sechs ergeben: 1. Delikte gegen die Person,
nach Bentham 341
2. gegen das Eigentum, 3. gegen die Kondition, 4. gegen die
Reputation, 5. gegen Person und Eigentum, 6. gegen Person und
Reputation. (Als einfaches Delikt gilt ein solches, das ein Indi­
viduum nur in einer der genannten Beziehungen schädigt.)
Diese sechs Klassen kombinieren sich nun mit der vorher ge­
nannten viergliedrigen Einteilung in der Weise, daß jede der
vier ersten sechs Unterabteilungen erhält. (So kann z. B. ein
Verbrechen, durch das sich der Täter selbst ein Übel zufügt, ihn
in seiner Person, seinem Eigentum, seinem guten Rufe, seiner
Lebensstellung schädigen.)
Ich verfolge die Klassifikation Benthams aber hier nicht
weiter in ihre mit Sorgfalt ausgesponnenen Einzelheiten, denn
so gut sie auch den Bedürfnissen der Juristen entsprechen mag,
so läßt sie doch für den Ethiker manches zu wünschen übrig.
Abgesehen von den schon berührten Momenten ist es das Fehlen
eines aus unserem Grundprinzip sich ergebenden Einteilungs­
grundes, was mich hindert, sie für die Pflichtenlehre maßgebend
zu machen, und dazu nötigt, nach einem neuen Gesichtspunkte
eine solche Klassifikation zu versuchen.
III. Kapitel

Von der Verschiedenheit der Vorschriften


bei grundverschiedener Lage des Handelnden

$ 106. Prinzip der Klassifikation der Vorschriften

1. Die wichtigste Frage bei einer Klassifikation ist die nach


dem Einteilungsprinzip. Alles kommt auf den Zweck an, den
man dabei verfolgt. Der Zoologe zählt den Walfisch zu den
Säugetieren, der Gesetzgeber für Jagd und Fischfang zu den
Fischen.
Spricht man vom Zwecke einer Klassifikation der Pflichten, so
kann man dabei einen entfernteren oder näheren im Auge
haben. Jener ist die Förderung des höchsten praktischen Gutes,
dieser liegt darin, aus dem Gedanken an das höchste praktische
Gut, aus der obersten Regel, daß dieses zu fördern sei, das für
einen gegebenen Fall passende Verhalten abzuleiten. Diese Ab­
leitung soll abgekürzt und gesichert werden.
Wie würde man sich das Urteil zu bilden haben, wenn man
dabei allein auf jene allgemeinste Regel angewiesen wäre? Man
müßte einen Überblick über das zu gewinnen trachten, was zu
wirken unmittelbar oder mittelbar in unserer Macht liegt, und
die Ergebnisse, soweit sie sich überschauen lassen, ihrem Werte
nach miteinander vergleichen. Jenes Verhalten, das die besten
Ergebnisse erwarten läßt, ist dann für den gegebenen Fall das
höchste praktische Gut, der richtige Zweck, und das, was dazu
führt, das richtige Mittel. (Dabei ist natürlich auch das Maß der
Sicherheit, mit der die Resultate zu erwarten sind, als Faktor
in Rechnung zu stellen.)
2. Die Aufgabe, diese Ableitung zu verkürzen, deckt sich mit
Verschiedene Verfügungssphären 343
der, Vorschriften ausfindig zu machen, die immer oder doch in
den meisten Fällen das Urteil vor grober Täuschung be­
wahren. Der beste Weg dazu scheint mir: Man lege sich die
Hauptunterschiede zurecht zwischen den Fällen, wo wir in die
Lage kommen, eine Entscheidung treffen zu müssen, d. h. man
unterscheide die Fälle, wo die Sphäre unseres Einflusses eine
wesentlich verschiedene ist, womit dann eben auch das höchste
praktische Gut ein anderes wird.
Wesentlich verschieden, sage ich, d. h. nicht so, daß dieselbe
Sphäre, die in einer bestimmten Weise zu berücksichtigen ist,
bald in kleinerer, bald in größerer Ausdehnung in Betracht
komme, sondern so, daß es sich immer um eine neue Sphäre
handle, die in einer neuen Weise zu berücksichtigen ist und in­
direkt auch eine veränderte Berücksichtigung der anderen er­
heischt. (Beispiel: Das Leben eines Robinson, verglichen mit dem
in der Gesellschaft.)
3. Unter diesem Gesichtspunkte sind nun fünf Klassen von
Fällen denkbar:
I. Die Sphäre, in welcher Gutes und Schlechtes von uns be­
wirkt werden kann, reicht nicht über den Handelnden selbst, und
zwar nicht über dessen eigene Gegenwart hinaus.
II. Die Sphäre bleibt in gleicher Weise vereinzelt, doch kommt
auch schon die eigene Zukunft in Betracht.
III. Es gilt, auch noch die Zukunft anderer zu berück­
sichtigen.
IV. Es handelt sich auch um die Gegenwart an­
derer, und zwar unvernünftiger oder doch
minder zurechnungsfähiger Wesen (Tiere,
Kinder).
V. Die Sphäre meines Einflusses ist eine Gesellschaft
vernünftiger Wesen. Dieser Fall ist allein wirklich,
aber er ist so kompliziert, daß er einer Analyse bedarf, damit
wir in die Lage verseht werden, alle Rücksichten zu überschauen
und in ihrem Gewichte abzuschätjen. Diese Analyse wird am
besten durch die Fiktion, daß der wirkliche Fall sich aus solchen
einfachen zusammensetje, geleistet. Wir bedienen uns, indem wir
dieses Verfahren einschlagen, einer ganz ähnlichen Methode, wie
344 Analyse der verschiedenen

auch der Physiker, Physiologe, Nationalökonom sie anwenden,


um der komplizierten Wirklichkeit Herr zu werden.
4. Betrachten wir jeden der fünf Fälle für sich.
I. Fall. Die Methode verlangt, mit ihm zu beginnen. Er bietet
keine Schwierigkeiten, da hier keine Mehrheit von Wirkungs­
sphären in Betracht kommt, sondern bloß die Gegenwart des
Handelnden. Die Güter, die hier realisierbar sind, liegen nur
im eigenen Innern. Es kommt also offenbar darauf an, eine edle
augenblickliche Tätigkeit zu üben. Die edelste ist aber, wie schon
Aristoteles gesagt hat, die Erhebung zu Gott in Erkenntnis
und Liebe. Der Gedanke, daß die Welt nicht dem Zufall und
blinden materiellen Kräften, sondern unendlicher Einsicht und
Liebe ihr Dasein verdankt und von dieser göttlichen Liebe und
Weisheit zu höheren und höheren Zielen geführt wird, erfüllt
die Seele mit einem Glücke, das der Seligkeit Gottes am meisten
verwandt ist.
II. Fall. Der zweite Fall liegt schon bedeutend komplizierter.
Mit der Rücksicht auf die eigene Gegenwart soll sich jetjt auch
die auf die eigene Zukunft verbinden. Unter „Gegenwart“ ist
hier die Zeit bis zur nächsten Selbstbestimmung in aktueller Be-
dachtnahme auf das höchste praktische Gut zu verstehen. Dieses
setjt sich aus Teilgütern zusammen, die der Gegenwart und Zu­
kunft angehören. Ich habe für die eine und andere zu sorgen,
aber in verschiedener Weise. In betreff der Zukunft ist eine
gewisse Zurückhaltung geboten, gegen die freilich viel gefehlt
wird. Doch ist natürlich auch positive Fürsorge zu treffen,
die wiederum teils eine persönliche ist, teils sich auf die um­
gebenden Verhältnisse bezieht.
1. Was die persönliche Fürsorge anlangt, so ist sie wieder
doppelter Art:
a) für unser Inneres, d. h. für unsere psychischen Dispositionen
und Fertigkeiten, seien es höhere, wie ästhetische, wissenschaft­
liche, ethische, seien es niedere, wie Gedächtnis, Affekte, Sinnes-
schärfe;
b) für unser Äußeres, d. h. für das leibliche Leben, seine Ge­
sundheit, Körperkraft, physische Geschicklichkeit.
2. Fürsorge in Anbetracht der umgebenden Verhältnisse, des
Verfügungssphären 345
Bestes an Lebensmitteln, Werkzeugen und Hilfsmitteln zur Er­
leichterung und Verschönerung des Lebens und zu freudiger,
edler Tätigkeit.
In gewissem Umfang wird diese Fürsorge auch auf die Be­
seitigung von Gefahren und Hemmnissen gerichtet sein können,
doch ist hier Vorsicht am Platj, damit nicht die Pflicht der Zu­
rückhaltung verlebt werde. Es mag einer, dem in der Fremde
ein Bild, das er von der Heimat besitzt, die Seele zu sehr mit
Heimweh erfüllt, das Bild vernichten, um sich gegen solche
Regungen zu stählen, aber es wäre gefehlt, sich geradezu den
Rückweg abzuschneiden, ehe der Erfolg des Bleibens gesichert
ist. So wird es auch für jenen, der sich des Bildes entledigt hat,
noch andere, weniger entnervende Möglichkeiten geben, die Ein­
drücke der Heimat vor völligem Verwischen zu bewahren.
Betreffs der Gegenwart ist keine Zurückhaltung geboten. Ihre
Güter sind aber nur so weit zu fördern, als dies nicht in Kolli­
sion mit der überwiegenden Rücksicht auf die Zukunft bringt.
Eben darum kommt jeweils mehr das Nü^liche als das in sich
Gute in Betracht, doch läßt sich beides in gewissem Maße leicht
vereinigen, denn die ethische Fürsorge ist selbst ein Gutes und
ebenso andere wohlgeordnete psychische Betätigungen, so wie
andererseits die edle Tätigkeit selbst wieder ein Mittel der Aus­
bildung guter Dispositionen für die Zukunft ist.
III. Fall. Eine weitere Komplikation bringt der dritte Fall.
Eine neue Sphäre ist zu berücksichtigen, außer meiner eigenen
Zukunft und Gegenwart auch die Zukunft anderer lebender
Wesen. Die Anpassung dieses Falles ist leicht. Die fremde Zu­
kunft ist wie die eigene in Betracht zu ziehen, nur stehen der
Sorge für diese mehr Mittel zu Gebote als für jene (z. B. Übung,
innere Dispositionen etc.). Darum besteht meine Aufgabe vor
allem darin, für mich selbst zu sorgen und innerhalb dieser
Sphäre wieder besonders auf die eigene Zukunft bedacht zu sein.
Wenn nun aber schon dieser gegenüber Zurückhaltung geboten
ist, so noch mehr gegenüber der fremden Sphäre. Mit größter
Achtsamkeit hat man sich vor indiskreten Eingriffen, auch bei
wohlwollender Fürsorge für andere, zu hüten. Eltern sündigen
dagegen, wenn sie in ihre eigenen Pläne ungefragt und selbst­
346 Analyse der verschiedenen

herrlich das Glück ihrer Kinder als Rechnungsfaktor einstellen,


insbesondere bei der Berufs- und Gattenwahl. Sie sollen sich da­
bei auf die Rolle natürlicher Berater beschränken,
IV. Fall. Der vierte Fall vermehrt die Komplikation noch
durch die Einbeziehung der Gegenwart fremder Wesen, wenn
auch nur vernunftloser und solcher, die nur geringen Anteil an
der Vernunft haben (Tiere, kleine Kinder, sittlich Unzurech­
nungsfähige).
Was die Tiere betrifft, so kommen sie sowohl in Hinsicht auf
meinen als auf ihren Vorteil in Betracht. In jener Beziehung
sind sie wie leblose Wesen zu behandeln. Ich meide die mir von
ihnen drohende Gefahr, ich benutje sie als Mittel zu meiner
Wohlfahrt. So stehe ich ihnen als Herr gegenüber. Sie sind aber
lebende Wesen, mit Empfindung begabt und darum Träger
eigentlicher Güter. So bin ich zugleich ihr Vormund, und auch
hier ist mir einige Zurückhaltung geboten. Trotj meines über­
legenen Verstandes vermag ich doch nicht durchwegs ausreichend
zu erkennen, was ihnen Lust und Unlust bereiten mag.
Von noch größerer Bedeutung ist der Fall, wo Kinder in Be­
tracht kommen. Von ihnen habe ich für meinen Vorteil nichts
zu fürchten, umgekehrt liegt die Gefahr vor, daß sie ausgebeutet
werden. So durch verfrühten Arbeitszwang. Die Not der Eltern,
die Gewinnsucht der Unternehmer hat früher einmal in manchen
Ländern Zustände geschaffen, wo schon fünfjährige Kinder ins
Joch mühseliger Arbeit gespannt waren. In Fabriken, ja in
Kohlengruben wurden sie verwendet, zusammengekoppelt wie
Tiere, und ihre Ausbeuter waren Leute, die sich sonntags an
der Bibel erbauten. Je weiter vom vollen Vernunftgebrauche
entfernt, um so mehr bedürfen die Kinder vormundschaftlicher
Fürsorge der Erwachsenen. Denn wenn sie auch jetjt relativ un­
zurechnungsfähig sind, so werden sie doch später die gleiche
Stufe erreichen wie meine gegenwärtige, und heute schon läßt
sich dafür manche günstige Disposition bilden. So gilt es denn,
ihnen alles fernzuhalten, was ihre Entwicklung hemmen und
hindern könnte.
Immerhin ist auch hier der Fehler des Zuviel nicht selten.
Dem Bilden steht das Verbilden, dem Meistern das Hofmeistern
Verfügungssphären 347

gegenüber. So ist ihnen gegenüber wiederum Ähnliches geboten


wie den Tieren gegenüber. Wir dürfen sie nicht an unserem
Maße messen, ihnen nicht Bequemlichkeiten aufzwingen, die
ihnen gar nicht frommen usw.
So öffnet sich denn schon hier, wo es sich um Tiere und Kinder
handelt, ein Bereich, innerhalb dessen nicht ich frei zu verfügen
habe, sondern andere: eine Sphäre fremden Eigentums
(in einem dem üblichen gegenüber erweiterten Sinne genommen),
und doch ist dies nur erst ein schwacher Schatten von dem, was
im letzten noch übrigen Falle eintritt.
V. Fall, Mit dem Auftreten fremder vernünftiger, zurech­
nungsfähiger Wesen bekommt mein Handeln nicht bloß neue
Objekte, sondern es verändert sich meine Stellung innerhalb der
bisherigen Machtsphäre vollständig. Es fällt ja fast nichts in
diese, was nicht auch dem Einfluß anderer vernünftiger Wesen
unterworfen wäre. Wo ich nach der früheren Voraussetzung aus­
schließlicher Herr und Gebieter war, erheben nun andere ähn­
liche Ansprüche. Was mir allein eigen war, habe ich nun mit
anderen gemein. Wenn mehrere Personen ein Ding in verschie­
dener Absicht gebrauchen wollen, hindert einer den anderen im
Gebrauche. Bleibt jeder hartnäckig bei seinem Willen, so erhebt
sich Streit, es kommt zum Kampf, der beiden Opfer und Leiden
auferlegt. Ohne jede Ordnung der Machtsphären müßte ein
Krieg aller gegen alle toben, wie H o b b e s sich das Bild aus­
gemalt hat. Dieser Streit würde aber bald wesentlich gemildert,
ja ganz zum Verschwinden gebracht, wenn jeder, der über die
Sache verfügen will, bei dieser Verfügung das höchste praktische
Gut im Auge hätte, denn jeder müßte dann erkennen, daß er
diesem durch eine gewisse Zurückhaltung viel besser dient. Aber
wovon zurückhalten und wovon nicht?
Schon die früheren Fälle haben uns eine gewisse Teilung der
Verfügungssphären als das Natürliche, durch die Vernunft Ge­
forderte erkennen lassen. So führt denn Reflexion auch hier zur
Einsicht, daß dies und jenes von den anderen besser verwaltet
wird als von mir selber. So ergibt sich ohne weiteres der Zu­
stand als der beste, wo jeder über seine eigene Person selbstän­
dig verfügt, weil er ja am besten in der Lage ist, dafür zu
348 Teilung der Verfügungssphären von der Natur gefordert

sorgen. Er hat das Imperium des Willens über seine Glieder.


Er hat von sich selbst am besten Kenntnis. Kenntnis aber ist
eine Quelle des Interesses. Sogar das Schicksal eines Fein­
des berührt uns mehr als das eines ganz Fremden. Ein instink­
tives Streben begünstigt diese Selbstsorge und wird bald durch
die Macht der Gewohnheit noch verstärkt.
Ebenso wird jedem die Fürsorge für seine Ernährung zu über­
lassen sein. Und wiederum erweist es sich als dem allgemeinen
Besten am ersprießlichsten, daß einer den Landstrich, den er als
herrenloses Gut vorgefunden hat, als sein Eigentum behalte.
So läßt denn schon die Rücksicht auf das höchste praktische
Gut die Abgrenzung von Verfügungssphären berechtigt erschei­
nen, auch ohne positives Gesetj und ohne äußeren Zwang. Wo
keine solche Abgrenzung eintritt, da gibt es ein gesellschaftliches
Chaos, ungleich schlimmer als die Vereinzelung eines Robinson-
Daseins. Wo aber diese Rücksicht herrscht, da führt sie un­
weigerlich zur Einsicht, daß jedem etwas in besonderer Weise
zugehören müsse, als Eigentum im weitesten, nicht bloß äußere
Güter umfassenden Sinne.
IV. Kapitel

Von den Rechts- und Liebespflichten

f 107. Naturrecht und positives Recht

1. In einer aus vernünftigen Wesen bestehenden Gesellschaft


könnte jeder aus sich selbst, durch bloße Überlegung, zu der am
Schlüsse des vorigen Kapitels ausgesprochenen Erkenntnis kom­
men. Es bedürfte dazu nicht einmal einer Verständigung zwi­
schen den einzelnen, obwohl in Wirklichkeit ein Zustand, wo
zwischen diesen eine gegenseitige Mitteilung unmöglich wäre,
nicht vorkommt. Auch ohne eine solche könnte die Überlegung
auf jeder Seite zu der Einsicht führen, daß über dieses Gebiet
besser dieser, über jenes jener verfüge. Wir hätten dann e:_
Zustand bloßen Naturrechtes ohne positives Recht, eine men«,
durch positive Rechtssatjung geschaffene Eigentumsordnung im
weitesten Sinne. Es ist gar nicht nötig, auf angeborene Begriffe
oder Grundsätje zu rekurrieren, um ein Naturrecht gelten zu
lassen. Denn ein solches wäre vielmehr zu definieren als die sich
aus bloßer ethischer Erwägung als zweckmäßig ergebende Tei­
lung der Verfügungssphären. (Die Art, wie die römischen Ju­
risten es definieren — jus, quod natura omnia animalia docuit —,
hat nicht eben den Vorzug der Klarheit.)
2. Es ist aber der Fall, den wir uns ausgedacht haben, nicht
der der Wirklichkeit. In Wahrheit lassen sich nicht alle Menschen
bei der Verfügung über die Dinge von der Rücksicht auf das
höchste praktische Gut leiten. Und selbst wenn sie dies wollten,
hätten doch nicht alle genügend Einsicht, die Verfügungs­
sphären so abzugrenzen, wie es dem allgemeinen Besten am
dienlichsten ist. So wäre auch bei gutem Willen Dissens unver­
350 Stufen

meidlich. (Man denke z. B. an die verschiedenen Möglichkeiten


des Erbrechtes.) Um dies zu vermeiden, bedarf es einer positiven
Determination durch irgendwelche Verständigung und Überein­
kunft, mit der Verpflichtung, sich daran zu halten.
So werden die Nachteile, die durch das Zusammensein mit
anderen erwachsen, behoben, ja mehr noch, in einen überwie­
genden Vorteil verwandelt. Die Determination durch gegen­
seitiges Übereinkommen hat nicht bloß die Scheidelinie, die
früher nur in einer bestimmten Breite gegeben war, jetjt schärfer
gezogen, sondern es ist dank der Mitteilung der gegenseitigen
Absichten auch ein gegenseitiges Abtreten von Gebieten möglich
geworden, die sonst auf die andere Seite fallen würden. Man
sagt einander gegenseitig Leistungen zu, vereinigt sich zu Unter­
nehmungen, denen der einzelne nicht gewachsen wäre. Solche
Vereinigung zu einheitlicher Zusammenarbeit bedeutet einen
gewaltigen Zuschuß an Kraft.
Der hier geschilderte Zustand ist der des positiven Rechtes
(das wir uns zunächst ohne Sicherung durch Gewalt, mit rein
sittlicher Sanktion denken können). Es ist also das Naturrecht
selbst, das ein positives Recht verlangt und die Heilighaltung
seiner der Natur gemäßen Satzungen befiehlt. Der Mangel solcher
positiver Rechtssatjungen, die das Naturrecht näher determi­
nieren, wäre ein Fehler gegen das Naturrecht selbst.
3. Aber die Sittlichkeit leitet nicht ausschließlich unser Handeln,
mannigfache Motive führen vom richtigen Wege ab, und darum
tut nicht nur eine größere Bestimmtheit der Eigentumsgesetje
not, sondern auch eine stärkere Sicherung ihrer Einhaltung. Es
muß darum das positive Recht, namentlich in seinen wichtigeren
Teilen, von einer gewissen Gewalt unterstütjt werden, welche die
Befolgung erzwingt. Das Naturrecht verlangt nicht nur positive
Determination, sondern auch eine Macht, die seine Verlegung
ahndet. So finden wir es tatsächlich. Nicht die innere Sanktion
der natürlichen Neigungen, sondern die äußere sichert das
positive Gesetj.
Es sind somit der Natur der Sache nach drei Stufen der Rechts­
bildung zu unterscheiden:
1. reines Naturrecht,
der Reditsbildung 351
2. positives Recht mit rein sittlicher Sanktion,
3. positives Recht mit äußerer Sanktion.
4. Doch muß ich vor einem Mißverhältnis warnen: Das ist
nicht etwa die geschichtliche Reihenfolge! In unserer Kontrak­
tion sind wir vielmehr von der Veräusserung ethischer Reife
und Einsicht ausgegangen und haben die Momente entwickelt,
aus denen, und die Gesichtspunkte, unter denen sich in einem
ethisch Einsichtigen der positive Rechtsbegriff, wie er tatsächlich
gegeben ist, bilden würde. Die geschichtliche Entwicklung beginnt
aber nicht mit der ethischen Einsicht, sondern mit dem Egoismus.
Dieser schafft zwar Einrichtungen, die denen von der Ethik ge­
forderten irgendwie ähnlich sind, aber der innere Geist ist ein
anderer. Auch der Egoismus führt zu Gebietsteilungen und
klügelt sie oft mit großem juristischem Scharfsinn aus. Die Logik
ist hier meist auf stattlicher Höhe, aber mit der Ethik stehen
diese positiven Sa^ungen oft in Widerspruch. Erst allmählich
greift diese durch. Vom Standpunkte der beati possidentes ist
das römische Recht ein Meisterstück der Logik, die Ethik kommt
darin weniger zu ihrem Rechte. Und übler noch als das Gesetj
ist vielfach die Praxis.
Nur allmählich schreitet der Prozeß der Ethisierung des Rechtes
vor und er ist noch lange nicht zu Ende. Gar vieles im positiven
Rechte ist ein Überbleibsel prämoralischer Einrichtungen, be­
sonders auf dem Gebiete der interstaatlichen Beziehungen stehen
wir erst am Anfang einer sittlichen Rechtsordnung, und selbst
diese schwachen Anfänge begegnen noch starken Widerständen.
Männer, die hier den Anforderungen der Ethik das Wort reden,
schaffen sich schwer Gehör, ja werden angefeindet und verhöhnt
5. Ich möchte nicht unerwähnt lassen, daß ein durch Gewalt
unterstü^tes Recht selbst dann großen Vorteil schafft, wenn es
nicht mit dem Naturrechte im Einklang steht, so daß man auch
dann sagen kann, dieses verlange, daß man dem von ihm ab­
weichenden positiven Recht Folge leiste. Sokrates war so
tief von diesem Gedanken durchdrungen, daß er es im Bewußt­
sein, ungerecht verurteilt zu sein, doch verschmähte zu fliehen.
Freilich hat diese Unterordnung unter das positive Recht ihre
Grenzen. Man kann darin zu weit gehen, und es ist die Frage,
352 Vorteile eines positiven Rechtes

ob Sokrates nicht zu weit gegangen ist. Gewiß, besser


schlechte Gesetje als gar keine, besser eine ungerechte Ordnung
als Anarchie. Das ist es ja, warum die Ethik auch schlechten
Gesetjen zu folgen gebietet und diesen sozusagen eine interimi­
stische Sanktion erteilt; aber es gibt ein Übermaß der Verkehrt­
heit, wo Auflehnung sittlich geboten ist. Es gilt dann das Wort:
Du sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen, d. h. du sollst
der natürlichen Erkenntnis des sittlich Richtigen Gehör geben
und dich dem Unrecht versagen, auch wenn ihm positive Gewalt
zur Seite steht. In solcher Lage kündigt der sittlich Wohlberatene
den Gesetjen den Gehorsam, bis andere an ihre Stelle getreten
sind, die ihn verdienen. Damit möchte ich aber nicht für den
gewaltsamen Widerstand des Revolutionärs, sondern eher für
die passive Unbeugsamkeit des Märtyrers eintreten.

f 108. Reditspfllditen und Liebespfllditen

1. Mit den angestellten Überlegungen haben wir die Grundlage


für die wesentliche Scheidung der Pflichten gewonnen. Es sind
zu unterscheiden:
a) Rechtspflichten, d. h. Pflichten, welche sich auf Mein und
Dein beziehen. Das sind die Pflichten der Heilighaltung der
Grenzen fremder Willenssphären. Spezieller ausgedrückt: Pflich­
ten der Zurückhaltung gegenüber dem, worüber ein anderer zu
verfügen hat, und des Vollzuges von Handlungen, die er von
mir zu fordern hat, wenn er sie fordert.
b) Einfache Liebespflichten (gegen das höchste praktische Gut).
Sie gebieten mir, innerhalb meiner eigenen Rechtssphäre, wo ich
frei von fremden Eingriffen verfügen darf, doch stets dem höch­
sten praktischen Gute gemäß zu verfügen.
Aus dem Gesagten ergeben sich ganz einfache Folgerungen:
a) Niemand kann sich selbst ein Unrecht zufügen. Nur etwa
von etwas Analogem könnte man sprechen, wenn nämlich einer
gegenüber seiner Zukunft ähnlich die schuldige Zurückhaltung
verletjte wie gegenüber einer fremden Rechtssphäre.
A) Volenti non fit injuria. Vielleicht eine Lieblosigkeit, aber
Rechts- und Liebespflichten 353
kein Unrecht. Immerhin mag man hier von einer Analogie zur
Ungerechtigkeit sprechen in Ansehung der Zukunft eines anderen,
insbesondere dann, wenn sich dieser noch in einem minder
zurechnungsfähigen Zustande befindet.
;•’) Gibt es eigentlich kein Unrecht gegen Verstorbene, obwohl
man sich auch gegen solche lieblos verhalten kann. Solche Lieb­
losigkeit gegen Tote mag unsittlich sein, aber eine Ungerechtig­
keit kann man sie nicht nennen. Einen Toten zu verleumden ist
eine Gehässigkeit, eine Ungerechtigkeit kann sie nur etwa gegen
Überlebende sein, die dadurch betroffen werden, denn er selbst
hat ja keine Verfügungssphäre mehr, kein Eigentum.
<5) Es gibt auch keine Ungerechtigkeit gegen Gott, weil es
unmöglich ist, seine Machtsphäre zu alterieren.
2. Die Unterscheidung von Rechts- und Liebespflichten ist
schon alten Datums und in ihrer großen Bedeutung anerkannt.
Doch sind die Begriffsbestimmungen nicht immer so, wie ich sie
hier versucht habe. Manche meinten, Rechtspflichten seien die
durch das positive Gesetj formulierten. Das ist zu eng, da es auch
nichtformulierte gibt, und wiederum zu weit, da manches positive
Gesetj geradezu Unrecht ist, ja vielleicht so sehr, daß es trotj
seiner Gesetzeskraft nicht sittlich verpflichtet (Antigone).
Andere sagen, Rechtspflicht sei, was positives Gesetj sein sollte,
ausgestattet mit einer Strafsanktion gegen die Übertretung.
Richtig ist: was positives Recht sein sollte, ist immer eine Rechts­
pflicht; nicht aber umgekehrt. Mancherlei Rücksichten sprechen
dagegen, alle Rechtspflichten in das positive Gesetj aufzunehmen
oder gar unter Strafandrohung zu stellen. Es ist nicht gut, wenn
die Legislative eine allzu ausgedehnte Macht bekommt. Auch
würde das zu einer unabsehbaren Menge von Strafprozessen und
schließlich, da doch vielen Übertretungen nicht wirksam zu be­
gegnen wäre, zu einer Erschütterung des Ansehens des Gesetjes
führen.43
Andere wiederum meinen, Rechtspflicht sei, was positives Ge-
setj sein und unter Strafsanktion gestellt sein sollte, wenn nicht
die eben angedeuteten Momente dagegen, sprächen. Auch hier wird
also der Wunsch nach Bestrafung zum wesentlichen Kriterium der
Rechtspflicht gegenüber der bloßen Liebespflicht gemacht. Der
354 Rechtspflichten
so gefaßte Begriff mag ja nun wohl als dem der Rechtspflicht
äquivalent gelten, da ja wirklich keine Liebespflicht Gegenstand
des Gesetjes ist, weil nicht dieses, sondern der Eigentümer über
sein Eigentum zu verfügen hat. Audi das ist zuzugeben, daß die
Achtung der fremden Eigentumsgrenzen, soweit dies durchführ­
bar ist, durch wirksame Strafdrohung unterstützt werden soll.
Aber identisch sind die Begriffe doch nicht. Daß hier der Wunsch,
Verlegungen zu ahnden, berechtigt ist, macht nicht die Natur
der Rechtspflicht aus, sondern ist erst eine Folge ihres besonderen
Charakters. Auch fehlt in der angegebenen Bestimmung der
Hinweis darauf, daß immer jemand da sein muß, der durch
Verlegung des Gesetjes in dem, was man sein Recht nennt, be­
einträchtigt wird. Darum haben manche die Bestimmung hinzu­
gefügt: Eine Pflicht, durch deren Verlegung bestimmte Personen
geschädigt werden. Aber es bleibt die Bestimmung immer noch
mangelhaft. Die Merkmale in diesem komplizierten Begriffe sind
zunächst willkürlich zusammengestellt; unsere Fassung dagegen
gibt, wenn ich nicht irre, bei geringerer Komplikation des Be­
griffes von der Verknüpfung der Eigentümlichkeiten mit dem
Wesen der Rechtspflicht vollkommen Rechenschaft.
3. Daß es sich bei den Rechtsgrenzen wesentlich um Verfügungs­
sphären für den einzelnen Willen handelt, haben auch bedeutende
Juristen hervorgehoben. So Windscheid, Arndts u. a.
Arndts definiert das Recht als „Herrschaft des Willens in
Ansehung eines Gegenstandes“, Windscheid als „einen
gewissen Willensinhalt, von dem die Rechtsordnung ausspricht,
daß er allen anderen Willen gegenüber zur Geltung gebracht
werden dürfe“. J h e r i n g hat dies lächerlich zu machen gesucht,
aber in wohlfeiler Weise. Da jene Juristen bloß die Rechts­
pflichten im Auge haben und auf die ethische Frage nicht ein­
gehen, wie und zu welchem Zwecke der einzelne von seiner Ver­
fügungssphäre Gebrauch zu machen habe, hat J h e r i n g ihre
Ansicht so gedeutet, als ob nach ihnen bloß das Wollen als
solches, die Lust an der Willensbetätigung, die Freude des
Eigensinnes der letjte Zweck und das höchste Gut seien, auf das
die Rechtsordnung abziele. „Dieser Auffassung zufolge", heißt
es in Jherings „Geist des römischen Rechtes“ (III., 1), „ist
Rechtspflichten 355
das ganze Privatrecht nur eine Arena für den Willen, sich
darauf zu bewegen und zu üben. Der Wille ist das Organ, durch
welches der Mensch das Recht genießt, und der Rechtsgenuß
besteht darin, daß er die Freude und Herrlichkeit der Macht
empfindet, die Genugtuung hat, einen Willensakt vollzogen, z. B.
eine Hypothek bestellt, eine Klage zediert und damit sich ah
Rechtspersönlichkeit dokumentiert zu haben. Welch ein arm­
seliges Ding wäre es um den Willen, wenn die nüchternen und
niedrigen Regionen des Rechtes das eigentliche Gebiet seiner
Tätigkeit bezeichneten.“ Gewiß, das wäre eine törichte Behaup­
tung; aber wer meint dergleichen? Die hier angegriffenen Rechts­
lehrer hatten bei ihren Bestimmungen doch nur den nächsten
Zweck der Rechtssatjungen im Auge, wenn sie die Abgrenzung
der Verfügungssphären als deren Aufgabe bezeichneten, nicht
aber den lebten und höchsten, der kein anderer ist als das all­
gemeine Beste. Wenn sie es nicht nötig fanden, dies ausdrücklich
hervorzuheben, so haben sie es doch keineswegs geleugnet, und
so kämpfte denn J h e r i n g hier gegen einen Popanz.
Auch wäre, was er an die Stelle setzen will, ein schlechter
Ersatj: „Recht ist die rechtliche Sicherheit des Genusses.“ Nein!
Vielmehr der ungestörten, freien Verfügung des einzelnen zur
Förderung des höchsten praktischen Gutes, des allgemeinen
Besten. Es wäre ein schwerer Irrtum zu glauben, daß das, was
in meine Rechtssphäre fällt, damit einfach meinem Egoismus
überlassen sei. Unrecht ist ja nicht die einzige Form der Un­
sittlichkeit. Auch in meiner Rechtssphäre bin ich nur Verwalter
des mir anvertrauten Machtgebietes und habe mit dem mir über­
lassenen Pfunde zu wirtschaften nicht im Dienste meiner Genuß­
sucht, sondern des höchsten praktischen Gutes. Von diesem, als
der höchten Krone, habe ich mein ganzes persönliches und sach­
liches Eigentum nur zu Lehen. Sie sehen, der größere Fehler
liegt hier auf Seiten des Kritikers, denn während das, was
Arndts und Windscheid vorbringen, nur der Vollstän­
digkeit entbehrt, sind J h e r i n g s Aufstellungen geradezu
falsch.
356 Rechtspflichten stehen vor den Liebespflichten

§ 109. Der Vorrang der Reditspflichten vor den Liebespflichten

1. Der Handelnde hat sich immer zuerst klarzumachen, ob


nicht im Augenblicke irgendeine Rechtspflicht eine gewisse
Leistung von ihm fordert. Solche Leistungen können ja, wie ich
schon sagte, fremdes Eigentum werden. Ist dies nicht der Fall,
so wendet er sich dem Gebiete seines Eigentums zu, und hier
findet er Sphären, wie wir sie früher unterschieden haben: die
der eigenen Gegenwart und die der eigenen Zukunft. Jene er­
fordert die Übung einer edlen Tätigkeit, soweit nicht eben Rück­
sichten auf die Erholung überwiegen; diese erfordert innere wie
äußere Vorbereitung. Doch davon habe ich schon gesprochen und
hätte nur etwa das noch hinzuzufügen, daß man in der Gesell­
schaft anderer vernünftiger Wesen nicht nur für den Besitj der
Zukunft zu sorgen hat, sondern, wie auch schon beim einsamen
Leben, auch für das Eigentum.
Neben der Vorsorge gibt es Pflichten der Zurückhaltung gegen­
über der eigenen Zukunft. Eine wesentliche Beeinträchtigung der
persönlichen Freiheit, namentlich für alle Zukunft, darf nur mit
besonderer Sorgfalt geübt werden. Dennoch gibt es Fälle, wo
es nötig ist, sich für alle Zukunft zu binden, wie beim Eheschluß
oder bei der Berufswahl. Da gilt: „Es prüfe, wer sich ewig
bindet! Der Wahn ist kurz, die Reu ist lang.“
2. Dann kommen die Liebespflichten gegen andere in Betracht,
sei es gegen einzelne, sei es gegen ein größeres Ganzes. Sie ver­
langen unter Umständen auch die Abtretung von Eigentum durch
Vertrag, Versprechen, Gesdienk. Dabei kann sehr wohl auch die
Rücksicht auf uns selbst mitsprechen, nicht bloß beim Vertrag,
sondern auch beim Geschenk. Liebe weckt Gegenliebe, Wohltat
dankbare Vergeltung.
3. Andererseits ist bei der Ausbildung der eigenen Disposi­
tionen neben der eigenen Zukunft auch die der anderen zu
berücksichtigen. So wird bei der beruflichen Ausbildung die
Sorge für die eigenen Dispositionen geradezu zur Rechtspflicht
gegen andere (beim künftigen Beamten, Arzte, Lehrer, Techniker
usw.). Es handelt sich dann nicht mehr um die Sphäre meines
Eigentums, wo die Liebespflichten gegen mich selbst den Vor­
Einteilung der Rechtspflichten 357
rang haben, weil ja bereits Rechtspfliditen ins Spiel treten.
•1. Ja, selbst in Fällen, wo nur Liebespflichten in Betracht
kommen, kann die Sorge für das Wohl der anderen den Vorrang
haben, wenn nämlich dieses nur unter disproportionierter Schädi­
gung des höchsten praktischen Gutes hintangesetjt werden könnte.
Sogar Selbstaufopferung kann dann zur Pflicht werden.

J 110. Untereinteilung der Rechtspfliditen

1. Die Rechtspflichten sind zweifach, entweder durch positive


Bestimmungen determiniert oder nur durch die Natur vorgezeich­
net. Jene wieder teils unmittelbar bestimmte, teils in solchen
involvierte. (Shylock hatte natürlich das Recht, das beim Heraus­
schneiden unvermeidliche Blut zu vergießen. Daß eine conditio
turpis zugrunde liegt, die den Vertrag schon an und für sich
ungültig macht, ist natürlich auch richtig.)
2. Zur praktischen Übersicht über die Rechtspflichten dürfte es
am dienlichsten sein, sie nach den Subjekten zu scheiden, denen
man verpflichtet ist. Im Anschluß an Ben t h am wäre darüber
folgendes zu sagen:
Eine Rechtspflicht haben wir entweder gegen eine physische
oder gegen eine juristische Person.
a) Zum ersten Falle gehört nicht nur der, wo es sich um das
Eigentum eines einzigen Individuums handelt, sondern auch der,
wo durch die Übertretung mehrere in ihrem Eigentum geschädigt
werden. Es handelt sich dann um eine komplexe Rechtspflicht.
Und dieser Fall liegt auch vor, wenn die Geschädigten als Klasse
unter einen Begriff zusammengefaßt werden können, sofern es
sich dabei nicht etwa um eine Klasse handelt, die nur gemeinsam
über die betreffende Sache zu verfügen hat. Ein Versammlungs­
redner, der lügt, verlebt eine Rechtspflicht gegen Einzelpersonen,
obwohl sie zusammen ein Auditorium bilden. Ja, die Klasse kann
so groß sein wie der Staat oder gar die ganze Menschheit. Wahr­
haftigkeit in wissenschaftlichen Fragen ist eine Rechtspflicht
gegen alle. Ebenso die Pflicht, keine unmoralischen Grundsätze
zu verbreiten.
358 Rechtspflichten gegen eine juristische Person

b) Reditspfliditen zur Respektierung des Eigentums eines


Kollektivs. Die Juristen fingieren hier eine sog. juristische Per­
son, ja sie gehen in den ihnen dienlich scheinenden Fiktionen
so weit, auch eine Sache als juristische Person gelten zu lassen,
indem sie z. B. von einem Vermögen des Stephansturmes spre­
chen. Eigentlich gesprochen sind Eigentümer die daran inter­
essierten Personen, als Zugehörige zu dem betreffenden Kollektiv.
Bei solchem Kollektiveigentum kann es geschehen, daß weder
der einzelne noch die Mehrheit über die Art der Verfügung ent­
scheiden darf. Der extreme Fall wäre der, wo schon der Ein­
spruch eines einzigen die Verfügung ausschließen kann.
Eine juristische Person ist entweder eine solche, der der Han­
delnde selbst angehört, oder eine, der er als Nichtzugehöriger
gegenübersteht.
Der erste Fall ist besonders wichtig und erheischt mancherlei
Rücksichten. Eine juristische Person, der ich selbst angehöre, ist
entweder ein Privatkreis oder der Staat oder die Kirche. Die
ganze Menschheit könnte es nur dann sein, wenn es eine diese
umfassende Organisation gäbe, in welchem Falle die Verfügung
nur dieser internationalen Verwaltung oder Regierung zustünde.
Es wäre ein großer Segen für die Menschheit, wenn es eine
sie umfassende Organisation gäbe, die imstande wäre, dem heute
unter den Staaten herrschenden Faustrecht ein Ende zu bereiten.
Es ist sehr verkehrt, Bestrebungen, die darauf abzielen, zu ver­
dächtigen, wenn auch über das Was und Wie noch wenig Klar­
heit besteht. Die großen Fortschritte in der Geschichte der
Menschheit vollziehen sich eben nicht von heute auf morgen,
auch würde ein brüsker Übergang alles zu sehr erschüttern. Aber
klar vorgezeichnet scheint in der bisherigen Entwicklung, daß es
einmal zu etwas Derartigem kommen wird. Auch fehlt es nicht
mehr ganz an einzelnen Verträgen, die von Vertretern aller
Nationen vereinbart worden sind und nur durch gemeinsame
Verständigung außer Kraft gesetjt werden können. Doch steht
aus Mangel an Gemeinsinn der Nationen noch keine sichernde
Gewalt dahinter. Immerhin wäre es schon ein Rechtsbruch, wenn
der Versuch gemacht würde, einen solchen Vertrag einseitig auf­
zuheben. Denn das Redit ist kein bloßer Machtbegriff.44
Rechtspflichten gegen den Staat 359
3. In jeder der beiden Klassen, sowohl bei den Reditspfliditen
gegen Einzelpersonen als auch bei denen gegen juristische Per­
sonen, können noch weitere Unterscheidungen gemacht werden.
In der ersten kann es sich — wiederum mit Bentham —
um Pflichten in bezug auf ihren Besitj oder um solche in bezug
auf ihre Reputation oder um Pflichten in bezug auf ihre Kon­
dition handeln.
Ähnlich bei der zweiten Klasse. Das Äußerste, was eine Ge­
sellschaft als solche treffen kann, ist die Auflösung, analog der
Beraubung des Lebens beim einzelnen (so wie man auch eine
entsprechend gute Organisation der juristischen Person der Ge­
sundheit einer physischen Person vergleichen mag).
4. Von besonderer Bedeutung sind natürlich die Rechtspflichten
gegen den Staat.
Ein fremder Staat ist für uns nichts wesentlich anderes wie
eine Privatgesellschaft.
Beim eigenen Staat sind zu unterscheiden:
Das Gut seines Bestandes und seiner inneren Organisation.
Das Leben des Staates ist seine Verfassung, sagt Aristoteles.
Sein Eigentum an natürlichen Reichtümern und Werten der
Arbeit,
seine Reputation
und seine Kondition.
In der ersten Beziehung kommt in Betracht seine äußere
Sicherheit und die Güte der wesentlichen inneren Einrichtungen,
wie Militär, Gerichtsbarkeit, Unterrichtswesen usw. Ein Delikt
gegen den Staat wäre natürlich auch das gegen seine Souverä­
nität. Nicht aber sind Delikte gegen die Religion solche gegen
den Staat, denn die Religionen gehören, wenigstens bei den fort­
geschrittenen Völkern, zu den privaten Gesellschaften.
Zum Reichtum des Staates gehört auch die Zahl seiner
leistungsfähigen Bevölkerung. Unter diesem Gesichtspunkte ist
Auswanderung ein Vergehen gegen den Besitj des Staates. Frei­
lich sollte, wie Bentham schon bemerkt hat, jedes Verbot der
Auswanderung so beginnen: „Wir, die wir uns auf die Kunst,
unsere Untertanen glücklich zu machen nicht verstehen, in An­
sehung dessen, daß, wenn wir dieselben flüchten ließen, sie alle
360 Rechtspflichten gegen den Staat

in fremde, besser regierte Länder auswandem würden, verbieten


hiemit...“
Was die Reputation des Staates anlangt, so kann man gegen
sie ähnlich fehlen wie gegen die von Privatgesellschaften. Doch
tut dies nicht jeder, der offen das Unrecht bekennt, das der
eigene Staat anderen zugefügt hat; im Gegenteil, es kann Pflicht
sein, sich vor der ganzen Welt dagegen aufzulehnen. Denn nichts
schadet der Reputation eines schuldig gewordenen Staates in den
Augen der Welt mehr, als wenn alle seine Bürger sich mit seiner
Schuld identifizieren, indem sie sie verschleiern oder gar billigen.
Gegen die Kondition des Staates vergeht sich, wer z. B. als
Beamter seine Pflicht nicht erfüllt oder wer seine Bündnisse
unterminiert.
Dies nur als flüchtige Skizze.
5. Ein und dieselbe Handlung kann zugleich gegen mehrere
Pflichten verstoßen, sie ist dann ein komplexes Delikt, und man
kann wohl sagen, daß im wirklichen Leben alle Delikte diesen
Charakter haben.
Ich möchte aus der Lehre von den komplexen Delikten nur
eine Frage herausgreifen: Die des Privateigentums, wobei auf
die Grundsätze des Sozialismus und Kommunismus kritisch ein­
zugehen sein wird.
V. Kapitel

Von den komplexen Delikten

§111. Delikte gegen das Eigentum. Ist Privateigentum ethisch


gerechtfertigt?

1. Ich habe schon zu erkennen gegeben, daß ich das Eigentum


für eine Forderung der Ethik halte. Es liegt im Interesse des
höchsten praktischen Gutes, daß jedes Wesen, insbesondere aber
jedes zurechnungsfähige, über eine gewisse Sphäre ausschließlich
verfüge. Nur so wird das Zusammenleben zum Segen. Was aber
soll Eigentum sein?
Sicherlich die eigene Person, Leib und Seele. Ob auch sach­
licher Besitj, darüber gehen die Meinungen auseinander.
Manche verteidigen ein schrankenloses, starres Eigentumsrecht.
Nadi M a 11 h u s hat ein Mensch, der in einer bereits okkupier­
ten Welt geboren wird, nicht das mindeste Recht auf einen An­
teil an den Nahrungsmitteln, er ist überzählig auf Erden, bei
dem großen Gastmahl der Natur ist für ihn kein Gedeck gelegt,
die Natur gebietet ihm, sich wieder zu entfernen. Und was
M a 11 h u s theoretisch ausgesprochen hat, wird von anderen
praktisch geübt. Kein Wunder, wenn die Härte solcher Theorie
und die Grausamkeit der Praxis eine Reaktion hervorgerufen
hat, die in das andere Extrem geht. Beccaria nennt das
Eigentum ein schreckliches und keineswegs notwendiges Recht,
und Proudhon sagte: „Eigentum ist Diebstahl.“
Diese eigentumsfeindliche Theorie hat in weiten Kreisen An­
hänger gefunden. Uns interessiert hier aber nicht die geschicht­
liche Frage, wieviel davon in das Programm oder in die Praxis
der sog. sozialistischen oder der kommunistischen Parteien über-
362 Berechtigung des

gegangen ist, wir wollen uns ohne solche Seitenblicke auf die
Frage nach den Vorteilen und Nachteilen des individuellen
Eigentumes beschränken.
Schon aus der Erörterung über den Unterschied von Rechts­
und Liebespflichten geht hervor, daß ich auch sachliches Eigen­
tum für unentbehrlich im Interesse des höchsten praktischen
Gutes halte. Die persönliche Freiheit und Arbeitsteilung, welche
die Ethik fordert, scheint mir ohne die ausschließliche Verfügung
des einzelnen über einen gewissen sachlichen Besitj nicht durch­
führbar. Schon zur Erhaltung des leiblichen Lebens bedarf es
ihrer, sie ist aber auch eine Veräusserung für den Erwerb seeli­
scher Güter.
Damit ist nicht gesagt, daß mein persönliches Eigentum ein
absolutes sei. Was meiner Verfügungssphäre angehört, ist mir
zum Dienste des Guten überlassen. Über allen willkürlichen und
gese^ten Ordnungen steht ja als höchste Ordnung die sittliche,
und diese gibt ihnen die Sanktionen. So bin ich denn vom ethi­
schen Standpunkte — und dieser ist indispensabel — mehr Ver­
walter als unbedingter Herr und stehe als solcher zwar nicht
unter Rechtspflichten, aber doch unter Liebespflichten gegen das
höchste praktische Gut.
2. Aber diese Liebespflichten werden vielfach in aufreizender
Weise vernachlässigt und verletzt. Am schlimmsten wohl in Zei­
ten, wo der Sinn der Menschen den religiösen Idealen sich ent­
fremdet hat und nur auf Gewinn und Genuß gerichtet ist. In
solchen Zeiten werden dann Stimmen laut, die Garantien gegen
diese Unsicherheit fordern. Bloße Liebespflichten, denen keine
Gewalt sich durchzusetjen, zur Seite steht, genügen ihnen nicht,
und so fordern sie geradezu, daß diese Liebespflichten in Rechts­
pflichten umgewandelt und unter Zwang gestellt werden. Ge­
walt scheint ihnen wirksamer gegen Eigensucht und Profitgier
als Liebe zum Guten allein. Die geschichtliche Entwicklung des
Sondereigentums habe allenthalben zur Ausbeutung der Kleinen
durch die Großen geführt und schließlich zum Gegenteil dessen,
was mit dem Privateigentum bezweckt sein sollte. Dieser Zweck
war doch wohl die Verteilung der Güter unter alle, indessen hat
schrankenlose Konkurrenz und Ausbeutung zur Vereinigung alles
Privateigentums 363
Eigentums in wenigen Händen geführt. Darum fort mit dieser
Souveränität des Privateigentums! An seine Stelle hat das
Kollektiveigentum zu treten. Souveräner Eigentümer soll fürder­
hin allein der Staat sein. Von ihm haben die einzelnen ihre
Subsistenz- und Betriebsmittel zu empfangen und ihm haben sie
darüber Rechenschaft zu geben.
So will man denn die Liebespflichten in so weitem Umfange
als möglich zu erzwingbaren Rechtspflichten machen.
Auch ökonomische Vorteile verspricht man sich von der Ab­
schaffung oder doch wesentlichen Einschränkung der Souveränität
des Privateigentums. Vereinigung macht stark. Zeigt sich schon
der private Großbetrieb dem Kleinbetriebe wirtschaftlich über­
legen, um wieviel mehr ist an Leistung vom Staatsbetriebe zu
erwarten. Der Übergang zu diesem braucht kein gewaltsamer zu
sein, er kann sich auch ohne blutigen Umsturz, ohne Verelendung
der bisherigen Eigentümer vollziehen, besonders leicht dort, wo
die Betriebe ohnehin schon sehr konzentriert sind, denn dann hat
sich eigentlich nichts mehr zu ändern, als daß der Ertrag aus
einem Unternehmerprofit zur Einnahme der Allgemeinheit wird.
3. So unverkennbar die gute Tendenz solcher Vorschläge ist und
so ehrlich die Begeisterung und der Opferwille ideal veranlagter
Frauen und Männer sein mag, die sich für die Verwirklichung
dieser Idee einsetjen, so unterliegt sie doch großen Bedenken.
Wenn der Staat allein Träger des Eigentums wäre, so wäre
er auch allein Herr und seine Untertanen wären Sklaven. Mit
einer freiheitlichen Staatsform ist diese Ordnung kaum verein­
bar. Sie fordert ein patriarchalisches Regiment, oder, mehr der
Wahrheit entsprechend ausgedrückt, sie fordert die Despotie.
Das Leben in einem solchen Staate hätte bedenkliche Ähnlichkeit
mit dem in einer Kaserne. Wer optimistischer veranlagt ist, würde
vielleicht lieber hören „wie in einem Kloster“, aber mit mehr
Recht könnte man geradezu sagen „wie in einem Zuchthaus“.
In einer solchen Ordnung ist die Lebenszelle der kultivierten
Gesellschaft, die Familie, bedroht. Es ist kein Zufall, daß
Platons Staat diese aufhebt. Auch die Bande der Freund­
schaft scheinen bedroht, sind solche doch schon in den Klöstern
nicht wohl gelitten. Mit dem Entzug der Freiheit finden die
364 Nachteile der auf Kollektiveigentum

edelsten Freuden und Tugenden keinen Nährboden und verküm­


mern. Wo bleibt die Seligkeit des Wohltuns, wo die Übung von
Liebespflichten, wenn alles unter Zwang gestellt ist? Furcht wird
in einer solchen Gesellschaft der Antrieb zum Guten, aber Furcht
ist Qual; in einer auf Freiheit des Eigentums gegründeten Ord­
nung aber ist es die Hoffnung und Hoffnung ist Freude.
Auch aller edle Unternehmungsgeist verkümmert, wenn die
private Initiative verschwunden ist. Künste und Wissenschaften
geraten unter ein Reglement, das ihnen das innerste Leben
lähmt und ihr Niveau immer tiefer zum Sinken bringt. Nivel­
lierung führt überall zur Mittelmäßigkeit, in der Arbeit und auch
im Vergnügen. Die Arbeit wird zur Massenware, die Freude zum
Pöbelvergnügen. Darum sind gerade die Begabtesten und Streb­
samsten Feinde der Gleichmacherei. Sie wollen keine in Herden
lebenden Tiere sein.
Dies und vieles andere wird den Drang zum Privateigentum
wecken, zu dessen Unterdrückung alsbald eine Inquisition ins
Spiel treten wird, die entweder durch unendliche Strafprozesse
den Bürgern das Leben zur Drangsal macht oder aber, wenn
aller Terror nicht ausreicht, die Autorität des Staates und der
Rechtsordnung zum Spotte werden läßt.
Je weniger Spielraum dem Erwerbstriebe gelassen wird, desto
mächtiger werden die politischen Leidenschaften entflammt, ein
maßloses Streben greift Platj, die Staatsgewalt in die Hände zu
bekommen. Und wehe dem Staate, der in schlechte Hände kommt,
wie es ja in der Regel die Hände der Streber sind, denn die
Macht der Gewalthaber in einem solchen Staate wäre ja unver­
gleichbar größer.
Auch täuschen sich diejenigen, welche glauben, daß dann jede
Art der Ausbeutung ausgeschlossen wäre, sie wird nur andere
Formen annehmen. Insbesondere die Form des Müßiggangs, in­
dem der Faule auf Kosten des Fleißigen mitlebt. Es wäre zwar
möglich, durch Zwangsmittel eine vollständige Untätigkeit zu
verhindern, aber schwer würde es gelingen, die Arbeiter zu
höheren Leistungen, zum Überschreiten des vorgeschriebenen
Minimums zu bestimmen. Warum soll sich einer mehr anstren­
gen als der Faulste, wenn er dabei ebenso viel erntet wie dieser?
aufgebauten Wirtschaftsordnung 365

Der Ertrag solcher Mehrarbeit würde den Gesamtertrag um sehr


wenig, den Anteil des einzelnen um nichts vermehren. So würde
in einer auf Kollektiveigentum aufgebauten Wirtschaftsordnung,
im Gegensa^ zu den Erwartungen der Optimisten, die Gesamt­
leistung gewaltig sinken, die Gesellschaft müßte verarmen und
ihre kulturellen Bedürfnisse beträchtlich herabsetjen.
Ferner: Es gibt Arbeiten verschiedener Art. Läßt sich ein
Maßstab für ihre Äquivalenz ausfindig machen? Soll die Gleich­
heit nach dem Zeitaufwand bemessen werden, ohne daß der gei­
stige und physische Kraftaufwand mit in Rechnung gestellt
würde? Und wie sollte man diesen gerecht in Rechnung stellen?
Nicht einmal der Aufwand an Gesundheit läßt sich befriedigend
messen, und doch ist er beim Bergarbeiter, Spinner, Glasschleifer,
Landarbeiter nicht der gleiche. Man hat sich in dieser Verlegen­
heit durch den Vorschlag zu helfen gesucht, daß abwechselnd
jeder jegliche Arbeit übernehmen solle. Ein rechter Vorschlag
vom grünen Tisch aus! Alle Vorteile der Arbeitsteilung gingen
damit verloren. Keiner würde eine besondere Sachkenntnis und
Geschicklichkeit erreichen. Ja, Arbeiten, die ihrer Natur nach von
langer Dauer sind, könnten überhaupt nicht ausgeführt werden.
B e 11 a m y meint, man müßte besonders unangenehme Arbeit
durch entsprechende Verkürzung der Arbeitszeit ausgleichen und
dadurch zur freiwilligen Übernahme anspornen. Aber wenn sich
einer nun daraufhin entschlösse, statt acht Stunden am Webstuhl
eine halbe mit Kanalräumen zuzubringen, so würde man zu
dieser widerwärtigen Beschäftigung sechzehnmal soviel Men­
schen brauchen, d. h. sie wird an vielen Orten überhaupt unter­
bleiben müssen.
4. So scheint denn, wer sich aus den unleugbaren Übeln -der kapi­
talistischen Wirtschaftsordnung in die staatskapitalistische Wirt­
schaft flüchten will, von der Scylla in die Charybdis zu kommen.
Es ist aber eine solche Flucht keineswegs geboten. Es gibt eine
mittlere Lösung und allenthalben schon wird dieser Mittelweg,
wenn auch oft nur zögernd und nicht ohne Widerstände, beschrit­
ten. Sind Steuern, auch Progressivsteuern, Zölle, Ausfuhrverbote,
Wuchergesetye, Zwangsversicherungen gegen Alter und Krank­
heit, Geseke über Frauen- und Kinderarbeit, Tierschu^, Güter­
366 Staatliche Kontrolle des Eigentums

Bewirtschaftung (z. B. Forst- und Jagdgesetj) nicht schon ein nicht


unerheblicher Anfang staatlicher Kontrolle des Eigentums? Das
Privateigentum ist damit nicht aufgehoben und seine wesent­
lichen Vorteile bleiben gewahrt. Neben den Rechtspflichten blei­
ben Liebespflichten bestehen, doch können die Grenzen zwischen
diesen Gebieten verschoben werden, ohne daß die Freiheit mehr
Beeinträchtigung als das höchste praktische Gut an Förderung
erfährt. Wie alle ethischen Regeln, mit Ausnahme der höchsten
Norm, sind auch die für das Eigentum nur sekundäre, und
darum hat ein Staat, der sich das richtige ethische Ziel se§t, auch
das Recht, das Privateigentum zu beschränken.
Die Verteilung ist heute gewiß keine gerechte; Überfluß, maß­
lose Besitjanhäufung auf der einen Seite, bittere Armut auf der
anderen, sind beides dem sittlichen Fortschritt sehr abträglich.
Not verführt zum Verbrechen, Luxus zum Übermut.
Nicht nur durch eine gerechte Steuerpolitik, auch durch par­
tielle Expropriationen kann der Staat hier ausgleichend eingrei­
fen. Verschwender werden heute zuweilen auf private Initiative
hin unter Kuratel gestellt; es ist nicht einzusehen, warum nicht
unter Umständen dasselbe auch auf staatliche Initiative geschehen
könnte und in Fällen, die bisher toleriert werden.
Vielleicht wird man mit der Zeit dazu gelangen, von den
Begüterten eine Art öffentlicher Rechenschaft über ihre Ver­
mögensverwaltung zu fordern. Sie braucht nicht unter staatlicher
Strafsanktion zu stehen, auch schon das Verdikt der öffentlichen
Meinung, wie sie in der Stimme des Volkes und in einer un­
abhängigen Presse zum Ausdruck kommt, könnte einen heilsamen
Einfluß ausüben. Wie oft ist Reichtum mit dem Elend und den
Tränen anderer erkauft und wie oft wird er verkehrt verwendet.
Mit törichten Phrasen aber geht man häufig über das Verderb­
liche des Luxus hinweg: Er bringe, räumt man ihm ein, doch
Geld unter die Leute. Als ob der Reichtum einer Nation in den
Wertzeichen und nicht viel mehr in den Gaben der Natur läge
und in der Kraft der menschlichen Arbeit. Wo diese auf der
einen Seite vergeudet werden, muß auf der anderen Mangel ein­
treten. Wo die vielen darben, schwelgen die wenigen in un­
erhörten Genüssen.
SECHSTER ABSCHNITT

VON DER VERWIRKLICHUNG DER SITTLICHEN


VORSCHRIFTEN
I. Kapitel

Von den sittlichen Dispositionen

f 112. Das Wesen der Tugend

Wie Vorstellen und Urteilen unterliegt auch das Wählen und


Entscheiden den notwendigen Gesehen. Gleichwohl gibt, wo
gleiche Gegenstände zur Wahl stehen, der eine diesem, der
andere jenem den Vorzug. Dieser Unterschied ist die Folge ihrer
verschiedenen Dispositionen. Solche zeigen sich auch bei sitt­
lichen Entscheidungen. Dispositionen, welche eine sittlich richtige
Wahl begünstigen, heißen Tugenden, die der unsittlichen günsti­
gen Untugenden oder Laster.
Was sind nun die ersten? Manche haben die Tugend als ein
Wissen definiert. Daran ist aber nur richtig, daß das Wissen
um Gut und Böse einen Einfluß auf die richtige Wahl übt, wären
doch sonst die ethischen Regeln von keinem Nutjen; doch iden­
tisch ist dieses Wissen nicht mit der Tugend, da bei gleichem
Wissen die Neigung zum Guten verschieden stark sein kann.
Mit der Ablehnung dieser Sokratischen Lehre über die
Tugend fällt auch die von ihm gezogene Konsequenz, daß sie
lehrbar sei. Ihr Erwerb ist kein einfaches Lernen, kein bloßes
Üben im Urteilen, sondern im Lieben und Wählen selbst. Solcher
Übung bedarf es zur Ausbildung und Erhaltung einer tugend­
haften Disposition. Der Charakter bildet sich allmählich und
unsere Neigungen sind mannigfacher Veränderung fähig. Damit
fällt auch die Meinung der älteren Stoiker, die der Tugend
Gradunterschiede absprachen. Sie ist durchaus eines Wachstums,
aber auch einer Abnahme fähig. Ja, diese kann bis zum völligen
Verluste gehen. Auch das Sprichwort von der Unverlierbarkeit
370 Vielheit der Tugenden

der Tugend ist nur eine halbe Wahrheit. Richtig ist bloß, daß
eine bis zu einem gewissen Grade der Ausbildung gelangte
Tugend, weil die Gelegenheit, sie zu üben, immer wiederkehrt,
sich sehr dauerhaft erhält.
Sie erhält sich aber und wächst auf dieselbe Weise, wie sie
entsteht, nämlich durch Gewöhnung. Eine solche aber verleiht
nicht nur eigene Übung, sondern auch die sich wiederholende
Erfahrung eines guten Beispiels.
Hingegen nimmt eine tugendhafte Disposition ab, wenn sie
nicht geübt, und mehr noch, wenn ihr entgegengesetzte Akte
geübt werden. Sie kann auf diese Weise überhaupt verschwinden.
Zeichen einer ausgebildeten Tugend sind die Leichtigkeit,
Raschheit, Freudigkeit, Häufigkeit ihrer Akte.
Doch alles das ist nicht genau und vollständig, solange nicht
die folgende Frage geklärt ist:

$ 113. Einheit oder Vielheit der Tugenden!

Die Stoiker lehrten die Einheit, aber wer sich an die Erfahrung
hält, kommt an der Annahme einer Vielheit nicht vorbei. Wählt
doch der eine das Gute in einer Lage, wo der andere versagt,
und versagt dafür in einer anderen, wo dieser sich bewährt.
Wenn der Tugenden aber viele sind, welches ist der passendste
Gesichtspunkt für ihre Einteilung?
Manche wollen die Tugenden nach den wichtigsten Gattungen
sittlicher Handlungen, also offenbar nach den Pflichten, einteilen,
so daß jeder besonderen Pflicht eine besondere Tugend ent­
spräche. Das ist schon darum unbrauchbar, weil dann in der
Ethik unter zwei verschiedenen Titeln dasselbe gesagt werden
müßte. Weit zweckmäßiger scheint es daher, die Tugenden nach
den verschiedenen Weisen einzuteilen, wie einer verleitet werden
kann, das Vorzügliche hintanzusetjen. Wer in keiner Weise zu
verleiten ist, ist vollkommen tugendhaft. Wir berücksichtigen
darum bei unserer Einteilung die verschiedenen Gründe, die das
Zustandekommen einer sittlich richtigen Wahl vereiteln und zu
einer unrichtigen führen können.
Klassifikation der Tugenden 371
I. Hindernisse einer richtigen Urteilsbildung. Der Fall, wo
wir uns sittlich zu entscheiden haben, liegt oft so, daß es einer
gewissen Analyse bedarf, um herauszufinden, auf welcher Seite
der Vorzug liegt. Entzieht sich einer dieser geistigen Arbeit,
obwohl er sie leisten könnte, so verrät dies sittliche
Gleichgültigkeit oder sittlichen Leichtsinn, eine Dis­
position von besonderer Gefährlichkeit. Der Fall, wo einer zu
dumm ist, sittliche Überlegungen anzustellen, bleibe hier beiseite,
da man bei einem Schwachsinnigen nicht eigentlich von subjek­
tiver Unsittlichkeit sprechen kann. Die Fehler, die ich hier im
Auge habe, sind nicht eigentlich Fehler des Intellekts, aber es ist
klar, daß so gestimmte Menschen auch nicht zu einem verläß­
lichen Urteil über ethisch richtiges und unrichtiges Verhalten
kommen werden.
Dieser ungünstigen Disposition steht als Tugend die
ethische Gewissenhaftigkeit gegenüber. Es besitjt
sie derjenige, der es sich zur Gewohnheit gemacht hat, regel­
mäßig ethische Übungen anzustellen. Sie ist die wichtigste aller
Tugenden.
Wo solche sittliche Erwägungen mit besonderer Sorgfalt und
Umsicht angestellt werden, spricht man von ethischer Wohl-
beratenheit, sittlicher Klugheit, was wiederum etwas
nicht rein Intellektuelles bedeutet, da es ja nicht nur darauf
ankommt, daß einer solche Analysen trifft, wenn er sie anstellen
will, sondern daß er sie tatsächlich regelmäßig unternimmt.
Insofern solche Überlegungen zu besonderer Rücksicht auf das
moralische Risiko intendieren, spricht man von ethischer Vor­
sicht.
Hat einer ein richtiges Urteil über den sittlichen Vorzug einer
bestimmten Handlungsweise sich gebildet, so können der rich­
tigen Wahl immer noch Hindernisse entgegenstehen, zu deren
Überwindung es besonderer Tugenden bedarf.
II. Hier kommt in Betracht einerseits die größere Neigung
zum minder Wertvollen und die größere Abneigung gegen das
geringere Übel, andererseits der Mangel an Herrschaft über die
Affekte.
Die Disharmonie der Neigung knüpft sich bald an
372 Sittliche Objektivität

Unterschiede der Person oder Klassen von Personen, bald an


solche der Gegenstände.
Der ersten steht als Tugend die sittliche Objektivi­
tät gegenüber. Ich ziehe diese Bezeichnung dem Ausdruck „Ge­
rechtigkeit“ vor, weil dabei in gleicher Weise Rechts- wie Liebes­
pflichten in Betracht kommen. Die Parteilichkeit kann sich äußern
a) als Egoismus,
b) als sog. Ipsissimismus,
c) als acceptio personarum.
a) Egoistisch ist eine Wahl, wenn bei ihrem Zustandekommen
der Umstand den Ausschlag gibt, daß ein gewisses Gut innerhalb
meiner eigenen psychischen Sphäre verwirklicht werden kann.
Der Objektive steht den Güterunterschieden wie ein Fremder
gegenüber und neigt sich dem größeren Gute zu, wo immer es
sich finden mag.
Der Egoismus zeigt Abstufungen, je nach dem Maße der
Schädigung des allgemeinen Besten, die einer um des eigenen
Gutes willen in Kauf zu nehmen bereit ist.
b) Einen gemilderten Egoismus kann man den Ipsissimismus
nennen, d. i. die ungebührliche Rücksichtnahme nicht auf die
eigene Person, wohl aber auf einen beschränkten Kreis von
Menschen, die uns nahestehen, sei es aus diesem, sei es aus jenem
Grunde: Als Freunde, Standes-, Glaubens-, Volksgenossen. Der
Name stammt von dem Jesuiten Mariana (gest. 1624). Hieher
gehört, was man Kameraderie, Nepotismus, Günstlingswirtschaft
nennt. Als besonders gefährliches Laster unserer Zeit darf man
wohl den nationalen Ipsissimismus bezeichnen. Ich verkenne
nicht, daß er gegenüber dem brutalen Egoismus ein Fortschritt
ist, denn er versteht es, Opfer für ein größeres Ganzes zu
bringen. Aber er hat doch auch seine großen Gefahren. Man
glaubt, etwas Edles zu tun, und begeht dabei oft harte Un­
gerechtigkeiten. Wer sich gewöhnt hat, im vermeintlichen Inter­
esse seiner Nation alles für erlaubt zu halten, hat kein erleuch­
tetes Gewissen, und je mächtiger seine Stimme und sein Beispiel
sind, desto mehr trägt er zur Verdunkelung des Weltgewissens
bei. Wer lange in einem Lande leidenschaftlicher nationaler
Kämpfe gelebt hat, weiß, wie leicht darin auch feiner veranlagten
und ihr Gegenteil 373

Menschen der Sinn für Recht und Billigkeit verlorengeht. Es


ist kein Vorzug, einem Volke anzugehören, dessen Seele der
nationale Überschwang in Banden hält, und es ist schlimm, einem
solchen Volke im nationalen Kampfe gegenüberzustehen, weil
es schwer ist, einem unritterlichen Gegner gegenüber die Ritter­
lichkeit zu bewahren. Dem Drude folgt Auflehnung, der Auf­
lehnung folgen Repressalien, und der Haß auf beiden Seiten
wächst immer mehr an, bis schließlich eine Katastrophe, die
beide trifft, beiden, leider oft zu spät, zur Lehre wird.
Ein kräftiger Nährboden für ipsissimistische Laster ist auch
das Parteiwesen. Die Kehrseite der ungeordneten Vorliebe für
die Parteigenossen ist die Unduldsamkeit gegen die anderen.
Ehedem war sie am schlimmsten gegenüber religiös Anders­
gesinnten, während heute der konfessionelle Ipsissimismus mehr
und mehr hinter den beiden anderen Formen zurücktritt.
c) Auch wo uns mit einer Person oder Klasse keine solche
Parteiverwandtschaft verbindet, kann sich doch eine ungerechte
Vorliebe für sie geltend machen und unserem ethischen Urteil
und unseren sittlichen Entscheidungen gefährlich werden. Scho­
lastische Ethiker sprechen da von acceptio personalis. Wer kennt
nicht Beispiele solcher Vorliebe für die durch Reichtum oder
Schönheit oder sozialen Rang Ausgezeichneten? Sie macht uns
nicht nur bei der Erfüllung von Liebespflichten parteiisch,
sondern verführt auch zur Verlegung von Rechtspflichten. Es
kommt vor, daß Geschworene von zwei sehr ähnlichen Fällen
den einen hart, den anderen milde beurteilen, verführt durch
das hübsche Gesicht der einen Angeklagten. Auch bei Prüfungen
mag hin und wieder die Ritterlichkeit gegen das weibliche Ge­
schlecht etwas zu weit getrieben werden. Andere wieder be­
kunden solche Schwächen bestimmten Ständen gegenüber.
Soviel von der ungebührlichen Rücksichtnahme auf personelle
Unterschiede. Was die disproportionierte Wertschätzung der
Sachen anlangt, so variiert sie unübersehbar. Als praktisch be­
sonders wichtig hat sie die Überschönung der Lust hervor­
gehoben, das Laster der Vergnügungssucht. Solche ungeordnete
Vorliebe für eine Klasse von Gegenständen kann sich gewohn­
heitsmäßig zur Manie steigern. Der Hang des Geizigen, des
374 Beherrschung des Trieblebens

Habsüchtigen, die Sammelleidenschaft des sog. Liebhabers


schreckt schließlich auch vor den unsinnigsten und unsittlichsten
Opfern nicht zurück.
Das Ideal wäre, jedes nach seinem wahren Wert zu lieben.
Das hatte Aristoteles im Sinne, als er die Tugend als
richtige Mitte zwischen zwei Extremen bezeichnet. Aber sowohl
ursprüngliche blinde Triebe als die immer im Fluß befindlichen
Tendenzen der Gewohnheit stellen sich der Erreichung dieses
Ideals hindernd in den Weg.
III. Mangel an Herrschaft über die Affekte.
Schmerz und Lust, Hoffnung und Furcht, Zorn und Eitelkeit und
wie sie alle heißen mögen, siegen oft über das Urteil der Ver­
nunft. Klare Überzeugung, richtige Wertschätjung kommen dann
nicht auf gegen die Macht des Affekts. Da kein Mensch frei von
diesen Trieben und ihren Verlockungen ist, ist keiner wahrhaft
tugendhaft zu nennen, dem die Herrschaft über die sinnlichen
Impulse fehlt. Sie ist keine unmittelbare, vielmehr gewinnt der
Wille über die affektiven Erregungen erst dadurch Macht, daß
er den Vorstellungsverlauf reguliert. Es gilt im Zustande der
Versuchung, sich gewisse Gedanken aus dem Sinn zu schlagen
und andere, die das Gute begünstigen, aufzurufen und fest­
zuhalten.
Das Imperium des Willens über das Triebleben wird durch
Übung erworben. Auch ein gewisses Maß körperlicher Hygiene
ist dafür von Wichtigkeit, denn es ist um so zuverlässiger, je
besser unser Nervensystem funktioniert. Es gibt ein Übermaß
von Askese, das dieses schädigt. Anders ein besonnenes Üben im
Ertragen von Beschwerden und Schmerzen, im Entsagen auch
erlaubter Lust gegenüber. Wohlberatene Askese ist der Tugend
der Herrschaft über die Affekte ohne Zweifel günstig.

§ 114. Entstehen und Vergehen der sittlichen Dispositionen

Nach dieser Übersicht über die Hauptklassen der Tugenden


klärt sich die Frage, wie Tugenden sich bilden, wachsen, ab­
nehmen noch besser. Die Tugenden der ersten Klasse verlangen
Entstehen und Vergehen der Tugenden 375

zu ihrer Ausbildung ein Lernen, sei es, daß der ethische Unter­
richt in einer mehr volkstümlichen Weise, wie z. B. im Rahmen
des Religionsunterrichtes, sei es in wissenschaftlicher Weise, wie
in einem Ethikkolleg an der Universität, geboten wird.
Die zweite Klasse bildet sich durch Übung und Beispiel, die
dritte durch Übung und körperliche Hygiene.
Übung spielt übrigens in allen drei Klassen eine wesentliche
Rolle. Auch stehen sie im Zusammenhänge miteinander, indem
z. B. der böse Wille auch das Urteil depraviert.
Hinsichtlich der Übung wäre noch zu bemerken, daß sich zu
dem, was eine Zeitlang um eines anderen willen geübt wurde
eine vom ursprünglichen Zwecke losgelöste Neigung bilden kann.
Es ist dies ein Gesetj von großer praktischer Bedeutung, das
sowohl in den Dienst der Tugend als des Lasters treten kann.

§ 115. Ob Tugenden zugleich Untugenden sein können?

Diese Frage, so seltsam sie klingen mag, ist in gewissem Sinne


zu bejahen. Es mag einer für ein Gut eine stärkere Neigung
hegen, als dieses an und für sich verdienen würde, aber wo sie
dann in Konkurrenz mit einem geringeren Werte tritt, mag jene
Vorliebe doch die richtige Wahl sichern. Nur wo das von ihr
bevorzugte und über Gebühr geliebte Gut mit einem höheren
in Wettstreit tritt, wird die Neigung als Untugend wirksam.
So kann selbst eine so edle Liebe wie die zur Wissenschaft unter
Umständen zur Versuchung werden. Faust verschreibt seine
Seele dem Teufel. Ein Beispiel für solchen Umschlag von Tugend
in Untugend sind die Standestugenden beim Übertritt in einen
anderen Stand.
Sind alle Tugenden von der Art, daß sie unter Umständen
zu Versuchungen werden können? Auch diese Frage ist wohl
zu bejahen. Nur hinsichtlich einer Bevorzugung gilt dies nicht,
denn ein Gut gibt es, das über alles geliebt werden soll und
über alles geliebt werden kann, ohne daß die Stärke der Neigung
zur sittlichen Gefahr werden könnte; es ist die Liebe zu Gott,
dem unendlichen Gute, aber diese Bevorzugung ist keine prak­
376 Überragender Wert der Tugend

tische, kein Wählen. Für alle anderen Tugenden ist die Defini­
tion des hl. Augustinus richtig: „Virtus bona qualitas, quae
nunquam nocet.“

J 116. Wert der Tugend, Unseligkeit des Lasters

Aristoteles, den man den Nüchternen zu nennen liebt,


hat auf die Tugend einen Lobgesang angestimmt und von der
Gerechtigkeit in dem allgemeinen Sinne, wo das Wort Erfüllung
des Sittengesetjes besagt, den Ausspruch getan, daß sie schöner
sei als Morgen- und Abendstern. Dem geben auch die großen
Dichter Zeugnis. Und in der Tat, sie steht höher als intellek­
tuelle und ästhetische Vorzüge. Nicht nur an innerem Werte,
sondern auch an beseligender Kraft. Mit der ausgebildeten
Tugend ist Freudigkeit der Übung verbunden. Wer ihre Süßig­
keit bezweifelt, mache die Probe und weihe sich ihrem Dienste.
Er wird das höchste Glück genießen, das einem Menschen hier
auf Erden beschieden sein kann.
Zu der freudigen Betätigung gesellt sich als weiterer Vorzug
die Häufigkeit der Gelegenheit ihrer Betätigung und im Zu­
sammenhang damit ihre Dauerhaftigkeit. Wer die Gelegenheit
benutjt, kann gar nicht aus der Übung kommen. Aristoteles
nennt sie darum dauerhafter als die Wissenschaft. Freilich ver­
steht es unsere Zeit, die für Künste und Wissenschaften viel
Ehren bereithält, nicht ebenso gut. der Tugend die Ehre zu
geben. Eher dem siegreichen Verbrechen. Um so reineren Herzens
werden ihr dienen, die ihr Treue geschworen haben, und die
Freudigkeit des Herzens wird sie äußere Ehren leicht vermissen
lassen. Beatitudo non est virtutis praemium sed ipsa virtus.
So herrlich und 'beseligend die Tugend, so häßlich und un­
selig ist das Laster. Von diesem hat schon Aristoteles zwei
Stufen unterschieden, die sittliche Schwäche, die ihr Herz
der Sehnsucht nach Reinheit und sittlicher Vollkommenheit nicht
verschlossen hat, die den Fall immer wieder mit der Pein der
Reue büßt und doch wieder rückfällig wird, sobald die Ver­
suchung da ist; und zweitens die die Bosheit, sozusagen
Unwert des Lasters 377

der prinzipielle Beschluß, sich gar nicht um das sittliche Gebot


zu kümmern, -der äußerste Grad von Verworfenheit, die Herzens-
härtigkeit, die unempfindlich ist für den Stachel des Gewissens.
Ist die auch der äußerste Grad von Unseligkeit? Eben, weil sie
keinen Stachel spürt, möchte man es vielleicht verneinen. Aber
daß dem Verderbten das beste Glück, das wahre Glück ver­
schlossen bleibt, wird sich nicht verkennen lassen. Und mehr
noch! Wie abgestumpft einer auch sein mag, die rasche An­
häufung von Verbrechen führt zuletjt auch bei ihm zum Durch­
bruch des Gewissens und schleudert ihn in die Höllenqual der
Selbstverachtung. Man denke an die grausige Schilderung des
Schicksals der Ruchlosigkeit in Schillers Räubern oder Shake­
speares Richard III.
II. Kapitel

Von der ethischen Führung

f 117. Von der Wichtigkeit der ethischen Führung

Von nicht minder großem Einfluß als die Tugend ist auf das
sittliche Verhalten die ethische Führung. Ohne sie verfällt eine
schon entwickelte Tugend, durch sie läßt sich eine schwache aus­
bilden, ja eine schlechte Disposition in eine gute verwandeln.
Es sind nämlich die Dispositionen teils angeboren, teils erworben,
und so auch die Dispositionen zum richtigen und unrichtigen
Bevorzugen. Die angeborenen fallen uns nicht als Schuld zur
Last. Doch mag Eltern und Vorfahren ein Teil der Verant­
wortung dafür treffen, denn daß die Vererbung im großen und
ganzen dabei eine Rolle spielt, steht außer Zweifel. Wenn uns
nun aber selbst für unsere angeborenen Dispositionen keine Ver­
antwortung trifft, so brauchen wir sie doch nicht als irreparables
Fatum hinzunehmen, und Sache der ethischen Führung ist es,
aus dem von der Natur gegebenen Stoff das beste Erreichbare
zu gestalten.
So werden denn durch Übung andere Dispositionen dazu­
erworben, die umgestaltend auf unsere Anlagen wirken können,
wenigstens bis zu einem gewissen Grade. Wenn es selbst
Menschen, denen von Geburt an mehrere Sinne mangelten, wie
einer Laura Bridgeman oder Helen Keller, beide
blind und taub, zu einer ansehnlichen Geistesbildung bringen
konnten, so wird eine geschickte Einwirkung auch auf morali­
schem Gebiete erstaunliche Werke der Wiedergeburt zustande
bringen können.
Eine solche Einwirkung auf die Bildung sittlicher Dispositio
Ethische Führung 379

nen, wenn sie methodisch und fortdauernd erfolgt, heißt sittliche


Erziehung. Sie besteht im wesentlichen in der Gewöhnung an
ein richtiges Bevorzugen. Aber wie ist eine solche Einwirkung
überhaupt möglich? Gewohnheit entsteht doch wohl durch wie­
derholte Akte unter Vermeidung entgegengesetjter. Ist einer
schon gut disponiert, so wird er leicht die einen üben und der
anderen sich enthalten, sonst aber wohl nicht; somit scheint also
die Gewohnheit, die wir hier als Mittel zur Bildung der Tugend
in Anspruch nehmen wollen, diese selbst schon vorauszusetjen.
Es droht ein circulus vitiosus.
Doch ist der Zirkel nur scheinbar, denn es fehlt nicht an Mit­
teln, auch eine noch schwache sittliche Kraft dazu zu bringen, gut
zu bevorzugen, und eben diese Mittel will uns die Lehre von
der sittlichen Führung an die Hand geben. Allbekannt ist der
Einfluß der Erziehung. Man preist einen guten Erzieher als
einen zweiten Vater, und in der Tat, er kann der Vater unserer
geistigen Persönlichkeit sein. Von Alexander dem Gro­
ßen wird erzählt, daß er sich in einem an Aristoteles ge­
richteten Briefe geäußert habe, seinem Vater verdanke er, daß
er lebe, ihm, dem Lehrer, was ihm das Leben wertvoll mache.
Allbekannt ist aber auch der verderbliche Einfluß des Verfüh­
rers. Darum suchen ihn Eltern und Erzieher fernzuhalten.
Man kann sich aber auch selbst erziehen, kann selbst Ver­
suchungen von sich fernhalten, üblen Anlagen entgegenwirken,
so wie man sich andererseits Neigungen zum Schlechten an­
erziehen kann. Schon da ich von der Freiheit sprach, gedachte ich
der Macht, die wir über unsere Dispositionen haben und über
äußere Umstände, so daß aus dem Zusammenwirken beider sitt­
lich richtiges Wählen sich ergibt. Wer sich klug führt, gleicht
einem geschickten Feldherrn, der zwar wenig Truppen zur Ver­
fügung hat, aber so geschickt operiert, daß er immer dort, wo es
zum Schlagen kommt, in der Übermacht ist. Man vermeide auch
in sittlichen Entscheidungen die Schlacht, die man verlieren
könnte, und stelle sich dem Feinde, d. h. der Versuchung, nur da,
wo man des Erfolges sicher ist. Ein so geschickter moralischer
Stratege vermeidet nicht nur Verluste, er erficht auch kleine Siege,
und indem er sie erzielt, wächst auch seine Macht. Jeder solche
380 Erziehung

Sieg macht ihn stärker, und so vermag er schließlich dem Feinde


in offenem Felde die Stirn zu bieten.
Die Wichtigkeit der ethischen Führung wurde schon im Alter­
tum anerkannt. Man denke an die große Rolle, die sie bei den
Pythagoreern spielte, deren ganze Schule dadurch den Charakter
einer religiösen Gemeinschaft bekam. Denn gerade die Volks­
religionen pflegen umsichtig auf Mittel ethischer Führung be­
dacht zu sein, und gar vieles, was da bestimmt wurde, ist mit
Weisheit bestimmt. Bei denen, die zu keiner positiven Religion
sich bekennen, ist dagegen die ethische Führung meist beklagens­
wert verkümmert. Darum haben edle Männer, wie in England
J. St. Mil 1, in Frankreich P a y o t, in Deutschland F e c h n e r,
sich sozusagen der ethischen Heidenmission gewidmet. Wenn von
Volksbildung die Rede ist, so wird gewöhnlich an alles Mög­
liche gedacht, was dem Verstände geboten werden könne, selten
aber an eine wahre Herzens- und Willensbildung. Der Irrtum,
daß es einer systematisch ethischen Führung nicht bedürfe, weil,
was hier not tue, sich sozusagen von selber finde, wird sich bitter
rächen. Denn die schwachen Ansätze dazu im täglichen Leben,
wo sich wohl jeder schon einmal gesagt hat: „Dahin gehe ich
nicht, oder das tue ich nicht, sonst bin ich verloren“ etc., reichen
bei weitem nicht aus. Dies zeigt sich beim einzelnen und bei
ganzen Völkern. Politische Verführer, Aufrührer, Apostel des
Umsturzes haben mit ethisch unerzogenen Massen ein leichtes
Spiel und bringen es schließlich dahin, diese gegen die schwer­
sten Ungerechtigkeiten und furchtbarsten Grausamkeiten bei der
Behandlung ihrer Gegner nicht nur abzustumpfen, sondern als
Werkzeuge sich gebrauchen zu lassen.
Darum haben Ethiker, die sich des praktischen Charakters
dieser Disziplin bewußt geblieben sind, allen Nachdrude auf die
ethische Führung und Selbsterziehung nach einem durchgebilde­
ten und folgerichtig eingehaltenen Plan gelegt. Leider ist den
deutschen Philosophen unserer Tage das Verständnis dafür, daß
es sich doch in der Ethik um eine praktische Disziplin handle,
vielfach verlorengegangen. Man findet darum in den verschie­
denen Kompendien der Ethik allerlei abstrakte, vielleicht
abstruse psychologische und metaphysische Theorien, aber wenig
und Selbsterziehung 381
oder nichts, das einen ethischer Führung Bedürftigen zu fördern
vermöchte. So ist es zu erklären, daß gesund urteilende Praktiker
derart an der wissenschaftlichen Ethik irre geworden sind, daß
sie sie geradezu als eine intellektualistische Verirrung ablehnen.
Ein kaum geringerer Fehler, denn der moderne Mensch ist von
vornherein skeptisch eingestellt und so denn insbesondere leicht
der zersetzenden Skepsis auf ethischem Gebiete zugänglich. Da
gilt es, ihm vor allem die Überzeugung beizubringen, daß es
sich hier um ein der natürlichen Erkenntnis wohl zugängliches
Gebiet handle. Richtig aber bleibt, daß der Ethiker sich mit den
Grundlagenfragen nicht zufriedengeben, sondern um so größeres
Gewicht auf die Lehre von der ethischen Erziehung und Selbst­
erziehung legen muß, je mehr die Autorität der religiösen Er­
zieher des Volkes in unseren Tagen ins Wanken gekommen ist.
Es verhält sich hier mit der Ethik ähnlich wie mit der Logik.
Wenn diese ihre Aufgabe als praktische Disziplin erfüllen soll,
so darf sie es nicht dabei bewenden lassen, die Schlußregeln an­
zugeben und etwa noch durch ein Verzeichnis der formellen
Schlußfehler zu ergänzen, sie soll vielmehr auch dartun, wie es
zu solchen Fehlschlüssen kommt, sie muß den psychologischen
Veräusserungen solcher logischer Entgleisungen nachspüren und
zeigen, wie man ihnen entgeht. Auch darin sind uns die Englän­
der überlegen. J. St. Mills Logik unterscheidet sich in diesem
Punkte vorteilhaft von unseren Logikkompendien. Derselbe
Mill hat aber, wie schon erwähnt, auch als Ethiker solchen
praktischen Bedürfnissen Rechnung getragen. Auch Comte hat
sich darum sehr bemüht. Auch Männer der Wissenschaft und
politische Praktiker, die sich nicht zu den Philosophen zählen,
wußten sich in den Dienst dieser wichtigen Aufgabe zu stellen.
Und ein BenjaminFranklin nahm sie so wichtig, daß er
sich mit dem Gedanken trug, ein Werk über ethische Führung
zu schreiben. Mit vielen anderen Aufgaben beschäftigt, ist er
nicht dazu gekommen, den Plan auszuführen, aber Skizzen, die
seine Absicht bekunden, sind uns erhalten geblieben.
So wollen wir denn auch hier einige Gesichtspunkte für die
ethische Führung, die zu den wesentlichen gehören, erörtern. Als
solche kommen vornehmlich in Betracht: die ethische Wachsam­
382 Sittliche Wachsamkeit

keit, die Sorge für die Meldung und Aufhebung der Gefahr und
die Sorge um die allgemeine Förderung der sittlichen Dispo­
sitionen.

§ 118. Von dem ersten und wichtigsten Teile der ethischen Führung,
der sittlichen Wachsamkeit

Auch im ethischen Verhalten gilt: „Toujours en vedette.“ Die


Moralisten sprechen von sittlicher Wachsamkeit, von einem
Wandel im Lichte der Wahrheit. Als Regeln dafür kommen vor­
nehmlich in Betracht:
1. Man soll ständig das sittliche Ziel im Auge behalten und
sich ein lebendiges Gefühl für den überragenden Wert der
Tugend bewahren. Dazu ist dienlich
a) zeitweilige Einsamkeit;
b) das Lesen ethischer Schriften. Als Beispiele seien erwähnt:
E p i k t e t s Handbüchlein der Moral, Mark Aurels Selbst­
betrachtungen, Aristoteles’ Nikomadiische Ethik, einige
der Heiligen Schriften, Schriften von Chrysostomus,
Hutcheson etc.
c) Werke der Dichtkunst von hohem sittlichen Gehalt;
d) ein geregeltes Leben, worin sich dann von selbst Anhalts­
punkte ethischer Assoziationen bieten.
2. Man bleibe sich aber auch stets der besonderen Lage be­
wußt, in der man sich befindet:
a) In bezug auf die Mittel, die einem zur Verfügung stehen,
bzw. unter den verschiedenen Verhältnissen, zwischen denen wir
zu wählen haben, zur Verfügung stehen würden;
b) in bezug auf die Versuchungen, die an uns herantreten
mögen. Sie sind verschieden in verschiedenen Verhältnissen und
bei gleichen Umständen wieder verschieden je nach unseren
inneren Dispositionen. Von diesen hängt es ja ab, ob etwas für
uns eine Versuchung werden kann oder nicht. Daher die Wichtig­
keit der Selbsterkenntnis für die ethische Wachsamkeit. Man tut
gut daran, sich in einer Art geschichtlicher Rückschau ein Bild
von dem typischen Charakter unserer Willensentscheidungen zu
Wert der Gewissenserforschung 383

verschaffen. Darin liegt die Bedeutung der Gewissenserforschung,


nicht in einer bloßen Vergegenwärtigung im Gedächtnis. Es
kommt darauf an, daß wir aus dieser Rückschau unseren Charak­
ter kennenlemen, im einzelnen eine genauere Kenntnis unserer
Dispositionen gewinnen. Dabei haben wir uns nicht nur an die
wirklich vollzogenen Handlungen zu erinnern, sondern auch an
unsere Wünsche und Begierden, damit uns alle psychischen Fak­
toren deutlich werden, die einen Rückschluß auf unsere habi­
tuelle Willensgestaltung zulassen.
Haben wir so erkannt, was für unser sittliches Verhalten eine
Gefahr bedeutet, so gilt es diese zu vermeiden bzw. aufzuheben.

$ 119. Von der Meldung und Aufhebung der Gefahr

Wenn eine Situation uns auf Grund der Kenntnis unserer


Dispositionen gefährlich scheint, so tut man am besten, ihr aus­
zuweichen. Ist sie aber unvermeidlich, so muß man sich beizeiten
auf sie vorbereiten.
Als vorbeugende Maßnahmen -in bezug auf die Gelegenheit
kommen in Betracht: Aufsuchen nü^licher Beschäftigung, niemals
müßig sein. Müßiggang ist der Sumpf, der ein ungesundes mora­
lisches Klima schafft.
Man kann aber die Gefahr auch beseitigen, indem man schon
jetjt etwas setjt, wodurch man der Entscheidung vorgreift. Man
zerstört dadurch, was später eine Gefahr sein würde, wenn sie
auch noch im Momente nicht aktuell ist.
Wo es nicht möglich ist, durch ein solches Vorgreifen die Ge­
fahr zu beseitigen, gilt es, sich eben darauf vorzubereiten. Dies
geschieht:
a) indem man schon jetjt einen festen Vorsatj faßt, unter Vor­
führung aller Motive für das Gute;
b) indem man sich im Leichteren für das Schwere vorübt;
c) indem man unterstützende Motive hinzugesellt. Man denke
an den Zusammenhang von Schlechtigkeit und Unseligkeit, an
die spätere Reue, innere Zerrissenheit, die Zurückbleiben würde,
an das Mißfallen der anderen und insbesondere der uns Lieben.
384 Förderung der sittlichen Dispositionen

Man denke daran, daß jeder Akt ein neuer Ring an der Kette
ist, womit die Leidenschaft und böse Gewohnheit uns festhält.
Man se$e selbst Lohn und Strafe für sich aus. Ähnlich wie ein
äußeres Strafgesetj kann auch «in von eigener Autorität ge­
gebenes wirken.
d) indem man Lagen aufsucht, die gute Anregungen verheißen.

g 120, Sorge fOr die allgemeine Forderung


der sittlichen Dispositionen

Im Vorhergehenden war davon die Rede, wie wir uns am


besten auf besondere Lagen, in denen eine sittliche Gefahr für
uns droht, vorbereiten sollen. In mittelbarer und entfernterer
Weise aber bauen wir der einzelnen Gefahr durch die Vorsorge
gegen alle Gefahren vor, indem wir nämlich für gute sittliche
Dispositionen bei uns überhaupt Sorge tragen. Hier kommt einer­
seits die Erhaltung, andererseits die Besserung der sittlichen Dis­
positionen in Betracht.
A. 1. Was das erste anlangt, so hat man vor allem zu verhin­
dern, daß eine gute Disposition durch physische Einflüsse ver­
lorengehe. Mens sana in corpore sano. So liegt denn die Sorge
für die leibliche Gesundheit auch im sittlichen Interesse.
2. Eine sittliche Disposition kann auch durch Mangel an Übung
verlorengehen. Darum schaffe man, wo sich durch längere Zeit
keine Gelegenheit zur Übung gewisser Tugenden ergeben hat,
sie künstlich. Man kann sich z. B. gewissen Beschwerlichkeiten
auch dann unterziehen, wenn ihr Erfolg an und für sich von
keiner nennenswerten Bedeutung ist; Bedeutung hat dann eben
die Übung als solche, weil sie die gute Disposition aufrecht er­
hält. Man versage sich zuweilen erlaubte Genüsse, um sich mäßig
zu erhalten, eine Maßnahme, die auch in der Kindererziehung
zu empfehlen ist. Darin Hegt überhaupt der Wert der Askese,
die als Selbstzweck verwerflich wäre. Als Übungsfeld in dieser
Hinsicht können auch die sog. guten Manieren gelten, die man
auch dort beibehalten soll, wo ihre Vernachlässigung keinen An­
stoß erregen würde, ja sogar in der Einsamkeit. Geschichte von
Wirkling des guten Beispieles 385
dem Engländer, der, als einziger Weißer unter Primitiven lebend,
doch stets vor dem Essen sich umkleidete. Man sei auf Sorgfalt
in der Kleidung auch zu Hause bedacht. Es sollen eben diese
Dinge zur zweiten Natur werden.
3. Der eigenen Übung ist die Wirkung des guten Beispiels
verwandt, die darauf beruht, daß sich der Akt, wenn nicht wirk­
lich, so doch in der Phantasie vollzieht. Man suche darum gute
Beispiele auf, und wenn man sie im Leben nicht leicht findet,
hole man sich die Anregung zum Guten aus der Geschichte oder
aus den Werken der Kunst. Die Geschichte hat hiebei schon
darum den Vorrang, weil ein Beispiel, an das man als Tatsache
glauben darf, wirksamer ist. Das gibt dem sittlichen Heldentum
oft eine weit über den unmittelbaren Wert ihrer Opfertaten hin­
ausgehende Bedeutung. Es kann Jahrhunderte in seinen Bann
zwingen. Ich sehe darin auch die hohe erzieherische Bedeutung
des Ordenslebens. Es ist kurzsichtig, die Existenzberechtigung
eines religiösen Ordens nur nach seinem unmittelbaren sozialen
Nutzen zu beurteilen. Es kommt nicht allein darauf an, was ein
solcher z. B. charitativ leistet, sondern auch und mehr noch, was
er als Beispiel leistet, als Beweis, daß solche Opfer die mensch­
liche Kraft nicht übersteigen. Dann sagen wir uns: wenn diese
heldenhaften Naturen das freiwillig auf sich genommen haben
und für die Dauer, so wäre es doch wahrlich unwürdig, wenn
wir dort, wo die Pflicht dazu an uns herantritt, Ähnliches vor­
übergehend auf uns zu nehmen, dies Geringere nicht zustande-
brächten. Es ist mir unverständlich, wie Religionsphilosophen,
welcher der Persönlichkeit Jesu die geschichtliche Wahrheit ab­
sprechen, ihren Wert als sittliches Beispiel dadurch unbeeinträch­
tigt glauben können.
4. Auch durch Übung entgegengesetzter Akte kann eine gute
Disposition verlorengehen, indem eben die entgegengesetzte ge­
nährt wird. Darum meide man solche Akte, auch wenn sie
harmlos scheinen. Man meide aber insbesondere auch Gesell­
schaften, in denen schlechtes Beispiel auf der Tagesordnung
steht, verführerische Lektüre, kurz alles, was lasterhafte Dis­
position zu fördern geeignet wäre.
5. Auch darauf ist zu achten — und das ist schon eine feinere
386 Stärkung der sittlichen Dispositionen

Rücksicht —, daß unsere gute Gesamtdisposition nicht unter dis­


proportionierter Übung leide. Es soll nicht eine Disposition auf
Kosten anderer wertvoller sich ausbilden, vielmehr ein gewisses
Gleichmaß der sittlichen Kräfte gewahrt werden. Das Mitleid
nicht auf Kosten der Gerechtigkeit, die Friedensliebe nicht um
den Preis anderer hoher Güter, wie z. B. der Wahrheit. All­
gemein besteht die Gefahr einer disproportionierten Ausbildung
der Sorge für sich selbst. Für uns zu sorgen ist unsere Pflicht,
aber da sie uns immer wieder beschäftigt, nährt sich an ihr auch
die Selbstliebe übermächtig. Damit hängt dann wieder eine übers
Ziel hinausgehende Schälung der Abtötung von Seiten mancher
Ethiker zusammen, die den Bogen nach der Gegenseite Über­
spannen.
6. Interessant und auch praktisch bedeutsam ist die Tatsache,
daß sittliche Dispositionen auch durch Übung von Akten ver­
stärkt werden können, die außerhalb des ethischen Bereiches
liegen. Es gibt ja auch auf anderen Gebieten des Bewußtseins
vollkommene Tätigkeiten. So auf dem des Vorstellens die
Schönheit und künstlerische Betätigung, auf dem des Urteils die
Erkenntnis und die zu ihr führende Forschung. Da zeigt denn
die Erfahrung, daß die Übung einer edlen Tätigkeit auf dem
einen Gebiete auch der Vollkommenheit der anderen zugute­
kommt, ähnlich wie von homologen Gliedern das eine durch die
Übung des anderen gewinnt. So vermag das lebendige Gefühl
für ästhetische Werte auch das für moralische zu steigern. Diese
Tatsache ist nicht unbemerkt geblieben, aber meist schlecht er­
klärt worden.
Was ich hier im Auge habe, ist nicht dasselbe, was denen vor­
zuschweben scheint, die gerne von dem versittlichenden Charak­
ter der Musik sprechen, wie dies z. B. Platon getan hat. Die
Musiker selbst darf man darüber nicht befragen, denn die be­
ginnen gleich zu schwärmen. Auch machen sie sich keine richtige
Vorstellung davon, wie es dabei zugeht. Vor allem ist es falsch,
der Musik den Ausdruck von Gedanken zuzumuten. Die Musiker
selber scheinen nicht recht an diese Funktion zu glauben, denn,
wenn sie wünschen, daß man sich dabei etwas Bestimmtes denke,
gebrauchen sie die Vorsicht, es ins Programm drucken zu lassen.
durch Übung anderer vollkommener Tätigkeiten 387
Aber Stimmungen vermag die Musik zu wecken, Gefühlsreihen
in Gang zu setjen oder in Gang befindliche zu verstärken. Und
dies in hohem Maße. Nun sind auch Handlungen von edlem
Gehalt vielfach mit gewissen Stimmungen verbunden und daher
kommt es, daß Musik auch die Kraft hat, die Neigung zu solch
sittlichen Aktionen zu fördern. Kriegerische Musik die Tapfer­
keit, die Werke Palestrinas oder Sebastian Bachs
die Frömmigkeit. Indem P 1 a t o n diesen versittlichenden Ein­
fluß der Musik in seinen Gedanken über die Erziehung berück­
sichtigt, verschließt er sich nicht den Gefahren, die von dieser
Seite drohen können. Es gibt eine ausgesprochen sinnliche, ver­
weichlichende, die erotischen Instinkte aufpeitschende Musik. Als
Beispiel stellt er die phrygische Tonart der ernsten dorischen
gegenüber und will sie aus den öffentlichen Aufführungen ver­
bannt wissen. Ähnlich hat Tolstoj über die Wagnersche
Musik geurteilt.
Doch, wie gesagt, nicht diese Mitwirkung der Musik hatte ich
im Sinne, als ich bemerkte, daß künstlerische Genüsse die Dispo­
sition für sittliches Fühlen und Wollen verstärken können. Ich
dachte mehr daran, daß mit der Liebe zum Schönen, auch die
zum Wahren und Guten sich verfeinern kann. Sie hebt das
menschliche Niveau. Gröberen Genüssen wird man sich in einer
ästhetisch gehobenen Umgebung nicht so leicht hingeben. Es
macht sich hier ein Gesetj der Gewohnheitsbildung nach Ana­
logie geltend. Man wird demgegenüber vielleicht auf die sitt­
liche Verwilderung hinweisen, die gerade in künstlerisch so hoch­
stehender Zeit wie die der Renaissance eingerissen sei. Aber
wahrscheinlich wäre es damals in Italien ohne den Kult des
Schönen noch ärger zugegangen. Die Versuchung zu solchen Aus­
schreitungen war ja in dem Kriege aller gegen alle sehr groß.
Auch darf nicht übersehen werden, daß dieselben Männer, deren
Lebensweise wir verurteilen, auch großer heroischer Taten sich
fähig zeigten.
Die ethische Wirkung der Kunst hat auch die Kirche sehr zu
würdigen verstanden. Nicht um Gott zu dienen schmückt sie ihre
Dome aufs herrlichste — ihm dient allein der innere Schmuck
der Seelen —, aber der Anblick des Schönen reinigt und erhebt
388 Planvolk Förderung der sittlichen Dispositionen

auch die Seelen. Man erhalte sich also auch in sittlichem Inter­
esse seine ästhetische Genußfähigkeit und bewahre sie vor dem
Vertrocknen.
B. Ich hatte bei den vorhergegangenen Bemerkungen vorwie­
gend die Erhaltung vorhandener guter Dispositionen im Auge,
wir müssen aber auch darauf bedacht sein, unsere sittliche Ver­
fassung zu verbessern. Schon indem wir es uns bewußt zum
Grundsafj machen, an unserem sittlichen Fortschritt zu arbeiten,
fördern wir unsere guten Dispositionen. Aber es bedarf auch
eines systematischen Vorgehens nach einem durchdachten Plan.
Es gilt die Tugend stufenweise zu höherer und höherer Voll­
kommenheit emporzuführen. Von niederen Freuden steigt man
zu geistigen Genüssen empor und auch in ihnen zu immer höhe­
ren. Man bricht die Kraft des Egoismus, indem man Liebe und
Sorge ausdehnt: auf die Familie, auf Freunde, auf das Vater­
land, auf die Menschheit.
Es kommt hier viel darauf an, keine Selbstzufriedenheit auf­
kommen zu lassen, denn Stillstand ist Rückschritt. Von Maxi­
milian II., König von Bayern, einem Fürsten, der sein Volk
gut zu führen verstand, wird erzählt, daß er sich jeden Tag
eine besondere Tugend notiert habe, um sich darin zu üben.
Darum revidiere man von Zeit zu Zeit seine Umgebung, ob
sie denn nicht zu einem Hemmnis des sittlichen Fortschrittes ge­
worden sei. Das ist sie nicht nur, wenn sie üble Beispiele bietet,
sondern auch, wenn ihr die Ideale und die Schwungkraft fehlen.
Darum ist es von hohem Wert für den eigenen sittlichen Fort­
schritt, wenn man Gelegenheit hat, seinen Horizont durch die
Bekanntschaft mit bedeutenden Persönlichkeiten zu erweitern.
Wo diese fehlt, so ersetje man sie wenigstens durch eine die
edlen Kräfte anregende Lektüre. Auguste Comte hat einen
weltlichen Heiligenkalender zusammengestellt mit solchen Bei­
spielen, die geeignet sind, den sittlichen Enthusiasmus zu ent­
flammen.
Ein gefährliches Gift ist dagegen die Schmeichelei. Gefährlich
ist jene beschwichtigende Beflissenheit, die, um uns nicht weh
zu tun, alles zu entschuldigen sucht. „Ach, jeder lügt!“, „Wer
niemals einen Rausch gehabt, der ist kein braver Mann“, „Tust
Gefahr der Schmeichelei 389

du es nicht, so tut’s ein anderer“. Dieses „laisser faire, laisser


aller“ ist der Todfeind sittlichen Fortschritts. Wem es ehrlich
um seine Höherentwicklung zu tun ist, wird dem Schmeichler
ausweichen und den ehrlichen Kritiker willkommen heißen. Wir
schälen den Mann der Wissenschaft gering, der, zufrieden mit
dem einmal Gelernten, nur darauf bedacht bleibt, es im Gedächt­
nis zu bewahren, aber neuen Ideen und dem Fortschritt in der
Erkenntnis sich verschließt; aber wir sind recht tolerant gegen
den sittlichen Durchschnittsmenschen, der auf sittlichen Fort­
schritt verzichtet. Und doch sollten wir gerade auf diesem vor­
nehmsten Gebiete nicht minder neue Anregungen zu schätzen
wissen und uns, so wie wir uns gerne mit wissenschaftlichen
Fachgenossen beraten, auch mit sittlich Hochstehenden Rates
pflegen, um auch in dieser Hinsicht nicht stillzustehen.
HI. Kapitel

Von den auf Tugend gegründeten geselligen Verbänden

$ 121. Von der Freundschaft

Gesellige Verbindungen, auf Tugend gegründet, sind eines


der vorzüglichsten Mittel, die sittliche Kraft des einzelnen zu
verstärken und zu Leistungen gelangen zu lassen, die der
Isolierte niemals zustandebrächte. Eine solche gesellige Ver­
bindung ist schon die Freundschaft. Von Freundschaft sprechen
wir, wo zwei Menschen gegenseitige bewußte Liebe und der
Wunsch fortgesetzten Umgangs verbindet. Die Motive, welche
diesen Wunsch bestimmen, können höherer und niedrigerer Art
sein. Arzt und Apotheker suchen ihren geschäftlichen Nutzen,
man nennt sie Geschäftsfreunde, die sog. Kameradschaften sind
auf Vergnügen gegründet, die echten Freundschaften aber auf
edle Vorzüge, insbesondere die Tugend. Wer den Namen in
Ehren hält, wird ihn der echten Freundschaft vorbehalten. Sie
beruht auf selbstloser Liebe und wird von der Gemeinschaft
sittlichen Strebens beseelt. Die anderen sind nur eine Mimikry
oder Karikatur von ihr.
Die Motive des dauernden Verkehrs können auf beiden Seiten
verschieden sein, hier Vergnügen, dort Nutjen, und solche ge­
mischte Formen sind natürlich der wahren Freundschaft noch
unähnlicher.
Die echte aber ist von hohem sittlichen Wert. Edle Vorzüge
und ihre Wertschätzung knüpfen hier das Band und steigern sich
mit ihrer Fortdauer. Jedes Glück, das einer auf diesem Wege
findet, wird auch dem anderen zur Quelle des Glückes, wie denn
auch das Bewußtsein, einen Freund zu haben, dessen Liebe sich
Freundschaft 391
unserer Erfolge freut, als wären sie die seinen, dieses Glück
erhöht.
Die antike Ethik wußte das Gut der Freundschaft hoch zu
schätzen. Alle sokratischen Schulen stellten Untersuchungen über
sie an. Aristoteles widmet ihr von den zehn Bänden seiner
Nikomachischen Ethik zwei. Audi E p i k u r weilt ausführlich bei
diesem Gegenstände. Ohne Freunde würde keiner zu leben
wünschen, meinte Aristoteles. Ein Guter aber, der keinen
Freund gefunden hat, gerät, da das menschliche Herz der Aus­
sprache und des Umganges bedarf, bald unter üble Gesellen,
und schlechte Gesellschaft ist der Ruin des idealen Strebens der
Jugend. Feuerbrände, vereinigt, erhalten ihr Feuer, auseinander­
gerissen erlöschen sie.
Unter den Untersuchungen, welche die alten Ethiker über die
Freundschaft angestellt haben, begegnen wir u. a. der Frage,
ob sie nur zwischen Gleichgestellten möglich sei oder auch bei
beträchtlichem Rangunterschiede. Der günstigere Fall ist jener.
Damit im anderen Falle Freundschaft bestehen könne, muß der
Hochgestellte den Vorzug seiner Stellung für geringer halten als
diejenigen Vorzüge, worauf die Freundschaft beruht. Amicitia
pares aut invenit aut facit. Jedenfalls tut man gut, sich Edle
und annähernd Gleichgestellte zu Freunden zu suchen.
Audi das untersucht Aristoteles, wie Freundschaften sich
erhalten und wie sie zerfallen, ob sie wünschenswerter seien im
Glück oder im Unglück. Der Edle, meint er, wird ihrer mehr
im Glück bedürfen, das Unglück trägt er lieber allein, denn wie
wohl ihm auch der Trost der Liebe tun mag, das Bewußtsein,
daß andere durch ihn in Leid verseht sind, wird ihm selber
schmerzlich sein. Sein Glück aber will er teilen, denn darum ist
er ja ein Guter, daß er anderen Gutes tue und sie mitgenießen
lasse, woran er selbst sich dann doppelt freut.

| 122. Von der Ehe

1. Eine besondere Art der freundschaftlichen Verbindung,


auf Tugend gegründet und Mittel zur Tugend, ist die Ehe.
392 Voraussetjungen

Ben th am sieht in ihr die Basis der Zivilisation, er preist sie


um der Befreiung willen, die sie der Frau gebracht hat. Sie
gliedert die Gesellschaft natürlich und zweckmäßig, sie schuf
eine häusliche Magistratur, vielfach ungleich wirksamer als die
staatliche, sie lenkt den Blick aller, die Kinder haben, auf die
Zukunft und dient der Vervielfältigung der sozialen Sympathien.
Ohne sie, was wären die Menschen!
2. Wie die Freundschaften werden auch die Ehen aus vielfach
verschiedenen Rücksichten geschlossen, die einen auf materielle
Wohlfahrt oder sonstigen Nutjen, andere auf Leidenschaft,
andere auf edle Vorzüge gegründet, die wahre Liebe wecken.
Und auch hier können die Beteiligten von gleichen oder un­
gleichen Beweggründen geleitet sein. Nur die auf edle Motive
gegründete Ehe ist die wahre und bürgt für dauerndes Glück.
Dem Ideale fern stehen solche Ehen, die aus niedrigeren Motiven
geschlossen wurden, und am fernsten, wo diese bei den Gatten
verschieden sind.
3. Über die Stellung der beiden Gatten zueinander möchte ich
dem Urteile Benthams im wesentlichen beistimmen. Er ver­
langt:
a) Unterordnung der Frau. Der Mann soll Vormund sein, nicht
umgekehrt. Schlimm steht es, wenn Legislative und Exekutive
einander entgegenarbeiten. Im allgemeinen wird man sagen
dürfen, daß die geistige Kraft des Mannes stärker ist, nicht als
wären die Frauen weniger gescheit, wohl aber sind die meisten
von geringerer Ausdauer in geistiger Arbeit. Und sollte es sich
im einzelnen Falle anders verhalten, so ist von dieser Bestimmung
kein Unheil zu fürchten, denn die Erfahrung zeigt, wieviel die
Frauen durch ihre Liebenswürdigkeit auszurichten vermögen.
Verbindet sich einmal mit den weiblichen Vorzügen eine Über­
legenheit auch darin, worin sonst der Mann voransteht, so wird
die Frau schon via facti die Herrschaft erringen. Übrigens soll
die Bestimmung, daß die Frau dem Manne untergeordnet sei,
sie nicht etwa dem Manne auf Gnade und Ungnade unterwerfen;
auch das häusliche Regime soll ein konstitutionelles sein, kein
despotisches.
b) Hingegen ist es eine Konsequenz des Gesagten, wenn ich
und Wert der Ehe 393

hinzufüge, daß die Verwaltung im häuslichen Staate dem Manne


allein zufallen solle.
c) Nicht ebenso der Genuß der Lebensgüter, worin vielmehr
volle Gleichberechtigung zu herrschen hat. Nur bei ihrem Er­
werbe hat er die Führung, nicht aber größeren Anspruch auf
ihren Genuß.
d) Die eheliche Treue ist für beide Pflicht. Der Mann, der sie
bricht, verlebt die Gerechtigkeit ebenso wie die Frau, und nicht
minder verletjt er zarte Liebespflichten gegen die Gefühle der
Frau. Schon Aristoteles hat das Unrecht, das in der Treu­
losigkeit liegt, erkannt. Wie eine Schutjflehende, sagt er, kommt
das Weib an den Herd des Mannes. Es steht unter dem Schutje
der Götter. Ihr ein Unrecht zuzufügen, ist am wenigsten erlaubt.
Ein Unrecht gegen sie aber begeht, wer die Ehe bricht.
4. Alter der Eheschließung. Nicht zu jung, wobei unter Jugend
nicht etwa bloß physische Unreife zu verstehen ist. Zur geistigen
aber gehört, daß den Brautleuten schon die Vorzüge besonders
am Herzen liegen, auf welche sich ein dauerndes Glück gründen
läßt. Wer unbesonnen eine Ehe eingeht, vergeht sich schwer ge­
gen die eigene Zukunft, besonders schwer dort, wo die Ehe un­
lösbar ist. Aristoteles fand als das richtige Alter beim
Manne 37, bei der Frau 17 Jahre. Doch lassen sich keine stren­
gen Grenzen angeben. Ganz verkehrt aber sind die orientali­
schen Frühehen, wo das Mädchen in die Ehe geschleppt wird,
nicht weil es früher reif wäre, sondern aus Uneinsichtigkeit und
wo denn auch die Frauen frühzeitig an Leib und Seele zu­
grunde gehen.
5. Wer hat zu wählen? Die Beteiligten selbst. Wer läßt auch
nur eine Freundschaft für sich schließen? Kinder und Eltern
sehen die Dinge auf verschiedene Art. Die Kinder wollen glück­
lich sein durch Liebe, die Eltern, daß die Kinder glücklich schei­
nen durch Behaglichkeit. In manchen Ländern ist die Gatten­
wahl durch die Eltern eingebürgerte Gepflogenheit. Kälte und
Treulosigkeit sind oft die Folge, wie das Beispiel Frankreichs
zeigt. „En France on ne s’aime pas, on se convient.“ Immerhin
scheint mir ein Einfluß der Eltern auf die Wahl wünschenswert,
namentlich auf die Töchter in jüngeren Jahren, schon dadurch,
394 Absurdität und Verderblichkeit

daß sie ihren Umgang bestimmen. Man wird hier angemessen


eine Altersgrenze bestimmen können, bis zu der das Veto der
Eltern den Abschluß einer Ehe verhindern kann. Doch mag es
auch jenseits dieser Grenze noch immer nicht unangebracht sein,
den Abschluß zu verzögern, um Übereilungen vorzubeugen.
6. Gegen Ehen zwischen nahen Verwandten sprechen physische
und sittliche Gründe. Man mehrt die Bande der Sympathie, in­
dem man sie in ihrer Eigenart wahrt. Das Verbot solcher Ehen
beugt gefährlichen Unordnungen vor. Auch sprechen die Erfah­
rungen, die man mit der Nachkommenschaft gemacht hat, da­
gegen. Degeneration ist vielfach die Folge.
7. Wieviel Kontrahenten? Zwei. Die Polyandrie ist lächerlich
und vielfach verderblich. Und schon weil sie unstatthaft ist, ist
die Polygamie ein Unrecht gegen die Frau. Dem Manne mag sie
unter Umständen passen, der Frau — von kulturell sehr tief­
stehenden Zuständen abgesehen — nie. Es würden also für jeden
begünstigten Mann die Interessen mehrerer Frauen geopfert. Die
Polygamie drückt das Weib zur Sklavin und Buhlerin herab. Sie
ist aber auch der Erziehung der Kinder schwer nachteilig. Es ist
doch für den Fortschritt der Menschheit nicht bloß wichtig, daß
Kinder geboren, sondern auch daß sie erzogen werden. Wie aber
soll dies in einer polygamen Familie gelingen, da diese doch
notwendig das Band zwischen Vater und Kind schwächt? Unver­
meidlich wird er unter seinen vielen Frauen die eine und andere
bevorzugen und Parteilichkeit gegen die Kinder, Rivalitäten,
Intrigen werden die Folge sein. Die Haremswirtschaft der orien­
talischen Dynastien brachte es mit sich, daß der Bruder, der zur
Macht kam, es als sein erstes Regierungsgeschäft erachtete, seine
Brüder aus der Welt zu schaffen. Wie schweren Schaden dadurch
die Moral auch bei sittlich höherstehenden Völkern leidet, zeig­
ten die Familiengreuel, zu denen die Polygamie in den Häusern
Davids und Salomons geführt hat. So gesellt sich zum Verbre­
chen gegen die Stellung der Frau ein noch schwereres gegen die
der Geschwister. Selbst wo idyllische Zustände herrschen, wie bei
den Patriarchen, kommt es zu schweren Übelständen; man denke
an die Verstoßung der Hagar, an die Eifersucht der Brüder
Josefs, der in die Sklaverei verkauft wurde.
von Polygamie bzw. Polyandrie 395

Ein weiteres Unrecht ist die Polygamie gegen die Armen. Wie
soll der arme Mann zu einer Frau kommen, wenn der Reiche
sich beliebig viele nehmen kann?
Wie andere Narrheiten ist unserer Zeit auch eine Propaganda
für die Polygamie nicht erspart geblieben. Sie wird teils mit
Rücksicht auf den biologischen Fortschritt des Menschengeschlechts
begründet, wobei der Monogamie vorgeworfen wird, daß sie
sich an den konstitutionellen Kräften der Rasse versündige, in­
dem sie die Fortpflanzungsfähigkeit des gesunden Mannes nicht
genügend ausnutje und Menschenaufzucht nach Darwinschen Prin­
zipien verhindere. Andere wieder begründen ihr Plädoyer für
die Polygamie bzw. Polyandrie mit dem Anspruch auf Ausbil­
dung der Persönlichkeit, die ebenfalls in der Enge der Einehe
zu kurz käme. Sie fordern darum volle Freiheit für beide Teile.
All dies verstößt aber, wie schon gesagt, gegen die Rechts­
und Liebespflichten. Speziell gegen die darwinistisdi orientierte
Propaganda wäre zu bemerken, daß es für den Fortschritt der
Menschheit doch nicht in erster Linie auf die Körper-Produktion
ankommt. Es sollen Menschen Seelen herangebildet werden.
Nun sehen selbst diese Fürsprecher der Polygamie ihre Nach­
teile für die Erziehung ein und pflegen darum zu dem Vorschlag
zu greifen, daß man diese Aufgabe dem Staate überlasse. Aber
das scheint recht unüberlegt gesprochen und recht kurzsichtig
gedacht. Wer ist denn der Staat? Und ist alles, was er macht,
eo ipso vortrefflich und vertrauenswürdig? Sollen bezahlte Be­
amte und Beamtinnen die Erziehung besser besorgen als die
Eltern? Wie wird es bei solcher staatlicher Aufzucht um die
Individualisierung der Erziehung bestellt sein? Sie wird offen­
bar ganz verlorengehen, eine üble Nivellierung wird platj-
greifen. Also: für die Eltern verlangt man die Aufhebung der
Einehe, damit sie ungebunden ihren wechselnden Neigungen
nachgehen können und man verlangt das im Namen der Pflege
der Persönlichkeit — und die Kinder, in denen doch vor allem
die Persönlichkeit gepflegt und herangebildet werden soll, will
man von früher Jugend der Schablone und Uniformierung
überantworten. Das sind doch lächerliche Widersprüche, die von
einem recht oberflächlichen Denken zeugen. Gerade in der Fa­
396 Argumente für die

milie ist der Boden gegeben, aus dem, wie die Geschichte zeigt,
hochwertige Persönlichkeiten hervorwachsen, und je fester ihr
Gefüge ist, desto Besseres läßt sich auch in dieser Hinsicht er­
warten.
6. Soll die Ehe auf Zeit oder auf Lebensdauer geschlossen
werden? Jedenfalls soll die Absicht auf eine Vereinigung fürs
Leben gerichtet sein und darnach der Vertrag lauten. Man
schließt ja auch Freundschaften nicht auf Kündigung. Nur da­
durch wird eine feste Grenze gegen jene lockeren Verbindungen
gezogen, die ungerecht gegen das weibliche Geschlecht und darum
unsittlich sind.
7. Ob eine Lösung des Ehebandes statthaft sei? Daß die Ehe
nicht auf einseitigen Wunsch gelöst werden darf, ist nach dem
Gesagten wohl schon klar genug, es müßte denn ein schweres
Verschulden des anderen Teiles vorliegen, wie dies ja auch sonst
zur Auflösung von Verträgen führen kann. Ist aber ohne solches
und bei gegenseitigem Einverständnis eine Lösung zu billigen?
Die Frage läuft darauf hinaus, ob der Staat eine solche gestatten
soll. Gewichtige Gründe sprechen dafür und dagegen.
Dagegen besonders 1. die Rücksicht auf die Kinder, deren Er­
ziehung doch zu den wichtigsten Aufgaben der Ehegatten ge­
hört. Für die Kinder aber ist die Trennung der Eltern oft kein
geringeres Unglück als der Tod eines von ihnen, ja oft noch
trauriger.
2. Auch scheint es kein genügender Schutj für die Frau, wenn
die Scheidung an ihr Einverständnis geknüpft wird, denn die
Gefahr besteht, daß dieses Einverständnis erzwungen werde.
Dagegen hat das Bewußtsein der Unzerreißbarkeit des Bandes
eine heilende, Launen und Begierden beschwichtigende und in
Zügeln haltende Macht.
Immerhin spricht auch Gewichtiges gegen die absolute Unlös­
barkeit. Eine Ehe kann bei gegenseitiger heftiger Abneigung
zur Hölle auf Erden werden. Darum wird in solchen Fällen
Ehe Scheidung zuzulassen sein, ob auch Ehe 1 ö s u n g, bleibt
damit noch eine offene Frage. Auch liberale Denker haben sie
nicht alle bejaht. Ich möchte hier nicht entscheiden, es bedürfte
diese Frage einer eingehenderen Untersuchung. Ohne Frage hat
Unlösbarkeit des Ehebundes 397
der Stifter des Christentums der Frau in der Ehe eine bessere
Stellung zugewiesen als das mosaische Gesetj. Das Verbot des
Ehebruchs schüft im Gesetje Mosis einseitig die Rechte des
Mannes, während die Frau gegen keinerlei fremde Liebe des
Mannes, ja auch nicht vor Nebenfrauen, geschütjt ist. Jesus aber
spricht beiden das Recht auf Treue zu, nicht nur das Weib be­
geht ein Unrecht, wenn es die Ehe bricht, auch der Mann.

§ 123. Vom Staate


1. Was ist der Staat? Wie entsteht er? Welchem Zwecke dient
er und wie dient er ihm am besten?
In den Definitionen, wie sie in den Lehrbüchern des Staats­
rechtes und verwandter Disziplinen zu finden sind, stoßen wir
häufig auf die Bestimmung, daß der Staat ein Organismus sei.
Die einen fassen ihn als ein Abbild des menschlichen Körpers
auf, die anderen wieder als ein solches des ganzen Menschen.
Platon hat, da er daran ging, die Grundklassen menschlicher
Seelentätigkeiten festzustellen, es für methodisch vorteilhaft ge­
halten, zuerst einen Blick auf die verschiedenen Berufsstände im
Staate zu werfen, denn der Staat sei sozusagen der Mensch, in
großen Buchstaben geschrieben. H o b b e s entwarf seine Staats­
theorie unter dem Titel „De corpore politico“. Nun, solange
man sich der Bildlichkeit dieser Redeweise bewußt bleibt, mag
sie hingehen, aber man hat vielfach zu sehr Ernst damit gemacht.
Man hat aus dem Staat eine Art Übermenschen, ja einen Gott
gemacht, ein Wesen höherer und so hoher Art, daß der einzelne
zu einem bloßen Mittel für dessen höheres Dasein herabsinkt.
Das Gehirn oder vielmehr die Vernunft dieses Übermenschen ist
dann natürlich die Regierung und so kann es denn nicht wunder­
nehmen, wenn diese Organismustheorie zu einer Despotismus­
praxis wird.
2. Eine nüchterne Begriffsbestimmung wird nur zu gewinnen
sein, wenn wir den Begriff induktiv aufbauen, d. h. seine Merk­
male aus der Erfahrung der bestehenden Staaten, aber auch aus
der Erfahrung der Bedürfnisse, welche die Menschen bei der
Staatenbildung leiten, zu gewinnen suchen.
398 Nutjen des Staates

Die Erfahrung zeigt uns den Staat als eine die Familie an
Umfang übertreffende Gesellschaft und es ist leicht verständlich,
wie die Menschen dazu kamen, solche größere Gesellschaften zu
bilden. Sympathien sowohl als die offensichtlichen Vorteile der
Kooperation haben sie dazu gebracht. Vor allem der große Vor­
teil der Teilung der Arbeit, wodurch die Leistungen nicht bloß
addiert, sondern vervielfacht werden. Hätte jeder für alle seine
Bedürfnisse selber zu sorgen, so käme gar wenig im Verlaufe
eines Menschenalters zustande. So zeigt sich denn der Staat als
eine Gemeinschaft, die über die Familie hinausgeht und dabei
dem Zweck eines sich selbst genügenden vollkommenen Lebens
dient.
3. Doch ist diese große Gemeinschaft geschichtlich aus der
Familie herausgewachsen. Diese wird zum Ausgangspunkt der
Sippenbildung, und so geht die Gliederung weiter und weiter
zu immer mehr umfassenden Gemeinschaften.
4. Immerhin, auch wenn die Zahl der Teilnehmer solcher Ge­
meinschaften noch so beträchtlich ist, sie genügt an und für sich
noch nicht, einen Staat auszumachen. Dazu gehört auch noch eine
gewisse zweckmäßige Gliederung, was man eben bildlich Or­
ganisation nennt; dazu gehört ferner eine gewisse Macht, diese
Ordnung nach innen vor Störungen zu schüfen und auch äuße­
ren Angriffen gegenüber aufrechtzuerhalten.
Wozu diese dient, ist ja wohl klar. Das Leben in der Gesell­
schaft, soll es wirklich die erwarteten Vorteile bringen, bedarf
der Ordnung. Eine solche ist aber nicht schon damit hergestellt,
daß vernünftig abwägende Menschen erkennen, was jedem ein­
zelnen an Eigentum zukommen soll, es bedarf vielmehr positiver
Feststellungen darüber, und damit diese dann eingehalten wer­
den, auch einer Gewalt, welche ihre Befolgung in dem Maße
sichert, daß der einzelne darauf vertrauen kann, in einer solchen
Gemeinschaft wirklich zum Genüsse der Früchte seiner Arbeit
zu kommen. Darum ist eine einheitliche, ordnende und mit
Machtbefugnissen ausgestattete Leitung nötig, sei es eine Einzel­
person, sei es eine Körperschaft. Sie ist das, was man die Regie­
rung nennt.
Die Organisation der ordnenden Gewalt ist uralt, in der
Entstehung des Staates 399

Praxis und in der Theorie. Wenn Montesquieu drei solche


Gewalten unterscheidet, die gesetjgebende, die vollziehende und
die richterliche, so wiederholt er nur damit etwas, was schon der
Politik des Aristoteles geläufig war.
5. Man hat die Frage aufgeworfen, ob der Staat von Natur
da sei oder ob man ihn einer Erfindung oder einem Vertrage zu
verdanken habe. Darüber ist viel gestritten worden und wird
noch gestritten, was begreiflich ist, denn in gewissem Sinne ist
jede dieser Meinungen wahr und doch wieder auch jede falsch.
Man kann den Staat als von Natur gegeben bezeichnen, inso­
fern als er dem natürlichen Bedürfnisse der Menschen nach Ver­
gesellschaftung entspringt. Der Mensch ist ein zoon politi-
k o n. Wer sich selbst genügt, ist entweder ein Tier oder ein
Gott. Nicht aber darf man den Staat als natürlich in dem Sinne
ansehen, als wäre er immer schon dagewesen, als hätten ihn die
Menschen so mit sich auf die Welt gebracht wie ihren Kopf und
ihre Gliedmaßen. Im Gegenteil, der Staat ist erst als Produkt
psychischer Tätigkeiten wirklich geworden, und wenn einer ihn
darum eine „menschliche Erfindung“ nennt, ohne damit mehr
sagen zu wollen als das, so mag das hingehen. Aber töricht wäre
es natürlich, zu meinen, es habe sich einmal einer hingesetjt und
den Staat erdacht, um ihn dann den anderen zu lehren. Doch
heißt es im „Staatsrecht“ (von S c h 1 ö g e r), die Menschen
hätten diese Erfindung zu ihrem Wohle gemacht, so wie sie
Brandkassen erfanden. Ähnliches gilt von der Vertragstheorie.
Rousseau in seinem „Contrat social“ läßt das souveräne
Volk einen solchen Vertrag schließen und zu seiner Aufrecht­
erhaltung eine Regierung bestellen. So etwas wäre vielleicht am
Ende möglich, aber nicht ursprünglich, vielmehr müssen wir uns
den Prozeß, der zum Staate geführt hat, als ein allmähliches
Werden vorstellen. Dabei war nun allerdings jeder einzelne
Schritt eine psychische Tätigkeit, aber keiner der zahllosen Trä­
ger dieser Tätigkeiten hatte eine Vorstellung von dem, was das
Ergebnis sein würde. Ein Vergleich mag erläutern, wie es dabei
zugegangen ist. Ich meine den Vergleich mit dem allmählichen
Entstehen der Lautsprache. Auch über diese geht der Streit, ob
sie uns von Natur gegeben sei oder durch Erfindung eines ein­
400 Analogie zur Entstehung der Sprache

zelnen oder durch Übereinkunft vieler. Nun, in dem Sinne „von


Natur“, daß wir sie mitbrächten, ist sie es nicht; wohl aber ist
sie „natürlich“, indem sie dem natürlichen Bedürfnis der Men­
schen sich mitzuteilen, entspricht. Sie ist auch nicht ein Werk
der Erfindung. Niemand hat sie erdacht, sie ist nicht das Er­
gebnis berechnender Kombination. Sie ist allmählich entstanden
und unzählig viele haben an ihrer Bildung mitgearbeitet, aber
wiederum nicht wie die Arbeiter an einem Baue, für den von
vornherein ein Projekt und ein die Ausführung leitender Plan
vorliegt. Keiner hatte das Endergebnis im Sinne, jeder dachte
immer nur an das Nächstliegende, nämlich daran, wie er sich in
concreto mit einem anderen verständigen könne. Weil aber so
viele unter ähnlichen Umständen Ähnliches anstrebten und da­
bei zunehmend Erfahrungen machten über die beste Weise, die­
sem Verständigungsbedürfnisse zu dienen, und wie es ja auf
allen Gebieten menschlichen Tuns geschieht, sich dabei von den
Gesetjen der Gewohnheit leiten ließen, entstand allmählich nicht
nur immer Zweckmäßigeres, sondern auch etwas, was in seinen
einzelnen Teilen eigentümliche Regelmäßigkeiten und Analogien
aufweist, als wäre es berechnete Komposition. Indes war nichts
von einer auf Harmonie abzielenden Reflexion bei der Sprach­
bildung im Spiele, und so war sie denn fertig und keiner wußte
vom Bau und der Harmonie ihrer Teile, bis schließlich die
Grammatiker kamen und einen Plan des Ganzen aufzeichneten,
den in Wahrheit niemand entworfen hatte.45 So ist denn auch
der Staat kein Werk der Reflexion, wäre er doch sonst not­
wendig das Werk eines einzelnen. Er entstand allmählich in
seiner Organisation und keiner hatte ein Verständnis dafür,
keiner eine volle Übersicht darüber, keiner wußte die Dienste
der einzelnen Teile und die Natur des Ganzen zu deuten. Dann
erst kamen die Juristen und die Rechtsphilosophen über das
fertige Werk. Wäre der Staat ein Werk der Erfindung, oder
wäre er das Ergebnis eines förmlichen Vertrages, so hätte der
Weg vielmehr in umgekehrter Richtung durchschritten werden
müssen.
6. Damit ist aber nicht gesagt, daß die Aufgabe der nachträg­
lich erwachten Reflexion rein beschreibend und erklärend, d. h.
Aufgaben des Staates 401
rein theoretisch sein müsse; vielmehr wird sie ganz besonders
auch darauf gerichtet sein, was das so entstandene Gebilde zu
leisten vermöge und ob es nicht planmäßig verbessert und aus­
gestaltet werden könne. Ja, auch darüber wird man sich Ge­
danken machen, ob der Staat nicht zu höheren Zwecken berufen
sei als diejenigen, denen er in seinen Anfängen gedient hätte,
falls die an ihm arbeitenden Kräfte überhaupt bewußt zweck-
setjende gewesen wären. So tritt denn, wie an alles andere
Menschliche, auch an den Staat die Ethik mit ihren Forderungen
heran. Der Zweck, den sie dem Staate stellt, ist das höchste
praktische Gut. Entstanden um des Lebens willen, sagt
Aristoteles, ist er da um eines guten und vollkommenen
Lebens willen.
Damit ist nicht gemeint, daß er sich in alles einzumischen habe.
Er wird dem allgemeinen Besten vielmehr nur dann wahrhaft
dienen, wenn er diesen Zweck mit einer gewissen Zurückhaltung
verfolgt. Die positive Gesetzgebung läßt viele Gebiete un­
berührt, die das natürliche Sittengesetj zu regeln nicht verzichten
kann.
7. Was wird also, damit der Staat seinen hohen Zweck er­
fülle, der Bereich seiner Gesetzgebung sein?
a) Vor allem hat er das Eigentum zu sichern, wobei das Wort
im weitesten Sinne, nicht nur für das Eigentum an Sachgütern,
zu verstehen ist. Schon, wo er diese Aufgabe erfüllt, hat er
seinen Zweck nicht verfehlt und stiftet reichen Segen.
b) Doch möchte ich denen, die ihn darauf beschränkt sehen
wollen, nicht ohne weiteres beipflichten. Er ist nicht, wie der
allzu nüchterne H o b bes meinte, eine bloße Versicherungs­
anstalt, in die der einzelne Gehorsam einzahlt, um dafür Sicher­
heit einzutauschen. Nicht nur für die Rechtssicherheit, auch für
die Rechtsgleichheit hat er Sorge zu tragen. Der einzelne hat
mehr für sich zu sorgen als für die anderen, der Staat aber für
alle in gleicher Weise. Er steht allen Bürgern gleich gegenüber.
Sein Ziel muß das Beste des Ganzen sein. Dafür ist aber die
Art, wie die Güter verteilt sind, gar sehr von Belang. Dasselbe
Maß von Gutem bedeutet bei gerechter Verteilung ein größeres
Glück. Der Taler ist dem Armen wertvoller als dem Millionär.
402 Definition der Religionsgemeinschaft

Ungerechte Verteilung ist ein Fluch für die Überarmen und für
die Überreichen, eine Quelle der Unsittlichkeit hier und dort.
Aber mit großer Diskretion soll sich der Staat der Aufgabe eines
gerechten Ausgleiches unterziehen. Der Sozialismus ist nicht im
Besitze des richtigen Rezepts. Das brutale Eingreifen in die be­
stehenden geschichtlich gegebenen Besitjverhältnisse ist von
schwerem Nachteil. Nicht minder verhängnisvoll wäre ein
Nivellieren. Davor hat schon Aristoteles gewarnt.
c) Aber der Staat soll gleichwohl kein bloßer Rechtsstaat sein,
ebensowenig als ein bloßer Polizeistaat. Auch für den Wohlstand
hat er zu sorgen. Zwar meinte Bentham, der Staat solle sich
hier überhaupt nicht einmischen, denn das stifte mehr Schaden
als Nutzen, der wohlberatene Egoismus zeitige da weit bessere
Ergebnisse. Aber die Erfahrung scheint dafür zu sprechen, daß
unter Umständen nationalökonomisch wohlberatene Gesetjgeber
von wohltätigem Einfluß werden können, ja allein imstande
sind, großen Übeln zu steuern.4®

i 124. Von der Religionsgemeinschaft oder der Kirche

1. Was ist unter einer solchen zu verstehen? Ein gesellschaft­


licher Verband, welcher ethische Gesetze aufstellt, die nicht von
einer weltlichen, d. h. physischen Gewalt unterstützt werden. Die
Macht des Verbandes über die Gewissen ist eine rein geistige.
Ist es wünschenswert, daß solche religiöse Gemeinschaften be­
stehen? Wer positiv gläubig ist, für den ist diese Frage ent­
schieden; wie aber hat sich derjenige dazu zu stellen, der sich zu
keiner positiven Religion bekennt und deren Ansprüche über­
natürlichen Ursprungs ablehnt?
Eine Reihe bedeutender Denker unter diesen sprachen sich ent­
schieden zugunsten solcher religiöser Gemeinschaften aus. So
Theodor Fechner in seinen „Drei Motive des Glaubens“.47
Auch Trendelenburg neigt nach dieser Seite und Lotze
ist der Ansicht, daß der Staat keine Religionslosigkeit dulden
dürfe, ja er verlangt geradezu einen protestantischen Staat. Der
liberale Dahlmann, einer der „Göttinger Sieben“, findet es
Verhältnis der religiösen Gemeinschaft zum Staat 403
mit bloß nicht wünschenswert, daß der Staat die Religion
ignoriere, sondern geradezu unmöglich. Er spricht sich für die
konfessionelle Ehe und Erziehung aus und möchte die Kirchtürme
in der Landschaft nicht missen. Auguste Comte48 gibt als
die drei Bestimmungsstücke einer Religion an: eine Überzeugung
über die Bestimmung des Menschen, die dessen ganzes Leben zu
gestalten beansprucht, ein Gefühl, das dieser die innere Sanktion
verleiht, und ein Ideal, das Gegenstand der Verehrung für die
Gläubigen ist. So ernst ist es ihm damit, daß er selbst den Ver­
such gemacht hat, eine solche Religion zu stiften und dabei sehr
ins einzelne ging. Sein durchgebildeter Entwurf trägt sogar Sorge
für einen Ersatj nicht nur des Gebetes, sondern selbst des
Kreuzeszeichens. Sind diese Denker damit im Rechte? Es ist dies
zweifellos ein philosophischer Untersuchung würdiger Gegen­
stand.
2. Angenommen, sie hätten recht, so erhebt sich als erste die
Frage, in welchem Verhältnisse solche religiöse Gemeinschaften
zur weltlichen Gewalt stehen sollen. Die Geschichte zeigt Fälle
von Subordination der weltlichen und solche von Subordination
der geistlichen Gewalt. Beide sind Fälle der Vereinigung, denn
die andere wird dadurch dienendes Organ. Doch fehlt es in der
Geschichte auch nicht an Fällen der Trennung, und insbesondere
ist ein solcher in vollkommener Weise in der katholischen Kirche
verwirklicht. Welches Verhältnis ist vorzuziehen?
Ich zweifle nicht, daß die Trennung beider den Vorzug ver­
dient. Sie ist zwar das geschichtlich Spätere, aber das Ursprüng­
liche ist durchaus nicht immer das Richtige. Die Nachteile der
Superiorität der geistlichen Gewalt sind im Laufe der Geschichte
wiederholt deutlich zutage getreten. Aber auch die Superiorität
der weltlichen Gewalt über die geistliche ist von Nachteil. Die
geistige Sanktion verliert dadurch ihre Würde und Weihe und
dieser Verlust bedeutet alles. Unduldsamkeit ist gar oft auch auf
Seite der weltlichen Gewalt zu beklagen gewesen. Dem Fort­
schritt am günstigsten ist die Trennung. Man braucht, um dies
bestätigt zu finden, nur einen vergleichenden Blick einerseits auf
den Muhammedanismus, andererseits auf das christliche Abend­
land zu werfen und auf das Schicksal der Wissenschaften da und
404 Bedürfnis nach einer

dort. In Syrien sowohl wie in Spanien führte die Staatsgewalt


zur Ausrottung der Philosophie. Und wenn es auch im christ­
lichen Abendlande nicht an Versuchen dazu gefehlt hat, so sind
sie doch nicht geglückt, infolge der Trennung der beiden Schwer­
ter, die einander in gewissen Schranken hielten. Keiner hat das
besser erkannt als Comte und gerade daher kommt wesentlich
seine Bewunderung für die katholische Kirche.
3. Doch nun zur Hauptfrage: besteht überhaupt ein Bedürfnis
nach solchen Gemeinschaften, sind sie von Vorteil?
Das Bedürfnis nach einer ethischen Autorität besteht ohne
Zweifel, denn wie auf dem Gebiete der Wissenschaften nicht
jeder einzelne genügend bewandert sein kann, so auch hier. Be­
darf es aber dazu einer besonderen Organisation? Warum könnte
es nicht auch hier so sein wie auf anderen Gebieten des Wissens?
Die wenigstens verstehen die Beweise der Astronomen oder ver­
mögen den Forschungen der Physiker, Chemiker, Biologen zu
folgen, aber der Laie glaubt hier dem Wissenden und dieser
Glaube ist nicht in jedem Sinne ein blinder. Vernünftig erkennt
man, daß der andere es weiß oder doch weit mehr Chancen hat,
es zu wissen. Das gilt freilich nicht für alle Wissenschaften in
gleicher Weise und nicht für jedes Stadium ihrer Entwicklung,
denn nur wo der Laie die Vertreter einer Wissenschaft im
wesentlichen einig weiß, sind sie ihm Autorität. Diese Einigkeit
fehlt nun in der Philosophie bis zum heutigen Tage, aber wir
wollen hoffen, daß sie einmal erreicht sein werde, und dann
würde sich auch hier ähnlich wie in den anderen Wissenschaften
die Autorität der Fachleute den Glauben der Laien erzwingen.
Ein solches Vertrauen auf ethischem Gebiete gewonnen, würde
dann nicht ohne praktische Folgen bleiben. Der Glaube an die
ethischen Lehren und die zu deren Stütje dienenden theoretischen,
z_ B. an das Dasein Gottes, müßte Einfluß auf das praktische
Verhalten gewinnen, ebenso wie sonst der Glaube an Ergebnisse
der Wissenschaften. Es schiene dort so wenig wie hier eine Or­
ganisation nötig, ein Verband mit der Aufgabe, den einzelnen
einzuschärfen, was sittlich gut ist, und ihn ethisch zu führen.
Doch Comte49 widerspricht. Das genüge nicht, und zwar
wegen der Stärke der widerstrebenden Neigungen, die den Fall
religiösen Gemeinschaft 405
den anderen ungleich macht. Ein Verband, eine Kirche, sei zur
Erreichung der ethischen Vollkommenheit der menschlichen Ge­
sellschaft durchaus unentbehrlich. Doch ist das Experiment noch
nicht gemacht worden, noch ist jene Einigkeit, welche autorita­
tiven Einfluß üben könnte, nicht erreicht. Zudem, wie immer die
Organisation der Kirche noch besondere Vorzüge hat, indem sie
nicht nur durch erhabene Glaubenslehren segensreich wirkt, son­
dern auch durch die Führung, die sie durch ihre Organe den
Gläubigen angedeihen läßt, so ist doch daran zu erinnern, was
wir überhaupt von der ethischen Führung und insbesondere von
der Freundschaft gesagt haben: es kann ja jeder sittliche Ver­
bindungen in freier Wahl knüpfen, sich selbst Gewissensberater
und Führer suchen. Es scheint dazu nicht unbedingt nötig, daß
alles von obenher geregelt werde. So scheint die Behauptung
Comtes, weil vor dem Versuche gewagt, in Wahrheit über­
stürzt. F e c h n e r ließe vielleicht mit sich reden, ihm würde
wohl auch der Vorteil der einheitlichen Überzeugung und der
Führung und Beratung genügen, die sich jeder, wenn es ihm
ernstlich um seinen ethischen Fortschritt zu tun ist, in einer so
überzeugten Gesellschaft leicht schaffen könnte. Comte, wenn
er noch lebte, zu überzeugen aber wäre eine verzweifelte Auf­
gabe, denn in seiner Begeisterung für seine gewiß von edler
Gesinnung getragenen Ideen war er wenig geneigt, Einwänden
genügend Rechnung zu tragen. Lotze, in seinen Grundzügen
der Religionsphilosophie, zeigt sich auch als entschiedener Für­
sprecher religiöser Gemeinschaften. Es sei, meint er, an sich
widersprechend mit seiner religiösen Überzeugung, die ja den
Menschen an das ganze Weltall knüpft, alleinzustehen. Was
wir für das Höchste anerkennen, würde dies nicht sein, wenn es
nicht von allen anerkannt würde. So bedürfen wir auch hier der
Verbindung mit allen anderen Menschen, und gemeingültige
Dogmen und Symbole sind unentbehrlich. Es ist ein Übel der
Gegenwart, daß der Staat ohne religiöses Fundament existieren
muß und es nicht zu bedürfen glaubt.60 Doch wurde schon früher
darauf hingewiesen, daß es zur Begründung der Ethik keinerlei
Autorität bedarf; was „gut“ ist, ergibt sich aus der Erfahrung
eines als richtig charakterisierten Liebens und Vorziehens.
406 Ethische Gesellschaften

Indes, wenn auch aus den angeführten Gründen eine Kirche


für den einzelnen zu seinem sittlichen Fortschritt nicht unentbehr­
lich sein mag, so bleibt doch vielleicht noch ein Gedanke zu er­
wägen, den Benjamin Franklin ausgesprochen hat. Alle
großen Umwälzungen, meint er, seien durch Parteien ins Werk
gesetzt worden, und er knüpft daran den Gedanken einer Partei
der Menschheit und des höchsten praktischen Gutes. Auch sie
wäre eine Reformpartei, aber eine solche mit dem Programm
einer sittlichen Reform, wie denn auch die Pythagoreer nicht
allein Selbstvervollkommnung, sondern sittliche Erneuerung der
Gesellschaft angestrebt haben. So gefaßt, ist der Gedanke einer
ethischen Organisation ein bedeutender, und man sollte ihn nicht
aus den Augen verlieren. Es ist zu bedauern, daß Franklin
nicht selbst zum Versuch gekommen ist, er wäre dabei sicher
mit Diskretion vorgegangen, wie schon daran zu ersehen ist, daß
der Eintritt in diese Partei nicht den Austritt aus einer positiven
Religion zur Voraussetzung haben sollte.81
Eine gewisse Verwandtschaft mit Franklins Gedanken
haben die Bewegungen für ethische Kultur. Eine edle Tendenz
ist ihnen nicht abzusprechen, doch lehnen sie nicht nur Dogmen,
sondern auch eine einheitliche Weltanschauung ab und lassen,
im Unterschied von Franklin, den Gedanken außer acht, daß
jeder vor allem an seiner eigenen Besserung zu arbeiten habe.
Ebenso fehlte es an einer ernstlichen Prüfung der aufzunehmenden
Mitglieder, weil der Gedanke einer Auslese mit der Motivie­
rung abgelehnt wurde, zum Wirken bedürfe es einer großen,
mächtigen Partei, aber bei zu strenger Auswahl käme man nie
zu einer solchen. Im Gegensatj dazu haben die großen Reforma­
toren auf sittlichem Gebiet, denen geschichtliche Erfolge beschie-
den waren, vor allem Jesus und als sein Nachfolger Franziskus,
eine Auslese der Jünger geübt und sind nicht auf eine große
Partei zur Propagierung ihrer Lehren ausgegangen.
Ebenso oder noch unpraktischer ist der Verzicht auf gemein­
same Grundsätje, außer des einen der Förderung des allgemeinen
Besten. Man sagte, wenn solche den Mitgliedern zugemutet wür­
den, so ginge alles auseinander. Aber wie sollen sie ohne solche
Zusammengehen? Ein Beispiel: man denke an den Gegensatz
Nur das ethische Grundgesetz gilt allgemein 407
theistischer und darum optimistischer, und atheistischer, kon­
sequent pessimistischer Weltanschauung. Sein oder Nichtsein
ist hier die Frage, und ohne ihre Beantwortung kann wie
ein Hamlet auch eine ethische Gesellschaft nicht zu prak­
tischem Entschlüsse kommen. Will sich die „ethische Gesellschaft“
damit begnügen, daß ihre Mitglieder in dem Wunsche, dem
Wohle der Menschheit zu dienen, harmonieren, z. B. durch
Übung der Toleranz oder durch Besserung der Lage der unteren
Klassen, so sollte sie sich lieber „Gesellschaft zur Förderung der
Toleranz“ oder „Gesellschaft zur Bekämpfung der Armut“
nennen.
So kann man diese sog. ethischen Gesellschaften wohl nur als
Zeichen der Sehnsucht nach sittlicher Vervollkommnung gelten
lassen. Sie und ähnliche Bestrebungen werden aber niemals die
kirchliche Gemeinschaft mit ihren wohlbegründeten sittlichen
Grundsätzen (Geboten und Verboten) ersehen können.
Dies alles konnte nur angedeutet, nicht näher ausgeführt wer­
den, es sollten nur die Richtungen gewiesen werden, die zu ver­
folgen sind, um die sittlichen Vorschriften zur Verwirklichung
zu bringen.
Doch kommt, wie schon ausgeführt, den sekundären Moral-
gesehen nur relative Gültigkeit zu, nur das Grundgesetz der
ganzen Moral, daß man das höchste praktische Gut (unter allen
Umständen das Beste unter dem Erreichbaren zu wählen)52
keinem anderen Gegenstände nachsetjen dürfe, hat eine unbe­
dingt allgemeine Gültigkeit.
Auch hier spreche ich wieder im Einklang nicht bloß mit der
Lehre der fortgeschrittenen Wissenschaft, sondern auch jener
Religion, welche seit Jahrhunderten das Bekenntnis der gebilde­
ten Völker und sicher allen anderen Religionen, von denen die
Geschichte weiß, ethisch überlegen ist. Denn das Christentum
kennt nur e i n unmittelbares höchstes Gebot und glaubt, daß
dieses für die Gültigkeit aller anderen im einzelnen Falle
maßgebend sei. „Von ihm hängen ab das Gesetj und alle
Propheten.“53
Anmerkungen

1. (S. 6) Zitiert nach der Ausgabe von Etienne Dumont,


Bruxelles 1840, aus „Traité de la Législation Civile et Pénale“
I. S. 124.
2. (S. 11) Ergänzt nach den auf Brentano zurückgehenden Ethik­
vorlesungen Franz Hillebrands.
3. (S. 23) § 7 berücksichtigt spätere Analysen Brentanos und
wurde von A. K a s t i 1 eingefügt. Vgl. „Wahrheit und Evidenz“, insb.
die beiden Abhandlungen: „Gedankengang zur Lehre von der Evi­
denz“ und „Über Evidenz“. Ferner K a s t i 1 „Ontologischer und
gnoseologischer Wahrheitsbegriff“ in „Zur Philosophie der Gegen­
wart“ (Veröffentlichungen der Brentano-Gesellschaft, Prag 1934).
4. (S. 24) Diese Erörterung ergänzt nach den Ethikvorlesungen
F. Hillebrands.
5. (S. 26) Zur vorzugsweisen Berücksichtigung englischer Moral­
philosophen wurde Brentano, wie sich aus einem mit seinen Rand­
bemerkungen versehenen Exemplar von Alexander Bains „Men­
tal and Moral Science“, London 1868, ersehen läßt, durch dieses Werk
angeregt.
6. (S. 27) Samuel Clarke, „Demonstration of the beeing and
attributes of God“ 1705 und „A discourse concerning the unchangeable
obligation of natural religion“ 1708. Vgl. O. Kraus „Die Wert­
theorien“ Verlag R. M. Rohrer, Brünn 1937, S. 75 f.
7. (S. 27) Als den Begründer der Schule der Utilitarier haben wir
JohnLocke (1632—1704) zu betrachten („Essay concerning human
understanding“). Zu ihren hervorragendsten Vertretern gehören weiter
David Hume (1711—1776), Jeremy Bentham (1748—1832)
und J. St. Mill (1806—1873).
8. ('S. 31) William Wollaston (1659—1724) „The religion
of nature delineated“, London 1722. Vgl. O. Kraus „Die Wert­
theorien“ S. 76 f.
9. (S. 42) Vgl. O. Kraus „Die Werttheorien“ über A. Cooper,
Graf von Shaftesbury S. 77, A. Smith S. 104, D. Hume
S. 103, H. LotzeS. 157 ff.
10. (S. 77) Deutlicher: dreieckig und dann ist er nicht viereckig.
11. (S. 107) Vgl. die von Brentano hier benutzte Darstellung
der H e r b a r t sehen Lehre in Trendelenburgs Berliner Aka­
demie-Abhandlung „Herbarts Praktische Philosophie“ 1856.
410 Anmerkungen

12. (S. 121) R. V. Ihering (1818—1892), einer der bedeutendsten


deutschen Juristen der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, wurde 1868
nach Wien berufen. Franz Karl Lott (1807—1874) war Vor­
gänger Brentanos auf dem Wiener Lehrstuhl.
13. (S. 134) § 40—44 von A. Kastil unter Berücksichtigung weiter
fortgeschrittener Analysen Brentanos redigiert. Vgl. „Vom Ur­
sprung sittlicher Erkenntnis“, 3. Aufl. (Phil. Bibi. Bd. 55), „Wahrheit
und Evidenz“ (Phil. Bibi. Bd. 201) sowie K a s t i 1 s in Anmerkung 3
genannter Prager Kongreß-Vortrag „Ontologischer u. gnoseologischer
Wahrheitsbegriff“.
14. (S. 151) Abweichend Georg Katkov, der in seinen „Unter­
suchungen zur Werttheorie und Theodizee“ S. 148 meint, wer einmal
aus der Erfahrung irgendwelcher Akte als richtig charakterisierten
Liebens den Begriff davon gewonnen habe, vermöge aus diesem in
Verbindung mit dem begrifflichen Vorstellen gewisser Objekte deren
Güte, also rein analytisch-apriori, zu erkennen, ohne ein speziell dar­
auf gerichtetes Lieben.
15. (S. 151) Ausführung 3 von A. K a s t i 1 eingefügt unter Be­
rücksichtigung der Abhandlungen Brentanos „Vom Lieben und
Hassen“ und „Über den apriorischen Charakter der ethischen Prin­
zipien“, erschienen in der 3. Aufl. „Vom Ursprung sittlicher Erkennt­
nis“ S. 142 ff. u. S. HOff.
16. (S. 155) Dieser Absatj von der Herausgeberin eingefügt unter
Berücksichtigung der „Psychologie vom empir. Standpunkt“ II. S. 179 ff.
(Phil. Bibi. Bd. 193).
17. (S. 158) Dieser Absatj von der Herausgeberin eingefügt. Vgl.
O. Kraus „Die Werttheorien“ S. 44 ff., S. 32 f„ S. 104 f.
18. (S. 159) Dieser Absafe von A. Kastil eingefügt. Vgl. „Ver­
such über die Erkenntnis“ S. 65 ff. Über den Mangel absoluter Orts­
bestimmungen in unserer Raumanschauung vgl. „Psychologie vom
empir. Standpunkt“ II. S. 201.
19. (S. 160) G. Katkov hat in seinen „Untersuchungen zur Wert­
theorie und Theodizee“ die Vorzugsgesetje unter Ausschaltung des
Summierungsprinzip, das er einer scharfsinnigen Kritik unterzog, dar­
gelegt.
20. (S. 165) Besser wäre es, statt von Hedonismus von Eudaimonis-
mus zu sprechen, weil das Wort „Lust“ von den Utilitariern meist
in einer weiteren Bedeutung gebraucht wird als in der von bloßer
Sinneslust. Der Eudaimonismus als Glückseligkeitslehre umfaßt auch
den Hedonismus.
21. (S. 186) Ergänzt von der Herausgeberin nach „Vom Ursprung
sittlicher Erkenntnis“.
22. (S. 200) Man könnte hiezu auch noch bemerken, daß der Künst­
ler das Wesentliche heraushebt und dadurch einen stärkeren
Eindruck hervorzurufen vermag als das Naturgebilde, in dem dieses
Wesentliche häufig durch Nebensächliches überwuchert wird. Es ist
ein ähnliches Verhältnis wie zwischen Anschauung und Begriff.
Anmerkungen 411
23. (S. 220) Von A. Kastil unter Benutjung der in Anmerk. 15
erwähnten Abhandlung „Vom Lieben und Hassen“ redigiert.
24. ('S. 224) Einwand 3 nach 0. Kraus „Zur Theorie des Wertes,
eine Bentham-Studie“ redigiert.
25. (S. 225) Gegen die Lehre Brentanos ist in letjter Zeit auch
der Einwand erhoben worden, daß sie den „Begriff der Pflicht“, des
Sollens, gar nicht enthalte. Sie zeige uns zwar, woher der Begriff des
Guten und des Besseren stammt, d. h. was liebens wert und was
Gegenstand eines richtigen Bevorzugens sein kann, aber sie begründet
nicht hinreichend, warum es unsere Pflicht sei, dieses Gute und Bessere
auch zu wählen. Dies könne nur durch Berufung auf eine Autorität —
lebten Endes die göttliche — geschehen. Dieser Vorwurf erscheint
unberechtigt. Das: Du sollst; heißt, wie einleitend ausgeführt, nichts
anderes als: Wenn du einen bestimmten Zweck willst, mußt du so
und so handeln, wenn du z. B. richtig schließen willst, mußt du die
logischen Regeln einhalten. Der Zweck, richtig zu schließen, ist hier
selbstverständliche Voraussetjung. Niemand fällt es ein, sich auf eine
Autorität, die das richtige Schließen anordnet, zu berufen. Und ähn­
lich selbstverständlich ist wohl die Unterordnung unter den höchsten
Zweck oder Selbstzweck des richtigen Handelns. Haben wir diesen
aufgezeigt, so ist damit auch das: du sollst! hinreichend begründet
und zur moralischen Pflicht geworden, weil diese im Begriff „höchster
Zweck“ liegt. Diese moralische Pflicht wird natürlich unter­
strichen, wenn ein höchster und bester Schöpfer und Lenker der
Welt und die Unsterblichkeit der Seele als überaus wahrscheinlich er­
kannt werden (vgl. Abschnitt II. § 67 S. 228 ff.).
26. (S. 230) Welche praktische Konsequenz sich für den Agnostiker,
der zwischen Theismus und Atheismus nicht zu unterscheiden wagt,
ergibt, hat O. Kraus in seinem Buche „Albert Schweizer, Sein Werk
und seine Weltanschauung“ 1926, Panverlag, Charlottenburg, zu
zeigen versucht.
27. (S. 244) Ergänzt nach den Ethik-Vorlesungen von F. Hille­
brand.
28. (S. 247) Es ist vielleicht interessant darauf hinzuweisen, daß
die moderne Wissenschaft Beispiele erbringen kann, die der unglück­
lichen Situation, in der sich Buridans Esel befand, sehr ähnlich
sind. Setjt man irgendeinem niederen Wassertierchen, das sich für ge­
wöhnlich mit Energie jedem Licht zuwendet, zwei Lichter in gleichem
Abstand zu beiden Seiten vor, so kann man beobachten, daß es weder
auf das eine noch auf das andere zuschwimmt, sondern sich mitten­
durch bewegt bzw. sich in der Mitte schwebend erhält. Es wird also
hier durch die gleichstarken Motive wirklich die Entscheidung auf­
gehoben.
29. (S. 248) Was, wie eben gezeigt, falsch ist. Gerade bei und nur
bei einfach organisierten Tieren kann ein solcher Fall eintreten, nicht
aber beim Menschen.
30. ('S. 249) Dieser Absatj ergänzt von der Herausgeberin.
31. (S. 252) Ergänzt nach den Ethik-Vorlesungen von F. Hille­
brand.
412 Anmerkungen

32. ('S. 254) Ergänzt nach den Ethik-Vorlesungen von F. Hille­


brand.
33. (S. 256) Vgl. O. Kraus „Das Redit zu strafen“, Stuttgart 1911,
und Brentanos Abhandlung „Strafmotiv und Strafmaß“, Anhang
zur 3. Aufl. „Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis“. Was das Ver­
langen nach Vergeltung anlangt, so neigte Brentano später mehr
und mehr dazu, es nicht für rein instinktiv zu halten. Ungedruckte
Abhandlung über Martineau.
34. (S. 262) Das wird von der modernen Physik vielfach bestritten
(Unbestimmtheitsrelation von Heisenberg). Doch wird von namhaften
Physikern die gegenteilige Auffassung vertreten. — Diese Entwick­
lung setjte jedoch erst nach der Zeit ein, in der die vorliegende
„Ethik“ geschrieben wurde. Die frühere Einheitlichkeit im Weltbild
der Physik wurde dadurch gestört, so daß sich moderne Physiker auch
kaum mehr zu einer „universellen Physik“ bekennen würden, was für
Brentano noch selbstverständlich war (vgl. S. 66).
35. (S. 273) L. A. J. Quételet (1796—1874), Begründer der sog.
Gesellschaftsphysik, Hauptwerk „Sur l’homme et le développment de
ses facultés, un essay de physique soziale“ II. vol. Paris 1835. Über
ihn Oettingen „Die Moralstatistik und ihre Bedeutung für die
Sozialethik“, 3. Aufl. Erlangen 1882. Ausführlicher G. F. Knapp
„A. Quételet als Theoretiker“ (Hildebrands Jahrbücher d. National­
ökonomie XVIII. Bd. Heft 2 u. 3).
36. (S. 274) Siehe den dritten Satj von Jakob Bernouilli in
seiner „ars conjectandi“ (1713): „Bei zunehmender Zahl der Versuche
wird die Wahrscheinlichkeit immer größer, daß sich das Verhältnis
der Anzahl der Ereignisse A zu der der Ereignisse B von dem Ver­
hältnis ihrer respektiven Wahrscheinlichkeiten nicht über gewisse
Grenzen hinaus entfernt; und wie eng diese Grenzen auch zusammen­
gezogen sein mögen, so kann man die in Rede stehende Wahrschein­
lichkeit doch der Einheit beliebig nähern, wofern die Anzahl der
wiederholten Versuche nur beliebig groß genommen wird.“
37. (S. 276) Vgl. „Versuch über die Erkenntnis“, Register Kausal­
begriff. „Vom Dasein Gottes“ S. 126, 129; „Kategorienlehre“ S. 56,
185, 256.
38. (S. 290) Die hier benutzte Fassung des Beweises für ein all­
gemeines Kausalgesetz enthielt das Ethikkolleg noch nicht. Einen Ein­
blick in die Gedankenentwicklung Brentanos bezüglich dieses Pro­
blems bietet „Versuch über die Erkenntnis“ IV. Teil. Vgl. ferner
„Vom Dasein Gottes“, ihsb. S. 446 ff.
39. (S. 309) Hier ist das Problem der „Einstellung“ berührt, das
jetzt in der Psychologie eine bedeutende Rolle spielt, aber noch nicht
nach allen Richtungen hin aufgeklärt ist. Einstellung ist das Gegeben­
sein einer Zielvorstellung, die sich von einem „Hintergrund“ in Be­
reitschaft stehender Assoziationen abhebt. Diese Zielvorstellung, wenn
auch nicht ständig im Bewußtsein vorhanden, bewirkt das Auftreten
gewisser Vorstellungen und dient so indirekt der Förderung des be­
absichtigten Zweckes.
Anmerkungen 413
40. (S. 323) Brentano faßt hier unter Gewissensstimme zweierlei
zusammen: das evidente und das blinde moralische Urteil. Man kann
unter Stimme des Gewissens das als richtig charakterisierte Lieben
oder Hassen verstehen. Was man aber gemeinhin Gewissen zu nennen
pflegt, ist gewiß mitbeeinflußt von Assoziationen, von erworbenen oder
übernommenen Vorstellungsverbindungen. Manchmal sind diese Ein­
flüsse so stark, daß der eigentliche Kern der Evidenz verlorengehen
kann und Vorurteile an ihre Stelle treten, was dann wiederum er­
klärt — ein gegen die Evidenzlehre und die Allgemeingültigkeit der
moralischen Prinzipien häufig vorgebrachter Einwand —, daß im
Laufe der Zeiten die Menschen und Völker Verschiedenes für gut
bzw. schlecht hielten. Dabei wurden sie nicht mehr von der Evidenz
geführt, sondern von blinden Trieben und Begehrungen und von
Überlieferungen im weitesten Sinne des Wortes, d. h. von dem, was
ihnen von frühester Kindheit als recht und unrecht eingeprägt wurde.
Die „innere Stimme“ spricht unmittelbar nur in gewissen sehr
einfachen Fällen (vgl. S. 183 ff. und 211 ff.), in komplizierteren Situa­
tionen müssen Deduktionen und Wahrscheinlichkeitserwägungen zu
Hilfe genommen werden. Daraus ergibt sich der Vorteil eines fest­
gelegten Moralsystems wie des Dekalogs, das dem Menschen solche
Ableitungen erleichtert und ihn komplizierter Überlegungen enthebt.
41. (S. 337) Dieser Absatj ergänzt nach den Ethik-Vorlesungen von
F. Hillebrand.
42. (S. 338) „Déontologie ou de la Science de la Morale“. Ouvrage
posthume de Jerémie Bentham, Bruxelles 1834, I. S. 221 ff.,
und „Traité de la Législation Civile et Pénale“. Extraits de manu-
scripts de Jérémie Bentham par Etienne Dumont,
Bruxelles 1840, II. S. 62 ff.
43. (S. 353) Ober den Begriff „positives Recht“, vgl. O. Kraus
„Rechtsphilosophie und Jurisprudenz“ (Zeitschrift f. d. gesamte Straf­
wissenschaft, Bd. XXIII, 1902).
44. (S. 358) Vgl. auch hier die schon genannten (Anm. 33 und 43)
rechtsphilosophisdien Schriften von O. Kraus.
45. (S. 400) Diese sich von entgegengesetzten Irrtümern fernhaltende
Theorie über die Entstehung der menschlichen Sprache liegt dem
leider viel zu wenig beachtet gebliebenen Buche von À. M a r t y „Über
den Ursprung der Sprache“, Würzburg 1875, zugrunde, der sie auch in
späteren Schriften noch vertieft und gegen die Erfindungstheorie so­
wohl als gegen die über das Ziel schießende Verurteilung jeder Art
„teleologischer Sprachbetrachtung“ verteidigt hat. Vgl. insb. A. Marty
„Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Grammatik und
Sprachphilosophie“, Halle 1908, wobei die im „Anhang“ gebotene
Auseinandersetzung mit Wund11 Lehre vom regulären und singu­
lären Bedeutungswandel vor allem zu berücksichtigen wäre.
46. ('S. 402) Über Bentham» Lehre vom Staat vgl. Jeremy
B e n t h a m s „Grundsätze für ein künftiges Völkerrecht und einen
dauernden Frieden“ (Principles of international law), übersetzt von
Dr. Camill Klatscher, mit einer Einleitung über Bentham, Kant
und Wandt herausgegeben von 0. Kraus, Halle 1915. — Zur Er­
414 Anmerkungen

gänzung der hier nur skizzenhaften Darlegungen Brentanos und


zugleich zum ehrenden Angedenken an 0. Kraus, „den wissenschaft­
lichen Weggenossen und Freund K a s t i 1 s, dem mehr als jedem an­
deren das Verdienst unermüdlicher und wirksamer Fürsorge für die
Veröffentlichung des Nachlasses Franz Brentanos zukommt“, wurde
von K a s t i 1 in diesem Zusammenhang einer Stelle aus Kraus’ Ethik­
kolleg, die über die pflichtgemäße Sorge des Staates nicht nur für die
sichernde, sondern auch für die verteilende Gerechtigkeit handelt,
Raum gegeben: „Dem Zwecke nach geht die verteilende, der Ausfüh­
rung nach die sichernde voran. Was ist unter der verteilenden Ge­
rechtigkeit zu verstehen? Man sagte meist „Gleichheit“, und unter
Umständen ist in der Tat die gleiche Verteilung die gerechteste (z. B.
wenn ein Vorrat von Lebensmitteln an eine Anzahl Erwachsener zu
verteilen ist). Gleichheit ist hier nicht an sich ein Gut, sondern das
beste Mittel zur besten Verwertung. In anderen Fällen nicht ebenso,
so schon, wenn in ähnlichem Falle nicht nur Erwachsene, sondern auch
Kinder zu beteilen sind. Auch handelt es sich nicht immer um eine
Summe gleichartiger Güter, sondern oft um solche sehr verschiedener
Art. Dann ist die gerechte Verteilung diejenige, bei der jeder die ihm
komplementären Verwertbarkeiten erhält. Wenn z. B. an Studenten
wissenschaftliche Bücher verteilt werden sollen, so wäre es widersinnig,
sie anders als deren Neigungen und Vorkenntnissen nach aufzuteilen.
So fordert die verteilende Gerechtigkeit Analoges auch für das Ver­
hältnis der wirtschaftlichen Güter zu den Menschen, die darüber ver­
fügen. Der intellektuell, künstlerisch und ethisch Höherstehende hat
Anspruch auf andere und kostbarere Verwertungsmittel als der Tiefer­
stehende. Sofern die Vorzüglichkeit eine Funktion der Menge ist, ge­
bührt also dem Trefflicheren nicht gleich viel, sondern mehr. So wie
die Tüchtigkeit des A sich verhält zu der des B, so haben sich die
dem A zuzuteilenden Güter ihrem Werte nach zu den dem B zu­
zuteilenden zu verhalten. Daher sagten die Alten, es sei das geo­
metrische Verhältnis für die verteilende Gerechtigkeit maßgebend.
Nun zum Begriff der sichernden Gerechtigkeit. Das Ideal der ver­
teilenden, das jedem das gewährt, was ihm in Hinblick auf seine
Fähigkeiten gebührt, ist schwer zu verwirklichen. Insbesondere ist jede
gewaltsame Neuordnung gefährlich. Eine gerechte Verteilung mit
einem Schlage durchzuführen, ist Utopie. Anzustreben ist vielmehr,
unter möglichster Schonung der überkommenen Machtverhältnisse eine
allmähliche Besserung, m. a. W. die Rechtssicherheit geht vor, welche
jedem beläßt, was ihm faktisch zugehört und ihn im Besitze seiner
Verfügungssphäre schüft, als ob sie ihm gebührte. Doch kommt der
faktisdien Ordnung, wie sie heute besteht, nur interimistische Bedeu­
tung zu. Sie verhält sich zu einer idealen Ordnung, wo jeder das ihm
Gebührende hätte, wie innerhalb unserer Rechtsordnung der Besit;
zum Eigentum. Der Politiker muß darum unablässig bemüht sein, an
einer wahrhaft gerechten mitzuwirken, d. h. unter möglichster Scho­
nung der Rechtssicherheit die verteilende Gerechtigkeit zu begünstigen.
Insbesondere durch allmähliche Ausgleichung krasser Ungleichheiten
des Besitzes. Es darf nicht den einen übermäßiger Luxus gestattet
sein, während viele darben und verhungern. Am leichtesten betätigt
Anmerkungen 415
sich die verteilende Gerechtigkeit, wo noch Verfügung!- und Ver­
waltungssphären unbesetzt find, bei Besetzung von Ämtern, Vergebung
von Würden. Den rechten Mann auf dem rechten Platj! Nepotismus,
Ipsissismus, kurz Korruption sind ihr Widerspiel. Auch wo es sich um
materiellen Besit; handelt, läßt sich die verteilende Gerechtigkeit
wahren. So beim Tausch und den verschiedenen Arten der Vermögens­
übertragung. Dies -kann geschehen teils durch entsprechende Besteue­
rung des Einkommens, Vermögensanfalles, Vermögensüberganges;
teils durch Schuf; und Förderung des wirtschaftlichen Schwächeren vor
Übervorteilung und Ausbeutung im wirtschaftlichen Verkehr.
Soviel von den Pflichten des Staates, die Gerechtigkeit im In­
neren zu wahren. Ich wiederhole: die innerstaatliche Politik ist ver­
pflichtet, sich an der Ethik zu orientieren, wobei aber die Rechtssicher­
heit den Vorrang genießt. Eine provisorische Ordnung geht hier der
gerechten Ordnung zeitlich voran. Aber auch die internationale
Politik unterliegt den ethischen Forderungen, auch sie hat Gerechtig­
keit zu wahren. Doch sind die Lenker der Staaten hier vielfach noch
nicht einmal so weit, daß sie auch nur auf die Wahrung der sichern­
den Gerechtigkeit Bedacht nehmen. Gewalttätige Eroberungen stehen
noch im Ansehen und man kennt kaum ein anderes Kriterium der
Wertschä^ung als den Erfolg. Vollends die Pflichten der verteilenden
Gerechtigkeit bleiben im zwischenstaatlichen Verkehr zumeist ohne
Berücksichtigung. Doch fehlt es nicht an Anzeichen, daß auch hier dem
Rechtsgedanken die Zukunft gehört. Nicht als ob mit einem sofortigen
Umschlagen des staatlichen Egoismus in eine selbstlose Hingabe an
die Gebote der Ethik in den internationalen Beziehungen gerechnet
werden dürfte; die Entwicklung wird vielmehr wohl ähnlich sein wie
bei der Privatwirtschaft, wo ein einsichtsvolles Erfassen des wahren
eigenen Vorteils nach und nach zu einer Berücksichtigung des Vorteils
der anderen führt. Dabei wird man mehr und mehr zur Klarheit dar­
über gelangen, daß die größte und dauerndste Kriegsgefahr in einem
Mißverhältnis der Machtlage zu den Forderungen der verteilenden
Gerechtigkeit liegt. So dürfen Völker, die alle übrigen Bedingungen
zu blühender Industrie bieten, nicht von unentbehrlichen Rohstoffen
und wichtigen Verkehrswegen abgeschnitten bleiben. Auch muß ihrem
Bevölkerungsüberschuß die Möglichkeit der Auswanderung in Kolo­
nialland geboten sein. So wird schon ein wohlberatener Egoismus der
Staaten nach und nach zum Aufbau überstaatlicher Gewalten führen,
welche eine gerechte Verteilung innerhalb der Weltwirtschaft regeln
und kriegerischen Explosionen vorbeugen.
Doch kann dies nicht das letjte Wort des Ethikers sein, dieses ist
vielmehr die vom Eigennutj abgelöste Rücksicht auf die Pflichten der
Gerechtigkeit auch den anderen Staaten gegenüber. Auch ein Staat
darf dem anderen gegenüber nicht das suum cuique verlebten. Über­
staatliche Organisationen, solange sie nur als technische Hilfsmittel für
den Egoismus gemeint sind, sind gewiß ein relativer Fortschritt, aber
ihren vollen und dauerhaften Segen können sie nur entfalten, wenn
sie von Gerechtigkeit getragen und erfüllt sind, und auch in den inter­
nationalen Beziehungen hat dem Zweck, wenn auch nicht der Ausfüh­
416 Anmerkungen

rung nach, die verteilende Gerechtigkeit den Vorrang vor der


sichernden.“
47. ('S. 402) Brentano scheint die Kenntnis dieser Ansichten der
genannten Philosophen aus persönlichen Gesprächen geschöpft zu
haben. Direkt ausgesprochen findet sich die hier F e c h n e r zuge­
schriebene Ansicht in dessen Schrift „Die drei Motive und Gründe des
Glaubens“ nicht, wohl aber im Schlußkapitel von „Der orthodoxe und
freie Standpunkt“ eine Stelle, wo dieser sich skeptisch über Lebens­
fähigkeit gewisser Dissidentensekten äußert: „So frei der Standpunkt
ist, den ich in dieser Schrift vertreten habe, so hat mir doch der ortho­
doxe, wo ich ihm anderwärts begegnet habe, wenn schon nicht überall,
so doch im größeren Durchschnitt, mehr gefallen als der freie; und
der solidarisch feste Glaubensinhalt am Wort der Bibel, selbst wenn
Noahs Arche mit der ganzen heutigen Tierwelt und der Stillstand der
Sonne am Tage des Falles von Jericho mit einging, mehr als die
vernünftigste zersetjende Kritik, die neukatholischen und freien Ge­
meinden aber immer wie Herden geschienen, die froh sind, des hüten­
den Hundes oder gar des Hirten los zu sein, und damit dem Wolfe
anheimfallen, jedenfalls nur so lange eine Herde bleiben, als des
Grases derselben Wiese genug ist, sie zusammenzuhalten.“ (Ausgabe
Leipzig 1863, S. 242 f.)
48. (S. 403) „Catéchisme Positiviste“ par August Comte, Paris
1852.
49. (S. 404) Bezieht sich wohl auf „Cours de philosophie positive“
V, Lect. 54 (Ausgabe Paris 1864), in der, weil ohne Substanzverlust
viel präziseren, zum Studium Comtes empfehlenswerteren eng­
lischen Übersetjung von Harriet Martineau (London 1853),
Vol. II, Book VI, Chapter IX.
50. (S. 405) Hermann Lotze, „Grundzüge der Religionsphilo­
sophie“, Diktate aus den Vorlesungen, 3. Aufl., Leipzig 1894, S. 98.
51 (S. 406) Benjamin Franklin, „Doer of Good“, a Bio-
graphy, Edinburgh 1865, Chapter X, p. 127.
52. (S. 407) Eigentlich das negative Gebot: Entscheide dich bei
deiner Wahl niemals für etwas minder Gutes unter dem Erreichbaren.
Vgl. S. 307.
53 (S. 407) Der Schluß ergänzt von der Herausgeberin nach Bren­
tanos Abhandlung „Zur Lehre von der Relativität der abgeleiteten
Sittengesetje“, Anhang III zu „Ursprung sittlicher Erkenntnis“,
3. Aufl., 1934.
Namen- und Sachregister
A b ä 1 a r d 97.
Allgemeingültigkeit, Allgemeinheit, Verwechslung beider 69 f.
Antisthenes 177.
A q u i n, Th. v. 92, 97, 181.
Aristippos 177.
Aristoteles, theoretische und praktische Disziplinen 3 f.
— Evidenz 20 ff., 150, 158.
— Definition der Ethik 88, 93.
— Nikomachische Ethik 8, 88, 176, 382, 391.
— Begriff des Wahren und Guten 100, 137 ff., 207.
— Edelste Tätigkeit ist die Erhebung zu Gott in Erkenntnis und
Liebe 344.
— Die Lust ist nicht das einzige Gut 177 ff. Dodi ist sie ein Gut
178, 187. Akte der Erkenntnis stehen am höchsten 215.
— Unsere Urteile und Gemütstätigkeiten sind auf Allgemeines
gerichet 150.
— Unklare Stellung in der Frage der Willensfreiheit 241.
— Ursachloses Sein des ersten Prinzips 285.
— Der Ethik kommt eine weniger exakte Beweisführung zu als der
Mathematik 325.
— Tugend ist die richtige Mitte zwischen zwei Extremen 374.
— Über die Freundschaft 10, 391.
— Über die Ehe 393.
— Über Politik (Staat) 359, 399, 401.
A r n a u 1 d 74.
Ästhetik, Definition und Aufgaben 197 ff.
— Heranziehung verschiedener Mittel zur Hebung des Wohl­
gefallens 198 ff.
— Schönheit und Wert sind nicht identische Begriffe, Schönheit ist
der engere Begriff 200 f., s. das Schöne.
Bacon v. Verulam 2.
Begriffe als Voraussetjung der Einsicht 20, 82, 87.
Bain 241, 336.
Beneke 39, 112, 131 ff.
Besser, Ursprung des Begriffes; er stammt wie der Begriff „gut“ aus
der inneren Wahrnehmung 147 ff.
— Auch Akte des Vorziehens sind als richtig charakterisiert 148.
— Aufzählung der Fälle als richtig charakterisierter Bevorzugung
211 ff.
— Fälle der Unerkennbarkeit des Vorzuges und solche der Indiffe­
renz 214 ff.
— Das Beste unter dem Erreichbaren s. Zweck.
418 Namen- und Sachregister

B e n t h a m 5, 98 ff.
— Klassifikation der Güter und Übel (einfache und zusammen-
gesetjte Vergnügen und Leiden) 165 ff.
— Argumente für die Beschränkung der Gütertafel auf Lust 171 ff.
— Abwehr seiner Argumente 180 f., 205.
— Über richtige Bevorzugung der Güter 212.
— Einteilung der sittlichen Gebote und Delikte 337 ff.
— Über den Staat 402.
Brown 89.
Butler 75, 78, 97.
Cicero 74, 78.
Clarke 26 £., 41, 101.
Comte 63, 97 f., 381, 388, 403 ff.
Condorcet 2.
C r u s i u s 96.
Cudworth 75, 78, 97, 112, 131 ff.
Darwin (Darwinismus) 84, 202, s. Vererbung.
— Kampf ums Dasein 66 f.
Delikte 338 ff., s. B e n t h a m.
— komplexe Delikte 361 ff.
Demokrits« 286.
Descartes 18, 141, 143, 214, 235.
— Vertreter des Indeterminismus 235, 241 f.
Determinismus-Indeterminismus Streit 240 ff.
Diogenes 177.
Disziplinen, theoretische und praktische 3 f., s. Aristoteles.
Ehe 391 ff., s. Sittlichkeit (sittliche Verbände).
Eigentum, Berechtigung des Privateigentums 362 f.
— Nachteile einer auf Kollektiveigentum aufgebauten Wirtschafts­
ordnung 364 f.
— Staatliche Kontrolle des Eigentums 366.
Einsichten unmittelbare (als Gegensatj zum blinden Glauben) 19,
s. Evidenz und Urteil.
Empirismus hinsichtlich des Ursprunges der Begriffe „gut“ und
„besser“ 151.
E p i k t e t 382.
Epi kur 10, 160, 175, 204, 212, 286, 391.
Erkenntnis, richtige ethische 158 f.
— Erkenntnisprinzipien als Gegenstand des Streites und der Unter­
suchung 16 ff., 24 ff., 153 ff.
— analytische, synthetische a priori 74 ff., s. Kant und Urteil.
— Gefühle als Bedingung der Erkenntnis 54 ff.
— Die ethischen Prinzipien sind Erkenntnisse von Gefühlen 148 ff.,
s. Ethik.
Erziehung (Selbsterziehung) 380 f. s. Sittlichkeit (sittliche Führung).
— Wirkung des guten Beispieles 385.
Ethik (Moralphilosophie, Praktische Philosophie).
— Begriff und Wert 4 f.
Namen- und Sachregister 419
— Definition durch Angabe des höchsten Zweckes 4, §7 ff., s. Zweck.
— Aufgaben 7 ff.
— Grundlagen oder Prinzipien 13 ff., 24 ff., 42 ff., 74 ff.
— Zurüdcführung der ethischen Prinzipien auf Relationen 26 f.
— Wahrhaftigkeit als ethisches Grundprinzip 30 ff.
— Uneinigkeit über die ethischen Prinzipien 24 f., 41.
— Autonome und heteronome Ethik 24 f.
(heteronome 95 f., autonome 97).
— Ethischer Relativismus 24 f., innerer Widerspruch desselben 154 ff.
— Sind die ethischen Prinzipien Erkenntnisse oder Gefühle? 42 ff.
— Argumente für die Gefühlstheorie 44 ff., s. Hume.
— Argumente gegen die Gefühlstheorie 43, 53 ff.
— Argumente für die Erkenntnistheorie 51 ff.
— Ethische Billigungsgefühle 49, 72, 102.
— Ethik als Wissenschaft 15, 134.
— Ethische Zwecke anstrebende Verbände 10, 390 ff., s. Sittlichkeit.
— Ethische (sittliche) Dispositionen 9, 369 ff., s. Sittlichkeit.
— Höchstes ethisches Prinzip: Wähle das Beste unter dem Erreich­
baren 134 ff., 222 ff., 306 f„ 309, 407.
— Einwände gegen das höchste ethische Prinzip und Abwehr der­
selben 222 ff.
— Die früheren Gesetje werden durch die neue Lehre nicht auf­
gehoben 158 ff.
— Auch Gewohnheit erklärt manche Übereinstimmung 162.
Evidenz des Urteils 22 f., 140 ff., s. Urteil.
Existentialurteile 77.
Eudoxus 176, 181.
Fe ebner 175, 241, 253, 405.
Franklin 381, 406.
Freiheit des Willens, s. Wille.
Freundschaff 390 ff.
Gefühle der Billigung 102 ff., s. Ethik und A. Smith.
Gefühle der Lust und Unlust 98, s. das Gute, Utilitarier und Zweck.
— Sie fördern und hemmen sich gegenseitig 196.
Geschmack, sittlicher (moralischer) 45, 63 f., 158, s. Ethik.
— Übereinstimmung darin, Argumente dagegen 63 ff.
Gewissen 97, 158.
— irrendes und zweifelndes 323 ff.
— skrupulöses und laxes 327 ff.
Glück des einzelnen, Glückseligkeit aller ist letjter Zweck 27 ff.
— Argumente dagegen 92 ff., s. Zweck.
Das Gute (gut) Ursprung des Begriffes „gut“ 134 ff.
— Seine Analogie zum Begriff „wahr“ und Analogie des als richtig
charakterisierten Liebens zur Urteilsevidenz 134 ff., 146.
— Der Begriff „gut“ stammt aus der Erfahrung als richtig charak­
terisierter Gemütstätigkeiten 143 ff.
— Instinktives und höheres Gefallen und Mißfallen 145 ff.
— Bestreitung der Tatsächlichkeit der als richtig charakterisierten
Gemütstätigkeiten 153 ff.
420 Namen- und Sachregister

— Sie hätten längst entdeckt werden müssen 157 f.


— Gott ist der Inbegriff alles Guten 161, 223, s. Zweck.
— Das höchste praktische Gut 163 ff.
— Lust ist nicht das einzige Gut 178 f.
— Das Gute in der eigenen psychischen Tätigkeit 183 ff.
— Das Gute auf dem Gebiete der Urteilstätigkeit 183 ff.
— Das Gute auf dem Gebiete der Gemütstätigkeit 185 ff.
— Das Gute auf dem Gebiete des Vorstellens 188 ff.
— Jede Vorstellung ist als Bereicherung des Lebens ein Gut 189.
— Einwände dagegen und ihre Widerlegung 189 ff.
— Das Gute außerhalb der eigenen psychischen Tätigkeit 202 ff.
— Nicht nur eigene psychische Tätigkeit ist liebbar und liebens­
wert 202 ff.
— Das größere Gut ist immer vorzuziehen 216 f.
— Psychische Güter übertreffen alle physischen an Wert 208 f.
— Dasselbe ist gut für alle 209 f.
— Von den Wertverhältnissen der Güter 211 ff.
— Wertverhältnisse der Vorstellungen 216 f.
— Bereich des höchsten praktischen Gutes 222 f., s. Ethik und Zweck.
— Übereinstimmung des höchsten ethischen Prinzips mit dem Grund-
satj der christliaien Ethik: Liebe Gott über alles und deinen
Nächsten wie dich selbst 223.
— Das höchste praktische Gut muß let}ter Zweck sein 309 f.
Hamilton 36, 241, 272.
Hedonismus 165 ff., Argumente dagegen 177 f.
Hegel 20.
Helmholtz 160, 229, 231.
H e r b a r t 42, 89.
— Seine Ethik ist die Lehre vom Sittlichen als Sonderfall des
Schönen 90, 107 ff.
— Schönheit begründet in Verhältnissen 108.
— H.s fünf praktische Ideen 109 ff.
— Kritik der Definition Herbarts 121 ff.
— Über das Schöne 190 f.
— H. ist Determinist 241.
Hobbes 96, 347, 397, 401.
Hume 42.
— Seine Argumente für die Gefühlstheorie 44 ff., 73 f., 87, 102.
— Widerlegung dieser Argumente 53 ff., 118 f.
— Über die Willensfreiheit 235.
— Über den Kausalbegriff 282.
Husserl, Über Psychologismus 155.
Hutcheson 43, 102, 119.
James-Langesche Affekttheorie 237.
Janet 207, 338.
K a n t 33 ff.
— Kategorischer Imperativ 34 ff., 97; pflichtgemäßes Handeln ist
immer mit Schwierigkeiten verbunden, nicht mit Lust 35 f., 337.
Namen- und Sachregister 421
— K. ist Apriorist 41.
— Synthetische Urteile a priori 75 ff., 81 ff.
— Kritik dagegen 79 ff.
— Über das Schöne 190 f.
— Unklare Stellung zur Willensfreiheit 241, 254 f., 298.
Leibniz 143, 207, 241.
— Über ein ursachloses Seiendes 285.
— Über das Prinzip des zureichenden Grundes 286.
Lessing 161, 195.
Lieben und Hassen, als richtig charakterisiert. Die Begriffe liebbar
und liebenswert sind nicht identisch 145 f., s. Gefallen und Miß­
fallen.
Locke 42, 74, 235, 241.
Lohn und Strafe 256.
Lotze 42, 405.
M a 11 h u s 361.
Mandeville 96, 202.
M a n s e 1 36.
Marc Aurel 382.
M i 11 J. S t., gegen Kant 37.
— Er vertritt die Meinung, daß ursprünglich nur die eigene Lust
liebbar sei 96, 203, unterscheidet nicht zwischen begehrbar (lieb­
bar) und begehrenswert Ulf., 131 f.
— Er ist Determinist 241, 270 f., 286.
— Über Pflicht und Rat 318 f.
Montesquieu 399.
Naturrecht, s. Recht.
Newton 278.
Nietzsche 187, 202.
Normwissenschaften Hf.
Das Nütjliche und Schädliche 225 ff.
— Das Nüfcliche richtet sich nach dem Zweck der Welt (bei theisti­
scher Weltanschauung anders als bei atheistischer), die Moral
selbst ist unabhängig von der Weltanschauung 229 ff.
O c k h a m W. 96.
P a 1 e y 89.
Pascal 16.
Platon, Beispiel vom Rasenden gegen die Allgemeingültigkeit
ethischer Gebote 31.
— Richtiger Zweck ist Teilnahme an der Idee des Guten 99, 207,
117 f.
— Über Kunst 198.
— Erkenntnisakte sind wertvoller als Tugend 215.
— Über den Nutjen gesellschaftlicher Verbände 227.
— Unklare Stellungnahme zur Willensfreiheit 241.
— Grundeinteilung der sittlichen Gebote 336.
— Förderung der sittlichen Dispositionen durch Musik 386 f.
— Über den Staat 397.
422 Namen- und Sachregister

Philosophie, praktische 6, s. Ethik.


Pflicht und Rat 317 ff.
— Pflicht ist, was der Durchschnitt der Besten zu leisten vermag 322.
— Pflicht ist es, dem überzeugten Gewissen zu folgen 324.
— Rechts- und Liebespflichten 349 ff.
— Die wichtigsten Grundeinteilungen derselben 352 ff.
Untereinteilung der Rechtspflichten (gegen physische oder juri­
stische Personen, gegen den Staat) 357 f., Rechtspflichten haben
den Vorrang vor den Liebespflichten 356.
P r i c e 43, 60.
Protagoras und sein Relativismus 149.
Proudhon 361.
Psychologismus 155, s. Husserl.
Q u e t e 1 e t 273.
Rat, s. Pflicht und Rat.
Recht, Naturrecht und positives Recht 349 ff.
— Stufen der Rechtsbildung 350 f.
Reid Th. 60, 75, 97, 241, 262, 271.
Religionsgemeinschaft (Kirche) 402 ff.
— Verhältnis zum Staat 403.
— Bedürfnis nach Religionsgemeinschaft 404 f.
— Ethische Gesellschaften als Ersatj dafür 406 f.
Rousseau 5, 399.
Schleiermacher 99.
Das Schöne, Begriff 190 ff.
— Definition 193 f.
— Unterschied von schön und häßlich 192.
— Mißfälliges hebt durch Kontrast das Schöne 194.
Schopenhauer 187, 228, 230 f., 241, 261, 286.
Sextus Empiricus 96.
Shaftesbury 42.
Sittlichkeit 301 ff.
— Unbedingtheit der Sittengebote 303 ff., 407.
— Ausnahmen nur für ethisdie Regeln von mittlerer Allgemeinheit
304 ff., diese können modifiziert werden 334 f.
— Umfang und Grenzen der Sittlichkeit 308.
— Objektive und subjektive Sittlichkeit 312.
— Grade der Sittlichkeit 313 ff.
— Jede Handlung ist sittlich oder unsittlich (virtuelle und aktuelle
Entscheidung) 316 f.
— Sittliche Verbände 10, 390 ff.
Freundschaft 390 f.. Ehe 391 ff., Staat 397, Religionsgemeinschaft
402 ff.)
— Sittliche oder ethische Führung 320 f„ 378 ff.
— Über sittliche Vorschriften im einzelnen 331 ff.
— Wert der sittlichen Vorschriften von mittlerer Allgemeinheit 333 f.
— Einteilung der sittlichen Gebote 336 ff.
Namen- und Sachregister 423
— Sittliche Vorschriften sind verschieden nach der Lage des Han­
delnden 342 ff., s. Verfügungssphären.
— Von der Verwirklichung der sittlichen Vorschriften 367 ff.
— Sittliche Dispositionen 9, 369, ihr Entstehen und Vergehen 374 f.,
s. Ethik.
— Sittliche Objektivität und ihr Gegenteil 372 f.
— Sittliche Wachsamkeit 382.
— Förderung der sittlichen Dispositionen 384, z. B. durch Übung
anderer vollkommener Tätigkeiten 386 ff.
Smith A. 42, 61, 102ff., 120.
— Seine Lehre vom Billigungsgefühl und Argumente dagegen 102 ff.
Spencer 241.
Spinoza 235, 241.
Sokrates 71, 97, 100, 112, 132, 298, 351 f.
Staat 397 ff., s. Sittlichkeit (sittliche Verbände).
— Begriff und Nutjen des Staates 397 f.
— Entstehung des Staates 399.
— Analogie zur Entstehung der Sprache 400.
— Aufgaben des Staates 401 f.
Strafe 257 ff.
— Strafwürdigkeit und Schuldgefühl vereinbart mit Determinismus
258 ff.
Strauß D. 161.
Trendelenburg 100, 130, 241.
Tugend, ihr Wesen 9f., 369 ff.
— Vielheit der Tugenden 370.
— Klassifikation der Tugenden 371 f.
— Wert der Tugenden 376 f.
Ü b e r. w e g 112.
Urteil, analytisches 75 f., s. analytische Erkenntnis.
— Synthetisches 75 ff.
— Blindes und evidentes 140 ff.
— Assertorisches und apodiktisches 141 ff.
Utilitarier 27 ff., Utilitarisches Grundprinzip 27 f.
Vererbung von Begriffen und Erkenntnissen 84 ff.
— Argumente dagegen 85 f.
Verfügungssphären 343 ff.
— Teilung von der Natur gefordert 348.
Verursachung, Wahrnehmbarkeit derselben in gewissen Fällen 283.
Wählen richtiges 218 ff.
— Die Wahl ist richtig, wenn das Beste unter dem Erreichbaren
angestrebt wird 220 f.
— Wollen ist entscheidendes (wählendes) Wünschen 219 ff.
Wahrheit unmittelbar einleuchtende 16 f., 137 ff.
— Sie ist eine für alle vernünftigen Wesen 43, 59 ff.
— Verhältnis zur Evidenz 142 f.
Widerspruch, Satj des W. 20 f.
Wille, von der Freiheit des Willens 233 ff.
424 Namen- und Sachregister

— Freiheit des actus a voluntate imperatus, sie besteht innerhalb


gewisser Grenzen 235 ff.
— Freiheit des actus elicitus 238 ff.
(Freiheit von Zwang 239, Freiheit im Sinne der Selbstbestimmung
239 f.)
— Verschiedene Auffassungen der Willensfreiheit, s. Determinismus-
Indeterminismus-Streit.
— Argumente der Indeterministen (direkte, indirekte, Vorwürfe
gegen den Determinismus) 242 ff.
— Kritik derselben und Argumente der Deterministen 245 ff. Die
Argumente gegen den Determinismus sind unstichhältig 260 ff.
Determinismus ist von Fatalismus verschieden 261. Beweisversuche
für den Determinismus 262 ff. Die Vorwürfe der Indeterministen
fallen auf diese zurück 264 ff. Nicht Determinismus, sondern In­
determinismus führt zum Fatalismus 266.
— Der gemäßigte Indeterminismus 266 ff.
— Kritik seiner Argumente 269 ff.
— Die Gegenvorwürfe des Determinismus sind der gemäßigten Form
desselben gegenüber nicht stringent 275 f.
— Vorgängige Unwahrscheinlichkeit des Indeterminismus 276 ff.
— Mangelnder Erklärungswert des Indeterminismus 279 ff.
— Absurdität des Indeterminismus, weil er einen Widerspruch in
sich schließt 281 ff.
— Verhältnis des Determinismus und des Indeterminismus zum
Theismus 290 ff.
— Determinismus ist mit Theismus vereinbar 290 ff.
— Indeterminismus widerspricht der göttlichen Allwissenheit 293.
— Weitere Bedeutungen von Willensfreiheit (Macht über die Be­
dingungen künftigen Wollens, Wahlfreiheit, Determiniertheit
durch sittliche Erkenntnis) 294 ff.
— Der Wille allein ist sittlich gut, die Handlung nur im über­
tragenem Sinne 310 f.
Wissen als Macht 1 f.
Wolff Chr. 33, 99, 207.
Wollaston 30ff„ 75, 78, 97.
Zeno 21.
Zweck höchster 4, s. Ethik.
— richtiger, nähere Bestimmung desselben 8, 87 ff., 94 f.
— Definition durch äußere Regel 95 f.
— Definition durch innere Regel 97 ff.
— Definition durch Gegenstände 98 ff.
— Definition durch die innere Beschaffenheit des Strebens 111 ff.
— Kritik der Bestimmungen des richtigen Zweckes 114 ff.
— Kritik der Definition durch äußere Regel 115.
— Kritik der Definition durch innere Regel 116.
— Kritik der Definition durch Gegenstände 117 ff.
— Kritik der Definition durch innere Beschaffenheit des Strebens
131 ff.
— Richtiger Zweck ist das Beste unter dem Erreichbaren 134 ff.,
222 ff., 307, 407.

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